Das wilde Subjekt: Kleine Poetik der Neuen Welt 9783666367090, 3525367090, 9783525367094


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Das wilde Subjekt: Kleine Poetik der Neuen Welt
 9783666367090, 3525367090, 9783525367094

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Historische Semantik

Herausgegeben von Gadi Algazi, Bernhard Jussen, Christian Kiening, Klaus Krüger und Ludolf Kuchenbuch

Band 9

Vandenhoeck & Ruprecht

Christian Kiening

Das wilde Subjekt Kleine Poetik der Neuen Welt

Vandenhoeck & Ruprecht

Bibliografische Information Der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar. ISBN 10: 3-525-36709-0 ISBN 13: 978-3-525-36709-4

Umschlagabbildung: Albert Eckhout, Tapuyafrau, 1641.

© 2006, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen. Internet: www.v-r.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Hinweis zu § 52a UrhG: Weder das Werk noch seine Teile dürfen ohne vorherige schriftliche Einwilligung des Verlages öffentlich zugänglich gemacht werden. Dies gilt auch bei einer entsprechenden Nutzung für Lehr- und Unterrichtszwecke. Printed in Germany. Satz: Robert Skwirblies, Berlin Druck und Bindung: Hubert & Co., Göttingen Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier.

Inhalt

1 Einleitung: Imaginäre Neue Welt .................................................

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Künstliche Wilde 9 | Rhetorik der Innovation 13 | Momente der Erfahrung 17 | Modelle der Tradition 21 | Texte und Subjekte 28 | Dritte Räume 31 | Narrative der Emergenz 34 | Kleine Poetik der Neuen Welt 37 | Anmerkungen 42

2 Alterität und Mimesis ................................................................... 47 Krise der Repräsentation 47 | Äußere und innere Fremde 50 | Kulturelle Überläufer 53 | Unfreiwillige Nähe 57 | Praktiken der Mimesis 61 | Indianisiertes Gotteslob und europäische Wissenschaft 66 | Anziehung und Abstoßung 70 | Anmerkungen 76

3 Poetik der Passion ........................................................................ 80 Christliche Neue Welt 80 | Indianer werden 84 | Mangel und Verheißung 91 | Verschreibungen 94 | Fluchten und Unübersichtlichkeiten 98 | Glück und Unglück der Fremde 105 | Anmerkungen 106

4 Kannibalische Logik .................................................................... 111 Fremdvertrautes 111 | Einverleibung und Verrechtlichung 115 | Im Zentrum des Rituals 123 | Singularitäten 129 | Sehnsüchte 135 | Übertragungen 140 | Kannibalische Reflexion 144 | Rhetorik des Fremden 147 | Alter und Ego 150 | Anmerkungen 157

5 Sinnliche Gegenwärtigkeit ........................................................... 163 Wunderdinge 163 | Wundermenschen 168 | Inszenierte Indigene 176 | Präsenz und Repräsentation 182 | Früchte der Kolonie 185 | Wunderkammern 191 | Anmerkungen 198

6 Utopische Inseln ........................................................................... 202 Heterotopien und Utopien 202 | Kunstvolle Staatsmechanik 205 | Diesseits und Jenseits des Realen 211 | Die poetische Insel 217 | Das monströse Subjekt 222 | Segnungen 227 | Schiffbruch am Erdrand 230 | In extremis 236 | Das Ich und sein Wilder 239 | Anmerkungen 244

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Inhalt

7 Ausblick: Reisen ins Selbst .......................................................... 248 Die Außenwelt der Innenwelt 248 | (Nicht-)Andere 250 | Hölle amerikanisch 254 | Natur und Subjekt 259 | Empathie und Reflexion 264 | Herzadern – Nervenbahnen 270 | Tropen 275 | Anmerkungen 280

Anhang ............................................................................................. 283 Literatur 283 | Abbildungen 308 | Register 309

In the beginning all the world was America. (John Locke) C’est certainement le nouveau monde qui est le meilleur des univers possibles. (Voltaire)

1 Einleitung: Imaginäre Neue Welt

Künstliche Wilde Ein Mann erleidet Schiffbruch vor der Küste Perus. Er rettet sich auf eine unbewohnte Insel, wird zum Jäger und Sammler. Krebse, Garnelen und andere Meerestiere verzehrt er roh. Schildkröten läßt er, auf den Rücken gedreht, in der Sonne dörren, bevor er ihr Fleisch verzehrt, ihre Panzer zum Auffangen von Regenwasser nutzt. Aus den größeren Panzern baut er sich eine Hütte. Kiesel dienen als Feuersteine. Rauch soll vorüberziehende Schiffe aufmerksam machen. Doch keines nähert sich. Die Verzweiflung wächst ebenso wie die Behaarung. Bald ist er von einem wildschweinartigen Fell bedeckt. Kopfhaar und Bart reichen bis zur Hüfte. Als er nach drei Jahren auf einen zweiten Schiffbrüchigen trifft, meint er eine Erscheinungsform des Teufels zu sehen, der ihn versuchen will. Auch jener hält den ›Wilden‹ für den Leibhaftigen persönlich. Erst die Erinnerung an die christliche Tradition ermöglicht eine nähere Begegnung. Sie erzählen sich ihre Lebensgeschichten und richten sich, nicht ohne Spannungen, in einem gemeinsamen Dasein ein. Vier weitere Jahre vergehen, bis ein Schiff auf die Inselbewohner aufmerksam wird. Erneut dient das Aussprechen christlicher Formeln dem Erkennen. Die beiden werden an Bord genommen, nur der erste Schiffbrüchige aber erreicht lebend die spanische Heimat. Er begibt sich zum Kaiser nach Deutschland, seinen Bart, seine verfilzten Haare und sein wildes Aussehen als Zeichen für die durchlittenen Strapazen behaltend und keine Gelegenheit auslassend, sich als wilder Mann bestaunen zu lassen. Sensationsgierige Bürger und Adlige finanzieren die Reise, der Kaiser gewährt eine Rente von viertausend Pesos. Nun erst – so erfahren wir in einem Nachsatz – läßt er sich Haar und Bart scheren und macht sich, seine Rente zu genießen, auf den Weg nach Peru. Er kommt nicht weiter als bis Panama, wo er stirbt. Die Geschichte des Spaniers Pedro Serrano ist eine von vielen Sensationsgeschichten der frühen Neuzeit, Geschichten von abenteuerlichen Lebensläufen und wunderbaren Begebenheiten, Geschichten, die Wahrheit beanspruchen und zugleich Wirklichkeit bilden. Ihre Bedeutung ergibt sich aus dem Kontext. Der im peruanischen Cuzco geborene Mestize Gómez Suárez de Figeruoa, der sich als Schriftsteller nach dem spanischen Renaissance-Lyriker Garcilaso de la Vega nennt, erzählt die Episode in seinen

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1 Einleitung: Imaginäre Neue Welt

Comentarios reales (1609), jener Geschichte des Inkastaates, die dezidiert auf spanischem wie indigenem Wissen beruht.1 Er will sie von Garci Sanchez de Figueroa gehört haben, der seinerseits Serrano persönlich gekannt habe: eine fragile Authentizität. Die Episode ist eingeschaltet in die geographische Beschreibung Perus (Buch I, Kap. 8). Sie soll – gemäß der seit der Antike geläufigen Verknüpfung von Etymologie und Deskription – erklären, woher die vor der Küste gelegenen Inseln Serrana und Serranilla ihre Namen haben. Doch ist sie mehr als nur ein ätiologisches Einschiebsel. Unter der Prämisse, den Namen der Orte deren Geschichte abzulesen, erzählt Garcilaso eine Parabel der Bedingungen von Kultur und des Verhältnisses der Welten: der Neuen, die nicht gefahrlos zu erreichen ist, und der Alten, die nicht genug Anreiz zum Leben bietet. Eine Parabel, oszillierend zwischen den kulturellen Mustern: Schiffbrüche gehörten zu den zentralen Motiven der Seereiseberichte, Inselaufenthalte boten Raum für die Beschreibung protokultureller Situationen, wilde Leute spielten eine prominente Rolle in der frühneuzeitlichen Imagination. Die Geschichte handelt davon, wie Menschen auf den Naturzustand zurückgeworfen werden, wie sie ihren eigenen Imaginationen begegnen, wie die christliche Kultur zum einigenden Band, die Neue Welt zur Verheißung wird. Pedro Serrano erlebt einen kulturellen Tiefpunkt, der zugleich als Neugeburt erscheint und, an bekannte Versuchungsepisoden anklingend, Standhaftigkeit im christlichen Glauben erweist. Im schiffbrüchigen Spanier erlebt nicht nur der haarige Eremit des frühen Christentums eine Wiedergeburt. In ihm wird auch der wilde Mann real. Jener wilde Mann, der um 1500 zum geläufigen Wappenträger geworden war und in Flugblättern, Gedichten und Wandteppichen im Kreise seiner Familie vorgestellt wurde, ein Waldbewohner, der sich über die Zustände der Welt beklagt und der Gesellschaft einen moralischen Zerrspiegel liefert.2 Jener wilde Mann, der in den Holzschnitten der volkssprachigen Mundus novus-Ausgaben (um 1505) eine Folie bot für die Lebensweise der Indianer (Abb. 1).3 Jener wilde Mann, dem man in Grenzräumen leibhaftig begegnen konnte: 1560 bei einem großen höfischen Fest in Wien, wo er als Riese zum ungleichen Turnierkampf herausforderte, oder 1575 am Rande eines englischen Waldes, wo er der jungfräulichen Königin Elizabeth I in bedrohlicher Gestalt erschien, um sich im Handumdrehen als eloquenter, geneigter und dienstwilliger Untertan zu erweisen – »I, which live at large, a wilde and savage man, [...] Do here submit my selfe«.4 Zu europäischer Berühmtheit kam in der gleichen Zeit Pedro Gonzalez, ein Eingeborener Teneriffas, der aufgrund einer seltenen Krankheit am ganzen Körper behaart war: Von den Spaniern nach Europa verschleppt, gelangte er zunächst an den Hof des überseeinteressierten französischen Königs Henri II, der ihm den Namen seiner Lieblingshunderasse und sogar ein Hofamt verlieh, dann zum Herzog

Künstliche Wilde

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Alessandro Farnese, der ihn in Parma als Naturwunder bestaunen ließ. Gemälde und Zeichnungen wurden angefertigt, die ihrerseits den Weg in die fürstlichen Kunstkammern fanden – eine Zirkulation des Wilden in mehrfacher Hinsicht.5

Abb. 1: Mundus novus, Rostock 1505, Titelblatt.

Garcilasos Figur des anderen Pedro steht somit nicht allein. Doch betrifft sie keinen Ureinwohner oder Vorzeitmenschen, sondern einen der eigenen Kultur entfremdeten Europäer, der wiederum die europäischen Phantasien kennt und in Dienst zu nehmen vermag. Das gibt der Episode eine ironische Note. Sie wird noch gedoppelt dadurch, daß Garcilaso als Sohn einer InkaPrinzessin und eines spanischen Konquistadors selbst zwischen den Kulturen stand und seinerseits von seinem Vater viertausend Goldpesos als Erbe erhielt – zu verwenden für Studien in Spanien. Kulturgeschichte und Selbstdeutung überlagern sich. Auch bringt schon der erste Hinweis auf die

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1 Einleitung: Imaginäre Neue Welt

Serrano-Episode, genau dort, wo Garcilaso seine eigene Fahrt von Peru nach Spanien erwähnt, Autor und Figur in Verbindung: eine Spiegelbeziehung, vervielfältigt durch die Doppelung der Schiffbrüchigen und ausgerichtet an jener Achse, an der individuelle und kollektive Geschichte ineinander übergehen. Garcilaso entwirft in den Comentarios eine dreistufige Konzeption der Geschichte Perus: von einem barbarischen über einen heidnischen zu einem christlichen Zustand. Und er entwirft in der SerranoEpisode einen ebenfalls dreistufigen Weg der Rückkehr zur Kultur: von der insularen Verwilderung über die inszenierte Wildheit zu einer zivilisierten Neuen Welt. Peru ist Ausgangspunkt der Beschreibung, Zielpunkt der Handlung und Fluchtpunkt der Geschichte – Ort der Verheißung, die gerade dadurch genährt wird, daß Protagonist wie Autor das Land nicht (mehr) erreichen. Die Geschichte handelt aber auch vom Erzählen. Angekündigt als »caso historial de grande admiración« und aufgebaut als kohärente ›novela‹ mit verzögerter Pointe, signalisiert sie die Eigengesetzlichkeit eines literarisch Imaginären der Neuen Welt. Schiffbruchs- und Gefangenschaftsberichte gab es schon zuvor. Ebenso Texte, die hinter dem Faktischen das Rhetorische nicht verbargen oder die Neue Welt sogar entschieden literarisierten: die Utopia des Thomas Morus (1516), der Dialog The Nature of the Four Elements (1517) von dessen Schwager John Rastell oder auch, etwas später, die Araucana des Söldnerdichters Alonso de Ercilla y Zúñiga (1569–89), ein Heldenepos, das die Eroberung Chiles vor der Folie von Ilias und Aeneis besingt. Doch ist um 1600 eine neue Phase erreicht. Voll ausgebildet sind die kolonialen Diskurse verschiedener europäischer Nationen. Umfängliche Sammlungen von älteren und jüngeren Berichten (Ramusio, Hakluyt, Purchas, de Bry, Hulsius) werden publiziert. Die ersten Texte von in Amerika Geborenen erscheinen, zum Beispiel die Epen des Mexikaners Bernardo de Balbuena, der Mexikos Größe (1604) und Das Goldene Zeitalter in den Wäldern von Erifile (1608) preist; in seinem umfangreichen Heldenepos Bernardo oder Der Sieg von Ronceveaux (1624) läßt er den bereits zur Sagengestalt gewordenen Bernardo del Carpio auch in das noch nicht entdeckte Amerika gelangen, dessen zukünftige Eroberung ihm prophezeit wird. Die wenigen Striche mögen das Feld andeuten, auf dem sich Garcilasos subtiles Spiel interkultureller Narration situiert. Heimkehr und Erzählung sind traditionell verbunden. Der Venezianer Kaufmann Nicolò de’ Conti begab sich 1439, nach langem Asienaufenthalt nach Florenz zurückgekehrt, sofort zum Papst, um Vergebung für seinen zwischenzeitlichen Übertritt zum Islam zu erbitten, und bekam als Buße auferlegt, seine Abenteuer zu erzählen.6 Anders als dort ist im Falle des Pedro Serrano der Abstand von der europäischen Herkunft ein nicht nur zeitweiser. Doch hier wie dort ist

Rhetorik der Innovation

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das Erzählen Teil einer kulturellen Zirkulation, die ebenso Waren wie Wissen, Geld wie Geltungsansprüche umfaßt. Lebensgeschichten werden weitergegeben und instrumentalisiert, und am Beispiel der Tradierungskette wird kenntlich, wie sich Ereignisse in Text verwandeln und der Text seinerseits zum Ereignis wird: aufgeladen mit einer besonderen kulturellen Energie, die ihm seinen Ort sichert in den Diskursen der Neuen Welt. Die Comentarios setzen ein mit peruanischen Ursprungsgeschichten und einer Heilsgeschichte der Inka. In ihrer Fluchtlinie steht Garcilaso selbst – als gleichwohl vom Ursprung Entfernter, der die geschichtliche Verheißung auf die kulturelle Vermischung verlagert. Auf diese Weise wirbeln Kategorien des Wilden und des Zivilisierten durcheinander, geraten Standpunkte in Bewegung. Die Aufpfropfung durch den ›Kommentar‹, welcher der Text sein will, dient der Erzeugung von Gründungsfiguren, in denen abendländische Modelle von Ursprung und Gegenwart, von Zentrum und Peripherie eine andere Wertigkeit bekommen. Der Indigene (»soy indio«) schreibt, »dem christlichen Staat zu dienen«, eine Geschichte, die spanische historiographische Texte nicht ersetzen, sondern ergänzen und erläutern will. Aber diese Geschichte ist, obwohl scheinbar die Tradition nur kommentierend, eine durchaus eigenwillige. Sie macht eine Perspektive geltend, die hinter diejenige anderer Globalgeschichten der Entdeckung und Eroberung der Neuen Welt zurückzugehen und eine neue Authentizität zu gewinnen beansprucht.

Rhetorik der Innovation Garcilaso spricht vom Boden der abendländischen Tradition aus. Auch wenn er die verschiedenen peruanischen Ursprungsmythen Revue passieren läßt, verfällt er nicht in Distanzlosigkeit. Seine Innenansicht ist gezeichnet von der Erfahrung des Verlusts von Macht und Tradition und überformt durch die Überzeugung, mit der spanisch-christlichen Tradition ein neues Wissen, eine neue Bildung und eine neue Religiosität erworben zu haben. Vier Jahrzehnte zuvor hatte der Inkaherrscher Titu Kusi Yupanki durch einen auf Ketschua diktierten und ins Spanische übersetzten Brief eine angemessene Entschädigung für den Verlust des Inkareichs bei König Philipp II. zu erwirken versucht; seine eigene Version des Kampfes gegen die Spanier darstellend ließ er zwar die Geschichte mit der Taufe des Autors enden, zugleich aber den Unwillen zur Kapitulation erkennen.7 Für Garcilaso ist dies Vergangenheit. Brüche werden in seinen Comentarios geschichtsteleologisch aufgefangen, Dichotomien vermieden. Der, der sich als Inka bezeichnet, insistiert darauf, »daß es nicht mehr als eine Welt gibt, und wenn es auch Alte Welt und Neue Welt heißt, dann deshalb, weil diese für uns neu

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1 Einleitung: Imaginäre Neue Welt

entdeckt worden ist, und nicht, weil sie neu wäre, sie ist vielmehr ein einziges Ganzes.«8 Das Neue gilt als perspektivisches Phänomen, nicht als radikal Anderes. Es markiert einen Moment des historischen Kontinuums, aber aus imperialer Sicht auch einen epochalen Moment der zu sich selbst kommenden Weltgeschichte. In seiner Historia general de las Indias (1552) schrieb Francisco López de Gómara: »Die größte Sache seit der Erschaffung der Welt und seit der Fleischwerdung und dem Tod Christi am Kreuz ist die Entdeckung Indiens; deshalb nennt man es auch Neue Welt, und man nennt es nicht nur deshalb ›neu‹, weil es neuentdeckt ist, sondern weil es von riesiger Ausdehnung ist, fast so groß wie die Alte Welt, die Europa, Afrika und Asien umfaßt.«9 In einer Zeit der Expansion beeindruckt das Neue durch seine immense Ausdehnung, durch eine Territorialität, die allen Phantasien und Interessen breiten Spielraum eröffnet. Daß indes dieses Neue überhaupt als solches gelten kann, ist keine Selbstverständlichkeit. »Nichts Neues unter der Sonne« erwarten zu können wußte man aus dem biblischen Predigerbuch (1,9) und verortete demgemäß noch in der frühen Neuzeit das Niedagewesene vor allem im Rahmen der Endzeit. Auch Cristóbal Colón suchte bekanntlich keine neue Welt im Westen, sondern einen neuen Weg zu den Verheißungen des Ostens und den Ursprüngen der Christenheit (das Heilige Grab in Jerusalem). Und doch war schon im Vorfeld der ersten Reise die Möglichkeit, Neues zu entdecken, im Blick – im Blick der Politik. Sowohl der Vertrag vom 17. April 1492 wie der zwei Wochen später ausgestellte Titulo, mit dem die spanischen Könige Colón Ämter und Ehren bestätigten, sprechen von Inseln und Festlanden, die der Almirante entdecken und erobern oder gewinnen werde.10 Mit Inseln zu rechnen lag aufgrund der vorausgegangenen portugiesischen Entdeckungsfahrten im Atlantik und vor der afrikanischen Küste nahe. Kontinuierlich hatten sich die Grenzen des Bekannten erweitert, hatte die Sensation des Eindringens in jenen Teil der Erde, den die Alten für unbewohnbar und unschiffbar gehalten hatten, die Geographen und Kosmographen in Atem gehalten.11 In dieser Hinsicht war das auf der Westfahrt von 1492 Entdeckte nur ein relativ Neues. Doch suchte Colón die Begegnung mit ihm zum Ereignis zu machen und damit den eigenen (postumen) Ruhm zu sichern: Noch auf der Rückfahrt habe er, so liest man in dem von Bartholomé de las Casas überlieferten Tagebuch, gefährdet durch Unwetter, in aller Eile Briefe geschrieben und versiegelt dem Meer anvertraut.12 Sie sollten den Erfolg der Reise unterstreichen und zugleich weitere Reisen befördern. Das zumindest geht hervor aus dem erhaltenen Brief an Luis de Santángel (vom 15. Februar 1493), der mit jenen anderen Briefen teilweise identisch sein mag. Den Überblick über zeitliche Abläufe und zurückgelegte Wege der Reise, die Hinweise zur Qualität der entdeckten Länder und zu

Rhetorik der Innovation

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den Eigenschaften der Bewohner, dem Tagebuch zufolge in den verlorenen Briefen enthalten, findet man auch hier. Man findet aber auch eine Emphase des vielfältigen Nutzens der Inseln und ein Lob des Erlösers. Und man findet charakteristische Ambivalenzen. Colón belegt die Inseln mit Prädikaten des Wunderbaren, behandelt sie aber als nachrangige Größen. Er sei, so heißt es, von einer zur nächsten gefahren, durch Repräsentations- und Benennungsakte den Besitzanspruch der spanischen Krone markierend. Er sei sodann an einer längeren Küste entlanggesegelt, eine Metropole oder zumindest kleinere Städte erwartend. Er sei schließlich umgekehrt, als er erkannte, daß »nichts Neues« mehr komme: »visto que non había innovación«, oder mit der Formulierung des Übersetzers Leandro de Cosco: »videns quod long admodum progressis nihil nove emergebat«.13 Das Neue, das sich nicht zeigt, wäre eigentlich das Erwartete. Daß es ausbleibt, verschiebt den Blick auf das, was sich gezeigt hat und das nun als neues eingespeist wird in den Diskurs der europäischen Expansion. Da die Ausrüstung von Schiffen aufwendig ist, müssen die Reisen sich lohnen und müssen wiederum die Texte auch dort, wo unmittelbare Erträge ausbleiben, potentielle in Aussicht stellen. Überdies müssen sie sich, zumal wenn sie im Druck erscheinen, behaupten gegen die zunehmende Menge verfügbarer und sich selbst als heilsam, spannend oder sensationell deklarierender Texte. Das Neue der Neuen Welt ist insofern zwar zunächst Ausdruck einer sich ausdehnenden Welt, aber auch Platzhalter für das auf dem Weg nach Westen noch nicht zu gewinnende Alte: den Osten, den Raum des Ursprungs, des Reichtums, der Fülle. Colón wird die Gültigkeit seiner Idee nicht nur durch die Autorität von Rechtsakten zu erzwingen versuchen, sondern auch im Bericht der dritten Reise (1498) die karibische Inselwelt dem christlichen Paradies annähern. Zu diesem Zeitpunkt war indes das auf der ersten Reise Entdeckte schon konsequent als neues verbucht. Schon in der lateinischen Bearbeitung des Briefes an Santángel fällt in einleitenden Zusätzen mehrfach der Begriff des Entdeckens, schillernd zwischen Theologie und Rhetorik, zwischen einem Aufdecken bisher verborgener Geheimnisse und einem Finden neuer topologischer Ordnungen. De insulis inventis lautet der Titel des Basler Druckes von 1493. De insulis nuper in mari India repertis heißt es, das Unbekannte geographisch an das Bekannte anschließend, in der Ausgabe von 1494. Das Neue ist Produkt eines Diskurses, der Neuheiten braucht. In diesem Sinne kann, wie in der jüngeren Forschung geschehen, von einer ›Erfindung‹ der Neuen Welt gesprochen werden.14 Auch sie bedient sich aber der vorhandenen Mittel. Schon die Orient- und Asienreiseberichte, deren wachsende Zahl im Laufe des 15. Jahrhunderts zu steigendem Konkurrenzdruck führte, kennen Formen der Überbietung: Kein anderer Reisender habe dieses oder jenes gesehen, keiner der antiken Autoren es genau gekannt. So begegnet

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1 Einleitung: Imaginäre Neue Welt

man zwar auch im Westen immer wieder den traditionell im Osten situierten Wundern, erfährt an ihnen zugleich aber die unendliche Fülle des noch nicht Bekannten. Konsequenterweise setzt die Bearbeitung von Amerigo Vespuccis italienischem Brief an Lorenzo di Piero Francesco de’ Medici dann weniger auf verstreute Inseln als auf eine veritable Welt: Mundus novus. Die unter diesem Titel zuerst 1504 erschienene kleine Schrift wurde zusammen mit der Beschreibung der vier Reisen des Vespucci (Quattuor navigationes) zu einem der prägendsten Amerika-Texte des 16. Jahrhunderts: häufig gedruckt, schnell übersetzt in die Volkssprachen, verbreitet in Flugblattauszügen, aufgenommen in Kosmographien, Sammelbände und Karten, Basis für die Benennung des neuen Landes als America.15 Explizit hält schon die Einleitung fest, daß man die neuen Regionen »als eine neue Welt bezeichnen könnte, wo doch die Alten von diesen Gebieten keine Kenntnis besaßen und deren Existenz allen, die davon hören, völlig neu ist.«16 Auch in diesem Zusammenhang aber meint neu vor allem: noch nicht selbst gesehen. Von einer ›anderen Welt‹ hatten schon die älteren Geographen gesprochen, wenn sie sich auf die nicht bewohnbaren und schiffbaren Teile der Erde bezogen: jene Teile, in denen man die Antipoden situierte, von denen auch der italienische Brief Vespuccis spricht.17 Die lateinische Bearbeitung verzichtet auf diesen Hinweis und damit auf eine der Verknüpfungsmöglichkeiten mit dem bekannten Wissen. Sie macht ein Neues im grundsätzlicheren Sinne denkbar. Die großen Sammlungen der Folgezeit, Petrus Martyr Anglerius in seinen De orbe novo decades (seit 1516) und Simon Grynaeus in seinem Novus orbis regionum ac insularum veteribus incognitarum (Basel 1532), werden dieser Perspektive folgen. War zunächst noch offen geblieben, ob es sich bei der Neuen Welt tatsächlich um einen Kontinent handle, ist nun von einem neuen Erdkreis die Rede und dieser Erdkreis zunehmend in seiner Totalität, nicht mehr nur seiner Bewohnbarkeit verstanden. Grynaeus preist in der Vorrede die Entdecker, die dank ihrer Reisen unerhörte Wunder der Natur zum Vorschein brachten: »einen neuen Himmel, neue Meere, neue Menschentypen und Lebewesen, neue Gesellschaftsformen«.18 Das Neue gilt in dieser Hinsicht als Ausdruck einer Selbstoffenbarung der Schöpfung, die ihrerseits mit jedem Tag, jedem Sonnenaufgang und -untergang, jedem Wechsel der Jahreszeiten sich erneuert. Eine beständige Verwandlung der Welt, die wiederum die Sammlung von Reiseberichten in ihren vielfältigen Dimensionen nachvollziehbar macht. Das zeigt, wie wichtig die Rhetorik der Innovation für den Diskurs der Neuen wie der Alten Welt war und wie eng dementsprechend spektakuläre Fahrten und sensationelle Texte zusammenhingen.19 Die letzteren hatten nicht nur die Aufgabe, die ersteren zu vermitteln. Sie partizipierten auch an der mit den Fahrten verbundenen ›Unerhörtheit‹, indem sie diese zur Er-

Momente der Erfahrung

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fahrung machten und gleichzeitig die Spirale von Innovationsbehauptungen vorantrieben.

Momente der Erfahrung Innovation und Erfahrung hängen im Diskurs der Zeit eng zusammen. Im einen wie im andern Fall handelt es sich nicht um schlichtweg Faktisches. Zwar gibt es tatsächlich ein verstärktes Bemühen um Autopsie und Empirie. Die sich ausdifferenzierenden ›exakten‹ Wissenschaften werden es im Laufe des 16. und 17. Jahrhunderts institutionalisieren.20 Doch sind Empirie und Erfahrung nicht das gleiche. Auch greift die Vorstellung, eine zunehmend erfahrungsgesättigte Beschreibung der Wirklichkeit habe schließlich den Übergang zur Neuzeit ermöglicht, zu kurz. Historisch gesehen ist Erfahrung nicht bloß Ausdruck dessen, was einzelne oder Gruppen an Welt- und Selbstkenntnis erwerben. Sie ist zugleich Mittel, solche Kenntnis diskursiv zu fixieren. Sie ist wie auch Innovation eine rhetorische Kategorie und hat als solche Tradition: in den Berichten über Reisen in den Orient, ins Heilige Land und nach Asien ebenso wie in den frühneuzeitlichen Prosaromanen.21 Die Schriften über die Neue Welt steigern die Bedeutung der Augenzeugenschaft, des Selbsterlebens und -wahrnehmens quantitativ wie qualitativ. Das Moment der Erfahrung versieht die Autoren, die Texte und die jeweiligen Repräsentationen der fremden Welt mit der nötigen Dignität. Es hat aber auch fragile Züge, bedarf es doch der Berufung auf Dritte oder der Entwicklung von Plausibilitäten, um nicht bloße Behauptung zu bleiben. Der Mundus novus-Brief macht daraus eine rhetorische Strategie, die teilnehmenden Leser auf den erlebenden Autor einzuschwören: Diejenigen, die die Gefahren und Ängste der Überfahrt über Meer aus eigener Erfahrung kennten, wüßten, was es bedeute, Ungewisses zu suchen und Unbekanntes zu erforschen.22 Das Paradigma der »experientia multarum rerum«, selbst ein Tacitus-Zitat, nobilitiert einen Bericht, der gänzlich durch eigene Wahrnehmung abgesichert sein will. Da diese Wahrnehmung Gesehenes ebenso wie Gehörtes umfaßt, ist ein Passepartout geschaffen für die facettenreiche Darstellung der Bewohner und Lebensräume der Neuen Welt, beim Körper beginnend und über Bekleidung, Sozialwesen, Religion und Kannibalismus bis hin zu Klima, Fauna und Flora führend. Vieles davon, die Langlebigkeit der Indianer, die Rolle des Kannibalismus, die Behandlung des männlichen Gliedes zur Luststeigerung, mochte einem kundigen Leser aus Asienreiseberichten vertraut scheinen. Und doch wird es ihm als selbsterfahren präsentiert, gestützt durch die Betonung des direkten Kontakts: »Ich war dabei«, »ging an Land«, »sah«, »bekam erzählt«. Vespucci erscheint als ›curiosus‹, der sich auf die Gegebenheiten der Neuen Welt einläßt und diese

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1 Einleitung: Imaginäre Neue Welt

zugleich wissenschaftlich verzeichnet. Er warnt aber auch davor, das Göttliche erforschen und mehr wissen zu wollen, als schicklich ist.23 Damit klingt ein Ton an, der vor allem im frühen Amerikadiskurs eine Rolle spielte: die traditionelle Sorge um einen mit der Welterfahrung einhergehenden Selbst- und Heilsverlust. Überall dort, wo die moraltheologische oder heilsgeschichtliche Perspektive dominierte, konnte das Schweifen in die Ferne der seit Augustinus verurteilten ›vana curiositas‹, dem unzulässig in göttliche Geheimnisse eindringenden Forschen zugeordnet werden.24 Sebastian Brant kennzeichnete die »erfarung der lant« als närrisch und sinnlos angesichts der Aufgabe, die Bürde der Sterblichkeit und die Gefahren des Daseins durch Weisheit zu bewältigen.25 Sebastian Franck betonte die Verkehrtheit menschlichen Strebens angesichts der Möglichkeit, auch die Völker der Neuen Welt als Teil »einer allein dem Geist Gottes verpflichteten Gemeinschaft« zu begreifen.26 Nach wie vor konnte der Vorbehalt gegenüber der theoretischen Neugierde als Argument dienen gegen ein Projekt, das wie das der kosmographischen Totalerfassung dazu neigte, den Menschen an die Stelle Gottes zu setzen. Christoph Wagner, der Schüler Fausts, wird in der Fortsetzung von dessen Geschichte nicht nur wie sein Lehrer die bekannte Welt erfahren und ermessen wollen, sondern auch die Neue. Hier aber erweist sich anders als bei der Erkundung von Himmel und Hölle weniger die ›curiositas‹ als Problem denn der Verlust an Natürlichkeit. Wagner erfährt, dank der magischen Geschwindigkeit der Luftreise, in kurzer Zeit verschiedene überseeische Provinzen, fremde Völker und Sitten. Er erfährt aber auch die Greueltaten der Conquistadoren. Die Phantasie, Neues nicht nur zu lesen, sondern auf übernatürliche Weise selbst zu erleben, verbindet sich mit protestantischer Kritik an der katholischen Evangelisierung der Neuen Welt. Zugleich wird dem Leser, indem sich das Wissen der Neuen Welt dem magischen und übernatürlichen beigesellt, ein verzerrter Spiegel geboten für seine eigene Phantasie, von neuesten Entdeckungen und entferntesten Regionen authentische Kenntnis zu erlangen.27 Das heißt aber auch: Selbst im Kontext protestantischer Negativexempel konnte die Erfahrungsrhetorik Geltung beanspruchen. Sie blieb wirksam bis in die Enzyklopädien und Kosmographien hinein. Wurden für die Alte Welt Stücke aus Reiseberichten in objektivierter Perspektive präsentiert, so wurden für die Neue durch das ganze 16. Jahrhundert hindurch »die räumlichen Vorkommnisse in den (zeitlichen) Vorgang der Entdeckung eingeordnet« und mit der Person des Entdeckers verknüpft.28 Die Kosmographen sangen das Lob der ›experientia‹; portugiesische Autoren machten sie zur ›Mutter aller Dinge‹; englische ließen Experiens und Studyous Desire im Dialog die Elemente, die Schöpfung und die neuen Länder preisen.29 Jahrhundertelang waren die Säulen des Herkules und ihre Inschrift »Nec plus ultra« als Zeichen für die Grenzen menschlicher Welterkundung verstanden worden: bei

Momente der Erfahrung

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Dante nicht anders als noch bei Brant.30 Nun wird ihre Überschreitung zum Programm. Francis Bacon setzt sie als Ausdruck einer sich von den Fesseln der Tradition befreienden Wissenschaft auf das Titelblatt seiner Instauratio magna (1620; Abb. 2).31

Abb. 2: Francis Bacon, Instauratio magna, London 1620, Titelblatt.

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1 Einleitung: Imaginäre Neue Welt

Odysseus wird dafür gepriesen, daß er sich aufs offene Meer hinaus wagte. Die ›curiositas‹ wird zum Problem nicht mehr für den Selbst- und Heilsverlust des einzelnen, sondern für ein Forschen, das sich auf vernünftiges Suchen und nicht blindes Umherirren, auf Rationalität und nicht Arbitrarität gründet.32 Damit ergibt sich aber auch eine Aufspaltung des Begriffs der Erfahrung. Neben die rhetorisch-literarische Kategorie, die vor allem in Reiseberichten wichtig bleibt, tritt eine wissenschaftliche, die sich dort artikuliert, wo man sich von der Bewegung des Reisens und der Subjektivität der Wahrnehmung löst. Im Rahmen des neuen mathematisch-geometrischen Paradigmas, das das zunehmend wachsende Wissen systematisch verortet, kommt es zu einer polemischen Distanzierung von der alltäglichen Erfahrung und gleichzeitig zu einer regulativen Bestimmung meßbarer Ausschnitte aus der Gesamtheit möglicher Erfahrungsbereiche.33 Für Leonardo da Vinci bildet die ›sperienz(i)a‹ die Basis wissenschaftlichen Forschens.34 Nur sie könne zu Sicherheit und Weisheit verhelfen, nur sie erlaube es, sinnvoll einsetzbare Instrumente zu konstruieren, nur sie ermögliche es, die Kausalitäten und Rationalitäten der Natur zu erkennen: »Die Erfahrung geht nie fehl, sondern nur eure Urteile gehen fehl, indem sie von ihr solche Ergebnisse erwarten, wie sie bei unseren Experimenten nicht verursacht werden können.«35 Soll sie zu wissenschaftlichen Resultaten führen, darf Erfahrung keine blinde und beliebige sein. Sie muß vernünftig gebraucht werden, so wie in Leonardos Verständnis jede experimentelle Praxis eines wissenschaftlichen Fundaments bedarf: »Diejenigen, die vernarrt sind in eine Praxis ohne Wissenschaft, ähneln dem Seemann, der sich ohne Steuer und Kompaß auf ein Schiff begibt und niemals Sicherheit gewinnen kann, wohin die Reise geht.«36 Bacons Systematisierung einer regelhaften und rationalisierten Erfahrung knüpft hier an. Im Sinne einer induktiven Methode bindet sie alle Erkenntnis und Entdeckung an die Dialektik von »Übung, Nachdenken, Beobachtungen und Schlüssen«. Auch das in der Begegnung mit neuen Ländern Erfahrene ist dann nicht an und für sich bedeutsam. Es bedarf einerseits der Aufbereitung, um systematische Erkenntnisse zuzulassen, und ist andererseits selbst schon Produkt einer Kombination aus praktischer und theoretischer Vernunft. Bereits Pedro Nunes hatte 1537 in seinem Lob portugiesischer Entdeckungskunst festgehalten: »Es ist offensichtlich, daß sich die Entdeckungen von Küsten, Inseln und Kontinenten alles andere als zufällig ereignet haben, machten sich unsere Seeleute doch wohlinformiert auf den Weg, gut ausgerüstet mit den Regeln der Astronomie und der Geometrie [und den entsprechenden Instrumenten]«.37 Bei Bacon heißt es: »zur Fahrt über das Weltmeer und zur Entdeckung der Länder der Neuen Welt mußte zuvor der Gebrauch der Magnetnadel als eines sicheren und zuverlässigen

Modelle der Tradition

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Führers bekannt sein«.38 Auch die in der gleichen Zeit stattfindende Methodisierung des Reisens durch systematische Handreichungen, Fragebögen und Checklisten zielt darauf, das Erfahrene von vornherein in jene Bahnen zu lenken, die für die universale Kombinatorik des Wissens und seine (politische oder ökonomische) Nutzung dienlich sein konnten.39

Modelle der Tradition Die Rhetorik der Innovation und der Erfahrung entfaltet sich in einem Diskurs, der die Modelle der Tradition zugleich festschreibt und aushöhlt. Der deutsche Übersetzer des Kolumbusbriefes (Straßburg 1497) verweist in einem Zusatz auf Ptolemäus und stellt damit den Anschluß an den klassischen Wissenskanon her.40 Der Kompilator des Vespuccibriefes unterstreicht zwar die Differenz zum Wissen der Alten, nimmt aber seitenlang auf kosmologische und mathematische Fragen bezug, um so die Neue Welt in einem kontinuierlichen Raum zu verorten und in den Rang eines wissenschaftlichen Gegenstandes zu erheben. Ähnliches geschieht in der Folgezeit immer wieder. Man orientiert sich an den verfügbaren Ordnungen des Wissens: an der ptolemäischen Kosmographie und Geographie, an der plinischen Beschreibung der Welt, an der aristotelischen Bestimmung natürlichen Sklaventums, an der seit Augustinus diskutierten Frage nach dem Status von Antipoden, an der in der mittelalterlichen Theologie grundgelegten Beurteilung religiöser Dissidenz. Zahlreiche lateinische Kolumbusepen des 16. und 17. Jahrhunderts bewegen sich im Gefolge Vergils, der Aeneis oder der Georgica, und suggerieren, mit Colón und Vespucci habe der Geist der Antike sich zu neuen Ufern aufgemacht.41 In der gleichen Zeit entstehen über zwanzig Theorien, um Herkunft und Eigenheit der Indianer völker- und heilsgeschichtlich zu erklären: Manche identifizieren sie mit den Abkömmlingen des verstoßenen Noahsohnes Cham, andere mit den zur Zeit der babylonischen Gefangenschaft verlorenen Stämmen Israels, wieder andere nehmen eine Einwanderung von Asien her an oder versuchen eine Kenntnis der christlichen Offenbarung und Berührung mit apostolischen Missionen nachzuweisen.42 Zahlreich sind auch die Versuche, die überseeischen Völker weniger genetisch als strukturell den abend- und morgenländischen, Hebräern, Griechen oder Römern, Galliern, Germanen oder Picten, zur Seite zu stellen. Sie stützen sich auf punktuelle Vergleiche körperlicher, kultureller und sprachlicher Merkmale und münden in Kulturtheorien, welche die sich mit der Neuen Welt verbindende Zukunft an die Vergangenheit der Alten Welt koppeln.43 Das Ergebnis sind nicht selten geographische und epistemische Hybriditäten.44 Sie lassen sich seit der Frühzeit des Amerikadiskurses beobachten.

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Auf einer 1512 von Hieronymus Marini in Venedig hergestellten handschriftlichen Weltkarte (Abb. 3) steht Jerusalem, die Heilige Stadt, Grabstätte Christi, im Zentrum, hervorgehoben durch einen mit Goldfarbe grundierten Kreis – wieder im Zentrum, hatten andere zeitgenössische Weltkarten die Zentrierung doch preisgegeben.45 Indes gibt es auch hier eine Hinwendung zur geographischen Situation der Gegenwart. Im Westen (am rechten Rand) sind Teile zweier Länder eingezeichnet, ›Brasil‹ und ›India nova‹, zwischen ihnen zwei unbenannte Inseln. Hier reagiert die Karte auf das neue Wissen, und dies enorm rasch: Der Name des rötlichen Brasilholzes als kartographische Bezeichnung für die südamerikanische Küstenregion beginnt sich gerade in dieser Zeit erst zu etablieren. Die Welt behält also ihr altes heilsgeschichtliches Zentrum und ist doch nicht die gleiche wie noch Jahrzehnte zuvor. Das Neue schiebt sich von den Rändern her ins Bild, bleibt aber seinerseits unbestimmt. Die überseeischen Länder besitzen keine Binnendifferenzierungen, die Küstenlinien erscheinen beliebig, die Verbindung mit Asien ist, obschon kein Meer die Länder trennt, unklar. Schiffe sind eingezeichnet auf dem Indischen wie dem Atlantischen Ozean – Zeichen für eine Perspektive, die Ost und West zu trennen beginnt und doch nach wie vor unter gleichen Interessen vereint.46 Das gilt noch für die kleeblattförmige Weltkarte, die der lutherische Theologe Heinrich Bünting in sein bekanntestes Werk, das Itinerarium Sacrae Scripturae (zuerst 1581), einschaltete (Abb. 4). Diese Geographie, die die Bibel in eine illustrierte Reisebeschreibung umsetzt, verbindet in der Weltkarte ein universales Trinitätssymbol mit einem partikularen Identifikationszeichen: das Kleeblatt als Wappen von Büntings Heimatstadt Hannover. Jerusalem steht im Zentrum, America füllt die linke Ecke, und der Erläuterungstext vermerkt, über diese vor kurzem ›erfundene‹ Welt gäbe es nichts anderes zu sagen, als daß sie in der Bibel noch nicht erwähnt werde. Generationen von theologisch geprägten Lesern fanden sich damit in ihrem Festhalten am traditionellen Weltbild bestätigt: Das Itinerarium wurde bis zur Mitte des 18. Jahrhunderts mehr als sechzig Mal aufgelegt, und es stand in seiner Tendenz keineswegs allein. Für längere Zeit bleibt der Ordnungsrahmen für Kosmographien wie Kartenerklärungen die Teilung der Welt in die drei Kontinente Europa, Asien und Afrika. Die Neue Welt, zwar beständig an Größe wachsend, aber häufig als Insel bezeichnet, wird an passender Stelle eingeschoben. Bei Lorenz Fries findet sich gleich zu Beginn seiner Uslegung der Merkarthen (zuerst Straßburg 1525) unter dem Buchstaben A ein Bericht von der Begegnung Vespuccis mit den Indianern, bei Sebastian Münster in seiner Cosmographia (zuerst Basel 1544) als Anhang zu Asien eine Zusammen fassung von Colóns Entdeckungsfahrten. Die Neue Welt führt zu Unwuchten in der Ordnung der Alten. Sie wird bezeugt durch Erfahrungsberichte,

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Abb. 3: Hieronymus Marini, Weltkarte, Venedig 1512.

Abb. 4: Heinrich Bünting, Itinerarium Sacrae Scriptura, Helmstedt 1581, S. 4/5.

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ihre Kartierung ausgewiesen als Projekt der Zukunft. Von den Küstenregionen abgesehen, dominieren weiße Flächen – Einschreibeflächen für kulturelle Projektionen, die zwar sukzessive fragwürdig werden, sich aber so lange halten, wie die Berechnungen und Messungen fehlen, mit denen sich die kartographische Leere füllen ließe: Als Gegend, in der das »genus anthropophagorum« wohne, erscheint Südamerika bei Fries, als »Regio Gigantum« und Land der Kannibalen bei Münster.47 Einige Jahrzehnte später wird sich das Unbekannte verlagern auf den sagenhaften Kontinent unterhalb Südamerikas, »terra australis nondum cognita«, wo sich verschiedene Wunder der Tradition verorten lassen.48 Wurde geographisch gesehen das Erfahrungswissen eher für das Zentrum als für die Peripherie der abendländischen Welt wirksam, blieb topologisch gesehen das Neue vom Alten umschlossen. Die 1507 von Montalboddo Fracanzano publizierte Sammlung von Reiseberichten (Paesi nouamente ritrovati), von Jobst Ruchamer ins Deutsche übertragen, zeigt auf ihrem Titelholzschnitt (Abb. 5) im Mittelpunkt eine Weltkugel, zugleich Sinnbild des christlichen Imperiums und Zeichen der Ausbreitung abendländischer Zivilisation. Ein Schriftband, sich windend über die Seite und sich schlingend um die Kugel, behauptet zwar die Neuheit der Entdeckung, hält diese aber im gleichen Moment in den Fesseln der Schrifttradition gefangen.49 Die Reiseberichte folgen ähnlichen Prinzipien. Sie lassen die Dynamik der Beschreibung aus der Bewegung von Ausfahrt und Rückkehr entstehen und machen das Fremde zu einem unbeweglichen und ungeschichtlichen Objekt, über welches das bewegliche, geschichtsträchtige abendländische Subjekt verfügt. Die Neue Welt erscheint als schillernde Blase im Kontinuum von Raum und Zeit, als Gegenwelt, die man betritt und wieder verläßt, als romanhafter Chronotopos, der sich öffnet und wieder schließt: »Wir fuhren«, heißt es im Mundus novus-Brief, »fast fünfhundert Meilen an der Küste entlang, gingen oft an Land und nahmen Beziehungen zu den Eingeborenen auf, die uns freundlich empfingen. Manchmal blieben wir fünfzehn oder zwanzig Tage ohne Unterbrechung als Freunde und Gäste bei ihnen.«50 So wie aber die Kartographie mit Mercator und Ortelius im Laufe des 16. Jahrhunderts nicht mehr einfach an das Wissen der Alten anschließt, sondern dieses zunehmend als ein historisches und damit beschränktes begreift, so ist auch in den Reiseberichten nicht zu übersehen, daß die Geschlossenheit der Bewegung von Ausfahrt und Rückkehr unterwandert wird von der Unabgeschlossenheit des Wissens. Der Mundus novus-Brief endet mit der Hoffung des Vespucci, weitere Reisen zu unternehmen, um neue Regionen zu erforschen. Andere Briefe stellen die souveräne Verfügungsgewalt des europäischen Schreibsubjekts dadurch in Frage, daß ihre Verfasser die Heimat noch nicht wieder erreicht haben. Die Fremde ist nicht mehr nur

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Abb. 5: Newe unbekanthe landte, Nürnberg 1508, Titelblatt.

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Gegenstand der Beschreibung, sondern auch Ort des Schreibens. Sie beginnt sich als konkrete Spur im Vertrauten zu etablieren – als Spur, der man folgen kann. Hans Staden wird Mitte des 16. Jahrhunderts seinen Brasilienbericht mit dem Hinweis beschließen, der Leser könne sich anhand des vorgelegten Textes selbst auf den Weg machen: »Wem Gott hilft, dem ist die Welt nicht verschlossen.« Noch ist diese Welt zwar eine, deren Vielfalt als Manifestation göttlichen Wirkens begreifbar bleibt, deren Öffnung theologisch gestützt werden muß, deren kosmische Dezentrierung zu denken auf den Scheiterhaufen führen kann. Doch in dem Maße, in dem das Bedürfnis zunahm, Welt und Wissen zu ordnen, wurden auch die neuentdeckten Länder und Völker zum Gegenstand wissenschaftlichen Interesses. Dieses Interesse galt nicht mehr nur dem Kuriosen und Absonderlichen, sondern auch dem spezifischen Status, der spezifischen Logik des Fremden.51 Als 1577 auf Befehl König Philipps II. von Spanien Fragebogen in die amerikanischen Kolonien geschickt wurden, ging es um mehr als nur die Organisation der Verwaltung. López de Velasco, der das Projekt seit 1571 betreute, hatte wissenschaftliche Ambitionen. Er wollte die Kolonisten momenthaft in Historiker, Naturforscher und Amateurkosmosgraphen verwandeln: Sie sollten Angaben über die Geschichte der Regionen, ihre Flora und Fauna liefern, aber auch Beobachtungen zu einer Mondfinsternis beisteuern, die der Etablierung einer exakten Geographie dienen sollten.52 Begleiterscheinung solcher Vorstöße war die sich immer stärker abzeichnende Pluralität des Möglichen. Im Vergleich der Kulturen schlummerte die Einsicht ins Unvergleichliche. Jerónimo de Mendieta, der in seiner Historia eclesiástica indiana (kurz nach 1600) die Theorien der frühen südamerikanischen Evangelisierung aufgriff, hielt die Sitten der Indianer im ganzen doch eher für unvereinbar mit den europäischen und schloß daraus auf die Unerforschbarkeit der göttlichen Vorhersehung.53 Roger Williams, der in seinem Key into the Language of America (1636) die Kultur der Neuen Welt von der der Alten ableitete und die Indianer mit den Juden verbunden sah, mußte zugeben: Die Sprache der Narragansett hat mehr mit dem Griechischen als dem Hebräischen gemein.54 So entstand ein eigentümliches Nebeneinander von Identischem, Analogem und Differentem. Wenn Caspar Barlaeus in seinem Mercator sapiens (Amsterdam 1632) Columbus und Vespucci preist, sieht er sie ganz im Rahmen antiker Literatur und Wissenschaft. Wenn er dagegen in seiner Geschichte Brasiliens (Rerum per octennium in Brasilia et alibi nuper gestarum [...] Historia, Amsterdam 1657) dem Koloniegründer Johan Maurits von Nassau-Siegen huldigt, stellt er das Verhältnis zwischen Alter und Neuer Welt unter das Zeichen der Antithese. Auch bei der Katalogisierung der brasilianischen Flora und Fauna treffen verschiedene Prinzipien aufeinander: In der Historia naturalis Brasiliae

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(Leiden, Amsterdam 1648) bietet der erste, von Willem Piso stammende Teil eine Übersicht über die Pflanzen, die sich im Sinne der älteren Herbarien vor allem auf deren Heilkraft konzentriert. Der zweite, von Georg Markgraf stammende bezieht sich hingegen auf Querschnitte und setzt mit seinen Klassifikationen gemäß strukturellen Merkmalen auf wissenschaftliche Objektivierbarkeit.55 Die genannten Beispiele bezeugen einen sich verändernden Umgang mit dem neuen Wissen im Laufe des 16. und 17. Jahrhunderts. Dieses wird Teil der allenthalben sprießenden enzyklopädischen Unternehmen: der systematisierenden Ordnungen wie der synthetisierenden und historisierenden Darstellungen. Die moderne Fortschrittsgeschichte, die von der sukzessiven Tilgung der mythischen, moralischen und theologischen Elemente des mittelalterlichen Weltbildes erzählt, hat hier ihre Ursprünge. Kopernikus setzte bekanntlich sein eigenes auf Ordnung und Schönheit basierendes Weltmodell von demjenigen anderer astronomischer Theorien ab, die ein ›monströses‹ Bild ergäben – schöne Teile, aber kein einheitliches Ganzes.56 Damit erweist sich aber auch die Fortschrittsgeschichte selbst als historisches Phänomen, abhängig von geschichtsphilosophischen Tendenzen und blind für die Fortdauer verschiedener Rationalitätsformen. So unübersehbar ja beispielsweise die Homogenisierung des Raumes und die Vereinheitlichung der Wissensordnungen in der frühen Neuzeit ist, so wenig sollte die Vielfalt des in ihm und in ihnen Eingeschlossenen übersehen werden. Tatsächlich sind es nicht die klaren Übergänge, sondern die unsauberen Mischungsverhältnisse, in denen Kultur historisch faßbar wird: die Situationen, in denen alte und neue Wissensformationen koexistieren, rhetorische Strategien und mimetische Praktiken sich verquicken, Erfahrung und Tradition, Diskontinuität und Kontinuität aufeinander treffen – oft von Satz zu Satz. Im einen sichert man den Charakter des neuen Wissens, indem man es in geläufige Modelle einordnet, im andern insistiert man auf der Überschreitung des bekannten Wissens, indem man die blinden Flecken im Kenntnisstand der Alten heraushebt – bis dieser selbst nurmehr als historischer maßstabsetzend erscheint. Dieses Nebeneinander bezeugt eine epistemologische Unentschiedenheit. Es eröffnet aber auch dem experimentellen Geist Spielfelder: in der Überlagerung der Stimmen und Vervielfältigung der Perspektiven. Nicht nur für das geographische und das naturkundliche Wissen stoßen starre historiographische Schemata an ihre Grenzen. Auch für die ethnographische Situation, den Umgang mit den fremden Kulturen, verengen sie den Blick: Legitimieren, Idealisieren oder Verstehen, Entdecken, Erobern, Lieben oder Kennen57 – in der Theorie Alternativen, gehen diese Haltungen in der Praxis spannungsvolle Verbindungen ein. Statt trennscharfer Unterschiede variable und plurale Formen kultureller Differenz. Statt eindeutiger Verhältnisse von

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Zentrum und Peripherie Ränder, die ihrerseits zu Zentren werden: Zentren einer Gemengelage, in der sich mit der Pluralisierung existierender und möglicher Welten auch eine Zunahme widersprüchlicher und partieller Sinnstiftungen vollzog.58

Texte und Subjekte Sowenig der Diskurs der Neuen Welt ein homogener ist, sowenig einheitlich sind die Texte. Lange behandelte die historische Forschung sie als Quellen, denen, habe man erst einmal ihren Grad an Zuverlässigkeit bestimmt, die Geschichte der Ereignisse wie der Völker und Individuen ablesbar sei. Erst in jüngerer Zeit wurde der fröhliche Rekonstruktionsoptimismus zum Problem: Einerseits hat er, auf die Position der ›Sieger‹ konzentriert, eurozentrische und teleologische Züge. Andererseits tendiert er dazu, die Dynamiken der überlieferten Zeichengefüge auszublenden. Das Spezifische der zwischen den Kulturen und Wissensformationen oszillierenden Texte ist so kaum zu erfassen. Als kommunikative Handlungen sind diese zugleich Teil eines Systems mimetischer Beziehungen, in dem Wissen, Worte und Waren flottierten, rhetorische Muster Geltungsansprüche untermauerten.59 Besonders dort, wo koloniale Situationen eine dominante Rolle spielen, zeigt sich: Die Texte beschreiben Sachverhalte, schaffen aber auch Fakten und helfen, Argumente durchzusetzen. Der Kolumbusbrief berichtet nicht nur von Akten konkreter und symbolischer Landnahme wie von Akten der Benennung. Er gibt sich selbst als Erscheinungsform der Macht zu erkennen. Der Text der lateinischen Ausgabe (Basel 1493) wird gerahmt von Zeichen der Herrschaft: Das erste Blatt zeigt das Wappen von Kastilien und Leon, das letzte König Ferdinand von Spanien mit den Wappen von Kastilien-Leon und Granada. Nicht der Entdecker steht im Mittelpunkt, sondern der Souverän, nicht die Erweiterung des Wissens, sondern die Ausdehnung des Machtbereichs. Die Zweitausgabe (Basel 1494) kombiniert den Brief mit der von Carolus Verardus stammenden Historia Baetica, die die Rückeroberung Granadas durch Ferdinand (Frühjahr 1492) feiert.60 Doch sind es nicht nur solche offensichtlichen Fälle, in denen die Texte eine performative Dimension besitzen. Auch dort, wo sie nur etwas zu bezeichnen scheinen, ›tun‹ sie etwas. Begriffe wie ›Wilder‹ oder ›Kannibale‹ ordnen nicht einfach einem Objekt Attribute zu. Sie bringen die Realität hervor, die sie zu bezeichnen vorgeben.61 Die Texte sind selbst Formen der Macht, die sie repräsentieren wie kaschieren, Erzeuger von Differenz, die sie stabilisieren wie inszenieren. Stabilisieren: durch Rückgriff auf traditionsgestützte Oppositionen (Kultur vs. Natur, Zivilisiertheit vs. Wildheit,

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Ordnung vs. Unordnung, Geschichte vs. Geschichtslosigkeit). Inszenieren: durch das Medium der Schrift, das Differenz hervorbringt und vorführt. Schrift ist Ausdruck der angenommenen Überlegenheit über die schriftlosen Völker der Neuen Welt.62 Sie ist aber auch Ort der Verhandlung und Spannungsfeld der Repräsentation. In ihr verdoppelt sich die Beziehung zwischen den Praktiken der Darstellung und den Praktiken der Stellvertretung. In ihr werden die Situationen, durch die eine absente Macht präsent wird, so dargeboten, daß die Präsenz sich auf sie selbst überträgt und ihren Geltungsanspruch begründet.63 Dies allerdings geschieht in den verschiedenen Texten, den offiziellen und den nicht-offiziellen, den pragmatischen und den nicht-pragmatischen, auf unterschiedliche Weise, durch unterschiedliche strukturelle Anlagen, Darstellungsperspektiven und kommunikative Bedingungen. Gesetze, Urkunden, Gerichtsakten und Protokolle begleiten die Prozesse der Kolonisierung, indem sie diese legitimieren und kontrollieren, dirigieren und korrigieren. Traktate liefern Argumente historischer oder juristischer, philosophischer oder theologischer Art. Briefe und Reiseberichte bieten Erfahrungen subjektiven, gleichwohl durch Augenzeugenschaft nobilitierten Charakters. Chroniken und Kosmographien stellen die Ereignisse in den größeren Kontext einer Geschichte der Entdeckung, Eroberung und ›Erschließung‹ fremder Welten.64 Hinzukommt die Differenz zwischen verschiedenen nationalen Konstellationen, spanischen und portugiesischen, französischen und englischen, holländischen und deutschen, die Differenz auch zwischen verschiedenen Formen, Metaphern und Metonymien der Besitzergreifung.65 Nicht alle Texte zielen darauf, Conquista und Kolonisierung zu rechtfertigen. Es gibt auch solche, zum Beispiel von Juristen der spanischen Spätscholastik, welche die Autorität des Papstes in Fragen weltlicher Herrschaft (Vertrag von Tordesillas 1494) anzweifeln und die Landnahme, Enteignung und Versklavung für illegitim halten.66 Und es gibt solche, in denen ein höherer Aufwand an Literarisierung zu komplexeren Praktiken der Repräsentation führt. Die oben angedeuteten hybriden Züge werden hier besonders deutlich. Sprachliche und gattungsgeschichtliche Konventionen treten mit theologischen und politischen Argumenten, mit geographischen und rhetorischen Mustern in spannungsvolle Verbindung. Die Leitdifferenz zwischen Eigenem und Fremdem wird durchzogen und durchkreuzt von anderen Differenzen, die sich in der Eigendynamik der Zeichen eröffnen. Vielstimmige intertextuelle Bezüge, heterogene Argumentationsmuster, implikationsreiche Metaphern und Vergleiche erzeugen ein eigentümliches Schillern. Schon im Kolumbusbrief stehen Verwertung und Verwunderung, einseitige Deklaration und Verständigungsversuch, Besitzergreifung und Austausch nebeneinander. Die Inselwelt ist zugleich Paradies der Natürlichkeit

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und Schatzkammer vielfältiger Ressourcen, der Autor zugleich Entdecker und Hermeneut, abendländischer Kulturheros und untertäniges Subjekt der spanischen Krone. Die Differenz zwischen Europäern und Indianern erweist sich als fluktuierend. Sie schließt sich am einen Ort und öffnet sich am anderen. Die Eingeborenen gelten als bekehrungswillig und mutieren zu potentiellen Christen. Das radikal Andere verlagert sich auf die grausamen, imperialistischen, menschenfressenden Cariben, die, Colón zufolge, von den Bewohnern Haitis zu Gegnern ersten Ranges stilisiert werden.67 Es vermehren sich die kulturellen Differenzen, die Sinnstiftungen und letztlich auch die Vielfältigkeiten und Widersprüchlichkeiten kolonialer Situationen. Es entstehen Formen kolonialer Semiose: Übercodierungen in den Praktiken der Machtausübung und -sicherung, Uneinheitlichkeiten der dabei verwendeten Repräsentationen.68 Sie werden verstärkt durch den fragilen Charakter der Subjektpositionen, weit entfernt von jenem Heroentum der Entdecker und Eroberer, das die moderne Historiographie ihrer Geschichte der europäischen Expansion zugrundelegte. Nicht nur die Erfolge der Conquistadoren sind brüchig. Brüchig sind auch die Texte, die von ihnen berichten und die, ausgesetzt den Prozessen der Überlieferung, zur Dispersion der Subjekte führen können. Ein Beispiel unter vielen: der 1550 in Augsburg erschienene Druck des zweiten und dritten Briefes, die Hernán Cortés aus Mexiko an Karl V. richtete. Sie schildern die Eroberung Mittelamerikas, die Niederwerfung der aztekischen Kultur, die Etablierung der spanischen Herrschaft. Der Druck bietet eine nach der lateinischen Übersetzung der spanischen Fassung angefertigte Verdeutschung und benutzt als Verbindungsstück zwischen den Briefen zwölf Kapitel aus Petrus Martyrs vierter Dekade über die Neue Welt, die ebenfalls über Cortés berichten. An die Briefe angehängt sind acht Kapitel, die nach Mitteilung des Druckers von einer ungenannten Person aus dem Umkreis König Ferdinands übermittelt wurden.69 Tatsächlich handelt es sich um mehrere Texte: Die beiden letzten Kapitel haben als Urheber einen gewissen »Cansalue Ferrando von Quido«. Gemeint ist der spanische Chronist Gonzalo Fernández de Oviedo. Er berichtet dem italienischen Kardinal Pietro Bembo von der Expedition, die Francisco de Orellana 1541/42 von Ecuador aus den Amazonas hinab unternahm. Die Informationen stammen weitgehend wörtlich aus dem Tagebuch des Expeditionsteilnehmers Fray Gaspar de Carvajal. Der Brief wurde 1556 in der berühmten Reisesammlung Navigazioni e Viaggi des Ramusio auf Italienisch publiziert und dann kaum verändert von Oviedo in seine große Historia General y Natural de las Indias übernommen. Die im Druck von 1550 vorangehenden sechs Kapitel haben ebenfalls streckenweise Briefcharakter. Als Abfassungsdaten werden der 20. Oktober 1538 und der 16. Januar 1540 erwähnt, als Abfassungsort Coro in Venezue-

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la. Ein Absender wird ebensowenig genannt wie ein Adressat. Daß der Hauptteil der Kapitel mit einem langen Schreiben übereinstimmt, das der fränkische Adlige Philipp von Hutten 1538 an seinen Vater richtete, wußten die zeitgenössischen Leser nicht. Dieses Schreiben wirkt selbst wie ein Auszug aus einem Expeditionstagebuch; erst am Ende tritt ein Ich stärker in Erscheinung. Während Huttens handschriftlich erhaltene Originalbriefe häufig von persönlichen Motiven des Aufenthalts in Venezuela sprechen, spart der Druck diese Dimension aus und verwischt die persönlichen Konturen. Aus dem Schnittfeld familiärer, unternehmerischer und kolonialer Interessen herausgenommen, wird der Brief Teil eines typischen Textkonglomerats: Den Anhang eines über eine lateinische Zwischenstufe verdeutschten Konquistadorenberichts bildet ein unter entstelltem Namen laufender Chronistenbericht, der seinerseits auf einem ungenannten Augenzeugenbericht basiert und mit einem weiteren Augenzeugenbericht zusammenhängt, dessen Verfasser ebenfalls ungenannt bleibt. Ähnliche Phänomene sind seit dem Kolumbusbrief immer wieder zu beobachten. Texte werden weitergereicht und für verschiedenste Kontexte aufbereitet – mit dem Ergebnis, daß gelegentlich die Übersetzung vor dem Original im Druck erscheint oder diesem näher steht als ein veränderter Abdruck. Die Konsequenzen sind mehrere. Zum ersten: Die Subjektpositionen verwischen sich. Das Ich des Cortés geht über in das Ich des unbekannten Autors, der schließlich als »Cansalue Ferrando von Quido« bezeichnet wird, welcher seinerseits hie und da die Position des sammelnden Chronisten von der des beteiligten Gewährsmannes nicht zu trennen scheint. Zum zweiten: Die Textsorten changieren. Was Brief war, kann chronikalische Züge annehmen, der Bericht wiederum durch Umsetzung in die Briefform den Erzähler wechseln. Zum dritten: Die Regionen verlieren an Trennschärfe. Der Fluß Maragnone meint im Hutten-Text den Orinoco, im Oviedo-Text den Amazonas. Das fällt insofern aber kaum ins Gewicht, als auch die Phantasmen, mit denen die Conquistadoren leben, die Widrigkeiten, mit denen sie kämpfen, überwiegend die gleichen sind: Hier wie dort garniert die Idee männerlos lebender kriegerischer Frauenvölker, aus der Alten in die Neue Welt transponiert, die auf den kruden Überlebenskampf reduzierten Züge durch Dschungel und Sümpfe.

Dritte Räume Allenthalben also kulturelle Muster, allenthalben militärisch oder ökonomisch angelegte Perspektiven. Und doch untermauern auch die kolonialen Texte nicht bloß die europäische Überlegenheit. Indem das fremde Territorium mehr als nur Station eines Weges ist, den der Reisende durchläuft,

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nämlich Ort der Entfaltung kultureller Produktion, ist diese Produktion immer auch von dem Ort, auf den sie referiert, gezeichnet. Sie stellt Beziehungen auf eine immerhin beschränkte Dauer und bedarf zu diesem Zweck der Kontakt- oder Konfliktzonen, in denen Rechts- und Verwaltungsakte, Handelsvorgänge und Sinnstiftungen möglich sind. Sie bedarf der Zwischenräume, in denen neue kulturelle Komplexitäten entstehen. Schon für das 16. Jahrhundert erweist sich die Opposition zwischen Eigenem und Fremdem als unzureichend: Die europäischen Nationen konkurrierten miteinander, und diese Konkurrenz führte zu wechselnden Koalitionen mit den jeweiligen Eingeborenen. Mit der Zunahme der Fahrten nach Übersee, der Eroberungen, Landnahmen und Besiedlungen wuchs dann die Zahl der Kontaktzonen und Zwischenräume.70 So ungleich die Machtverhältnisse und Austauschbeziehungen meist waren, etablierten sie doch kulturelle Berührungen, die vor allem im Laufe des 17. Jahrhunderts zunehmend institutionalisiert wurden. Strukturierte Felder bildeten sich für Aushandlungsprozesse zwischen den Kulturen, für Entwürfe kolonialer Identitäten, für textliche und bildliche Imaginationen einer Verfremdung des Eigenen. Die neuere Kultur- und Literaturwissenschaft hat, sensibilisiert durch die Entwicklung postkolonialer Gesellschaften, diesen Phänomenen besondere Aufmerksamkeit gewidmet. Richard White prägte in einer minutiösen Untersuchung interkultureller Beziehungen im Bereich der Großen Seen die Kategorie des ›middle ground‹ für ein Gebiet »between the historical foreground of European invasion and occupation and the background of Indian defeat and retreat«, ein Gebiet, in dem »diverse peoples adjust their differences through what amounts to a process of creative, and often expedient, misunderstandings«.71 Daraus wurde ein neues Paradigma postkolonialer Analyse.72 Es bezieht sich auf Situationen, in denen Macht und Machtlosigkeit keine schlichte Opposition bilden, vielmehr in heterogenen Gefügen sich vermengen, Situationen, an denen spezifische Sinnbildungsprozesse zu beobachten sind: Öffnungen der epistemologischen Konstellation, Genese neuer Komplexitäten, Unterlaufen von Dichotomien – auch historiographischer Art: Zwischen eine Geschichtsschreibung, die koloniale Praktiken auf ihre Weise fortsetzt, und eine, die jene Praktiken aus Sicht der Unterdrückten entlarvt, schieben sich Untersuchungen, die nicht die Erscheinungsformen der Macht ignorieren, wohl aber sich der Nivellierung von komplexen Sinngefügen widersetzen. Der Begriff des ›middle ground‹ stellt sich dem des ›third space‹ zur Seite, mit dem Homi Bhabha dem postkolonialen Diskurs einen zentralen Referenzpunkt lieferte.73 Beide Begriffe reagieren auf die Bedeutung von Raum für kulturelle Prozesse der Moderne und Postmoderne. Philosophisch bemühte man sich seit Husserl und Merleau-Ponty um die ›Spatialität‹ und die ›Geographizität‹ des menschlichen In-der-Welt-Seins.74 Soziologisch

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beschrieb man, in welcher Weise soziale und politische Gefüge auf der Konstruktion von Räumen basieren.75 Jeweils zeigte sich: Raum ist nicht einfach als faktische Gegebenheit zu begreifen, sondern als Austragsfeld für kulturelle Spannungen und Möglichkeitsbedingung für die Repräsentation von Welt. Demgemäß hat die Diskussion von ›middle ground‹ und ›third space‹ nicht allein die Beziehung von Territorialität, Kultur, Macht und Identität im Blick, sondern auch die Erscheinungsformen jener Beziehung. Der dritte Raum ist einer der Sprache: zwischen den dominanten und den latenten, den denotativen und den konnotativen Bedeutungen. Er ist einer des theoretischen Engagements: zwischen der kühlen Abstraktheit der Modelle und dem hitzigen Ringen um die Macht des Diskurses. Und einer der Interpretation: zwischen der Distanz des kulturellen Analytikers und der Involviertheit des empathischen Lesers. »Der interpretatorische Pakt besteht nie einfach in einem Akt der Kommunikation zwischen dem in der Aussage festgelegten Ich und Du. Um Bedeutung zu produzieren, ist es erforderlich, daß diese beiden Orte in eine Bewegung versetzt werden, bei der sie einen dritten Raum durchlaufen.«76 Texte sind herausragende Erscheinungsformen des dritten Raums: Einerseits materielle Dinge, andererseits imaginäre Entwürfe, fordern sie beständig dazu auf, Sinn herzustellen, gleichzeitig verweigern sie die Preisgabe der einen unumstößlichen Bedeutung. Auch die neuere Texttheorie hat sich deshalb verstärkt mit den ›Phänomenen des Zwischen‹ beschäftigt: mit dem, was sich weder in einer traditionellen Hermeneutik des Verstehens noch in einer postmodernen Dekonstruktion des Verstehen-Wollens fassen läßt.77 Die konkret politische Dimension des dritten Raums wird damit nicht einfach metaphorisch verwässert. Sie wirkt vielmehr fort in einer textuellen Betrachtungsweise von Kultur, die ihre eigenen politischen Implikationen nicht ausblendet. Darin liegt eine Pointe des Begriffs. Topographische Konstellationen auf die Topologie der Sprache und des Textes übertragend hält er das Problem der Repräsentation bewußt. Raum wird in der Sprache und im Text durch metaphorische und metonymische Operationen erzeugt, zugleich bietet er diesen die Möglichkeit der performativen Entfaltung. Raum ist Gegenstand von Verhandlungen im Rahmen von Zeichensystemen, zugleich bietet er diesen ein Bezugsfeld nicht selbst zeichenhafter Art. Der dritte Raum meint in diesem Sinne zweierlei: die Räumlichkeit einer Konstellation, in der sich klare Grenzen verwischen, und die Räumlichkeit eines Repräsentationsaktes, dessen Geltungsansprüche sich an Zeichenprozesse koppeln. Doch dieser Repräsentationsakt ist ein zwiespältiger: Die Sinnstiftungen durch Einordnung in die Tradition, Ausbildung von Diskursen, Verallgemeinerung und Theoretisierung sind durchdrungen von Versuchen, die Neue Welt präsent zu machen in Objekten und Menschen, Texten und Artefakten.78 Der dritte Raum ist damit auch der Raum der Schnittstellen zwi-

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schen dem Konkreten und dem Abstrakten, dem Sinnlichen und dem Intellektuellen, dem nicht schon und dem immer schon hermeneutisch Erfaßten. Diese Schnittstellen haben ihre eigene Dynamik. Sie produzieren sowohl Sehnsüchte wie Strukturierungen. Sie ermöglichen historisch variable Anschlüsse. Das Modell des dritten Raumes orientiert sich an der postkolonialen Situation der Gegenwart und jüngeren Vergangenheit. Es orientiert sich an Systemen und Funktionsbeziehungen, deren Ausdifferenzierung in der frühen Neuzeit erst im Gange ist. In ihr wird zwar eine Dezentrierung traditioneller Sinnzentren erprobt, bleiben aber theologisch bestimmte Mechanismen der Sinnkontrolle gültig, die wiederum kein einheitliches Paradigma mehr bilden. Das Resultat sind Instabilitäten (zum Beispiel der Grenze zwischen Eigenem und Fremdem) und Inhomogenitäten (zum Beispiel der europäischen Positionen und Perspektiven). Wie alle Figuren des Dritten ist auch die des dritten Raums eine, die Komplexität ermöglicht und zugleich beschränkt. Sie bleibt bezogen auf Dichotomien, die sie sowohl stabilisiert wie destabilisiert. Und sie wird ihrerseits überschritten von Pluralitäten, die sich nicht mehr in Dreierverhältnissen fassen lassen und diese doch nicht einfach obsolet machen. Ein epistemologisches Problem: Modellbildungen benutzen binäre Momente, an denen sie wiederum ihre eigenen Grenzen erkennen. Sie sind auf Transgressionen hin angelegt, ohne daß sie diese selbst schon ›konzeptualisieren‹ könnten. Genau das wird im dritten Raum sichtbar. Er gibt der Transgression einen Namen und macht sie doch nicht einfach zu einer Substanz. Sein Vorteil liegt in der Flexibilität der Übertragungen, die er erlaubt, sein Nachteil in der Ubiquität der Zwischenräume, die er bezeichnet. Notwendig ist deshalb historische Konkretheit. Erst sie läßt erkennen, welchen Status die Zwischenräume und Schnittfelder besitzen, ob die Punkte des Kontakts und des Übergangs sich zu einem Feld verdichten. Von dritten Räumen ist historisch nur im Plural zu sprechen, auch dann aber zu bedenken, welche Prozesse zur Ausbildung dieser Figur geführt haben.

Narrative der Emergenz Die historiographischen Rekonstruktionen dessen, was man Geschichte der europäischen Expansion nennt, teilen mit anderen Rekonstruktionen weltgeschichtlicher Phänomene ein Problem: das der Evidenz. Man weiß, was gekommen ist, wenn auch nicht genau, wie es gekommen ist. Man kennt das Territorium, das die Heroen der Vergangenheit, die Conquistadoren, Kartographen und Geographen, sich erst erschließen mußten. An der Territorialität ist das Problem der Evidenz am besten zu beobachten. Selbst die

Narrative der Emergenz

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kenntnisreichsten Arbeiten zur Kartographie und Geographie der frühen Neuzeit verfallen immer wieder der Dualität des ›Noch (nicht)‹ und des ›Schon‹: »Schon 1532 publizierte Sebastian Münster eine Amerika-Karte, auf der Nordamerika noch eher fragmentarisch, Südamerika jedoch deutlich in Dreiecksform dargestellt ist, wenn auch zu weit nach Westen reichend.«79 Nur ein Schritt ist es dann, die Begegnung mit der Neuen Welt psychohistorisch als mühsame Überwindung hartnäckiger Traditionsgläubigkeit zu sehen: »Nicht einmal diejenigen, die bereit waren, die neue, von der andern Seite des Atlantiks kommende Evidenz eher ernsthaft zu betrachten als schlichtweg zu leugnen, waren notwendig auch bereit, ihr traditionelles Bild einer dreigeteilten Welt sofort preiszugeben.«80 Auch bei Reiseberichten wird man nicht müde festzuhalten, wo ein Autor eine Sache richtig wahrgenommen und wo er traditionelle Mythen fortgeschrieben habe. Tatsächlich gibt es Kritik an der ethnographischen, geographischen und kosmographischen Tradition schon im späten Mittelalter und in der frühen Neuzeit. Auch ist ein Bemühen um Exaktheit, wie oben gesehen, der Verwissenschaftlichung des Diskurses der Neuen Welt durchaus zu eigen. Ein homogenes, auf empirischer Rationalität beruhendes System existiert indes, auch dies hatte ich angedeutet, erst in Ansätzen. Versteht man Texte, Bilder und Karten als sukzessive Annäherungen ans Tatsächliche, steten Zuwachs an Genauigkeit, stufenweisen Gewinn an Wirklichkeit, so nimmt man zwangsläufig Anachronismen in Kauf: Die Gegenwart, diejenige der industrialisierten Gesellschaften, wird zum Fluchtpunkt der Geschichte. Die historischen Semantiken werden betrachtet mit dem Blick des besserwissenden Korrektors. Die moderne Geschichte der europäischen Expansion bietet dafür zahlreiche Beispiele. Anknüpfend an die Historiographie der frühen Neuzeit beschreibt sie die Entstehung eines Neuen, das zwar Voraussetzungen besitzt (die Ausdehnung der europäischen Machtbereiche, die Entwicklung der Nautik, der Kartographie, des Buchdrucks), durch diese Voraussetzungen aber nicht schon erklärt ist. Sie zeigt auf, wie nicht einfach ein Weltbild sich wandelte, sondern ein neues Weltbild entstand – Widerstände und Gegenläufigkeiten eingeschlossen. Man kann von Narrativen der Emergenz sprechen: Voraussetzungen jener Gründungsgeschichten, auf denen Neuzeit und Moderne basieren. Verschiedene Narrative lassen sich unterscheiden. (1) Das politisch-ökonomische: Es betrifft die Unaufhaltsamkeit der europäischen Expansion, die Entstehung der westlichen Hegemonie, die Dynamik der Globalisierung.81 (2) Das geographische: Es begreift die zunehmende Homogenisierung und Rationalisierung der Weltmodelle als wachsende mimetische Annäherung an die bestmögliche Repräsentation der territorialen Wirklichkeit.82 (3) Das wissenschaftliche: Es gilt der Verbindung zwischen der Erschließung neuer Welten und der Entwicklung empi-

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risch gestützter Rationalitäten.83 (4) Das kulturelle: Es richtet sich auf Eigenart und Konsequenzen dessen, was die Alte Welt von der Neuen übernahm (Kaffee, Kakao, Kartoffeln, Tabak, Zucker, Baumwolle), oder allgemeiner auf die Impulse für die Veränderung des frühneuzeitlichen Europa.84 (5) Das psychologische: Es versteht die Begegnung mit der Neuen Welt als Trauma einer radikalen Alteritätserfahrung, die sukzessive bewältigt worden sei – durch Auslöschung, Unterdrückung oder Assimilation des Andern.85 (6) Das soziologische: Es sieht die moderne Welt geprägt durch ein Verschwinden der großen ›Transzendenzen‹ und eine Vermehrung der kleinen – bis hin zur Allgegenwärtigkeit des Fremden als Nächsten.86 Diese Narrative bieten Raum ebenso für affirmative wie für kritische Geschichten: für Geschichten, die die weitreichenden Folgen der frühneuzeitlichen Umbrüche betonen, die fatalen Formen der Dominanz an den Pranger stellen oder die subtilen Effekte der Mestizierung feiern.87 Gemeinsam ist vielen von ihnen der teleologische Fokus: der Wunsch herauszufinden, warum und wie die Gegenwart, als ›clash of cultures‹ begriffen, wurde, was sie ist. Versuche, die ›Poetik des Imperialismus‹ von Shakespeares Tempest bis Burroughs Tarzan zu rekonstruieren, gehören ebenso dazu wie solche, die den Bogen von Swifts Gulliver zum modernen Genozid spannen.88 Sie suggerieren eine innere Konsequenz bestimmter historischer Ereignisse und Prozesse, die für sich in unterschiedlichen Zusammenhängen stehen: Die Westfahrt Colóns 1492, die päpstliche Aufteilung des überseeischen Machtbereichs im Vertrag von Tordesillas 1494, die Benennung Amerikas durch Waldseemüller 1507, die Eroberung des Aztekenreichs durch Cortés 1519–21, die Entwicklung einer neuen kartographischen Projektion durch Mercator und andere seit 1570, die Begründung der englischen Kolonie Virginia seit 1605 – sie alle haben ›Geschichte gemacht‹ und beruhen doch auf den je eigenen Kontingenzen der Geschichte. Makrohistorisch fügen sie sich zusammen. Doch kann Makrohistorie der Komplexität der Situationen gerecht werden? Oder nutzt sie mehr kultureller und politischer Identitätsbildung als wissenschaftlicher Erkenntnis? Wichtige Einsichten kommen in jüngerer Zeit von mikrohistorischen Studien. Sie haben die frühe Neuzeit in ihrer Verflechtung von Kontinuitäten und Diskontinuitäten profiliert: die Zunahme funktionaler Differenzierungen, die Veränderung der religiösen Systeme und die Spezialisierung der wissenschaftlichen, die Pluralisierung von Sinnhorizonten und die Verinnerlichung von sozialen Zwängen. Sie haben die Spezifika des Amerikadiskurses herausgearbeitet: die Integration neuen Wissens in die vorhandenen Ordnungen, das Entstehen großer Sammlungen von Texten, Bildern und Artefakten, die Ausbildung von Institutionen, die Transformation indigener und kolonialer Gesellschaften oder die Unterschiedlichkeit der nationalen und konfessionellen Kolonieprojekte. Sie haben nicht zuletzt die Aufmerk-

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samkeit geschärft für Zeichen und Sprache der Texte, kulturelle Topoi und rhetorische Tropen, Metaphern und Metonymien, Lücken, Brüche und Widerläufigkeiten.89 Die Aufmerksamkeit für die historischen Semantiken, die Diskurse, die Geltungsbehauptungen – das, was oben unter den Stichworten Rhetorik der Innovation und der Erfahrung anklang. Gewiß ist auch dort, wo Hybriditäten, Zwischenzustände und dritte Räume ins Zentrum rücken, der Blick auf die Vergangenheit von Erfahrungen der Gegenwart bestimmt. Doch er ist nicht notwendig ein teleologischer. Er ist in geringerem Maße ein vereinfachender. Und er ist ein produktiver: Statt der Weiterarbeit am Arsenal der großen Erzählungen widmet er sich der Erkundung der kleinen, auf diese Weise die Erkenntnis der Gründe, warum wurde, was ist, ergänzend durch die Neugier auf Entwürfe, die erprobten, was sein könnte.

Kleine Poetik der Neuen Welt Das meint einerseits: auf die großen Geschichten zu verzichten, in denen wir versucht sind, das widerspenstige Verhältnis von Neuer und Alter Welt zu ordnen. Andererseits: sich mit imaginativen Sinngefügen zu beschäftigen, in denen Momente von Innenansichten aufblitzen, ohne doch solche zu sein.90 Es geht im folgenden überwiegend um europäische, nicht um indigene Texte und Bilder. Solche sind, trotz der Zerstörungsaktionen der Conquistadoren gegenüber Menschen und Dingen, Städten und Regionen, durchaus vorhanden. Doch weder die aztekischen Bilderhandschriften noch die zweisprachige Historia general de las cosas de Nueva España des Bernardino de Sahagún, die das indigene Wissen systematisch sammelt, haben in ihrer Zeit große Wirkung ausgeübt. Die europäische Vorstellungskraft wurde durch anderes angeregt: zunächst durch die prägnanten Beschreibungen eines Vespucci, dann durch die monumentalen illustrierten Sammlungen eines Hakluyt oder de Bry. In und neben ihnen finden sich immer wieder Stücke, die in eigentümlicher Weise von der Neuen Welt imprägniert scheinen, zum Beispiel, indem der ›Wilde‹ zum Subjekt wird oder umgekehrt das europäische Subjekt ›verwildert‹. Wildheit ist eines der großen Themen der frühen Neuzeit. Es spielt eine zunehmende Rolle für die Bestimmung von Kultur, für die Abgrenzung des christlichen Europäers – nach außen wie nach innen. In den entsprechenden Begriffen treffen anthropologische und theologische, kulturelle und soziale Momente zusammen, und das Terrain, auf dem sie zusammentreffen, ist nicht zuletzt durch das Dreieck von Geschichte, Subjekt und Staat markiert. Dieses Subjekt aber erfährt seinerseits eine Verschiebung, die sich an der Semantik ablesen läßt. Hatte die ältere Tradition ›subiectum‹ unter anderem als untergeordneten Begriff, als Untertan, als Gegenstand eines Vermögens

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oder eines Diskurses verstanden, vollzieht sich im Übergang zur Aufklärung ein Perspektivenwechsel hin zum Ich, zur individuellen Substanz, zur ›Ame même‹ als Grundlage der Perzeption und des Wollens.91 Gleichzeitig vollzieht sich die Ausbildung eines Begriffs des ›Selbst‹, der sich von dem in älterer christlicher Tradition geläufigen unterscheidet: Einerseits wird das Selbst als dasjenige begriffen, an dem sich das Allgemeine oder die Natur des Menschen erschließt; andererseits gewinnen Formen der Selbsterkundung an Bedeutung, in denen nicht das Allgemeine, sondern das Individuelle im Vordergrund steht – bis hin zu jener Umdeutung des Wegs nach innen, der nun nicht mehr unbedingt zu Gott, sondern auch zum eigenen Lebenssinn führen soll. Die beiden Richtungen, paradigmatisch in der Philosophie Lockes und der Montaignes greifbar, treffen darin zusammen, daß sie das Selbst zu einem archimedischen Punkt des In-der-Welt-Seins machen, daß sie jene uns vertraute Ansicht anbahnen, »ein Selbst ›habe‹ man genauso wie einen Kopf«.92 Eben dies bedeutet aber auch, ein Konzept des Andern zu entwickeln, das oder der als dem Selbst gegenläufig oder gegenpolig gedacht wird. Darum soll es hier gehen. Vom ›wilden Subjekt‹ zu sprechen zielt nicht darauf, eine neue Universalgeschichte von der ›Wildheit‹ des europäischen Denkens als Antriebsmotor der neuzeitlichen Kultur zu erzählen. Doch ist damit auf jene Übergangszonen verwiesen, in denen einerseits der Untergeordnete als Handelnder, Denkender und Sprechender erscheint, andererseits der Übergeordnete sich in den Grenzen seines Handelns, Denkens und Sprechens reflektiert. Die Imagination des Andern ist hier im subjektiven wie objektiven Sinne zu verstehen: Das Subjekt imaginiert nicht nur den Andern, sondern imaginiert ihn als anderes Subjekt, das seinerseits dem Subjekt gegenüberzutreten, ja dieses zum Objekt zu machen vermag. »Zum Objekt gemacht zu werden, ist Bedingung, zum Subjekt zu werden, sich zum Subjekt zu machen.«93 Claude Lévi-Strauss beschrieb das ›wilde Denken‹ als ein eigenlogisches, fähig Elemente miteinander zu verbinden, die dem ›Nicht-Wilden‹ inkompatibel scheinen.94 Er sah darin aber auch eine grundlegende Möglichkeit des menschlichen Geistes, die Welt zu ordnen – eine Möglichkeit, die die Ethnologie systematisch entwickelt und deren Vorstufen sie ihrerseits in der Geschichte erkennt: zum Beispiel bei Jean de Léry, dem französischen Brasilienreisenden des 16. Jahrhunderts, dessen sowohl melancholischer wie methodischer Ansatz dem Lévi-Strauss’schen geistesverwandt ist. Das wilde Denken betrifft die Existenz von Gegenordnungen, die sowohl kulturell anders wie strukturell vergleichbar sind. Es stellt eine Herausforderung dar für eine Eigenes und Fremdes dichotomisch gegenüberstellende Wissenschaft. Und eben diese Herausforderung zeichnet sich im frühneuzeitlichen Umgang mit der Neuen Welt erstmals klar ab. Hier stößt auch eine ihrerseits dichotomische Vorstellung an ihre Grenzen, die für den Blick

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auf textuell oder visuell gefaßte Fremderfahrung immer noch eine wichtige Rolle spielt: die Vorstellung, diese sei entweder historisch durchsichtig (und insofern für eine Ereignisgeschichte der Neuen Welt brauchbar) oder literarisch-bildlich komplex (und insofern eher für eine Literatur- oder Kunstgeschichte brauchbar). Die neuere Ethnologie hat den Zweifel genährt, man könne fremde Lebenswelten einfach beschreiben oder rekonstruieren. Doch heißt dies andererseits nicht, alles Überlieferte gäbe Aufschluß nur über den kulturellen Horizont, aus dem es herrührt. So wie dieser Horizont sich immer definiert durch das, was er ein- und was er ausschließt, so ist auch Überlieferung immer durch ein Hier und Dort bestimmt: durch einen Bezug auf das, was sie darstellen, aber nicht selbst sein kann. Dieser dritte Raum besitzt für die Entwicklung des kulturellen Imaginären keine kleine Bedeutung. In ihm kommt es zu einem beständigen Austausch zwischen Realem und Imaginärem, auf das wiederum der analytische Blick im Hin und Her zwischen Oberfläche und Tiefe reagiert. Die ›kleine Poetik‹ folgt der Idee, es gebe literarische und bildliche Entwürfe von Kultur, die in genuiner Weise poetisch seien. Das ist für die Neue Welt erst nach einer gewissen Zeit der Fall. Beispiele für kühnere Formen künstlerischer Imagination mehren sich erst seit etwa 1600: Texte, die sich literarisch mit der Vielfalt möglicher Welten beschäftigen, Reiseberichte, die mit den Modalitäten der Gattung jonglieren, Erzählungen, die wie Aphra Behns Oroonoko exotischen Lokalkolorit und politische Zivilisationskritik verbinden.95 Erst zu einer Zeit, als ›Neue Welt‹ nicht mehr unbedingt Amerika meint, integriert sich Garcilasos Serranogeschichte in einen breiten Strom von Berichten und Erzählungen, die Schiffbrüche und einsame Inseln ins Zentrum stellen – mit einem Höhepunkt in Defoes Robinson Crusoe, der das Subjekt in spezifischer Weise von seinem ›Andern‹ her entwirft. Eine eigentliche Amerikaliteratur, bezogen vor allem auf Nordamerika, entsteht erst um 1800: im Zuge der romantischen Natursehnsucht, der geschichtsphilosophischen Beschreibung europäischer Ursprünge sowie des Interesses an der Nationbildung und ihren historischen Grundlagen. Das Bild des edlen Wilden entwerfen in Frankreich Bernardin de Saint Pierre und François-René de Chateaubriand. Die melancholische Feier einer zugrundegehenden Wildnis vollzieht sich in den Leatherstocking Tales James Fenimore Coopers. Überseeische Impressionen durchziehen die deutsche Lyrik (Hölderlin, Schiller, Lenau, Seume). Das Fremde ermöglicht Steigerungen der poetischen Intensität, Erweiterungen des literarischen Horizonts. Zugleich wird es weltgeschichtlich oder geschichtsphilosophisch eingefangen. Chateaubriand, angetreten, um in René oder Atala (1801) – Teile eines großangelegten Epos des Naturmenschen – die Erfahrungswelt eines bei den nordamerikanischen Natchez lebenden Exilfranzosen und die

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Liebesgeschichte zweier ganz unterschiedlicher ›Wilder‹ zu entwerfen, benutzte die beiden Romane, christlich umgearbeitet, als Exempel für Le génie du christanisme (1802). Aus der endgültigen Ausgabe seiner christlichen Universalgeschichte (1828) entfernte er sie wieder, nachdem zwei Jahre zuvor die Geschichte der zerstörten indianischen Idylle und des an seinem Weltschmerz scheiternden, ›verwilderten‹ Europäers (Les Natchez) im Druck erschienen war. Historisches, Mythisches und Literarisches vermählen sich in diesen Texten. Der Literatur wird eine Bewahrungs- und Erkenntnismöglichkeit besonderer Art zugemessen. Schon 1777 hatte JeanPierre Malouet in seiner Voyage de Surinam mit dem wissenschaftlichen Anspruch der sich ausbildenden Völkerkunde festgestellt: »Eine Geschichte der Indianer, wie man sie zu schreiben mich eingeladen hat, könnte nur ein Roman sein; denn es gibt weder Denkschriften noch fortdauernde Traditionen, die uns über die verschiedenen Völker aufklären würden.«96 Doch es ist dies auch das Zeichen einer wachsenden funktionalen Differenzierung verschiedener Redehaltungen. Das literarisch Imaginäre des Fremden hat von nun an einen eigenen Ort. Einen Ort, an dem es sich entwickeln und seinerseits Interferenzen mit der Wissenschaft erzeugen kann – bis hin zu Raoul Schrotts multiperspektivischem Verwirrspiel Finis Terrae (1995). Mit den Übergängen der frühen Neuzeit ist dies nicht zu verwechseln. Hier bildet sich das Imaginäre eben dort, wo theologische, geographische und historische Sicht nicht mehr ohne weiteres konvergieren, wo Intentionen und Repräsentationen Reibeflächen erzeugen, wo Semantiken in Bewegung geraten. Genau das macht die Zeit interessant: Gebunden an die Ausbildung von neuen Ordnungen und Modellen, stehen die Momente des Poetischen selbst in der Spannung heterogener Konstellationen und kultureller Kontexte. Damit steht aber auch das ›Imaginäre der Neuen Welt‹ immer an der Grenze zur Chimäre. So wie die Neue Welt lange keine stabile Größe darstellt, so hat auch ihr imaginatives Potential lange keine scharfen Konturen. Lange bleiben die mediterranen oder orientalischen Beziehungen wichtiger als die okzidentalischen. Noch für das europäische Bürgertum der Zeit um 1800 dürfte der Orientalismus eine größere Rolle gespielt haben als der Amerikanismus.97 Das lag nicht nur daran, daß Fragen von politischer Macht und territorialer Dominanz zu diesem Zeitpunkt, etwa durch Napoleons Ägyptenfeldzug, für den südöstlichen Raum an Bedeutung gewannen. Am Orient ließen sich auch Berührungen mit der christlichen Religion und der europäischen Geschichte studieren, die den Kern des Eigenen betrafen und zugleich dem Imaginären von Erotik und Exotik Spielräume ließen. An Amerika hingegen reizte der Sprung in die Vorgeschichte, traditionelle Lebensweisen, Riten und Praktiken, lange unberührt von den europäischen Entwicklungen. Dort also die Kultur, die nah und doch fremd ist, die Traum, Schrecken und Sog verbindet. Hier die Natur, die aus zeitlicher

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Ferne hineinragt in die eigene Gegenwart und dieser die Unmöglichkeit, die eigene Vorvergangenheit zu bewahren, einprägt. Damit wirkt auch in der Zeit, in der sich die Diskurse neu formierten, etwas fort von dem, was die Neue Welt schon seit dem ausgehenden 16. Jahrhundert attraktiv machte: Formen der Fremdheit, Andersheit und Kulturbegegnung, die hier in anderer Weise erprobt werden können als für Afrika, den Orient oder Asien; ›Figuren‹ und Muster, welche die Sprachen und Konstellationen durchqueren und die Bedingungen der Möglichkeit erkennen lassen, die Ferne überhaupt zum Terrain des Imaginären zu machen. Dazu zählen: Experimente mit Subjektpositionen und Kulturmodellen, Engführungen von Nähe und Distanz, Steigerungen und Verfeinerungen von Alterität, rhetorische Emphasen. Nicht wenige von ihnen blieben, registriert und archiviert von den Kolonialverwaltungsinstitutionen, aber nicht verbreitet, in ihrer Wirkung beschränkt. Nur in einer einzigen Handschrift überliefert ist der Bericht des Faktoreibeamten Pero Vaz de Caminha, Begleiter des Pedro Alvares Cabral, über die brasilianische Küste (1500). Er schildert eindringlich die Begegnungssituation zwischen Portugiesen und Indianern: die Formen des Austauschs von Nahrungsmitteln, Kleidungsstücken und Gegenständen, die Modalitäten der Verständigung durch Gesten und Zeichen, die Momente kultureller Unübersichtlichkeit, wenn sich die Seeleute »unter die Wilden mischen« und umgekehrt die Indianer ungeniert unter den Portugiesen bewegen: »Sie balgten mit unseren Leuten und vergnügten sich sehr. [...] Sie bewegten sich schon so frei unter uns, daß sie uns fast bei der Arbeit störten.«98 Wenige dürften diese Andeutungen harmonischen Miteinanders zunächst zu Gesicht bekommen haben. Erst die spätere Nationalgeschichtsschreibung machte den Text zu einer der Gründungsurkunden brasilianischer Interkulturalität. Auch die Tagebücher und Briefe Colóns blieben zunächst überwiegend ungedruckt. Das Schreiben an die spanischen Könige aus Jamaika von 1503 erschien nicht zufällig auf Italienisch (Lettera rarissima, Venedig 1505), nicht zufällig auch handelt es sich um den rhetorisch elaboriertesten Text Colóns: eine grelle Mischung aus Verzweiflung und Verheißung, Paradiesischem und Apokalyptischem. Eine Entfaltung des Imaginären nicht wie bei Caminha an den Körpern der Indianer, sondern an den Unbilden der Natur. Zahlreiche Autoren, von Cortés bis Conrad, werden die gleiche Richtung einschlagen. Colóns Schreiben konnte, kein Bestseller, aber doch im Druck erschienen, stärker auf die Ausbildung europäischer Phantasien einwirken als Caminhas Bericht. Eben deshalb steht im folgenden vor allem früh gedrucktes Material im Zentrum. Ihm lassen sich Bedingungen der Möglichkeit des Imaginären anders ablesen als jenen Formen, die erst spät in die Diskurse eintraten. Auf Bedingungen der Möglichkeit den Blick zu richten heißt

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aber, statt der einen linearen die vielen verschlungenen Geschichten ins Auge zu fassen – Geschichten von Alterität und Mimesis, die bei Akteuren wie Texten interferieren (2), von der Poetik der Passion, die aus Mißerfolgen neue Bedeutungsgewinne zieht (3), von der kannibalischen Logik, die den Amerikadiskurs durchdringt (4), von der sinnlichen Gegenwärtigkeit der überseeischen Welt, die Dinge, Menschen und Bilder erzeugen (5), von utopischen Inseln, die die Neue Welt zu einer literarischen machen (6), schließlich von der Reise ins Selbst, die für Aufklärung, Romantik und Moderne wichtig werden wird (7).

Anmerkungen 1 Garcilaso de la Vega, Comentarios, Bd. 1, S. 23–26; Comentarios, ed. SERNA, S. 122–127; zur Episode ROSENBLAT, Tres episodios, und ROBE, Wild Men, S. 51f. 2 BERNHEIMER, The Wild Man; HUSBAND, The Wild Man; Ch. MÜLLER, Studien zur Darstellung und Funktion ›wilder Natur‹; VON WILCKENS, Das Mittelalter und die ›Wilden Leute‹; MASON, Deconstructing America; BARTRA, Wild Men; ders., The Artificial Savage. 3 FRÜBIS, Die Wirklichkeit des Fremden. 4 Zum Wiener Fest: Curiosiäten und Inventionen, S. 22ff.; CHECA, Felipe II, Nr. 289, S. 669– 671. Zum englischen Hombre Salvagio BROWN, ›This thing of darkness I acknowledge mine‹, S. 54. 5 Vgl. ZAPPERI, Der wilde Mann von Teneriffa. 6 Conti, Le Voyage aux Indes, ed. BOUCHON/AMILHAT-SZARY. 7 Titu Kusi Yupanki, Die Erschütterung der Welt, ed. LIENHARD. 8 Garcilaso de la Vega, Comentarios, ed. SERNA, S. 108: »y aunque llamamos Mundo Viejo y Mundo Nuevo, es por haberse descubierto aquél nuevamente para nosotros, y no porque sean dos, sino todo uno.« 9 Francisco López de Gómara: Hispania Victrix. Primera y segunda parte de la Historia general de las Indias. Saragossa 1552, Beginn der Widmungsvorrrede an Karl V.: »Muy soberano Señor: La mayor cosa después de la creación del mundo, sacando la encarnación y murte del que lo crió, es el descubrimiento de Indias; y así, las llaman Mundo-Nuevo«; vgl. BORGES, El sentido transcendente; MILHOU, Die Neue Welt, S. 278. 10 Die großen Entdeckungen, ed. SCHMITT, Bd. 2, S. 105–109 (26f.). 11 Kurz vor der Drucklegung der Schedelschen Weltchronik wurde zum Beispiel ein Passus eingefügt, in dem von der Möglichkeit einer Weltumseglung die Rede ist; M. HERKENHOFF, Die Darstellung außereuropäischer Welten, S. 243–255. 12 Die Nachricht von den neuen Inseln verbreitete sich schnell, zu chronikalischen Anspielungen M. HERKENHOFF, Die Darstellung außereuropäischer Welten, S. 258f., Anm. 86 mit Hinweis u. a. auf Johannes Trithemius, der im zweiten Band der Annales Hirsaugiensis (1514, gedr. St. Gallen 1690, S. 552) erwähnt, der Kolumbusbrief sei in gedruckter Form überall verbreitet gewesen (»ubique circumfertur impressa«). 13 Kolumbus, Der erste Brief, ed. WALLISCH, S. 14 (4), 43. 14 O’GORMAN, The Invention of America; IMBRUGLIA, L’invenzione del Paraguay; BOELHOWER, Inventing America; RABASA, Inventing America; REICHERT, Die Erfindung Amerikas durch die Kartographie. 15 FORMISANO, Vespucci; zum Echtheitsproblem zusammenfassend Scopritori e viaggiatori del cinquecento, ed. LUZZANA CARACI/POZZI, S. 201–280 (mit den Texten der ›Originalbriefe‹); Christine STÖLLINGER-LÖSER: Art. Vespucci, in: Die deutsche Literatur des Mittelalters. Verfasserlexikon. Bd. 11 Nachträge und Korrekturen (2004), Sp. 1617–1626; zu den Mundus novus-Editionen

Anmerkungen

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LUZZANA CARACI, Alle origini della geografia d’America; eine Neuausgabe bietet WALLISCH; zur Benennung RONSIN, Découverte et baptême. Umfassende Bibliographie unter http:// www.mundusnovus.it. 16 Mundus novus, ed. WALLISCH, S. 12 (1): [novi regiones] »perquesivimus et invenimus, quasque novum mundum appellare licet, quando apud maiores nostros nulla de ipsis fuerit habita cognitio et audientibus omnibus sit novissima res«. 17 Text in: Scopritori e viaggiatori del cinquecento, ed. LUZZANA CARACI/POZZI, S. 272–280, hier S. 274f. Zur Terminologie der ›anderen‹ oder ›neuen‹ Welt RANDLES: Le Nouveau Monde, l’autre monde et la pluralité des mondes (zuerst 1961), in: ders., Geography, Nr. XV; vgl. auch BURGHARTZ, Alt, neu oder jung. 18 Grynaeus, Novus orbis regionum, Basel 1532, f. 1b; s. auch CÉARD, La nature et les prodiges, S. 273f.; RYAN, Assimilating New Worlds, S. 523 (mit weiteren Stellen). 19 Zur Bedeutung der Rhetorik für die Reiseliteratur allgemein NEUBER, Fremde Welt im europäischen Horizont; ABBOTT, Rhetoric in the New World. 20 ALBANESE, New Science, New World; RANDLES, Geography, Cartography and Nautical Science; BESSE, Les grandeurs de la Terre. 21 J.-D. MÜLLER, Curiositas und erfarung; ders., Erfarung; M. MÜNKLER, Erfahrung des Fremden. 22 Mundus novus, ed. WALLISCH, S. 14 (3): »qui multarum rerum experientia optime norunt, quid sit incerta querere et, que an sint, ignorantes investigare«. 23 Ebd., S. 30 (13): »Ex italica in latinam linguam iocundus interpres hanc epistolam vertit, ut latini omnes intelligant, quam multa miranda in dies reperiantur, et eorum comprimatur audacia, qui celum et maiestatem scrutari et plus sapere, quam liceat sapere, volunt.« 24 KRÜGER, Curiositas (mit der älteren Literatur); zur frühneuzeitlichen Aktualisierung der mit dem curiositas-Verdikt einhergehenden Momente J.-D. MÜLLER, Erfarung, S. 313–315. 25 Brant, Narrenschiff, ed. LEMMER, cap. 66 (von erfarung aller lant); NEUBER, Verdeckte Theologie. Johannes Geiler von Keisersberg kritisiert in seinen Predigten über das Narrenschiff, wo er auf die durch König Ferdinand entdeckten neuen Völker zu sprechen kommt, die durch die Kaufleute eingeführten »neuen und perversen Sitten und Gelüste, die schädlichen und fremden Gewänder«; Nauicula siue speculum fatuorum, Straßburg 1510, f. Ziir; Des hochwirdigen doctor Keiserpergs narenschiff, Straßburg 1520, f. CLXXXIVr. 26 Franck, Weltbuch, Vorrede und 4. Buch; J.-D. MÜLLER, Alte Wissensformen und neue Erfahrungen, S. 189. 27 Doctor Fausti Wehklag, ed. WIEMKEN, S. 266–288; zu den Quellen (vor allem Benzonis Historia del Mondo Nuovo) HENNING, Die neuentdeckten Länder. 28 JAHN, Raumkonzepte, S. 266. 29 John Rastell, Interlude of the Four Elements (ca. 1517–19), ed. COLEMANN; Auszüge in: New American World, ed. QUINN, Bd. 1, S. 168–171. Verschiedene Stellen aus portugiesischen Autoren bei BESSE, Les grandeurs de la Terre, S. 70–72; am Beispiel von Jacques Cartier und Jean Alfonse CHINARD, L’exotisme, S. 43–45. 30 BLUMENBERG, Der Prozeß der theoretischen Neugierde, S. 140f.; Brant, Narrenschiff, ed. LEMMER, cap. 66, v. 69–74; Bezugnahme auf die »Colunnas hercules« auch am Beginn des deutschen Columbus-Briefs (in der lateinischen Version nur: »Gadibus«). 31 BESSE, Les grandeurs de la Terre, S. 73–75. 32 J.-D. MÜLLER, Erfarung, S. 341. 33 Galilei, Sidereus nuncius, ed. BLUMENBERG, S. 36f. Zur Unterscheidung zwischen mathematischer und experimenteller Tradition in der Entwicklung der exakten Wissenschaften KUHN, Mathematical vs. Experimental Traditions. 34 KONDYLIS, Die Aufklärung im Rahmen des neuzeitlichen Rationalismus, S. 98–101. 35 Leonardo da Vinci, Literary Works, ed. RICHTER, S. 240, Nr. 1153: »La sperienza non falla mai, ma sol fallano i vostri guiditi, promettendosi di quella efetto, tale che ne’ uostri esperimenti causati non sono«; andere Stellen ebd., Nr. 1149–1151. 36 Ebd., S. 241, Nr. 1161: »Quelli che s’inamoran di pratica sanza scientia son come ’l noc-

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1 Einleitung: Imaginäre Neue Welt

chiere che entra navilio sanza timone e bussola, che mai à certezza dove si vada.« 37 Pedro Nunes: Tratado em defensa da carta de marear, in: Opera. Bd. 1. Lissabon 1940, S. 175: »Manifesto e que estes descobrimentos de costas, ilhas e terras firmas não se fizeram indo a acertar, mas partiam os nossos mareantes muito ensinados em regras de astrologia e geometria«; SEED, Ceremonies of Possession, S. 126. 38 Bacon, Neues Organon, ed. KROHN, Teilbd. 1, S. 26: »priusquam autem oceanus trajiceretur et novi orbis regiones detegerentur, necesse fuit usum acus nauticae, ut ducem viae magis fidum et certum, innotuisse«; J.-D. MÜLLER, Erfarung, S. 341f. 39 STAGL, Apodemik oder ›Reisekunst‹; ders., Apodemiken; ders., Methodisierung des Reisens; ders., Geschichte der Neugierde. 40 Der deutsche Kolumbusbrief, ed. HÄBLER, f. b ijv. 41 NEUHAUSEN, Columbus, die Alte und die Neue Welt in lateinischer Literatur. 42 MILHOU, Die Neue Welt; GEMEGAH, Die Theorie des spanischen Jesuiten José de Acosta. 43 HUDDLESTON, Origins of the Americans; RYAN, Assimilating New Worlds; MACCORMACK, Limits of Understanding. 44 JAHN, Raumkonzepte, S. 260–264; GEWECKE, Wie die neue Welt in die alte kam; NEUBER, Fremde Welt im europäischen Horizont; GRAFTON/SHELFORD/SIRAISI, New Worlds, Ancient Texts. Zur Geographie HERDE, Das geographische Weltbild; HAMANN, Kartographisches und wirkliches Weltbild; BOELHOWER, Inventing America; Focus Behaim-Globus; REICHERT, Die Erfindung Amerikas durch die Kartographie; BESSE, Les grandeurs de la Terre. 45 Original: Rio de Janeiro, Ministério das Relações Exteriores (Museo »Itamaraty«); Abbildung: BAGROW/SKELTON, Meister der Kartographie, S. 104; zum Kontext KIENING, Die goldene Insel. 46 Vgl. MILANESI, Asarot oder Anian. 47 Zu Fries PETRZILKA, Die Karten des Laurent Fries. Ein Beispiel für das Wandern der Kannibalenidee bietet die Bildkarte zu Armenien in der von Lorenz Fries besorgten PtolemäusAusgabe (Straßburg: Grüninger 1522 u. ö.). Zu sehen ist eine Indianerin beim Räuchern von Menschenfleisch – ein Bild, zurückgehend auf ein von Jan van Doesborch um 1520 publiziertes Flugblatt De nouo mondo, in dem America und Armenica verwechselt worden waren; COLIN, Das Bild des Indianers, S. 191f. (B. 19), 194f. (B. 22). 48 Mercator-Atlas (1595); Ortelius, Theatrum orbis terrarum, ed. SKELTON; WOLFF, Vierhundert Jahre Mercator; zu imaginären Fahrten auf der Suche nach dem Südkontinent FAUSETT, Writing the New World. 49 Faksimile-Ausgabe: Cadomostos Beschreibung von Westafrika, ed. SADJI; Entdeckungsreisen nach Indien und Amerika, ed. SADJI; zu den Ausgaben und Übersetzungen der Paesi BÖHME, Die grossen Reisesammlungen, S. 15–47 (S. 16 Abb. des analogen Titelblatts der italienischen Ausgabe, das den Namen des Vespucci nennt). 50 Il Mondo Nuovo, ed. POZZI, S. 110 (8): »Navigavimus autem secundum littus circa sexcentas leucas et sepe descendimus in terram et colloquebamur et conversabamur cum earum regionum colonis et ab eis fraterne recipiebamur et secum quandoque morabamur quindecim vel viginti dies continuos amicabiliter et hospitabiliter.« 51 HODGEN, Early Anthropology; GLIOZZI, Adamo et il nuovo mondo; PAGDEN, The Fall of natural man. 52 MUNDY, The Mapping of New Spain; zum Zusammenspiel europäischer und indigener Raummodelle auch MIGNOLO, The Darker Side of the Renaissance, S. 219–313. 53 AZOULAI, Les péchés du Nouveau Monde, S. 17. 54 KUPPERMAN, Indians and English, S. 119. 55 KENSETH, The Age of the Marvellous, S. 341, Nr. 118. 56 BESSE, Les grandeurs de la Terre, S. 104. 57 ERDHEIM, Anthropologische Modelle; TODOROV, Die Eroberung Amerikas. 58 STEMPEL/STIERLE, Die Pluralität der Welten; zu verschiedenen Modellen von Alterität WALTER, Indianischer Seelenadel und mestizische Sprachvernunft. 59 GREENBLATT, Wunderbare Besitztümer; NEUBER, Fremde Welt im europäischen Horizont.

Anmerkungen

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60 HERKENHOFF, Die Darstellung außereuropäischer Welten, S. 255–276. 61 Vgl. DE CERTEAU, Kunst des Handelns, S. 279. 62 MARENCO, Koloniale Aneignung. 63 WEIMANN, Ränder der Moderne. 64 Zusammenstellung der auf Amerika bezogenen europäischen Texte bei ALDEN/LANDIS, European Americana. 65 SEED, Ceremonies of Possession. 66 In den Neuen Gesetzen, den Leyes Nuevas von 1542 finden diese kritischen Stimmen einen Widerhall; KONETZKE, Süd- und Mittelamerika I, S. 27–41; zur Diskussion um den Status der Indianer HANKE, Aristotle and the American Indians. Textsammlungen zu den verschiedenen kolonialen Situationen in: SCHMITT, Dokumente zur Geschichte der europäischen Expansion, Bd. 3 und 4. Zum Vertrag von 1494 SCHNEIDER, Tordesillas 1494. 67 Vgl. HULME, Colonial Encounters. 68 Zum Begriff der kolonialen Semiose MIGNOLO, The Darker Side of the Renaissance. 69 Neuausgabe in: SCHMITT, Gold der Neuen Welt. 70 Vgl. AXTELL, The European and the Indian; ders., The Invasion Within; ders., Beyond 1492; HULME, Colonial Encounters; CLENDINNEN, Ambivalent Conquests; CANNY/PAGDEN, Colonial Identity; zum Konzept der Kontaktzone PRATT, Imperial Eyes, Kap. 1. 71 WHITE, The middle ground, S. X. 72 ISERNHAGEN, Dominance, Subdominance, Survival. 73 BHABHA, Die Verortung der Kultur; außerdem LOOMBA, Colonialism/Postcolonialism; BARKER/HULME/IVERSEN, Colonial Discourse. 74 Vgl. BESSE, Les grandeurs de la Terre, S. 5–10. 75 LÖW, Raumsoziologie. 76 BHABHA, Die Verortung der Kultur, S. 55. Zum Problem der ›Übersetzung‹ ASAD, Übersetzen zwischen Kulturen; HAVERKAMP, Die Sprache der Anderen. 77 SILVERMAN, Textualitäten. 78 Zum Verhältnis von Präsenzeffekten und Sinneffekten GUMBRECHT, Diesseits der Hermeneutik. 79 LINDGREN, Wege und Irrwege, S. 151f. 80 ZERUBAVEL, Terra cognita, S. 103; vgl. auch S. I. SCHWARTZ, The Mismapping of America. 81 SCHMITT, Europäische Expansion, 4 Bde.; zur Globalisierung RANDLES, De la terre plate au globe terrestre; BROTTON, Terrestrial Globalism; COSGROVE, Apollo’s Eye. 82 HAMANN, Kartographisches und wirkliches Weltbild; LINDGREN, Wege und Irrwege; ZERUBAVEL, Terra cognita; RANDLES, Geography, Cartography and Nautical Science. 83 ALBANESE, New Science, New World; zur Rolle der Mathematik EDWARDS, The Doubtful Traveller. 84 ELLIOTT, Die Neue in der Alten Welt, bes. S. 34–54: ›Der Prozeß der Assimilation‹; BRANDON, New Worlds for Old; NORTON, New World of Goods. 85 TODOROV, Die Eroberung Amerikas. 86 H. MÜNKLER, Furcht und Faszination; ders., Die Herausforderung durch das Fremde. 87 Das Letztere zum Beispiel bei WEATHERFORD, Das Erbe der Indianer. 88 CHEVITZ, The Poetics of Imperialism. 89 Wichtige Beispiele: TODOROV, Die Entdeckung Amerikas; GREENBLATT, Wunderbare Besitztümer; SCHÜLTING, Wilde Frauen, fremde Welten; MACKENTHUN, Metaphors of Disposession; WEIMANN, Ränder der Moderne. 90 Zu solchen Innenansichten DAVIS, Non-European stories, European listeners. Ein Versuch, sich in geschlechtergeschichtlicher Sicht, »auf die Störungen, die Irritationen und das NichtFunktionieren des europäischen Diskurses zu konzentrieren, die Momente zu benennen, in denen das Fremde das Eigene zu gefährden beginnt«, bei SCHÜLTING, Wilde Frauen, fremde Welten (S. 17). 91 Art. Subjekt, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie. Bd. 10. Darmstadt 1998, Sp.

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1 Einleitung: Imaginäre Neue Welt

373–400, hier 379. 92 TAYLOR, Quellen des Selbst, S. 319. 93 FRÜCHTL, Das unverschämte Ich, S. 220 (im Anschluß an Sartre). 94 LÉVI-STRAUSS, Das wilde Denken. 95 Zu französischen Überseereflexionen in der Literatur CHINARD, L’exotisme, S. 104–124; zu deutschen NEUBER, Ansichten von der Nachtseite. 96 DUCHET, Anthropologie et histoire, S. 46; BITTERLI, Die ›Wilden‹ und die ›Zivilisierten‹, S. 39. 97 Zum Orientalismus die klassische Studie von SAID, Orientalism; Weiterführungen der Diskussion behandelt MACFIE, Orientalism. 98 Carta de Pero Vaz de Caminha, S. 110; Pero Vaz de Caminha, Brief an König Manuel von Portugal, in: Die reiche Fahrt des Pedro Alvares Cabral, ed. PÖGL, S. 81.

2 Alterität und Mimesis

Krise der Repräsentation Die Worte und Bilder, welche die Neue Welt in der Alten gegenwärtig machen, verändern sie zugleich. Nicht nur, weil Medien generell die Welt sowohl zeigen wie formen. Auch, weil die medialen Praktiken, diese Neue Welt darzustellen, sich überhaupt erst bilden müssen – notwendigerweise in Anlehnung an die bereits zur Verfügung stehenden. Man kann diese historische und systematische Eigenheit von Medialität zu durchdringen versuchen, um die ›Wirklichkeit‹ des Fremden zu erreichen. Man kann aber auch diese Eigenheit selbst in den Blick nehmen, um damit zumindest jene Kulturen beschreibbar zu machen, in denen das Fremde eine immer bedeutendere Rolle zu spielen beginnt.1 In der Praxis wird es, ich hatte es in der Einleitung angedeutet, um Vermittlungen gehen, um Schnitt- und Reibungsflächen, um sich durchdringende Logiken. Dies setzt allerdings voraus, nicht jener traditionellen Hermeneutik zu folgen, die Fremdes mittels Beobachtung und Einfühlung verstehen wollte und dieses Verstehen mit dem Anspruch auf Universalität und Wahrheit verband. Die neueren Kulturwissenschaften haben die Grenzen einer solchen Hermeneutik beleuchtet: Grenzen aufgrund der Multidimensionalität des Verstehensvorgangs, der Komplexität sprachlicher und semiotischer, politischer und sozialer Prozesse, der Vielheit möglicher Zugänge und Sichtweisen. Die Geschichtswissenschaft widmete sich der rhetorischen Konstruktion von Geschichte und dem Verhältnis von ›fact and fiction‹. Die Literaturwissenschaft entwickelte einen nuancierten Blick auf die Beziehungen von Text und Kontext. Die Ethnologie erprobte neue Techniken der Beschreibung: visuelle und dialogische, subjektive und multiperspektivische, zwischen Innen- und Außensicht oszillierende. Was die unterschiedlichen Herangehensweisen verbindet, ist: Kultur erscheint als Bedeutungsgefüge, das zu analysieren immer nur ausschnittweise möglich ist und das feinere Instrumentarien erfordert, als sie in einem Modell von Realität als Außenwelt, von Geschichte als Überbau, von Sein als Grundlage des Bewußtseins zur Verfügung standen.2 Die ›Krise der Repräsentation‹ betrifft also die Infragestellung einer geisteswissenschaftlichen oder philosophischen Hermeneutik, die Bedeutung im Hinblick auf den Geist, der sie hervorbringt, die Wahrheit, die sie trägt,

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2 Alterität und Mimesis

oder das Dasein, in dem sie sich entbirgt, zu erschließen hoffte. Die Krise artikuliert sich schon mit dem Begriff der Repräsentation selbst. Er umgreift einerseits die Spannung zwischen unmittelbarer und wiederhergestellter Präsenz, andererseits die Überlagerung von Darstellung und Stellvertretung. Er berührt damit Grundfragen kulturwissenschaftlicher Analyse: Wie verhalten sich Materialitäten und Bedeutungen, Formen und Inhalte, imaginäre Welten und konkrete Kontexte zueinander? Welchen Status haben jene kulturellen Formationen, die wir als gemeinsames Bezugsfeld verschiedener Objekte oder Phänomene ansetzen? Der Begriff der Repräsentation legt nahe, Zeichen und Bezeichnetes weder als kategorisch geschieden noch als in der Semiose beständig verschmolzen zu denken. Das Repräsentierende und das Repräsentierte können sich einander bis zur scheinbaren Identität annähern. Sie können aber auch von einer Nicht-Identität gezeichnet sein, die wiederum verschiedenste Formen der Übertragung ermöglicht. Repräsentation basiert also auf den Prinzipien von Alterität und Mimesis. Alterität ist eines der großen Themen der Moderne und Postmoderne.3 Als Grundproblematik des Verstehens, der Differenz und der Transzendenz durchzieht es Kulturanthropologie, Philosophie und Soziologie. Im Hinblick auf die Neue Welt kann Alterität (im Singular) auf die grundsätzliche Unverfügbarkeit der sowohl in der Zeit wie im Raum von uns getrennten Welten und Sinnformationen verweisen. Gedacht sein kann aber auch an die vielerlei Formen des Fremden und Unvertrauten, also Alteritäten (im Plural) im Sinne relationaler und fluktuierender Differenzen, vielfältiger historischer Diskurse und Semantiken. Mal kann dieses, mal jenes als fremd gelten. Mal kann die Angleichung ans Vertraute gesucht, mal sie gemieden sein. Mal kann Fremdes als solches bloß konstatiert oder behauptet, mal deskriptiv entfaltet werden. In jedem Fall setzt Alterität Beziehungsstiftungen voraus, und in jedem Fall besitzt sie wie Innovation oder Erfahrung eine rhetorische Dimension. Kompliziert wird nun aber die Aufgabe, historische Rhetoriken der Alterität zu rekonstruieren, durch die Tatsache, daß die Rekonstruktion in einem selbst alteritären Verhältnis zu ihrem Gegenstand steht. Die Texte, hier die frühneuzeitlichen, in denen von Fremdheiten die Rede ist, sind ihrerseits fremde, deren Logiken uns nicht ohne weiteres verfügbar sind. Sie sind nicht schon zu verstehen, indem man sich auf die Suggestion historischer Kontinuität und auf Einfühlung in das Fremde verläßt. Sie erfordern vielmehr eine Analyse der semiotischen, historischen und kulturellen Bedingungen von Fremdheit, eine Analyse der Bedingungen ihrer Darstellung und das heißt auch ihrer Formen, sich das Fremde unvermeidlicherweise anzuverwandeln. Das führt auf den Begriff der Mimesis. Das Vermögen der Nachahmung scheint ein allgemein anthropologisches zu sein. Das Verhältnis indes zwischen mimetischen Repräsentationen und realen Welten ist ein komplexes:

Krise der Repräsentation

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nicht schlichte Abbildung oder Widerspiegelung, sondern auch Aneignung und Überbietung. Es empfiehlt sich deshalb, Mimesis allgemein als Möglichkeit zu verstehen, kulturelle Objekte und Bedeutungen hervorzubringen, sie hervorzubringen in der Spannung zwischen dem, das etwas darstellt, ohne dieses zu sein, und dem, das dargestellt wird, ohne in der Darstellung aufzugehen.4 Mimesis hat es mit der »Auseinandersetzung um die Macht über die symbolische Welterzeugung« zu tun.5 Es gibt dementsprechend eine geschichtliche Vielfalt mimetischer Praktiken, manchmal terminologisch gefaßt, manchmal theoretisch reflektiert. Es gibt aber auch Grundzüge mimetischer Beziehungen, die darauf beruhen, daß der enge »Zusammenhang zwischen dem Gegenstand der Nachahmung und dem jeweiligen Diskurs über diesen Gegenstand« sich immer manifestiert »als Spiel wechselseitiger Störung und Verarbeitung, die das interaktive Verhältnis dem Anderswerden aussetzt.«6 Die grundsätzliche Dynamik von Mimesis liegt einerseits in dem sowohl referierenden wie konfigurierenden Charakter des mimetischen Objekts.7 Sie liegt andererseits darin, daß die mimetischen Akte als die produktiven Momente historischer Diskurse darstellen und hervorbringen, was schließlich als Neues erscheint. Das lenkt den Blick darauf, wie es mit mimetischen Mitteln gelingt, Präsenzeffekte zu erzeugen, die zwischen den Texten, Bildern und Kulturen zirkulieren und die Differenz zwischen Repräsentierendem und Repräsentiertem sowohl ins Spiel bringen wie überspielen.8 Noch die modernen Simulationen und Simulakren des Fremden heben die Wechselwirkungen von Original und Kopie, von Identität und Nachahmung, von Fremdwahrnehmung und Selbstinszenierung nicht auf, sondern verleihen ihnen neue Komplexität.9 In den Diskursen der Neuen Welt greifen Strategien der Alterität und Praktiken der Mimesis ineinander. Sie kennzeichnen Repräsentationen, die das Fremde weder ›an und für sich‹ wiedergeben noch völlig absorbieren. Sie bilden eine Matrix des Prozesses, in dem sich mit der Assimilation sowohl das Assimilierte wie das Assimilierende verändern. Das, was wir mit der Sprache der frühen Neuzeit das Aufeinandertreffen zweier Welten nennen, ist uns ja zugänglich primär in Übertragungen, die die eine zum Modell der andern machen: Modell für das Barbarische, das Entartete oder auch das Paradiesische, das Ursprüngliche. Alterität und Mimesis sind insofern Kategorien einer Übertragung, die nie unproblematisch ist. Sie haben asymmetrischen Charakter und bieten sich gerade damit zur Analyse des Verhältnisses von Eigenem und Fremdem an, das seinerseits asymmetrisch und schwer fixierbar ist.10

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2 Alterität und Mimesis

Äußere und innere Fremde Im Mittelpunkt des Spannungsfeldes von Alterität und Mimesis steht im Falle von Reiseberichten und Erzähltexten meist ein Subjekt. Es konstituiert sich in der Spannung von erlebendem und erinnerndem, handelndem und schreibendem Ich. Und es ist eine ambivalente Größe: Als singuläres, das den Raum der Erfahrung durchmessen hat, und zugleich allgemeines, das die Exemplarizität des Berichteten garantiert, ist es sowohl innerhalb wie außerhalb der Repräsentation. Es ermöglicht Authentizität, verursacht aber auch Fragilität. Es tendiert, sein Erleben herausstellend, zur Personalisierung der Anderen, schränkt diese aber wiederum ein, indem es das Typische im Auge behält. Auch der eingangs vorgestellte Pedro Serrano ist, obschon seine Geschichte nicht von ihm selbst erzählt wird, ein solches Subjekt. Es gibt Ansätze zur Innenperspektive, Wertungen des Erzählers unterbleiben. Ein Beispiel für die Mehrschichtigkeit der Grenzüberschreitungen. Der Spanier wird in seinem Inseldasein nur äußerlich zum Wilden. Er behält seine christliche Identität. Doch zeigt die Orientierung an Peru als Lebensraum eine andere Form der Entfernung von der eigenen Kultur: ein inneres Mestizentum. Es prägt umgekehrt auch die Position des peruanischen Autors Garcilaso, der auf der iberischen Halbinsel seine literarische Bildung gewinnt und seine Werke veröffentlicht. In ihnen bringt schon das Titelblatt die Doppelnatur des Autors zum Vorschein: »Escritos por El Ynca Garcilaso de la Vega, natural del Cozco, y Capitan de su Magestad«. Äußere und innere Fremde scheinen sich hier zu verflechten. Der sozial Fremde, »der heute kommt und morgen bleibt« (Simmel), und das Ich »als inneres Ausland« (Freud) scheinen zu konvergieren.11 Aber sind die Kategorien moderner Soziologie und Psychologie geeignet zu beschreiben, was sich historisch überhaupt erst auszubilden beginnt: Ausdifferenzierungen von Selbstund Fremdbeobachtung, Pluralisierungen von Geschichts- und Gegenwartserfahrung, Verflechtungen intellektueller und sozialer, ökonomischer und politischer Prozesse? Anders als die Kulturwissenschaften des ausgehenden 20. und frühen 21. Jahrhunderts suggerieren, ist ›Fremdheit‹ kein universales Thema menschlicher Gesellschaften. Zwar kennen fast alle Begriffe, um die Differenz zwischen einem Wir und einem Nicht-Wir zu kennzeichnen, Begriffe indes, die nicht auf eine Abstraktion ›des Fremden‹ zielen. Eine solche Abstraktion ist aber Voraussetzung, um die verschiedensten von den modernen Wissenschaften beschriebenen Formen der Differenz und Distanz, der Unvertrautheit und Unverfügbarkeit einem systematischen Begriff von Fremdheit subsumieren zu können. Die antike Beschäftigung mit fremden Völkern, das christliche Modell des Lebens als Exil und Pilgerschaft, die mittelalter-

Äußere und innere Fremde

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liche Diskussion des Wunderbaren innerhalb und außerhalb der Natur, die frühneuzeitliche Ausdehnung ethnographischen Wissens, die aufklärerische Faszination am edlen Wilden und an künstlich-natürlichen Paradiesen, die romantische und nachromantische Akademisierung der Völkerkunde, die moderne Entdeckung des nahen Fremden, die postkoloniale Erfahrung kultureller Hybriditäten – all dies ist zwar miteinander verbunden, nicht aber im gleichen Diskurs vereint.12 Das Spektrum zwischen der großen Transzendenz Gottes und der kleinen Transzendenz des Ausländers, zwischen dem zeitlich, räumlich oder sozial Fremden läßt sich systematisch auffächern, nicht aber historischer Beschreibung zugrundelegen. Ein Diskurs der Alterität formiert sich überhaupt erst, ansatzweise, in der frühen Neuzeit.13 Erst hier etablieren sich Praktiken des Umgangs mit fremden Territorien und ihren Bewohnern. Erst hier entstehen Institutionen, die Wissen und Macht über nicht-europäische Gesellschaften kontrollieren.14 Erst hier kommt es zur Systematisierung des Reisens und der ethnographisch-anthropologischen Beschreibung.15 Erst hier bilden sich Begriffe höherer Abstraktheit für Formen des Abweichenden, des Unvertrauten und Unverfügbaren. Paradigmatischen Status haben diese allerdings noch kaum. Mehr als die Alterität beschäftigt die Pluralität und die Diversität: die Verschiedenheit der Völker, der Sprachen, der Sitten, und die Frage, wie diese Verschiedenheit in historische Modelle zu fassen, wie ihre Glaubwürdigkeit zu gewährleisten ist. In diesem Sinne spricht Joannes Boemus in seinem weitverbreiteten Omnium gentium mores, leges et ritus (zuerst 1536) von den ›Schriften über das Andere‹, denen zu glauben nicht leicht sei, weil ihre Aussagen von den alltäglichen Beobachtungen abweichen.16 Das Fremde erwächst aus dem Problem der Repräsentation von Fremdem, aus dem System der Rhetorik, das topologische Ordnung und kollektive Wahrheit gleichermaßen garantiert.17 Es erwächst aus der Ansammlung von Fremdem, das zum Beispiel den Künstlern des englischen Kolonieprojekts aufgetragen wurde zu registrieren: »drawe to lief one of each kinde of thing that is strange to us in England«.18 Einen spezifischen Ort für »all das, was uns fremd erscheint«, gibt es noch ebensowenig wie eine spezifische Terminologie. Im Französischen begegnen ›altérité‹ und ›autrui‹ in philosophischen Kontexten seit dem ausgehenden 17. Jahrhundert. Im Deutschen wird das Femininum ›Fremdheit‹ erst um 1800 häufiger. Ein Neutrum ›Fremde‹ kennt noch 1878 das Grimmsche Wörterbuch nicht. Erst die Globalisierungsschübe des 20. Jahrhunderts machen das Fremde zu einer ubiquitären Größe und inspirieren die Suche nach seinen Vorgeschichten – Vorgeschichten, die nun ihrerseits auf die Idee des fragilen, von innen wie außen bedrohten modernen Selbst zulaufen oder an der Überhandnahme von Fremdheit das Verschwinden von Andersheit beschwören.

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Ob sich die frühe Neuzeit tatsächlich als Vorgeschichte der Moderne eignet, kann man bezweifeln. Neben der Kontinuität kulturgeschichtlicher Modelle gibt es eine Diskontinuität der Diskurse, gekennzeichnet beispielsweise durch den Status der Theologie als eines nach wie vor dominanten Systems von Sinnmustern. Auch bleiben Formen der sozialen Abweichung und religiösen Dissidenz (Hexen, Ketzer, Juden) von solchen der ethnischen Abweichung und kulturellen Differenz meist geschieden. Zwar mehren sich die Verbindungen: Theologische Streitfragen (über Schuld und Gnade, den freien Willen und den Status der Eucharistie) werden nun auch im Kontext der Neuen Welt ausgetragen. Doch die Systembildung beschränkt sich auf Klassifikationssysteme. Selbst für das räumlich Entfernte entwickeln die sich etablierenden Beobachtungsraster nur mittelbar Alteritätskategorien. Das Fremde wird meist als konkretes gedacht, sichtbar an Lebewesen, die auf das Vertraute bezogen werden, von dem sie abweichen oder mit dem sie übereinstimmen, das ihnen mangelt oder das sie in Fülle besitzen.19 Körper, Ernährungsformen, Lebensweisen, Sitten und religiöses Verhalten dienen als Kriterien des Vergleichs. Eine zentrale Kategorie, die verschiedene Texte und sprachliche Terminologien verbindet, ist die des Wunders: Sie erlaubt rhetorische Emphasen, die gerade in ihrer Unschärfe wirkten. Und sie stellt Beziehungen zur theologischen, philosophischen und naturkundlichen Diskussion um ›mirabilia‹ und ›miracula‹, Monster und Prodigien her – Beziehungen, die wiederum die populäre Imagination beeinflußten.20 Im Jahr 1565 erschienen deutsche und italienische Flugblätter Von dem Wunderwesen, welches in Brasilien aus dem Meer gestiegen ist (Abb. 6). Hybrid ist nicht nur das Wesen, aus animalischen und menschlichen Elementen zusammengesetzt, sondern auch die Konstellation: Brasilien liegt auf dem Weg nach Indien, Europäer und Indianer gehen gemeinsam gegen das Monster vor.21 Eine andere zentrale Kategorie ist die der Wildheit, auch sie meist personal konkretisiert: als der Wilde (›savage‹, ›sauvage‹, ›barbare‹), dem sowohl animalische wie naturhafte, grausame wie edle Züge zugeschrieben werden, der sowohl als Sklave wie als Untertan, als Vertreter einer depravierten Rasse wie als Verkörperung religiöser Erneuerung fungiert. Im Wilden liegen, wie bei Garcilaso zu beobachten, Gefahr und Verheißung gleichermaßen. Im Wilden spiegeln sich verzerrt die Dimensionen des Zivilisierten. Im Wilden findet das, was sich selbst aus dem Wilden hervorgegangen sieht, eine ›mise en abyme‹ des eigenen Zustands. Die christliche Theologie plazierte den Menschen auf der Skala des Seienden zwischen Engel und Tier und insistierte auf der Dynamik der ontologischen Gegebenheit: der für jeden einzelnen aufgeworfenen Möglichkeit, sich zum Himmlischen zu erheben oder ins Animalische abzusinken. Auch der frühneuzeitliche Amerikadiskurs versuchte den Status der Indianer mit Hilfe der

Kulturelle Überläufer

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Vorstellung der abgesunkenen Kultur zu erklären – was gleichzeitig die Gefährdung hervortreten ließ, die sich für die Europäer eröffnete.

Abb. 6: Newe Zeytung von einem seltzamen Meerwunder, Augsburg 1565.

Kulturelle Überläufer Der Gedanke der Missionierung der Indianer ist schon mit dem Kolumbusbrief präsent. Er ist geeignet, jenen Nutzen zu begründen, der durch das Ausbleiben des erwarteten Festlandes und der auf ihm anzutreffenden Reichtümer in Frage gestellt wurde. Er ist wirksam selbst dort, wo, wie bei Pero Vaz de Caminha, die Begegnung zwischen Portugiesen und Indianern nicht unter das Zeichen kolonialer Expansion gestellt wird. Und er mündet insofern nicht einfach in die Faktizität der Christianisierung, sondern auch in deren Demonstration. Man stellt Akte oder zumindest die Möglichkeit der Bekehrung dar, um so die Universalität und Flexibilität des eigenen Systems zu bekräftigen. Man träumt aber gleichzeitig davon, daß die Momente der Alterität sich nicht völlig verflüchtigen, lassen sich doch gerade an ihnen die Prinzipien von Kultur eindrucksvoll entwickeln. Da aber die Indianer, die zu diesem Zweck schon früh nach Europa mitgenommen wurden, anscheinend früh starben, blieb das Demonstrationsfeld zunächst vor allem die Neue Welt, und sie bot Raum für beides: Bekehrung wie Rückfall – der einen wie der andern. Während der europäisierte Indianer

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zum Idealbild für die ›Humanisierung der Wilden‹ wurde, blieb der sich unter den Indianern niederlassende Europäer ein Schreckensbild für die Konstruktion kultureller Identität – aber auch eine Faszinationsfigur. Immer wieder tauchen in den Texten Gestalten auf, die, meist durch die Umstände gezwungen, ihre kulturelle Identität verändern und manchmal, aber nicht immer zur alten zurückkehren: Schiffbrüchige, die unter extremen Bedingungen überleben, Kriminelle, die auf fremdem Terrain zurückgelassen werden, Siedler, die Kolonisierungsarbeit leisten und sich dabei den Kolonisierten annähern, Gefangene, die zu Akten der Selbstverleugnung genötigt werden, Sklaven, die von einem kulturellen Kontext in den andern geraten, Indigene, die als Dolmetscher und Helfer der Conquistadoren und Missionare dienen. Sie alle repräsentieren aus europäischer Sicht wichtige Möglichkeiten des Eindringens in fremde Kulturen und damit Voraussetzungen der Kolonisierung. Sie repräsentieren aber auch Grenzen, die zu überschreiten die Trennung von Alter und Neuer Welt in Frage stellt und zugleich Spielräume für die Verhandlung von Kultur bietet. Mimesis zeigt sich hier auf der Gegenstands- oder Handlungsebene meist als Mimikry: als Anpassung, Gestaltwandel, häufig auch Verstellung. An Protagonisten, die sich für bestimmte Zeit ihrer Herkunft entfremden, an indigene Lebensweisen anpassen und schließlich nicht spannungslos zum Eigenen zurückkehren, kann sich eine Nahsicht auf das Fremde entfalten. Am Spannungsfeld von Alterität und Mimesis, das die Protagonisten am eigenen Leib erfahren, kann die Leistung von Texten vorgeführt werden, das Fremde erfahrbar zu machen, indem sie sich ihm so weit wie möglich annähern. Das Modell für solche Praktiken stand schon vor den überseeischen Fahrten bereit. Die Berichte von Aufenthalten im osmanischen Reich kennen immer wieder Entfremdungsprozesse.22 Poggio Bracciolini überliefert in seinem Buch über die Wendungen des Schicksals (Historiae de varietate fortunae) die Geschichte des Nicoló de’ Conti, der 1439 nach einem 25-jährigen Aufenthalt aus Asien zurückkehrte und den Papst aufsuchte, um sich die Absolution zu holen für seinen zwischenzeitlichen Übertritt zum Islam, vollzogen, um die eigene Familie zu retten. Der Bericht folgt in einem ersten Teil der Reiseroute und greift in einem zweiten ethnographische und geographische Besonderheiten heraus. Er war nicht nur im lateinischen Original verbreitet, sondern wurde auch im Kontext der vermehrten überseeischen Entdeckungsfahrten in italienischer, portugiesischer und spanischer Übersetzung publiziert und wirkte auf andere Reiseberichte ebenso wie auf Kartendarstellungen. Während der Religionswandel hier nur in Poggios Vorwort aufscheint, ist er anderswo zumindest als Gefahr ständig präsent. Die häufig aufgelegte Historia Georgs von Ungarn (zuerst Nürnberg 1483) zeigt einen Protagonisten, der zwanzig Jahre in türkischer Gefangenschaft verbrachte und dabei

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dem islamischen Glauben anheimzufallen drohte. Auf der eigenen ›experientia‹ insistierend, schildert Georg in hoher Genauigkeit die rituellen Waschungen, die nächtlichen Feiern auf den Gräbern der Lokalheiligen, die Gebete in den Moscheen. Besonders die Derwischriten haben es ihm angetan. Den Tanz »der Mevlevi beschreibt er mit solcher innerer Begeisterung, daß man den Eindruck nicht los wird, er habe selbst daran teilgenommen«.23 Er demonstriert an der eigenen Person die von der islamischen Religion ausgehende verführerische Kraft und das Paradigma des dritten Zustands: Anders als die einen, die unbeirrt an ihrem Glauben festhalten, und die andern, die ihn preisgeben, neigen sich Menschen wie er dem Fremden aus Interesse zu, behalten aber genug Distanz, um die christliche Identität nicht zu verlieren. So entsteht eine Erweckungsbiographie, die den Reiz des Andern in ungewöhnlichem Detailreichtum entfaltet und doch an der klaren Dualität von ›civitas dei‹ und ›civitas diaboli‹ festhält. Das Ich wird weit in die andere Kultur hineingezogen und vermag doch gerade an der eigenen Krise das Modell der ›conversio‹ in Anschlag zu bringen. Ein Balanceakt, schwankend zwischen Selbstbehauptung und Selbstentfremdung, zwischen dem Blick des lebensweltlich teilnehmenden Beobachters und dem des theologisch polarisierenden Predigers. Andere werden daran anknüpfen. Spielerisch-abenteuerlich der Bologneser Ludovico de Varthema, der zu Beginn des 16. Jahrhunderts als Mamelucke verkleidet die islamische Welt bereist und Gefahren für Leib und Leben übersteht. Ernsthaft-didaktisch der Ulmer Kaufmann Hans Ulrich Krafft, der, zwischen 1574 und 1577 von den türkischen Behörden in Damaskus in Schutzhaft festgehalten, in seinem für die Familie gedachten Bericht die Spannung zwischen der Infragestellung der eigenen Identität und der Annäherung an die orientalische Welt aufscheinen läßt. Die Dialektik von Abstoßung und Anziehung wiederholt sich für die Neue Welt. Und sie erfährt hier ihre besondere Zuspitzung dadurch, daß für die kolonialen Unternehmungen Übergangsfiguren extrem wichtig waren. Schon Petrus Martyr berichtet vom Fall des Jerónimo de Aguilar, gebürtig in Ecija (Andalusien), der 1511 auf dem Weg nach Santo Domingo vor Jamaica Schiffbruch erlitt. Während die meisten seiner Gefährten umkamen oder der Anthropophagie zum Opfer fielen, gelang es ihm, als Gefangener verschiedener Indianervölker sieben Jahre zu überleben und schließlich wieder zu den Spaniern zu stoßen – denen er im folgenden als Dolmetscher gute Dienste erwies.24 Francisco López de Gómara und Bernal Díaz del Castillo machen daraus in ihren mal eher beweihräuchernden, mal eher zwiespältigen Heroisisierungen des Eroberungszuges von Hernan Cortés eine narrative Miniatur. Sie erhellt, wie es der kleinen Gruppe von Spaniern gelang, das gewaltige Aztekenreich zu überwinden. Sie transportiert aber auch kulturgeschichtliche Implikationen. Gómara zufolge hört Cortés am

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Anfang seines Eroberungszuges (1519), auf der Suche nach Dolmetschern und Mittelsleuten, von bärtigen Männern, in denen er Europäer vermutet.25 Um ihre Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen, läßt er Briefe schreiben und heimlich verteilen. An der Küste Yucatans kommt es dann zu einer kulturellen Begegnung, modellhaft noch für Garcilasos Schiffbrüchigenepisode. Cortés trifft vier Indianer, in einem Kanu landend, alle »nackt bis auf einen Lendenschurz, ihre Haare geflochten und in der Stirn gekräuselt wie bei Frauen, Bogen und Pfeile in der Hand«.26 Während drei von ihnen die Flucht ergreifen, wendet sich der vierte an die Spanier und redet sie stokkend in ihrer eigenen Sprache an. Jerónimo, den Gómara in eigenen Worten sprechen läßt, erscheint als einer, der sich zwar äußerlich an die neue Umgebung angepaßt hat, innerlich aber Christ geblieben ist: Jeden Mittwoch widmet er einige Stunden dem Gebet. Díaz beschreibt ihn als Erscheinung kultureller Hybridität par excellence: »Er sah aus wie ein echter Indianer. Er hatte von Haus aus eine braune Hautfarbe und trug das Haar wie die indianischen Sklaven. Er trug ein Ruder auf der Schulter, einen alten zerrissenen Strumpf an einem Bein und einen anderen, der nicht besser war, um den Leib. Dazu kamen ein zerlumpter Mantel und ein noch schlechterer Gürtel, die seine Scham bedeckten. In den Zipfel des Mantels hatte er ein altes, abgenutztes Gebetbuch gewikkelt.«27 Diese pikareske Figur steht in Gegensatz zu dem anderen Überlebenden des Schiffsunglücks, Gonzalo Guerrero, der mit einer Indianerin verheiratet ist, mehrere Kinder hat und als erfolgreicher Kriegsherr großes Ansehen bei den Indianern genießt.28 Gonzalo habe, so Jerónimo, sich gescheut, auf Cortés’ Brief zu reagieren – »aus Scham, weil seine Nase und seine Ohren gepierct, sein Gesicht und seine Hände nach Art der Bewohner des Landes bemalt sind, aber auch aufgrund der Zuneigung zu seiner Frau und der Liebe zu seinen Kindern«.29 Bei Díaz äußert sich diese Liebe darin, daß Guerrero Jerónimo um Glasperlen für seine Kinder bittet: »Ich sage ihnen dann, daß mir meine Brüder diese Geschenke aus meinem Vaterland geschickt haben.«30 Die beiden Spanier repräsentieren exemplarisch zwei Möglichkeiten, in der außereuropäischen Fremde mit der europäischen Identität umzugehen: weitgehende Preisgabe auf der einen Seite, heimliche Aufrechterhaltung auf der andern. Diese Möglichkeiten markieren eine Schwellensituation der spanischen Conquista und eine Schwellensituation in Gómaras Panegyrikos der Taten des Cortés. Die Aussichten, die sich an dieser Stelle abzeichnen, sind diametral entgegengesetzte: entweder erfolgreich durch Ausnutzung eigener Kulturtechniken (Schrift) und lokalen Wissens in das Land eindringen und es erobern oder von den Indigen im wahrsten Sinne des Wortes inkorporiert, nämlich verspeist werden. Das koloniale Phantasma steht gegen das kulturelle Trauma, das seinerseits bis in die Heimat zurückwirkt:

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Jerónimos Mutter sei, seitdem sie wußte, daß ihr Sohn in die Hand von ›Menschenfressern‹ gefallen war, in Wahnsinn verfallen. Bei jedem Anblick gekochten oder gebratenen Fleischs habe sie ausgerufen: »Wehe mir, das ist mein Sohn, mein Liebling!«31 Auch hier geht es um eine Übertragung: der Neuen Welt in die Alte, der indigenen auf die europäischen Familienverhältnisse. Zugleich eine Verschiebung des Gefährdenden ins Humorvolle, das gerade dadurch zum Unheimlichen wird. Mit der individuellen Identität der in indianische Umgebung geratenen Europäer steht auch die abendländische Identität angesichts einer komplexer werdenden Welt zur Diskussion. Deshalb unterläßt es kaum einer der Chronisten, die über Cortés und seinen Eroberungszug berichten, auf das Beispiel des Gonzalo Guerrero einzugehen; gelegentlich schreiben sie ihm sogar zu, er sei nicht bei seiner »neutralen, zurückhaltenden Position geblieben«, sondern habe »an der Spitze yucatekischer Einheiten gegen die Heere der Konquistadoren gekämpft«.32 Wie die SerranoGeschichte oszilliert auch die Aguilar-Guerrero-Geschichte zwischen sensationellem Einzelfall und kultureller Allegorie, zwischen Identitätsexperiment und Schreckensszenario. Während sie zunächst im Kontext der Conquista verblieb, entwickelten sich die Phantasien der Grenzüberschreitung noch stärker dort, wo Fragen kolonialer Dominanz zumindest punktuell suspendiert waren.

Unfreiwillige Nähe Ein Text, in dem der kulturelle Übergang nicht nur eine Episode bildet, sondern als Prozeß entfaltet wird, ist der Brasilien(reise)bericht des Hombergers Hans Staden. Er erschien zuerst im Februar 1557 in Marburg unter dem Titel: »Warhaftige Historia vnd beschreibung der Wilden/ Nacketen/ Grimmigen Menschenfressen Leuthen/ in der Newenwelt America gelegen/ vor vnd nach Christi Geburt im Land zĤ Hessen vnbekant/ biß vff dise ij. nechst vergangene jar/ Da sie Hans Staden von Homberg auß Hessen durch sein eygne erfarung erkant/ vnd yetzo durch den truck an tag gibt«.33 Es handelt sich um die erste selbständige deutschsprachige AmerikaSchrift, zugleich den ersten detaillierten Bericht über die an der brasilianischen Küste lebenden Tupinambá, ein Volk aus der weitverzweigten Sprachgruppe der Tupi-Guaraní.34 Der Bericht gliedert sich, das Modell mancher Orient- und Asienreiseberichte systematisierend, in zwei Teile. Der erste schildert, an der Chronologie der Ereignisse ausgerichtet, zwei Brasilienreisen, in ihrem Zentrum die neunmonatige Gefangenschaft des Helden bei den Tupinambá – seine Bedrohung, seine Fluchtversuche, seine Teilnahme an den Zügen des Stammes, seine Integration in die fremde

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Lebenswelt. Der zweite Teil beschreibt zusammenhängend Lebensraum und Lebensweise, Gebräuche und Riten der Tupinambá. Sie waren andernorts Mitte des 16. Jahrhunderts keine unbekannte Größe mehr. Französische Kaufleute hatten seit Jahren Brasilholz nach Europa geschifft – und gelegentlich auch brasilianische Einwohner. Im Jahr 1550 waren vor König Heinrich II. in Rouen 50 Tupinambá zusammen mit 250 brasilienerfahrenen Seeleuten in einer festlichen Inszenierung aufgetreten und hatten südamerikanisches Alltagsleben nachgestellt (vgl. Kapitel 5). Im deutschen Sprachraum war dergleichen weitgehend unbekannt. Was man wußte, stammte aus den älteren Kolumbus- und Vespucci-Briefen, aus denen auch die Flugschriften, Reisesammlungen und Kosmographien schöpften.35 Die Historia konnte so mit ihrer Genauigkeit und Eindringlichkeit, mit dem visuellen Potential ihrer über fünfzig Holzschnitte als unerhört gelten. Noch im gleichen Jahr erschienen ein autorisierter und zwei nicht autorisierte Nachdrucke. Im folgenden Jahr kam eine niederländische Übersetzung heraus, die unzählige Auflagen erlebte. Im Jahr 1592 publizierte der Verleger Theodor de Bry im Rahmen seiner Reisesammlung eine lateinische Fassung, ebenfalls mehrfach nachgedruckt.36 Sogar jenseits der Sprachgrenze fand die Historia Aufmerksamkeit. Jean de Léry, Mitglied einer Gruppe von Calvinisten, die die Einrichtung einer Kolonie an der brasilianischen Küste plante, lernte sie durch den Basler Humanisten Felix Platter kennen und ließ sich den Text mündlich übersetzen. In der vierten Ausgabe seines eigenen Brasilienberichts (1599) vermerkte er die so weitgehende Übereinstimmung zwischen Stadens Angaben und den eigenen Beobachtungen, »qu’on diroit que nous avions communiqué ensemble avant que faire nos narrations«. Das Buch des hessischen Büchsenschützen verdiene es, gelesen zu werden von allen, welche die Sitten und Gebräuche der »Sauvages des Bresilien« kennenlernen wollen.37 In der Tat kommt die Historia einer überseeischen Kultur so nahe wie kaum ein anderer Text zuvor. Sie wurde deshalb wie Lérys Bericht in der Moderne zu einer der Gründungsurkunden der Ethnographie wie der Geschichte Brasiliens: »eine der unmittelbarsten und verläßlichsten Quellen aus der Zeit der Landnahme durch die Portugiesen und der sich verstärkenden Berührung der Europäer mit den steinzeitlichen Indianern.«38 Das setzt voraus, zwischen richtigen und falschen Angaben zu unterscheiden, und das Erkenntnisinteresse auf die Rekonstruktion vergangener Lebenswelten zu beschränken. Die Strategien und Strukturen des Textes geraten dann aus dem Blick. Sein Ort im Rahmen des zeitgenössischen Amerikadiskurs reduziert sich auf die Überlieferung von Faktischem. Die Grundkonstellation bleibt in ihrem Implikationsreichtum unentfaltet. Tatsächlich nutzt der Text ja die Tatsache, daß der Held das anthropophagische Ritual der Tupinambá hautnah miterlebt, dazu, dieses in einmaliger Weise zu beschreiben: eine

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schon in den Evangelien, in Visionstexten und Jenseitsreiseberichten erprobte Strategie, das Unerhörte als erfahrenes zu authentifizieren. Diskursgeschichtlich scheint damit eine andere Lesart als die ethnologische nahezuliegen: die Historia als raffiniert konstruierter Sensationstext, abhängig von kulturellen Stereotypen und literarischen Vorlagen, von einem nach Unerhörtem gierendem Buchmarkt.39 Doch greift auch sie zu kurz. Zum Beispiel findet die Darstellung des Kannibalismus als rituelle Institution überhaupt erst in späteren französischen oder portugiesischen Texten Parallelen.40 Die Alternative, ethnographisches Dokument oder literarisches Machwerk, führt in die Irre. Sie verstellt den Blick auf die Dynamik eines Textes, der an einem in die Fremde verstrickten Subjekt Alterität entfaltet und Authentizität erzeugt. Der Raum, den die Historia entwirft, ist einer der kulturellen Vermischungen: Spanische, portugiesische und französische Einflüsse interferieren, Verbindungen mit den Indianern sind an der Tagesordnung. Es gibt Franzosen, die »unter den Wilden leben«. Es gibt »Abkömmlinge von Wilden und Christen«, die »die Kampfart der Christen wie die der Wilden« und sowohl das Portugiesische wie die Tupisprache beherrschen (I 15).41 Auch der Protagonist ist eine Figur des Übergangs. Er erprobt verschiedene Allianzen und paßt sich der indianischen Umgebung schließlich soweit an, daß er sich glorreich wieder aus ihr lösen kann. Sein Hineinwachsen in die fremde Kultur ist zunächst, mit der Gefangennahme durch die Tupinambá beginnend, ein unfreiwilliges. Er wird der Kleider beraubt, die Augenbrauen werden ihm abrasiert, die Frauen wollen ihm mit dem traditionellen Kristallsplitterschneider auch den Bart abnehmen. Er wehrt sich gegen den Verlust des letzten äußeren Identitätsmerkmals, doch vergeblich.42 Der Bart wird abgeschnitten – mit einer der von den Franzosen eingetauschten Scheren: ein scheinbar belangloser Unterschied, der aber darauf aufmerksam macht, daß der Text es nicht mit der schlichten Differenz von Eigenem und Fremden zu tun hat, vielmehr komplexere kulturelle Verhältnisse in den Blick nimmt. In sie einzudringen geschieht im Rahmen eines sich sukzessive steigernden Prozesses der Anpassung und des Fremdverstehens.43 Der Deutsche überwindet die anfänglichen Mißverständnisse, lernt, mit der Sprache, den verwandtschaftlichen Bindungen, der Bedeutung von Brüdern und Vätern, den Riten umzugehen, sich im Alltag zu behaupten. Als er zum ersten Mal dem großen Konyan Bebe begegnet, ist er in der Lage, ihn angemessen zu begrüßen: »Ich ging auf ihn zu und redete mit ihm so, wie sie es in ihrer Sprache gerne hören: ›Bist du Cunhambebe, lebst du noch?‹ ›Ja‹, antwortete er, ›ich lebe noch.‹ ›Nun gut‹, sagte ich dann, ›ich habe viel von dir gehört, und daß du ein so tüchtiger Mann bist.‹ Da stand er auf und ging erfreut und stolz vor mir auf und ab.« (I 28)44

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Den Begrüßungsritus erfolgreich zu imitieren erhöht das Prestige des Gefangenen und stellt einen wichtigen Schritt zur Veränderung der Situation dar. Er kann nun Gegebenheiten zu seinen Gunsten modellieren. Den Mond macht er zur einflußreichen Instanz. Die Furcht der Indianer vor dem fremden Christengott nutzt er, Unwetter und Unglücksfälle als Manifestationen dieses Gottes erscheinen zu lassen, den er zugleich dem magischen Racheund Vergeltungsdenken der Tupinambá anpaßt. Aus dem hilflos den Tupinambá Ausgelieferten wird ein Prophet und Heiler, ein Helfer und Tröster derjenigen, die ihrerseits als Gefangene geopfert werden sollen. Das Heraustreten aus der Opferrolle ist verbunden mit einer erhöhten Bewegungsfreiheit und einer verstärkten Teilnahme an den Aktivitäten des Stammes: am Fischfang ebenso wie am Kriegszug. Schließlich wird er einem anderen Häuptling zum Geschenk gemacht, der ihn in seine Familie aufnimmt. Er erhält den Status eines Adoptivsohns und geht mit den Söhnen des Häuptlings auf die Jagd. Eine Erfolgsgeschichte hat damit ihren Höhepunkt erreicht: eine Geschichte erfolgreicher Mimesis, basierend auf schauspielerischen Qualitäten (I 39). Zwei Inszenierungen bringen dies auf den Punkt. Die erste spielt sich ab unmittelbar nach der (zweiten) Ankunft in Brasilien (I 10).45 Eine Expedition wird ausgeschickt, die Bucht zu erkunden und Kontakt mit den Indianern aufzunehmen. Auch der Deutsche gehört dazu. Er begegnet einem bärtigen Mann, einem Europäer, der seit drei Jahren im Auftrag des spanischen Gouverneurs unter den Carijó lebt; er soll sie zum Maniokanbau veranlassen und damit die Versorgung der Spanier erleichtern. Mit diesem Mann zusammen kehrt er zum Mutterschiff zurück, begleitet von zahlreichen Indianern. Der bunte Haufen macht den Europäern Angst, zumal der Deutsche, als er angerufen wird, keine Antwort gibt. Erst als schon fast Schüsse fallen, fängt er an zu lachen und beruhigt die Kameraden an Bord. Nur der Leser weiß: Das Ganze war ein geplanter Scherz, abgesprochen mit dem Leiter des Expeditionskommandos. Die zweite Inszenierung steht kontrapunktisch zur ersten am Ende des Brasilienaufenthalts (I 52). Ein französisches Schiff liegt im Hafen und ist bereit, den Deutschen mitzunehmen. Doch dieser ist kein einfacher Gefangener mehr und kann sich nicht einfach davonstehlen. Er muß seinen Abschied nach indianischen Regeln in Szene setzen. Er wird zusammen mit seinem ›Adoptivvater‹ Abbati Bossange an Bord eingeladen. Als der Häuptling wieder an Land gehen will, erheben sich vereinbarungsgemäß zehn Mitglieder der Besatzung, die sich als Stadens Brüder ausgeben und ihn mit nach Europa nehmen wollen: »Meine Brüder wollten auf keinen Fall, daß ich wieder mit an Land ginge. Ich sollte nach Hause kommen, denn unser Vater begehrte, mich noch einmal zu sehen, ehe er stürbe.«46

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Der Trick gelingt. Unter dem Versprechen, mit dem ersten Schiff wieder zurückzukommen, kann der Deutsche mitsegeln. Die beiden Inszenierungen markieren die Grenzen der brasilianischen Abenteuer. Die erste ist gedacht für die Europäer und zeigt den Deutschen unter seinen indianischen ›Freunden‹, eine emblematische Vorwegnahme der folgenden Ereignisse. Die zweite ist gedacht für die Indianer und zeigt den Deutschen unter seinen europäischen ›Verwandten‹, eine Vorwegnahme der Reintegration in die Alte Welt. Jeweils erweist sich der Held als Meister der mimetischen Aktion, als Grenzgänger, der sowohl die Ängste der Europäer wie die Praktiken der Indianer einzuschätzen vermag. Am Ende gibt zwar die Berufung auf die göttliche Gnade dem Ich seine humilitas zurück, doch der Raum der Alterität bleibt offen. Wer sich nicht mit dem Text begnügen wolle, solle sich selbst auf die Reise machen, »dann wird ihm der Zweifel vergehen. Ich habe ihm in diesem Buch genug Angaben gemacht. Der Spur folge er nach. Wem Gott hilft, dem ist die Welt nicht verschlossen.«47

Praktiken der Mimesis Mit dem Gedanken einer offenen Welt kann der Text umschalten zwischen Dargestelltem und Darstellung. Mit der Möglichkeit, in das Fremde einzudringen, kann er das mimetische Prinzip der Handlungswelt mit dem der Textorganisation verbinden. Schon das Titelblatt (Abb. 7) resümiert nicht nur den Inhalt des Berichts und betont nicht nur dessen Innovativität, Singularität und Authentizität. Es präsentiert auch die Mimesis an dessen Gegenstand. Während die Schrift zentrale Aspekte der kulturellen Fremdheit und Nicht-Zivilisiertheit der »Wilden/ Nacketen/ Grimmigen Menschfressen Leuthen« nennt, zeigt das Bild, neben einem Menschenfleisch verzehrenden Indianer in der Hängematte, seinerseits ein Schriftband mit den originalsprachlichen Worten »Sete katu«. Die Bedeutung der Worte bleibt unerklärt. Das Buch eröffnet einen Raum des Geheimnisses, in dem die Schrift sowohl Wissen repräsentiert wie Präsenz stiftet, in dem das Wort dem Bild zur Seite tritt, in dem das europäische Subjekt auf andere Subjekte trifft, die ebenfalls eine ›Stimme‹ haben. Subjektivität und Intersubjektivität, Alterität und Authentizität in der Balance zu halten: dem dient die Aufspaltung des Textes in zwei Teile. Ereignis und Kontext, Subjekt und System, der Reisebericht, der die Zusammenhänge, und die Ethnographie, die die Dynamik ausblendet, treten auseinander und bleiben doch aufeinander bezogen. Denn der zweite Teil systematisiert nicht einfach, was der erste nur en passant erwähnt. Er inszeniert auch erneut die Bewegung von Ausfahrt und Rückkehr, be-

Abb. 7: Hans Staden, Warhaftige Historia, Marburg 1557, Titelblatt.

Abb. 8: Hans Staden, Warhafftig Historia , Frankfurt 1557, Titelblatt.

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schreibt in den Rahmenkapiteln erneut die Reisewege – als müßte von neuem garantiert werden, daß die fremde Welt in Raum und Zeit existiert, daß sie zu erreichen und wieder zu verlassen ist. Auch im zweiten Teil wird die Authentizität der Darstellung durch zahlreiche Verweise auf teilnehmende Beobachtung gestützt. Die subjektive Komponente der Wahrnehmung garantiert den mimetischen Charakter des Textes. Zugleich dient sie einer Entfaltung von Alterität. Schon die Sozio-Geographie ist eine relativ differenzierte, geprägt von Spannungen zwischen Franzosen und Portugiesen und von deren jeweiligen Freund- oder Feindschaften mit den Indianern.48 Diese wiederum stellen keine uniforme Masse dar, sondern teilen sich in »vil geschlecht wilder leut« und »vil verenderung der spraach« (II 2; S. 154). Der Außendifferenzierung der Küstenbewohner entspricht im ersten Teil eine Binnendifferenzierung. Alle männlichen Hauptakteure erscheinen mit ihren Namen und ihren verwandtschaftlichen Positionen. Nicht wenige von ihnen erhalten auch eine Stimme. Neben zahlreichen Wörter aus der Tupi-Sprache gibt es ganze Sätze als wörtliche Zitate: »Schere inbau ende = Du bist mein gebundenes tier [...] Oqua moa amanasu, das ist sovil gesagt: Das große wetter gehet hinter sich« (I 20; S. 88).49 Die Anderen werden präsent. Zugleich zeigt sich das Eindringen des Subjekts in die fremde Welt und deren Verstehbarkeit. Eine Verstehbarkeit im Modus der Anpassung, nicht des Vergleichs. Anders als die meisten Amerikaberichte der Zeit entbehrt die Historia weitgehend der komparatistischen Tendenzen.50 Weder die eigene zeitgenössische Lebenswelt noch die antike Kultur bieten eine Folie. Sogar die beigegebene Karte betont den konjekturalen Status von Aussagen über Gebiete, in die der Augenzeuge nicht gelangt ist. Für den Nordteil Brasiliens heißt es: »hie sollen amesonen wonen wie mich die wilden bericht haben«. Nur selten tauchen vertraute Kategorien auf, um die fremden Praktiken, Riten und Überlieferungen einzuordnen. Die Haartracht der Indianer erinnert zwar an die Tonsur der abendländischen Mönche und scheint eine kulturelle Kontinuität zu suggerieren: »Ich habe sie oft gefragt, woher sie die Haartracht hätten, und sie sagten, ihre Vorväter hätten sie bei einem Mann gesehen, der Meire Humane geheißen und unter ihnen viele Wunder getan hätte. Man hält ihn für einen Propheten oder Apostel.«51 Doch Staden beläßt es bei einer konjekturalen Formulierung und stellt keine explizite Verbindung her mit der in Brasilien verbreiteten Tradition, der Apostel Thomas habe die Vorfahren der Indianer besucht und ihnen unter anderem den Anbau von Maniok beigebracht.52 Der Ursprungsmythos des großen Wassers ruft zwar die Assoziation mit der Sintflut hervor (II 23). Ein klares Kulturmodell stellt sich jedoch nicht ein. Als der Held einen Tupinambá von den mythischen Vorvätern Krimen, Hermittan und Koem erzählen hört, denkt er beim Namen Koem an den biblischen Noahvater Cham. Doch der geläufigen

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Abb. 9/10: Hans Staden, Warhaftige Historia, Marburg 1557, l jv, iiijv.

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Herkunftserklärung vertraut er sich nicht ohne weiteres an: »Koem heißet auf ire spraach der morgen« (II 18; S. 172). Das Deutungssystem der Tupinambá bleibt gültig – selbst wenn es um ihre religiöse Verblendung (die Tricks der Wahrsager) oder ihre kannibalischen Praktiken geht; ich werde im dritten Kapitel darauf zurückkommen. Statt Relativierung des Fremden also Intensivierung – das ist auch das Prinzip, dem die 54 Holzschnitte und die gefaltete Karte gehorchen.53 Während ältere Americana häufig ikonographische Vorbilder aus anderen Drukken übernahmen oder primitive Formen von Gesellschaftlichkeit imaginierten, differenzieren die Holzschnitte der Historia den Zugang. Es gibt die geläufigen Schiffsdarstellungen als Zeichen des Übergangs zwischen den ›Welten‹. Es gibt kartenartige Küstenumrisse, zwischen denen sich Konfliktszenen zwischen Europäern und Indianern abspielen. Und es gibt, quantitativ der Schwerpunkt, Darstellungen der Aktivitäten der Tupinambá sowie ihres Verhältnisses zum deutschen Gefangenen. Die Subjektzentriertheit bleibt also auch hier gültig. Nicht nur im ersten, chronologischen, auch im zweiten, systematischen Teil garantiert die Aufnahme des Europäers in die Bildkomposition die Authentizität der Wahrnehmung. Die Serie der Kannibalismusdarstellungen, der größte geschlossene Block in der Historia, wird eingeleitet durch zwei aus dem ersten Teil wiederholte Holzschnitte, die den Weg des Gefangenen ins Dorf, die Scherung der Augenbrauen und die Exponierung im Kreis der Frauen vorführen. Sie wird abgeschlossen durch ein Bild, auf dem der Deutsche (durch die Initialen H S kenntlich) mit gefalteten Händen zu einer Gruppe Indianer hinzutritt, die einen menschlichen Kopf in einem Kessel kochen. Nicht wenige Bilder enthalten Details, die über den Text hinausgehen: Details aus der Lebenswelt, Situationen von Krankheit, Begräbnis und Trauer, die in anderen Brasilienberichten beschrieben werden.54 An die Stelle der schlichten Illustrierung textueller Sachverhalte tritt die Dynamisierung. Fliegende Vögel erscheinen im Vorder- oder Hintergrund, mehrere Momente einer Handlungsfolge simultan im gleichen Bild. Die Szene, in der der Held zu einem Schiff französischer Brasilholzhändler schwimmt und bittet, mitgenommen zu werden, wird zur präfilmischen Wiedergabe von Bewegung (l jv; Abb. 9): der Fliehende zunächst am Strand, dann vor dem Schiff, im Hintergrund ein Tupinambá, der Vögel jagt, und Frauen, die Muscheln am Meeresstrand sammeln. Ich und Umwelt, Ereignis und Kontext sind kopräsent. Ein anderer Holzschnitt, der im zweiten Teil, nichterzählend, den Maniokanbau illustriert, entwirft im ersten eine mehrstufige (im Text beschriebene) Handlungsfolge: Der Deutsche hat ein Kreuz errichtet, das von einer Tupinambá-Familie entwendet und als Reibunterlage verwendet wird. Starker Regen setzt ein. Die Maniokernte droht zu verderben. Der Deutsche macht den Diebstahl des Kreuzes verantwortlich, und in

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der Tat, kaum ist das Kreuz wieder aufgerichtet, hört der Regen auf. Der Holzschnitt (m iiijv; Abb. 10) bündelt, emblematisch konzentriert, die verschiedenen Elemente der Geschichte in einer kreisförmigen Bewegungsfolge, die rechts unten im Sonnenschein mit dem Gebet vor dem Kreuz beginnt und über die Stationen Diebstahl, Maniokernte und -heimtransport (nun bei schlechtem Wetter) wieder rechts unten und wieder im Sonnenschein endet. In komplexer Weise sind damit indianische und christliche Lebenswelt aufeinander bezogen. Die Störung indianischer Praktiken erscheint als Konsequenz der Störung des christlichen Ritus, der am Ende restituiert wird.55 Der mimetische Aspekt der Holzschnitte liegt also nicht in deren Nachahmung der Wirklichkeit, ihrem vermeintlichen ›Realismus‹. Er liegt in der damit verbundenen Suggestion von Nähe, Teilhabe, Unmittelbarkeit, Verfügbarkeit, wirksam selbst dort, wo andere graphische Optionen gewählt werden. Der noch 1557 veranstaltete Nachdruck der Erstausgabe durch Weigand Han in Frankfurt verwendet nicht die Marburger Holzstöcke, sondern die einer Ausgabe von Ludovico de Varthemas Bericht über seine Reisen im mittelmeerischen Raum.56 Damit entfallen die subtilen Bezüge der Erstausgabe, ergeben sich aber neue. Das Titelblatt (Abb. 8) zeigt den Protagonisten in nachdenklicher Haltung neben fremden Menschen, mit der Zerteilung eines Körpers beschäftigt: ursprünglich eine Illustration anthropophagischer Praktiken auf Java. Die Bilder können wandern, was zählt, ist der Effekt, den sie ausüben: die Übermittlung schmerzlicher Partizipation. Der Europäer, bärtig wie in den Originalholzschnitten, bewegt sich im Innersten der fremden Kultur, zwischen den Gruppen, der einen, die bekleidet ist, aber merkwürdige Praktiken ausübt, der anderen, der die Bekleidung fehlt, die aber passiv bleibt. Selbst nackt, ist er der fremden Kultur ausgeliefert, melancholisch-nachdenklich, vermag er sich zugleich von ihr abzusetzen. Kein unpassendes Bild für einen Text, in dem sich Repräsentation und Präsenz durchdringen.

Indianisiertes Gotteslob und europäische Wissenschaft Präsenz ist allerdings ein mehrdimensionales Phänomen. Präsent werden nicht nur die Dimensionen des Fremden, sondern wird auch der Sinn, der, aufgeladen durch sie, emphatisch-religiösen Charakter gewinnt. Deutet die Szene der Restitution des Kreuzes in der Historia symbolisch verdichtet eine Bewahrung des christlichen Sinnzentrums an, so ermöglicht die Begegnung mit anderen religiösen Praktiken eine Steigerung der Wirkungsmächtigkeit der christlichen Religion. »Wie der Almechtige Gott eyn zeychen thet«, lautet die Überschrift des Kapitels, und genau dies bildet den

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Horizont eines Textes, der dem Lobpreis Gottes dienen soll, welcher den Protagonisten beständig unterstützt und schließlich »aus der Gewalt der grausamen Wilden« befreit habe. So sieht man denn auch einen, der sich in allen kritischen Situationen an Gott wendet und dessen (erfolgreiches) Gebet, in voller Länge abgedruckt, den ersten Teil beschließt. Das Südamerika-Abenteuer erweist sich als Prüfung für die Glaubensstärke des Protestanten. Es wird zur Geschichte eines göttlich gelenkten Irrweges. Es führt in eine Situation äußerster Gefahr und größtmöglicher Gottesferne, doch zugleich eine Situation, in der sich die Omnipräsenz Gottes zeigt für den, der an ihn glaubt. Er habe seine Abenteuer beschrieben, so Staden am Ende, daß jeder höre, »daß der Allmächtige Gott seine gläubigen Christen unter dem gottlosen Volk der Heiden auch jetzt noch ebenso wunderbar beschützt und geleitet, wie er es von Anbeginn je getan hat.«57 Ein geläufiges Sinnmuster: In fast allen Amerikaberichten werden die überseeischen Aktivitäten durch Berufung auf Gott legitimiert und nobilitiert, ob es sich um den Gewinn oder Nicht-Gewinn von Gütern, das Erreichen oder NichtErreichen von Zielen handelt. Läßt sich im einen Fall ein Gelingen spirituell rechtfertigen, so im andern ein Mißlingen spirituell auffangen – und daraus Antrieb für neue Anläufe gewinnen. Die religiöse Dimension kann die Fremde zum Demonstrationsfeld des göttlichen Heilsplans machen, aber auch zum bloßen Basso continuo werden, der schrille Obertöne abdämpft. Stadens Text hält hier die Mitte. Der Gedanke, die Auslieferung an die Tupinambá als Bewährungsprobe auf christliche Standhaftigkeit zu begreifen, ist nicht nur äußerlich; er erlaubt immerhin so etwas wie eine Heiligung des Protagonisten. Und doch deckt er nicht den ganzen Text ab. Zwar gibt es wie in der Legende eine höhere Ordnung, die das Geschehen durchwaltet und die Bewegungen des Helden bestimmt. Er will zunächst 1547 nach Osten, gelangt jedoch, da der Indienfahrer schon abgelegt hat, auf einem portugiesischen Schiff nach Westen. Zurückgekehrt, beabsichtigt er 1549, nach einer Ruhepause, mit den Spaniern in die Neue Welt aufzubrechen: »nach eyner landtschaff Rio de Platta genant« (I 5; S. 56). Erneut landet er in Brasilien, die Weiterfahrt zu den sagenhaften Goldländern Südamerikas scheitert. In der Diskrepanz von erstrebten und erreichten Zielen wiederholt sich ansatzweise die Situation Colóns und damit diejenige am Beginn der überseeischen Entdeckungen. Zugleich ist in ihr auch jenes Moment der Kontingenz eingefangen, das in christlicher Perspektive zur Providenz werden kann. Abgekommen vom Weg, gestrandet an unbekanntem Ort, schließlich vereinnahmt von der fremden Welt, findet der Europäer einen Erfahrungsraum, in dem sich nicht materielle Interessen erfüllen, sondern religiöse und kulturelle Praktiken bewähren. Das Leiden rückt den Protagonisten in die Nachfolge Christi: Gefangengenommen rezitiert er den Psalm »Aus tiefer Not schrei ich zu Dir« und memoriert das Passionsgeschehen,

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die Indianer vertreten die Rolle der Heiden oder der Juden. Doch das Religiöse erscheint kulturell eingebettet. Es entsteht eine Komplexität, die in der Idee gottgelenkter Selbstbehauptung nicht aufgeht. Die fremde Welt ist in der Historia keine irdische Hölle, durch die der Christ hindurchgehen muß, um sein Heil zu finden, keine Gegenwelt, die im Kontrast die Prinzipien der abendländischen Welt erkennen läßt. Sie ist ein Raum eigener Ordnung: ein Faszinations- und Erlebnisraum. Der zweite Teil enthüllt mit seiner Rekonstruktion der Lebensweise der ›gottlosen Heiden‹ mehr als nur die Gefahren, die dem Christen in der Welt drohen. Er zeigt auch die Chancen des Protestanten, sich zu behaupten selbst dort, wo das Fremde übermächtig ist. Sich zu behaupten heißt aber im Kontext der Historia, ebenso auf Glück und göttliche Fügung zu vertrauen wie Überlebensstrategien und Anpassungsmuster zu entwickeln. Das Glück des Glücksritters, als der Staden erscheint, ist die schiere Existenz der Anderen. Ihnen zu begegnen und wieder zu entkommen eröffnet die Möglichkeit, den Text als Zeugnis einer Erfahrung und sich selbst als jenes erlebende Subjekt zu erweisen, das – mit Gottes Hilfe – über das Andere zu verfügen und es zu vermitteln vermag. Voraussetzung der Verfügung und Vermittlung ist die Rückkehr. Sie führt heraus aus der Fremde und ermöglicht zugleich deren Repräsentation unter den Bedingungen europäischer Diskurse. Doch diese Repräsentation ist nun selbst eine fragile. Da die andere Welt eine unerhörte, gleichwohl authentische sein soll, ist der Text und mit ihm die Wahrheit des Ich nur im Raum jenseits des Textes zu gewährleisten. Deshalb werden im Schlußwort zahlreiche Personen genannt, die Stadens Itinerar bezeugen können. Und deshalb kommt immer wieder programmatisch die Figur des Aufbruchs zum Tragen, am Ende des Schlußworts im Hinblick auf den Leser, der die Bewegung des Autors nicht nur durch Lesen, sondern auch durch Reisen nachvollziehen könne. Diese Figur ist auf jene Grenze gerichtet, die den Text konstituiert und seine Wahrheit garantiert, die überdies die andere Welt als Objekt der Begierde von Autor und Leser bis zum Ende präsent hält. Darauf zielt auch die Vorrede des Marburger Professors der Mathematik und Medizin Johannes Dryander. Sie weist nicht nur die Historia als Dokument des Gottvertrauens und göttlicher Hilfe in der Not aus. Sie untermauert auch die Authentizität des Berichts durch lebensweltliche Argumente (familiäres Ansehen, persönliche Bekanntschaft, faktische Überprüfbarkeit) und im Blick auf mimetische Qualitäten: Staden habe seine Geschichte »eynfeltigerweise nicht mit geschmückten oder brechtigen worten oder argumenten« vorgetragen und gerade deshalb müsse man ihm »großen glauben« schenken (S. 32). Diese Form formaler Wahrheitssicherung steht in der Zeit nicht allein.58 Der englische Theologe und Geograph Richard

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Hakluyt wird in seinen Principal Navigations (1589–1600) die Dominanz des Faktischen über das Rhetorische noch erhöhen, indem er »den eigentlichen Beschreibungen eine Unmenge von Briefen, Urkunden, Privilegien, Verträgen, Handelsinstruktionen, Segelanleitungen, geographischen Verzeichnissen, Wortlisten und vieles andere« beifügt.59 Auch Dryander geht es um wissenschaftliche Absicherung. Als Beispiel dient die bis in die Antike zurückreichende Diskussion um die Existenz von Antipoden: Sie werde nach den neueren Erkenntnissen bewiesen ebenso durch Astronomie und Kosmographie wie durch den konkreten Nachweis der Seefahrer, daß tatsächlich alle Teile der Welt bewohnbar seien. Wissenschaft und Erfahrung ergänzen sich und erzeugen unumstößliche Fakten von geradezu mathematischer Exaktheit: »Weil die tägliche Erfahrung die Schlußfolgerungen der Wissenschaft bestätigt, so muß man diese für so gewiß ansehen, wie es gewiß ist, daß wir fünf erhalten, wenn wir drei und zwei zusammenlegen.«60 Der zirkuläre Charakter solcher Argumente und die Vielfalt von Beglaubigungsaspekten verweisen auf den fragilen Status von Authentizität. Dryander schließt denn auch die Historia nicht einfach an den mathematisch-geographischen Diskurs an, sondern an die Auseinandersetzung mit dem Wunderbaren in der Welt. Er verweist auf Kaspar Goltwurms im gleichen Jahr erschienenes Wunderwerk und Wunderzeichen Buch, um deutlich zu machen, wie vieles in den Augen des einfachen Mannes als Wunder erscheint, das sich tatsächlich wissenschaftlich erklären läßt. Die Frage war eine aktuelle: Zwischen 1552 und 1557 fand unter Gelehrten eine intensive Diskussion über den Status von Prodigien und Monstern statt, in der die traditionelle Haltung, aus dem Abweichenden die Unerschöpflichkeit des Möglichen und die Größe der Natur zu erkennen, neue Unterstützung erfuhr. Das Wunderbare ist demgemäß nicht außerhalb der Natur, sondern deren Teil, ein bislang unzureichend erkannter. Es wird zur Herausforderung wissenschaftlicher Rationalität, die umgekehrt den ›neuen Wundern‹ ihre Seriosität verleiht. Eine Kippfigur, die im vorliegenden Kontext rechtfertigt, worin der Nutzen liegen kann, dem Fremden so nah wie möglich zu kommen, es zu beobachten und systematisch zu beschreiben. Damit hat auch die Vorrede im Blick, was die Historia im ganzen prägt: die Idee, Alterität sei erfahrbar – durch Annäherung an das Fremde. Staden steigert Differenzen und rückt dadurch auch das Vertraute in verfremdendes Licht. Die europäische Schriftkultur läßt er aus der Außensicht als magische Praxis erscheinen: Die Tupinambá hätten einen Sturm auf den Umgang des Deutschen mit einem portugiesischen Buch zurückgeführt (»Apo meiren geuppaw ywittu wasu immou = der böse mensch, der heylige, machet, das der windt jetzt kompt, dann er sahe des tages in die donnerheude; meynten das bĤch, das ich hatte«; I 37, S. 114). Für die Profilierung von Schrift aus

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vorschriftlichem Blickwinkel gibt es seit den frühen Amerikaberichten zahlreiche Beispiele – über Petrus Martyr, Jean de Léry bis hin zu Claude Lévi-Strauss.61 Stadens ›Donnerhaut‹ ist ein portugiesisches Buch, aber eine ›Donnerhaut‹ will auch sein Text selbst sein, imprägniert nämlich so weitgehend von dem Fremden, daß sogar das christliche Gebet, hindurchgegangen durch die fremde Welt, Zeugnis ablegt von ihrer Erlebbarkeit.

Anziehung und Abstoßung Die Historia gehört nicht zu jenen Texten, die wenig Neues in der Neuen Welt fanden und Alteritätserfahrungen eher blockierten als förderten.62 Sie ist aber auch nicht einfach Beispiel einer Ethnologie avant la lettre, die das Fremde im Dienste wissenschaftlicher Erkenntnis erforschen würde. Sie gibt sich selbst als Dokument einer Bewahrung, den eigenen Weg und die andere Welt als Spuren präsentierend, denen der Leser potentiell in die Wirklichkeit hinein zu folgen vermag. Um aber als ein solches Dokument erscheinen zu können, muß sie handlungsbezogen zwischen der Angleichung an die Tupinambá und der Wahrung von Distanz, textbezogen zwischen der Mimesis ans Fremde und der Elaborierung christlicher Sinnfiguren oszillieren. Die schrittweise Entfernung des Protagonisten von der eigenen Kultur, verbunden mit einem schrittweisen Hineinwachsen in die fremde, wird möglich dank der protestantischen Sicherheit einer Selbstbehauptung durch Mimikry und dank des temporären Charakters der Preisgabe von Identität. So verläuft das Experiment in kontrollierten Bahnen: Der Protagonist bleibt von den Gefährdungen des Überläufertums frei und behält seinen unerschütterlichen Gottesglauben. Er betont zwar im ersten Teil seine große Nähe zu den Tupinambá, wechselt dann aber im zweiten Teil zu einem systematisierenden Blick, der die Anderen erneut anonymisiert.63 Das Erproben von Identität gilt der europäischen – in ihren kulturellen, konfessionellen und nationalen Schattierungen. Es findet in einer Zeit statt, da die städtischen Obrigkeiten zunehmend Sorge trugen, die Identitäten der einzelnen Bürger zweifelsfrei festzulegen. Staden berichtet, er habe bei der Rückkehr seinen Paß vorgewiesen, um die Übereinstimmung zwischen Person und Geschichte zu gewährleisten. Er versucht damit auch, Zweifel an der Identität von Autor und Protagonist, von Erleben und Berichten auszuräumen. Die Frage hingegen, worin Identität eigentlich besteht und wodurch sie sich sichern läßt, wird vor allem im Mit- und Gegeneinander der indianischen Kulturen auf der einen, der deutschen, französischen, portugiesischen und spanischen auf der andern verhandelt. Die Antwort erfolgt wie in anderen Texten der Zeit primär ex negativo: in bezug auf das, was Identität gefährdet, im Blick auf Gegenbilder und Mangelzustände. Für

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die Türkeiberichte ist es in erster Linie der Übergang zur islamischen Religion, der als Kriterium für Behauptung oder Preisgabe der abendländischen Identität dient. Für die Amerikaberichte ist es ein Spektrum archaischer Lebensweisen, das Unterschiede in Körperpraktiken, Ernährungsgewohnheiten, Sozialgefügen und Glaubensformen zu erkennen gibt. Eben diese Konzentration auf die Lebensweisen verhindert hier in der Regel aber auch, daß Identität als eine des individuellen Bewußtseins ins Spiel kommt. Innerlichkeit scheint im Rahmen der äußeren Umstände auf. Kulturelle Hierarchisierungen bleiben unangetastet. Das stereotype Dreieck von Nacktheit, Kannibalismus und Religionslosigkeit, mit dem die Europäer operieren, ist kein gleichseitiges: Der Verlust der Kleider (oder auch des Bartes) ist fast immer Zeichen für den einsetzenden Übergang, die Teilnahme an anthropophagischen Akten bleibt hingegen meist eine passive, die Aufgabe der christlichen Religion findet gar nicht statt. So läßt sich trotz drohendem Identitätsverlust ein Kern moralischer Integrität und Superiorität bewahren. Es lassen sich Szenen des Erkennens, Nicht-Erkennens und Wiedererkennens entwerfen, die nicht jene Grenze überschreiten, die Gonzalo Guerrero markierte. Die Faszination an jener Grenze und an den Figuren des Übergangs manifestiert sich gleichwohl immer wieder. Die Chroniken sind voll von Notizen über Soldaten und Siedler, die für kürzere oder längere Zeit unter den Indianern lebten und die als wichtige Wissenslieferanten und Mittelsmänner oder auch als verabscheuenswürdige Renegaten gekennzeichnet werden.64 Ihr Pendant liegt in indigenen Vermittlerfiguren wie Malinche oder Pocahontas, schillernd ihrerseits zwischen dem Verrat indigener und der Unterstützung europäischer Kulturen.65 Die Ausgestaltung solcher Figuren allerdings, sie wird sich erst in Zeiten nationalgeschichtlicher Mythisierung und in den populären Kulturen der Moderne vollziehen. Der Jesuitenpater Manuel da Nobrega erwähnt Mitte des 16. Jahrhunderts einen portugiesischen Seemann Diego Alvarez Correa als Freund und Mittelsmann zu den Tupinambá. Auch Gabriel Soares de Sousas nennt ihn zweimal in seiner Notícia de Brasil (nach 1587). Erst Simão de Vasconcellos aber erzählt in der Chronica da Companhia de Jesu do Estado do Brasil (Lissabon 1683) seine Lebensgeschichte als Paradigma kolonialer Synthese: Schiffbrüchig in der Bucht von Bahia von den Indianern gefangengenommen, entging Diego der Anthropophagie und wurde unter dem Namen Caramurú (Sohn des Donners) angesehenes Mitglied des Stammes, Oberhaupt einer großen Familie mit zahlreichen Frauen und Kindern. Des Handels mit Brasilholz wegen begab er sich, zusammen mit der schönsten seiner Frauen, Paraguassú, nach Frankreich, wo die Königin Katharina von Medici Gefallen an der indianischen Prinzessin fand und sie zu ihrem Taufkind machte, während Diego Kontakte zu den mit den Franzosen verfeindeten Portugiesen knüpfte. Nach

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Brasilien zurückgekehrt, kam er als Sklavenhalter zu Wohlstand. Seine Frau, die während eines Schiffbruchs eine Marienvision gehabt hatte, wurde zur Gründerin der Kirche Nossa Senhora de Grassa. Aus ihren Kindern gingen die vornehmsten Familien Bahias hervor. Eine jesuitische Sinngeschichte: mehrfache kulturelle Übergänge, verbunden mit religiösen wie politischen Genealogien. Als der in Brasilien aufgewachsene Dichter José de Santa Rita Durão diese Geschichte 1781 in ein episches Gedicht von Liebespassion und Völkergenese verwandelte, war der definitive Schritt zur Mythisierung getan: Caramurú und Paraguassú gehören seitdem zu den populären Gründerfiguren Brasiliens, ihre Geschichte zu jenem Schatz an Ursprungsmythen, aus dem der moderne Film wie die Tourismuswerbung schöpfen.66 Erst die nationale Selbstvergewisserung macht aus den Episoden der kulturellen Vermischung Kristallisationspunkte überindividueller Identität. Vor dem (ausgehenden) 17. Jahrhundert verdichten sich die Elemente noch kaum zu elaborierten Sinngefügen. Sie bleiben eingebettet in Ereignis- und Kolonisierungsgeschichten, ohne sich im kulturellen Imaginären zu verselbständigen. Die Figuren erhalten in punktuellen Innenansichten das Wort, ohne zu eigenständigen Protagonisten zu werden. Sieht man von den spektakulären Texten eines Cabeza de Vaca oder eines Knivet ab, auf die ich im nächsten Kapitel eingehen werde, sind die in der ersten Person geschriebenen Erfahrungsberichte selten. Und selten sind auch die Fälle, in denen ein Subjekt, wie Garcilaso, tatsächlich zwischen den Kulturen steht – und dies überdies auch noch in seinem Text zum Austrag bringt. Hernando de Escalante Fontaneda beispielsweise, geboren in Carthagena (Peru) und zur Ausbildung geschickt nach Spanien, erlitt Schiffbruch in Florida und verbrachte die Zeit zwischen dem dreizehnten und dreißigsten Lebensjahr als Gefangener verschiedener Indianervölker. Um 1575 beschrieb er in einem Memorial diese Völker, ausgehend von der Annahme, daß niemand das Land so gut kenne, »wie ich es kenne, der ich dies schreibe«.67 Seine Kenntnis manifestiert sich in der üblichen Nennung divergenter Phänomene, betreffend den Körper, die Bekleidung (»sie sind nackt bis auf Hosen aus Palmblättern«), die Ernährung, die Natur, bestimmte Praktiken und Sitten. Nebeneinander steht die seitenfüllende Aufzählung von Siedlungsnamen und die Schilderung schwieriger Kommunikationssituationen. Der Autor profiliert sich als Retter gefangener Landsleute: Der Häuptling hält die Gefangenen, die der Aufforderung, zu tanzen und zu singen, nicht nachkommen, für widerständig und begreift erst durch Fontanedas Vermittlung, daß sie ihn gar nicht verstehen. Doch geht es weniger um die Möglichkeit der Verständigung mit den Indianern als um die Unmöglichkeit ihrer Beherrschung. Fontaneda vertritt die Haltung des verstorbenen Gouverneurs Pedro Menéndez de Avilés, daß nur die Versklavung eine Lösung

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sei: »Man handhabe die Indianer freundlich, mache Frieden mit ihnen; und nehme sie dann, Männer und Ehefrauen, gefangen, verkaufe sie auf den Inseln und dem Festland für Geld, wie einige alte Adlige in Spanien Vassallen vom König kaufen. Auf diese Weise kann man mit ihnen umgehen, ihre Zahl ausdünnen.«68 Auch wo die Machtpolitik subtilere Züge annahm, blieb die Verwischung kultureller Grenzen suspekt. Die englischen Bemühungen um die nordamerikanische (ebenso wie die irische) Kolonie sind durchzogen von der Sorge um Überläufer und Selbstverluste. Gelegentlich erhält diese Sorge phantasmatische Züge. George Percy erzählt in seiner handschriftlichen Trewe Relacyon (1612), wie in der Kolonie Virginia der Gouverneur Thomas Dale und einige Männer, in einem indianischen Haus sitzend, einander plötzlich für Indianer gehalten und aufeinander eingeschlagen hätten, bis Gott dem Irrtum ein Ende bereitet habe:69 ein Beispiel für den gefährlichen Zauber, der in den indianischen Welten schlummert, aber auch für die Notwendigkeit des Gottvertrauens. Infragestellung des einen und Anziehung durch das andere wurden immer wieder aufeinander bezogen. Besonders dort, wo es um die Frage geschlechtlicher Beziehungen ging. Der frühneuzeitliche Amerikadiskurs ist durchzogen von sexuellen Metaphoriken: das Neue Land als weiblich, fruchtbar, aufnahmebereit.70 Dem entgegen steht die Reserviertheit angesichts konkreter Kontakte. Staden spart für sich selbst aus, was er von anderen Gefangenen erwähnt: daß ihnen Frauen aus dem Stamm gegeben wurden, mit denen sie gelegentlich auch Kinder zeugten. Andere äußern sich explizit. Jean de Léry ist fasziniert von der Kultur der Tupinambá, spricht aber verächtlich von den normannischen Seeleuten, die sich mit indianischen Frauen und Mädchen eingelassen hätten und selbst wie Wilde leben würden.71 Walter Raleigh polemisiert gegen die Spanier, welche die indigenen Frauen benutzen würden, »ihre eigenen Gelüste zu befriedigen«, und profiliert die eigene Moral gerade angesichts der unzähligen Frauen, mit denen sie zu tun gehabt hätten, »darunter sehr junge und reizvolle, die uns unverhüllt und splitternackt begegneten«.72 Thomas Dale läßt 1612 in Virginia englische Siedler, die weggelaufen waren, um mit den Indianern zu leben, durch Strick oder Feuer, Erschießen oder Rädern hinrichten.73 Ein geradezu onirisches Szenario der Ambivalenzen des europäischen Subjekts bietet John Smith. Führend an der Etablierung der englischen Kolonie Virginia beteiligt, stand er in intensivem Kontakt mit den Powhatan, war kurzzeitig ihr Gefangener, dann ›Adoptivsohn‹ des Häuptlings. In seiner Geschichte Virginias beschreibt er das, was Ethnologen als das Kornfest der Powhatan identifiziert haben. Er beschreibt es als sinnliches Ereignis besonderer Güte: dreißig nackte junge Frauen, in verschiedenen Farben bemalt, mit Hörnern und Häuten geschmückt, kommen aus dem Wald,

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singend und tanzend, so verführerisch, daß sie kaum abweisbar scheinen.74 Der Erzähler spricht von ihren »infernall passions«, stellt sie also in die Nähe von Hexen. Er entwirft aber auch das Bild eines verzweifelt gegen die fremde Lüsternheit und die Lüsternheit der Fremde kämpfenden Mannes: »all these Nymphes more tormented him than ever, with crowding, pressing and hanging about him, most tediosly crying, Loue you not me? loue you not me?« Elliptisch bleibt seine eigene Rolle im Geschehen. Auf den stimmungsvollen Ausgang des Festes, der Protagonist mit Fackeln zu seinem Schlafplatz geleitet, folgt ein abrupter Neueinsatz: »The next day came Powhatan«. Der Text spielt mit den Zwischenräumen, dem Ungesagten, dem Möglichen, hält Hingabe und Selbstbehauptung in der Balance. Mit dem Helden wird auch der Leser umgarnt von der wirbelnden Sinnlichkeit der Neuen Welt, seine Phantasie stimuliert und doch die Moral nicht preisgegeben. Wie wichtig das war, zeigt zum Beispiel Robert Beverleys Geschichte Virginias: Die in der ersten Auflage von 1705 aufgegriffene Idee, die interkulturelle Ehe würde dem Rückgang der Bevölkerungszahlen und der Verminderung der indigenen Völker entgegenwirken, mußte für die zweite entfernt werden.75 Noch in den nordamerikanischen captivity narratives des 18. und 19. Jahrhunderts bleibt der definitive Übertritt in die andere Kultur, verbunden mit Ehe und Familienleben, ein Obstakel.76 In Herman Melvilles Südseeroman Typee (1846) schildert der Erzähler die berückende Schönheit der Insulanerinen, die ihn umgibt, und beläßt es doch, was sein Verhältnis zur allesüberstrahlenden Fayaway angeht, bei Andeutungen. Damit soll nicht gesagt sein, das Verhältnis von Alterität und Mimesis habe sich zwischem dem 16. und dem 19. Jahrhundert nicht verändert. Zur Zeit Melvilles gibt es einen entwickelten Diskurs des Exotismus, des Orientalismus und der Südseebegeisterung. Es gibt Theorien der Mimesis im Sinne einer Nachahmung der Natur. Und es gibt entwickelte Verfahren ebenso für die detaillierte Beschreibung der Fremde wie für die literarische und künstlerische Inszenierung. In Voltaires L’ingénue, Diderots Supplement oder La Hontans Voyage haben Huronen oder Südseeinsulaner die Aufgabe übernommen, Kritik an der europäischen Gesellschaft zu artikulieren oder Entwürfe einer idealen Gesellschaft zu präsentieren. In Chateaubriands Natchez-Romanen begibt sich ein junger Franzose auf der Flucht vor der Zivilisation zu einem Indianerstamm, ohne doch seinem Weltschmerz und der auch die ›edlen Wilden‹ erfassenden Veränderung entkommen zu können. Auf je andere Weise produzieren die Texte mit Hilfe mimetischer Suggestionen Alteritätseffekte, die wiederum auf die vertrauten Modelle abendländischer Gesellschaftlichkeit und europäischer Politik zurückwirken.77 Dieser sich im Wechselspiel von Orientalismus und Amerikanismus ausbildende Diskurs, zunächst aufklärerischen, dann romantischen Zuschnitts,

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läßt sich nicht ohne weiteres in die Vergangenheit hinein verlängern. Zu instabil sind auf längere Zeit die Beziehungen zu den Neuen Welten, als daß ihre Bestandteile literarisch frei verfügbar wären. Zu ungesichert sind die verschiedenen europäischen Interessen, als daß das Imaginäre – zumal angesichts der Zensur von Texten und der Kontrolle von Drucken – sich in ungehinderter Autonomie entfalten könnte. Alterität und Mimesis bleiben damit an Prämissen von Authentizität und Integrität gebunden. Sie bleiben gebunden an erfahrende und erlebende Subjekte, deren Teilhabe den Sinn der textuellen Effekte stabilisiert. Diese Effekte sind alteritäre wie mimetische und sie haben es in beiden Fällen mit Geltungsbehauptungen zu tun: Das Fremde als mehr oder weniger unvergleichlich hinzustellen signalisiert die Möglichkeit eines neuen Wissens und damit der prägnanten (Selbst-) Einschreibung in einen Diskurs. Den Bericht als mühsam der Situation abgerungen erscheinen zu lassen (»so gut ich kann«, »den Umständen entsprechend«, »in äußerster Eile« etc.) suggeriert, Sprache und Form würden etwas vom Innersten der Neuen Welt transportieren. Dementsprechend kann sich ein Subjekt zwar hinter die objektivierende Beschreibung zurückziehen, nicht aber in ihr ganz aufgehen. Henry Spelmans Relation of Virginea beispielsweise (um 1613) bietet auf knappem Raum eine konzise ethnographische Bestandsaufnahme des Lebens der Powhatan: ihrer Götterverehrung, ihrer Siedlungen, ihrer Heiratspraktiken, ihrer Rechtsformen und Anbauweisen. Doch unentbehrlich ist die Voraussetzung, daß der junge Engländer eine Zeitlang unter ihnen lebte, daß seine Mitteilungen auf Erfahrungen – unmittelbar körperlicher Art – beruhen: Die Episode, berichtend, wie er von einigen Häuptlingen halb totgeschlagen wurde, macht die Teilhabe als schmerzliche kenntlich und ermöglicht jenes Wechselspiel von Distanz und Nähe, das der Autor auf die Spannung von Alterität und Mimesis überträgt, das er aber seinerseits nicht vollständig kontrolliert: Der Sprecher des Gerichts, das über Spelman wegen Verletzung der Ehre der Kolonie urteilte, stellte fest, dieser hätte »mehr von einem Wilden in sich als von einem Christen«.78 In Stadens Historia vermögen Vorwort und Betonen protestantischer Gläubigkeit einen ähnlichen Eindruck zu verhindern. Sie kann deshalb als Paradigma frühneuzeitlicher Sinnerzeugung über Jahrhunderte hin wirksam bleiben: Paradigma einer Ich-Perspektive, die einerseits erlaubt, bis an jene Grenze zu gehen, an der Identität sich zu verlieren droht, andererseits, auf das Geschehene zurückblickend, gewährleistet, daß der Verlust nicht stattgefunden hat. Ausgehend vom sicheren Boden abendländischer Druckorte vermittelt sich der Schauder einer Möglichkeit, die letztlich zurückgewiesen und zur Bestätigung wie Steigerung des Weltwissens genutzt werden kann. Zugleich aber vermittelt sich jene für autobiographische Texte zentrale Spannung zwischen erlebendem und schreibendem Ich, die auch andere

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Amerikaberichte prägt: Im einen Moment scheint das Subjekt der Fremde völlig ausgeliefert, im andern kann es diese zu Verallgemeinerungen nutzen; auf eine Beschreibung der ausweglosesten Situation folgt eine Erwähnung der Qualitäten, die es attraktiv machen, das andere Territorium dem europäischen Machtgefüge einzuordnen. Selbst in der scheinbaren Ausweglosigkeit schlummert so immer auch die Möglichkeit einer spezifischen Sinnproduktion.

Anmerkungen 1 Konsequent in dieser Richtung MASON, Deconstructing America. 2 GEERTZ, The Interpretation of Culture; CLIFFORD/MARCUS, Writing Culture; BERG/FUCHS, Kultur, soziale Praxis, Text; GOTTOWIK, Konstruktionen des Anderen; ELLRICH, Verschriebene Fremdheit; WEIMANN, Ränder der Moderne. 3 DUALA-M’BEDY, Xenologie; FÖGEN, Fremde der Gesellschaft; SCHÄFFTER, Das Fremde; WIERLACHER, Kulturthema Fremdheit; H. MÜNKLER, Furcht und Faszination; ders., Die Herausforderung durch das Fremde; NAGUSCHEWSKI/TRABANT, Was heißt hier fremd; JANZ, Faszination und Schrecken des Fremden; NELL, Reflexionen und Konstruktionen des Fremden. Zum Fremden aus ethnologischer Sicht BOON, Other Tribes, Other Scribes; KOHL, Abwehr und Verlangen; AFFERGAN, Exotisme et altérité. Zu einer Semiotik der Alterität HAIDU, The Semiotics. 4 Zur Diskussion von Mimesis SCHERPE, Das Andere verstehen; KABLITZ/NEUMANN, Mimesis und Simulation; SCHOLZ, Mimesis. 5 GEBAUER/WULF, Mimesis, S. 12. 6 ISER, Mimesis ĺ Emergenz, S. 670. 7 Vgl. WEIMANN, Mimesis und die Bürde der Repräsentation. 8 Zur Zirkulation BURGHARTZ, Mimetisches Kapital. 9 TAUSSIG, Mimesis und Alterität. 10 WEIMANN, Ränder der Moderne. 11 Zum inneren Fremden und der Verinnerlichung des Fremden THEYE, Wir und die Wilden; KRISTEVA, Fremde sind wir uns selbst. 12 Übergreifende Sammelbände: BRINKER-GABLER, Encountering the Other(s); HALLAM/STREET, Cultural Encounters – Representing »Otherness«; HONOLD/SCHERPE, Das Fremde; STRÅTH, Europe and the Other; JANZ, Faszination und Schrecken des Fremden. Für die Antike: HARTOG, Le miroir d’Hérodote. Für das Mittelalter: POCHAT, Das Fremde im Mittelalter; CLASSEN, Meeting the Foreign in the Middle Ages. Für die frühe Neuzeit St. B. SCHWARTZ, Implicit Understandings. Ein für die ältere Zeit recht pauschaler Versuch, europäische Identitäten von Alteritäten her zu denken, bei HOLDENRIED, Künstliche Horizonte. 13 Vgl. AFFERGAN, Exotisme et altérité; NELL, Reflexionen und Konstruktionen des Fremden. 14 Zur Ausbildung des habsburgischen Nachrichtennetzes PIEPER, Die Vermittlung einer neuen Welt. 15 Vgl. die Arbeiten von STAGL. 16 Boemus, Omnium gentium mores, leges et ritus; frz. Ausgabe: Recueil de diverses histoires, 1539, f. LXXVb: »les excriptz daultruy«; CÉARD, La nature et les prodiges, S. 274. 17 Vgl. NEUBER, Fremde Welt im europäischen Horizont. 18 HULTON, America 1585, S. 9; CAMPBELL, Wonder and Science, S. 59. 19 LOISKANDL, Edle Wilden, Heiden und Barbaren. 20 Zur Rhetorik des Wunders GREENBLATT, Wunderbare Besitztümer. Zum Diskurs des Wunderbaren CÉARD, La nature et les prodiges; CRAMER, Der Umgang mit dem Wunderbaren; DASTON/PARK, Wonders and the Order of Nature; CAMPBELL, Wonder and science. Zu frühneu-

Anmerkungen

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zeitlichen Monstern KAPPLER, Monstres, démons et merveilles; WILSON, Signs and Portents; PRIORE, Esquecidos por Deus. 21 HORTZITZ, Von den unmenschlichen Taten, Nr. 12, S. 27; der Bericht wurde 1576 samt (leicht verändertem) Holzschnitt von Pedro de Magalhães de Gandavo in seine Geschichte Brasiliens übernommen; STUMPF/KNEFELKAMP, Brasiliana, S. 93, Nr. 4d mit Abb. 22 Nennung der wichtigsten Gefangenschaftsberichte bei HARBSMEIER, Wilde Völkerkunde, S. 137 und Literaturverzeichnis. Das umgekehrte Phänomen – Nicht-Europäer, die von ihren Identitäten im Spannungsfeld der Kulturen erzählen – behandelt DAVIS, Non-European Stories, European Listeners. 23 Georgius de Hungaria, Tractatus de moribus, ed. KLOCKOW, S. 21 (Einleitung); Rezension der Ausgabe durch Bernhard JAHN, in: Beiträge zur Geschichte der deutschen Sprache und Literatur 120 (1998), S. 161–165. 24 Petrus Martyr, 4. Dekade, Buch VI: Opera, f. LIXv (S. 152); Acht Dekaden, ed. KLINGELHÖFER, S. 360–362. 25 Zur Rolle solcher Mittelsmänner an Beispielen vom 16. bis zum 20. Jahrhundert KARTTUNEN, Between worlds. 26 López de Gómara, Historia de la conquista de Mexico, ed. GURRIA LACROIX, S. 25: »desnudos en carnes, sino era sus vergüenzas, los cabellos trenzados y enroscados sobre la frente como mujeres, y con muchas flechas y arcos en las manos.« 27 Díaz del Castillo, Historia verdadera, ed. SAENZ DE SANTA MARIA, S. 53: »se suyo era moreno e tresquilado a manera de indio esclavo, e traía un remo al hombro e una cotara vieja calzada y la otra en la cinta, e una manta vieja muy ruin e un braguero peor, con que cubría sus vergüenzas, e traía atado en la manta un bulto, que eran Horas muy viejas«; Denkwürdigkeiten, S. 77. 28 López de Gómara, Historia, S. 25: »se casó con una rica señora de aquella tierra, en quien tiene hijos, y es capitán de Nachancán, y muito estimado por las victorias que le gana en las guerras que tienen con sus comarcanos«. Zum Unterschied der beiden Figuren CLENDINNEN, Ambivalent Conquests, S. 17f. 29 López de Gómara, Historia, S. 25: »Mas él no quiso, creo que de vergüenza, por tener horadadas las narices, picadas las orejas, pintado el rostro y manos a fuer de aquella tierra y gente o por vicio de la mujer y amor de los hijos.« 30 Diaz del Castillo, Denkwürdigkeiten, S. 73. 31 Petrus Martyr, 4. Dekade, Buch VI: Opera, f. LIXv (S. 152): »Vbi rem intellexit, illico insaniuit prae dolore, licet in nube tantum filium audiuerit in potestatem carnes humanas edentium incidisse. Haec si quando carnes assas inspectas, aut verubus affixas, clamoribus domum replet, inquiens: ›En filii mei frustra, en matrem omnium foeminarum miserrimam‹«; López de Gómara, Historia, S. 27: »Desventurada de mí! éste es mi hijo y mi bien!« 32 TODOROV, Die Eroberung Amerika, S. 233. Zur Wirkung der Figur ROMERO, Texts, Pretexts, Con-texts; VILLA ROIZ, Gonzalo Guerrero. 33 Staden, Wahrhaftige Historia, ed. BEZZENBERGER (Faksimileausgabe); Ausgabe mit Übersetzung: Wahrhaftige Historia, ed. MAACK/FOUQUET. 34 Zusammenfassung der ethnologischen Rekonstruktion (u. a. anhand der frühen europäischen Berichte) bei MÉTRAUX, The Tupinambá; s. auch HEMMING, Red Gold (Register). 35 Zu den älteren Texten SIXEL, Die deutsche Vorstellung vom Indianer; GEWECKE, Wie die neue Welt in die alte kam, S. 88–133; JAHN, Raumkonzeptionen, S. 153–198. Zu den Brasilienberichten des 16. Jahrhunderts ZIEBELL-WENDT. Zu den bildlichen Darstellungen: STURTEVANT, First Visual Images of Native America; KOHL, Über einige der frühesten graphischen Darstellungen; COLIN, Das Bild des Indianers im 16. Jahrhundert; FRÜBIS, Die Wirklichkeit des Fremden; OBERMEIER, Brasilien in Illustrationen des 16. Jahrhunderts. 36 Staden, Wahrhaftige Historia, ed. MAACK/FOUQUET, S. 211–231 Bibliographie der Ausgaben; zum Erfolg des Textes NEUBER, Fremde Welt im europäischen Horizont, S. 259f. und ders., Die Drucke der im Original deutschen Amerikareiseberichte, S. 14f. 37 Léry, Histoire d’un voyage, ed. LESTRINGANT, S. 545. 38 Hans Staden: Zwei Reisen nach Brasilien, übertr. von Karl FOUQUET. MARBURG 51995, S.

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168; vgl. auch z. B. BERG, ›Wie ich in der tyrannischen Völker Gewalt kommen bin‹. 39 MENNINGER, Die Macht der Augenzeugen, S. 186. 40 Ebd., S. 165–182. Die Existenz des brasilianischen Kannibalismus verteidigte von ethnologischer Seite FORSYTH, The Beginnings of Brazilian Anthropology; ders., Three Cheers for Hans Staden; WENDT, Kannibalismus in Brasilien. Mangelnde Glaubwürdigkeit aufgrund angeblicher Diskrepanzen zwischen dem ersten und dem zweiten Teil des Berichts konstatierte ROHDEWOHLD, Zur Problematik der ethnohistorischen Auswertung. Zusammenfassend zum Problemstand N. L. WHITEHEAD, Hans Staden. 41 Zu den portugiesisch-brasilianischen Beziehungen GUEDES/LOMBARDI, Portugal Brazil. 42 SCHÜLTING, Wilde Frauen, fremde Welten, S. 126: Angst vor der »Effeminierung und EntEuropäisierung«. 43 Vgl. HARBSMEIER, Wilde Völkerkunde, S. 104–107. 44 Historia I 28 (S. 98/100): »ich gieng hin bei in und redete mit im gleichwie, wie die wort auf ire spraach gefallen, und sagte: Bistu der Konyan Bebe? Lebestu noch? Ja, sagte er, ich lebe noch. Wolan, sagt ich, ich habe vil von dir gehort, wie du so eyn weydlicher man seiest. Da stund er auf und gieng vor mir her spacieren von großem hochmĤt«. Konyan Bebe wird in zahlreichen zeitgenössischen Brasilientexten erwähnt; vgl. Thevet, La Cosmographie universelle, in: Le Brésil et les Brésilien, ed. LUSSAGNET, S. 88–93; HEMMING, Red Gold, S. 123f. 45 Vgl. HARBSMEIER, Wilde Völkerkunde, S. 100. 46 Historia I 52 (S. 142): »Dieselbigen meine brüder wolten in keynen weg, das ich wider mit inen an landt solt zihen, sonder ich solte heym zihen, dann unser vatter begerte mich noch eynmal zu sehen, ehe dann er stürbe«; vgl. WENZEL, Kain und Abel, hier S. 150–153. 47 Beschlußrede (S. 198): »darmit er nit in zweiffel lebe, so neme er Gott zu hilf und fahe diese reyse an. Ich hab jm hierin kundtschaft genug gelassen; der spur volge er nach. Dem Gott hilft, ist die welt nicht zĤgeschlossen.« 48 JAHN, Raumkonzeptionen, S. 240–248. 49 Die französischen Brasilientexte bieten ganze Dialoge, Wortlisten und kleine Grammatiken: Léry, Histoire, ed. LESTRINGANT, S. 479–503; Yves d’Evreux, Voyage au Nord du Bresil, ed. CLASTRES, S. 117–119 (Namen für Körperteile und -aktivitäten). 50 Zum Vergleich als einer Kategorie kultureller Verständigung ESCH, Anschauung und Begriff; als Mangel in der Erfassung der fremden Wirklichkeit begreift BRENNER, Vom Augenschein zur Wissenschaft, S. 205f. das Fehlen von Vergleichen in der Historia. 51 Historia II 16 (S. 170): »Jch hab sie oft gefragt, woher sie das muster der haar hetten. Sagten sie, Yhre vorvätter hettens an eynem manne gesehen, der hette Meire Humane geheyßen und hette vil wunderbarlichs dings under inen gethan; und man wil, es sei eyn prophet oder apostel gewesen«; vgl. GLIOZZI, Les apôtres au nouveau monde. 52 Vgl. Dialogues of the Great Things of Brazil, ed. HALL/HARRISON/WELKER, S.308 u. 330, Anm. 21; GRAFTON/SHELFORD/SIRAISI, New Worlds, Ancient Texts, S. 142f. 53 Vorlagen sind weder erhalten noch belegt. Beschreibung der einzelnen Bilder bei COLIN, Das Bild des Indianers, S. 207–212. 54 Thevet, Les singularitez de la France antarctique, cap. 43, f. 81v–83v (mit Abb.); Léry, Histoire, S. 468–479 (Kap. 19); METRAUX, Religion, S. 113–121. 55 Zur »Gegenüberstellung von christlichem Kreuz und indianischem Totenschädel« und damit dem visualisierten Gegensatz von Symbolen »des ewigen Lebens und der ewigen Verdammnis« WENZEL, Deutsche Conquistadoren, S. 301. 56 Vgl. NEUBER, Fremde Welt im europäischen Horizont, S. 255–257; weitere Beispiele für wandernde Bildmotive bei VON KÜGELGEN, Die Austauschbarkeit der Bilder. 57 Beschlußrede (S. 194): »Das auch eyn jeder höre, das der allmechtige Gott jetzt noch ebenso wol seine christgleubigen under dem gotlosen heydnischem volck wunderbarlich beschützet und geleytet, als er von anbegin ye gethon hat.« 58 Vgl. NEUBER, Fremde Welt im europäischen Horizont, S. 148. 59 SCHIEWEK, Das Ferment der Praxis, S. 218, ebd., S. 220 das Beispiel des Luke Fox, der seine Leser davor warnte, »irgendwelchen blumigen Redensarten oder beredte Kunstausdrücke zu

Anmerkungen

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erwarten«. 60 Vorrede (S. 36): »Weil die tegliche erfarung in disen dingen mit den demonstrationibus zĤstimmet, so muß man eben so gewiß halten, als gewiß ist, so ich 3 und 2 zusamenlege in der zal, werden 5 daraus«. Vgl. WENZEL, Deutsche Conquistadoren, S. 297–299; BRENNER, Vom Augenschein zur Wissenschaft, S. 214–217. Zu Person und Werk Dryanders MENNINGER, Die Macht der Augenzeugen, S. 183f., und HARBSMEIER, Wilde Völkerkunde, S. 118: Staden sei für Dryander »ein willkommenes Mittel [gewesen] für jene Art von ›Volksaufklärung‹, die er auch selbst mit seinen medizinischen und astronomischen Schriften zu betreiben bestrebt war«. 61 Vgl. CERTEAU, Das Schreiben der Geschichte, S. 137–171 (am Beispiel von Léry); zum medialen Aspekt der Konstruktion der Neuen Welt WENZEL, Gutenberg und die Neue Welt. 62 GUMBRECHT, Wenig Neues in der Neuen Welt. 63 HARBSMEIER, Wilde Völkerkunde, S. 111. 64 Vgl. HEMMING, Red Gold (auf Brasilien bezogen); LESTRINGANT, Going native in America; AXTELL, The European and the Indian, bes. S. 131–206; KUPPERMAN, Indians and English. 65 SCHÜLTING, Wilde Frauen, fremde Welten, S. 155–233. 66 AMADO, Mythic Origins. 67 Hernando de Escalante Fontaneda, Memorial, S. 10b. 68 Ebd., S. 11b. 69 KNAPP, An Empire Nowhere, S. 242; zu den englischen Sorgen CANNY, The Permissive Frontier. 70 SCHÜLTING, Wilde Frauen, fremde Welten. 71 Léry, Histoire, ed. LESTRINGANT, S. 180 (Kap. 6): »certains Normans, lesquels dés long temps au paravant qu’il fust en ce pays-là, s’estoyent demeurez parmi les sauvages, où vivans sans crainte de Dieu, ils paillardoyent avec les femmes et filles.« 72 Raleigh, Gold aus Guyana, ed. LARSEN, S. 121; vgl. KNAPP, An Empire Nowhere, S. 202f.; SCHÜLTING, Wilde Frauen, fremde Welten, S. 50. 73 MORGAN, American Slavery, American Freedom, S. 74. 74 Smith, Generall Historie, lib. 3, in: Travels and Works of Captain John Smith, ed. ARBER/BRADLEY, S. 396, S. 436f.; MOSSIKER, Pocahontas, S. 108–114. 75 MOSSIKER, Pocahontas, S. 315f. 76 DEROUNIAN-STODOLA/LEVERNIER, The Indian Captivity Narrative, S. 73–85. 77 Vgl. BITTERLI, Die ›Wilden‹ und die ›Zivilisierten‹, S. 411–425. 78 SHEEHAN, Savagism and Civility, S. 113; Spelmans Text in: Travels and Works of Captain John Smith, Tl. 1, ed. ARBER/BRADLEY, S. ci–cxiv.

3 Poetik der Passion

Christliche Neue Welt Die Neue Welt erwies sich schnell als Terrain für mannigfache Formen christlicher Sinnstiftung. Da sind die Christianisierungsunternehmen, von Franziskanern, Jesuiten und anderen Orden im Benehmen, aber auch im Konflikt mit den weltlichen Institutionen betrieben. Da sind die konfessionellen Spannungen und theologischen Diskussionen, die, verlagert nach Amerika, neue Entfaltungs- wie Lösungsmöglichkeiten erhalten. Da sind die historischen Modellbildungen, die die Neue Welt ins Ganze der Heilsgeschichte einordnen. Und da sind die vielfältigen Optionen, überseeische Aktivitäten und Phänomene durch christliche Sinnmuster zu begründen und zu überhöhen.1 Was die verschiedenen Formen verbindet, ist das Erproben neuer Konstellationen vor einem Horizont der Tradition, der sich selbst sukzessive verschiebt. Was die verschiedenen Diskurse durchquert, ist das Dispositiv der Erwartung: Erwartung von Entdeckungen und Revelationen, von materiellem und spirituellem Gewinn. Wo die Alte Welt politisch, ökonomisch, kulturell und konfessionell von wachsender Unübersichtlichkeit gezeichnet war, verknüpfte sich mit der Neuen die Aussicht auf eine ungeahnte Fülle – des Heilsamen, des Verfügbaren, des Sinns.2 Nicht nur um den Status der Indianer, den potentiell christlichen, ging es hier, sondern um die Chance, die Begegnung mit ihnen und ihren Ländern als Heilsgeschehen zu begreifen. Schon der Brief Colóns an Luis de Santángel stellt neben dem Nutzen der Entdeckung auch die Größe des Entdeckers heraus: »Gott pflegt seinen Dienern und allen, die seine Gebote achten, selbst das Unmögliche zu erfüllen; und so widerfuhr es auch mir, der ich erreicht habe, was bisher weit außer Reichweite menschlicher Macht gelegen war.«3 Der demütige Gestus ist ein zwiespältiger. Er zielt gleichzeitig auf Teilhabe am Göttlichen. Colón fordert dazu auf, Christus den Erlöser zu preisen, und rückt sich selbst in die Nähe eines Messias, auserwählt das Christentum nach Übersee zu bringen. Spätere Briefe wird er, seinen Vornamen heilsgeschichtlich deutend, mit Christoferens unterzeichnen.4 Allerdings läßt die Christusreferenz, einmal aufgebracht, auch andere Bezugspunkte als die der Erlösung zu: Leiden, Opfer und Hingabe, Zukünftigkeit des Heils. Sie spielen dort eine größere Rolle, wo der Erfolg von Entdeckung und Eroberung, Kolonisierung

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und Christianisierung auf sich warten läßt. In einer 1503 auf Jamaika geschriebenen und 1505 in italienischer Übersetzung in Venedig gedruckten Lettera, gerichtet an die Katholischen Könige von Spanien, entwickelt Colón diese Dimension in allen Tonlagen, ständig wechselnd zwischen Enttäuschung und Verheißung, Erniedrigung und Standhaftigkeit.5 Die Situation hat sich gegenüber den ersten Jahren gewandelt: Der zum Vizekönig und Generalgouverneur Ernannte war auf seiner dritten Reise (1498–1500) im Auftrag der Krone gefangengenommen und in Ketten nach Spanien zurückgebracht worden. Zwar gestand man ihm eine weitere Reise zu (von ihr berichtet die Lettera), doch nurmehr als Admiral, nicht als Vizekönig. Bis zu seinem Tod (1506) wird er sich um Wiedereinsetzung in seine Rechte bemühen. Der Brief entsteht in einer Phase der Ungewißheit. Der Rechtfertigung dienend, hat er instrumentellen Charakter, entwickelt aber auch genau deshalb, wie manche der von Natalie Zemon Davis erforschten Gnadengesuche, eine beträchtliche rhetorische Verve.6 Oszillierend zwischen Hoffnung und Verzweiflung setzt er einerseits auf Emphase, Teilhabe und Anschaulichkeit, andererseits auf Introspektion, Retrospektion und Reflexion. Colón springt hin und her zwischen den Zeitebenen, changiert zwischen Vergangenem, Gegenwärtigem und Zukünftigem. Er beschreibt und sinniert, macht Pläne und lamentiert, stellt Schätze in Aussicht und wehrt sich gegen die als ungerecht empfundene Behandlung. Bei all dem ist er sich seiner Mittel wohlbewußt. Vorangegangene Briefe werden erwähnt, »ausgeschmückt mit Stellen aus der Heiligen Schrift«, in denen er »den Ort des Paradieses auf Erden« angezeigt habe. Auch der vorliegende Brief zitiert christliche Figuren und Ereignisse: Moses, David und Hiob, die Sintflut und die Endzeit. Der apokalyptische Grundtenor ist unverkennbar: gewaltige und langanhaltende Unwetter, starke Strömungen, tiefer Seegang, lecke und morsche, von Würmern zerfressene Schiffe, Orientierungslosigkeit. »So fuhr ich in diesem Meer umher, das flüssiges Blut schien und das kochte wie ein Kessel, unter dem großes Feuer brennt. Niemals ward der Himmel so schauerlich gesehen: Einen Tag und eine Nacht brannte alles, als sei es ein glühender Ofen. Feuer und Blitz fielen allenthalben, und jedesmal hielt ich Ausschau, ob es mir Mast und Segel geraubt hätte.«7 Einige Jahre zuvor hatte Colón zusammen mit dem Mönch Gaspar Gorrich in einem Libro de las profecias Bibelzitate und andere Textstellen versammelt, die auf die Entdeckung ›Indiens‹, die Rückeroberung Jerusalems, die Evangelisierung der Welt und damit das nahe Weltende verweisen sollten. Dieses endzeitliche Denken wird im weiteren 16. Jahrhundert für die Diskussion einer die überseeische Welt einschließenden Heilsgeschichte eine große Rolle spielen. Bei Colón geht es überdies um die Selbstdeutung. Dem allgemeinen Untergangsszenario entspricht ein individuelles – Fieber

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und Krankheit, Beschwerden und Leiden, Verlassenheit und Einsamkeit: »Abgestorben war mir jede Hoffnung, daß wir hier entkommen könnten. Voll Beschwer stieg ich so hoch hinauf, wie ich nur konnte, und mit furchtsamer Stimme schrie ich in alle vier Winde die Namen der Kriegskapitäne von Euren Hoheiten, auf daß sie Hilfe brächten. Aber nie ward mir Antwort. Erschöpft schlief ich endlich ein, mit schwerem Ächzen.«8 Die einen wie die andern Unbilden verkörpern die Mühsalen, die der Conquistador für die spanischen Könige und die christliche Welt auf sich nimmt, die Mühsalen, die ihm nicht gedankt werden und die er doch in einer höheren Belohnung aufgehoben zu sehen hofft. Die apokalyptische Dramatisierung öffnet den Raum für prophetische Ausblicke. Colón beruft sich auf den kalabresischen Abt Joachim von Fiore (um 1135–1202), der ein Reich des Geistes vorhergesehen und den christlichen Wiederaufbau Jerusalems einem zugeschrieben hatte, »der aus Spanien kommt«. Eine Traumvision, die ihm im gerade zitierten Moment größter Erschöpfung zuteil wird, überblendet Ereignisse des Alten Testaments und Bemühungen um die Westfahrt. Colón tritt in eine Reihe mit Moses, David und Abraham. Sein beharrliches Festhalten an der Suche nach dem gelobten Land erhält die Dimension eines göttlichen Auftrags. Die Leiden erweisen sich als göttliche Zeichen. »Fürchte nichts«, teilt ihm die geheimnisvolle Stimme mit, »vertraue. Geschrieben standen im voraus alle diese Prüfungen, gehauen in Marmorstein, und nicht ohne Grund kamen sie.«9 Ein bekanntes Muster: Traditionell waren Naturkatastrophen, Himmelserscheinungen und Monstergeburten als Vorzeichen und Artikulationsformen des göttlichen Willens gedeutet worden.10 Die Welt, in der Colón sich bewegt und die im gleichen Jahr als ›neue‹ bezeichnet wird, ist im Sinne der Zeit eine monströse; der Hinweis auf die ›Kannibalen‹ und ihre entstellte Menschlichkeit bringt es zum Ausdruck: »Andere Völker fand ich, die Menschen fressen. Die Unförmigkeit ihrer Gestalt beweist das.«11 Neun Tage nach der Vision stellt sich gutes Wetter ein, und in der Osternacht des Jahres 1503 wagt sich Colón »im Namen der Allerheiligsten Dreifaltigkeit« wieder aufs offene Meer hinaus. Die Erfüllung bleibt aus: Neue Stürme und Unwetter bringen neue Qualen, aber auch neue Begegnungen mit sagenhaften Goldvorkommen. Genau dies erhöht den Rang des Subjekts: Ausführendes Organ des göttlichen Willens, profiliert es sich als sehende und wissende Instanz, in der irdische und überirdische Ziele konvergieren. Colón kennt die Goldvorkommen, er kennt die Orte, er kennt die Indigenen, er kennt die Gestirnkonstellation. Und er allein verfügt über dieses Wissen. Die Steuerleute täuscht er mit seinen Angaben: »Sie können nur bestätigen, daß wir zu einem Land kamen, in dem es viel Gold gibt. Aber sie kennen den Weg nicht, den man nehmen müßte, um wieder dorthin zu gelangen. Man müßte dann schon ausziehen und alles von neuem

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entdecken.«12 Auf diese Weise verwandelt sich Ohnmacht in Macht, Mühsal in Gewinn und erhält der Text selbst entscheidende Bedeutung für das Dispositiv der Erwartung. Andere werden Colón in dieser Praxis folgen. Cortés schlägt in seinem fünften Brief an Karl V. nicht den gleichen Ton an wie in den vier vorangegangenen. Stand dort die triumphale Eroberung des Aztekenreichs und die strategische Souveränität des Conquistadors im Mittelpunkt, so eröffnet sich nun mit dem Versuch, weiter nach Westen vorzudringen, ein neues Feld der Bewährung mit neuen Parametern: Dschungel und Sümpfe, Stürme und Unwetter, Hunger und Tod, eine den Gewalten der Natur ausgesetzte, ums Überleben kämpfende Truppe. Scheitern und Mißerfolg rücken ins Zentrum.13 Auch Hans Staden leitet das in der Gefangenschaft gipfelnde brasilianische Abenteuer mit einem Hinweis auf strapaziöse Bedingungen ein (I 11): »Zwei Jahre lange lagen wir in der Wildnis und überstanden viele Gefahren. Wir litten großen Hunger, mußten Eidechsen und Feldratten essen und andere fremdartige Tiere, die wir bekommen konnten, auch Schalentiere, die im Wasser an den Steinen hängen, und dergleichen ungewöhnliche Nahrung.« Ulrich Schmidel verlagert die sowohl zivilisatorischen wie kulinarischen Phantasmen der Conquistadoren in die Perspektive der Indianer und unterstreicht damit den Kontrast zwischen Imagination und Situation: Die Pienbas hätten in Aussicht gestellt, daß sich in einiger Entfernung nicht nur Gold- und Silbervorkommen befänden, sondern auch ein weises und christliches Volk, die Karkeis, die überdies Nahrung im Überfluß hätten – »türkiß korn, mandeoch, manduiß, padadeß, wackehue, mandeoch proprie, mandeochade, mandepore unnd annder wurtzl mer, fleischs vonn denn inndianischen schaffenn«.14 Aus bleibt das eine wie das andere. Es dominiert der Mangel. Und in verschiedenen Texten ist die Rede davon, die Zurückkehrenden seien krank, abgemagert und entstellt gewesen. In Hakluyts Sammlung findet sich das Beispiel eines englischen Adligen, der, gezeichnet durch Hunger und Elend, zu Hause von seinen Eltern nur aufgrund einer Narbe, dem seit der Odyssee literarisch prominenten Körperzeichen, wiedererkannt worden sei.15 Alles andere als eine paradiesische Neue Welt also. Vielmehr ein Raum der Selbstentfremdung, der wiederum Selbstbehauptungen vorzuführen und rhetorische Emphasen zu entwickeln erlaubt. Die Goldsuche, die an kein Ziel kommt, der kommerzielle Profit, der ausbleibt, das koloniale Projekt, das nicht zu realisieren ist – all dies führt nicht zum Verstummen, sondern zu einer neuen Beredtheit, zu Texten, die nicht so sehr koloniale Akte inszenieren als vielmehr Überlebensfähigkeit, Fremderfahrung und Heilszuversicht. Die katholischen Autoren benutzen das Martyrium als die Grenze, an der Immanenz und Transzendenz ineinander umschlagen, die protestantischen als ein Phänomen, das die Verwandlung der toten Schrift in den le-

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bendigen Glauben bezeugt.16 Auf beiden Seiten kann das Argument, das Schwierigere sei auch das Wertvollere, dazu dienen, eigene nationale Erfolge aufzuwerten: die beständige Bemühung der Engländer.17 Allgemein ermöglicht das Scheitern neue Blicke: auf die Indianer als Gegner und Helfer, auf die Gegebenheiten des Terrains und die Möglichkeiten der Subsistenz. Es stimuliert Experimente mit der Subjektkonstitution wie der Textgestaltung. Es befördert Ansätze zu einer Rhetorik des Sensationellen und einer Poetik der Passion, nicht unverwandt dem in der gleichen Zeit populär werdenden pikaresken Roman. Beide ziehen aus Situationen des Mangels und der Not einen Gewinn an Erfahrung, Nahsicht – und Poetizität. Die Texte werden aufgeladen mit der Intensität der Ereignisse, die sie vergegenwärtigen. Sie geben sich als dokumentarische, denen Leiden und Verheißungen gleichermaßen eingeschrieben sind. So wie Colóns Brief durchtränkt ist von einer Energie, die rhetorisch sich entfaltet und gleichzeitig das Rhetorische durchstreicht, so bewegen sich auch andere Texte in der Spannung von Atemlosigkeit und Wohlgesetztheit, Spontanität und Kalkül, Todesnähe und Werkstiftung. Thomas Cavendishs Bericht seiner desaströsen Weltumseglung (1592) findet seine Klimax, indem er sich als der Schwäche abgerungen präsentiert: »nowe I am growne so weake & fainte as I am scarce able to holde the penn in my hand«. Mit dem Gestus des Abschieds intensiviert sich der Affekt und verankert sich der Autor in der Erinnerung der Nächsten: »I haue nowe noe more to saye but take this laste farewell, that you have loste the loveingest frind that was loste by Anye«.18 Die Schrift selbst wird zum Aufbewahrungsort der Erfahrungen des Subjekts, und auch die Druckfassungen versuchen, obschon aus der nichtöffentlichen Kommunikation heraustretend, dieses Potential zu bewahren. Daraus ergeben sich unterschiedliche Möglichkeiten: der Dokumentierung und der Inszenierung, der Subjektivierung und der Objektivierung. Ich greife drei prägnante Beispiele heraus: eine aus dem Mißerfolg hervorgehende Erfolgsgeschichte, eine zwischen Scheitern und Hoffnung schwankende Bestandsaufnahme, schließlich die eigentümliche Sicht auf eine chaotisch gewordene Neue Welt, die noch Cavendishs Verzweiflungsgesten übertrifft.

Indianer werden Im Jahr 1542 erscheint in Zamora eine Relación, in der der Spanier Alvar Núñez Cabeza de Vaca von den Ereignissen der Expedition des Pánfilo de Narváez nach Florida berichtet.19 Die Expedition war 1527 von Spanien aufgebrochen, dann aber rasch an Stürmen und anderen Widrigkeiten vor der Küste Floridas gescheitert. Zwei der fünf Schiffe gingen unter. Von der Besatzung des einen, die an Land gegangen war, überlebten nur vier, unter

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ihnen Cabeza de Vaca. Nach Jahren unter den Indianern, Überwindung ungeheurer Strapazen und einem Fußmarsch von mehreren tausend Meilen kamen die Vier 1536 nach Mexiko, wo sie einen gemeinsamen Bericht verfaßten, der nur indirekt überliefert ist: in der Version, die Gonzalo Fernández de Oviedo in seiner Historia general y natural de las Indias (Buch 35, Kap. 1–6) mitteilt.20 Im folgenden Jahr kehrte Cabeza nach Spanien zurück und wurde in Anerkennung seiner Leistungen zum Gouverneur der Provinz Rio de la Plata ernannt. Fünf Jahre später legte er, zu einem Zeitpunkt, da gerade ein neuerlicher Vorstoß in Florida durch Hernando de Soto erneut zu scheitern drohte, seinen eigenen Bericht vor, der auf dem gemeinsamen basiert. Die moderne Ethnohistorie rekonstruierte nicht zuletzt anhand dieses Textes die Frühgeschichte der Völker im südlichen Nordamerika. Sie verstand ihn ähnlich wie Stadens Historia als Dokument erster Güte, problematisch nur insofern, als der lange Weg nicht genau festzulegen und die jeweiligen Völker nicht eindeutig mit den aus anderen (z. B. archäologischen) Quellen erschlossenen zu identifizieren waren. Erst in jüngerer Zeit wurde man aufmerksam für das Gefüge des Textes als solchen, seine politische, rhetorische und literarische Dimension. Das Unternehmen der Floridaerkundung war umstritten, und es galt Positionen zu behaupten. Schon der gemeinsame Bericht hatte neben der Mitteilung sensationeller Begebenheiten die Rechtfertigung des eigenen Verhaltens im Auge. Oviedo läßt in seinen Kommentaren zum Text keinen Zweifel aufkommen: Er hält die Entscheidungen des Statthalters Pánfilo de Narváez für verfehlt und gibt die Geschichte vor allem deshalb wieder, um vor ähnlichem Unglück zu warnen. Auch Cabeza de Vaca zielt auf eine vorteilhafte Positionierung in den von internen Spannungen und Rangkämpfen geprägten mittelamerikanischen Aktivitäten der spanischen Krone. Am Ende seines Textes weist er darauf hin, eine der mitreisenden Frauen habe dem Statthalter den Verlauf des Unternehmens genau so prophezeit, wie er schließlich eintrat: Zeichen für ein höheres Schicksal und zugleich Ausdruck der Distanzierung wie der Selbstprofilierung. Der Autor erscheint als vorausschauender und verantwortungsbewußter Vertreter der Krone, dem das Scheitern nicht anzulasten ist. In der Neuausgabe von 1555, erstmals Naufragios betitelt, betont er im Vorwort die Dienste, die er dem König leistete.21 Die beigegebenen Comentarios des Pero Hernández bieten zudem eine propagandistische Verklärung von Cabezas Taten. Damit ist der Rahmen abgesteckt für die Operationen des Textes, Operationen, die in geschickter Weise das Negative positivieren. Von unerhörten Strapazen zu erzählen, beweist man zugleich seine unbedingte Ergebenheit gegenüber der Krone. Die fast völlige Preisgabe europäischer Sitten herausstellend, zeigt man, was man auf sich nahm, um die spanische Macht in Übersee zu erweitern. Cabeza, Schatzmeister und Gerichtsvorsteher, außer-

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dem in Pánfilos Abwesenheit mit der »Sorge um die Flotte und die Mannschaft« betraut, wechselt zwischen individueller und kollektiver Perspektive. Er schreibt weite Teile seines Berichts in der Wir-Perspektive und rückt nur dort, wo es um die Profilierung des eigenen Status geht, das eigene Ich in den Vordergrund: im Hinblick auf den vom Oberbefehlshaber vorgesehenen Vorstoß ins Landesinnere, im Hinblick auf den Erfolg einiger ›Wunderheilungen‹ und die Existenz als Tauschhändler, im Hinblick auf besondere Gefahren und Nöte. Viele Reiseberichte und koloniale Texte kennen das Prinzip: von einem kollektiven Subjekt auszugehen und nur im Angesicht des Singulären zum individuellen Subjekt zu wechseln. In Balthasar Springers Indienreisebericht (1509), dominiert von Zeit- und Entfernungsangaben, von Notizen zu den Ethnien, zu Fauna und Flora, zu Kuriosem und Bemerkenswertem, kommt das Ich ins Spiel, um das Verspeisen eines Delphins als Erfahrung zu bezeugen.22 In Ulrich Schmidels Südamerikabericht (1567) macht es sich bemerkbar, um die ungeheuren Dimensionen einer Boa als glaubwürdig zu erweisen: »Ich hab diese schlanngen selbst mit fleiß abgemessen, das ich ir lenng unnd dickhen woll weß«.23 In Cabezas Text bildet das Ich den archimedischen Punkt, der, wie fragil auch immer, zwischen dem spanischen und dem indianischen Kollektiv vermittelt. Er repräsentiert die Stelle, an der Katastrophisches und Heilsträchtiges ineinander umschlagen können. Cabeza läßt das Expeditionsunternehmen trotz anfänglicher Situationen der Landnahme von vornherein als gefährdet erscheinen: Man findet keinen Hafen, um anzulegen, es gibt keine Lebensmittel, um eine Niederlassung zu gründen, Unwetter, Strömungen und Unwegsamkeiten machen jede Fortbewegung zum Problem. Was folgt, ist ein sich steigerndes Szenario des Schreckens. Mit dem Aufbruch ins Landesinnere verflüchtigt sich der Gedanke an eine Conquista. Die Mannschaft wird von Hunger und Durst geplagt, durch Krankheiten, Attacken und Unglücksfälle dezimiert. Man verzehrt die mitgebrachten Pferde, also einen wichtigen Faktor der eigenen Überlegenheit, und schließlich sogar die zu Dörrfleisch verarbeiteten Toten. Habe und Kleider gehen verloren und mit ihnen die letzten äußerlichen Merkmale der europäischen Identität. Als Schlafplatz dienen Gruben, als Bedeckung Zweige. Was zählt, ist das nackte Überleben im Angesicht der überall lauernden Gefahren: hier die Nässe und Kälte, dort ein Feuer, angefacht, um der Kälte zu entgehen, und zu weiterer Versehrung führend – Cabeza versengt sich die Haare.24 Ein drastischer Tiefpunkt: nackt wie die Indianer (»en cueros como ellos«), auf elementare Kreatürlichkeit reduziert, »so dünn, daß man ohne Schwierigkeiten unsere Knochen hätte zählen können, erschienen wir wie die Figur des Todes selbst«.25 Aus den hoheitsvollen Vertretern der spanischen Krone sind dem Boden verhaftete, dem Animalischen nahe, den Indianern ausgelieferte Wesen geworden, die durch Einwirkung der Sonne und des Lasten-

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tragens die »Haut wie die Schlangen zweimal im Jahr« wechseln26 – sinnbildlicher Ausdruck der Entfernung vom Normalen und der Instabilität der neuen Existenzform. Den Tiefpunkt erweist Cabeza zugleich aber als Umschlagspunkt, Durchgangsstation zu einem neuen Leben.27 Die Nacktheit bezeichnet nicht nur die Annäherung an die Indianer, sondern auch die an den Zustand bei der Geburt (»como nasçismos«). Sie markiert jene Nullposition, von der sich die nun folgende sukzessive Anpassung von Ernährung und Lebensweise abhebt. Die Spanier nehmen vorlieb mit dem, was zur Verfügung steht: Wurzeln, Früchte, Mais, Tuna. Gibt es einmal Fleisch, verzehren sie es roh, um es nicht an die Indianer abgeben zu müssen. In der Nacht bedekken sie sich mit Hirschfellen oder mit Stroh. Sukzessive schaffen sie sich Handlungsspielräume. Sie nehmen am Tauschhandel teil, stellen Netze und Matten, Kämme, Bögen und Pfeile her.28 Schließlich werden sie, mehr genötigt als freiwillig, zu Ärzten und Wunderheilern: »Unsere Art zu heilen war, über ihnen das Zeichen des Kreuzes zu schlagen, sie anzublasen, ein Vaterunser und Ave Maria zu beten und inbrünstig Unsern Herrn zu bitten, sie gesund werden zu lassen und ihnen einzugeben, uns gut zu behandeln. Gott Unserm Herrn gefiel es in seinem Erbarmen, daß alle, für die wir beteten, nach dem Schlagen des Kreuzes zu den anderen sagten, daß sie gesund und wohlauf seien. Daher behandelten sie uns gut.«29 Ethnologisch ist bekannt, wie fragil der Status von Schamanen und Heilern im Rahmen eines sozialen Gefüges ist: so zentral ihr Wirken, so peripher ihre Position.30 Hier aber ist diese Fragilität notwendige Bedingung der Möglichkeit, Anpassung und Selbstbehauptung in der Schwebe zu halten. Daß die Heilungen nicht aus freien Stücken erfolgen und keine magischen Praktiken ins Werk setzen, läßt die christliche Identität der Spanier unangetastet und erlaubt doch jenen Aufstieg, der schließlich in die Rückkehr zur eigenen Kultur münden wird. Die Position bleibt unsicher, schwankend zwischen Zugehörigkeit und Randständigkeit und gerade dadurch Basis einer Logik gegenseitiger Annäherung und kulturellen Austauschs.31 Die erfolgreiche Behandlung (›tratamiento‹) der Indianer bewirkt eine gute Behandlung der Spanier, die wiederum sich immer leichter mit den verschiedenen Indianervölkern verständigen und zugleich in deren Ansehen beständig wachsen.32 Überall spricht man von ihren Wundertaten, sie gelten als Erscheinungen des Himmels und erhalten aus vielen Gegenden Zulauf. Die Neugeborenen werden zu ihnen gebracht, damit sie sie segnen und berühren. Auf ihrem Zug nach Westen, von einem Volk zum andern, begleitet sie eine wachsende Menge, die schließlich, als die Spanier auf Landsleute treffen, ihre Wunderheiler nicht ohne weiteres von dannen ziehen sehen will.

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Cabezas Autoglorifizierung ist eine subtile: Sie benutzt die indianischen Kulturen als Spiegel des spanischen Erfolgs, eines Erfolgs, der nicht bloß das Überleben betrifft, sondern das Wiedererlangen von Souveränität. Die Heroen, scheinbar ins Nichts gefallen, steigen zu scheinbar göttlichen Wesen auf und vermeiden doch – anders als manche ihrer Landsleute33 – die Selbstzuschreibung: Den Glauben der Indianer an vom Himmel kommende (weiße, bärtige) Männer zu erwähnen war schon für Colón eine Möglichkeit gewesen, die eigene Person sowohl zu auratisieren wie als ideale Mittlerfigur zu profilieren. Das gibt auch Cabezas Beschreibung ihre doppelte Stoßrichtung: hinsichtlich der Indianer demonstriert sie Überlegenheit aufgrund von Mimikry, hinsichtlich des kolonialen Projekts und der darin involvierten Konkurrenten Eignung zur Vertretung der spanischen Interessen. Die Konsequenz daraus: Die Wiederbegegnung mit der eigenen Kultur, die so wie die Entfremdung von ihr eine wichtige Rolle spielt im Text, trägt ambivalente Züge. Zunächst sind es Spuren, die auf die Existenz anderer Christen hinweisen: die Schnalle eines Schwertgürtels, ein Hufnagel, von einem Indianer als Schmuck benutzt. Auf Nachfragen erfahren die Spanier, »es seien einige Männer mit Bärten wie wir gewesen, die vom Himmel zu diesem Fluß gekommen wären«.34 Dann häufen sich die Hinweise, doch keineswegs nur positive: Ganze Landstriche findet man entvölkert, verlassen von den Indianern, die angesichts der raubend, mordend und verwüstend eingefallenen Spanier es nicht mehr wagten, ihre Häuser zu bewohnen und ihre Felder zu bestellen. Auch die erste Wiederbegegnung mit den eigenen Landsleuten, obwohl als Erlösung aus der »traurigen und elenden Gefangenschaft« ersehnt, trägt keine Zeichen des Überschwangs. Die Spanier aus der Truppe des Hauptmanns von Alcaráz wissen nicht, was anzufangen mit den fremden Gestalten, seltsam bekleidet und von Indianern begleitet: »Sie betrachteten mich lange derart verwirrt, daß sie mich weder anredeten noch dazu kamen, an mich irgendwelche Fragen zu richten.«35 Streit entsteht, weil Cabeza sich wehrt, die ihn begleitenden Indianer versklavt zu sehen.36 Diese weigern sich ihrerseits, vorzeitig den Rückweg anzutreten und zu glauben, daß Cabeza und seine Begleiter wirklich zu den ›anderen Christen‹ gehören. Zu groß scheint der Unterschied: »wir kämen [sagten sie] vom Sonnenaufgang, sie [die anderen Spanier] vom Sonnenuntergang; wir machten die Kranken gesund, sie töteten die Gesunden; wir gingen nackt und ohne Fußbekleidung, sie bekleidet, hätten Pferde und Lanzen; wir seien nicht habgierig nach jedem Gegenstand, gäben vielmehr alles, was man uns schenkte, weiter und behielten nichts für uns; die anderen hätten nur die Absicht zu rauben, was sie fänden, und gäben niemals etwas jemand anderem ab.« 37 Hier die Perspektive der spanischen Landsleute, dort die der indianischen Freunde: im Wechsel zwischen beiden markiert Cabeza die Situation des

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kulturellen Übergangs und eröffnet zugleich die Möglichkeit einer internen Differenzierung. Die Gruppe der Überlebenden scheint mehr den Indianern zugehörig als den Spaniern – doch eben aus Sicht der Indianer. So läßt sich die Entfremdung herausstellen, die Reintegration vorbereiten und gleichzeitig die (wiederum auf der Entfremdung beruhende) Notwendigkeit einer genauen Kenntnis der Indianer andeuten. Die nächste Begegnung mit den Spaniern, dem Alcalde mayor der Provinz Melchior Diáz, verläuft positiv, die Indianer werden gespeist und beschenkt, ihr Schöpfungsmythos in den christlichen überführt.38 Als man sich auf den Weg nach Compostela, zum Gouverneur Nuño de Guzmán, macht, sind auch 500 Indianer – nun als Sklaven – dabei. So wechselt der Text bruchlos die Register, gleitet zwischen der pikaresken, der ethnographischen und der kolonialen Perspektive. Signale deuten kulturelle Verschiebungen an und halten zugleich den einen Zustand im andern präsent. Es ergibt sich ein Kontinuum der Positionen: Conquistador, Sklave, Heiler, dann wieder Conquistador, ein Kontinuum, das die ›indianischen Erfahrungen‹ in den spanischen Erfahrungshorizont einordnet. Am Ende betont Cabeza, er habe die vom Gouverneur geschenkte Kleidung tagelang noch nicht auf der Haut tragen und nur auf dem nackten Erdboden schlafen können. Doch sein Bericht steht wieder fest auf dem Boden der Alten Welt. An den Kaiser gerichtet, äußert er die Hoffnung, die neuentdeckten Völker möchten in nicht zu ferner Zukunft der Macht der spanischen Krone unterstellt und christianisiert werden. Er verweist auf das Fehlen von Menschenopfern und Götzendienst, das diese Hoffnung unterstütze, auf den Bau von Kirchen und die Errichtung von Kreuzen, die ihr ein erstes Fundament verliehen. Im übrigen sei das entdeckte Gebiet »zweifellos das beste von allen, die in Westindien liegen«: lieblich in seinen Landschaften, fruchtbar in seinen Hervorbringungen, ausgezeichnet durch seine gutwilligen, klugen, gutgewachsenen Bewohner. Auch der Gedanke an Gold- und Silberschätze, zuvor kaum von Bedeutung, ist nun wieder präsent: »Kurz, es handelt sich um ein Land, dem nichts zur Vollkommenheit fehlt.«39 Ähnliche Aussagen finden sich in den kolonialen Texten immer wieder. Ungeachtet der Schwierigkeiten mit den Eingeborenen und der Widerspenstigkeiten des Terrains geht es um die Dignität des jeweiligen Projekts, die Optionen, die es eröffnet, die Positionen, die es anbietet. In diesem Sinne nährt Cabeza de Vaca die Aussicht auf Gewinne längerfristiger Art, als sie die raubend und mordend umherziehenden Landsleute im Sinn haben. Zugleich präsentiert er sich als ›Spezialist‹ für die Umsetzung einer solchen Aussicht. Er erscheint als Heros, der den gewaltigen, fast zehn Jahre dauernden Zug »von einem Meer zum anderen« nicht nur überstanden hat, sondern es verstanden hat, den Leidensweg in einen Erfolgsweg, ja einen Heilsweg zu verwandeln. Der Überlebende als Figur der Nachfolge Christi:

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von den Indianern in eine priesterähnliche Stellung gedrängt, gleichwohl nie an der christlichen Religion zweifelnd und selbst in Situationen größten Unglücks aus der Erinnerung an die Passion Christi Trost schöpfend. Sein Weg mündet nach Überwindung aller Strapazen und Gefahren in eine Bestätigung des christlichen Glaubens, der europäischen Kultur, des kolonialen Projekts. Der Gedanke, auf dem Zug potentielles spanisches Territorium zu erkunden, geht trotz aller Widrigkeiten nie verloren: »wir wählten die Route aus dem Grund, recht viel von den Gegenden bei ihrer Durchquerung kennenzulernen. Denn wenn es Gott Unserm Herrn gefiel, einen von uns aus diesem Unternehmen zu retten und ins Land der Christen zu bringen, dann hätte er einen Bericht darüber abfassen können.«40 Der vorliegende Bericht überführt den Konjunktiv in den Indikativ. Zugleich macht er sich zu weit mehr als nur einer Rechtfertigungsschrift. Er projiziert seinen eigenen Entstehungsgrund in die Zeit des Geschehens zurück und zeigt sich als konsequenter Ausdruck einer schon zu dieser Zeit geschärften Wahrnehmung. Es erhöht sich die Authentizität des Textes, indem jene Differenz zwischen Erleben und Schreiben minimiert wird, die andererseits nötig ist, um die Radikalität der in Kauf genommenen Anstrengung auszuweisen. Cabeza suggeriert eine fast völlige Preisgabe äußerer europäischer Identitätsmerkmale, läßt die inneren aber unangetastet.41 Das Subjekt erweist sich als beständig dem christlichen Gott zugewandt und von moralisch problematischen Handlungen unberührt. Die Geschichte des von den Europäern begangenen Hungerkannibalismus wird geboten als doppelte Binnengeschichte. Auch die Aufzählung der absonderlichen Nahrung, mit der die Indianer vorliebnehmen müssen (Spinnen, Ameiseneier, Reptilien, Erde, Holz, Hirschdung), spart eine Beteiligung der Spanier aus. So garantiert das Subjekt eine Nähe unerhörter Art und bleibt doch von der Gefahr, ihr zu verfallen, frei – schon dadurch, daß es seine Beweglichkeit behält. Auch wenn die Europäer außer der grundsätzlichen Richtung (Westen) kein konkretes Ziel kennen – sie brechen immer wieder aufs neue auf, verharren nie zu lange bei einem Volk. Diese Beweglichkeit ermöglicht eine Geschichte, die zwar mit der temporären Angleichung an die Indianer spielt, zugleich aber Distanz und Überlegenheit ihnen gegenüber bewahrt. Daß von der temporären Angleichung nicht auf eine grundlegende Aufgeschlossenheit gegenüber den indigen Völkern geschlossen werden darf, zeigt Cabezas weitere Lebensgeschichte. Zum Gouverneur der Provinz Rio de la Plata ernannt, verhielt er sich wenig sensibel gegenüber den Rechten der Indianer oder den Bedürfnissen der eigenen Männer. Er befahl, ganze Völker zu vernichten, und verschreckte die Mannschaften durch Grausamkeit und Eigensinn: »dieser unnser hauptman wolt in allen dienngenn seinem stolzenn und hoffertigenn kopff nachkhumen«.42 Befriedigt notiert Schmidel die Absetzung des Ungeliebten (1544). Daß dieser einige Jahre später

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seine Naufragios erneut herausbringen wird, unterstreicht deren politische Dimension. Rhetorik und Pragmatik ergänzen sich. Im Verbund erlauben sie es, ein fragiles Ich zu entwerfen, das, soweit es auch ins Fremde vordringt, zugleich dessen Verfügbarkeit sichert, sosehr es auch in der Gruppe aufgeht, zugleich von den Leistungen des Schatzmeisters zeugt.

Mangel und Verheißung Cabezas Sensationsgeschichte scheint die Runde gemacht zu haben. Der fränkische Conquistador Philipp von Hutten hat 1538, vier Jahre vor der Drucklegung, in Venezuala schon von ihr gehört. Er versteht sie als Zeugnis für einen sogar in schwierigsten Verhältnissen den überseeischen Christen zuteil werdenden Segen, der auch seine eigene Hoffnung auf Selbstbehauptung nährt. Hutten war 1534 nach Venezuela aufgebrochen, weil die Region, seit 1528 unter der Statthalterschaft der Augsburger Welser stehend, ungeahnte Möglichkeiten zu bieten schien, Reichtum und Ruhm zu erlangen.43 Die spanische Krone, bemüht, die in Übersee eroberten Gebiete an die europäischen Machtzentren anzuschließen, hatte sich aufgrund fehlender Mittel gezwungen gesehen, Nutzungsprivilegien an private Gesellschaften oder Einzelpersonen abzutreten. Deren Eigeninteresse sollte der Kolonisierung des Landes zugutekommen. Vertraglich wurde den Welsern die Statthalterschaft samt allen Nutzungsrechten zugesprochen, wofür sie sich im Gegenzug verpflichteten, Siedlungen und Festungen anzulegen, Land an Kolonisten zu vergeben, »eine geregelte Administration« einzurichten, »die Indios dem katholischen Glauben und dem spanischen Untertanenverband zuzuführen«.44 Der Erfolg war mäßig. Die spanischen und deutschen Conquistadoren waren mehr an schnellem Gewinn als an dauerhafter Niederlassung interessiert. Sie suchten Gold oder andere Edelmetalle und unternahmen aufwendige Züge ins Landesinnere, von denen sie, dezimiert und zerrüttet, blutige Schneisen hinterlassend, nach Coro zurückkehrten.45 So auch Hutten. Drei Jahre lang durchquerte er mit Georg Hohermuth von Speyer unter abenteuerlichsten Bedingungen unwegsames Land. 1540 erhielt er das Amt des Generalkapitäns von Venezuela und sah sich doch immer noch nicht am Ziel: Der große Fund war ausgeblieben. 1546 wurde er im Zuge einer Intrige ermordet. Das Gouverneursamt übernahm der Sonderbevollmächtigte des Indienrats, Juan Pérez de Tolosa, woraufhin die Welser fast allen Einfluß verloren. Zehn Jahre später wurde ihnen offiziell die Statthalterschaft durch den Indienrat entzogen.46 Die koloniale Episode des Welser-Engagements in Venezuela hat in Urkunden, Petitionen und Prozeßakten, Rechenschaftsberichten und chronikalischen Aufzeichnungen Spuren hinterlassen. Die meisten von ihnen, For-

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men pragmatischer Schriftlichkeit, sind aufs Konkrete hin orientiert. Ein Brief wie der des Lindauers Titus Neukomm, der aus Coro Bruder und Mutter seine Eindrücke der fremden Lebenswelt mitteilt und sogar eine selbst verfertigte Zeichnung eines nackten Indianers beilegt, ist eher die Ausnahme.47 Bei den Conquistadoren, die sich in ihren Berichten nicht selten auf die offiziellen Expeditionstagebücher stützten, dominiert der militärische Blick. Nikolaus Federmann, auf das Erreichen des sagenhaften Goldlandes fixiert, verzeichnet gewissenhaft die zahlreichen Völker, denen er auf seiner Expedition begegnet. Doch das Interesse gilt dem Pragmatischen: Kann man sich mit den Indianern verständigen, sind sie Freunde oder Feinde, Helfer oder Hindernisse?48 Philipp von Hutten geht in die gleiche Richtung. Zwar gibt er in einem Schreiben an den Vater an, nicht finanzielle Aussichten hätten ihn zu seiner Reise verlockt, vielmehr »allein ein sonderlicher Lust, so ich vor langer Zeit gehabt, dünckt mich auch, wäre nicht in Ruhe gestorben, wo ich Indien nicht gesehen«.49 Doch Gewinn von Gold und Ehre steht in den Briefen im Vordergrund. Venezuela ist Ort einer materiellen Verheißung, die sich immer wieder entzieht, immer neue Anläufe erfordert. Entdecken und Erobern fallen dabei meist zusammen. Das Interesse für Land und Leute beschränkt sich auf den unmittelbaren Kontext des eigenen Handelns und der eigenen Ziele. Die wenigen zusammenhängenden Bemerkungen, die Hutten der indigenen Bevölkerung widmet, finden sich kaum zufällig in einem Brief, der noch vor dem Aufbruch zur großen Entrada von 1538 entstand, auch hier eingebettet in Abschnitte, die den Problemen und Chancen der Entrada gelten: »Ist ein bestialisches armes Volk, ganz nackt, barhäuptig und barfuß. Die Frauen bedecken hinten und vorne ihre Scham mit einem Tuch (wie ein Badetuch), die Männer haben eine Kallebasse wie ein Horn, da stecken sie die Hälfte rein, die Hoden lassen sie raushängen. Ihre Währung sind kleine feine Paternoster, die sie aus Meeresmuscheln machen, eine Währung, die auch unter den Christen gilt. Sie bemessen sie nach der Länge, vom Hand bis zum Ellenbogen gilt es anderthalb Real. Geldmünzen gibt es unter den Christen hier nur wenige. Hoffe aber, daß es besser wird.«50 Wie bei vielen Amerikaberichten ist das primäre Kennzeichen der Indios in europäischer Perspektive ihre Nacktheit. Der Umgang mit Körper und Geschlecht dient als Ausweis der Nähe oder Ferne zum Naturzustand, als Anhaltspunkt für eine Situierung der Indigenen im Zwischenraum zwischen wilden Tieren und zivilisierten Menschen: »bestialisch« sind sie und doch nicht ohne Ansätze von Kultur, »ganz nackt« und doch mit Praktiken der Verdeckung der Schamteile vertraut. Auch bricht die generelle Opposition zwischen Alter und Neuer Welt im einzelnen immer wieder auf, etwa in wirtschaftlicher Hinsicht: Die Muschelperlenschnüre werden von den Indianern, aber auch von den Europäern als Währung benutzt. Das zeigt bei-

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spielhaft die Hybridität kolonialer Texte. Fremde Völker werden in erster Linie durch Negationen (Abwesenheit von Kultur), in zweiter dann auch durch Positivitäten (Spezifika fremder Lebenswelten) charakterisiert. Der Zuschreibung von Stereotypien folgt die Heraushebung von Besonderheiten, der Abgrenzung die Beziehungsstiftung. Schon traditionell standen in den Orientreiseberichten Momente der Annäherung und der Distanzierung nebeneinander. Das Wechselspiel wiederholt sich im Umgang mit der Neuen Welt, und es ist auch hier in der Regel kein ungewolltes: Es profiliert die Fremde als Kontaktzone, ungesichert noch, aber aussichtsreich. So wie die Kolonisatoren die Indianer brauchen, um sich im Unwegsamen behaupten zu können, so brauchen die Texte sie, um Fremdheit zu erzeugen und zugleich als beherrschbar ausweisen zu können. Auch in Huttens Briefen über die Entrada stehen traditionelle Muster und situative Details Seite an Seite. Hinweise auf Kannibalismus und Amazonenherrschaft machen die Fremde zu einem mythischen Terrain der Inversion und Perversion. Andererseits und manchmal im gleichen Atemzug aktivieren Beschreibungsminiaturen das für Reiseberichte charakteristische ethnographische Register. Für Momente tritt dann ein Volk aus der Allgemeinheit heraus: »Die Tschokos wohnen in einem armen Land, hügelig, voller Wald und Dickicht, aber fruchtbar an Mais und Jucka. Aber weder Fisch noch Fleisch, essen einander. Sind mit allen Nachbarn im Krieg. Haben kein Gold, wollen auch keines. Ziemlich kriegerisches Volk, haben keine Bögen, nur Holzrodelas [Schilde] und Dardos [Speere], so stehen sie uns Fuß zu Fuß gegenüber. Aber fürchten uns wenig, zumal wo es keine Pferde gibt, die man in ihrem Land wegen des Unterholzes und der Hügel schlecht benutzen kann.«51 Das punktuelle Innehalten im Nachvollzug des Wegs der Entrada bezeugt nicht schon das kulturelle Interesse des teilnehmenden Beobachters. Schnell verengt sich die Beschreibung auf entweder kommerzielle Aspekte oder militärisch-strategische: Gegebenheiten des Geländes, Wehrhaftigkeit der Einheimischen. Das Quantitative (Zahl, Stärke) ist aufs Ganze gesehen wichtiger als das Qualitative. Die Indianer treten nicht einzeln hervor, sondern in der Menge: als Stückzahlen. Sie repräsentieren den mehr oder weniger großen Widerstand, den die Europäer zu überwinden haben, und zugleich die Hilfsmittel, die bei der Überwindung des Widerstands nötig sind. Der Begriff für den Sachverhalt ist: ›Friedemachen‹. Er bezeichnet Praktiken, die der Sicherung der Überlegenheit und des Vorwärtskommens dienen: Man nimmt an einem Ort den Kaziken oder andere Indianer gefangen, läßt sie dann wieder frei und beweist so die eigene freundliche Gesinnung. Das ist Voraussetzung, willige Helfer zu rekrutieren, die den Söldnertrupp verpflegen, als Träger dienen, Informationen liefern und im Idealfall die Verbindung zum jeweils benachbarten Volk anbahnen. Immer wieder läßt

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der Text die gleiche Handlungsfolge ablaufen: »Zogen los auf mit dem erwähnten Volk am 18. August, kamen in ein Pueblo Areras genannt, fanden keine Indianer, zogen am nächsten Tag zu einem großen Pueblo Hamaritari genannt, entkamen fast alle Indianer, fingen aber den Kaziken mit etlichen Indianern, die ließ der Oberbefehlshaber frei, hoffte dadurch Frieden mit ihnen zu machen, kamen aber nicht wieder. Am 20. unterwegs, am 21. in einem großen Pueblo Sassaritati genannt, fingen einige Indianer, auch einen Kaziken, der erzählte uns von großem Reichtum. Fanden aber heraus, daß alles gelogen.«52

Verschreibungen Das Holprige und Monotone von Huttens Schreiben, die Dominanz der Parataxe, der Verzicht auf Personalpromina und Konjunktionen, all das ist nicht ohne mimetische Dimension: Es repräsentiert den mühsamen, oft monotonen Weg, auf dem die Conquistadoren sich vorwärtskämpfen, die Atemlosigkeit, mit der sie ringen. Tagebuch- und protokollartige Aufstellungen erweisen die Briefe als Dokumente der Anstrengung, die unternommen wurde, um das große Ziel zu erreichen. Aus dem Rückblick betont Hutten, gleichlautend fast in verschiedenen Schreiben, die Strapazen der Entrada. Dschungel und Kälte, Hunger und Durst, Kampf und Krankheit hätten den Weg zur beständigen Probe auf die Belastbarkeit von Physis und Psyche gemacht. Von Ungeziefer und allerlei merkwürdigem Getier habe man sich ernährt. Sogar zu Akten des Hungerkannibalismus sei es gekommen. Schon Colón hatte das Auffinden von Goldschätzen als göttliche Belohnung des eigenen Tuns verstanden. Wo es versagt blieb, schrieb er dies einem verfehlten Verhalten zu, etwa der übergroßen Habgier der eigenen Männer.53 Auch Hutten spricht davon, Gott hätte die Entdeckung von Gold noch nicht gewährt. Zugleich macht er die eigenen Anstrengungen zu einem Leistungsausweis für die erhoffte Belohnung – Anstrengungen, deren Liminalität wiederum rhetorische Gegensteuerungen nötig machen. Drohen im Angesicht des Extremen Unterschiede zwischen Christen und Indianern zu verschwimmen, werden Gesten sprachlicher Distanzierung nötig: Vom Wir wechselt der Brief zu einem unpersönlichen Passiv oder zur dritten Person (»die armen Christen«); erst als es um den Kauf eines Hundes geht, ist das Ich wieder präsent.54 Auf diese Weise erscheint der Weg des Conquistadors als Leidensweg, der sogar festgefügte kulturelle Grenzen ins Wanken bringt und den Horror des Kannibalismus als verzerrtes Spiegelbild im Eigenen aufscheinen läßt, der aber auch den Kelch der Kulturpreisgabe am Subjekt vorbeigehen läßt: Die Tat beschränkt sich auf einen Teil der Gruppe und

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findet, im Text, keine Wiederholung. Sie bezeichnet einen Tiefpunkt, der nukleushaft die Dramatik der südamerikanischen Aktionen zu erkennen, aber, insofern er überwunden ist, auch zu neuen Hoffnungen Anlaß gibt. Als Gegenpunkt zum Modell kultureller Entartung entwirft Hutten dasjenige göttlicher Auserwähltheit, als dessen Gründungsurkunde er eben die sagenumwobene Expedition des Pánfilo de Narváez nach Florida begreift. Seitdem begleite ein Segen die sich in Coro aufhaltenden Christen und lasse ihre Wunden, so Gott um Hilfe angerufen werde, in kurzer Zeit heilen. Wenig zuvor hatte Hutten die Annahme der Indianer, es gebe in den Bergen ein Volk von »Immortales«, als »unnatürliche Torheit« bezeichnet (S. 118). Nun schreibt er nicht viel anderes den Christen zu: »Es haben die Christen so großen Trost in diesem Segen, daß sie dünckt, unsterblich seyn, dann dieweil dieser Segen unter uns gewesen ist, hat man kein Christen von Wunden sehen sterben, welcher zur rechten Zeit gesegnet gewesen ist« (S. 122). Wieder stehen Gesten auktorialer Distanzierung (»sie dünckt«) und Einbeziehung (»unter uns«) nebeneinander. Hutten berichtet zwar nicht, er selbst sei geheilt worden, unternimmt aber alles, das ›Wunder‹ glaubhaft zu machen: Um keine Fabel handle es sich, denn der Bericht der Christen, die unter den Indianern »nackend und blos« gelebt hatten, würde durch indigene Augenzeugen und das Beichtsakrament gestützt. Damit soll das gegenwärtige Heil einen mehrfach beglaubigten Ursprung erhalten, zugleich dieser auf die Gegenwart bezogen werden. Mit Hilfe einer Transformation: Die zunächst Betroffenen und Geheilten waren ja Indianer, nun geht es darum, daß auch die Europäer an der Heilung partizipieren. Das Erlebnis der Männer um Cabeza de Vaca wird zur Allegorie der kolonialen Situation: Ausdruck der Möglichkeit, sich aus der Gefahr, in der indigenen Welt aufzugehen, zu befreien, ja diese Gefahr in einen Gewinn umzumünzen. Und doch ist das Wunder, wie Hutten es in Szene setzt, ein eigentümliches. Es basiert auf dem Zusammenspiel menschlicher Aktivität und göttlicher Barmherzigkeit. Es bedarf nicht nur der Geheilten, sondern auch der Heiler – Hutten bringt sie mit den Aposteln in Verbindung, die Tote auferweckt, Taube, Blinde und Lahme geheilt hätten. Er deutet aber auch an, daß die Indianer ihre Retter wie Sonne und Mond verehren würden. Das Wunder ist also ein christliches und nicht-christliches zugleich. Es erhöht die Überlebenschancen in der Fremde, zieht aber den Conquistador nur noch tiefer in diese hinein. Es vermittelt zwischen den Qualen und Enttäuschungen des Weges einerseits, den Aussichten und Hoffnungen andererseits. Nach der geschilderten Episode fährt Hutten fort: »Es ist Wunder, was man teglich für neue Lender aufdeckt«. Auch Entdeckungen sind Wunder. Ihnen gilt alle Erwartung. Ihnen gilt es sich auszusetzen. Gesundheit ist dabei von Vorteil und als Gottesgabe deutbar: »Der Gubernator rüst sich itzund wie-

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der, ein Zug zu thun, hoff ich mit im zu ziehen, wo mir Gott Gesundheit verleyht, dann dieweil ich im Land bin, will ich sehen, wo es nauß will«.55 Im Wechselspiel von Nähe und Distanz versuchen Huttens Texte, einerseits die Grenzerfahrungen der Entrada zu vermitteln, andererseits Zweifel an der Notwendigkeit, im Land zu bleiben, auszuräumen. Als er nach dem Tod des Vaters (1539) von seinem Bruder Moritz, Domprobst zu Würzburg, aufgefordert wird, zurückzukehren und den Fortbestand der Familie zu sichern, sieht er sich gezwungen, seine Motivation genauer darzulegen. Zentral ist der für den frühneuzeitlichen Adligen charakteristische Begriff der Ehre. Der Amerikafahrer zeigt sich nicht als Abenteurer und Goldsucher, sondern als Vertreter seines Geschlechts, als einer, der sein Glück machen und erst nach Verbesserung seiner Position die Fremde verlassen will. Zwar gibt er offen zu, daß die bisherigen Unternehmungen noch nicht den gewünschten Erfolg brachten. Auch der kurze Überblick über verschiedene spanische Aktionen in Süd- und Mittelamerika liest sich eher wie eine Geschichte von Katastrophen als eine Geschichte von Triumphen.56 Doch der grundsätzliche Sinn des Aufenthalts in Venezuela steht außer Frage. Schon die erste Entrada erscheint als nur knapp gescheiterte: Hätte man nicht um Haaresbreite den vorher aufgebrochenen Federmann verpaßt, wäre das Ziel vielleicht schon erreicht gewesen.57 Die Hoffnung auf das baldige Auffinden des Goldreichs verschiebt sich auf den nächsten Zug und legitimiert das Verweilen. Balancierend zwischen dem sozial notwendigen Erfolg und dem zeitlichen Aufschub hält Hutten die eigenen Ansprüche und die der Familie in der Schwebe. Ulrich Schmidel wird einige Jahre später eine andere Möglichkeit vorführen: Der im Brief aus der Heimat vorgebrachten Bitte nachkommend verschafft er sich die Möglichkeit, einen abenteuerlichen Rückweg vom Rio de la Plata nach São Vicente (Brasilien) zu beschreiben, der noch einmal die Momente der überseeischen Abenteuer bündelt: Nahrungsknappheit und Kannibalismus, Unwegsamkeiten und Riesenschlangen. Man habe wilde Dschungel durchquert, »dergleichen ich mein tag (pin doch weit unnd preit gewest) kein ergerenn und krausameren weg nie gereist«. Man habe Situationen der Hilflosigkeit erlebt, »wie dann ein yeder khann dapey abnemen, was für geferlikeit, armuet unnd pöeses lebenn einer in solcher weiten reiß versucht«.58 Während Schmidel, auf die Erlebnisse zurückblickend, die göttliche Gnade preisen kann, muß Hutten sich allein vom schwachen Vorschein einer solchen Gnade her definieren, sie dabei selbst modifizierend hinsichtlich eines materiellen Gewinns. So kommt es zu argumentativen Brüchen und rhetorischen Verschiebungen. Und so sind seine Briefe geprägt von der Spannung zwischen dem nur metonymisch präsenten Territorium der Alten Welt und dem seinerseits nur metaphorisch zu repräsentierenden der Neuen. Venezuela, Bezugspunkt und

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Produktionsraum der Texte, zeigt sich als Raum einer ›Verschreibung‹: als das Land, auf dem Huttens Hoffnung ruht, und das ihm eine Form der Selbstbestätigung durch Selbstbehauptung bietet, die gültig bleibt, auch wenn sich die Hoffnung und mit ihr die Rückkehr aufschiebt. Die Briefe dienen dazu, den Aufschub zu übermitteln und zu begründen. Ihre Perspektive verkehrt damit die der frühen Amerikatexte: Versuchten diese, durch Herausstellung des Erreichten Unterstützung für weitere Unternehmen zu bekommen, so versuchen sie plausibel zu machen, warum die Wünsche der in der Heimat Zurückgebliebenen zurückstehen müssen gegenüber den sich in der Neuen Welt eröffnenden Chancen. Eine ›Verschreibung‹ also nicht nur, weil der Franke sich einem ungewissen, nicht leicht zu erwerbenden und zu behaltenden Glück ausliefert, sondern auch, weil er das fremde Territorium und das ungewisse Glück braucht, um eine fragile Situation zu erzeugen, in der es möglich ist, einerseits die Rückkehr hinauszuzögern, andererseits den Bezug zur Heimat nicht zu verlieren. Dementsprechend oszillieren die Briefe zwischen mörderischen Strapazen und unverdrossener Zuversicht, zwischen eintönigen Stationen eines erfolglosen Weges und verdichteten Momenten der Sinnstiftung: die im Kannibalismus gipfelnde absonderliche Nahrung während der Entrada, die nur knapp verpaßte Gelegenheit einer Begegnung mit Federmann, die Wunderheilungen als Sinnbild gottgewollten Tuns. Grenzerfahrung und Unsterblichkeitsgefühl, Auslieferung und Rettung, Hoffnung und Aufschub treffen in diesen Szenen wie in einem Brennspiegel zusammen. Der dokumentarische Gestus der Texte, die scheinbar selbstverständlich spanische Wörter einstreuen, wird durchzogen von subjektiven Aspekten, schwankend zwischen Begeisterung und Qual. Er gerät damit selbst in den Sog des Ambivalenten: oszillierend zwischen Strategien des Sagens und des Verschweigens, des Aufzählens und des Verdichtens. Mehr als bloße Bestandsaufnahmen und weniger als poetische Entwürfe, kann man in ihnen ein Paradigma frühneuzeitlicher kolonialer Texte ausmachen: Die Schrift begründet eine Verfügungsgewalt über das Fremde, setzt sich aber auch den diese Verfügungsgewalt immer sowohl stabilisierenden wie destabilisierenden Prozessen der Semiose aus. Während die Familie, eine Rückgabe von Philipps Eigentum von der spanischen Krone fordernd, betont, wie sehr er sich »mit seiner grossen Mühe und Arbeit« in den Dienst des Unternehmens gestellt habe,59 hält das steinerne Epitaph, um 1550 in der Arnsteiner Kirche angebracht, fest, Philipp sei »der sehnlichen Hoffnung, in sein Vaterland heimzukehren, entrissen« worden.60 Seine Texte sprechen eine weniger klare Sprache.

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Fluchten und Unübersichtlichkeiten Die Attraktion, die die Neue Welt auf die Alte ausübte, eröffnete auch die Möglichkeit, sich an sie zu verlieren. Was bei Hutten greifbar, aber durch den familiären Rahmen aufgefangen wird, erfährt seine Entfaltung im Reisebericht des Engländers Anthony Knivet. Von Samuel Purchas in seiner Fortsetzung von Hakluyts Principal Navigations 1625 publiziert, befindet er sich in einem Kontext, in dem nicht mehr allein die Entdeckungen der englischen Seefahrer und die Errungenschaften der englischen Nation im Vordergrund stehen. Purchas – der schon 1613 auch Cabeza de Vacas Text in seine Sammlung integriert hatte (Bd. 4, Buch 8, Kap. 1) – ist in höherem Maße als Hakluyt an der theologischen oder moralischen Deutbarkeit der Berichte interessiert. Er bearbeitet sie durch Kürzungen und stilistische Eingriffe, kommentiert sie in Vorreden und Marginalien, stiftet Verbindungen zwischen verschiedenen Berichten, macht konkrete Fahrten zu Allegorien spiritueller Wege.61 Er präsentiert mit seiner Sammlung eine Wunderkammer der Welt62 und scheut sich auch nicht, Texte aufzunehmen, die keine glorreichen Eroberungen schildern, sondern dramatische Überlebenskämpfe. The admirable adventures and strange fortunes of Master Antonie Knivet gehören zu dieser Gruppe: ein Lebenslauf, desaströs und chaotisch, ein Text, bestechend durch Anhäufung von Extremem und Mirakulösem. Aber immerhin auch ein Text, der Detailinformationen über die überseeischen Regionen liefert, der Kartierung der Neuen Welt(en) dient. Der Gedanke ist: Auch aus Katastrophenszenarien läßt sich manches lernen, hier: über die brasilianische Küste, ihre Geographie und ihre Bewohner. Das wird unterstrichen durch zwei ebenfalls Knivet zugeschriebene Teile, die auf den chronologischen Bericht folgen: Der erste stellt die verschiedenen Völker noch einmal genauer vor, der zweite charakterisiert die Gewässer und Flußläufe im Hinblick auf ihre Schiffbarkeit.63 Der Text steht im Kontext der englischen Weltumseglungsunternehmen. Vier Berichte bilden eine Gruppe: demjenigen Francis Drakes ist die abenteuerliche Geschichte Peter Carders zugeordnet, demjenige Thomas Cavendishs sind Knivets ›adventures‹ beigesellt. Hier zwei ›mariners‹, dort zwei ›gentlemen‹, wobei jeweils der zweite Text den ersten insoweit ergänzt, als er sich auf die gleiche Reise bezieht, aber andere Aspekte bietet. Zu diesen Aspekten gehören: Abenteuer, Unbilden, Schicksalsschläge, Situationen von Elend und Not in unaufhörlicher Folge, und all das »in those wilde Countries, and with those wilder Countrimen of Brasilia« (S. 150). Das Grundmuster ist in Carders Relation klar erkennbar: Schiffbrüchig überlebt der Protagonist als einziger unter schwierigen Bedingungen, indem er den eigenen Urin trinkt und sich den Indianern anschließt. Unter ihnen, den Tuppanbasse, erlebt er kollektive Gelage und kannibalische Mahle. Er lernt

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ihre Sprache und bringt ihnen europäische Kampftechniken bei. Er wechselt zu den Portugiesen, die ihn einsperren lassen und in ein langwieriges Auslieferungsverfahren verwickeln. Er kann fliehen und nach England zurückkehren, »humbly thanking the Almighty for my miraculous preservation, and safe returne into my native Countrie« (S. 146). Knivets Bericht bietet eine Steigerung dieses Musters in fast jeder Hinsicht. Purchas bringt die Fülle der Unbilden in einer rhetorisch wirkungsvoll gefügten Aufzählung auf den Punkt, zugleich andeutend, worin der Nutzen einer Geschichte liege, die vor allem von Schrecklichem handelt: Master Knivet, who betwixt the Brasilian and Portugall, as betwixt two Mill stones, was almost ground to poulder: whom Colds, Sickness, Famine, Wanderings, Calumnies, Desertions, Solitarines, Deserts, Woods, Mountaines, Fennes, Rivers, Seas, Flights, Fights; wilde Beasts, wilder Serpents, wildest Men, and straight passages beyond all names of wildnesse (those Magellan Straits succeeded by drowning, fainting, freesing, betraying, starving, hanging Straits) have in various successions made the subject of their working: whom God yet delivered, that out of his manifold paines, thou maist gather this posie of pleasures, and learne to bee thankefull for thy native sweets at home, even delights in the multitude of peace. (S. 150f.)

Die Lektüre als Kontrastprogramm: Den Qualen des Autors und Protagonisten stehen die Annehmlichkeiten des Lesers gegenüber. Er kann sich fortträumen in einen fernen Raum voller Gefahren und Widrigkeiten. Er erlebt die »admirable adventures und strange fortunes« im bequemen Sessel, dankbar für die »native sweets« und dafür, daß ihm Ähnliches erspart geblieben ist. Im Vorwort hatte Purchas zwar die Dankbarkeit gegenüber denen zum Ausdruck gebracht, welche die Gefahren des Reisen auf sich nahmen, zugleich aber vor allgemeiner Nachahmung gewarnt. Zu groß sei das Risiko, nicht nur die eigene Kultur, sondern auch das eigene Seelenheil zu verspielen, und dies nur um »a few smattering termes, flattering garbes, Apish crings, foppish fancies, foolish guises and disguises« mit nach Hause zu bringen.64 Auch im Vorwort zur wenig später erschienenen englischen Ausgabe des Mercator-Atlas wird als Nutzen des Werks unter anderem hervorgehoben, daß man mit ihm auf komfortable und zugleich ästhetisch reizvolle Weise durch die Welt reisen könne, ohne das eigene Heim zu verlassen: »the Noble-Man and Gentle-Man, by speculation in his closset, may travell through every province of the whole world«.65 Die Brüder de Bry betonen im Vorwort zum vierten Band ihrer Orientserie, die »figürliche Fürbildung« erlaube es, daß »uns alles dermassen für Augen gestellet werden kann / als wenn wir an den Orten selbst zugegen weren / und alles Persönlich mit unsern Augen selber sehen«.66 Die Verlagerung des Reisens in die Imagination des Lesers macht allerdings auch die Möglichkeit denkbar, das ihr zugrundeliegende Erfahrungsmaterial sei selbst ein im wesentlichen imaginiertes. Anders als der Atlas

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bietet die Reiseschilderung ihre vielfältigen Informationen zu fernen Regionen als Erfahrungsbericht in narrativ elaborierter Form. Das hat dem Text Knivets, gemessen an dem von ihm selbst erhobenen Wahrheitsanspruch, in der modernen Forschung zu schlechten Noten verholfen. Doch sollte es den Blick auf sein kulturelles Potential nicht trüben. Tatsächlich handelt es sich um einen der radikalsten Texte der frühneuzeitlichen Reiseliteratur. Die Reise hebt an mit Thomas Cavendishs bereits erwähnter zweiter Weltumsegelung von 1591. Ihr Scheitern schildert der unmittelbar vorangehende Discourse of his fatall and disastrous Voyage towards the South Sea.67 Um das Scheitern geht es auch bei Knivet. Man bleibt vor der brasilianischen Küste hängen, die Durchfahrt durch die Magellanstraße mißlingt, schnell reiht sich eine Katastrophe an die andere. Knivet findet eine beträchtliche Summe Geldes, vertraut sich einem japanischen Freund an, wird aber prompt um alles betrogen. Er erkrankt, verliert einige Zehen und wird, bewegungsunfähig, hilflos, fast verhungert und halb ohnmächtig, an Land ausgesetzt. Die Sonnenhitze läßt ihn zu sich kommen, doch er bereut, noch am Leben zu sein. Auf allen Vieren bewegt er sich vorwärts. Er findet ein Feuer in einem heiligen Feigenbaum, in dem er Krabben zubereitet. Beim Überqueren eines Flußlaufs stößt er auf ein riesiges Monster, das ihn verschont, dann auf einen toten Wal, von dem er sich einige Tage ernährt. Er begegnet einer anderen Gruppe von Engländern, die ebenfalls an Land gesetzt worden war, überlebt, von Portugiesen und Indianern überfallen, fast allein und wird zum Sklaven: Der portugiesische Gouverneur übergibt ihn dem Indianer, der ihm sein Leben rettete. Der abenteuerliche Beginn enthält bereits die wesentlichen Elemente des folgenden Berichts: Kälte und Hitze, Lebensgefahr und Todesnähe, Krankheit und Mangel, Nacktheit und Verlassenheit, Betrug und Gewalt, Europäer und Indianer, kulturelle Grenzüberschreitungen und wunderbare Begegnungen. Knivets Itinerar des über zehn Jahre reichenden Aufenthalts in Südamerika liest sich als beständiges Hin und Her zwischen verschiedenen Orten an der Küste und im Landesinneren, ein Hin und Her auch zwischen verschiedenen Kulturen und Nationen, zwischen Engländern, Portugiesen, Franzosen und mehreren Indianerstämmen, ja sogar zwischen Südamerika und Afrika: Um seiner brasilianischen Abhängigkeit zu entfliehen, macht Knivet sich einmal nach Angola auf, wo er handeltreibend einige Monate verbringt, bis er gefangengenommen und nach Brasilien zurücktransportiert wird.68 Das Hin und Her ist zugleich ein Auf und Ab. Immer wieder gibt es Phasen schlimmster Abhängigkeit, in denen er als Sklave härteste Arbeit in den Zuckerrohrmühlen verrichtet. Immer wieder gibt es aber auch lichtere Momente: ein angenehmerer Herr, eine geglückte Flucht, ein wiedergewonnener Freiraum. Die Verzweiflung über die quälenden Lebensbedingungen unter den Portugiesen läßt den Aufenthalt unter den Indianern als

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geringeres Übel erscheinen: »Obwohl die Gefahr, sich in das Gebiet der wilden Menschenfresser zu begeben, wo ich noch nie war, nicht weniger als mein Leben betraf, zog ich es wieder vor – im Bewußtsein, daß meine Tat [ein Mordversuch an seinem Herrn] unter den Portugiesen die Todesstrafe bedeutete –, mich der heidnischen Barmherzigkeit der wilden Menschenfresser als der blutigen Grausamkeit der christlichen Portugiesen auszuliefern.«69 Die drastischen Umstände der Unfreiheit machen es möglich, über Cabezas Naufragios hinaus, die traditionellen Grenzen von Zivilisiertheit und Unzivilisiertheit zu erschüttern. Auch hier deutet sich eine Integration in die fremde Kultur an. Die Wahl des geringeren Übels erweist sich als glückliche. Der Engländer versteht sich zu behaupten. Er wird von den Indianern gut aufgenommen und erlebt bei den Tamoyes sogar einen sozialen Aufstieg. Auf ihren Kriegszügen gegen die Tomominos bringt er ihnen mit Erfolg europäische Kampftechniken bei und erfährt ihre Hochschätzung. Frauen werden ihm angeboten, »but I refused, saying it was not our custome to take wives out of our Countrey« (S. 223). Der Hinweis auf ein imaginäres Endogamiegebot zeigt wie bei Staden die Anpassung des Subjekts an die indigene Logik. Wie dort entwickelt sich ein Wechselspiel von Nähe und Distanz. Die Indianer, durchgehend als Canibals oder savages bezeichnet, bleiben fremd, gefährlich und unberechenbar. Doch sie werden auch zu Helfern und Bundesgenossen. Der Held, der nicht wirklich einer ist, spricht mehrere Sprachen und vermag die verschiedenen Völker zu unterscheiden. Daß er zu keinem zweiten Gonzalo Guerrero wird, liegt an den Gegebenheiten: Die europäische Macht ist nicht erst im Begriff sich durchzusetzen, sondern institutionell etabliert; unter ihrem Einfluß haben sich die indigenen Gesellschaften verändert. Die Konsequenz daraus: Die Portugiesen holen ihren entlaufenen Sklaven immer wieder zurück, die Indianer bieten nicht die Stabilität einer anderen (oder gar paradiesischen) Lebensweise. Das ermöglicht aber auch eine neue Form der Innenschau, verzweifelte Subjekte beider Seiten umfassend: »Ganz nackt war ich, ohne irgendetwas, nur meine Scham bedeckte ich mit einigen Blättern. Eines Tages, als ich allein, der Annehmlichkeit wegen, zum Fischen ging, ließ ich mich nieder, darüber nachdenkend, in welchem Zustand ich mich befand, und mich daran erinnernd, was ich früher gewesen war; ich verfluchte den Moment, da ich zum ersten Mal den Namen des Meeres gehört hatte, und bedauerte, die Heimat, wo es mir an nichts fehlte, verlassen zu haben. In diesem Moment war ich ohne jede Hoffnung, Heimat oder Christenmenschen jemals wiederzusehen. Wie ich so in bewegten Gedanken am Fluß saß, kam ein alter Indianer zu mir, einer der Kaziken, und erzählte mir, wie gut die Zeit für sie war, als sie am Cap Frio lebten. Da hätten sie den Handel mit den Franzosen und keine großen Bedürfnisse gehabt; jetzt aber hätten sie weder Mes-

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ser noch Äxte noch irgendetwas und würden in großem Mangel leben.«70 Der Aufenthalt in der Neuen Welt hat reflexive Züge. In einer Situation der Muße artikulieren sich tiefste Verzweiflung und Perspektivenlosigkeit. Fern von der christlichen Heimat, zeigt sich die Kehrseite der Seefahrtsabenteuer. Trost kommt pointierterweise von einem Indianerhäuptling, der ebenfalls an vergangene gute Zeiten zurückdenkt: die des friedlichen, bedürfnislosen Tauschhandelns mit den Franzosen, wie sie in Stadens Historia aufscheinen.71 Ein melancholischer Moment mit utopischen Zügen: Auf Anregung des Engländers denken die Indianer darüber nach, an die Küste und zum Handel mit den Franzosen zurückkehren. Dreißigtausend machen sich auf den Weg. Sie treffen auf die mit den Portugiesen verbündeten Carijos und geben sich, als sie den ersten Kanonenschuß hören, kampflos geschlagen; zehntausend, darunter alle Alten und Frauen, werden von den Portugiesen getötet, die anderen zwanzigtausend als Sklaven aufgeteilt. Der Engländer wird seinem alten Herrn übergeben und muß wieder in einer Zuckerrohrmühle arbeiten. Die beiden Situationen, hier zwei Verlorene, am Fluß sitzend und sich ihr Leid klagen, dort ein ganzes Volk, niedergemetzelt und versklavt, machen im Kontrast die Umstände sichtbar, denen die brasilianische Welt unterliegt: Die Rückkehr zu einem den eigenen Ursprüngen näheren Zustand ist auf beiden Seiten zum Scheitern verurteilt, der Wechsel von der sentimentalen Haltung zur aktiven führt in die Katastrophe, die Dominanz der Portugiesen läßt sich nicht durchbrechen. Eben diese Dominanz ist es aber auch, die der Text nutzt, um die Identität des seiner Heimat entfremdeten Engländers zu konturieren. Wie im Falle Cabeza de Vacas oder Stadens geht es um Anpassungsleistungen, die das Überleben ermöglichen und neue Perspektiven eröffnen. Doch anders als seine Vorgänger gerät Knivet nicht unfreiwillig in die Nähe der andern. Er sucht die indigenen Kulturen, weil die unter ihnen nötige Anpassung allemal der unter den Portugiesen drohenden Selbstauslöschung vorzuziehen ist. Schon Hakluyt war von solchen Situationen fasziniert gewesen und hatte sie benutzt, die Bedeutung des englischen Engagements in Übersee herauszustellen. Der programmatische Bericht von 1584, der die Kolonisierung des südlichen Nordamerika voranbringen sollte, zitierte Gewährsmänner wie Miles Philipps, der vierzehn Jahre in Mexiko gelebt hatte und viel von den dortigen Chichimeken zu berichten wußte: von ihrem Widerstand gegen die spanische Herrschaft, unter Führung eines Afrikaners, der »from his cruel spanishe Master« geflohen war.72 Ein solches Programm ist in Knivets Text höchstens implizit präsent. Er taucht ein in die südamerikanische Welt, ohne dieser eine besondere Verheißung abzugewinnen. Der zufällige Geldfund, die perspektivenlose Sklavenarbeit und die temporäre indianische Existenz begründen Zustände, aber keine Modelle. Die Pole, zwischen denen sich die Abenteuer abspie-

Fluchten und Unübersichtlichkeiten

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len, beständig spürbar, sind Anthropophagie und Sklaverei, totale Absorption und totale Unfreiheit. Dem einen entkommt Knivet nur knapp, dem anderen nur vorübergehend. Er vermag zwar das Verspeistwerden zu verhindern, indem er – wie Staden – rechtzeitig erkennt, daß es manchen Völkern gegenüber besser ist, sich als Franzose auszugeben. Gegen die Abhängigkeit indes ist kein Kraut gewachsen; der Einfluß seines Herrn reicht übers Meer bis Angola. Trotz der weitgehenden Auslieferung an die Fremdbestimmung kommt es auch bei Knivet zu keiner Preisgabe der eigenen Identität und der eigenen Ursprünge. Weder widersagt er dem christlichen Gott noch nimmt er an anthropophagischen Ritualen teil. Auch die Scham angesichts der eigenen Nacktheit geht ihm, wie an der idyllischen Flußszene zu beobachten, nicht verloren. Doch wird die Opposition zwischen Europäern und Indianern, zwischen Christen und Heiden unterwandert: Die europäisch-christliche Seite zerfällt selbst in heterogene Gruppen, manche ihre Praktiken rücken in die Nähe des Barbarischen. Zwar gibt es keine exakte Differenzierung zwischen den Sitten von Engländern, Portugiesen und Franzosen. Die Charakterisierung beschränkt sich darauf, die einen als Seefahrer, die andern als Landbesitzer und Ausbeuter, die dritten als Handeltreibende zu markieren. Doch das genügt, um eine chaotische Welt zu entwerfen, in der die Flucht des Protagonisten zu den Indianern deutlichster Ausdruck kultureller Unübersichtlichkeit ist. Wiederkehrende Konstellationen, temporäre Fixpunkte und Phasen räumlicher Konstanz ändern nichts daran: Das Leben des Protagonisten ist durch oszillierende Bewegungen und fluktuierende Beziehungen gekennzeichnet. Das macht seine Fragilität aus und stellt seine Identität stärker in Frage als das kulturelle Renegatentum allein. Nicht die punktuelle Transgression wird zum Fluchtpunkt des Textes, sondern die grundlegende Instabilität. Stärker noch als im Falle Cabeza de Vacas tritt das pikareske Moment in den Vordergrund. Aus dem 1553 auf Spanisch erschienenen und 1576 ins Englische übersetzten Lazarillo de Tormes kannte man den Spitzbuben, der auf unterster sozialer Ebene sich in verschiedenen Dienstverhältnissen durchschlägt. In dem 1594 publizierten Unfortunate Traveller des Thomas Nash lag eine Variante des Schelmenromans vor, die das Reisen durch Mitteleuropa zu einer satirischen Reise durch verschiedene Bildungstraditionen und einem Spiel mit fiktionalem Erzählen nutzte. Knivets Text überschreitet das eine Modell, in dem er fremdartige Schauplätze und Konstellationen bietet, er unterschreitet das andere, indem er auf poetologische Autoreflexivität verzichtet. Er erzählt die Geschichte eines Überlebenden, konfrontiert mit kritischen Situationen, Schiffsunglücken, Krankheiten, Gefangenschaften, in denen er sich allem Anschein zum Trotz behauptet – oft als einziger: die 29 Engländer, mit denen er zusammen in die Hände der Portugiesen

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fällt, werden außer einem alle umgebracht, die elf Portugiesen, mit denen er von Indianern gefangengenommen wird, alle verspeist. Glücklich, aber auch geschickt darin, das Richtige im richtigen Moment zu tun, übersteht er alle Gefahren. Doch ein Aufstiegsweg vollzieht sich nicht. In dem Maße, in dem Krisen zum täglichen Geschäft werden, verlieren auch die Rettungen an Gewicht. In potentiell endloser Perpetuation wird der Held zu einem Stehaufmännchen, dessen Wunden immer wieder heilen, das sich immer wieder befreit und doch nie auf einen grünen Zweig kommt. Genau genommen wechselt oder verliert diese Figur ihre Identität nicht. Sie hat keine. Wir erfahren nichts über Knivets Herkunft und nichts über die Motive seiner Ausfahrt, ja nicht einmal etwas über die Rückkehr in die Heimat. Zwar kann er am 15. August 1599 mit einem englischen Schiff von Pernambuco aus nach Lissabon segeln, wo er zwei Monate später landet. Doch von Freiheit auch hier keine Spur: zunächst liegt er einige Monate schwerkrank, dann wird er von seinem alten Herrn, Salvador Corea de Saa, zu sich beordert, was er ignoriert – »but now my old friend, imprisonment, and miserie comes again«. Er wird auf der Straße festgenommen und in den Kerker geworfen. Von der Erfüllung des Wunsches nach England zurückzukehren, berichtet der Autor nichts. Die letzten Sätze zeigen ein ergreifendes Bild des Gefangenen: »am Ende erspähte ich einen schwachen Lichtschimmer und brach, verzweifelt und halb wahnsinnig die Wand hochkletternd, ein Holzstück vor einem Eisengitter ab. Da heulte ich so, dass viele zum Fenster kamen und Mitleid mit mir hatten, aber keiner konnte mir helfen.«73 Der Bericht endet im Offenen, mit einem Schrei, der zwar gehört wird, aber nichts bewirkt. Es gibt Zeugen, zugleich aber dominiert die Isolation und mit ihr die Instabilität, nun sogar des Textes im Ganzen: Auch die Beziehung zwischen dem erlebenden und dem (be)schreibenden Subjekt bleibt unklar. Mehr als eine Andeutung, daß Knivet einen Engländer, den er in Brasilien traf, in der Heimat wiedergesehen habe, fällt nicht. Zwar gibt es neben den zahlreichen Orts- und Zeitangaben, die den Bericht durchziehen, die folgenden beiden Kapitel mit Völkerbeschreibungen und Navigationshinweisen, in denen auch das Ich gelegentlich präsent ist. Doch es bleibt die Unsicherheit über den Status eines sich in pikaresker Selbstinszenierung profilierenden Erzählers, dessen Zuverlässigkeit beständig durch die klassischen Mittel des Reiseberichts hervorgehoben wird, dessen Unzuverlässigkeit aber schon aufgrund der narrativen Rahmenbedingungen nicht aus Welt zu schaffen ist.

Glück und Unglück der Fremde

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Glück und Unglück der Fremde Texte der Passion. Sie führen vor, wie man in der Neuen Welt leidet, welche Leidenschaften sich aber auch daraus entwickeln. Je stärker die Bedrohung, je krasser die Bedingungen, je näher der Untergang, desto größer die Erwartung, unverwüstlicher die Hoffnung, hartnäckiger das Durchhaltevermögen. Nicht mehr das Wunderbare steht im Vordergrund, sondern die Arbeit. Kein Schlaraffenland, sondern ein Niemandsland. Kein Paradies, sondern ein Purgatorium. Ein Boden für emphatische Sinnfiguren: Erinnerung an Hiob, dessen Gold schließlich von Gott belohnt wurde, an Christus, dessen Leiden das der Welt hinwegnahm. Ein Boden auch für poetische Momente: Licht in der Dunkelheit, Befreiung von der Qual, Erlösung aus der Gefangenschaft. Diese Momente blitzen selbst dort auf, wo depeschenartige Atemlosigkeit vorherrscht. Sie machen komplexere Prozesse sichtbar, jenseits des einfachen Hier und Dort, Wir und Sie, Kultur und Natur. Dominanzen geraten ins Wanken, Identitäten erweisen sich als instabil, die Sicherheit der Rückkehr (zum Eigenen) schlägt nicht mehr durch. Die überseeischen Länder sind nicht mehr nur Raumblasen, wie eingangs für Vespucci festgestellt, sondern Räume mit eigener Gesetzlichkeit. Die ihnen ausgelieferten Subjekte erleben Übergänge von der eigenen zur fremden Kultur, die wiederum die Texte zu einer die Nahsicht heraushebenden Beschreibung des Fremden benutzen. Sie werden dadurch zu kulturellen Texten par excellence: Sie stellen nicht nur den Kontakt zwischen den Kulturen dar, sondern machen auch das individuell Erlebte für kulturelle Konstellationen transparent. Ausgangspunkt sind jeweils Situationen der Ohnmacht und des Ausgeliefertseins, die durch kulturelle Anpassung und sozialen Aufstieg überwunden werden. Erst dies, Anpassung und Aufstieg im fremden Kontext, macht Identität, die zunächst vor allem durch Mangel gefährdet ist, tatsächlich zu einer infragestehenden, die bei der Wiederbegegnung mit der eigenen Kultur nicht mit einem Schlag wiederhergestellt werden kann. Indem die Berichte die mimikryartige Annäherung des Europäers an die Indianer ausphantasieren, entwerfen sie zugleich eine Alterität, von deren Steigerung wiederum der mimetische Charakter der vorliegenden Texte profitiert. Unterschiede sind allerdings unverkennbar. Unterschiede der Figuren: der durch Selbstanpassung zum Kulturheros aufsteigende Schatzmeister, der mit Widrigkeiten und Enttäuschungen kämpfende Adlige, der sich im Hin und Her zwischen den Gruppen verlierende Glückssucher. Unterschiede der kulturellen Kontaktzonen: die weitgehend konfliktfreie Erstbegegnung, die protokoloniale Situation, in der Einzelinteressen eine große Rolle spielen, das Spannungsfeld konflikthafter und komplexer, europäischer und indigener Kräftepotentiale. Unterschiede der textuellen Modelle: die legiti-

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mitätstiftende Erfolgsgeschichte mit kulturellen Übergängen, die das Scheitern des kolonialen Unternehmens in eine Sondierung des fremden Terrains überführt; die stakkatohaften Briefe mit spärlichen interkulturellen Berührungspunkten, die den Aufschub der Rückkehr plausibel machen sollen; der pikareske Bericht mit interkulturellen Oszillationsbewegungen, der die Auslieferung des Protagonisten an die Fremde auf paradoxe Weise mit einer Nachvollziehbarkeit seiner Wege überblendet. Alle drei vorgestellten Texte, jeweils auf Süd- und Mittelamerika bezogen, sind Produkt historischer Momente. Mit der Dezimierung und Assimilation der Indianer, der Etablierung und Adaptation der Europäer verschoben sich die Prozesse, in denen Identitäten ausgehandelt wurden: in Richtung auf feinere Nuancen und mannigfaltige Mischungen. Zugleich verlagerten sich die europäischen Sinngeschichten: auf Inseln, wo robinsonadische Kulturentwürfe situiert werden konnten, auf nordamerikanische Konstellationen, wo die Kulturen an beständig sich verschiebenden Grenzen aufeinandertrafen. Hier entwickelte sich seit dem ausgehenden 17. Jahrhundert eine eigene Gattung von ›captivity narratives‹, deren Wirkung bis in die Gegenwart nicht abgerissen ist.74 Auch sie setzt auf die Spielarten des Leidens, der Passion, um den manchmal Jahrzehnte dauernden Aufenthalt zu charakterisieren: schwierige Lebensbedingungen, harte Arbeit, mentale Grausamkeiten, drohende Verheiratung. Die Geschichte sind solche der Prüfung: Sie demonstrieren eine sich durch alle Gefährdungen und Anfechtungen hindurch im Festhalten an der christlichen Religion, der puritanischen Gemeinschaft, der eigenen Familie manifestierende Stärke. Es gibt aber auch solche der Transformation: Preisgabe der eigenen Sitten, Distanz zur eigenen Kultur, Integration in einen Stamm. Beide Formen sind in die populäre Imagination der Moderne eingegangen und haben sich zugleich in ihr verwandelt: in Problematisierungen der Kolonialidee, Thematisierungen von Bewußtseinsidentitäten und Geschlechterbeziehungen, Glaubenssystemen und Zivilisationsmodellen.

Anmerkungen 1 Einige Beispiele (über Missionierungsgeschichten hinaus): SOUZA, O diabo; AZOULAI, Les péchés du Nouveau Monde; CERVANTES, The Devil in the New World; GREER/BILINKOFF, Colonial Saints; LARA, City, Temple, Stage. 2 Die Hoffnung, die Syphilis mit Hilfe des Brasilholzes heilen zu können, durchzog die ersten Jahrzehnte des 16. Jahrhunderts; vgl. STEIN, Die Behandlung der Franzosenkrankheit. 3 Kolumbus, Der erste Brief, ed. WALLISCH, S. 34: »Solet enim deus servos suos, quique sua præcepta diligunt, etiam in impossibilibus exaudire, ut nobis in præsentia contigit, qui ea consecutus sumus, què hactenus mortalium vires minime attigerant.« 4 Abbildung des Briefes an Niccolò Oderico vom 21. März 1502 bei VENZKE, Christoph Kolumbus, S. 111; des Briefes an die Herren von San Giorgio in Genua vom 2. April 1502 in: Co-

Anmerkungen

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lumbus, Dokumente, Bd. 2, S. 195. 5 Ausgabe des spanischen Textes in: Colón, Textos, ed. VARELA, S. 291–305 (zit.), des italienischen in: Relazioni di viaggio, ed. CADDEO, S. 261–288; eine deutsche Übersetzung in Columbus, Dokumente, Bd. 2, S. 204–227. 6 Natalie Zemon DAVIS, Der Kopf in der Schlinge. Gnadengesuche und ihre Erzähler (engl. 1987). Berlin 1988. 7 Lettera (S. 280): »Allí me detenía en aquella mar fecha sangre, herviendo como caldera por gran fuego. El cielo jamás fue visto tan espantoso. Un día con la noche ardió como forno, y assí echava la llama con los rayos, que cada vez mirava yo si me havía llevado los mástelas y velas« (Übersetzung, S. 211). 8 Lettera (S. 282): »en tanta fatiga la esperança de escapar era muera. Subí assí trabaxando lo más alto, llamado a voz temerosa, llorando y muy aprisa los maestros de la guerra de Vuestras Altezas, a todos cuarto los vientos, pro socorro, mas nunca me respondieron. Cansado me dormeçí gimiendo« (Übersetzung, S. 214). 9 Lettera (S. 283): »No temas, confía: todas estas tribulaciones están escritas en piedra mármol y no sin causa« (Übersetzung, S. 215). 10 CEARD, La nature et les prodiges. 11 Lettera (S. 287): »Otra gente fallé, que comían hombres: la desformidad de su gesto lo dice« (Übersetzung, S. 219f.). 12 Lettera (S. 286): »Digo que no pueden dar otra razón ni cuenta, salvo que fueron a unas tierras adonde ay mucho oro, y certificale, mas para volver a ella el camino tienen ignoto. Sería necessario para ir a ella descubrirla como de primero« (Übersetzung, S. 218). 13 BODMER, The Armature of Conquest, bes. Kap. 3 und 4 (zu Cortés S. 117–122). 14 Ulrich Schmidels Reise, ed. LANGMANTEL, 49,14–16. 15 Hakluyt, Principal Navigations (1598–1600). Reprint. Bd. 8, S. 7; KNAPP, An Empire Nowhere, S. 46. 16 MAHLKE, Offenbarung im Westen, S. 64. 17 George Best, A True Discourse, in: Three Voyages, ed. STEFANSSON, S. 7: Difficiliora pulchriora; a. auch BURGHARTZ, Erfolg durch Scheitern. 18 The Last Voyage of Thomas Cavendish, ed. QUINN, S. 120, 132; vgl. auch KNAPP, An Empire Nowhere, S. 320, A. 36. 19 Titel: La Relación que dio Alvar Núñez Cabeça de Vaca de lo acaescido en las Indias en la armada donde iba por gobernador Pámphilo de Narbáez desde el año de treinta y seis que bolvío a Sevilla con tres de su compagnía; grundlegend (mit Text der Erstausgabe; zit.): Cabeza de Vaca, His Account, His Life, and the Expedition of Pánfilo de Narváez, ed. ADORNO/PAUTZ; Edition der Zweitausgabe (mit informativem Vorwort): Naufragios, ed. BARRERA; Übersetzung der Zweitausgabe: Cabeza de Vaca, Schiffbrüche, ed. TERMER. 20 Englische Übersetzung von Oviedos Version in: New American World, ed. QUINN, Bd. 2, S. 59–89; Rekonstruktion des gemeinsamen Berichts in: Cabeza de Vaca, His Account, ed. ADORNO/PAUTZ, Bd. 3, S. 12–39. 21 LEWIS, Los Naufragios, S. 684f. 22 Andreas ERHARD / Eva RAMMINGER: Die Meerfahrt. Balthasar Springers Reise zur Pfefferküste. Mit einem Faksimile des Buches von 1509. Innsbruck 1998, S. 11 (f. a ijr). 23 Ulrich Schmidels Reise, ed. LANGMANTEL, 40,8–10. 24 Cabeza de Vaca, Account, S. 158: »Y estando yo durmiendo en el hoyo, començó a arder muy rezio, y por mucha priessa que yo me di a salir, todavía saqué señal en los cabellos del peligro en que avía estado«. 25 Account, S. 98: »nosotros tales que con poca difficultad nos podían contar los huessos, estávamos hechos propria figura de la murte«. 26 Account, S. 170/172: »a manera de serpientes mudávamos los cueros dos vezes an el año«. 27 LAGMANOVICH, Los Naufragios, S. 31f.; BODMER, The Armature of Conquest, S. 137. 28 BODMER, The Armature of Conquest, S. 140f. spricht von vier ›Metamorphosen‹. 29 Account, S. 114: »La manera con que nosotros curamos era santiguándolos y soplarlos, y

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rezar un Pater Noster y un Ave María, y rogar lo mejor que podíamos a Dios nuestro Señor que les diesse salud y espirasse en ellos que nos hiziessen algún buen tratamiento. Quiso Dios nuestro Señor y su misericordia que todos aquellos por quien suplicamos luego que los santiguamos dezían a los otros que estavan sanos y buenos, y por este respecto nos hazían buen tratemiento.« 30 Vgl. KOHL, Travestie der Lebensformen, S. 37; TAUSSIG, Folk Healing. 31 Zur Rolle von Zeichen in dieser Logik AHERN, The Cross and the Gourd. 32 Account, S. 232: »Con todas ellas Dios nuestro Señor nos favoresçií, porque siempre nos entendieron y les entendimos. Y ansí preguntávamos y pespondían por señas como si ellos hablaran nuestra lengua y nosostros la suya« (»Dank der Hilfe Gottes verstanden uns die Eingeborenen immer und wir sie ebenfalls. Wir fragten sie durch Zeichen, und sie antworteten ebenso, als ob sie unsere und wir ihre Sprache redeten«). 33 Vgl. den (im spanischen Original verlorenen) Bericht über die Expedition des Hernando de Alarcón von 1540, der auch in die großen Reisesammlungen Eingang fand: Der Autor und Conqistador antwortet auf die Frage eines Indianers, woher er komme, er komme von ferne und sei von der Sonne geschickt, und auf die Frage, warum er nicht früher gekommen sei, weil er zu dieser Zeit noch ein Kind gewesen sei; englische Übersetzung in New American World, ed. QUINN, Bd. 1, S. 433–450, hier S. 438. 34 Account, S. 236: »unos hombres que traían barvas como nosostros, que avían venido del çielo y llegado a aquel río«. 35 Ebd., S. 244: »Estuviéronme mirando mucho espacio de tiempo, tan atónitos que ni hablavan ni açertavan a preguntarme nada.« 36 Zur historischen Situation ADORNO, Peaceful Conquest and Law, S. 75–86. 37 Account, S. 250: »porque nosotros veníamos de donde salía el sol y ellos de donde se pone, y por que nosostros sanávamos los enfermos y ellos matavan los que estavan sanos, y que nosostros veníamos desnudos y descalços y ellos vestidos y en cavallos y con lanças, y que nosostros no teníamos codiçia de ninguna cosa antes todo quanto nos davan tornávamos luego a dar y con nada nos quedávamos y los otros no tenían otro fin sino robar todo quanto hallavan y nunca davan nada a nadie.« 38 Ebd., S. 258: »preguntados en qué adoravan y sacrificavan y a quién pedían el agua para sus maizales y la salud para ellos, respondieron que a un hombre que estava en el çielo. Preguntámosles cómo se llamava. Y dixeron que Aguar, y que creían que él avía criado todo el mundo y las cosas dél. [...] Nosotros los diximos que aquel que ellos dezían nosotros lo llamávamos Dios y que ansí lo llamassen ellos y lo sirviessen y adorassen como mandávamos y ellos se hallarían muy bien dello. Respondieron que todo lo tenían muy bien entendido y que assí lo harían« (»Auf die Frage, wen sie anbeteten, wem sie Opfer brachten und wen sie um Wasser für ihre Maisfelder anflehten, antworteten sie: einen Mann, der im Himmel wohnt. Auf unsere Frage nach seinem Namen nannten sie ihn ›Aguar‹ und fügten hinzu, daß sie glaubten, er habe die ganze Welt und alle Dinge in ihr erschaffen. [...] Wir machten sie darauf aufmerksam, daß dieser Erwähnte derjenige sei, den wir ›Gott‹ nennen. Dies sollten sie jetzt auch tun, ihm dienen, ihn anbeten, wie wir es ihnen auftrugen. Sie würden sich dabei sehr wohlbefinden. Sie gaben an, alles gut verstanden zu haben und danach handeln zu wollen«). 39 Ebd., S. 252: »finalmente es tierra que ninguna cosa le falta para ser muy buena«. 40 Ebd., S. 200: »hazíamos esto porque atravessando la tierra veíamos muchas particularidades della, porque si Dios nuestro Señor fuesse servido de sacar alguno de nosostros y traerlo a tierra de christianos, pudiesse dar nuevas y relaçión della«. 41 Vgl. auch TODOROV, Die Entdeckung Amerikas, S. 236f. 42 Ulrich Schmidels Reise, ed. LANGMANTEL, 75,24f. 43 Zur historischen Situation BITTERLI, Die Entdeckung Amerikas, S. 286–308; minutiöse Rekonstruktion bei SIMMER, Gold und Sklaven (zu Hutten bes. S. 454–482, 531–566, 595–604 sowie Register); zum kommerziellen Mißerfolg Chr. JOHNSON, Bringing the World Home, Kap. 6. 44 SCHMITT/VON HUTTEN, Das Gold der Neuen Welt, S. 20. 45 Zur Suche nach El Dorado: PASTOR BODMER, The Armature of Conquest, bes. Kap. 4. 46 SCHMITT/SIMMER, Tod am Tocuyo.

Anmerkungen

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47 JOETZE, Brief eines Lindauers aus Venezuela. 48 FRIEDE, Vida y Viajes de Nicolás Féderman; JAHN, Raumkonzepte, S. 199–215. 49 Brief an Bernhard von Hutten (20. Okt. 1538), in: SCHMITT/VON HUTTEN, Das Gold der Neuen Welt, S. 126. 50 Ebd., S. 94: »Ist ain bestialisch arm Volck, gantz nacket, barhaubt vnd barfuß. Die Frauen bedecken ir Scham mit aym Duch hinden vnd fornen wie schier ain Batbruch, die Menner haben ain Callabassa wie ain Horn, do si nit den halben Thail einthun, dan sie lassen die Hoden hangen. Ir Muntz ist claine subtile Paternosterle, die sie von Merschulpen machen, welche Muntz auch hie unter den Cristen gilt. Messen es nach der Leng aus, gilt von der Handt biß an den Ellenbogen anderthalben Real. Ist gar wenig gemuntzt Gelts hie vnter den Cristen. Hoff aber, ßol besser werden.« 51 Brief an Matthias Zimmermann (30. Juli/Okt. 1538); SCHMITT/VON HUTTEN, S. 103: »Diese Tschokos wonen in aym Land, lauter Holtz vnd berget, aber fruchtbar an Mahiz vnd Iucka. Aber weder Visch noch Fleisch; essen selbs ainander. Habent mit allen iren Nachbaurn Krig. Haben kain Gold, begeren a(uch kai)nes. Vast werhafft Volck, haben kain Bogen, nit dan Rodelas von Holtz vnd Dardos, ßo Fueß vor Fues mit vns stehen. Vnd vns gar wenig furchten, sunderlich wo kain Pfferd vorhanden sein, wie man dan die in irem Land aus Vrsach des Gehultz vnd Berg nit brauchen kan.« 52 Brief an Bernhard von Hutten (20. Okt. 1538); SCHMITT/VON HUTTEN, S. 108: »Zog aus mit gedachten Volck den 18. Tag Augusti, zogen in ein Poblo Areras genannt, funden kein Indier, zogen den andern Tag in ein groß Poblo Hamaritarj genannt, entliefen fast die Indier alle, fingen doch den Casicus mit etlichen Indiern, die ließ der Gubernator ledig, vermeinde Fried mit ihnen zu machen, kamen aber nicht wieder. Den 20. Tag im Feld, den 21. Tag in ein groß Poblo Sassaritatj genannt, fingen etlich Indier, auch ein Casicus, der sagt uns von grossem Reichthum. Funden aber darnach, daß es alles erlogen.« 53 PAGDEN, Das erfundene Amerika, S. 34. 54 Brief an Bernhard von Hutten (20. Okt. 1538); SCHMITT/VON HUTTEN, S. 121: »Gott allein und die gemein, so es versucht haben Wissen, was Noth und Elend, Hunger, Durst, Mühe und Arbeit die armen Christen in diesen 3 Jahren erlitten haben. Ist zu verwundern, daß es menschlich Körper so lang haben ertragen mögen. Ist ein Grau, was Ungeziefers als Schlangen, Kroten, Heydexen, Ottern, Lacerdas, Wurmkraut und Wurzel, auch viel einerley Geschlecht und unachtende Speiß die armen Christen auf diesen Zug gessen haben. Auch etlich wider die Natur Menschenfleisch gessen haben, nemlich ward ein Christ gefunden, so ein Viertel von einem jungen Kind mit etlichen Kräutern kocht hat.« 55 Ebd., S. 122. 56 Brief an Moritz von Hutten (16. Jan. 1540); SCHMITT/VON HUTTEN, S. 133f. 57 Brief an Bernhard von Hutten (20. Okt. 1538), SCHMITT/VON HUTTEN, S. 120; Brief an Georg Geuder (20. Okt. 1538), SCHMITT/VON HUTTEN, S. 124f. 58 Ulrich Schmidels Reise, ed. LANGMANTEL, 106,24f.; 107,15–17. 59 Chr. JOHNSON, Bringing the World Home, Kap. 6, Anm. 79 (Zitat aus der Ausgabe von Meusel). 60 Zu Grabmal und Epitaph SCHMITT/SIMMER, Tod am Tocuyo, S. 153–157. 61 The admirable adventures and strange fortunes of Master Antonie Knivet, which went with Master Thomas Candish in his second voyage to the South Sea. 1591, in: PURCHAS, Hakluyts Posthumus, Teil IV, S. 1201–1242; Neuausgabe der Hakluyt Society: Hakluyts Posthumus, Bd. 16, Glasgow 1906, S. 177–289; eine neue französische Übersetzung mit Kommentar: Un corsaire anglais au Brésil, ed. MENDES DO SANTOS; zum Text QUINN, The Hakluyt Handbook. Bd. 1, S. 123f.; HEMMING, Red Gold, Register; zu den Tendenzen der Sammlungen von Hakluyt und Purchas QUINN, The Hakluyt Handbook; PENNINGTON, The Purchas Handbook; HELFERS, The explorer or the pilgrim. 62 Vgl. MULANEY, Strange Things. 63 § 4 (S. 246–274): The divers Nations of Savages in Brasil, and the adjoyning Regions: their diversities of Conditions, States, Rites, Creatures, and other things remarkeable, which the Author

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observed in his many yeares manifold peregrinations; § 5 (S. 274–289): The description of divers Rivers, Ports, Harbours, Ilands of Brasil: for instruction of Navigators. 64 Purchas His Pilgrimes. Repr. Bd. 1, S. xliv. 65 Mercator, Atlas, Amsterdam 1636, ed. SKELTON, Preface. 66 Johann Theodor und Johann Israel de Bry: Orientialisches Indien. Theil IV, Vorrede an den gutwilligen Leser. Frankfurt 1600; vgl. BURGHARTZ, Mimetisches Kapital, S. 30f. 67 The Last Voyage of Thomas Cavendish, ed. QUINN (zum Ablauf der Reise bes. S. 20–33 der Einleitung); EDWARDS, Last Voyages. 68 Zum Kontext (Afrika im 16. Jahrhundert) PENROSE, Travel and Discovery in the Renaissance, S. 132; zu den kulturellen Beziehungen zwischen Brasilien und Angola ALENCASTRO, O Trato dos Viventes, S. 247–325. 69 Knivet, Adventures, S. 206: »Although the danger of going into the Countrie of wild ManEaters where I never had beene, was no less then the value of my life, yet considering with my selfe that my offence deserved death among the Portugals, I chose once again rather to stand to the Heathens mercy of savage Man-Eaters, then at the bloody crueltie of Christian Portugals«. 70 Ebd., S. 224: »I went all naked with out any thing, onely a few leaves I tied before mee for shame. One day going all alone a fishing for pleasures sake, I sat downe remembering my selfe in what state I was, and thinking what I had beene, I began to curse the time that ever I heard the name of the Sea, and grieved to think how fond I was to forsake my naturell Countrey where I wanted nothing: then was I out of all hope either to see Countrey or Christian againe; sitting by the River in these passionate thoughts, there came an old Indian one of the chiefest of them, and beganne to talke with me saying. It was a good time with them when they dwelt at Cape Frio, for then they had trade with the Frenchmen, and wanted nothing, but now they had neyther Knives nor Hatches, nor anything else, but lived in great necessitie.« 71 Zu den französischen Aktivitäten in Übersee MOLLAT, Premières relations entre la France et le Brésil; DICKASON, The Myth of the Savage; WEHRHEIM-PEUKER, Die gescheiterte Eroberung; OBERMEIER, Französische Brasilienreiseberichte im 17. Jahrhundert. 72 MORGAN, American Slavery, American Freedom, S. 29. 73 Knivet, Adventures, S. 245: »in the end I espied a little glimpse of the light, and clambering up the wall, in despaire and halfe madde, I broke downe a peece of a boord that stood before an Iron grate, there I cried out in such a sort that a great many came to the window, where many pittied me, but none could help me, etc.« 74 Vgl. Kapitel 7 mit Literatur.

4 Kannibalische Logik

Fremdvertrautes »Die Ungeheuer, welche die meisten erwartet hatten, fand ich hier jedenfalls nicht, sondern gutmütige und durchaus ehrfürchtige Menschen.« Wie der ganze Brief an Luis de Santángel über die erste Reise (gedruckt 1493) zielt auch diese Bemerkung Colóns darauf, das Selbsterfahrene vor dem Hintergrund der Tradition zu profilieren und als nutzbringend zu erweisen. Wenige Sätze später wiederholt er, Monster seien ihm weder begegnet noch zu Kenntnis gelangt – und hält im gleichen Atemzug fest: Es gäbe »Berichte über eine Insel namens Quaris/Charis«, bewohnt von einem Volk, »das von seinen Nachbarn für überaus grausam angesehen wird. Sie essen Menschenfleisch.«1 Apodiktische Aussagen mit exzeptiven zu kombinieren, dieses Verfahren ist eines der grundlegenden bei der Beschreibung fremder Völker, auch solcher der Neuen Welt. Es erlaubt Balanceakte zwischen Verallgemeinerung und Vereinzelung, die Produktion von Wissen genauso wie von Ambivalenz. Colón negiert die Tradition und bestätigt sie zugleich. Mit den Wundern des Ostens war bei einer Annäherung an Indien von Westen her zu rechnen. Sie waren in den mittelalterlichen Enzyklopädien und Kosmographien, den Weltkarten und Orientromanen immer wieder beschrieben worden.2 Sie bilden den Horizont, vor dem sich auch der Brief über die neuen Inseln situiert. Außer den Menschenfressern erwähnt Colón Schwanzmenschen, Haarlose und männerlos lebende Frauen – allesamt aber jenseits der Grenze der Selbsterfahrung angesiedelt. Man erzählt von ihnen und weiß doch nichts Genaues. Abnormitäten und Monstrositäten lauern zwar in den Regionen, auf die der Entdecker sich eingelassen hat. Sie bleiben aber fern. Sie stellen Versatzstücke eines Diskurses dar, der eben in diesem Moment sich zu verändern beginnt: nicht weil die Überlieferung auf einen Schlag zweifelhaft würde, sondern weil sich die Aufmerksamkeit verschiebt – von den Spuren der Tradition zu den Gegenwärtigkeiten der Erfahrung. Die ›Wunder‹ einerseits anzutippen, andererseits ihr Fehlen zu konstatieren ist eine dialektische Strategie im Kontext eines sich globalisierenden Weltbildes. Sie zeigt einen Blickwechsel an: weg von dem, was lange als Phänomen des Weltrandes fasziniert hatte, hin zu dem, was den ökonomischen, politischen und territorialen Interessen der spanischen Kro-

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ne entgegenkommt. Die Inselbewohner, denen Colón begegnet, bieten in dieser Hinsicht vielfältige Optionen: gut gewachsen, liebenswürdig, keinem Götzendienst ergeben und furchtsam, eignen sie sich sowohl für die Evangelisierung wie die Kolonisierung. Ebenso vielfältig aber sind die Optionen, die durch Erwähnung einer Gegenseite entstehen. Mit den feindlichen Bewohnern von Quaris lassen sich gut und böse, Menschlichkeit und Unmenschlichkeit, Chancen und Gefahren kopräsent halten, läßt sich eine einstweilige Ungesichertheit der neuen Inseln hervorheben, die wiederum des Kenners bedarf, um sie in Sicherheit zu überführen: des Admirals selbst. Er hält die Fäden der Verständigung in der Hand. Er kennt die Ängste der friedlichen Indianer wie die Hoffnungen der spanischen Könige. Er steht im Schnittfeld zwischen den Ressourcen der Fremde und der Macht ihrer Verwertung. Es gibt keine Ungeheuer und gibt sie doch – zumindest in der Perspektive der Indigenen. Die Zuschreibung einer Alteritätserfahrung an die neu entdeckten Insulaner entlastet nicht nur den Beweiszwang des auf Selbsterfahrung setzenden Westfahrers. Sie versetzt diesen auch in die Position des Retters, zumal die Monstrosität der Quarisbewohner nicht irgendeine ist: sie besteht in ihrer Menschenfresserei. In antiken wie mittelalterlichen Wunderkatalogen waren die ›anthropophagi‹ mal in Afrika, mal in Skythien situiert. In Mandevilles Reisebeschreibung, die Colón kannte, zogen sich kannibalische Elemente als roter Faden durch die Behandlung der im Osten und Norden auf Inseln lebenden Völker: einmal sind es Halbmenschen, einmal Riesen, die sich von Menschenfleisch ernähren, ein andermal körperlich unauffällige Völker, die in einem rituellen Mahl die eigenen toten Verwandten verzehren. Vorgegeben waren hier auch zwei Aspekte, die etymologisierende Deutungen der Quarisbewohner zuließen: zum einen die Verbindung mit dem Reich des großen Khan, zum andern die Erwähnung der aus dem Altertum bekannten Hundsköpfigen (›cynocephali‹). Colón als Mandeville der Neuen Welt? Unübersehbar ist, wie die Möglichkeit einer Begegnung mit Menschenfressern für ihn sukzessive zur zentralen Sinnfigur wird.3 Sie durchzieht das Tagebuch in einer regelrechten Akkumulation von Traditionen und verschiebt sich von der Phantasie der Inselbewohner auf die Realität des Entdeckers. »Er verstand auch«, heißt es bei Las Casas, »daß es fern von hier [Cuba] Menschen mit nur einem Auge gab und andere mit Hundeschnauzen, die Menschen fraßen, und daß sie, indem sie einen ergriffen, ihn enthaupteten und sein Blut tranken und ihn entmannten.«4 Nach wie vor sind die kulturellen Phantasmen in der Ferne situiert, doch kommt man ihnen zunehmend nahe. Das erlaubt es, Beunruhigung zum Moment rhetorischer Bewegung zu machen, gegenläufig zu den Annehmlichkeiten, die sonst der Neuen Welt zugeordnet werden. Zwischen Paradiesischem und Höllischem oszilliert der Blick und gewinnt genau damit jene

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Abb. 11a/b: Mandevilles Reisen (Diemeringen-Übersetzung), Straßburg 1499.

Abb. 12: Lorenz Fries, Uslegung der Mercarthen, Straßburg 1525, f. XVIr.

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Dynamik, die entscheidend wird für die Entwicklung des Amerikadiskurses und die Stabilisierung einzelner Sinnmuster. Traditionskonform werden die Menschenfresser der Neuen Welt auf Holzschnitten und Karten gelegentlich hundsköpfig dargestellt (Abb. 11/12). Doch geläufiger wird, schon bei Colón, eine andere Vorstellung: die des aggressiven, kriegerischen und unzugänglichen Volkes – der wahre Gegner der Kolonisation, der definitive Fixpunkt bei der Bestimmung der Grenze zwischen Zivilisierten und NichtZivilisierten. Mit ihnen treten genau diejenigen aus dem Arsenal der Wundervölker ins Rampenlicht, die nicht durch körperliche Deformationen gekennzeichnet sind, sondern durch eine soziale Deformation, so extrem, daß sie ihrerseits die Menschlichkeit der Betroffenen, Indianer wie Europäer, in Frage stellt. Sie repräsentieren das nächste und deshalb auf gewisse Weise gefährlichste Fremde. Sie vertreten eine scheinbar kontingente Entartung mit gravierenden Konsequenzen und frappierenden Möglichkeiten. Der Kannibalismus: eine kulturelle Sinnfigur, bar jeder Realität? Die Ethnohistorie, die die Geschichte des karibischen Raums zum Zeitpunkt des Auftretens der Europäer rekonstruiert, geht von Spannungen zwischen den auf Teilen der Großen Antillen lebenden, arawaksprechenden Tainos und den aus dem Nordosten stammenden Kariben aus. Sie stützt sich dabei auf die frühneuzeitlichen Texte selbst und versucht sie von mythischen und phantastischen Elementen zu reinigen: Die Kannibalismusepisoden sind dann »[a]lles nur Schauergeschichten, mit denen die ursprünglichen – und möglicherweise mißverstandenen – Erzählungen ausgeschmückt wurden, die Kolumbus von den Arawak, den Feinden der Kariben, zu Ohren kamen.«5 Die Position, imprägniert vom Diktat politischer Korrektheit, ist ebenso naiv wie die schlichte Kannibalismusgläubigkeit der älteren Völkerkunde, die noch unter dem Bann des kolonialen Diskurses stand. Beide operieren mit einem engen Begriff von Überlieferung: das Dokument, diesseits aller textuellen und kontextuellen Dynamiken, und einem eindimensionalen Begriff des Faktischen: Wirklichkeit als materielle Manifestation körperlicher menschlicher Handlungen. Beide führen zu einer Aporie, an der Ethnologie, Archäologie, Paläoanthropologie und Geschichtswissenschaft gleichermaßen laborieren, wenn sie einerseits versuchen, den Kannibalismus nachzuweisen, andererseits auf seiner Nichtnachweisbarkeit insistieren.6 Analytisch ergiebiger ist der Blick auf die Modalitäten, Logiken und Funktionen der Zuschreibung kannibalischer Praktiken. Um Zuschreibungen an andere handelt es sich meist bei dem modernen Material, das die Ethnologie behandelt. Um Zuschreibungen handelt es sich durchgehend bei den frühneuzeitlichen Berichten: Zuschreibungen an indigene Völker durch die Europäer oder an indigene Völker durch andere indigene Völker im Blickwinkel der Europäer. Charakteristisch ist dabei der beständige Aus-

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tausch zwischen dem Realen und dem Imaginären, d. h. zwischen der Pragmatik kolonialer Prozesse und der Exzentrik kultureller Alterität. Schon bei Colón greifen im gleichen Text Beschreibung von Situationen und Ableitung von Handlungsfolgen ineinander. Im Memorial a Torres von 1494 stellt er den Kannibalismus sogar ins Zentrum eines kolonialen Programms. Doch geht es um weit mehr als nur das Phantasma eines einzelnen. Kaum einer der Texte, die im Kontext der frühen Reisen entstehen, verzichtet auf eine Erwähnung des Kannibalismus.7 Sie alle tragen dazu bei, dessen Kontur diskursiv zu verfestigen – für manche Zeitgenossen bis zum Überdruß. Schon 1516 setzt Thomas Morus sein eigenes Utopiamodell von den gängigen Alteritäten ab: »Die Erwähnung von Monstern unterblieb, da sie längst nichts Neues mehr darstellen. Denn Skyllen und räuberische Celänen, menschenfressende Lästryngonen und ähnliche schreckliche Monster findest du überall [wörtlich: nirgendwo nicht]. Kaum jedoch entdeckst du irgendwo eine vernünftig und weise eingerichtete Gesellschaft.«8 Nicht nur spielt Morus hier mit den zentralen Begriffen des Entdeckungszeitalters (›invenias‹, ›reperias‹). Er vergrößert auch durch die Litotes ›nirgendwo nicht‹ (›nusquam non‹) den Abstand zwischen dem Bekannten und dem Unbekannten und verschiebt ihn zugleich in eine paradoxe Rhetorik: Nur im Nirgendwo (Utopia sollte ursprünglich Nusquama heißen) sei zu finden, was wirklich von der Tradition abweicht.9

Einverleibung und Verrechtlichung Auch in anderer Hinsicht war der Kannibalismus um 1500 nichts ganz und gar Exotisches. Die Chroniken der Zeit bieten immer wieder Notizen über anthropophagische Akte: Ausdruck von Hunger und Verzweiflung, aber auch von Grausamkeit und Unmenschlichkeit – das letztere eine probate Zuschreibung im Falle von Hexen, Juden und Ketzern.10 Doch zeigt Morus’ kritische Abgrenzung: Verschiedene Monstrositäten sind kaum geschieden und sie zu deuten ist das antike Wissen ebenso unentbehrlich wie ungenügend. Deshalb fluktuiert der Ort der Phantasmen im kulturell Imaginären für geraume Zeit, geographisch wie topologisch. Es variieren die Namen: ›Quaris‹ heißt die Insel der Menschenfresser im spanischen Kolumbusbrief, ›Charis‹ im lateinischen, im Tagebuch ist von ›Canima‹ und ›Caniba‹ die Rede, ihre Bewohner werden als ›canibales‹, bei Michele de Cuneo und Amerigo Vespucci aber als ›camballi‹ bezeichnet. Es variieren auch die Korrelationen. Selten tritt der Kannibalismus allein auf. Meist ist er von anderen Elementen der Alterität begleitet. Kannibalismus, Vampirismus und Kastration bilden das Dreieck bei Colón. Es spiegelt nicht einfach die tiefenpsychologischen Ängste der Eroberer, erlaubt vielmehr solche Ängste

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als kulturelle Konfiguration im Diskurs zu produzieren. Betroffen ist die Integrität des Körpers, die für die christliche Vorstellung von Identität traditionell eine wichtige Rolle spielte.11 Es geht um Entdifferenzierungen in anthropologischer, sozialer und geschlechtsspezifischer Hinsicht. Das Essen von Menschenfleisch verwischt die Grenze von Mensch und Tier. Das Abschlagen des Hauptes und Trinken des Blutes macht Menschen zu Opferlämmern archaischer Praxis. Das Abschneiden der Geschlechtsteile greift die sexuelle Differenz an. Die Perhorreszierung dieser Praktiken beruht nicht zuletzt auf dem Umschlag von Metaphern in Realitäten. Metaphern des Eindringens, des Zerreißens, des Verschlingens benutzen die Europäer in ihren Texten, um die Formen der Aneignung der Neuen Welt faßbar zu machen. Nicht Metaphern hingegen, sondern reale Gewaltakte zelebrieren die Indigene – damit zugleich ihr unterlegenes Wirklichkeitsverständnis demonstrierend. Die Entdifferenzierungen erlauben es so auch, eine neue Leitdifferenz zu begründen: zwischen denen, die die Prinzipien der Menschlichkeit achten (die friedlichen Insulaner zählen dazu), und denen, die sie mißachten. Sie werden zu Sündenböcken, in denen sich metonymisch die Unbilden der Neuen Welt konkretisieren, Figuren, an denen sich Praktiken kolonialer Macht und Verfügbarkeit erproben lassen. Ein prägnantes Beispiel liefert der Brief des Michele de Cuneo an Gerolamo Annari über Colóns zweite Reise.12 Er zeigt Kannibalismus und Verstümmelung als Phänomene, die nicht bloß en passant auftauchen, sondern den Aufenthalt in der karibischen Inselwelt bestimmen. Überall stößt man auf Spuren der Camballi in Form gefangener und verstümmelter Indianer. Und immer wieder ist man mit den kriegerischen Menschenfressern selbst konfrontiert. Man behandelt sie nach dem Prinzip der Äquivalenz: wie sie mit ihren Feinden umgehen, geht man auch mit ihnen um. Ein verwundeter Camballo wird aus dem Wasser mit einem Haken an Bord gezogen, »wo wir ihm den Kopf abschnitten.« Andere nimmt man gefangen und schickt sie als Sklaven nach Spanien. Doch passiert den verstümmelten Opfern der Camballi das gleiche; sie dienen als ›Muster‹ für den spanischen König. Differenzen werden also sowohl gesetzt wie überspielt – je nach Funktion und Kontext. Die bestialische Wildheit der Camballi, an den Verstümmelten sichtbar, dokumentiert die Alterität der Inselwelt. Ihre Verwandlung in domestizierte Sklaven manifestiert die Möglichkeit der Kontrolle. Verlassene Orte erlauben schrankenlose Selbstbedienung. Gefangene Indianer fungieren als Lustobjekte. Wir »hatten auch eine sehr schöne Camballin gefangengenommen, die mir der Herr Admiral zum Geschenk machte. Nachdem ich sie mit in meine Kammer genommen hatte und sie nach ihrer Sitte nackt war, bekam ich Lust, mich mit ihr zu ergötzen. Als ich aber mein Gelüste ausführen wollte, wehrte sie sich heftig und zerkratzte mich dermaßen mit ihren Nägeln, daß es mir zunächst lieber gewesen wäre, ich

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hätte mich gar nicht mit ihr eingelassen. Ich nahm dann aber, um Euch das Ende zu erzählen, einen Strick und fesselte sie damit; dabei stieß sie so unerhörte Schreie aus, wie man es kaum glauben möchte. Nachdem es soweit war, büßte ich meine Lust an ihr, und ich kann Euch sagen, daß es sich in diesem Punkte dann so verhielt, als wäre sie in einer Hurenschule angelernt worden.«13 Eine kaum kaschierte Allegorie der Relation der europäischen Mächte zu den neuen Ländern: Schön, sinnlich und lustvoll, aber auch wild und widerspenstig, bedürfen sie der gewaltsamen Zähmung, um den Europäern Annehmlichkeiten verschaffen zu können. Der männlichkeitsstrotzende Conquistadorenstolz transportiert nicht nur die Ambivalenz von Assimilation und Unterwerfung, sondern auch die Suggestionskraft der impliziten Analogie zwischen dem Geschlechterverhältnis einerseits, dem Verhältnis von Kolonialmacht und Untertanen andererseits. Ein berühmtes Blatt, gestochen von Theodor und Philipp Galle (Nova reperta, Amsterdam 1589), wird dies explizit machen: Vespucci begegnet einer nackten, sich aus der Hängematte erhebenden Indianerin; im Hintergrund röstet eine andere Indianerin ein Menschenbein am Spieß über dem Feuer (Abb. 13). Die Erdteilallegorie bietet das Narrativ einer Begegnungserfahrung, deren erotische Komponente zugleich enthüllt und verschoben wird: Banner und Astrolabium

Abb. 13: Theodor Galle nach Stradanus, America, aus Nova reperta (Amsterdam 1589).

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verweisen ebenso auf die Bedingungen der Möglichkeit der Entdeckung wie auf deren unmittelbare Konsequenzen. Atlantiküberquerung und Landnahme sind die Basis, auf der sich ein Kulturkontakt entwickelt, dessen Fruchtbarkeit zu den zentralen Hoffnungen, dessen kannibalische Implikationen zu den herausragenden gegenkulturellen Momenten des kolonialen Diskurses gehörten.14 Die Idee der Fruchtbarkeit durchzieht die Amerikatexte von Anfang an. Immer wieder wird betont, wie rasch und unkompliziert die Geburt von Kindern bei den Indianern vor sich ginge. Immer wieder wird auch die Natürlichkeit des Umgangs mit Körper, Nacktheit und Sexualität hervorgehoben. Der portugiesische Faktoreibeamte Pero Vaz de Caminha, der in seinem Brief an König Manuel (1500) ein idyllisches Bild der brasilianischen Küstenbewohner entwirft, kommt mehr als ein halbes Dutzend Mal auf ihre Geschlechtsteile zu sprechen. Anfangs, als man zwei junge Männer gefangennimmt, heißt es noch knapp und stereotyp, sie würden ihre Genitalien ebenso unbedeckt lassen wie das Gesicht. Später, als man einigen jungen Mädchen mit langen schwarzen Haaren begegnet, ist der sexualisierte Blick ein genauerer: »Ihre Schamteile waren recht hoch, geschlossen und von jedem Haarwuchs befreit, dergestalt, daß wir, obwohl wir sie eingehend betrachteten, keine Scham empfanden.« Schamlosigkeit wird zum positiven Zeichen der sich der indianischen Natürlichkeit anpassenden portugiesischen Seeleute, Scham umgekehrt zum Ausdruck der Distanz von der Schönheit der Natur: ein Mädchen »war so wohlgeformt und so rundlich und ihre Scham (die sie nicht hatte) so wohlgebildet, daß viele Frauen unseres Landes, könnten sie diese Formen sehen, schamrot würden, weil ihre nicht wie die des Mädchens sind.«15 Das Spiel der Worte, die zwischen Körperteilen und Kulturphänomenen hin und her wechseln, versetzt die Leser in die Spannung von Hier und Dort, Anwesenheit und Abwesenheit, Teilhabe und Beobachtung. Zugleich suggeriert es, der männliche Blick sei ein natürlicher, nämlich von der Natur, der wahren, selbst herausgeforderter. Auf der anderen Seite wird das sexuelle Begehren aufgefangen durch die Darstellung christlicher Zeremonien, in denen die indianischen Adamskinder ihre Disposition zur christlichen Religion zeigen. So läßt sich die eine Attraktivität der Neuen Welt mit der andern aufladen; der Kannibalismus spielt hier keine Rolle. Genauso lassen sich aber auch Kannibalismus und ›Sodomie‹ aufeinander beziehen.16 Oder lassen sich unter Absehung der christlichen Dimension anthropophagische und sexuelle Lust zu einem sich wechselseitig steigernden Szenario der Gefahr zusammenfügen: Vespucci beschreibt die Geilheit der Indianerinnen, welche den Penis der Männer mit einer Salbe luststeigernd vergrößern und damit dem späteren Absterben preisgeben würden.17

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Die Fruchtbarkeit der Neuen Welt zwischen Natürlichkeit und Entartung, zwischen Mäßigkeit und Unmäßigkeit, zwischen naiver Neugier und sexuellem Begehren, zwischen distanziertem und affiziertem Blick – das sind einige der Spannungen, die in der Zeit um 1500 erprobt werden. Die erwähnten Hoffnungen befinden sich hier noch im Stadium der Konkretisierung und Stabilisierung. So wie sich mit der Wortform Canibales/Kannibalen auch die Vorstellung verfestigt, so werden die Umgangsformen festgeschrieben durch Akte der Rechtssetzung. Am 30. Oktober des Jahres 1503 unterzeichnete Königin Isabella ein Gesetz, in dem sie die Absicht der spanischen Krone festhielt, die Bewohner der Inseln und des Festlandes dem christlichen Glauben zuzuführen, und gleichzeitig untersagte, Einwohner dieser Länder gefangenzunehmen und nach Europa zu bringen. Doch vor allem ging es um die, die nicht dieser Regel unterliegen: »ein Volk, Kannibalen genannt« (»una gente que se dice Caníbales«). Sie seien nicht nur widerständig und dem christlichen Glauben abgeneigt, sondern auch in beständigem Krieg mit den spanierfreundlichen Indianern, die sie gefangennähmen, »um sie zu essen, wie sie es auch tatsächlich tun« (»para los comer como de fecho los comen«). Sie dürften deshalb, wenn unkooperativ, gefangengenommen und, gegen Entrichtung einer Abgabe an die Krone, mit Profit verkauft werden. Ein Passepartout für die spanische Indianerpolitik: Künftighin wird der Verdacht der Anthropophagie genügen, den Sklavenhandel zu legitimieren. Zugleich eine Kippfigur: entweder Kooperation und Christianisierung oder Gefangennahme und Versklavung – in jedem Fall ziehen mehrere Beteiligte (Conquistadoren, Händler, Staat) Profit aus der Lage. Das Gesetz bringt auf den Punkt, wie nützlich bewegliche Dreieckskonstellationen sein können. Spanier, Indianer, Kannibalen – sie erweisen sich als zugleich verbunden und getrennt, als Gefüge, das eine subtilere Begründung von Macht und Dominanz gestattete.18 Das Gesetz macht öffentlich, was bisher im internen Diskurs der kolonialen Instanzen zirkulierte. Und es steht seinerseits in Austausch mit den Praktiken des kulturell Imaginären, die sich in der gleichen Zeit etablieren. Sie verbinden sich vor allem mit dem Namen des Amerigo Vespucci. Mit Vespucci verändert sich die Position des Kannibalismus. Er betrifft von nun an nicht mehr nur eine Gruppe mehr oder weniger ferner Feinde, sondern potentiell alle Einwohner der Neuen Welt. Und er beschränkt sich nicht mehr nur auf einen speziellen Diskurs, sondern wird zu einem Dispositiv, das, mit Hilfe der Drucktechnik und ihrer Effekte, die Diskurse durchquert. Zunächst einmal werden in den handschriftlichen Briefen der Jahre 1500 und 1501, gerichtet an Lorenzo de’ Medici, aus referierten Aussagen Fakten: die Camballi würden »wie der größte Teil der dortigen Völker, oder alle, von Menschenfleisch leben; und das kann Eure Magnifizenz für gewiß halten.«19 Sodann liest man im häufig gedruckten und übersetzten

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Mundus novus-Brief: »Sie schlachten ihre Gefangenen ab, und die Sieger verspeisen die Besiegten; denn Menschenfleisch ist bei ihnen eine ganz gewöhnliche Nahrung. Man kann das um so eher glauben, als ich gesehen habe, wie ein Mann seine Kinder und seine Frau auffraß. Ich kannte einen Mann, von dem man allgemein annahm, er habe dreihundert Menschen aufgefressen. Einmal war ich siebenundzwanzig Tage in einer Stadt, wo Menschenfleisch an den Häusern hing genauso wie bei uns das Fleisch beim Metzger ausgestellt ist. Sie waren erstaunt, daß wir unsere Feinde nicht aufessen und ihr Fleisch als Nahrungsmittel schätzen; denn es sei, wie sie sagten, sehr gut.«20 Auf die Glaubwürdigkeit des Mitgeteilten hinweisend, hält der Autor zugleich den prekären Status des Kannibalismus präsent, prekär, weil sowohl selbstverständlich wie unerhört, gewöhnlich wie skandalös, greifbar wie ungreifbar. Die Erwähnung des Mannes, der dreihundert Menschen verspeist haben soll, schreibt den Indianern als Auffälligkeit zu, was nur aus europäischer Sicht eine solche ist. Der Text gewinnt selbst jene fluktuierenden Züge, die der Figur des Kannibalismus zu eigen sind. Die Kannibalen sind überall und sind doch alles andere als eine feste Größe: Dabeisein, Hörensagen, Wahrnehmung von Spuren, verschiedene Evidenzen und Perspektiven – sie erzeugen jenes Zentrum des Imaginären der Neuen Welt, an dessen Ausbau portugiesische, französische, deutsche und englische Texte bis hin zu Robinson Crusoe arbeiten werden. Entscheidene Bedeutung besitzt dabei die letztzitierte Wendung Vespuccis: »Sie waren erstaunt ...«. Der momenthafte Wechsel zur Sichtweise der Indianer bezeugt keine Frühform teilnehmender Beobachtung. Aber er spielt mit der Verfremdung des Eigenen. Er ermöglicht einen Alteritätseffekt besonderer Güte: Die Verwunderung, dieses dominante Zeichen europäischer Begegnung mit der Neuen Welt, kehrt sich um und erzeugt genau damit das Staunen angesichts der radikalen Andersheit der Indianer, für die Menschenfleisch an der Stelle des Schweinefleischs steht. Spätere Texte werden immer wieder auf dieses Muster zurückgreifen. Zum Beispiel John Smith, der beschreibt, wie er in der Gefangenschaft der Powhatan Eindruck machte durch Vorzeigen seines elfenbeineren Kompasses (»they marvailed at the playing of the Fly and Needle«) und durch Erklärung der Welt am Beispiel eines kugelförmigen Edelsteins. Er beschreibt »die Rundheit der Erde und der Himmel, die Sphären der Sonne, des Mondes und der Sterne, und wie die Sonne beständig die Nacht rund um die Erde jagt; die Größe der Länder und Gewässer, die Verschiedenenheit der Völker, die Vielfalt der Komplexionen, und wie wir im Verhältnis zu ihnen Antipoden wären; dazu viele andere ähnliche Dinge – sie waren allesamt baff vor Erstaunen.«21 Vespucci geht nicht so weit, die Europäer gleich ihrerseits zu Antipoden zu machen. Doch er konstruiert mit Hilfe eines geometrischen Dreiecks

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eine Beziehung zwischen Alter und Neuer Welt, die es potentiell erlaubt, die Blickrichtung umzukehren. Gleichzeitig aber nimmt er die Alterität wieder zurück, indem er einen Vergleichsrahmen eröffnet, dem Unterschiedliches eingepaßt werden kann. Der Kannibalismus erweist sich dabei als Figur der Übertragung und Gegenübertragung. In ihm kann je nach Bedarf die Andersheit der Andern ausphantasiert, die Grenze der eigenen kulturellen Identität stabilisiert oder die Vermarktung der Indianer garantiert werden. So wie das Kannibalismus-Gesetz von 1503 in den kommenden Jahrzehnten mehrfach erneuert wurde, so wurden die Nuancen verfeinert, die die Realität plausibel machten, auf der jenes zu basieren behauptet. Vespuccis Texte dienten dabei als Relais, an dem koloniale Maßnahmen und imaginative Ausgestaltungen ineinander übergehen konnten. Sie wurden immer wieder aufgelegt. Aus ihnen speiste sich das Amerikawissen der Kosmographien ebenso wie dasjenige illustrierter Flugblätter, auf denen der Kannibalismus, insbesondere der Frauen, eine prominente Rolle einnimmt (Abb. 14). Aussagen der Vespucci-Texte zusammenziehend partizipieren sie an der Autorität des Diskursbegründers, der auf geschickte Weise die Ausführungen zum Kannibalismus mit der Berechnung von Entfernungen und Gestirnkonstellationen sowie der Beschreibung von Fauna und Flora, Menschen und Sitten verbunden hatte.

Abb. 14: Diese figur anzaigt vns, Augsburg 1505/06 (Einblattdruck).

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Der Anspruch auf Systematisierung verlieh auch der Präsentation des Kannibalismus einen wissenschaftlichen Anstrich. Schon in der ersten Dekade des Petrus Martyr, 1493 begonnen, aber erst 1511 publiziert, wurde sie Teil der offiziellen Historiographie. Eines der frühen und wirkungsreichsten Kapitel, das schon 1507 in italienischer und 1508 in deutscher Übersetzung vorlag, bringt Colóns indigene Opposition zur Geltung – als Fama, gebunden an die Perspektive der betroffenen Indianer. Doch innerhalb weniger Sätze verwandelt sich das Hörensagen in eine systematisierende Bestandsaufnahme, bei der die Vermehrung von Details mit einer Vermehrung von Vergleichsmöglichkeiten einhergeht: »Jene gingen auf Menschenraub aus wie Jäger, die in den Wäldern gewaltsam und mit Fallen den jungen Tieren nachstellen. Knaben, die sie fangen, kastrieren sie, so wie wir junge Hühner oder Schweinchen je nach dem zarter oder fetter zum Verspeisen aufziehen. Wenn die so Gemästeten groß und fett geworden sind, fressen jene Wilden sie auf. Menschen in höherem Alter aber, welche ihnen in die Hände fallen, töten und zerlegen sie sogleich. Die inneren Teile sowie Arme und Beine essen sie frisch, die übrigen Stücke pökeln sie ein und heben sie längere Zeit auf, wie wir es mit Schweineschinken tun. Frauen zu verspeisen gilt aber als verboten und schändlich. Wenn sie Jugendliche weiblichen Geschlechts erbeuten, dann ernähren und hüten sie diese zum Kindergebären, wie wir Hennen, Mutterschafe und andere Nutztiere zur Zucht gebrauchen. Alte Frauen aber halten sie als Sklavinnen und nutzen ihre Dienste aus.«22 Aus dem groben Bild der welches Menschenfleisch auch immer essenden Kannibalen ist ein nach Alter, Geschlecht und Körperteilen differenziertes geworden, an dem sich in nuce soziale Strukturen ablesen lassen. Um sie allerdings genauer zu erfassen, brauchte man ein größeres und gleichwohl abgesichertes Wissen. Martyr deutet es an, indem er im Brief an Pomponius Laetus (5. Dezember 1494), sein Kannibalenkapitel überarbeitend, die Verbindung herstellt zu den aus der Odyssee bekannten Laestryngonen »vom Schlage eines Polyphem«. Doch dient das Stichwort nur als ›Appetitanreger‹ für den Humanistenfreund.23 Der Schwerpunkt liegt auf der Schilderung der Kannibalen der Neuen Welt, die ereignisgeschichtlich dramatisiert wird. Dieser Verknüpfung von zunehmend ausführlicher Beschreibung und persönlicher Nähe wird die Zukunft gehören. Auch hier bildet Vespucci das Paradigma. Anders als Colón und Cuneo ist der, der im Mundus novus-Brief erscheint, ein Augenzeuge des Kannibalismus und damit selbst ein prekäres Subjekt: einerseits sich scheinbar selbstverständlich zwischen den Indianern bewegend, andererseits die Neue Welt aus der Distanz geometrisch und kosmographisch verortend, einerseits Elemente dieser Welt mit solchen der Alten Welt vergleichend, andererseits die Unvergleichlichkeit heraushebend. Die Präsenz des Subjekts im Text ist unter-

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schiedlich: stark, wenn es um Fragen der Seefahrt und Berechnung geht, ausgeprägt, wenn es sich um den Kannibalismus handelt, schwach oder kaum vorhanden, wenn die sonstigen Gegebenheiten von Land und Leuten beschrieben werden. Auch in dieser Hinsicht ist der Kannibalismus eine Figur des Übergangs, eine phantasmatische Größe zwischen Affizierung und Distanzierung. In seinen Quattuor navigationes bringt Vespucci dies auf den Punkt. Man befindet sich vor einer Insel, von einem kriegerischen Volk bewohnt, und schickt zwei Kameraden zur Erkundung voran. Die beiden werden von Indianerinnen umgarnt, dann aber hinterrücks erschlagen und verspeist – wie auf einer Bühne vor der Augen der Schiffsbesatzung, die angesichts der indianischen Übermacht am Eingreifen gehindert ist.24 Ein voyeuristisches Trauma: der schmerzvolle Blick auf das Zugrundegehen in der Neuen Welt. Zugleich eine diskursive Chance: die Produktion einer neuen Authentizität durch persönliche Nähe. Und eine kulturelle Transformation: die Umdeutung der für das christliche Abendland zentralen Opferthematik auf das überseeische Heilsgeschehen. Vespuccis Texte boten insofern nicht nur Anstöße für die Entwicklung eines vielfarbigen Bildes des Kannibalismus. Sie etablierten auch die Idee einer unmittelbaren Gefährdung der europäischen Subjekte wie einer neuen Form der Partizipation. Beides erfuhr bei Hans Staden eine schwer überbietbare Entfaltung.

Im Zentrum des Rituals Stadens Brasilienreisebericht fungierte im Bewußtsein der Zeit als Repräsentation des Kannibalismus par excellence. Im Meßkatalog des Frankfurter Buchhändlers Michel Harder (1569) wird er einfach unter dem Titel Menschenfresser geführt.25 Doch hat der Kannibalismus in ihm zwei Gesichter. Das eine entspricht dem, was man von älteren Texten kennt: Praktiken, en passant erwähnt, die das Essen von Menschenfleisch als selbstverständlich und genußvoll erweisen. Sinnbildlicher Ausdruck dafür: die in einem Korb wochenlang im Rauch hängenden oder auf Rosten schmorenden menschlichen Körperteile – eine bis in die Kosmographien und Weltkarten hinein wirksame Abbreviatur des Kannibalismus. Das andere Gesicht ist ein neues, in Großaufnahme gezeigt, detailreich und vielfältig. Mit der Gefangenschaft gerät nicht nur der Protagonist, sondern auch der Text in den Bann des Kannibalismus. Als Drohung begleitet er den Aufenthalt bei den Tupinambá. Und obschon der Deutsche der Gefahr entkommt, erlebt er doch den Tod anderer Gefangener mit. Ein Maracaiá, ein Carijó, schließlich mehrere Portugiesen, sie werden verspeist, ohne daß der Deutsche anderes tun könnte, als sie zu trösten und ihre Hoffnung zu nähren. Genau dies ermöglicht

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den Balanceakt zwischen Teilhabe und Distanz, den der Text ins Werk setzt. Mit dem Schwinden der Gefährdung und der Vergrößerung des Bewegungsspielraums wächst die Beweglichkeit der Beobachtung ebenso wie die Möglichkeit der Kritik. Die Holzschnitte fangen dies ein. Zunächst zeigen sie in weiter Totale das Dorf und mehrere Einzelszenen, bezogen auf den Deutschen, der, kenntlich an seinem Bart, das Opfer darstellt: von den Frauen herumgetrieben, geschoren, verspottet, zum Tanz geführt (Abb. 15). Sodann leitet ein Einzelbild der Ibira-pema, der Ritualkeule, zu Darstellungen über, die den Betrachter näher an das Geschehen heranführen und eine Identifikation mit der Perspektive des Protagonisten (der nicht mehr auf dem Bild erscheint) nahelegen: das kannibalische Mahl sowie einzelne Momente des Rituals (Bemalen des Gesichts des Opfers und der Keule, Tanz, Zubereitung von Getränken, Totschlag des Opfers, Zerteilen des Leichnams, Verzehr der Eingeweidesuppe Mingáu). Schließlich sieht man, wie die Tupinambá den Kopf des Toten in einem Kessel kochen und der Protagonist, durch Initialen gekennzeichnet, ihnen zur Seite tritt – betend, nicht mehr als Opfer, sondern als der indianischen Welt zugleich zugehöriger und nicht-zugehöriger Vertreter der Christenheit (Abb. 16). Anders als die älteren Texte präsentiert die Historia den Kannibalismus nicht als perverse Form der Ernährung oder extremen Akt barbarischer Grausamkeit. Sie situiert ihn im Rahmen eines Systems von Rache und Vergeltung und konzentriert sich auf seine innere Logik: eine rituelle Logik, darauf basierend, die Gefangenen nicht einfach zu zerstückeln und zu verspeisen (wie es bei Vespucci den Anschein hatte), sondern zunächst ansatzweise in den Stamm zu integrieren und schließlich total zu absorbieren. Was Ausdruck der Bestialität war, erscheint nun als Ausdruck kultureller Praktiken. Sie umfassen unzählige Details, angefangen mit dem Bekleben und Bemalen der Opferkeule, endend mit der Abwehrmagie des Totschlägers, der nach der Tat einen Tag lang mit einem kleinen Bogen auf Wachsfiguren schießen muß, damit ihm die Arme vom »schrecken des todtschlagens« nicht lahm werden. Die Konsequenz dieses nuancierten Blicks: der Kannibalismus wird zur Unumstößlichkeit. Zwar wehrt sich der Protagonist in der dargestellten Welt gegen den selbstverständlichen Genuß von Menschenfleisch seitens der Tupinambá. Doch seine Argumentation schlägt nicht durch. Einmal wird er von Konyan Bebe aufgefordert, sich ein Menschenbein aus dem Fleischkorb zu nehmen. »Ich antwortete: ›Ein unvernünftiges Tier frißt kaum das andere, und ein Mensch sollte einen anderen fressen?‹ Da biß er hinein und sagte: ›Jau ware sche. Ich bin ein Tiger. Es schmeckt gut.‹ Damit ging ich von ihm fort.« (I 43)26 Der Kannibalismus rückt in die Nähe des Animalischen, doch die räumliche Distanznahme löscht seine Eigenlo-

Im Zentrum des Rituals

Abb. 15/16: Hans Staden, Warhaftige Historia, Marburg 1557, s iiiv, t iiijv.

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gik nicht aus. Der Protagonist verstummt. Das letzte Wort im Dialog hat der Tupinambá. Der Erzähler erzeugt eine Ellipse, die das Befremdliche als solches markiert. Er verzichtet nicht nur auf Aussagen, die den Kannibalismus eindeutig als verdammenswert oder abscheulich kennzeichnen. Er verzichtet auch auf Vergleiche, die europäische und indigene Praktiken in Verbindung bringen. Der Kannibalismus wird so zu einem Fluchtpunkt sowohl für die Konstitution des Subjekts wie des Textes. Der lapidare Abschlußsatz »Dies alles habe ich gesehen und bin dabei gewesen« (II 29) macht sichtbar: Die systematisierende Beschreibung ist nicht zu trennen von der subjektiven Wahrnehmung. Mit dem Wort Ich beginnt Stadens Text, und dieses Ich bleibt den ganzen Text über präsent. Es ist Garant von Wahrheit und gleichzeitig Garant jener Fremdheit, die durch den Verzicht auf Kommentare und Vergleiche, Moralisierungen und Generalisierungen elaboriert wird. Alterität, Authentizität und Subjektivität begründen sich wechselseitig – eben weil die Vergegenwärtigung der fremden Kultur auch Vergegenwärtigung der temporären Entfremdung von der eigenen ist. Die Inkorporation der Anderen wiederum, die an den Tupinambá vorgeführt wird, markiert jene Grenze, an die das erlebende Subjekt gelangt ist und von der her nun das berichtende die Repräsentation der Anderen im Text mit einer bis dahin undenkbaren Aura von Alterität und Authentizität versieht. Das Überleben ist nicht nur Bedingung der Möglichkeit des Textes. Es ist auch Bedingung der Möglichkeit, das überlebende Subjekt mit der brasilianischen Eigenwirklichkeit zu infizieren und zugleich das literarische Produkt mit der Energie des Fremden aufzuladen. Der Kannibalismus fungiert als Figur, die den in der Absorption drohenden Verlust von sozialer Identität und körperlicher Integrität in einen emphatischen Gewinn von Bedeutung verwandelt: Bedeutung im Sinne vielfältiger Bezeichnungs- und Anschlußmöglichkeiten. Die Logik der Rache, die als Charakteristikum des Kannibalismus erscheint, ist eine, die sowohl auf fortwährendem Austausch basiert wie diesen garantiert. Man bezieht seine Stärke aus der Stärke eines Gegners, der zeitweise dem eigenen Stamm sozial ›einverleibt‹ werden kann und dessen Opfer die Dynamik der sozialen Beziehungen nach außen wie innen ›nährt‹. Der Gefangene substituiert den von ihm Getöteten und schließt die im Stamm entstandene Lücke. Genau dieses Ineinandergreifen von Substitution und Zirkulation bedingt aber auch die durchaus heterogenen Sinndimensionen des Kannibalismus: als Ausdruck des Horrors ebenso wie der Intensität. In Stadens Text geht es noch kaum explizit um das, was in späteren Kannibalismusdarstellungen eine Rolle spielen wird: die Übertragung von Kraftpotentialen durch die Inkorporation des Gegners. Doch es geht um das fragile Verhältnis von Gewalt und Kultur, eingefangen in einem Symbolkomplex an der Grenze von Realem (Ernährung) und Imaginärem (Re-

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de, Spiel, Verhandlung). Der Kannibalismus ist so auch eine Figur der Präsenz par excellence: körperbezogen, verdichtet, exzessiv, beweglich und sinnträchtig, aber auch fragil, angefochten, fragwürdig und von Stereotypisierung bedroht. Das erklärt seine Bedeutung in Texten, die auf Präsenzeffekte angewiesen sind, und erklärt seine Bedeutung in der Historia, die diese Effekte bündelt in einer alle bisherigen Formen der Intensivierung übertreffenden Rhetorik der Alterität. Zu den Anschlußmöglichkeiten des Kannibalismus gehören in erster Linie die Geschlechterbeziehungen. Schon am Beispiel Vespuccis habe ich darauf hingewiesen. Generell sind die Opfer in den frühneuzeitlichen Texten durchweg Männer – Bedingung der Möglichkeit, jene prekäre Relation zwischen dem handelnden/schreibenden Subjekt und der fremden Welt zu etablieren, die das kulturell Imaginäre inspirierte. Die Rolle der Frauen ist diejenige der Täter und Konsumenten.27 Immer wieder ist davon die Rede, wie über die Maßen gerne sie Menschenfleisch äßen. In der Historia sind sie namenlos, doch zentrale Akteure mit wichtigen Aufgaben. Sie hänseln und verspotten die Gefangenen und führen ihnen ihr künftiges Los gestisch vor Augen führen. Sie präparieren schließlich die Toten, laufen mit deren abgeschnittenen Gliedmaßen um die Hütten und »machen eyn groß geschrey von freuden« (II 29, S. 186). Diesen gefährlich lustvollen Wesen ist auch der Deutsche nach seiner Gefangennahme ausgesetzt. Als er von ihnen zum Tanz geführt wird, kann er die ungewisse Gefahr für Leib und Leben nur unter Zuhilfenahme abendländischer religiöser Sinnmuster kompensieren.28 Die Möglichkeit, sexuelle Beziehungen zu den indigenen Frauen aufzunehmen, bleibt, wie erwähnt, ausgespart. So vermeidet die Historia es, die Stabilität des Ich, eines schreibenden wie erlebenden, direkt zu gefährden, und macht gleichwohl aus der Nähe sichtbar, worin die Gefährdung liegt: in einer Einverleibung, die nicht nur den materiellen Körper, sondern auch die soziale Existenz betrifft. Anthropophagie und Erotik sind durch ein Band verbunden, das Angst und Lust, Angst des grausamen Selbstverlusts und Lust der ungezwungenen Triebbefriedigung, aneinander kettet. Das ist nicht nur eine Metapher: Ein Holzschnitt stellt dar, wie der Gefangene mit einem Strick, geschlungen um seine Hüften und sein Geschlechtsteil, von den Männern gehalten wird, während die Frauen ihn verspotten (Abb. 17).29 Das kannibalische Szenario gründet auf einem Begehren des Anderen im mehrfachen Sinne: Begehren von Rache seitens der Männer, von Männerfleisch seitens der Frauen, Begehren des Überspielens wie Übertreibens von Andersheit, die wiederum der Text für seine eigene Konstruktion von Andersheit nutzt. Die beiden Facetten des Kannibalismus können sich ineinander schieben, sie können sich aber auch voneinander absetzen – wie bei Jean de Léry, der die weiblichen Akteure eher marginalisiert und sie in einem späteren Zusatz zu sei-

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nem Brasilienbericht, beeinflußt von der zeitgenössischen Dämonologie, sogar den europäischen Hexen zur Seite stellt, beide vom »gleichen satanischen Geist geleitet«.30 Es begegnet hier jene Ambivalenz, die in der zeitgenössischen Druckgraphik auf die Spitze getrieben wird, wenn die Weckung von sinnlicher Lust und intellektueller Neugier mit deren Stigmatisierung durch moralische oder heilsgeschichtliche Subtexte Hand in Hand geht.31 In jedem Fall zielt die Engführung von Traumhaftem und Alptraumhaftem auf die Steigerung von Intensität, die ihrerseits die moralischen oder heilsgeschichtlichen Dimensionen überschreiten muß. Es entstehen Kippfiguren, die, auf die Neue Welt übertragen, eine zusätzliche Dynamik gewinnen, weil diese selbst als Kippfigur – Erweiterung, Ursprung oder Gegenbild der Alten Welt – begriffen werden kann.

Abb. 17: Hans Staden, Warhaftige Historia, Marburg 1557, t iiir.

Eine Kippfigur ist auch das kannibalische Ritual bei Staden. Nicht nur weil es die Umschaltung zwischen nicht-europäischen und europäischen Praktiken bewerkstelligt. Auch weil es in seinem Charakter zwiegesichtig ist. Wie für viele Rituale gilt auch hier: Die Vorstellung eines mechanisch-rigoros, mit heiligem Ernst zu wiederholenden Ablaufs führt in die Irre. Vielmehr enthält das Ritual auch spielerische, theatralische Züge, die es nicht bloß als Wiederholung, sondern als Inszenierung von sozial Verbindlichem erscheinen lassen. Das Spiel mit den Gefangenen, die Gesten der Frauen, das

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wechselseitige Verspotten, die ›Aufzucht‹ von mit Gefangenen gezeugten Kindern – dies und vieles mehr besitzt den Status einer Als-ob-Handlung, die doch nicht nur ästhetischem Wohlgefallen dient. Der kannibalische Akt ist mimetisch in doppelter Hinsicht: Er imitiert vorangegangene Akte, und er macht die Beteiligten zu Akteuren, die verbal oder gestisch vorwegnehmen, was sich faktisch ereignen wird. Er bietet damit ein Paradigma, an dem der Text seine eigenen mimetischen Qualitäten entfalten und von dem er diese zugleich absetzen kann. In de Brys Version der Historia im Rahmen seiner Sammlung von Reiseberichten wird sich das theatralische Moment in den Kupferstichen noch deutlicher niederschlagen: Bühnenräume mit Vordergrund und Hintergrund, mit Dekor und Requisiten, mit sowohl plastischen wie statischen Figuren (Abb. 18). Die Prägnanz der Körper geht einher mit deren Abstraktheit. Kein Blut, kein Aufschrei, keine Dynamik. So wie sich die Sammlung als Theatrum mundi darbietet, so bietet sich das kannibalische Szenario als Exzeß einer im Gestus erstarrten Welt dar.32

Abb. 18: Dritte Buch Americae, Frankfurt/M. 1593 (de Bry-Ausgabe von Staden), S. 48.

Singularitäten Der Kannibalismus offerierte den frühneuzeitlichen Autoren Herausforderungen sowohl für die Steigerung von Präsenz wie die Systematisierung der Fremde. Bei ihm zu verweilen, ihn detailliert zu beschreiben, ermöglichte, das Unerhörte gegenwärtig zu machen und zugleich den systemischen Anspruch der Beschreibung am Extremen zu bewähren. In diesem Sinne wurde der Kannibalismus Teil eines Amerikadiskurses, der im Laufe des

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16. Jahrhunderts das Bestreben um geordnete Darstellung der überseeischen Welten forcierte und auch die Reiseberichte auf die Darbietung strukturierter, verwendbarer Informationen verpflichtete. Aus den Bestandsaufnahmen der brasilianischen Kultur ist er in der Folgezeit nicht mehr wegzudenken. André Thevet und Jean de Léry, die sich etwa zur gleichen Zeit wie Staden im gleichen Raum, im Umkreis der Bucht von Rio de Janeiro, aufhielten, widmen ihm eigene Kapitel, in denen viele Details mit Staden übereinstimmen. Man kann das ebenso als Beweis für die Realität des Kannibalismus wie als Zeichen für textuelle Abhängigkeiten verstehen. In jedem Fall zeugt es von einer bestimmten Konstellation, in der sich eine neue Sicht auf die Neue Welt entwickelte: die Sicht auf ein Sinngefüge, das weder einfach als abartig noch als paradiesisch begriffen wird, auf ein Terrain, das nicht mehr nur als Ort der Ausbeutung, sondern als potentieller Lebensraum der Europäer interessiert. Im Jahr 1555 war eine Expedition unter der Leitung des Vizeadmirals Nicolas Durand de Villegagnon nach Brasilien aufgebrochen, um die Bedingungen zu klären für die Gründung einer französischen Kolonie.33 Brasilien war zugleich Traumland und Güterlieferant, Raum der Erinnerung (an europäische Ursprünge) und Bühne für politisch-konfessionelles Handeln. Eine gleichermaßen existierende und utopische Welt, fremd, aber zugänglich, unzivilisiert, aber ursprünglich, irritierend, aber anschlußfähig. Eine Welt, in der beides möglich schien: sich dem Fremden auszuliefern und es zu kontrollieren. Eine Welt, die die Neugierde des exterritorialisierten Europäers nährte und zugleich die theoria, die reflektierende Betrachtung, stimulierte. Eine Welt, in der die Reisenden wie in einem Laboratorium den Prozeß der Genese von Kultur zu beobachten meinten. Brasilien lieferte Stoff für Imaginationen, für Exotismen, die zur eigenen Mode wurde – selbst im Bereich der devotionalen Praxis: Auf dem Lederrücken des Prachtexemplars eines 1551 gedruckten Stundenbuchs (Les heures à l’usage de Paris) sind Köpfe brasilianischer Indianer, mit stereotypem Federschmuck versehen, eingestanzt.34 So wurde auch der brasilianische Kannibalismus seit der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts folgenreicher für die europäische Imagination als beispielsweise der aztekische, den viele spanische Chroniken erwähnen. Er besaß den Vorteil einer überschaubaren Komplexität, während jener nur im Kontext eines ausgefeilten theologischen, kosmologischen und anthropologischen Systems zu verstehen war. Er war anschlußfähig und zugleich abstraktionsfördernd: Fragen nach dem Verhältnis von Eigenem und Fremdem, von Kultur und Natur konnten an ihm ebenso diskutiert werden wie Probleme der Präsenz und der Repräsentation. Zu denen, die an der Fahrt Villegagnons teilnahmen, gehörte der Franziskaner André Thevet, ein orienterfahrener Reiseberichterstatter, der mehr

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der Geographie und Kosmographie als der Mission zugetan war. Zwischen November 1555 und Januar 1556 weilte er in Brasilien, meist wegen Krankheit auf dem französischen Schiff. Informationen erhielt er von sog. ›truchements‹ (von arab. ›turjaman‹, ›Vermittler‹), in Brasilien lebenden Normannen, die als Dolmetscher dienten. Auf der Basis dieses Materials veröffentlichte er nicht lange nach der Rückkehr und ein knappes Jahr nach Staden eine Beschreibung des Landes von bis dahin unbekannter Ausführlichkeit: Les singularites de la France antarctique, autrement nommée Ameriques, et de plusieurs Terres & Isles (Paris 1557/58).35 Das Interesse gilt, wie schon der Titel sagt, den Singularitäten, der Kannibalismus ist eine von ihnen. Besonderes, Einmaliges, Wundersames will Thevet zusammentragen, und dies, indem er wie Staden dem Lauf der Reise folgt. Die Reise ist hier aber eine, die von vornherein auf das Imaginäre setzt. Thevet beschränkt sich nicht auf die Überfahrt nach und von Brasilien, integriert vielmehr auch Peru, Florida und Canada in eine die ganze Neue Welt umspannende Route. Für einen systematischen Teil, der den narrativen ergänzen würde, ist in diesem Modell kein Platz. Alles, was die einzelnen Kapitel an Information ausbreiten, hat seinen Ort in bezug auf die topologische Ordnung, die dadurch zugleich an die Grenzen der Leistungsfähigkeit gerät. Immer wieder muß an die Bewegung des Reisens erinnert werden, die in der Fülle des Materials unterzugehen droht. Thevet bekennt sich explizit zu seinem Vorgehen und setzt es ab von einem stärker systematischen, einer »plus certaine methode«.36 Sein Angebot ist, den Leser von einem Punkt zum andern zu führen, von einem Ort zum andern, vom Anfang bis zum Ende, »droit, comme auec le fil de Thesée«.37 Die Welt als Labyrinth, der Kosmograph als Führer, der den Ariadnefaden in der Hand hält – das ist Thevets zentrale Phantasie. In den Singularités soll nicht die Ordnung des Textes die der Natur einfach abbilden, vielmehr die Bewegung des Autors sich in der des Lesers wiederholen. Es ist eine Bewegung des Sprunges: des Hin und Her zwischen Menschen, Tieren und Bäumen, zwischen Detail und Ensemble, zwischen Einzelnem und Allgemeinem. Vom Fluß Ganabara, an dessen Mündung das französische Inselfort liegt, kommt Thevet auf einen spektakulären Fisch, und von diesem wiederum auf Amerika im allgemeinen. Das bietet Gelegenheit, das Urteil des Vespucci zu wiederholen, die Indianer würden wie vernunftlose Tiere leben »sans foy, sans loy, sans religion, sans ciuilité«, und bietet zugleich Gelegenheit, dem christlichen Schöpfergott zu danken, daß er die Seinen nicht im brutalen Naturzustand der »pauures Ameriques« gelassen hat. Dann geht der Blick auf die Fruchtbarkeit des Landes und die Möglichkeiten, dieses zu kultivieren.38 Thevet will wissenschaftlich gestützte Wahrheit, aber keine stringent wissenschaftliche Methode. Er weiß, daß der wahre Kosmograph seine Anga-

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ben zu Orten und Abständen durch exakte Koordinaten zu belegen hätte, verweist den Leser diesbezüglich aber einfach auf Ptolemäus.39 Er polemisiert gegen die Tradition der Wunder des Ostens, die sogar noch von gegenwärtigen Autoren »sans iugement, sans raison & sans experience« beschrieben würden, und zweifelt doch selber nicht an der Existenz des durch den Blick tötenden Basilisken, dessen Fell er in den Händen eines Arabers in Kairo gesehen habe und dessen Eigenheiten durch Lukan und Plinius bezeugt würden.40 Kritik an der Überlieferung wird zum Gestus, um den Anspruch des eigenen Textes zu erhöhen – ein Verfahren typisch für die Naturgeschichte der Zeit.41 Thevets Projekt ist ein hybrides. Es resultiert aus einer rastlosen Sammeltätigkeit, einem nie ermüdenden Interesse am Kuriosen. Zwar begegnet auch hier, im Blick auf die Magie, Reserviertheit gegen eine falsche ›curiositas‹, die in die Geheimnisse der Natur einzudringen versuche.42 Doch an der grundsätzlich positiven Bedeutung der ›curiositas‹ besteht kein Zweifel. Sie gilt als Antriebsmoment einer entweder auf Erkenntnisgewinn oder Besitzerwerb gerichteten Bewegung, die ein sorgenfreies Leben ermöglichen soll.43 Thevet hat denn auch keine Bedenken, sich selbst als einen ›curiosus‹ darzustellen, unablässig auf der Suche nach Ausgefallenem, Fremdem, Neuem: »Um von seltenen und außergewöhnlichen Dingen Kenntnis zu erlangen«, schreibt er rückblickend in der Cosmographie universelle, »scheut der Neugierige, wie ich einer war, keine Mühe und keinen Ärger, denn seine spätere Zufriedenheit macht ihn alle frühere Mühe vergessen«.44 Der Franzose sammelt Informationen aller Art. Er verzeichnet einige Zeilen eines Rachegesanges und bietet als erster europäischer Autor zwei Versionen des Ursprungsmythos vom großen Feuer und der großen Sintflut, der bei den Tupi-Völkern weitverbreitet war.45 Doch er sammelt nicht nur das, was er hört, sondern auch das, was er als materielles Objekt, als kostbares Artefakt mitnehmen kann: einen Tukan und ein Penisfuteral, Vogelbälger, Steine, Schmuck, Waffen, exotische Früchte und vieles mehr. Sie gehen in das Cabinet des curiosités des französischen Königs ein, eine Vorstufe des späteren Musée de l’Homme.46 Im Text führt Thevet die Leser durch seine Kollektionen, stolz auf das Zusammengetragene und wenig gewillt, an etwas vorüberzugehen, was auch nur einen Hauch von Besonderheit, von Absurdität oder Monstrosität ausstrahlt. Beständig schwankt er zwischen Totalität und Singularität. Er partialisiert die fremde Kultur und versucht doch, mit ihren isolierten Fragmenten ein Ganzes zu repräsentieren – ein Ganzes, in dessen (imaginärem) Zentrum die Figur des Autors steht, der die Fäden in der Hand hält. Obschon überwiegend aus zweiter Hand berichtend, als auktoriales Ich, nicht aber als Handelnder im Text vorkommend,

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betont Thevet nichtsdestotrotz an allen Ecken und Enden – kaum weniger als Staden – das Moment eigener Erfahrung. Sie konnte dem Ungeheuerlichen, das die Singularités zu bieten versprachen, Authentizität verleihen. Sie konnte aber nicht allein schon jene Dignität garantieren, an der dem Sammler gelegen war. So beschäftigte er den Hellenisten Maturin Héret, um den jeweiligen Sachverhalten aus der Neuen Welt Parallelen aus der Alten zur Seite zu stellen.47 Erst indem sich das neue Wissensfeld in den humanistischen Kanon integriert, erhebt sich die Beschäftigung mit dem ›antarktischen‹ Frankreich in den Rang einer Wissenschaft. Doch eben dadurch vermehren sich auch ihre Ambivalenzen. Hérets Arbeit, die vor allem darin bestand, Plinius und Polydor Vergil auszuschlachten, verleiht dem Text eine eigentümliche Zwitterstellung zwischen »traite d’éthnographie américaine« und »manuel d’archéologie européenne«.48 Und sie führt zu einem Nebeneinander von Aussagen, die die Neuheit und Besonderheit der überseeischen Welt betonen, und solchen, die sie im Kulturvergleich relativieren. Der Rachekannibalismus der Tupinambá erscheint in diesem Sinne als einzigartig in seiner »excessive cruauté« und wird doch verglichen mit der ganz anderen, ihrerseits berühmten Situation des Hungerkannibalismus, von der Flavius Josephus berichtet: Die israelitischen Mütter hätten bei der Belagerung durch die Römer ihre eigenen Kinder getötet und gegessen. Es folgt der lapidare Satz: »Et les Anthropophages, qui sont peuples de Scythie, vivent de chair humaine comme ceux-ci« (S. 163). Als Wunderkammer, als Kuriositätenkabinett, das die Welt einfängt, muß das enzyklopädische Unternehmen auf das Singuläre setzen, muß es sich aber auch, gebunden an die eigenen Prinzipien, immer wieder der Konkurrenz des Ähnlichen und Vergleichbaren aussetzen. Überdies muß es tendenziell infiniten Charakter annehmen. So wie der Sammler des Wunderbaren nie zum Ende kommt, so kommt der Kosmograph, der die Welt zugleich en gros und en détail erfassen will, nie an ein Ziel. Thevet integriert seinen Brasilienbericht in überarbeiteter und ergänzter Form in seine Cosmographie universelle (1575) und hinterläßt bei seinem Tod (1592) Manuskripte, welche die Beschreibung erneut erweitern oder in einem monumentalen Kartenwerk fortsetzen.49 Diese Texte arbeiten auch an der Darstellung des Kannibalismus beständig weiter, immer neue Details kommen dazu. Ausführlich widmet sich die Cosmographie dem Leben der Gefangenen innerhalb des Stammes und ihrer Rolle als Substitute der (von ihnen) Getöteten. Auch reflektiert sie die Begrifflichkeit: Gegenüber der ubiquitären Rede von den Kannibalen der Neuen Welt, die Thevet bei den Spaniern bemerkt, beschränkt er den Begriff auf die eigentlichen »Carybes, ou Caraibes, lesquels se tiennent le long de ce promontoire [St. Augustin] et Isles voisines«.50 Auf das Nebeneinander von Exokannibalismus und Endo-

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kannibalismus, den Verzehr nicht nur von Gegnern, sondern auch von Angehörigen, geht die Histoire de deux voyages aux Indes Australes et Occidentales (1587/88) ein.51 Die Vereinzelung des kulturell Bedeutsamen, die sich nicht nur im Falle des Kannibalismus vollzieht, berührt sich mit manchem Reisebericht, der vor allem das Sensationsträchtige ins Zentrum stellt. Doch sie entbehrt der narrativen Kohärenz, die der Reisebericht auf der Basis teilnehmender Beobachtung, sei diese auch fingiert, herstellt. Sie findet andererseits nicht zu einer systematischen Kohärenz, die sich aus der Durchdringung und nicht nur Sammlung des Materials ergäbe. Die Singularités stehen vor dem Horizont enzyklopädischer Werke, die Mensch und Natur klassifizieren und in diesen Jahren, gerade im französischsprachigen Raum, wie Pilze aus dem Boden schießen. Doch sie machen keinen Versuch, sich in diesen Horizont einzureihen. Sie verwenden Praktiken, die auch der zeitgenössischen Naturgeschichte vertraut sind, insofern diese nach wie vor inhomogene Klassifikationssysteme einsetzt, das Paradigma der Grammatik, der loci communes hochhält und Rationalität nicht selten auf die Abwägung von Autoritätsmeinungen beschränkt.52 Doch mit dem Verzicht auf den Versuch sachlicher Ordnung gehen sie ihren eigenen Weg – was die Enzyklopädisten nicht daran gehindert hat, Material aus dem Werk in die Naturgeschichte aufzunehmen. Das in Patagonien situierte Tier Su, eine »bête fort ravissante, faite d’une façon fort etrange« (cap. 56; Abb. 19) brachte es als das »allerscheußlichste« Tier bis auf das Titelblatt von Conrad Gesners Thierbuch (1568).

Abb. 19: André Thevet, Singularités, Paris 1557, S. 109 (Ejr) .

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Sehnsüchte Thevet blieb nicht unangefochten. Er wurde von Héret, der sich als eigentlicher Autor der Singularités ansah, in einen Prozeß verwickelt und mußte fast sein ganzes Honorar abgeben. Und er wurde aufs schärfste angegriffen von einem anderen Brasilienreisenden, der den Franziskaner in religiösen Dingen für einen Windbeutel hielt, in darstellerischen für unfähig, Sachverhalte »par ordre« abzuhandeln, in grundsätzlichen für einen Verräter am Prinzip des wahrheitsgetreuen, auf Augenschein basierenden Berichts. Jean de Léry, der Calvinist, von dem diese Kritik stammt, hielt sich ein Jahr nach Thevet in Brasilien auf, konnte aber aufgrund widriger Umstände seinen nach der Rückkehr abgefaßten Reisebericht zunächst nicht publizieren. Das Erscheinen der Cosmographie universelle (1575) wird ihm zum Anlaß, nunmehr seine eigene Histoire d’un voyage faict en la terre du Bresil (1578) vorzulegen.53 Histoire anstelle von Cosmographie oder von Singularités – schon der Titel zeigt die Differenz zwischen den Werken, zeigt den Anspruch auf Wahrheit und Authentizität anstelle von Universalität und Sensation. Gleichwohl ist dasjenige Lérys kaum ohne diejenigen Thevets denkbar. Trotz aller Polemik stützt sich Léry allenthalben auf den Vorgänger. Auch war er seinerseits, wie die Erweiterungen der Histoire von Auflage zu Auflage zeigen, gegen das additive Prinzip nicht gefeit. Doch seine Bemühung ist es, die Materialsammlung Thevets in eine narrative und systematische Ordnung zu bringen. Das Ergebnis ähnelt der Historia Hans Stadens, obschon die Konstellationen sich unterscheiden. Léry kam nicht wie Staden ungewollt nach Brasilien. Er machte sich auf den Weg zum Ganabara im Gefolge einer Gruppe reformatorisch gesonnener Geistlicher, die im Auftrag Villegagnons die theologische Fundierung der zunächst vor allem aus Kriminellen bestehenden französischen Kolonie vorantreiben sollte. Seine Motivation bezeichnet er selbst als doppelte: gewillt, dem Ruhm Gottes zu dienen, war er zugleich »curieux de voir ce monde nouveau« (S. 112). Seine ›curiositas‹ fand ihr besonderes Objekt, als er, nachdem er sich mit Villegagnon überworfen hatte, einige Monate abseits des französischen Inselforts in engem Kontakt mit der indianischen Kultur verbrachte (November 1557 bis Januar 1558). Was für Staden die Gefangenschaft, wurde für Léry der Rückzug aufs brasilianische Festland. Er bot die Möglichkeit, das Fremde aus der Nähe zu betrachten, es zum Gegenstand des Textes zu machen. Auch in Lérys Bericht ist die Differenz zwischen den rahmenbildenden historiographischen Partien (Überfahrt, Konflikte mit Villegagnon, Abenteuer der Rückkehr) und dem zentralen ethnographischen Hauptteil deutlich markiert. »Ich möchte«, leitet Léry den Hauptteil ein, »mit dem Wichtigsten

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beginnen und dann systematisch fortfahren«.54 Systematisch meint auch hier keine streng klassifikatorische Ordnung, wohl aber ein klares Bewußtsein für die Notwendigkeit der Strukturierung: »deduisant les choses par ordre« (cap. 9, S. 237). Beständig verweist Léry voraus und zurück, thematisiert er die gewählte Abfolge und begründet er, warum etwas an dieser und nicht jener Stelle berichtet wird. Die thematische Anordung orientiert sich im groben wie bei Staden am Unterschied von materieller und immaterieller Kultur. Léry beginnt mit der äußeren Erscheinung der Tupinamba und ordnet ihr jene Elemente der Lebenswelt zu, die der körperlichen Zierde dienen. Darauf präsentiert er die Fauna (»tierische Vierfüßler, Vögel, Fische, Reptilien und sonstige Lebewesen, die Bewegung und Gefühl haben«), sodann die Flora (»Bäume, Sträucher, Pflanzen, Früchte, Wurzeln«) und schließlich Gebräuche, Riten und Regeln. Die Tiere klassifiziert Léry in traditioneller Weise: einerseits, gemäß der Zuordnung zu den verschiedenen Elementen, danach, ob sie auf der Erde, in der Luft oder im Wasser leben, andererseits, gemäß der Schöpfungsgeschichte, im Hinblick auf den Tag, an dem sie erschaffen wurden; deshalb erscheinen die vierfüßigen Säugetiere im 10. Kapitel neben den Reptilien. Doch zentrales Anliegen ist nicht die Totalerfassung der fremden Welt, sondern die Beziehung zwischen Menschen und Umwelt. Was von den einzelnen Tieren oder Pflanzen gesagt wird, bezieht sich meist auf Ernährung und Verwertung. Bei den Vögeln nennt Léry zwar Belons Standardwerk, die Histoire de la nature des oyseaux (1555), geht aber in Beschreibung und Zusammenstellung eigene Wege. Bei den Landtieren ordnet er zwar wie andere Autoren von Tierbüchern nach der Größe, doch entscheidendes Kriterium der Beurteilung bleibt der Geschmack.55 Léry bezeugt damit nicht nur, daß auch die Abhandlung ›par ordre‹ mit keinem einheitlichen Klassifikationssystem auskommt. Er lenkt zugleich durch die Art, wie er die Systeme kombiniert und durchbricht, das Augenmerk auf die ›experientia‹, die für ihn mindestens so große Bedeutung besitzt wie für Staden. Léry präsentiert sich als teilnehmender Beobachter, neugierig auf Menschen und Tiere, bereit, sich auf riskante Situationen einzulassen, gewillt, das Erfahrungswissen dem Traditionswissen überzuordnen. Die französische Übersetzung von Oviedos Historia general y natural de las Indias dient ihm zwar als Bezugspunkt, um die Tupinambá mit anderen Völkern Südamerikas zu vergleichen, zugleich aber als Folie, vor deren Hintergrund sich die eigenen Beobachtungen profilieren lassen. Auch der Kannibalismus bleibt kein Komplex objektiv-distanzierter Beschreibung. Léry schildert eine Episode, die an ähnliche Situationen bei Staden und Thevet anklingt: Er kommt zum Dorf Euramiri genau zu dem Zeitpunkt, da die Indianer ein anthropophagisches Mahl feiern; die Körperteile eines kurz zuvor getöteten Gefangenen liegen auf dem Rost. Während

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die Tänze und Gesänge andauern, legt er sich schlafen, bis einer der Indianer zu ihm kommt – mit einem gekochten und geräucherten Fuß des Gefangenen in der Hand. Léry versteht dies nicht als Angebot, sondern als Drohung. Er sieht sich von seinem Dolmetscher verraten und den ›Barbaren‹ ausgeliefert; die Nacht wird ihm zur Qual. Erst morgens klärt sich die Situation: »Mein Trost war ein lautes Riesengelächter, das sie anstimmten (denn sie sind große Spaßmacher), weil sie mich – ohne es selbst zu wissen – so schön genasführt hatten.«56 Die ›tragedie‹ des Gefangenen wird zur Komödie des Autors. Er spielt mit der Spannung zwischen Nicht-Verstehen und Verstehen, zwischen ursprünglicher Unkenntnis und späterem Wissen und zögert nicht, sich selbst zum Gegenstand des Lachens der Anderen zu machen. So entsteht der Eindruck eines ebenso fragilen wie souveränen, empfindsamen wie verständnisvollen Subjekts, dessen ›Erfahrung‹ sich von bloßer Behauptung absetzt, indem sie auf der beständigen Involviertheit ins Geschehen insistiert. Unmittelbarkeit und Reflektiertheit gehen Hand in Hand. Die eigene Wahrnehmung ist Instrument im Diskurs. Sie dient beispielsweise dazu, den Irrtum derjenigen zurückzuweisen, »die, wie man auf ihren Weltkarten sehen kann, die Wilden aus Brasilien nicht nur dargestellt und gemalt haben, wie sie Menschenfleisch auf Spießen rösten (wie wir es mit Hammelund anderem Fleisch machen), sondern die auch vorgegeben haben, jene würden ihre Gefangenen mit großen Hackmessern aus Eisen auf einer Schlachtbank zerschneiden und dann die einzelnen Stücke zur Schau stellen, wie die Metzger hierzulande mit dem Rindfleisch verfahren. Das alles ist nicht wahrer als das, was Rabelais von Panurge erzählt, der völlig gespickt dem Bratspieß halb angebraten entronnen ist. Ohne weiteres kann man sagen, daß die Hersteller solcher Karten Ignoranten sind, die die von ihnen dargestellten Dinge niemals kennengelernt haben.«57 So wie Léry die Differenz zwischen Tradition und Erfahrung reflektiert, so auch das Problem, das Unbekannte mit den Mitteln des Bekannten zu repräsentieren. Staden ließ nur implizit, zum Beispiel durch die detailreiche Holzschnittserie, erkennen, daß eine genauere Beschreibung der Neuen Welt neue Formen der Wiedergabe erfordert. Léry macht dies explizit. Er hält wie auch die Botaniker seiner Zeit die Abbildung für ein genaueres Mittel als das Wort, um die brasilianische Welt zu veranschaulichen, betont aber, wie unzureichend auch sie bleiben muß: »Um wirklich Freude an ihnen [den Tupinambá] zu haben, muß man sie schon in ihrem Lande aufsuchen«.58 Unwiderruflich wird bewußt, daß der Text nur ein System zweiter Ordnung darstellen, die Schrift nur Spur einer verlorenen Unmittelbarkeit sein kann. Die eigene Beschreibung erweist sich als theatralische Inszenierung dessen, was in seinem Lebenszusammenhang zu begreifen wäre: »Will man sich nach dieser Beschreibung ein Bild machen und sich einen

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Wilden vorstellen, so denke man sich einen nackten, gutgewachsenen Mann, der sich sämtliche Haare, die an seinem Körper wachsen, ausgezupft hat. Sein Kopfhaar ist mit der bereits beschriebenen Tonsur ausgestattet. Die Lippen und die Backen sind aufgeschlitzt und mit spitzen Knochen oder grünen Steinen verziert. Die Ohren sind durchbohrt und in den Löchern tragen sie Gehänge. Der Körper ist mit grellen Farben beschmiert. [...] Um das Bild zu vervollständigen, haben wir neben dem Tupinambá eine seiner Frauen dargestellt, die – dem dortigen Brauch entsprechend – ihr Kind in einer Baumwollbinde trägt. [...] Um ein anderes Bild des Eingeborenen zu bekommen, entkleide man ihn von dem vorstehend erwähnten Flitterkram. Reibt man ihn dann mit klebrigem Gummi ein und bedeckt den ganzen Körper, die Arme und Beine mit kleinen und klein gehackten Federn, die wie rotgefärbte Seidenabfälle aussehen, so wirkt das so, als sei er mit einem künstlichen Flaumbart überzogen.«59 Vier solche Tableaus entwirft Léry und versteht sie als Ausdruck des karnevalesken Charakters der brasilianischen Kultur, den er seinerseits in den karnevalesken Elementen des eigenen Textes einzufangen versucht.60 Erstarrung und Dynamisierung schlagen dabei beständig ineinander um. Die Tableaus, die den Indianer wie eine Puppe oder Figur im anatomischen Theater be- und entkleiden, führen die Macht des Autors vor, die Indianer den europäischen Lesern nahezubringen.61 Sie reflektieren aber auch den in der Vergegenwärtigung liegenden Verlust an Gegenwärtigkeit. Léry gibt sich zwar überzeugt von der Überlegenheit der Schrift als eines wahren Gottesgeschenks. Seine eigene Schrift aber ist gezeichnet von der Sehnsucht nach dem, was in der Repräsentation nurmehr wie ein blasser Schatten wirkt, nurmehr eine Ahnung vermittelt.62 Es ist die Sehnsucht nach einer verlorenen Präsenz – verloren im allgemeinen mit dem Gang der abendländischen Geschichte, im besonderen mit der (ungewollten) Rückkehr des Calvinisten nach Europa. Léry schreibt nach eigener Angabe die erste Fassung seines Textes mit »ancre de Bresil«, einer rötlichen, aus Brasilholz gewonnenen Tinte (Preface, S. 61): Sie transportiert zumindest eine Aura dessen, was der Text selbst nur ahnen lassen kann. Mehrfach gibt Léry auch zu erkennen, wie groß die Versuchung war, sich an die brasilianische Welt zu verlieren. Als er in Frankreich den Geruch von Weizenstärke riecht, fühlt er sich sofort »in die Hütten der Wilden zurückversetzt«.63 Von einem rituellen Gesang, den er miterlebt hat, bemerkt er: »immer wenn ich daran zurückdenke, krampft sich mein Herz zusammen, und ich glaube, noch ihre Stimmen zu hören«.64 Gegen Ende des Textes heißt es: »Je regrette souvent que je ne suis parmi les sauvages« (cap. 21, S. 508). Léry unternimmt alles, um seinen Lesern einen sinnlichen Eindruck von dem zu vermitteln, was er erlebt hat.65 Er betont Geruch und Geschmack, beschreibt Gesten und Körper. In einem zweisprachigen Dialog zwischen

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einem Tupinambá und einem Franzosen macht er die Tupisprache ein Stück weit greifbar.66 Auch transkribiert er den Refrain eines Liedes: »Heu, heuaüre, heüra, heüraüre, heüra, heüra, oueh« (cap. 16, S. 403). Der dritten Auflage von 1585 gibt er Noten bei, um den Klang der verlorenen Welt hörbar zu machen (S. 610f.). Eine Strategie der Produktion von Authentizität: Die Alterität, die zu entfalten Léry sich ebenso bemüht wie Staden, macht den Autor zur Autorität, profiliert ihn als einen, der nicht nur in der Schrift, sondern in eigener Person die Erinnerung an die Neue Welt verkörpert. Sie dient aber auch der Profilierung eines Gegenbildes zur politischen und theologischen Zerrüttung des Abendlands. Die Vorstellung des guten Wilden, ambivalent noch und im Stadium der Erprobung, schließt zwar Kritik ein an der Gottferne der Indianer, an ihrer Distanz zum christlichen Glauben.67 Doch sie gewinnt aus eben dieser Situation die Utopie jenes wahren, natürlichen, paradiesischen Christentums, von dem sich der Calvinist Léry, hin- und hergeworfen von den Wirren der Religionskriege, in der eigenen Umgebung weit entfernt sieht. Nicht eigentlich geht es um die Heilsfähigkeit der Indianer. Erwägend zwar, ob er die Tupinambá als Vertreter einer archaischen und durch die Zeit verzerrten Religiosität (»prisca theologia«) einstufen soll, sieht Léry letztlich in ihnen doch, gemäß der calvinistischen Doktrin der doppelten Prädestination, eine gefallene und der Verdammung anheimgegebene Menschheit.68 Doch eine Menschheit, die ihm selbst die Augen öffnet für den Zustand, den sich die eigene Sehnsucht erträumt. Staden konnte, der Gefangenschaft entkommen, den Text zur Danksagung an den helfenden Gott machen. Léry, gedanklich noch in der fremden Kultur gefangen, kann den Text nur als Aufbewahrung einer Hoffnung inszenieren, für die es in der eigenen Welt keinen Ort gibt. Das heißt nicht, der Calvinist würde sich schlichtweg aus einem ungeliebten Hier und Jetzt in ein fern-urzeitliches Traumland, einen Raum ungetrübter Natürlichkeit fortdenken. Er setzt mit seinem Text auch, was die Präzision der Beschreibung angeht, neue Maßstäbe im Rahmen des zeitgenössischen Brasiliendiskurses und erhebt einen nicht zu geringen Anspruch auf wissenschaftliche Authentizität. Thevet wird auf diesen Anspruch seinerseits reagieren. Mit Ironie: Lérys Kritik an der Verwechslung fiktiver und authentischer Darstellung des Kannibalismus aufgreifend, rückt er selbst einige Szenen aus der Histoire in die Nähe des ›Pantagruelischen‹. Und mit Invention: er behauptet, schon 1550–53 eine Reise nach Brasilien unternommen zu haben, und versucht damit, die Augenzeugenschaft des Gegners zu überbieten. Gegenüber dieser diskursiven Instrumentalisierung von Erfahrung scheint Lérys Text moderner: Neugierig wie melancholisch in der Grundhaltung, parteiisch wie reflektierend und repräsentationskritisch im Umgang mit dem Fremden scheint er sich als Gründungsurkunde anzubieten für jene

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Diskussion um das schreibende Erzeugen von Kultur (›writing culture‹), die in der Postkolonialismusdebatte einen Höhepunkt erreicht hat.69 Doch ist er nicht mehr und nicht weniger charakteristisch für die frühneuzeitlichen Diskursgeflechte als die zwar erlebnisgesättigte, aber schlichter zugeschnittene Historia Stadens und die monumentalen, aber chaotischen Singularités Thevets. Jeder der drei Autoren, der einfache Büchsenschütze, der gelehrte Kosmograph, der reformeifrige Calvinist, hat an einer Bewegung teil, die im Begriff ist, den Umgang mit der Neuen Welt zu verändern. Fünfzig Jahre nach Colón und Vespucci wird Amerika zum Gegenstand der Forschung, zum Terrain, das nicht mehr allein Gewinn verschiedener Art verspricht, sondern auch die Produktion komplexerer Sinngeschichten erlaubt. Schwankend zwischen Ereignis und System, zwischen Reisebericht, Landesbeschreibung und Kuriositätenkabinett, stellen die Texte Versuchsanordnungen dar für die Repräsentation des Fremden, Entwürfe von Möglichkeiten, der anderen Welt einen Ort zu verschaffen im abendländischen Denken. Von diesem Ort aus sind wiederum neue Blicke auf das Eigene möglich – unter anderem anhand des Kannibalismus.

Übertragungen Der Kannibalismus, wie er in Lérys Text erscheint, ist ambivalent: grausam, fremdartig, abstoßend, aber auch konsequent, eigenlogisch, faszinierend. Er ist Ausdruck einer kulturellen Raffinesse, die in der Gegenüberstellung sichtbar wird. Die Ouetacas beschreibt Léry als kriegerisch, langhaarig und unzugänglich. Dem Handel abgeneigt und in unverständlicher Sprache redend würden sie zu den barbarischsten, grausamsten und gefürchtetsten Völkern der Neuen Welt gehören: »au surplus comme chiens et loups, mangeans la chaire crue«.70 Wie in den mittelalterlichen Reiseberichten markiert das Essen des Fleisches in rohem Zustand eine untere Grenze von Kultur, nahe dem Animalischen, vertreten durch die noch immer lose mit dem Kannibalismus verknüpfte Vorstellung des Hündischen. Die Ouetacas spielen damit bei Léry die Rolle der Kariben bei Colón: Repräsentanten des ganz Anderen, geben diese ›diablotins‹ aus dem Kontrast heraus dem Bild der ›guten Wilden‹ Kontur, nur daß die ›guten Wilden‹ jetzt selbst Züge jener Kannibalen angenommen haben, die Colón als Gegenbilder dienten. Sie wissen ihr ›Fleisch‹ in zeremoniell festgelegter Form zu gewinnen. Sie wissen es kulinarisch verfeinert zuzubereiten. Der Kannibalismus wird damit für den Text nicht zur quantité négligeable. Er bleibt ›ordentlich‹ und außerordentlich in einem. Aber er wird mehr und mehr zum Relais für die Diskussion kultureller und sozialer, religiöser und politischer Verhältnisse.

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Thevet und Léry erzählen in verschiedenen Versionen eine kurze Geschichte, um die enorme Bedeutung des Rachedenkens bei den Tupinambá zu veranschaulichen. Ein junger Indianer wird aus Brasilien mit nach Frankreich genommen, wo er die Taufe erhält, aufwächst und heiratet. Der Wunsch, die alte Heimat zu sehen, führt ihn auf einem Schiff nach Brasilien zurück – eine Inversion der europäischen Figur des kulturellen Überläufers. Doch mit der Rückkehr kehrt auch die andere Logik zurück, die der Rache. Er wird von seinen ›alten Feinden‹ entdeckt. Gnadenlos, »comme chiens enragés de furie«, fallen sie über ihn her. Sterbend demonstriert er ihnen noch den Glauben an Christus und die Trinität – und wird, gegen die Gewohnheit, nicht verspeist.71 Man sieht, es geht um mehr als nur die Langlebigkeit der auf ›vengeance‹ fixierten Erinnerung. Gegenübergestellt sind christliche Riten (Taufe, Heirat) und indianische Gebräuche (Rache, Kannibalismus). Doch sie bilden nicht einfach eine Opposition, demonstrierend, wie in jeder der Welten andere Regeln gelten. Sie interessieren vor allem hinsichtlich ihrer Schnittstelle. Im Zerreißen des jungen christlichen Indianers treffen die Symbolik des christlichen Kults und die Archaik einer quasi-animalischen Praxis aufeinander. Sie treffen so aufeinander, daß die Symbolik ihre Spuren in der Archaik hinterläßt: Es kommt zu einer Abweichung vom Brauch. Die Tötung wird aus christlicher Sicht zum Opfer, das paradigmatisch erweist, welchen Einsatz die Christianisierung der Neuen Welt erfordern und welcher Sinn darin liegen mag. Das Opfer ist kein kannibalisches. Die verzerrte Spiegelung der Eucharistie in der Anthropophagie bleibt aus. Doch der Kannibalismus wird aufgeladen mit Bedeutungsmöglichkeiten, die weit über die Perhorreszierung hinausgehen. Der Calvinist Léry macht diese Möglichkeiten explizit. Schon eingangs spielt er auf die in den zeitgenössischen Diskussionen zwischen Protestanten und Katholiken virulente Frage nach dem Status der Eucharistie an. Er kritisiert Villegagnon, den Kommandanten der Kolonie, für seine unentschiedene Haltung: Obschon die Lehre der Transsubstantiation und der Konsubstantiation ablehnend, habe er sich doch mit einem symbolischen Verständnis der Einsetzungsworte »Hoc est corpus meum« nicht zufriedengeben können. »Sie verrannten sich so weit, daß sie – ohne zu wissen, wie das geschehen sollte – nicht nur das Fleisch Christi lieber materiell als geistig verzehren wollten. Was noch schlimmer ist, sie wollten es ganz roh kauen und verschlingen, wie es die wilden Ouetacas tun, von denen ich früher gesprochen habe, die Menschenfleisch verzehren.«72 Schon in satirischen Schriften der Zeit um 1560 war Villegagnon als König der überseeischen Kannibalen dargestellt worden.73 Léry schließt daran an, verleiht der Attacke aber einen zusätzlichen Akzent. Durch die doppelte Opposition körperlich/geistig und roh/gekocht wird das Verhalten Villegagnons sowohl theologisch wie kulturell skandalisiert. Dabei geht es mehr um die Evokati-

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on des Ungeheuerlichen als um die Präzision der Analogie: Weder legt er dar, wie das rohe Verschlingen der Hostie genau zu verstehen ist, noch stellt er die kannibalischen Praktiken der Ouetecas genauer vor; bei der Präsentation des Stammes im vorangegangenen Kapitel war nur von rohem Fleisch, nicht von Menschenfleisch die Rede gewesen. Die Unschärfen erlauben es, eine Aura von Tabu und Tabuüberschreitung zu erzeugen und die protestanische Perspektive zu weiten. Verbunden werden nicht nur die ihre Feinde verschlingenden Anthropophagen der Neuen und die metonymisch den geopferten Gottessohn verzehrenden Katholiken der Alten Welt. Präsentiert wird nicht nur die Übertragung des mit den einen verbundenen Horrors auf die andern. Präsentiert wird der Alten Welt eine Situation in der Neuen, in der der alte Glaube im neuen wieder durchbricht. Mehr noch: dieses Durchbrechen ist nicht seiner kannibalischen Tendenz allein wegen bedenklich, sondern wegen deren negativen Facetten. Es handelt sich um schlechten Kannibalismus. Nicht den subtilen der Tupinbambá, sondern den primitiven der Ouetacas. Auch Léry schafft eine Kippfigur: Der Kannibalismus dient zur Stigmatisierung der Katholiken, deren Realpräsenzidee zugleich zur Nobilitierung des wahren Kannibalismus der Neuen Welt. Diese Operationen scheinen reichlich abstrakt. Doch wird bei Léry gerade die Abstraktion zum Mittel, die Modalitäten der Repräsentation zu reflektieren und komplexere Austausch- und Bedeutungsprozesse in Gang zu bringen. Kaum hat Léry die äußerste Grausamkeit der ›Wilden‹ vorgeführt, erinnert er an das, »was hierzulande bei uns geschieht«: Wucher, Ausbeutung, Greuel, begangen aus konfessioneller Eiferei. Gedacht ist an die konkreten Gewaltexzesse der Religionskriege, allen voran der Bartholomäusnacht (24. August 1572) und der Belagerung von Sancerre. Deren anthropophagische Auswüchse hatte Léry in seiner ersten Veröffentlichung zum Thema gemacht.74 Doch neben den konkreten Exzessen stehen mentale und soziale Gewaltsamkeiten, die auf den Kannibalismus bezogen werden können: Die Wucherer »saugen Blut und Mark, verspeisen demnach zahlreiche Witwen, Waisen und sonstige arme Menschen bei lebendigem Leibe, [...] grausamer als die Wilden von denen ich gesprochen habe. Deshalb sagt auch der Prophet, daß solche Menschen dem Volke Gottes die Haut abziehen, sein Fleisch verzehren und ihm die Knochen brechen, als ließen sie gleichsam die Menschen in einem Kessel kochen.«75 Spätere Ausgaben werden auf weiteren dreißig Seiten historische Beispiele in reicher Zahl aufführen: Grausamkeiten der Türken und der Spanier, »beaucoup plus barbares que les Sauvages mesmes«. Etwa zur gleichen Zeit werden aber auch aus katholischer Sicht die Grausamkeiten der Protestanten zusammengetragen: ein Théâtre des cruautés, das in seinen Gravuren jene Fragmentierung von Körperteilen aufgreift, die aus den Kannibalismusdarstellungen bekannt

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war. Auch hier waltet ein abstrakter Gestus der Demonstration, der Schrekken und Faszination in der Balance hält und auf die Zusammenfügung der verschiedenen Stücke des Welttheaters in der Imagination des Betrachters setzt.76 Wieder dreht sich das Karussell kultureller Sinnstiftung. Läßt sich mit der Theatralisierung von Gewalt eine spezifische Ambivalenz der Repräsentation erzeugen, so lassen sich mit der Übersetzung von Gewalt in Kannibalismus ebenso die Ereignisse der eigenen Nähe verteufeln wie jene der Ferne in milderem Licht zeigen. Zugleich vollzieht sich ein Oszillieren zwischen Metonymie und Metapher. Als Metonymie war der Kannibalismus spätestens seit Staden begriffen worden: Teil und Ausdruck komplexer sozialer Beziehungen auch in der Neuen Welt. An ihm war generell die Logik des Fremden als eine zu erfahren und zu entwickeln, die selbst mit metonymischen Operationen arbeitet: Man integriert Gefangene in den eigenen Stamm, um Lücken zu schließen, man zerteilt Körper, um den ganzen Stamm teilhaben zu lassen, man verspeist sie, um die andern in sich aufzuheben. Als Metapher eröffnet der Kannibalismus nun neue Optionen, eine aus den Fugen geratene Alte Welt zu veranschaulichen. Das Fremde des Eigenen wird sichtbar, die in unmittelbarer Nähe lauernde Gewalt, das beständige Wechselspiel zwischen Praktiken und Inszenierungen von Macht. Die Sprache wird zum Ort einer sich ausdehnenden kannibalischen Rede, sich ausdehnend bis hinein in die imaginierte Innenschau. Der elsässische Weltreisende des 17. Jahrhunderts Georg Franz Müller stellt in einer kolorierten Zeichnung die molukkanischen Menscherfresser dar (Abb. 20) und macht sich im Gedicht spielerisch die Rolle des Kannibalen zu eigen: Ich bin ein Menschenfreser gued, Iß Hirn mit Fleisch und drink das Blued, So woll gesotten als gebraden, Meine Freind duen ich zue Gast auffladen, Alle meine Feind, die fres ich auff, Von der Hirnschal mach ein Becher drauß ... Das schmeckt mir woll, ist mir gesund, Verlang darnach alle Tag und Stund. Ist schad, wan es fault in der Erden, Von Würmern solt gefresen werden. So balt meine Frauw und Kinder sterben, Saltz ich sy ein, las nicht verderben. Stirb ich dann vor, duen sy mirs auch Ist das dan nicht ein schöner Brauch?77

Die kannibalische Rede verändert den Blick auf das Vertraute. Léry referiert einen Dialog mit einem alten Tupinambá über die Frage, warum die Franzosen über das Meer fahren, um sich das Brasilholz zu holen.78 Das Fa-

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Abb. 20: Georg Müller, Reisebuch, um 1700; St. Gallen, Stiftsbibl., Cod. 1311, S. 123.

zit: Sie tun es, um Reichtum anzusammeln und den Wohlstand zu vermehren, ohne aber darin auch das Glück zu finden. Den Tod vermeiden können sie nicht. Statt auf die Fruchtbarkeit der Natur verlassen sie sich auf die Früchte der Kolonien. Der Gedanke ist alt. Er begegnet schon in den mittelalterlichen Alexanderromanen, wenn der Weltherrscher auf die bedürfnislos-weisen Brahmanen, die nackten Gymnosophisten trifft und im Dialog mit ihnen die Grenzen militärischer und politischer Macht erfährt.79 Er dient aber bei Léry nicht schlicht einer Moral, die das Irdische, sondern einer, die das Abendländische relativiert. Noch ist nicht von der Rückkehr zum Naturzustand die Rede. Doch die Opposition von Kultur und Natur kommt ins Wanken. Ausdruck von Kultur, obschon schrecklicher, ist der brasilianische Kannibalismus, Ausdruck eines Rückfalls zur Natur, nämlich zum Animalischen, sind die europäischen Greuel. Damit löst sich aber auch der Kannibalismus von den Tupinambá, so wie er sich achtzig Jahre früher von den Cariben löste. Es öffnet sich das Feld kulturphilosophischer Reflexion.

Kannibalische Reflexion Zu denen, die dieses Feld in nachdrücklicher Weise für die Zukunft bestellt haben, gehört Michel de Montaigne. Im Jahr 1580 veröffentlicht der 47jährige, der sich 1571 nach dem Tod des Vaters auf seine Güter in der

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Dordogne zurückgezogen hat, zwei Bände Essais, Welt- und Selbstbetrachtungen in neuer Form, weder Autobiographie noch Lebens- oder Zeitgeschichte, weder Kommentar noch philosophischer Traktat.80 Montaignes Projekt zielt auf eine Phänomenologie des Hier und Jetzt, diesseits der Vernunft, des Allgemeinen, des Unpersönlichen, eine Phänomenologie von Körper und Sprache, Imagination und Phantasie als Bedingungen des Inder-Welt-Seins. Seine Reflexion gilt dem eigenen Ich (›moi‹), seinen Empfindungen, Haltungen und Meinungen, aber auch dem Andern (›autre, autrui‹), wie er/es sich zeigt in den Formen der ›estrangeté‹, der ›fantaisie‹, des Grotesken und Monstruösen. Eine solche Form greift Montaigne in Kapitel 31 unter dem Titel Des Cannibales auf, bezugnehmend auf den Amerikadiskurs, der ihm vor allem aus Chauvetons kurz zuvor erschienener Benzoni-Übersetzung (Histoire des Indes) vertraut war.81 Ob er zu diesem Zeitpunkt schon die Werke Thevets und Lérys kannte, ist unsicher. Doch berührt er sich mit ihnen in der Darstellung des Kannibalismus, der auch bei ihm als ein durch Rache motivierter erscheint, Ausdruck der kriegerischen Natur der Indianer, ihres elementaren Bedürfnisses, sich im Kampf aufs Spiel zu setzen und zu bestätigen. Darüber hinaus richtet er den Blick aber auch auf die Bedeutung der Rede. Vor der Tötung male man den Gefangenen ihr Los aus: »die Qualen, die sie zu erdulden haben werden, die Vorbereitung, die hierfür zu treffen man sich anschickt, die Zerstücklung ihrer Gliedmaßen und den dann auf ihre Kosten stattfindenden Festschmaus« – und dies alles »zu dem einzigen Zweck, ihren Lippen irgendein verzagtes, flehentliches Wort zu entreißen oder sie zur Flucht zu verlocken«.82 Das anthropophagische Ritual ist eines, an dem sich Stärke und Standhaftigkeit beweisen: des Handelns wie des Sprechens. Montaigne zitiert das Lied eines Gefangenen, in dem die Idee des Austauschs zwischen den Körpern und Stämmen ihren Niederschlag findet: »›Diese Muskeln‹, heißt es darin, ›dieses Fleisch und diese Adern sind die euren, arme Narren, die ihr seid: Merkt ihr denn nicht, daß noch Saft und Kraft der Glieder eurer Ahnen darin steckt? Laßt sie euch munden, denn so kommt ihr auf den Geschmack eures eigenen Fleisches!‹«83 Die Zirkulation der körperlichen Substanzen begründet Identität als eine vom Eigenen wie vom Fremden genährte, und sie begründet die Raffinesse einer mit der Imagination spielenden Schmährede, die dem Rhetoriker Montaigne zusagt: »Die Originalität dieses Einfalls scheint mir alles andere als barbarisch« (»Invention qui ne sent aucunement la barbarie«). Es klingt hier die Idee an, die Montaigne immer wieder beschäftigt, in der Sprache der Poesie sei eine ursprüngliche Natürlichkeit, in ihren Worten und Wendungen eine elementare Körperlichkeit bewahrt. Das kannibalische Lied ist perfekter Ausdruck dieser Situation, indem es selbst teilhat an einem Austauschprozeß zwischen Körpern und Worten. Zugleich bietet es

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sich dazu an, dem allgemeinen Verständnis des Barbarischen ein besonderes entgegenzustellen, basierend wie bei Léry auf der Eigendynamik und -logik des Kannibalismus. Sie wiederum läßt sich, auch dies ähnlich Léry, profilieren im Hinblick auf europäische Verhältnisse: »Ich meine, es ist barbarischer, sich an den Todesqualen eines lebendigen Menschen zu weiden, als ihn tot zu fressen: barbarischer, einen noch alles fühlenden Körper auf der Folterbank auseinanderzureißen, ihn stückchenweise zu rösten, ihn von Hunden und Schweinen zerbeißen und zerfleischen zu lassen (wie wir es nicht nur gelesen haben, sondern in frischer Erinnerung noch vor uns sehen: keineswegs zwischen alten Feinden, sondern zwischen Nachbarn und Mitbürgern und, was noch schlimmer ist, unter dem Vorwand von Frömmigkeit und Glaubenstreue), als ihn zu braten und sich einzuverleiben, nachdem er sein Leben ausgehaucht hat.«84 Die Schrecken des indianischen Kannibalismus werden relativiert. Doch die Relativierung ist nicht Selbstzweck, sondern Mittel zur Zeitkritik. Da dazu aber auch andere Mittel gut sind, verwischen sich die Konturen. Anders als Thevet wendet sich Montaigne gegen die Gleichsetzung der überseeischen Menschenfresserei mit dem Ernährungskannibalismus der alten Skythen. Selbst aber bringt er Beispiele aus der antiken Philosophie wie der gegenwärtigen Medizin, Beispiele, die positive Aspekte des Verzehrens von Leichenteilen herausheben und den anderen Blick auf die Bewohner der Neuen Welt befördern sollen. Deren Besonderheiten werden dadurch wieder ausgeblendet. Gegenstand wie Form der Beschreibung befinden sich in Bewegung. Der Kannibalismus schillert zwischen Ferne und Nähe, zwischen konkreter und metaphorischer Gewalt, zwischen rituellem und profanem Akt, zwischen Exzess und Normalität. Der Text oszilliert zwischen der Authentisierung des Fremden und der Verfremdung des Eigenen. Er vollzieht Verschiebungen in der Semantik der Begriffe. »Wir können die Menschenfresser also nach Maßgabe der Vernunftregeln durchaus Barbaren nennen, nicht aber nach Maßgabe unseres eigenen Verhaltens, da wir sie in jeder Art von Barbarei übertreffen.«85 Der Kannibalismus ist in jeder Hinsicht eine fluktuierende Größe. Signalhaft als Reizpunkt in den Titel gesetzt und als Höhepunkt der Fremdbeschreibung gedacht, ist er zugleich ein Fluchtpunkt, der sich entzieht und eben dabei ein kulturelles Deutungs- und Wirkungspotential besonderer Art freigibt. Jede Lektüre von Montaignes Essai 31 muß den Kannibalismus sowohl im Auge behalten wie aus dem Auge verlieren, um Dynamiken und Dimensionen des Textes zu erfassen. Sie kann sich nicht darin erschöpfen, die Quellen namhaft zu machen, die der Autor, in hohem Maße eigenständig, kombiniert und modifiziert. Sie kann auch nicht dabei stehen bleiben, an die Traditionen zu erinnern, die der Essai aufgreift: die Tradition der Paradoxa, in denen spielerisch ein Sachverhalt der öffentlichen Meinung

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mit Hilfe verschiedener Wissensbestände widerlegt, oder die Tradition der Deklamationsrede, in der ein Gegenstand emphatisch, beispielhaft und moralisch nutzbringend vertreten und verteidigt wird. Schließlich muß sie sich dem Wunsch, die Bedeutung des Textes kulturgeschichtlich zu fixieren, verweigern. Der Essai singt mehr als nur das Lob des ›guten Wilden‹, er entwirft mehr als nur ein idealisierendes und in sich widersprüchliches Bild des Fremden aus konservativ moralphilosophischer Sicht.86 Er kreist um die Begründbarkeit von Kultur aus dem Geist des Andern und auf dem Feld der Rhetorik. Konkretes und Abstraktes, Narratives und Reflexives schlagen in ihm beständig ineinander um. Beispiele veranschaulichen allgemeine Aussagen, vermehren aber auch deren Implikationen. Es ist dies, was man als die genuin literarische Dimension des Textes begreifen kann.

Rhetorik des Fremden So wie der Kannibalismus den Kern der Beschreibung der überseeischen Indianer bildet, so bildet diese Beschreibung das Zentrum einer zwischen den Welten oszillierenden textuellen Bewegung. Diese Welten sind indes nicht einfach die eigene und die fremde. Wie Montaigne auch sonst gerne Triaden benutzt, so arbeitet er auch hier mit einer Dreieckskonstellation: die eigene Gegenwart als Schnittfeld zwischen einer vertrauten, aber zeitlich fernen Antike und einem räumlich fernen, aber sukzessive vertraut werdenden Amerika.87 Schon der Eingang entwickelt das Thema in Anlehnung an Plutarch aus antiken Beispielen heraus: Griechische Könige hätten bei der Begegnung mit der römischen Heeresordnung feststellen müssen, daß diese alles andere als barbarischen Charakter habe. Von ihnen wechselt Montaigne zur eigenen und fremden Gegenwart: Ein Mann sei lange Zeit bei ihm gewesen, der zehn oder zwölf Jahre in der erst kürzlich entdeckten France antartique verbracht habe. Mehrfach vollzieht sich dieses Hin und Her, das seinerseits programmatischen Charakter hat: Ausdruck einer Denk- und Schreibbewegung, in der das reflektierende Subjekt sich selbst zum Vorschein bringt und eine eigentümliche Amalgamierung von Alter und Neuer Welt vollzieht. Weder wird das Neue in die kultur- und heilsgeschichtlichen Muster eingepaßt noch das Alte wie bei Thevet in erster Linie zur Nobilitierung eines neuen und noch ungesicherten Wissens eingesetzt. Vielmehr entstehen Wechselbeziehungen, dazu auffordernd, das eine wie das andere als dynamische Größe zu denken. Die Antike stellt autoritative Bezugspunkte bereit. Platon und Aristoteles werden explizit genannt, Vergil, Horaz, Properz, Seneca, Juvenal und Claudius zitiert. Doch dienen diese Bezugspunkte auch dazu, Abweichungen kenntlich zu machen – ein spätestens seit Vespucci beliebtes Verfahren.

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Montaigne referiert den Mythos von Atlantis sowie die Geschichte einer karthagischen Atlantiküberquerung und Inselstaatgründung, zwei Beispiele für große und machtvolle Eilande der Vergangenheit, nur um daraus zu schließen: Die Neue Welt ist mit keinem von ihnen identisch. Doch geht es nicht einfach um den Negativbeweis für die gänzliche Neuheit der Neuen Welt. Die antiken Beispiele rufen auch thematische Aspekte auf, die den fragilen Status von Imperien betreffen. Atlantis sei verschlungen worden von der Sintflut, der karthagische Inselstaat eingegangen, weil das Mutterland fürchtete, von ihm ersetzt zu werden. Naturkatastrophe und politischsozialer Konflikt bilden zwei Typen von Gefährdung, auch für die Gegenwart nicht ohne Bedeutung. Montaigne erwähnt die Veränderungen im Lauf der Dordogne, die er selbst beobachtete, und setzt sie in Beziehung zu Veränderungen der Menschen: »Il semble qu’il y aye des mouvements, naturels les uns, les autres fievreux, en ces grands corps comme aux nostres« (S. 204). Diesen Veränderungen lassen sich wiederum die politischen und konfessionellen Unruhen zuordnen, die später anhand des Kannibalismus zur Sprache kommen. Montaignes Verfahren ist eines der Inbezugsetzung, das Spielräume schafft und Bedeutungen in Bewegung bringt. Platon ist über die Autoritätsfigur hinaus ein Gesprächspartner, mit dem die Antike gegenwärtig und in einen Dialog mit der Gegenwart verwickelt wird. Bedauernd konstatiert Montaigne, daß den Alten die Neue Welt noch nicht bekannt war. Sowohl die Dichter, die das Goldene Zeitalter besangen, wie die Philosophen, die den idealen Staat entwarfen, wären in ihr auf etwas getroffen, was ihre eigenen Vorstellungen überstiegen hätte: »Hier haben wir ein Volk, würde ich zu Platon sagen, in dem es keinerlei Handel gibt, keine Kenntnis von Buchstaben, keine Rechenlehre, keine Bezeichnung für Behörde oder Obrigkeit, keine Dienstbarkeiten, keinen Reichtum und keine Armut; keine Verträge, keine Erbfolge und keine Güterteilung; keine beschwerlichen Tätigkeiten und keine Berücksichtigung einer anderen als der zwischen allen Menschen bestehenden Verwandtschaft; keine Bekleidung, keinen Ackerbau und kein Metall; keine Verwendung von Getreide oder Wein. Selbst Wörter wie Lüge, wie Verstellung und Verrat, wie Habsucht und Neid, wie Verleumdung und Verzeihen: unbekannt. Weit entfernt von solcher Vollkommenheit würde Platon sogar seinen idealen Staat finden, sähe er ›diese Menschen, frisch aus der Götter Hand‹ [Seneca]. ›Dies sind Geschlechter, die fürwahr Natur im Urbeginn gebar‹ [Vergil].«88 Die Passage, eine der wirkungsreichsten des Essai Des Cannibales, besitzt zahllose nähere und fernere Vorläufer. Von den antiken und mittelalterlichen Völkerbeschreibungen über die frühneuzeitlichen Amerikaberichte bis hin zu den 1566 erschienenen Louanges de la Folie war das Fremde immer wieder durch ein Fehlen kultureller Merkmale der abendländisch-

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christlichen Tradition bestimmt worden.89 Es definierte sich durch Absenzen, in denen zugleich das Eigene als Folie präsent blieb. Montaigne beschränkt sich indes nicht auf Glauben, Gesetz und Kleidung, die den Indianern abgehen würden. Er weitet die Perspektive auf all das, was zivilisatorische Errungenschaften wie soziale Beziehungen im geläufigen Sinne ausmacht und zugleich – so die Suggestion – kompliziert macht: darunter Schrift- und Rechensystem, von vielen Autoren herangezogen, um die überseeische Alterität zu kennzeichnen, aber auch Eigennützigkeiten, Falschheiten und Untugenden sowie die ihnen entsprechenden Begriffe. Erneut richtet sich der Blick mit den Dingen zugleich auf die Wörter, auf die Sprache, der sich die Realität ablesen läßt. Sie ist es aber auch, die zum Medium der Paradoxie wird, zu einem Medium, in dem sich das Andere nur durch Durchstreichung des Vertrauten, die Anderen nur durch Wechsel des Registers markieren lassen. Die abschließende Emphase des göttlichen Naturzustands erfolgt lateinisch, in Worten aus Vergils Georgica, die Montaigne für das perfekteste Werk der Poesie hält (II 10; S. 410). Doch geht es ihm nicht nur um Autorisierung und Nobilitierung der eigenen Rede. Er verwandelt sich auch die fremde Rede so an, daß sie zur eigenen wird, geht mit den alten Autoren so um, als könnten sie auf die eigenen Ideen reagieren. Es kommt zu einem irrisierenden Spiel der Suche nach und Verweigerung von Identifikation. Platons Modell des Idealstaats bildet den Referenzpunkt für die ideale Staatenlosigkeit der Indianer, die wiederum zum Prüfstein wird für die platonische Idee. Das Alte muß sich am Neuen messen und findet an ihm seine Grenzen. Umgekehrt ist aber auch das Neue nichts, was ohne das Alte denkbar wäre. Die rhetorische enumeratio kulturfremder Momente benutzt den Modus der doppelten Einklammerung: Sie steht in einem Dialog mit dem antiken Philosophen, der seinerseits als imaginärer gekennzeichnet wird: »diroy je à Platon«. Der konjunktivische Modus von Montaignes Schreiben ergreift auch die Semantik der Begriffe. Immer wieder vollziehen sich Verschiebungen, die zugleich den allgemeinen Blick zu einem spezifischen machen, einem individualisierten und personalisierten. Der Begriff der Vernunft (›raison‹) kennzeichnet, wie vor allem die Apologie de Sebonde (II 12) vorführt, die Weltlogik, von der sich Montaignes sprach-, körper- und dinggeprägte Subjektlogik unterscheidet. Begriffe wie Wahnsinn und Traum, Monster und Chimäre, Narrheit und Fremdheit, werden, so im Essai De l’oisivité (I 8), gegen die Konventionen der Zeit positiv umbesetzt. Ähnliches geschieht im Essai Des Cannibales mit dem Wort ›barbares‹. Es bezeichnet eingangs aus griechischer Sicht univok alles Fremde, wird aber sogleich erweitert, mit der Opposition geordnet/ungeordnet überlagert und erkenntnistheoretisch gewendet – was der landläufigen Meinung als barbarisch erscheinen mag, ist es nicht auf der Ebene der Vernunft und der Reflexion.

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Diese Differenzierung wird schließlich auf die Bewohner der Neuen Welt übertragen: »qu’il n’y a rien de barbare et de sauvage en cette nation, à ce qu’on m’en a rapporté, sinon que chacun appelle barbarie ce qui n’est pas de son usage« (S. 205). Scheinbar wieder bei der griechischen Bezeichnung für alles Nicht-Griechische angelangt, haben sich tatsächlich die Optionen vermehrt: einem pejorativen Barbarenbegriff (animalisch, grausam, unvernünftig) steht ein neutraler (fern, fremd, unvertraut) gegenüber. Neue Begriffe bringen neue Möglichkeiten und weitere Differenzierungen ins Spiel: Dem Barbarischen tritt das Wilde (›sauvage‹) zur Seite, Ausdruck einerseits des Natürlichen, Ungekünstelten und Unverstellten (»les fruicts que nature, de soy et de son progrez ordinaire a produicts«), andererseits der Entartung und Abweichung vom Naturzustand (»ceux que nous avons alterez par nostre artifice et detournez de l’ordre commun«).90 Der Text vollzieht eine doppelte Bewegung: Neutralisierung wie Übertragung der negativen Aspekte der überseeischen Wilden, Annäherung ans wie Entfernung vom Ursprünglichen. Gleitend zwischen den Welten, den Kulturen und den Worten schafft Montaigne sich ein bewegliches Netz von Kategorien, eine Drehscheibe von Begriffen, mal entschuldigend, mal verurteilend verwendbar. Ihre Kehrseite: eine alles andere als stoische Unruhe, eine dezentrierte begriffliche Akrobatik, ein Ensemble von Echoeffekten in konkreten wie metaphorischen Räumen. Wo die Bedeutungen sich vermehren und verschieben, auseinander hervorgehen und ineinander übergehen, herrscht auch die Idealisierung nicht unangefochten, sondern nur im Verbund mit der Paradoxierung, aus der sie sich ergibt und an der sie sich bricht.

Alter und Ego Die skizzierten Verfahrensweisen bilden den Hintergrund für das, was den Hauptteil des Essai ausmacht: die Beschreibung der indianischen Kultur. Montaigne bietet hier in kondensierter Form, was Staden, Thevet und Léry ausführlicher entwickelt hatten: einen Blick auf die Bewohner der Neuen Welt, der über Umwelt, Ernährung und materielle Kultur zu den sozialen Beziehungen und religiösen Praktiken schwenkt und schließlich beim Kannibalismus verharrt. Sukzessive wird der Leser hineingeführt in die fremde Welt, in das Zentrum einer Gesellschaft, egalitär und klassenlos, basierend auf natürlichem Überfluß und sozialer Sicherheit, auf dem zwanglosen Umgang mit den Triebkräften und den einzigen Gesetzen »Entschlossenheit im Krieg und Liebe zu den Frauen«. Doch geht es nicht bloß um die Realität der Kannibalen, sondern auch um die Realitätseffekte einer Beschreibung, die zugleich Nähe und Distanz, Präsenz und Repräsentation im Auge

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hat. Gegenwärtig werden die Andern in ihren Körpern, ihren Affekten, ihren Reden.91 Doch erstarren sie auch, wenn der Text ins Modellhafte wechselt, auf Antikes und Allgemeines ausgreift. Montaigne zitiert aus zwei Liedern, die die beiden zentralen Gesetze der Indianer veranschaulichen: Kannibalismus/Krieg und Liebe. Die erste Strophe des zweiten, die auch den Kehrreim bildet, lautet: »Schlange, halt ein, halt ein, Schlange, damit meine Schwester nach dem Muster deiner Farbentracht Form und Flechtart eines gleichen Bandes gestalte, das ich meiner Liebsten schenken will; so sollst du mit der Schönheit deiner Ornamente für alle Zeiten alle anderen Schlangen übertreffen.«92 Schmuck der Natur, Schmuck der Kunst, Schmuck der Rede – Montaigne suggeriert, im Gedicht sei ein Stück indianischer Gefühls- und Lebenswelt aufgehoben. Zugleich spielt er mit dem Gedanken einer bildkräftigen ursprünglichen Poesie, einer »durch und durch anakreontischen« Schöpfung, weiteres Beispiel für die alles andere als barbarische Verfassung der ›Wilden‹. Ihre Sprache erinnert »an den Wohllaut griechischer Endungen«. Archaik und Kultiviertheit durchdringen sich, das ferne Fremde wird zum nächsten Fremden. Doch geschieht die Vergegenwärtigung der »nayfveté originelle« der Indianer in alles andere als naiver Weise. Die Modalitäten des Wissens und Eigentümlichkeiten der Repräsentation bleiben bewußt. Schon eingangs spielt die Figur des Augenzeugen eine Rolle: ein Mann, längere Zeit bei Montaigne zu Gast, der zehn oder zwölf Jahre in der Neuen Welt verbracht habe. Seine Zuverlässigkeit zu sichern erwähnt Montaigne die Matrosen und Kaufleute, die jener auf seiner Reise kennengelernt und die er selbst durch Vermittlung des Mannes mehrfach getroffen habe. Entscheidend ist aber nicht die bekannte Person, die erwiesene Integrität oder das überprüfbare Wissen des Augenzeugen. Entscheidend ist seine Schlichtheit – ein »homme simple et grossier, qui est une condition propre à rendre veritable tesmoignage« (S. 205). Diese Figur entspricht dem, was Montaigne in seinen Essais erstrebt: eine Registrierung von Empfindsamkeiten, eine das Natürliche aufzeichnende Schreibweise, eine den Dingen und den Körpern nahe Sprache.93 Sie ermöglicht es ihm aber auch, sich gleichermaßen im Zentrum und am Rande des Amerikadiskurses zu situieren. Der Gelehrte, der die Neue Welt vor allem aus Büchern kennt, polemisiert gegen das Bücherwissen, das sich von der unmittelbaren Erfahrung entferne, und nobilitiert im gleichen Atemzug die eigene Position. Nötig seien nicht Kosmographen, die Informationen systematisieren, sondern Topographen, die, modern gesprochen, Mikrogeschichten oder dichte Beschreibungen spezifischer Konstellationen liefern: »des topographes qui nous fissent narration particuliere des endroits où ils ont esté« (S. 205). Das zielt weniger auf die Abqualifizierung bestimmter Autoren als auf die Aufwertung des eigenen Berichts. Behauptend, sich auf ein durch die Muster

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der Tradition ganz und gar ungefiltertes Wissen zu stützen, gewinnt Montaigne eine Unmittelbarkeit neuer Art: die des Zuhausegebliebenen, der sich die Neue Welt in sein Zuhause holt. Der ›einfache Mann‹ macht, so scheint es, diese Welt präsent, diesseits aller Repräsentation. Er fungiert als strukturelles Analogon zur Einfachheit und Unverstelltheit der Indianer, von denen er berichtet. Er ist der Kanal, ein Kanal ohne Rauschen, für jenes Wissen, das Montaigne in die eigene Rede verwandelt. Doch gibt es weitere Figuren der Präsenz: die Eingeborenen selbst. Ihr Erscheinen bildet den End- und Höhepunkt des Kapitels: drei Indianer, zur Zeit des verstorbenen Königs Karl V. in Rouen weilend, wo der Autor ihnen begegnet sei. Auch hier ein Geltungsanspruch, schillernd zwischen Realem und Imaginärem, ein Szenario im Dunstkreis des Utopischen. Das Stichwort Rouen mochte zeitgenössische Leser an die Situation des Jahres 1550 erinnern, als bei einem großem Hoffest zahlreiche Tupinambá auftraten und ihr eigenes Leben vorspielten. Es mochte aber auch signalisieren, daß das Moment des Theatralischen seine Prämissen wechselt. Nicht der Blick auf die Fremden steht im Vordergrund, sondern deren Blick auf die eigene Welt. Hatte Hakluyt die Erscheinung eines brasilianischen Königs am englischen Hof (1530) als überaus fremdartig bezeichnet,94 so fällt bei Montaigne das Fremdartige auf die französische Gesellschaft zurück. Schon die Ausgangskonstellation verkehrt das bekannte Muster der durch ›curiositas‹ motivierten Reise in die Ferne: Die Indianer hätten sich von ihrer Neugierde verlocken lassen, »ihren so lieblichen Himmelsstrichen den Rücken zu kehren, um die unsern kennenzulernen.« Ein unglückseliger Entschluß, so Montaigne, weil sie nicht ahnten, »wie teuer für ihre Seelenruhe und ihr Glück sie die Bekanntschaft mit unserer Sittenverderbnis eines Tages zu stehen käme, ja daß dieser Verkehr mit uns zu ihrem Ruin führen würde (der, wie ich vermute, schon weit fortgeschritten ist).«95 Die Indianer treten auf wie Gesandte eines fremden Herrschers. Sie sprechen lange mit dem König. Sie bekommen die Lebensweise der Franzosen, Pracht und Erscheinungsbild Rouens gezeigt. Sie werden nach ihrem Eindruck und Urteil gefragt. Die Antwort: eigentümlich seien Herrschaftsverhältnisse, in denen ein Kind regiert, merkwürdig eine Gesellschaft, gespalten in Reiche und Arme, welch letztere sich freiwillig der Knechtschaft der Mächtigen zu unterwerfen scheinen. Die Verwunderung der Fremden über das hierzulande Geläufige: ein mittlerweile bekannter Alteritätseffekt. Montaigne benutzt die momenthafte Außensicht zu einer Verunsicherung des Vertrauten, die die in ihm schlummernden Absurditäten freilegt. Gesellschaftskritisch beleuchtet der Kommentar die Ungleichheit der sozialen Machtverhältnisse und die Trägheit der Individuen, dies zu verändern: das Thema, das der frühverstorbene Freund Étienne de La Boétie in seinem Discours de la servitude volontaire

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(um 1548) behandelt hatte. La Boétie hatte mit dem Gedanken gespielt, »ganz neue Völker« kämen zur Welt, »weder an Unterwerfung gewöhnt noch auf Freiheit aus« und hätten zu wählen, »Knechte oder frei zu sein«. Sie würden zweifellos »lieber der Vernunft gehorchen als einem Menschen dienen«.96 Montaigne läßt nicht nur auf gewisse Weise ein solches Volk zur Welt kommen, er zeigt auch an ihm, daß dort, wo die abendländische Geschichte ihre Dominanz verliert, auch die Begriffe ihren Charakter ändern. Vernunft wird zur Gegenvernunft, die allgemeine Moral- und Geschichtsphilosophie zu einer spezifischen, einer indianisierten. Dem sich selbst fremd gewordenen Blick fällt nicht nur die Teilung der Menschen in zwei ›Hälften‹ ins Auge, sondern auch die Unmöglichkeit, den glücklichen Naturzustand aufrechtzuerhalten, ist er erst einmal mit einem entarteten Kulturzustand in Berührung gekommen. Eine paradoxe Situation: diejenigen, die den Europäern den Spiegeln vorhalten, werden eben, indem sie dies tun, von deren Geschichte erfaßt. Eine fragile Situation: der einmalige historische Moment wird möglich erst aufgrund der neuentdeckten Welt und zugleich nur in jener kurzen Zeitspanne, in der diese Welt noch nicht absorbiert ist. Der Autor erlebt eine epochale Begegnung mit, in der die Europäer die Chance einer Außensicht bekommen, die den Gang der Geschichte verändern könnte und dies doch nicht, so die Andeutung, tun wird. Die Veränderung betrifft vielmehr die Andern. Sie betrifft das Unzeitgemäße, das mit einem Mal in die eigene Zeit hineinragt und binnen kurzem von dieser verschlungen wird. Das Goldene Zeitalter, in den Kannibalen scheinbar greifbar, ist nicht wiederherzustellen. Es bleibt Idee, Traum, Phantasie – Anlaß zur Melancholie, aber auch zu reflektierter Selbstrepräsentation. Montaigne setzt auf spielerische Verwirrung und rhetorische Eigendynamik, auf Ironie und Subjektivität. Im letzten Absatz zeigt er sich im Gespräch mit einem der Indianer über Fragen der Macht und des Krieges in der fremden Gesellschaft: Welchen Gewinn der Häuptling aus seinem Stand ziehe, wieviele Männer ihm folgen würden, was mit seiner Autorität nach dem Ende des Krieges geschehe. Doch unser Kenner indianischer Kultur und fremder Rationalität zielt nicht auf die abschließende Synthese, sondern auf das Bonmot: »Tout cela ne va pas trop mal: mais quoy, ils ne portent point de haut des chausses« – »... sie tragen keine Kniehosen« (S. 214). Die verkürzte und verfremdete Zitierung jener vordergründig und äußerlich urteilenden »voix commune«, von der Montaigne sich eingangs abgesetzt hatte, ruft die kulturelle Differenz in Erinnerung, aber auch die Mittel, die im Umgang mit ihr zu tragen kommen: die Mittel des Essai, Haltungen und Worte zu erproben.97 Das heißt aber auch: Die Sachverhalte, die der Essai zur Sprache bringt, sind nicht ablösbar von dem, der spricht, seiner Stimme, seinem Ton, seinen Emphasen wie seinen Aussparungen. Beständig ist das Subjekt im Text

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präsent: »J’ay eu long temps avec moy un homme« beginnt, nach dem Einleitungsbeispiel, der zweite Absatz, »Je parlay à l’un d’eux fort long temps« der letzte. Das Ich ist wie im Reisebericht die Instanz für die Wahrheit der Rede, obschon es sich nunmehr nicht auf direkte Augenzeugenschaft, sondern auf reflektierendes Urteilsvermögen stützt. Immerhin gibt es auch hier materielle Berührungen mit dem Fremden: der Indianer, mit dem Montaigne spricht, das Getränk, das er probiert hat, die Gedichte, die sich ebenso in seinem Besitz befinden wie Exemplare der Hängematten, Schnüre, Holzschwerter, Armbänder und klingenden Rohrstäbe. Der Text ist durchtränkt mit Spuren der Präsenz der Andern. Diese Spuren unterlaufen momenthaft das hermeneutische Problem, wie von denen überhaupt authentisch zu sprechen sei, die, wie Léry sagte, leibhaftig wahrgenommen werden müßten. Doch sie führen auch wieder auf dieses hin. Montaignes Reflexion gilt den Brechungen des unverfälschten Bildes durch den vermittelnden Charakter der Repräsentation.98 Der Dialog mit dem indianischen Häuptling sei kein reines Vergnügen gewesen, habe den Dolmetscher doch seine Dummheit »gehindert, meine Gedanken zu begreifen«. Das wirft einen Schatten auf die Übersetzbarkeit zwischen den Kulturen im allgemeinen wie die scheinbar direkte Übermittlungsfunktion des ›einfachen Mannes‹ im besonderen. Aber das Problem liegt auch auf der Seite der Gedanken und damit des Subjekts. Von den drei Punkten, die die Indianer in ihrer kritischen Stellungnahme erwähnten, habe er, so Montaigne, zu seinem eigenen großen Ärger den dritten vergessen: ein deutlicher Hinweis darauf, daß auch die vorliegende Repräsentation des Fremden keine ungebrochene und ungefilterte sein kann. Mit ihr soll zwar das Fremde greifbar werden, wird aber mindestens ebensosehr das Ich greifbar, das sich mit diesem auseinandersetzt. Damit erweist sich das Kapitel Des Cannibales als Teil der Gesamtanlage der Essais, in denen die Reflexion durch ihre eigene Entfremdung hindurchgeführt wird: durch das Fluktieren der Begriffe, das Aufbrechen von Oppositionen, das Auftauchen neuer Denkmöglichkeiten. Es erweist sich aber auch als spezifischer Teil, in dem die Reflexion auf einen konkreten Anderen trifft, dessen Monstrosität sie nicht einfach der eigenen Monstrosität anverwandelt, sondern zu einer Ausstellung der eigenen Logik nutzt. Einer Logik des Denkbaren. Die berühmte Anrede an den Leser, mit der die Essais beginnen, im März 1580 verfaßt, verknüpft den Blick auf das Selbst mit dem Blick auf die Andern – im Modus des Konjunktivischen: »Que si j’eusse ésté entre ces nations qu’on dict vivre encore sous la douce liberté des premières loix de nature, je t’assure que je m’y fusse tres-volontiers peint tout entier, et tout nud. Ainsi, lecteur, je suis moy-mesme la matiere de mon livre« (S. 3). Der nackte Philosoph unter den Naturkindern: eine Phantasie, die sich selbst als Phantasie enthüllt und in der Enthüllung die

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Dynamik des Darstellungsprozesses freisetzt. Nur unter der Bedingung der Möglichkeit, dort zu leben, wo die Differenz von Natur und Kultur, Gesetzlosigkeit und Gesetz noch nicht existiert, wüßte sich das Ich so zu zeigen, wie es selbst als sowohl natürliches wie kultürliches ist – ganz nackt und ganz unverstellt, aber eben auch als solches imaginiert und repräsentiert. Die Sehnsucht nach dem Naturzustand wird ausbalanciert durch den Wunsch nach Selbstdarstellung, einer Darstellung, die, indem sie die Repräsentation im Wort metaphorisch überschreitet und konjunktivisch markiert (»würde ich mich abgebildet/gemalt haben«), vor allem ihre eigene Fragilität sichtbar macht.99 Sich selbst zum Gegenstand des Buches zu machen heißt also, sich unter den Bedingungen einer Entzweiung von Natur und Kultur zu reflektieren: als immer schon dem Ursprung entfremdetes Subjekt, das sich nur probeweise, momenthaft, gedanklich über die Zwänge, Entfernungen, Verluste hinwegzusetzen vermag. Das Versprechen, das dem Leser präsentiert wird, ist ein volles und eingeschränktes zugleich: Versprechen einer Selbstenthüllung, die sich nur im Gestus des Irrealis erfüllen kann. Die Repräsentation des Ich ist also nicht weniger prekär als die des Anderen, doch findet das Ich genau in diesem Anderen jenes paradoxe Objekt (der Begierde), an dem es in der Unmöglichkeit, dieses zu sein oder zu werden, die Möglichkeit, es selbst zu sein, erkennt.100 Der Andere ist das imaginierte Gegenüber, das vielfältige Züge annehmen kann: als Wilder, als Chimäre, als Autor, als Leser. »Indem ich mich für andere malte, legte ich klarere Farben in mir frei, als sie es ursprünglich waren« (»Me peignant pour autruy, je me suis peint en moy de couleurs plus nettes que n’estoyent les miennes premieres«; II 18, S. 665). Das Denken des Anderen ist in diesem Sinne kein bloßes Capriccio, das den Essais die Note des Exotischen hinzufügen würde, sondern ein epistemologischer Fluchtpunkt: Manifestation eines Denkens in Möglichkeiten. An verschiedenen Stellen klingt das Echo der Utopia des Thomas Morus nach. Auch Montaignes Neue Welt ist eine mögliche und zugleich nicht die einzig mögliche. Schon der Beginn des Essai 31 deutet an, die Entdeckung der Neuen Welt schließe die Entdeckung weiterer Welten nicht aus, habe man doch schon diese eine nicht für möglich gehalten. Gleichzeitig schürt er Zweifel, ob eine solche Entdeckung zu begrüßen sei: »J’ay peur que nous ayons les yeux plus grands que le ventre, et plus de curiosité que nous n’avons de capacité. Nous embrassons tout, mais nous n’étreignons que du vent« (S. 203). Die Augen größer als der Magen, die Neugier größer als das Fassungsvermögen – Montaigne legt scharfsichtig den Finger auf das Problem, daß es mit Entdeckungslust und Entdeckungsfahrten allein noch nicht getan ist. Im dritten Band der Essais wird er unter der Überschrift Des coches (1588, III 6) eine kritische Sicht auf die spanische Expansions- und Kolonialpolitik

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entwickeln. Diese Politik setzt fort, was für die Gewaltexzesse der näheren Gegenwart festgestellt worden war. Und sie ist für Montaigne deshalb besonders gravierend, weil er die andinischen und mittelamerikanischen Hochkulturen, die im Essai 31 noch nicht im Blick waren, als deutlichsten Beweis für die aufgestellte These begreift: das Fremde sei alles andere als barbarisch. Doch dieses entzieht sich, wenn man es sich einzuverleiben versucht. Es entzieht sich, weil man nicht weiß, was mit ihm anzufangen. Demgegenüber vorzuführen, was sich mit ihm anfangen läßt, ist der Anspruch des Essai Des cannibales. Gegen die kosmographischen Universalismen und kolonialen Phantasmen setzt er die Idee, das Fremde sei überhaupt erst als solches zu begreifen und es zu begreifen heiße auch, sich selbst zu begreifen. Es deutet sich hier erstmals in solcher Klarheit jene Konvergenz zwischen dem äußeren und dem inneren Fremden an, die für das Identitäts- wie Alteritätsverständnis der Moderne zentral werden wird. Sie deutet sich an, weil Montaigne über das an die konkrete Figur geknüpfte Moment des Fremden hinausgeht und verschiedene Formen von Fremdheit aufeinander bezieht oder genauer: auf das Selbst bezieht. Dieses Selbst allerdings ist nicht schon ein in seinem Erfahrungs- und Triebhaushalt gespaltenes, sondern seinerseits Produkt eines Sprechens und Schreibens, das neubegründet werden soll, archimedischer Punkt, in dem sich Traditionen, Reflexionen und Sprechhaltungen kreuzen, rhetorische Figur, mit der sich scheinbar objektive Sachverhalte in subjektive, gleichwohl kulturelle Energien verwandeln. Der Kannibale wird so zum Spiegel des sich in seiner eigenen Exzentrik bedenkenden Subjekts. Dieses wiederum findet in der Rhetorik des Kannibalismus Möglichkeiten der Bestimmung und Entfaltung des Selbst und des Andern, für die nicht ohne weiteres zeitgenössische Diskurse schon zur Verfügung standen. Montaigne bleibt nicht bei dem stehen, was Staden, Thevet oder Léry erprobten. Bei ihm besitzt der Kannibalismus zwar ebenfalls Anschlußmöglichkeiten für die Kritik der eigenen Gesellschaft. Er wird aber auch zu einer zentralen Schaltstelle für die Verhandlung des Verhältnisses von Natur und Kultur wie des Anderen und des Selbst. Er repräsentiert eine kulturelle Logik im doppelten Sinne: Expression einer spezifischen Rationalität wie Metonymie anderer, möglicher Rationalitäten. Er verkörpert im Prinzip des beständigen Wechsels zwischen ausagierter und rituell kontrollierter Gewalt auch das Prinzip des beständigen Austauschs zwischen den Gruppen und den Subjekten. Montaigne zeigt sich fasziniert von dem Gedanken, den Gefangenen zu essen, bedeute auf gewisse Weise, sich selbst zu essen. Und er zeigt sich fasziniert von der ›kannibalischen Rede‹, die dieses Prinzip auf den Punkt bringt. Die Engführung von Rhetorik, Fremderfahrung und Selbstreflexion erreicht hier ihren Höhepunkt. Rhetorik erweist sich nicht als bloßes Spiel mit unverbindlichen

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Aussagen, nicht als bloße Fähigkeit zu demonstrieren, wie gelehrt man mit antiken Beispielen und Autoritäten umgeht, wie kunstvoll man Zitate einmontiert, wie subtil man Ironie und Doppelsinn, Metaphern und Vergleiche verwendet, wie geschickt man zwischen ›narratio‹, ›digressio‹ und ›descriptio‹ wechselt. Rhetorik erweist sich als Selbstbegegnung im Modus der Sprache auf dem Feld des Andern. Der Kommentar des Autors zum indianischen Kannibalismuslied »Invention qui ne sent aucunement la barbarie« ist in diesem Sinne auch Selbstkommentar. Eine ›invention‹ ist der gesamte Essai, ›invention‹ im rhetorischen Sinne: Entdeckung und Schöpfung, basierend auf Kombination und Imagination. Sie markiert einen entscheidenden Moment in dem Prozeß, in dem sich das Imaginäre der Neuen Welt ausbildet.

Anmerkungen 1 Kolumbus, Der erste Brief, ed. WALLISCH, S. 30/32 (15f.): »Nullum apud eos monstrum reperi, ut plerique existimabant, sed homines magnè reverentiè atque benignos. [...] Itaque monstra aliqua non vidi neque eorum alicubi cognitionem excepta quadam insula Charis nuncupata, quæ secunda ex Hispan[i]a in Indiam transfretantibus existit. Quam gens quedam a finitimis habita ferocior incolit. Hi carne humana vescuntur.« 2 WITTKOWER, Die Wunder des Ostens; FRIEDMAN, The Monstrous Races; VON DEN BRINCKEN, Fines Terrae; MASON, Deconstructing America; MÜNKLER/RÖCKE, Der ordo-Gedanke. 3 Zu Colóns Umgang mit dem Kannibalismus im Tagebuch HULME, Colonial Encounters, S. 13–43; LEBEK, Kannibalen und Kariben. Jeweils wird beschrieben, wie sich die Kannibalenidee im Spannungsfeld von Begegnungserfahrung, Hörensagen, Zeichendeutung und Vorstellung formt: bei LEBEK in einer genaueren Lektüre des Originaltextes, die allerdings auch immer wieder der Spekulation verfällt, wie es wirklich gewesen sei. Zu Colóns diskursiven Hintergründen FLINT, The Imaginative Landscape. 4 Colón, Textos y documentos, ed. VARELA, II, S. 131: »Entendió también que lexos de allí había hombres de un ojo y otros con hocicos de perros que comían los hombres y que en tomando uno lo degollaban y le bebían la sangre y le cortaban su natura«; Übersetzung nach LEBEK, Kannibalen und Kariben, S. 81. 5 JOSEPHY, Amerika 1492, S. 10. Zum Verhältnis zwischen Kariben und Arawaks anhand der frühen Texte HULME, Colonial Encounters, S. 46–87; BOUCHER, Cannibal Encounters. 6 Einseitig kritisch ARENS, The Man-Eating Myth, und PETER-RÖCHER, Mythos Menschenfresser; differenziertere Blicke auf kulturelle Funktionen des Kannibalismus in den Sammelbänden RÖCKELEIN, Kannibalismus und europäische Kultur; KECK/KORDING/PROCHASKA, Verschlungene Grenzen; FULDA/PAPE, Das Andere Essen; zur frühneuzeitlichen Situation zusammenfassend und anregend LESTRINGANT, Le Cannibale. 7 WENDT, Kannibalismus in Brasilien; MENNINGER, Die Macht der Augenzeugen; ZIEBELL, Terra de canibeis; PRICE, Consuming Passions, S. 83–110; Versuch der Rekonstruktion des TupiKannibalismus bei COMBES, La tragédie cannibale. 8 Morus, L’Utopie, ed. PREVOST, 371,3–8: »omissa interim inquisitione monstrorum, quibus nihil est minus nouum. Nam Scyllas & Celenos rapaces, & Lestringonas populiuoros, atque eiusmodi immania portenta, nusquam ferè non inuenias, at sanè ac sapienter instituto ciues haud reperias ubilibet.« 9 BAKER-SMITH, More’s Utopia, S. 94. 10 Zu den Aspekten mittelalterlicher Kannibalismusdiskussion PRICE, Consuming Passions.

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11 Caroline Walker BYNUM: The Resurrection of the Body in Western Christianity, 200–1336. New York 1995. 12 Michele de Cuneo: De Novitatibus insularum occeani Hesperii repertarum a Don Christoforo Colombo Genuensi, in: Colombo – Vespucci – Verrazzano, ed. FIRPO, S. 47–75; dt. Übersetzung: Columbus, Dokumente. Bd. 2, S. 82–105. 13 Ebd., S. 85f. 14 Die reiche Forschungsgeschichte zu diesem Stich ist aufgearbeitet bei CHRISTADLER, Giovanni Stradanos America-Allegorie; generell zur Rolle von Geschlechterbeziehungen im Diskurs der Neuen Welt MONTROSE, The Work of Gender. 15 Carta de Pero Vaz de Caminha, S. 95, 100; Pero Vaz de Caminha, Brief an König Dom Manuel von Portugal, ed. PÖGL, S. 64, 71f. 16 Zur Homosexualität aus europäischer und indigener Perspektive TREXLER, Sex and Conquest. 17 Mundus novus, ed. WALLISCH, S. 18 (4); eine ausführliche Beschreibung einer ähnlichen Praxis auf den Philippinen in Francesco Carlettis Ragionamenti del mio viaggio intorno al mondo; dt.: Reise um die Welt 1594. Erlebnisse eines Florentiner Kaufmanns, Baden-Baden 1966, S. 111f. 18 Zum Zusammenhang mit der Theologie der Eroberung PALENCIA-ROTH, Enemies of God. 19 Vespucci, Lettera a Lorenzo de’ Medici, 18. Juli 1500, in: Scopritori e viaggatori, ed. LUZZANA CARACI/POZZI, S. 234. 20 Mundus novus, ed. WALLISCH, S. 20 (4): »alii alios et victores victos comedunt; et inter carnes humana est eis communis in cibis. Huius autem rei certior sis, quia iam visum est patrem comedisse filios et uxorem et ego hominem novi (quem et allocutus sum), qui plus quam ex trecentis humanis corporibus edisse vulgabatur. Et item steti diebus viginti septem in urbe quadam, ubi vidi per domos humanam carnem salsam, contignationibus suspensam, uti apud nos moris est lardum suspendere et carnem suillam. Plus dico: Ipsi admirantur cur nos non comedimus inimicos nostros et eorum carne non utimur in cibis, quam dicunt esse saporosissimam.« 21 Smith, Generall Historie, lib. 3, in: Works and Travels, ed. ARBER/BRADLEY, S. 396: »the roundnesse of the earth, and skies, the spheare of the Sunne, Moone, and Starres, and how the Sunne did chase the night round about the world continually; the greatnesse of the Land and Sea, the diversitie of Nations, varietie of complexions, and how we were to them Antipodes, and many other such like matters, they all stood as amazed with admiration«; s. auch MOSSIKER, Pocahontas, S. 74; BURGHARTZ, Der ›große Wilde‹, S. 170. 22 Petrus Martyr de Angleria, Opera, ed. WOLDAN, S. 40; Peter Martyr von Anghiera, Acht Dekaden, übers. von KLINGELHÖFER, S. 29. 23 Petrus Martyr, Opera, Ep. 147 (S. 367f.); LEBEK, Kannibalen und Kariben, S. 108–111 mit Übersetzung. 24 Dt. Ausgabe: Dis büchlein saget, [Straßburg: Grüninger 1509], E vr/v. Eine ähnliche Szene bei dem von Drakes Weltumsegelung berichtenden Kaplan Fletcher. 25 NEUBER, Fremde Welt im europäischen Horizont, S. 259f. 26 Staden, Historia, ed. MAACK/FOUQUET, I 44 (S. 132): »Ich sagte: Eyn unvernünftig thier frisset kaum das ander, solte dann eyn mensch den andern fressen? Er beyß darein, sagte/ Jau ware sche = ich bin eyn tigerthier, es schmeckt wol. Damit gieng ich von im.« 27 Vgl. SCHÜLTING, Wilde Frauen, fremde Welten, S. 119–130. 28 Historia I 22 (S. 90): »Da leyteten mich die weiber, etliche bei den armen, etliche bei den stricken, so ich umb den hals hatte, so hart, das ich kaum den athem konte holen. Also zohen sie mit mir hin. Ich wüßte nicht, was sie mit mir in dem sinne hatten; mit dem wurd ich ingedenck/ des leidens unsers Erlösers Jesu Christi, wie der von den schnöden juden unschuldig leyd. Dardurch tröstete ich mich und war desto gedültiger.« 29 Historia II 29 (S. 186); bei Thevet und Léry ist in Übernahme des Holzschnitts der Strick jeweils um die Brust geschlungen; LESTRINGANT, Le Cannibale, S. 178f. (Abb.). 30 LESTRINGANT, Le Cannibale, S. 127f. 31 KIENING, Das andere Selbst.

Anmerkungen

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32 Zu de Brys Darstellungstendenzen BUCHER, Icon and Conquest; BURGHARTZ, Inszenierte Welten. 33 Zu diesem Projekt LESTRINGANT, Le huguenot et le sauvage; ders.: L’expérience huguenotte au nouveau monde. Zu den frühen französischen Aktivitäten in Übersee generell DICKASON, The Myth of the Savage; WEHRHEIM-PEUKER, Die gescheiterte Eroberung; zu den späteren französischen Texten OBERMEIER, Französische Brasilienreiseberichte im 17. Jahrhundert. Zum protestantischen Überseeinteresse MAHLKE, Offenbarung im Westen. 34 DICKASON, The Myth of the Savage, S. 184. 35 Zitiert nach dem Faksimile: Thevet, Les singularités de la france antarctique, mit instruktiver Einleitung von Jean Baudry, S. 11–72; Ausgabe: Le Brésil d’André Thevet, ed. LESTRINGANT; eine zusammenfassende Würdigung, der das Folgende viel verdankt, unternimmt LESTRINGANT, L’atélier du cosmographe. 36 Singularités, cap. 1 (Faks., f. 2v; Ausg., S. 45): »pour plusieurs raisons m’a semblé mieux seant commencer ce mien discours à nostre embarquement, comme par vne plus certaine methode.« 37 Singularités, cap. 1 (Faks., f. 3r; Ausg., S. 45f.). 38 Singularités, cap. 27 (Faks., f. 51r–52r; Ausg., S. 121f.). 39 Singularités, cap. 5 (Faks., f. 8v; Ausg., S. 54). 40 Singularités, cap. 22 (Faks., f. 42v–43r; Ausg., S. 108f.). 41 Vgl. CÉARD, La nature et les prodiges; CRAMER, Der Umgang mit dem Wunderbaren in der Natur; DASTON/PARK, Wonders and the Order of Nature. 42 Singularités, cap. 36 (Faks., f. 68r; Ausg., S. 148), cap. 52 (Faks., f. 100v; Ausg., S. 201). 43 Singularités, cap. 19 (Faks., f. 35r/v; Ausg., S. 96): »L’on voit euidemment combien est grande la curiosité des hommes, soit pour appetit des congnoistre toutes choses, ou pour acquerir possessions, & euiter oysiuité, qu’ils se sont hasardez [...] à tous dangers et trauaux, pour finablement pauureté estongnée, mener vne vie plus tranquille, sans ennuy ou fascherie.« 44 Thevet, La Cosmographie vniverselle, Bd. 2, Paris 1575, f. 975v: »pour avoir cognoissance des choses rares et excellentes, l’homme curieux, comme j’estois, ne se soucie de peine ou fascherie qui luy soit proposée, à cause de son contentement luy fait oublier le faix et fardeau des ses labeurs«; LESTRINGANT, L’atélier, S. 32. 45 Singularités, cap. 40 (Faks., f. 76v; Ausg., S. 161); DE METRAUX, La religion des Tupinamba; COMBES, La tragédie cannibale chez les anciens Tupi-Guarani, vergleicht ältere und neuere Mythen-Überlieferungen. 46 BAUDRY, Einleitung zum Faks., S. 50f.; zum Charakter und zu den Ordnungsmustern solcher Sammlungen BRÄUNLEIN, Theatrum Mundi. 47 LESTRINGANT, Einleitung zur Ausg., S. 21–28. 48 Ebd., S. 27. Zum Gattungshintergrund der Problemata LESTRINGANT, Le récit de voyage et la question des genres: l’exemple des Singularitez de la France Antarctique d’André Thevet (1557), in: LESTRINGANT/GOMEZ-GERAUD, D’encre de Brésil, S. 93–108. 49 (Teil-)Ausgabe: Les Français en Amérique, ed. LUSSAGNET. 50 Ebd., S. 271, Anm. 1. 51 LESTRINGANT, Le Cannibale, S. 105–123. 52 FRIEDRICH, Naturgeschichte zwischen artes liberales und frühneuzeitlicher Wissenschaft. 53 Zitiert: Léry, Histoire d'un voyage, ed. LESTRINGANT; teilweise verändert ist die deutsche Übersetzung: Léry, Unter Menschenfressern am Amazonas; eine informative und anregende Einführung bietet LESTRINGANT, Jean de Léry ou l’invention du savage; wichtige Beiträge auch in LESTRINGANT/GOMEZ-GERAUD, D’encre de Brésil (z. B. zur Editionsgeschichte S. 13–38: LESTRINGANT, L’excursion brésilienne: note sur les trois premières éditions de l’Histoire d’un voyage de Jean de Léry (1578–1585); S. 65–78: GOMEZ-GERAUD, Jean de Léry: des parcours aventureux des manuscrits aux destinées du livre; S. 109–126: Michel JEANNERET: Léry et Thevet: comment parler d’un monde nouveau?). 54 Histoire, cap. 8, S. 210f.: »commençant par le principal, je poursuive par ordre« (deutsche Übersetzung, S. 167).

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55 LESTRINGANT, Jean de Léry ou l’invention, S. 74–78; zu den Klassifikationssystemen in den Tierbüchern der Zeit PINON, Livres de Zoologie de la Renaissance. 56 Histoire, cap. 18, S. 453: »ma consolation fut (selon qu’ils sont grands gausseurs) une risée qu’ils firent, de ce que sans y penser, ils me l’avoyent baillée si belle« (deutsche Übersetzung, S. 315); vgl. auch LESTRINGANT, Einleitung zur Ausgabe, sowie VERBERCKMOES, Amerindian Laughter; MAHLKE, Offenbarung im Westen, S. 178f. 57 Histoire, cap. 15, S. 364f.: »je refuteray ici l’erreur de ceux qui, comme on peut voir par leurs Cartes universelles, nous ont non seulement representé et peint les sauvages de la terre de Bresil [...], rostissans la chair des hommes embrochée comme nous faisons les membres des moutons et autres viandes: mais aussi ont feint qu’avec de grands couperets de fer ils les coupoyent sur des bancs, et en pendoyent et mettoyent les pieces en monstre, comme font les bouchers la chair de boeuf par-deçà. Tellement que ces choses n’estans non plus vrayes que le conte de Rabelais touchant Panurge, qui eschappa e la broche tout lardé et à demi cuit, il est aisé à juger que ceux qui font telles Cartes sont ignorans, lesquels n’ont jamais eu cognaissance des choses qu’ils mettent en avant« (deutsche Übersetzung, S. 267f.). 58 Histoire, cap. 8, S. 233f.: »combien que durant environ un an, que j’ay demeuré en ce payslà, je aye esté si curieux de comtempler les grands et les petits, que m’estans advis que je les voye toujours devant mes yeux, j’en auray à jamais l’idee et l’image en mon entendement: si est-ce neantmoins, qu’a cause de leurs gestes et contenances du tout dissemblables des nostres, je confesse qu’il est malaisé de les bien representer, ni par escrit, ni mesme par peinture. Par quoy pour en avoir le plaisir, il les faut voir et visiter en leur pays« (deutsche Übersetzung, S. 184). 59 Histoire, cap. 8, S. 226f.: »si maitenant en premier lieu, suyvant ceste description, vous vous voulez representer un Sauvage, imaginez en vostre entendement un homme nud, bien formé et proportionné de ses membres, ayant tout le poil qui croist sur luy arraché, les cheveux tondus, de la façon que j’ay dit, les levres et joues fendues, et des os pointus, ou des pierres vertes comme enchassées en icelles, les oreilles percées avec des pendans dans les trous, le corps peinturé [...] pour remplir ceste planche, nous avons mis aupres de ce Toüoupinambaoults l’une de ces femmes, laquelle suyvant leur coustume, tenant son enfant dans une escharpe de cotton [...]. Pour la seconde contemplation d’un sauvage, luy ayant osté toutes les susdites fanfares de dessus, apres l’avoir frotté de gomme glutineuse, couvrez luy tout le corps, les bras et les jambes de petites plumes hachées menues, comme de la bourre teinte en rouge, et lors estant ainsi artificiellement velu de ce poil folet, vous pouvez penser s’il sera beau fils« (deutsche Übersetzung, S. 178f.); LESTRINGANT, Léry ou l’invention, S. 97f. 60 MAHLKE, Offenbarung im Westen, Kap. III. 61 Vgl. Andreas Vesalius, De humani corporis fabrica libri septem, Basel 1543, Buch 2; The Illustrations from the Works of Andreas Vesalius of Brussels, ed. SAUNDERS/O.’MALLEY, Taf. 24–37; eine entsprechende Bilderserie des bis aufs Skelett ›entkleideten‹ menschenfressenden Indianers ist abgebildet bei LESTRINGANT, L’expérience huguenotte, S. 196f. 62 CERTEAU, Das Schreiben der Geschichte, S. 137–171. 63 Histoire, cap. 9, S. 238: »m’estant trouvé en un lieu où on en [Mehl aus Stärke] faisoit, ce flair me fit ressouvenir de l’odeur qu’on sent ordinairement és maison des sauvages, quand on y fait de la farine de racine« (deutsche Übersetzung, S. 188). 64 Histoire, cap. 16, S. 403: »j’en demeuray tout ravi: mais aussi toutes les fois qu’il m’en ressouvient, le coeur m’en tressaillant, il me semble que je les aye encor aux oreilles« (deutsche Übersetzung, S. 288). 65 LESTRINGANT, Léry ou l’invention, S. 153–156. 66 GOMEZ-GERAUD, Un colloque chez les Tououpinambaoults. 67 KOHL, Entzauberter Blick; STEINKOHL, Die gottlosen guten Wilden. 68 LESTRINGANT, Jean de Léry ou l’invention, S. 109. 69 Vgl. Anm. 1 zu Kap. 1. 70 Histoire, cap. 5, S. 153 (dt. Übersetzung, S. 90); LESTRINGANT, Le cannibale, S. 125f.; Frédéric TINGUELY, Jean de Léry et les vestiges de la pensée analogique, in: LESTRINGANT/ GOMEZ-GERAUD, L’encre de Brésil, S. 127–146; zum Kannibalismus jetzt auch MAHLKE, Offen-

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barung im Westen, S. 172–183. 71 Singularités, cap. 41 (Ausg., S. 166); LESTRINGANT, Le cannibale, S. 113f. 72 Histoire, cap. 5, S. 176f.: »tellement que sans savoir le moyen comme cela se faisoit, ils vouloyent neantmoins non seulement grossierement, plustost que spirituellement, manger la chair de Jesus Christ, mais qui pis estoit, à la maniere des sauvages nommez Ou-ëtacas, dont j’ay parlé ci-devant, ils la vouloyent mascher et avaler toute crue« (deutsche Übersetzung, S. 109). 73 Frank LESTRINGANT, Le cannibale et la marmite, in: LESTRINGANT/GOMEZ-GERAUD, L’encre de Brésil, S. 39–63. 74 Jean de Léry, Histoire memorable de la ville de Sancerre, Genève 1574; LESTRINGANT, Le cannibale, S. 134–142. 75 Histoire, cap. 15, S. 375: »nos gros usuriers (succans le sang et la moëlle, et par consequent mangeans tous en vie, tant de vefves, orphelins et autres pauvres personnes auxquels il vaudroit mieux couper la gorge tout d’un coup, que de les faire ainsi languir) qu’on dira qu’ils sont encore plus cruels que les sauvages dont je parle. Voila aussi pourquoy le Prophete [Micha 3,3] dit, que telles gens escorchent la peau, mangent la chair, rompent et brisent les os du peuple de Dieu, comme s’ils les faisoyent bouillir dans une chaudiere« (deutsche Übersetzung, S. 274). Generell zu den protestantischen Kannibalismusanalogien jetzt MAHLKE, Offenbarung im Westen. 76 Verstegan, Théâtre des cruautés, ed. LESTRINGANT. 77 Der ›Indianer‹ im Kloster St. Gallen, ed. SCHMUCKI, S. 50f. 78 Histoire, cap. 13, S. 310–312 (dt. Übersetzung, S. 235) 79 Zur Wirkung der Brahmanenidee im Kontext der frühen englischen Amerikaliteratur HAHN, Indians East and West. 80 Zitate im folgenden mit Seitenangabe nach der Ausgabe VILLEY/SAULNIER, S. 202–214; die Übersetzung nach STILETT, Bd. 1, S. 314–333. Ein gutes Spektrum gegenwärtiger Ansätze bieten die von Claude BLUM herausgegebenen Études montaignistes (über 40 Bde.). Besonders wichtig waren mir außerdem STAROBINSKI, Montaigne, und MATHIEU-CASTELLANI, Montaigne. 81 Die ältere Forschung zu diesem Essai ist aufgearbeitet bei ENDERS, Die Legende von der ›Neuen Welt‹, S. 185–260. An neueren Arbeiten s. FINK-EITEL, Die Philosophie und die Wilden, S. 118–144; LESTRINGANT, Le cannibale, S. 163–189; NELL, Reflexionen und Konstruktionen des Fremden, S. 117–136. 82 S. 210f.: »des tourmens qu’ils y auront à souffrir, des apprests qu’on dresse pour cet effect, du destrenchement de leurs membres, et du festin qui se fera à leurs despens. Tout cela se faict pour cette seule fin d’arracher de leur bouche quelque parole molle ou rabbaissée, ou de leur donne envie de s’en fuyr.« 83 S. 212: »Ces muscles, dit il, cette cher et ces veines, ce sont les vostres, pauvres fols que vous estes; vous ne recognoissez pas que la substance des membres de vos ancestres s’y tient encores: savourez les bien, vous y trouverez le goust de vostre propre chair.« 84 S. 209: »Je pense, qu’il y a plus de barbarie à manger un homme vivant qu’à le manger mort; à deschirer par torments et par gehennes un corps encore plein de sentiment, le faire rostir par le menu, le faire mordre et meurtrir aux chiens et aux pourceaux (comme nous l’avons non seulement leu, mais veu de fresche memoire, non entre des ennemis anciens, mais entre des voysins et concitoyens, et qui pis est, sous pretexte de pieté et religion), que de le rostir et manger apres qu’il est trespassé«. Zu den Übertragungen RAWSON, »Indians« and Irish, zu den Bezügen zwischen indianischem Kannibalismus und französischer Situation jüngst QUINT, A Reconsideration. 85 S. 210: »Nous les pouvons donc bien appeller barbares, eu esgard aux regles de la raison; mais non pas eu esgard à nous, qui les surpassons en toute sorte de barbarie.« 86 So der Tenor bei ENDERS, Die Legende von der ›Neuen Welt‹, in Übereinstimmung mit einem Großteil der Forschung. 87 Zu Montaignes Triaden STAROBINSKI, Montaigne, S. 200–211. 88 S. 206f.: »C’est une nation, diroy je à Platon, en laquelle il n’y a aulcune espece de traffique, nulle cognoissance de lettres, nulle science de nombres, nul nom de magistrat ny de superiorité politique, nul usage de service, de richesse ou de pauvreté, nuls contracts, nulles successions,

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nuls partages, nulles occupations qu’oysives, nul respect de parenté que commun, nuls vestements, nulle agriculture, nul metal, nul usage de vin ou de bled; les paroles mesmes qui signifient le mensonge, la trahison, la dissimulation, l’avarice, l’envie, la detractation, le pardon, inouyes. Combien trouveroit il la republique qu’il a imaginée, esloingnée de cette perfection: viri a diis recentes. Hos natura modos primum dedit.« 89 Zu den Louanges de la Folie, einer Übersetzung des von Erasmus’ Laus stultitiae inspirierten italienischen Textes La Pazzia (Venedig 1540), in dem von den neuentdeckten Völkern die Rede ist, LESTRINGANT, Le cannibale, S. 168f. 90 Zum Schillern der Begriffe auch TODOROV, Nous et les autres, S. 59–74; DUVAL, Lessons of the New World. 91 CERTEAU, Montaigne’s ›Of Cannibals‹, S. 74f. 92 S. 213: »Couleuvre, arreste toy; arreste toy, couleuvre, afin que ma soeur tire sur le patron de ta peinture la façon et l’ouvrage d’un riche cordon que je puisse donner à m’amie: ainsi soit en tout tamps ta beauté et ta disposition preferée à tous les autres serpens.« 93 MATHIEU-CASTELLANI, Montaigne, pass. 94 »All his apparell, behaviour, and gesture were very strange to the beholders«; DOGGETT/HULVEY/AINSWORTH, New World of Wonders, S. 48. 95 S. 213: »de ce commerce naistra leur ruyne, comme je presuppose qu’elle soit desjà avencée, bien miserables de s’estre laissez piper au desir de la nouvelleté, et avoir quitté la douceur de leur ciel pour venir voir le nostre.« 96 La Boétie, Von der freiwilligen Knechtschaft, ed. BULST/GÜNTHER, S. 52. 97 Zur Stelle auch WEIMANN, Shakespeares Sturm, S. 168f. 98 Zur ›unmöglichen Präsenz‹ DEFAUX, Un cannibale. 99 Zum Aspekt des Malens STAROBINSKI, Montaigne, S. 49–61. 100 Zur Rolle des Subjekts grundlegend CERTEAU, Montaigne’s ›Of Cannibals‹.

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Wunderdinge Von Anfang an wurden nicht nur Nachrichten und Geschichten aus der Neuen Welt mitgebracht, sondern auch Objekte. Sie waren die materiellen Zeugen der fremden Länder. Sie waren die Zeichen, die den Ertrag der Fahrten, unternommen nicht zuletzt aus ökonomischen Gründen, sichtbar machten oder zumindest die Aussicht auf Erträge nährten. Sie fungierten als Metonymien: Stellvertreter für das Terrain, aus dem sie kommen, Manifestation der Verheißung, die sich mit ihnen verbindet, Stimulus für die Imagination, die aus ihnen erwächst. Neben Gold und Edelsteinen wurden Pflanzen, Früchte und Tiere transportiert, unter ihnen vor allem Papageien. Auf Märkten zu kaufen und bis in die Bürgerhäuser einen Hauch Exotik hineintragend, wurden sie binnen kurzem zum Signum der Neuen Welt. Der Nürnberger Michael Behaim schrieb seinem Bruder in Lissabon, »er sei begierig nach papagay und andern Seltzamen dingen So man auß India pringt«.1 Der Straubinger Ulrich Schmidel ließ allerlei »plunderwerckh« wie »wein, prott unnd dergleichen zupesserung, auch papagei« und zwei Indigene aus Südamerika nach Europa verschiffen.2 Andere begnügten sich mit Federn, die von den Indianern zu kunstvollen Gebilden verarbeitet wurden und auf den europäischen Darstellungen als Kopfschmuck oder Körperbedeckung immer wieder abgebildet sind. Bunt, aber nicht monströs, fremdartig, aber nicht ganz unvertraut, vermittelten sie in idealer Weise das Exotische einer sowohl reizvollen wie harmlosen Fremde. Auf der Schwelle zwischen Natur und Kultur situiert, förderten sie jene Phantasien eines archaischen und doch nicht unzivilisierten Paradieses, wie sie sich schon in Colóns Tagebuch niederschlagen. Federarbeiten gehörten auch zu jenen berühmten Geschenken, die Cortés vom Aztekenherrscher Montezuma geschenkt bekam und 1519 an den spanischen König Karl schickte. Listen und Inventare der insgesamt 158 Posten haben sich erhalten. Chroniken und Flugblätter bieten Beschreibungen der ausgewählten Schätze, die 1520 in Brüssel ausgestellt wurden.3 Zu denen, die sie dort bewunderten, zählte Albrecht Dürer, der zu diesem Zeitpunkt durch die Niederlande reiste und in einem Tage- oder Merkbuch Grunddaten festhielt: Wege und Aufenthaltsorte, Ausgaben für Unterkunft und Verpflegung, Verluste im Spiel, Einnahmen durch Verkauf der eigenen

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Stiche und Drucke, Tauschgeschäfte und Geschenke, Namen von Personen, Zahl der Mahlzeiten. Persönliches und Innerliches kommt kaum zur Sprache. Emotionales beschränkt sich auf lakonische Emphasen angesichts schöner Städte, Bauten oder Dinge. Gelegentlich hebt Dürer etwas heraus, was er aus Deutschland nicht kennt. Das königliche Haus in Brüssel mit seinen Brunnen, seinem Labyrinth und Tiergarten erfreut ihn »gleich einem Paradies«. Kurz darauf notiert er sich dann den Eindruck seiner Begegnung mit den aztekischen Schätzen: »Auch hab ich gesehen die Dinge, die man dem König aus dem neuen goldenen Land gebracht hat: eine ganz goldene Sonne, einen ganzen Klafter breit, desgleichen einen ganzen silbernen Mond, auch so groß, desgleichen zwei Kammern voller Rüstungen derselben, desgleichen allerlei ihrer Waffen, Harnische, Geschütze, wunderbare Schilde, seltsame Kleidung, Bettwäsche und allerlei wunderbare Dinge zu mannigfachem Gebrauch, die da viel schöner anzusehen sind als Wunderdinge. Diese Dinge sind alle köstlich gewesen, daß man sie auf hunderttausend Gulden Wert schätzt. Und ich hab aber all mein Lebtag nichts gesehen, das mein Herz so erfreut hat wie diese Dinge und hab mich verwundert über die subtilen ingenia der Menschen in fremden Ländern. Und der Dinge weiß ich nicht auszusprechen, die ich da gehabt hab.«4 Kreisend um die Dimension des Wunderbaren liegt Dürer im Trend der Zeit. Allenthalben ist von ›Wundern‹ und von ›Verwunderung‹ die Rede, im Blick auf Bemerkenswertes, Außerordentliches oder auch Niegesehenes, im Blick vor allem auch auf die Ferne, die östliche wie die westliche.5 Von ›Wundern‹ oder ›Verwunderung‹ zu sprechen suggeriert Bedeutsamkeit und transportiert Affektpotentiale. Das spielt auch für das private Tagebuch eine Rolle, entbehrt dieses doch keineswegs der Rhetorik. Es evoziert neben dem enormen Geldwert ein anderes, dessen Bedeutung auszudrücken Unsagbarkeitstopoi und semantische Überblendungen (›ding‹ als Sache und als Hoffnung) dienen. Dieses Andere aber sind nicht Wunder der Natur, sondern Wunder der Kunst. Das gibt Dürers Eintrag seine besondere Note. Was man bis dahin meist an fremden Völkern bewundert hatte, war ihre mehr oder weniger deutliche Nähe zu einem imaginierten Naturzustand. Was hier im Vordergrund steht, sind ihre Hervorbringungen: Gold-, Silber- und Webarbeiten, künstlerische Fähigkeiten. Dürer spricht von »subtilen ingenia« und macht die überseeischen Gegenstände zu ästhetischen Objekten im Kunstdiskurs seiner eigenen Zeit. So beachtenswert dies ist, als Moment einer dezidiert ästhetischen Wahrnehmung von Elementen der Neuen Welt, so auffällig ist aber auch, wie wenig Genaues Dürer, außer dem Staunen selbst, festhält. Er zählt die Gegenstände und Materialien auf, gibt aber keine Beschreibung. Die auf den beiden Disken dargestellten Szenen erwähnt er nicht. Auch Abzeichnungen oder Spuren der aztekischen Gegenstände finden sich, anders als bei

Wunderdinge

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sonstigen Besonderheiten der niederländischen Reise, in seinen Arbeiten nichts. Das mag an der Kürze der Zeit gelegen haben, die für die Betrachtung zur Verfügung stand. Es mag sich hier aber auch etwas von der Fremdheit niederschlagen, die die Dinge umgab. Mit der Darstellung von Eingeborenen war Dürer vertraut. In einer seiner Randzeichnungen für das Gebetbuch Maximilians (1514/15) hatte er nach einer Vorlage Jörg Breus d. Ä. einen Bewohner Sumatras wiedergegeben – Zeichen des Exotischen wie der Machtinteressen des Herrschers.6 In der Holzschnittserie des Triumphzuges für Kaiser Maximilian (1516–18), an der Dürer mitgearbeitet hatte, waren von Burgkmair »Kalikutisch leut« entworfen worden.7 Ob sich unter ihnen vielleicht auch Bewohner ›Westindiens‹ befinden, wird den Zeitgenossen weniger wichtig gewesen sein als der modernen Forschung: zu unklar waren noch die allgemeinen Vorstellungen von den neuen Ländern und den neuen geographischen Verhältnissen; India konnte ebenso den Osten wie den Westen meinen; die in den Kunstkammern registrierten »mörischen« Dinge konnten mozarabischen, nordafrikanischen oder mexikanischen Ursprungs sein.8 Wie viele seiner Zeitgenossen ließ Dürer sich durch fremde Dinge faszinieren. Von seiner Reise nahm er zahlreiche Exotica mit nach Hause: einen Papagei, Kokosnüsse, Korallen, Baumwollstoffe.9 Von Amerika und dem gerade erst in den Blickpunkt getretenen Mexiko dürfte er wenig gewußt haben. Das erklärt die eigentümliche Ortlosigkeit des aztekischen Schatzes: Man staunt über ihn und hält dieses Staunen schriftlich fest, genau zu erfassen oder einzuordnen weiß man ihn nicht. Das ermöglicht aber auch, eine Präsenz zu erzeugen, die sich nicht sogleich in Deutungen auflöst. Montaigne wird dieses Moment (scheinbarer) kultureller Naivität in jener Figur des einfachen Mannes aufnehmen, der einen unmittelbaren Zugang zur fremden Welt besitzt. In der Tat verflüchtigt sich die Naivität dort, wo die Neue Welt klarere Konturen besitzt. Fast zur gleichen Zeit wie Dürer beschreibt der spanische Hofchronist Petrus Martyr die Gegenstände – in einem annähernd achtmal so langen Text, der anders als der Dürersche schnell gedruckt wurde: in Basel noch im folgenden Jahr als Abschluß der vierten Dekade. Martyr war zu diesem Zeitpunkt der vielleicht beste Kenner der Neuen Welt in der Alten. Seit fast drei Jahrzehnten sammelte er die Berichte über die spanische Expansion. Er kannte die Conquistadoren, er hatte Zugang zu offiziellen Dokumenten wie zu mündlicher Überlieferung, er vermittelte in seinem Werk die überseeischen Aktivitäten wie die dortigen Kulturen in einer Vielfalt und Detailliertheit, die ihresgleichen suchte. Er dürfte Zeit gehabt haben, die aztekischen Schätze genau zu betrachten. Kaum anders ist seine Beschreibung denkbar.10

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Schon zu den beiden Disken, als Mahlsteine bezeichnet, finden sich Angaben zu Umfang und Gewicht ebenso wie zur figürlich-ornamentalen Darstellung: zwischen Zweigen und Blumen das Bild eines auf einem Thron sitzenden Häuptlings, bis zum Knie bekleidet, »mit dem Gesicht eines Zemen, d. h. eines Wesens, wie man sich bei uns Nachtgeister vorstellt.« Doch dies ist nur der Auftakt. Angeführt wird das Goldkollier mit seinen 232 roten und 183 grünen Edelsteinen, seinen 27 Glöckchen und seinen zahlreichen Anhängern. Genannt werden die verschiedenfarbigen ledernen Schuhe, auch sie mit Gold, Silber und Edelsteinen besetzt, die turbanähnlichen Kopfzierden, die Federbüsche, Stirnbinden und Fächer, die goldenen Helme mit ihrem vielfachen Schmuck, als Helmbusch »ein grüner Vogel, dessen Füße, Schnabel und Augen aus Edelmetall gebildet sind«, dazu die kunstvollen Nachbildungen von Tieren: »eine Sphinx aus durchsichtigem Kiesel, eine in Gold gefaßte Eidechse, zwei große Schnecken, zwei goldene Enten, vier goldene Figürchen verschiedener Vögel, vier Tintenfische aus Gold.« Weiterhin: die mit Federn überzogenen Gegenstände, die mit figürlichen Goldplatten gezierten Langschilde, die ausgestopften Tierköpfe, die vortrefflich gegerbten Felle, die bunten Baumwolldecken, Umhänge und Hemden. Dies lesend, versteht man besser, warum Dürer so begeistert war von dem, was er in Brüssel sah. Man versteht aber auch, wie wenig er an jenem von Petrus Martyr selbst mitgeprägten Diskurs teilhatte. Der Chronist betont zwar wie der Künstler das Talent der Eingeborenen, ihren enormen Fleiß und ihre unübertreffliche Kunstfertigkeit. Doch er macht auch sichtbar, worin sich dieses Talent manifestiert, wie die Kunstwerke gearbeitet, die Felle behandelt, die Tierbälge vernäht sind. Er zeigt sich versiert nicht nur in der Beschreibung, sondern auch in der Einordnung der Objekte. Verschiedentlich gibt er Hinweise auf deren Bedeutung und Verwendung seitens der Indigenen. Momenthaft spielt er sogar mit dem Gedanken einer die Völker verbindenden Faszination an der bunten Schönheit exotischer Vögel: »Wie jene Menschen an unseren Pfauen und Fasanen den Schweif bewundern würden, wenn sie ihn sähen, so entzückt uns das Gefieder ihrer Tiere, aus dem sie Federbüsche und Kopfputz herstellen und geschmackvoll verarbeiten.«11 Trotz aller Fremdheit zeigen sich Neue und Alte Welt im Niveau ihrer Hervorbringungen und ihrer Wissensordnungen verwandt. Martyr entfaltet dies am Beispiel der aztekischen Bilderhandschriften, die ebenfalls zu Montezumas Geschenken gehörten. Ausführlich beschreibt er die Herstellung des Bastgewebes der Blätter, die Faltung und Bindung zu einem Codex. Fasziniert präsentiert er die Zeugnisse einer Schriftkultur, die der abendländischen nicht nachsteht. Auch hier gibt es flüchtige, auslöschbare Aufzeichnungen neben definitiv fixierten Texten. Auch hier die Sorge um eine zugleich solide und praktische Form der Bindung. Auch hier, trotz

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aller Differenz der Zeichen, eine Kombination von Schrift und Bild: »Die Schriftzeichen sind von den lateinischen sehr verschieden und bestehen aus Stäbchen, Haken, Knoten, Schlängeln, Sternen und Formen anderer Art. Sie sind aber wie die lateinischen in Zeilen gesetzt. Manchmal ähneln sie auch den ägyptischen Hieroglyphen. Zwischen den Linien zeichnen die Schreiber Bilder von Menschen und Tieren, besonders von Häuptlingen und Vornehmen. Daraus kann man schließen, daß in den Büchern die Taten der Ahnen eines jeden Häuptlings festgehalten sind. Ähnliches findet sich in diesem Zeitalter auch bei uns, daß nämlich Buchmaler in eine allgemeine Darstellung der Geschichte und auch in Sagenbüchern zu dem Vorgang, der erzählt wird, Bilder der Helden einfügen, um damit stärker zum Kauf anzuregen.«12 War in vielen anderen Texten die Schriftlosigkeit der überseeischen Völker zentraler Aspekt kultureller Differenz, so wird hier die aztekische Buchkultur zum Ausdruck einer Zivilisiertheit, mit der sich die Alterität der Neuen Welt, punktuell zumindest, den der alten Welt vertrauten Alteritäten annähert. Der Hinweis auf Ägypten zeigt es. Aber auch sonst verschieben sich die Akzente. Im unmittelbaren Anschluß kommt Martyr auf Götzendienst und rituelle Menschenopfer zu sprechen, eine »schreckliche Unsitte«, die jedoch die Spanier nicht sofort gewaltsam hätten unterdrücken wollen und die wiederum in seiner Darstellung keine pejorativen Züge trägt. Er schließt mit dem Hinweis auf Zeremonien, bei denen die Priester den Knaben und Mädchen »aus einem Krug etwas Wasser in Kreuzform über den Kopf schütten und sie damit offensichtlich taufen. Die Worte, die sie dabei sprechen, sind nicht zu verstehen, aber ihre Bewegungen und leisen Sprüche darf man beobachten und anhören«.13 So werden die Azteken zu einem Spiegel, in dem der gelehrte Europäer die eigene Kultur, mal mehr, mal weniger entfernt in der Zeit, wiederfindet. Doch auch verfremdet findet. Minutiöse Wiedergabe fremder Gegebenheiten und beständiger Vergleich mit den eigenen gehen Hand in Hand. Schon sprachlich verbindet sich die Orientierung an Klassikern und Humanisten mit einer Verwendung neuer Wörter aus dem Seewesen und der Kriegstechnik, einer Einführung indigener Wörter für Pflanzen und Tiere, Dinge und Sachverhalte.14 Die klassische Rhetorik dient dazu, anschaulich zu machen, was den Klassikern noch nicht bekannt gewesen sein konnte. Auch hier also wird Präsenz erzeugt, doch erwächst sie nicht aus dem Staunen und der Sprachlosigkeit, sie ist Effekt des Wissens, der Reflexion, der gezielten Repräsentation. Formen der ›enumeratio‹ und ›repetitio‹, der ›descriptio‹ und Ekphrasis überführen den Glanz der Objekte in den Glanz der Sprache. Zahlen, Farben und Materialien, Geruch und Geschmack, Tastsinn und Gehör machen das Dingliche und mit ihm die Neue Welt erfahrbar. Das Wunderbare wird gleichzeitig zum wissenschaftlichen und zum ästhetischen Gegenstand: präzise präpariert, aber nicht zum Präparat

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erstarrt. Es manifestiert sich hier erstmals im Hinblick auf die Neue Welt jener Wunsch nach sowohl genauer wie sinnlicher Gegenwärtigkeit, der auch die moderne Ethnographie beseelen wird.

Wundermenschen Immer ausführlicher werden im Laufe des 16. Jahrhunderts die Beschreibungen überseeischer Gesellschaften im Kontext von Landschaft, Fauna und Flora. Immer mehr treten dabei auch einzelne Personen durch Wörter und Reden, Gesten und Handlungen in den Vordergrund: als Gegner oder Partner. Schon Petrus Martyr ließ in seiner 1514 verfaßten zweiten Dekade den Sohn des Kaziken Comogrus ausführlich zu Wort kommen: Nackt vor den Spaniern stehend liefert er in einer wohlgeformten Rede das Bild eines goldreichen Landes jenseits der Berge, zugleich das Bild indigener Gesellschaften, deren Beziehungen, durch Tauschhandel, Konflikt und Krieg geprägt, denen der Europäer verglichen werden können.15 Andere Texte werden Petrus Martyr folgen. Sie dokumentieren die komplexen Relationen der europäischen und der indigenen Gruppierungen. Und sie entwerfen komplexe kulturelle Paradigmen, verfugt aus kolonialen, missionarischen und wissenschaftlichen Elementen, die durchaus gegenläufige Züge haben können. Die Anderen gleichzeitig wirtschaftlich auszunutzen, theologisch zu retten und wissenschaftlich zu erfassen erfordert immer neue Balanceakte der Argumentation. Und auch dort, wo man ihnen eine Stimme leiht, geschieht dies nicht schlichtweg aus Respekt. Die Reden von Indigenen, die zunehmend in die europäischen Texte aufgenommen werden,16 produzieren Effekte, die Positionen unterstreichen oder erschüttern, nicht selten in Form einer ›Triangulierung‹: Das positive und das negative Eigene werden mit Hilfe eines fremden Dritten differenziert, dadurch allerdings tendenziell auch die Grenzen zwischen Eigenem und Fremdem verwischt. Doch waren es nicht nur Objekte, nicht nur Wörter und Reden, die die überseeische Welt in der europäischen vertraten. Zum Mitgebrachten gehörten seit den ersten Fahrten auch Menschen.17 Sieben sollen es bei der ersten Reise Colóns, über 200 bei denen Vespuccis gewesen sein. Die reale Präsenz des Exotischen hatte schon die mittelalterliche Imagination beschäftigt. In der weitverbreiteten Geschichte des bayerischen Herzogs Ernst bringt der Protagonist von seiner Orientreise Vertreter der dortigen Wundervölker mit: Einäugige, Giganten, Langohren, Plattfüße, Pygmäen. Sie dienen dem Staunen, der Unterhaltung, dem Zeitvertreib. Nur ungern gibt er einige von ihnen an seinen König ab. Die Wunder machen den Osten leibhaftig gegenwärtig. Sie reichern aber auch den Text mit Präsenzeffekten an.

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Das Erzählen der Abenteuer und das Vorzeigen der Mitbringsel verflechten sich. So auch für die Neue Welt. Ihre Menschen transportieren die kulturelle Energie der Fremde. Sie besitzen Beweiskraft für die Bewohnbarkeit der überseeischen Regionen. Mit ihnen läßt sich das Projekt der Kolonisierung und Christianisierung untermauern. Die drei Männer aus Neufundland, die im Zuge von Sebastian Cabots Fahrt 1502 nach England geschleppt wurden, erscheinen zunächst sehr fremd und in ihrem Verhalten wie »bruyt bestis«, nach zwei Jahren hingegen so angepaßt, daß der gleiche Berichterstatter sie nicht mehr von Engländern unterscheiden kann.18 Auch der italienische Kartograph Alberto Cantino, der etwa zur gleichen Zeit in Lissabon Neufundland-Indianer »sah, berührte und untersuchte«, fand diese ziemlich menschlich: »Ihr Verhalten und ihre Gebärden sind angenehm, sie lachen sehr gern und äußern gern ihre Freude. [...] Die Frauen haben kleine Brüste, wunderschöne Körper und recht angenehme Gesichter.«19 Das Ästhetische blieb ans Nützliche gekoppelt. Ostentative Argumente im kolonialen Diskurs, interessierten die Fremden weniger in ihrer Exotik als ihrer Zivilisierbarkeit oder Brauchbarkeit – die allerdings fragil war: Einem fremden Klima und fremden Lebensumständen ausgeliefert, starben die meisten schnell, und auch in Übersee waren sie den Kolonisatoren nicht leistungsfähig genug; ab 1518 wurden schwarze Sklaven aus Afrika importiert. So trafen die realen Indianer zwar auf ein zunehmend exotikversessenes Publikum, doch die Imagination prägten sie nicht in gleichem Maße wie die in Reiseberichten und Holzschnitten vorgestellten. Chroniken und Urkunden verzeichnen in der Regel nicht mehr als das pure Faktum ihres Auftauchens, ihrer Besichtigbarkeit, ihres Todes. Begegnungssituationen, Staunen und Verwunderung werden selten ausgemalt. Sie spielen sich in Übersee ab und schlagen zunächst kaum auf Europa zurück. Die Orte der Projektion bleiben in der Ferne. Die sechs Azteken, die Cortés zusammen mit den Schätzen aus Neuspanien herübergeschickt hatte, waren zwar an verschiedenen Orten zu sehen, detaillierte Beschreibungen inspirierten sie aber, außer bei Petrus Martyr und dem apostolischen Nuntius Giovanni Ruffo de Forli, anscheinend nicht. Mehr Aufmerksamkeit widerfuhr den 39 Indianern, die Cortés 1528 zusammen mit 1500 Silbermark, 20.000 Goldpesos und zahlreichen anderen Schätzen nach Spanien brachte, um seine eigene, zwischenzeitlich fragwürdig gewordene Stellung zu festigen – mit Erfolg, wurden ihm doch nicht nur seine Besitztitel bestätigt, sondern auch weitere Expeditionen gestattet.20 Diese Indianer bildeten eine Attraktion des Hofes Karls V., an dem der Augsburger Maler Christoph Weiditz ihnen Anfang 1529 begegnete. In elf kolorierten Federzeichnungen für sein Trachtenbuch hielt er ihre Erscheinung aufs Genaueste fest, ihre Körper, ihre Bekleidung, ihren Schmuckes, ihre Tätigkeiten – spielerische Tätigkeiten vor allem des

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Jonglierens und Ballspielens, die den Eindruck einer heiter agonalen Neuen Welt vermitteln (Abb. 21).21 Die Zeichnungen zeigen das Fremde im Moment natürlicher Selbstinszenierung und als Teil jener Welt der Gaukler, Spielleute und Jongleure, der Mimen und Narren, an der sich die höfische Gesellschaft erfreute. Ansonsten scheinen Indianer eher im Kontext jener Monstrositäten ›ausgestellt‹ worden zu sein, von denen Flugblätter und Annalen berichten.

Abb. 21: Christoph Weiditz, Trachtenbuch, 1529; Nürnberg, GNM, Hs 22474, f. 12v/13r.

Seit Ende des 16. Jahrhunderts wurden die nach Europa Transportierten auch literarisch wirksam. Wenn Shakespeare in seinem Tempest Trincolo behaupten läßt, man würde heutzutage zehn Heller zahlen, um einen toten Indianer zu sehen (2.2.32), spielt er auf eine Faszination am Monströsen an, die sich wenig darum schert, ob ein Objekt lebendig oder tot ist. Wenn er Stephano daran denken läßt, Caliban zu kurieren, zu zähmen und als ideales Geschenk für einen Kaiser nach Neapel mitzunehmen (2.2.68f.), nimmt er auf die aus Lebendigem und Totem bestehenden Kuriositätenkabinette bezug. Zugleich zeigen beide Aussagen, die des Spaßmachers und die des betrunkenden Mundschenken, wie Literatur sich das Prinzip der Ausstellung von Fremdem im Rahmen der ihr eigenen ›Magie‹ und der ihr eigenen Form der ›folly‹ anverwandelt. Auch für den Freibeuter William Dampier

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stellt der Exot eine Möglichkeit dar, seinen eigenen Bericht der Weltumseglung sowohl mit Präsenzeffekten anzureichern wie deren Produktion zu thematisieren. Den zu halben Teilen gekauften Prinzen Jeoly, von der Insel Melangies, nahe der Philippinen, stammend, beschreibt er ausführlich, vor allem in seiner faszinierenden Ganzkörpertätowierung. Aber er unterläßt es auch nicht zu vermerken, wie ihn bei der Rückkehr nach England Geldmangel zwang, »Jeoly an Land [zu] schicken und vor vornehmen Personen« auftreten zu lassen, schließlich in stückchenweisen Anteilen zu verkaufen. »Später hörte ich, daß man ihn herumgeführt und für Geld hatte sehen lassen, und nachmals, daß er zu Oxford an den Kindsblattern gestorben wäre.«22 Das Interesse am Exotischen verquickte sich mit dem finanziellen ›interest‹. Regelrechte Werbeprospekte erschienen. Ein kleiner Text bot zusätzlich die Geschichte von Jeolys Schwester, die als Sklavin in Mindanao gewesen sei, wo der Sultan sich in sie verliebt hätte. Erwähnt wird hier auch, das Tatoo hätte die Kraft, Schlangen und andere giftige Tiere zu vertreiben. Ein Flugblatt, »mit dem man das Volk zu Jeolys Besichtigung herbeilocken wollte«, zeigte einen »Haufen sich durcheinanderwindender Schlangen«. Dampier selbst gibt sich skeptisch: »Soweit ich weiß, hat wohl noch kein Kunstwerk dergleichen Kräfte gehabt, und ich selbst habe gesehen, wie sich Prinz Jeoly vor Schlangen und Skorpionen genauso entsetzte wie ich.«23 Er führt damit auch die Idee, mit Indigenen als spektakulären Demonstrationsobjekten lasse sich Geld verdienen, in ihrer Ambivalenz vor: selbst von ihr angetan, betont er zugleich ihre problematischen Effekte. Daran, daß das wertvollste vorzeigbare Mitbringsel ihm sukzessive entgleitet, zeigt er, wie schwer vereinbar es ist, das Exotische gleichzeitig zu bewahren und der kommerziellen Zirkulation auszuliefern. Noch die Völkerschauen des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts werden damit zu kämpfen zu haben. In ihnen allerdings wird sich die Demonstration von politischer Macht und der Anspruch auf wissenschaftliche Rekonstruktion von Evolution im Rahmen eines national elaborierten Kolonialismus verbinden.24 Soweit ist die frühe Neuzeit noch nicht. Doch entwickelte sie Instrumente, das Fremde zu vermarkten. Dampiers Geschichte kann auf eine mehr als hundertjährige Tradition zurückgreifen. Eine spektakuläre Ausstellung von Indianern war schon 1566 erfolgt, als eine zusammen mit ihrem siebenjährigen Sohn von Franzosen in Neufundland gefangene Inuitfrau in Antwerpen präsentiert wurde. Die Flugblätter, die aus diesem Anlaß erschienen, vermerken, sie sei »von menigklich alda offendtlich gesehen worden/ vnd noch zu sehen«.25 Eine Abbildung (Abb. 22) zeigt Mutter und Sohn eng verbunden gegenüber dem feindlichen Außen. Der begleitende Text bietet eine Geschichte der Gefangennahme, garniert mit einem Schuß kannibali-

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Abb. 22: Warhafftige Contrafey einer wilden Frawen, Augsburg 1567 (Flugblatt).

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scher Egohistoire: Als man ihr in acht Monaten genug Französisch beigebracht hat, bekennt die Gefangene, »das sie von vilen Menschen gegessen«. Der unbekannte Autor schließt mit dem Dank dafür, daß Gott die Seinen nicht als wilde Menschenfresser geschaffen hat, und der Hoffnung, auch diese möchten sich zur wahren Gotteserkenntnis bekehren. Unzivilisiertheit und Unchristlichkeit gehen nach wie vor Hand in Hand. Die Fremden gehören zu den Wundern der Schöpfung, die zugleich sowohl für den klassifikatorischen wie den christlichen Universalismus zur Herausforderung wird. Der Zwinglianer Johann Jakob Wick integrierte das Flugblatt in seine Sammlung, wo es zwischen andern Blättern mit Naturkatastrophen, Gewaltakten und monströsen Erscheinungen den Glauben an Gott gerade dadurch nährte, daß es an die warnenden Vorzeichen einer aus den Fugen geratenen Welt erinnerte.26 Die Episode fand ihre Fortsetzung, als Martin Frobisher sich zur Arktis aufmachte, um die sagenhafte Nordwestpassage zu finden. Von der Fahrt des Jahres 1576 brachte er einen Inuit nach England, von der des Jahres 1577 einen Mann und eine Frau mit Kind: Beweisstücke für die Regionen, in die er sich vorgewagt hatte, und für deren Nähe zu den gelobten Ländern, Cathay im Osten und Nordamerika im Westen, beide verstanden als Schatzkammern, gefüllt mit Gold-, Silber-, Edelstein- und Gewürzvorkommen. Die unter Königin Elizabeth forcierten expansiven Bestrebungen galten der Konkurrenz mit Spanien und Portugal. Sie blieben aber zunächst fruchtlos. Das gab den lebendigen Menschen, die man mit sich führte, einen besonderen Wert, hatten sie doch zu vertreten, woran es ansonsten mangelte. Deshalb das Interesse, sie der Königin vorzuführen, und die Enttäuschung, als auch der von der zweiten Reise mitgebrachte Inuit starb, bevor die Königin ihn sehen konnte.27 Die Aufmerksamkeit für die Indigenen war eine beträchtliche, zumal der englische Diskurs über die Neuen Welten sich gerade erst in Ausbildung befand.28 Reiseberichte und illustrierte Flugblätter erschienen. Kolorierte Zeichnungen wurden angefertigt – von jenem John White, der sich in der Folgezeit zu einem Experten für die Darstellung von Indianern entwickeln sollte.29 Anläßlich des Todes des zweiten Inuit verfaßte der Arzt Edward Dodding einen ausführlichen Krankheits- und Sterbebericht. Man begegnete den Inuit mit dem Blick von Wissenschaftlern, die nach Gründen suchen, ihren Gegenstand nicht nur als würdig, sondern auch als ertragreich zu erweisen. Detaillierte Beobachtung stand neben kühler Autopsie und zaghafter Empathie. Der an der Fahrt beteiligte George Best schilderte den Kontakt zwischen Inuit und Engländern als Paradigma von Selbst- und Fremdbegegnung. Dem gefangengenommenen Eingeborenen werden Bilder gezeigt, die seinen im Vorjahr gefangengenommenen Landsmann darstellen: Bilder »both as he was in his own, & also in english apparel«. Er ist er-

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staunt, schweigt eine Zeitlang, beginnt dann mit der dargestellten Person zu reden. Als diese nicht antwortet, wird er wütend und begreift erst langsam, »by feeling and handling«, daß es sich um ein täuschendes Bild handelt. Doch die Erkenntnis gilt anders als im Falle von Narziß nicht dem Selbst und seinem Spiegel, sondern dem abwesenden Alter ego und den anwesenden Fremden. Sie, die Engländer, so schließt die Episode, besäßen die Macht, Menschen leben oder sterben zu lassen, wie es ihnen beliebt.30 Eine eigentümliche Aussage: Aus Sicht des Erzählers bezeugt sie die mangelnde Unterscheidung zwischen Realität und Abbild seitens des Wilden, eine Indifferenz, mit der die Europäern selbst bei der Landnahme operiert hatten, indem sie Zeichen nicht nur zur Darstellung, sondern zur Stellvertretung einsetzten.31 Im Ganzen der Geschichte wirkt der Satz wie der eines Narren oder eines Kindes, die, ohne es zu wissen, eine tiefere Wahrheit aussprechen. Auf gewisse Weise sind es ja tatsächlich die Europäer, die über Leben und Tod der Eingeborenen entscheiden, die sowohl deren Leben wie deren Tod zu Studienzwecken benutzen. Sie vertreten die göttergleiche Macht, die sich in narzistischen Inszenierungen gefällt, welche aber eben dadurch, daß sie im Text festgehalten sind, sich auch in ihrer Ambivalenz enthüllen. Ein anderes Experiment betrifft das Aufeinandertreffen zwischen dem Inuitmann (Calichough) und der Frau (Ignoth/Egnock), ebenfalls von den Engländern arrangiert und atemlos beobachtet. »Nachdem wir eine Gefangene zur Ergötzung unseres Mannes bekommen hatten, brachten wir die beiden zusammen, und jeder war begierig darauf, im Stillen die Art und Weise ihres Zusammentreffens und ihrer Unterhaltung zu betrachten – und es war in der Tat faszinierender anzusehen, als die Schrift ausdrücken kann.«32 Wieder spielt das Schweigen eine Rolle: als Moment der Verdichtung kultureller Energie im Text. Die Erwartung, die Wilden kopulieren zu sehen wie Tiere, wird enttäuscht, doch kompensiert durch die Intensität der Situation, auf die wiederum die Schrift nur verweisen kann. Daß die Wilden eindeutig auf der Seite der Kultur und nicht der Natur stehen, verschiebt das Augenmerk von der Sensation des Monströsen zum Reiz des Fremdvertrauten. Man konstatiert die Eigenheiten des Ausdrucks: ihr Lied und seine lange Rede bei der ersten Begegnung. Man registriert die Art der fürsorglichen und doch nicht sexuellen Verbundenheit zwischen den beiden: Sie kümmert sich um ihn, wenn er seekrank ist, er spart das Beste des Essens für sie auf. Man imaginiert sie als zwei Turteltauben, deren eine »would hardly have lived, without the comfort of the other«. Zurück in England, werden sie zu Figuren, in denen der Ausschnitt einer fremden Lebenswelt in vivo eingefangen scheint. Calichough jagt mit Kajak und Speer auf dem Fluß – ein Ereignis, das den Bürgermeister von Bristol so beeindruckt, daß er es in den lokalen Annalen festhalten läßt. Die Inuit erweisen sich als noble Wilde: klug, schnell auffassend, kommunika-

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tiv, musikalisch. Ein Verhältnis gegenseitiger Achtung scheint möglich: »Sie werden uns die Namen aller Dinge in ihrer Sprache beibringen, die wir gerne lernen, und sind ihrerseits fähig, alles von uns zu lernen. [...] Sie zeigten sich sehr verwundert über unsere Welt und hatten übermäßige Angst vor unseren Pferden und anderen Tieren. Doch wurden sie unter uns schnell zivilisierter, zutraulicher, umgänglicher und aufgeschlossener.«33 Über dem kulturellen Austausch liegt angesichts des Todes der Inuit ein dunkler, fast melancholischer Schatten. Doch ist umgekehrt der Tod auch Voraussetzung, der Begegnung im Schnittfeld der Kulturen Intensität zu verleihen. Eine generelle Anerkennung des Fremden ist daraus nicht abzuleiten. Bests ›Einfühlsamkeit‹ gründet sich nicht zuletzt auf der Notwendigkeit, die Ängste der Engländer, sich in den neuentdeckten Ländern niederzulassen, zu zerstreuen. Dodding, der Arzt, wiederum urteilt in seinem Bericht durchaus zwiespältig: Daß er keine Trauer bei Ignoth bemerkt, ist er geneigt, für das Zeichen eines animalischen Mangels an menschlichem Empfindungsvermögen zu halten. Den Tod Calichoughes bedauert er weniger wegen der Person, in seinen Augen ein gefräßiger, widerständiger und abergläubischer Kannibale, als wegen des Schadens für Frobishers Projekt. Unter der Hand verwandelt sich der Blick auf den sich der europäischen Medizin verweigernden Indianer in einen Blick auf den heroischen Wagemut der englischen Seefahrer, die Betrachtung des toten Körpers in eine Betrachtung des lebenden Staates und seiner Nerven (d. h. seiner nahen und fernen Ressourcen).34 Auch hier setzt die Verpflanzung des Indianers ins europäische Umfeld Imaginationen frei: nicht so sehr kulturelle als politische und ökonomische. Als einige Jahre später Elizabeth tatsächlich einen Indigenen zu Gesicht bekam, mitgebracht von Walter Raleigh aus Guiana, war damit sofort eine Möglichkeit verbunden, der spanischen Koloniekonkurrenz einen symbolischen Schlag zu versetzen: Ein begleitendes Schreiben des Earl of Essex »for the Entertainment of Her Majesty« berichtete, der fremdländische Prinz sei blind geboren, aber aufgrund einer indianischen Prophezeiung dazu bestimmt, die Spanier aus dem Land zu vertreiben; die Mittel zu seiner Heilung finde er seinerseits in der Ferne: Seated between the Old World and the New A land there is no other land may touch, Where reigns a Queen in peace and honor true; Stories or Fables do describe no such.

So werden die Indigenen zum Mittel, das eigene Land zum gelobten zu machen. Und so wird die künftige Erhebung gegen die Spanier mit der ihrerseits für die Zukunft erhofften Macht des englischen Königreichs und seiner Virgin Queen überblendet: ihre »heilige Gegenwärtigkeit« ist es, der diese »strangest innovation that ever was in the world« zugeschrieben wird.35

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Inszenierte Indigene Manche derartigen Imaginationen wurden sogar publikumswirksam inszeniert. Ein Paradebeispiel: die schon erwähnten Festlichkeiten zu Ehren des französischen Königs Henri II bei seinem Einzug in Rouen 1550. Aufwendig geplant und sorgfältig durchkomponiert präsentierte die Stadt dem Monarchen ein Spektakel, das an Vorläufer frühneuzeitlicher Entrées in Italien und Frankreich (auch in Rouen) anschloß, diese aber zugleich zu übertreffen suchte. Mehrere Beschreibungen in Vers und Prosa wurden, teilweise mit Holzschnitten versehen, gedruckt, die Geschehnisse auch auf diese Weise zum Ereignis gemacht: rhetorisch elaboriert, gelegentlich fast der liturgischen Emphase angenähert.36 Der Ablauf bestand zunächst aus verschiedenen Prozessionen, die dem König einerseits Macht, Wohlstand und Ergebenheit der Stadt Rouen in Form verschiedener Stände und kostümierter Gruppen vor Augen führten, andererseits seinen eigenen Ruhm herausstellten. Auf drei Karren zogen Personifikationen, Figuren und Szenen an ihm vorbei, Fama, Genealogie, Kirchentreue und militärischen Erfolg repräsentierend. Im folgenden dritten Teil zog er dann selbst triumphal durch die Stadt, mit verschiedenen Aspekte seiner Herrschaft konfrontiert: Auf den Wiesen der Seine begegnete er der brasilianischen Welt, am Ufer wartete in einem Grotto Orpheus mit den neun Musen, beim Überqueren der Brücke traf er auf Meeresgötter, auf dem Wasser spielte sich einer der von ihm so geschätzten Seekämpfe ab, eine Naumachia der Auseinandersetzung zwischen Franzosen und Portugiesen um Brasilien. Vor der Kathedrale von Notre Dame stand eine Statue von Hector, Vertreter der Trojaner, von denen sich die Franzosen ableiteten, die, kaum war der König in Sichtweite gekommen, zu bluten begann. Dann überstürzten sich die Bilder: das Wappen des Salamanders, Zeichen seines Vaters, wird eingehüllt von einem flammenumloderten Globus, aus dem ein Pegasus herausspringt, dann abgelöst von einem Bild des Königs, aus dessen Herz ein Weinstock wächst, nach dessen Trauben die fremden Völker begierig greifen; über dem Kopf des Herrschers die Planeten, die ihm ihre Gaben präsentieren. Es folgt ein Blick ins Paradies, wo Henri seinen Vater schlafend zwischen Personifikationen und Musen findet – zugleich ein Lob der Künste und der Wissenschaften. Zuletzt erwartet ihn vor den Stufen zum Kirchenportal der Kantor Claude Chappuys, der noch einmal die Themen und Intentionen der verschiedenen Inszenierungen zusammenfaßt. Ein gewaltiges Feuerwerk an Kunstfertigkeiten und wunderbaren Momenten also, aufgeladen mit vielfältigen Bedeutungsdimensionen, die sowohl auf die spezifische Person des Königs wie auch auf das Allgemeine von Herrschaft, Macht, Tugend, Glaube und Wissen zielten. Das brasilianische Szenario bildet jenen Teil des Ganzen, der sich am stärksten von der

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Tradition der königlichen Entrées abhob und am stärksten der szenischen Verlebendigung verschrieb.37 Auf einem Feld, mit natürlichen und künstlichen Büschen bepflanzt, waren Hütten gebaut und Befestigungen angelegt worden. Papageien, Affen und Eichhörnchen tummelten sich. Dreihundert Menschen, »sans aucunement couvrir la partie que nature commande«, liefen umher, arbeitend oder sich vergnügend, jagend oder in Hängematten liegend, unter ihnen fünfzig leibhaftige Indianer, die anderen Seeleute, nach indianischer Manier bemalt und gepierct. Sie sprachen ausgezeichnet Tupi »et exprimoit si nayfuement les gestes et facons de faire des sauuages, comme s’ilz fussent natifz du mesmes pays«. Sie stellten den Handel mit Brasilholz nach, das gehackt, zu einem Fort gebracht und auf ein im Fluß wartendes französisches Schiff verladen wurde, ein Schiff, das wiederum die Gefangennahme jener Tupinambá bewerkstelligte, die nun in Rouen auftreten. Simuliert wurde außerdem mit Pfeilen, Keulen und anderen Waffen ein Kampf zwischen den Stämmen, bei dem die siegreichen Tupinambá am Ende die gegnerischen Hütten niederbrannten. Die ausführliche Beschreibung betont die Wahrhaftigkeit und Naturtreue der Inszenierung. Selbst Brasilienerfahrene unter den Betrachtern hätten bestätigt, daß sie »veritable et non simulée« oder als ein »simulachre de la verité« erschienen wäre. Unverhohlen ist die Bewunderung für die geschickten Wirklichkeitseffekte, die Verwischung der Grenze von Simulation und Realität, die Authentizität der brasilianischen Welt. Besonders wichtig ist dabei die Zusammensetzung der Akteure. Sie gibt dem Versuch, ein Stück Übersee nach Rouen zu verpflanzen, seine besondere Pointe, halten sich doch durch das gemeinsame Agieren von echten und falschen Indianern die Illusion von Wirklichkeit und die Wirklichkeit der Illusion in der Schwebe: Bestaunen läßt sich ebenso das Fremde wie seine Nachahmung, ebenso die Natürlichkeit wie die Künstlichkeit, ebenso die Geschichte wie ihre Gegenwärtigkeit. Der dem Text beigegebene doppelseitige Holzschnitt (Abb. 23) zeigt die vielfältigen Aktionen in buntem Durcheinander, den Akzent auf die Natürlichkeit setzend. Weder sind die französischen Mimen zu erkennen noch die französischen Holzhändler und ihr Schiff. Doch unverkennbar sind die zahlreichen Bewegungsmomente, die das Bild dynamisieren und auf ihre Weise Präsenzeffekte erzeugen. Das theatralische Spiel mit Unterscheidung und Nicht-Unterscheidung konzipiert die Graphik als Spiel mit Nähe und Ferne, mit Panorama und Detail, mit Idylle und Kampf, die mehrfach ineinandergreifen. Auch hier geht es um ein Eintauchen des Blikkes in eine fremde Welt, die zwar problemlos wieder abzublenden ist, aber doch genug Reizpunkte bietet, um das Verweilen zu fördern. Zum Beispiel bei einer Hängematte im Hintergrund, in der sich ein nacktes königliches Paar befindet – humorvoller Zerrspiegel der königlichen Betrachter des Spektakels, Henri II und Katharina von Medici. Zugleich weiteres Zeichen

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für die selbstreflexive Dimension einer Inszenierung, die die Politik der Expansion und die Rhetorik der Alterität in der Schwebe hält. Der Verstext preist den König als den, »qui pourra ses limites estendre | Tant qu’il voudra, sans humain sang espandre«.38 Das französische Kolonieprojekt wird dieser Idee einer friedlichen Ausdehnung ins Fremde hinein eine neue Form zu geben versuchen. Und auch nach seinem Scheitern wird die Begeisterung für Brasilien nicht nachlassen: Als 1613 sechs Tupinambá in Frankreich einen Tanz vor dem jungen König aufführen, kennt die Freude keine Grenzen.39

Abb. 23: C’est la deduction du sumptueux ordre plaisantz, Rouen 1551, K ijv/K iijr.

Zur gleichen Zeit treten auch in London Indianer auf einer königlichen Festlichkeit auf, zunächst als Aktanten und dann sogar als Gäste. Beim Maskenspiel anläßlich des Hochzeitsfestes von Prinzessin Elizabeth 1613, in dessen Umfeld auch Shakespeares Tempest aufgeführt wurde, sind glanzvolle Figuren, geschmückt mit Federn, Silber, Gold und Perlen, zu sehen.40 Vier Jahre später ziert eine leibhaftige Prinzessin samt indianischer Begleitung das große von King James ausgerichtete Fest der Zwölf Tage. Unter den Zuschauern der Prachtentfaltung, bei der Einzüge, Tänze, Musikund Theateraufführungen sowie Geschenkverteilungen sich abwechseln, ist die einundzwanzigjährige Matoaka oder Pocahontas, Tochter des Häupt-

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lings Powhatan, nunmehr getauft auf den Namen Rebecca und Ehefrau des John Rolfe, eines englischen Siedlers in Jamestown in der Kolonie Virginia. Sie hatte anscheinend eine wichtige Rolle in den Kontakten zwischen den Powhatan und den Siedlern gespielt, hatte die englische Sprache gelernt, war zwischenzeitlich gefangengenommen worden und zum Christentum übergetreten. In London zog sie die allgemeine Aufmerksamkeit auf sich. John Smith, einer der Führenden bei der Elaborierung der Kolonie und einer ihrer wortmächtigsten Geschichtsschreiber, verfaßte, gerichtet an Queen Anne, ein Empfangsschreiben, in dem er Pocahontas’ Erscheinung zum historischen Ereignis macht: »the first Christian euer of that Nation, the first Virginian euer spake English, or had a childe in mariage by an Englishman: a matter surely, if my meaning bee truly considered and well vnderstood, worthy a Princes vnderstanding«.41 Als Prinzessin galt Pocahontas selbst. Begleitet von ihrem väterlichen Berater Utamatamakin, wurde sie wie ein Staatsgast empfangen. Zwar gab es kritische Töne, die das Thema des Wilden anklingen ließen. Doch im allgemeinen dominierte die Begeisterung über das so ganz und gar nicht Unzivilisierte ihrer Erscheinung, sprich: ihre problemlose Anpassung an die englischen Verhältnisse, die höfischen Gepflogenheiten, die kommunikativen Regeln. Auf den Stichen und Gemälden, die von ihr angefertigt wurden, ist denn auch das indianische Moment fast gänzlich getilgt. Man liebte die Aura des Exotischen und betonte das Heimisch-Adlige. Man bewunderte die edle Fremde und zugleich die eigene Fähigkeit, das Fremde zu absorbieren. Francis Bacon machte dies in seinem 1612 entstandenen Essay Of Travel zum expliziten Programm: Das Reisen solle schon im europäischen Rahmen nicht dazu führen, die eigenen Sitten zugunsten der fremden preiszugeben, vielmehr dazu, einige (metaphorische) Früchte aus der fremden Welt der eigenen zu vermitteln.42 Einerseits also koloniale Expansion: Die Twelfth Night Masque, an der Pocahontas Anfang 1617 teilnahm, verbildlichte in der von Ben Jonson verfaßten Vision of Delight die Idee einer sich von der Stadt über den ganzen Erdball ausdehnenden Zivilisation. Andererseits strikte Kontrolle des ins Mutterland zurückdringenden Fremden: Dieses sollte nützlich, moralisch unbedenklich und integrierbar sein. Pocahontas alias Rebecca war der lebendige Beweis für den gelungenen Austausch mit der Kolonie.43 Doch ging es den Beteiligten nicht nur um das Gelingen. Smith läßt Spannungen anklingen. Er, der sich trotz seines Empfangsschreibens erst spät bei Pocahontas präsentierte, sei kühl von ihr empfangen worden: »Nach einer knappen wortlosen Begrüßung wandte sie sich ab, verhüllte ihr Gesicht, als ob sie sich nicht wohlfühlte.«44 Vorwürfe hätten im Raum gestanden: »sie ergriff das Wort, erinnerte mich an die Freundlichkeiten, die sie mir erwiesen hatte, und sagte: ›Du versprachst Powhatan, daß das Dei-

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nige das Seinige sein sollte, und er tat das Umgekehrte; Du, ein Fremder in seinem Land, nanntest ihn Vater, und aus dem gleichen Grund muß auch ich Dich so nennen.‹«45 Smith hatte offensichtlich nichts getan, dem verbreiteten Gerücht, er sei tot, entgegenzutreten und entwirft nun in seinem Text, rückblickend, eine dramatische Szene der Gesten, Affekte und Stummheiten, eine Szene voller Zwischentöne, in der politische und persönliche Beziehungen sich durchdringen. Man hat daraus auf die Konkurrenz zwischen Smith und Rolfe um Pocahontas oder auf die Versprechungen des Engländers gegenüber Powhatan schließen wollen. Tatsächlich zu erfassen sind indes nur Smiths Selbstdarstellungen, Heroisierungen, die denjenigen von Cortés ein Jahrhundert früher nicht nachstehen. Zu ihnen gehört es, den Helden zugleich als begehrenswert und moralisch integer erscheinen zu lassen. Auch die undeutlichen Erwartungen der Indianerprinzessin nähren die Aura dessen, der gleichzeitig seine Autonomie, seine Beweglichkeit, seine Souveränität bewahrt: ein entscheidendes Moment gerade in jener kritischen Situation der frühen zwanziger Jahre, in der es darum ging, den Ereignissen in Virginia und der eigenen Rolle in ihnen einen weiterreichenden Sinn zuzumessen.46 Deshalb scheint Pocahontas erst im Lauf der Zeit zentrale Bedeutung gewonnen zu haben. In den ersten Texten spielt sie noch keine Rolle. In der Generall Historie of Virginia, New England, and the Summer Isles (London 1624) nimmt ihre Geschichte dann breiteren Raum ein. Sie bildet ein ›kleines Buch‹ und besteht aus aufgeladenen Momenten – wie jener Szene von dramatischer Qualität, in der die Häuptlingstochter den gefangenen Smith vor dem Tode bewahrt.47 Der Adoptionsritus, der ethnologisch als Basis der Situation ermittelt worden ist, verwandelt sich hier in einen theatralischen Effekt, Teil einer Tragikomödie, die die Ursprünge der neuen englischen Kultur in Übersee an den Bruch mit dem Opfermechanismus knüpft: Pocahontas wirft sich zwischen die Totschläger und das Opfer; sie macht ihren Körper zum Substitut (sie »got his head in her armes, and laid her owne vpon his to saue him from death«) und wird damit selbst zum Symbol des Austauschprozesses, der den Beginn der englischen Kolonie Virginia markiert. Die Vorbilder für einen solchen Umgang mit der archaischen Logik des Opfers sind vielfältig, von alttestamentlichen und antiken Beispielen bis hin zu frühneuzeitlichen, teilweise sogar auf Amerika bezogen. Zugleich spiegelt sich in ihm eine andere Situation bei Smiths früheren Kämpfen gegen die Türken in Ungarn, wo er ebenfalls gefangengenommen und durch eine Prinzessin gerettet wurde. Ungeachtet der kaum rekonstruierbaren historischen Wahrheit von Smiths Aussagen wird hier deutlich, wie sich ein kulturelles Sinnmuster verdichtet. Pocahontas übernimmt, sprach- und verhandlungsgewandt, die Rolle Malinches bei der Eroberung des Aztekenreichs. Und sie wird zu ei-

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ner Figur, an der sich Chancen und Risiken des kolonialen Projekts entwikkeln lassen. Als edle Wilde steht sie sowohl für die Prosperitäten des Landes wie die Flexibilitäten seiner Bewohner. Sie bahnt den Zugang zu den Indianern und vermittelt den Frieden zwischen den Völkern, einen Frieden, der zugleich den Gedanken nährt, das Arrangement mit den ›Savages‹ basiere auf deren Selbstunterwerfung unter die kulturell überlegene Nation, die daraus territoriale Ansprüche wird ableiten können. Pocahontas verkörpert aber auch die Fragilitäten des überseeischen Unternehmens. Ihr Englandaufenthalt, als Besuch gedacht, ist nicht triumphaler Beweis für die Akkulturation Virginias. Sie stirbt beim Aufbruch zur Rückreise im März 1617. Die diesseitigen Errungenschaften und Erinnerungen weichen jenseitigen Hoffnungen: »having given great demonstration of her Christian sinceritie, as the first fruits of Virginian conversion, leaving her a godly memory, and the hopes of her resurrection, her soule aspiring to see and enjoy presently in heaven, what here shee had joyed to heare and beleeve of her beloved Saviour«.48 Auch die Hoffnungen der Kolonie bedürfen neuer Anläufe. Die zunehmend spannungsvollen Beziehungen zu den Indianern gipfeln 1622 in einem Massaker an den Engländern, das wiederum die argumentative Basis bildet für eine in der Folgezeit weniger auf Kohabitation als auf Kontrolle, weniger auf Verheiratung als auf Versklavung setzende englische Politik.49 In dieser Situation, in der Smith sich in seiner Generall Historie um eine Gesamtschau der Entwicklung in Virginia bemühte, waren, wie angedeutet, kulturelle und literarische Muster gefragt, um das Geschehen zu deuten: Die Augestaltung der Pocahontasgeschichte ist eines von ihnen. Sie setzt den Tod der Protagonistin ebenso voraus wie den Abschluß einer historischen Episode.50 Sie findet aber eben deshalb auch einstweilen keinen unmittelbaren Resonanzraum. Erst aus gehörigem Abstand, als die Kolonie eine neue Stabilität und (durch den Tabakanbau) eine neue wirtschaftliche Perspektive gewonnen hatte, schien es attraktiv, auf die Idee des friedlichen Miteinanders zurückzukommen. Robert Beverley zeichnete in seiner Geschichte Virginias von 1705 ein idyllisches Bild der Indianer, in dem nun auch Pocahontas einen Ehrenplatz einnimmt. Damit war der Weg frei für jene Mythisierung der Anfänge der nordamerikanischen Geschichte, die dann in den Zeiten der Unabhängigkeitsbewegung voll durchbrach: mit einer ersten Novelle 1767, einer ersten (deutschen) Dramenbearbeitung 1784 und den romantischen Erzählungen des John Davies (1798–1802), in denen das Triangel Pocahontas-Rolfe-Smith seine Entfaltung erlebte. Seitdem sind die Imaginationen, die sich an die Urfigur Virginias knüpften, nicht mehr abgerissen. Alle Medien und Formen der Inszenierung ergreifend haben sie einen Mythos kultureller Identität geformt, der charakteristischerweise nicht mehr durch seine einzelnen Realisationen, sondern durch die Summe des

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Vielfältigen sich definiert.51 Das zeigt aber auch: Die Ingredienzen für die Entwicklung des Imaginären der Neuen Welt stehen in den frühneuzeitlichen Texten bereit: Begegnung und Austausch, Gefangenschaft und Nähe, Gewalt und Friede, Opfer und Umlenkung, Übertritt, Adoption und Bekehrung. Ebenso die Rhetoriken: Dramatisierung und Dialogisierung, Verdichtung und Aussparung. Sie beginnen aber erst dann die kulturellen Semantiken zu prägen, wenn entsprechende Bedingungen gegeben sind: eine Stabilisierung der Kolonie, eine Etablierung historiographischer Diskurse, eine Elaborierung der Diskussion von Natur- und Kulturverhältnissen.

Präsenz und Repräsentation Der Mythos stiftet Präsenz. Er erzählt nicht nur eine Geschichte. Er macht mit ihr die Gegebenheiten, von denen sie handelt, die Ursprünge, Gründungsakte und Daseinsbedingungen, gegenwärtig. Er ermöglicht die Partizipation an dem, was eine Fülle des Sinns verspricht. Er stellt Bedeutsamkeit her, indem er zwar Deutungen provoziert, diese aber zugleich unterläuft durch die Suggestion des Selbstevidenten. Er beantwortet Fragen durch Setzungen, hinter die nicht zurückgegangen werden soll und doch – weil jeder Mythos auch in einem Rezeptionsprozeß steht – beständig wird. Nähe und Distanz befinden sich so in ständigem Wechsel. Und auch die Mythen der Neuen Welt oszillieren zwischen Unmittelbarkeit und Unverfügbarkeit. In dem, was gegenwärtig wird, schwingt mit, was nicht gegenwärtig werden kann. Präsenz wird greifbar in der Repräsentation, die sie zugleich als gebrochene, sekundäre, uneigentliche erweist. Präsenz und Repräsentation sind so weder völlig identisch noch kategorial different. Sie stehen zueinander in einem Verhältnis wechselseitiger Implikation. Gerade für die Neue Welt kommt es zu einer immer neuen Interferenz zwischen Formen der Darstellung und Akten der Stellvertretung. Nicht nur die Landnahmen als solche, auch die dabei agierenden Subjekte, auch Texte und Bilder vertreten die Macht von Königen, Königinnen und Staaten, die sich in ihrem Allgemeinheitsanspruch immer nur durch Delegierte und Metonymien realisieren kann. Von ›représenter‹ ist in den französischen Amerikatexten überall dort die Rede, wo die Wiedergabe des Fremden im Hier und Jetzt thematisiert ist, von ›figura/figure‹, wo es um Übertragungen zwischen Konkretem und Abstraktem, Realem und Imaginärem, Sichtbarem und Unsichtbarem geht. Mit ›figura‹ kann ebenso das Bild wie die Szene, die Gestalt wie die Trope, die Verlebendigung wie die Fixierung gemeint sein: in der Beschreibung der brasilianischen Inszenierung von Rouen einerseits die visuelle Repräsentation im Holzschnitt, andererseits die wirklichkeitsnahe Aufführung am Fluß. Unter der Alternative

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Dokumentation oder Fiktion läßt sich dies nicht fassen. Genausowenig ist es sinnvoll, die Metonymien der Neuen Welt nach ihrem Grad an Unmittelbarkeit zu klassifizieren. Eher gilt es zu erkennen, in welcher Weise Nähe und Distanz, Innovation und Tradition, Natürlichkeit und Künstlichkeit in einzelnen Objekten, aber auch in ihren Kontexten zusammentreffen. Ein vielschichtiges Beispiel bieten die brasilianischen Gemälde des niederländischen Malers Albert Eckhout. Sie stehen in Zusammenhang mit einem Kolonialprojekt, das wenig nach dem englischen in Virginia im nordöstlichen Brasilien betrieben wurde – ein weiterer Versuch, der spanischportugiesischen Dominanz in Amerika entgegenzutreten. 1625 war es den Holländern gelungen, bei Pernambuco Fuß zu fassen. 1636 machte sich Johan Maurits von Nassau-Siegen nach Brasilien auf, um als Statthalter eine »Konsolidierung der von inneren Krisen zerrütteten und von äußeren Feinden bedrohten niederländischen Kolonie« zu erreichen.52 Der Erfolg war spürbar. Johan Maurits sorgte militärisch-politisch für Ordnung. Er ließ Orte und Festungen erneuern. Er verhalf der maroden Zuckerindustrie durch Restauration der Mühlen und Neuorganisation der Besitzverhältnisse zum Aufschwung. Er schuf mit der planvollen, in zeitgenössischen Ansichten und Grundrissen festgehaltenen Anlage der Residenzstadt Mauritsstad und deren Schloß Vrijburg ein Zentrum der Macht, zugleich ein Zentrum der kolonialen Vielfalt, die er dokumentieren ließ. Stärker als in den spanisch und portugiesisch dominierten Regionen gab es in ›Neuholland‹ ein Interesse an der exakten Erfassung von Landschaften und Bewohnern, von Fauna und Flora.53 Kartographie, Geographie und Ethnographie besaßen hohe Bedeutung: eingebunden zwar in ökonomische und politische Zusammenhänge, zugleich aber in ihren individuellen Möglichkeiten intensiv gefördert. Renommierte Wissenschaftler und Künstler waren integraler Teil des Unternehmens: der Botaniker Willem Piso, der Kartograph und Astronom Georg Markgraf, der Historiograph Caspar Barlaeus, die Maler Frans Post und Albert Eckhout. Vor Ort wurden weitere Personen eingebunden, so die beiden deutschen Reisenden und Abenteurer Caspar Schmalkalden und Zacharias Wagener, die in Reise- bzw. Tierbüchern Brasilianisches in kolorierten Federzeichnungen festhielten. Der Ertrag der vielfältigen Bemühungen war beträchtlich: In den Jahrzehnten um 1650 erfuhr das Studium der brasilianischen Natur und Kultur nachhaltige Impulse, botanische, zoologische, ethnographische und historische Grundlagenwerke entstanden, aufwendige Karten suchten eine neue Genauigkeit, bald tausend Zeichnungen und Hunderte von Gemälden arbeiteten an der authentischen Repräsentation des mit vielen Hoffnungen beladenen Landes. Generell setzte die holländische Historiographie der Zeit, gegen hartnäkkige (katholische) Traditionsgläubigkeit opponierend, zunehmend auf Augenzeugenschaft, Klarheit und Wahrhaftigkeit.54 Auch das Interesse an der

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Neuen Welt war zu großen Teilen ein wissenschaftlich-kartographisches.55 Doch darf man daraus keine naive Begeisterung für das sinnlich Vorfindbare ableiten. Auch die Bilder und Karten sind alles andere als ungefilterte Dokumente eines von der Fremde faszinierten Blicks. Die Brasilienkarte Georg Markgrafs (1646/47) ist zugleich ein gelehrtes, ein dokumentarisches, ein propagandistisches und ein präsenzerzeugendes Werk: versehen mit einer Unmenge an Text in verschiedenen Sprachen, mit einem Ensemble von Herrschaftszeichen, mit einer exakten Wiedergabe des Küstenverlaufs und mit einer Reihe von Miniaturbildern, in denen die Aufsicht zur Ansicht wird, brasilianische Gegebenheiten (Landschaften, Siedlungen, Menschen, Tiere) vor dem Betrachter ›aufgeklappt‹ werden. Mit der Verfeinerung der Repräsentationen verfeinerten sich auch die Rhetoriken von Exaktheit und Empirie, die Praktiken der Macht, teils offen gelegt, teils verschleiert: Die Sklaverei ist aus den Bildern verbannt; kommt einmal das Brandzeichen vor, auf Wageners Zeichnung einer Afrikanerin, so ist es auf Eckhouts ausgeführtem Ölgemälde verschwunden.56 Allgemein gesprochen: Das Dokumentarische ist nicht einfach, was es ist. Es verkörpert einen Anspruch. Und selbst die Zeichnungen in den Skizzenbüchern haben keinen rein privaten Charakter. Auch sie sind auf Betrachter gerichtet und von Texten begleitet, die ihrerseits rhetorische Züge tragen, zum Beispiel Wahrnehmung in Poesie, wie schlechte auch immer, zu verwandeln suchen. Zum Bild einer Tapoyerin dichtet Caspar Schmalkalden: »Wir wißen nichts von geld, von Sammet oder Seiden, | Mit einem busch von laub, wir Unsern leib bekleiden, | Der Waldt giebt schöne frucht viel wildpreth jung und alt | das Waßer Fisch die menig, zu Unserm unterhalt.«57 Noch weniger können Posts und Eckhouts Ölgemälde als schlichte Kartierungen des Gegebenen oder authentische Porträts von Personen begriffen werden.58 Ihre Kunst ist Repräsentationskunst, eingeschrieben in einen Verwendungszusammenhang und bezogen auf einen zeitgenössischen Bilddiskurs. Indem sie sich der amerikanischen Welt im Ölgemälde und mit neuer Detailliertheit annähern, eröffnen sie auch der Landschafts- und Personenmalerei neue Felder. Auf das eine spezialisiert sich Frans Post: Bilder eines klassischen Arkadiens von erhöhtem Standpunkt, Panoramen der Harmonie von Natur und Mensch, Idyllen des Miteinanders von holländischen Kolonisten, indianischen Einwohnern und afrikanischen Sklaven.59 Das andere wird zum Zentrum von Eckhouts Arbeiten: Ganzkörperansichten von Indianern und Afrikanern, Mestizen und Mulatten, daneben Stilleben mit Pflanzen und Früchten. Die Bilder, 26 bezeugte, 24 erhaltene, waren wohl für Johan Mauritsens neuholländisches Schloß Vrijburg gedacht. Sieben von ihnen sind signiert: mit dem Zusatz »1641 brasil« oder einmal »1643 brasil«. Sie gehören damit zu den ersten in der Neuen Welt entstandenen Ölgemälden. Doch sind sie dort nicht verblieben: 1654

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schenkte Johan Maurits sie seinem Cousin, dem dänischen König Frederik III., der sie seiner Kunstsammlung einverleibte. So zumindest in einer möglichen Version der Geschichte. Sie erklärt nicht alle Auffälligkeiten, die sich mit den Bildern verbinden. Zum Beispiel die Tatsache, daß diese anscheinend sämtlich mit gleichem Material und auf einheitlicher Leinwand, aus Europa stammend, hergestellt wurden und daß sie keine Spuren der langen Seereise aufweisen. Andererseits scheint Zacharias Wagener zumindest Vorstufen von ihnen in Brasilien gesehen zu haben, die er in sein Thierbuoch kopierte. Mit mehreren Schritten, vielleicht auch verschiedenen Bildtypen ist also zu rechnen. Wie auch immer aber die Situation genau gewesen sein mag, ist man darauf verwiesen, daß Präsenz und Repräsentation schon bei der Entstehung und Darbietung eine Rolle spielten. Die Bilder erzeugen mit den sinnlichen Mitteln des Ölgemäldes eine intensive Gegenwärtigkeit der brasilianischen Welt, die zumindest zum Zeitpunkt der Schenkung eine schon wieder entzogene war. 1644 war Johan Maurits aus Brasilien zurückgekehrt, 1654 die Kolonie offiziell an Portugal abgetreten worden. Was blieb, waren Personen, Gegenstände und Darstellungen. Nicht zu wenige, denn Johan Maurits ließ viele Kuriositäten verschiffen: Indigene, die auf dem Fest bei seiner Rückkehr auftraten, Möbel, Holzarbeiten, Kleinkunst, sieben Container mit Cassavamehl, vier Fässer mit Muscheln und Steinen, 103 Töpfe mit gezuckerten Früchten. Im Alter verstärkte sich die Sehnsucht nach der brasilianischen Welt noch. 1679 schreibt er an den dänischen Hof über den einsamen Ort in der Nähe von Cleve, an den er sich zurückgezogen hat: Dieser sei ihm nicht wild genug und er wolle deshalb Gemälde all der wilden Völker anfertigen lassen, die sich in Brasilien unter seiner Herrschaft befanden. Den dänischen König bittet er, ihm die geschenkten Bilder zurückzuerstatten oder zumindest Kopien anfertigen zu lassen – durch einen guten Maler, der die Größe der Figuren und die sonstigen Proportionen zu wahren versteht.

Früchte der Kolonie Nicht nur in Johan Mauritsens Augen transportierten Eckhouts Bilder eine ganze Welt, eine Welt in der Vielfalt ihrer Pflanzen, Früchte und Menschen. Die zwölf ungefähr quadratischen Stilleben (83–91 × 85–94 cm) zeigen Ananas, Melonen und Papayas, Zitrusfrüchte und Bananen, Maniokknollen und Avocados, Nüsse und Kürbisse verschiedenster Art (Abb. 24). Doch entspricht ihre Wiedergabe nicht ohne weiteres den in der flämischholländischen Malerei verbreiteten Früchte- und Blumenstilleben: keine Innenräume, keine Tische, keine kostbaren Decken und Haushaltsgegenstände, an denen sich die Kunst reflektieren konnte. Es fehlen Elemente einer

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rudimentären Narrativik und Zeichen, daß man es mit Resten (Angebrochenem, Halbgeschältem) zu tun hat, die liegengeblieben sind. Es unterbleiben Verweise auf den Bilderschatz der Vanitasthematik. Eine große Heuschrekke, die von einer aufgeschnittenen Avocado ißt, vertritt als einzige die beliebten Insekten und Kriechtiere. Eine Schale auf einem, ein Korb auf zwei anderen Bildern sind die einzigen künstlichen Elemente, auch sie eher unscheinbar. Spuren menschlicher Präsenz zeigen sich nur mittelbar: am abgeschnittenen, aufgeschnittenen und geschälten Zustand mancher Früchte, am geordneten, wenn auch nicht besonders kunstvollen Arrangement der verschiedenen Arten in der Schale. Der Untergrund, auf dem die Dinge liegen, ist auf allen Bildern ein massiver grauer Sockel, gelegentlich mit seiner Unterkante sichtbar, auch dann aber in seinem Charakter nicht genau definiert. Den Hintergrund bilden Wolkenformationen, mal heller, mal dunkler, mit Stücken blauen Himmels dazwischen. Werbebilder für die Fruchtbarkeit der holländischen Kolonie? Sicher nicht im platten Sinne. Die dargestellten Früchte sind überwiegend kultivierte, doch solche verschiedener Herkunft. Kohl, Gurke und Rettich, Melone und Zitrusfrüchte waren importiert. Sie zeigen an, daß auch die Früchte der Alten Welt in der Neuen gedeihen, daß die Kolonie in geradezu utopischer Weise die Kulturen verschmelzen läßt.60 Die Bilder erstellen ein Inventar dieser Amalgamierung. Zugleich erzeugen sie sinnliche Gegenwärtigkeit. Klare Konturen, harte Schatten, Lichteffekte auf den Oberflächen sorgen für Plastizität. Variationen der Auswahl und Anordnung erwecken den Eindruck unbegrenzter Fülle der Typen, Farben und Formen. Voll und reif sind die Früchte, unverdorben, lockend, aber auch fremd, ungewiß in ihrer Verwendung. Immer wieder hatten die überseeischen Früchte wegen ihrer Größe oder ihrer Seltsamkeit die frühneuzeitlichen Botaniker angezogen. Nun werden sie zum Ausdruck einer bunten Natürlichkeit, die sich als kultiviert oder kultivierbar erweist und die von den Bildern scheinbar direkt übertragen wird. Scheinbar deshalb, weil sie, sosehr sie sich der künstlerischen Raffinesse und Reflexivität des zeitgenössischen Stillebens verweigern, in ihrem Minimalismus doch wieder die Aufmerksamkeit auf die künstlerische Darstellung zurücklenken. Die Früchte sind als zusammengestellte kenntlich, nicht nur in den Schalen und dem Korb, sondern auch dort, wo sie einfach neben- oder übereinander liegen. Sie scheinen aufgetürmt wie auf dem Markt, von unsichtbaren Kräften in der Luft fixiert. Auch gibt es in einem Bild mehrere Exemplare, die verschiedene Entwicklungszustände und Seiten, Außen- und Innenansichten zu erkennen geben (Abb. 25). Sie fügen sich in farblicher Harmonie zusammen: weiße, graue und hellbraune Töne bei den Maniokfrüchten, orangene bei Melone und Zucchini, dunkles Grün beim Kürbis, Gelb bei Zitrusfrüchten und Bananen. Zwischen Untergrund und Hintergrund, zwischen der Unbeweglichkeit der

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Abb. 24: Albert Eckhout, Früchte, Ölgemälde, um 1641/43.

Abb. 25: Albert Eckhout, Maniok, Ölgemälde, um 1641/43.

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grauen Platte und der Beweglichkeit des ebenfalls überwiegend grauen Tropenhimmels vollzieht sich in jedem Bild aufs neue das Spektakel der Präsenz. Der Betrachter ist Teil davon. Er befindet sich auf Höhe der Früchte, in greifbarer Nähe, nicht auf halber Distanz wie bei anderen Stilleben, nicht durch Rahmen, Vorhänge oder anderes von ihnen getrennt. Der Untergrund erweckt den Eindruck, als würden die Früchte in den Raum des Betrachters hineinragen, ihn an der Fülle des Fruchtbaren teilhaben lassen. Äußerste Natürlichkeit und höchste Künstlichkeit fallen in eins. Präsenz und Repräsentation erweisen sich als zwei Seiten ein und derselben Münze. Für die acht Ganzkörperansichten von Personen in Lebensgröße (271– 282 × 161–189 cm) gilt Ähnliches. Auch hier ist Natürlichkeit nicht zuletzt ein rhetorischer Effekt, erzeugt dadurch, daß die Figuren allesamt im Freien erscheinen, neben Pflanzen, unter Bäumen, vor dem Hintergrund von Feldern oder Gewässern, ohne daß es sich aber um Momentaufnahmen ihres Agierens in natürlicher Umgebung handeln würde. Die Pflanzen, Tiere, Dinge und Hintergrundszenen stehen – als ausgewählte und häufig auch heterogene Zeichen – in paradigmatischem Verhältnis zu den Figuren. Diese nehmen ihrerseits Posen ein und bilden im ganzen ein Ensemble verschiedener ›Typen‹: Tapuyamann und Tapuyafrau, Tupimann und Tupifrau, Mulatte und Mamelukin, Afrikaner und Afrikanerin.61 Sie sind individualisiert und idealisiert zugleich. Individualisiert durch Gesichtszüge, Kleidung und Kontexte. Idealisiert durch statuarische Haltung, Ausblendung von Gewalt-, Macht- und Herrschaftsverhältnissen. Sie vertreten eine bestimmte Gruppe und zusammen genommen das in der Kolonie vereinte Spektrum der NichtEuropäer. Sie vertreten auch eine bestimmte Position im Spektrum von Kultur und Natur. Die Tapuyafrau ist durch die Beigabe menschlicher Körperteile als Kannibalin gekennzeichnet (Abb. 26), der Tapuyamann durch Vogelspinne und Boa zu seinen Füßen mit der gefährlichen Wildnis verbunden. Die Tupi hingegen stehen, wie aus den Reiseberichten seit längerem bekannt, mit den Europäern im Austausch. Sie bedecken ihre Schamteile, der Mann trägt ein Messer im Hosenbund, die Frau befindet sich in der Nähe einer Plantage mit Zitrusfrüchten, Kühen und einem Herrenhaus. Der Mulatte und die Mamelukin, Vertreter der seit den Anfängen der portugiesischen Herrschaft existierenden mestizischen Luso-Brasilianer, sind noch stärker den europäischen Konventionen angenähert: Er trägt eine Uniform und ein Gewehr, sie ein weißes langes Kleid und europäischen Schmuck. Die Afrikaner wiederum, faktisch die wichtigste Basis der brasilianischen Ökonomie, erscheinen nicht als Sklaven, sondern als freie, stolze Menschen, durch Attribute auf ihre Herkunft bezogen. Dattelpalme, Elefantenzahn, Früchtekorb und Muscheln evozieren die Güter, die sie in die holländische Kolonie ›einbringen‹.

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Abb. 26: Albert Eckhout, Tapuyafrau, Ölgemälde, 1641.

Es ist verführerisch, sich die genaue Hängung der Gemälde im Schloß Vrijburg, vielleicht in seinem Fürstensaal, vorzustellen: die Männer- und die Frauenbildnisse der vier Gruppen an gegenüberliegenden Wänden, zwischen ihnen höher angebracht die Früchtestilleben, alles zusammen eine Simulation des Exotischen, das zu vereinen die Kolonie sich angeschickt hatte.62 Eine solche Vorstellung muß mangels historischer Hinweise Spekulation bleiben. Eindeutig ist nur, daß die Bilder in vielerlei Weise aufeinander bezogen sind: Elemente des einen kehren im andern wieder, den Eindruck erweckend, man würde durch eine zugleich geschlossene und offene Welt wandern, kohärent, aber sich in immer neuen Facetten der Sinnlichkeit

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aufschließend. Überdies: eine zugleich natürliche und künstliche Welt. Das koloniale Projekt nährt die Illusion, die Kultivierung von Natürlichkeit biete ein Gegenmodell zur repressiven Politik der Portugiesen und Spanier. Die ›Rhetorik der Hautfarben‹63, scheinbar der Wertung entkleidet, suggeriert den Anspruch auf Realisierung einer Utopie. Eckhout greift die gängigen Muster auf, rückt sie aber in eigenartiges Licht: Die Kannibalin hält eine abgeschlagene menschliche Hand in der ihren und trägt einen Fuß im Korb auf dem Rücken – bekannte Versatzstücke der kannibalischen Ikonographie, die hier indes wie Zitate wirken. Von einem Menschenbein im Korb war bei Staden, ein Klassiker auch in niederländischer Übersetzung, zu lesen und davon, daß der Protagonist sich dem Angebot mitzuessen nur durch Weggehen entziehen kann. Hier ergibt sich eine andere Dynamik: Versunken-nachdenklich ist der Gesichtsausdruck der Tapuyafrau, als würde sie innehalten in ihrem Tun. Merkwürdig ist die Position der abgeschlagenen Hand, die sie auf ihren Oberschenkel stützt, als würde hier eine Monstrosität sichtbar, die definitiv selbstbezüglich, ja melancholisch geworden ist. Ein anderes Bild, außerhalb des Figurenzyklus, zeigt Eckhouts Verwandlung der Tradition noch eindrücklicher: die Darstellung eines Tapuyatanzes (Abb. 27). Sie galt der modernen Forschung als Gründungsurkunde ethnographischer Dokumentation im Bild: »In this truly extraordinary work he broke completely free from all formal and other conventions or stereotypes and succeeded in conveying a vivid and accurate impression of those gestures Léry had despaired of describing«.64 Erstaunlich ist indes weniger die Genauigkeit der Wiedergabe als ihre Hybridität. Der Tanz der Tapuya, jener am stärksten der Natur zugeordneten Gruppe der holländischen Kolonie, erscheint als Moment des Archaischen und doch nicht als Momentaufnahme. Am Waldrand plaziert, ist er aus dem Lebenskontext herausgerückt, auf rhetorische Weise naturalisiert. Die gegenüber den statischen ›Porträts‹ geltend gemachte Dynamik ist nicht nur eine des Dargestellten, sondern auch der Darstellung. Die Typisierung der Figuren spielt mit der Idee, ein Tanzender würde von allen Seiten gezeigt. Die Blicke aus dem Bild heraus machen den Betrachter, seinerseits angeblickt, zum Komplizen der Tanzenden und irritieren seine Position als unbeteiligter Beobachter. Die Frauen am Bildrand verweisen mit ihren Gesten nicht nur auf die Töne, die den Tanz begleiten und die das Bild nicht hörbar machen kann, sondern komplizieren mit ihren Blicken und Kopfhaltungen die Wahrnehmungsverhältnisse zusätzlich. Der Betrachter trifft auf Betrachter im Bild, die seinen eigenen Blick gleichzeitig spiegeln und verfremden. Die Faszination des Tanzes bestand nach den Worten von Zacharias Wagener in seiner Ordnung und Dauer: ein Tupuya hinter dem andern zwei bis drei Stunden ohne Unterbrechung65 – eine, mit Montaigne gesprochen, ganz und gar nicht barbarische Erscheinung. Sie bestand aber auch in der eigentümlichen Gleichzei-

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tigkeit von Einschließung und Ausschließung des Zuschauers. Mitgerissen von den scheinbar selbstvergessenen Bewegungen, muß er sich doch auch als nichtzugehörig erkennen, als von der Sehnsucht nach der Präsenz des/der Wilden gezeichnet. Das Bild repräsentiert die Präsenz wie die Sehnsucht nach ihr, indem es Bewegung und Erstarrung, Archaik und Ordnung, Natur und Kultur in einen seinerseits schwindelerregenden Wirbel versetzt.

Abb. 27: Albert Eckhout, Tapuyatanz, Ölgemälde, um 1641/43.

Wunderkammern Nach der Rückkehr aus Brasilien galt Johan Mauritsens Interesse weniger dem Wirbel der überseeischen Welt als den Turbulenzen der europäischen Politik. Er suchte die niederländische Position im Spannungsfeld der nordeuropäischen Mächte zu wahren und zugleich die eigene zu verbessern. 1652 wurde er auf dem Kaiserlichen Reichstag in Regensburg zum Fürsten des Heiligen Römischen Reichs ernannt, unterstützt unter anderem durch König Frederik III. von Dänemark und Norwegen. Daß dieser die Eckhoutschen Gemälde geschenkt bekam, ist also keiner Laune des Augenblicks zu verdanken, sondern politischem Kalkül. Frederik war an Kunstwerken und Exotica interessiert. Er war ein idealer Empfänger der Gemälde, die dadurch zugleich Teil der europäischen Zirkulation von Waren und Kunstwerken, Geld, Macht und Einfluß wurden.66 Sie kamen 1654 in die erst kurz zuvor eingerichtete Königliche Kunstkammer in Kopenhagen – im gleichen Jahr, in dem auch die berühmte Sammlung des dänischen Gelehrten und

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Arztes Ole Worm erworben wurde. Das Museum Wormianum enthielt Antiken, Kunstwerke, Naturalien, ausgestopfte und präparierte Tiere, exotische Objekte sowie ethnographische Stücke: Pfeile, Masken, die Nachbildung eines indigenen Walfängers (Abb. 28). Auch Eckhouts Gemälde dürften bei der Schenkung von Objekten begleitet gewesen sein, Schwertern, Keulen, Speeren, Körben, Federn, die das Abgebildete auf andere Weise faßbar machten. Sie werden zuerst im Inventar von 1674 erwähnt, als Teil des Indiansk Sal, in dem bei der Neuaufstellung um 1680 auch die zuerst die Antichambre zierenden Gemälde untergebracht wurden. Einige, wie das (heute verlorene) Bild von Johan Maurits mit einigen Brasilianern, fanden im Bildersaal bzw. in der Maleri Galleri ihren Ort.67

Abb. 28: Ole Worm, Musei Wormiani Historia, Leiden 1655, Titelblatt.

Die verschiedenen Unterbringungen zeigen die uneinheitliche Einstufung von Objekten der Neuen Welt, die einmal den Hervorbringungen der Natur, ein ander Mal denen der Kunst zugeordnet wurden. Die Kunstkammern hatten sich Mitte des 16. Jahrhunderts im Rahmen des entstehenden Sammlungswesens als Institutionen etabliert, mit denen sich fürstliche Macht und Souveränität zum Vorschein bringen, in denen sich aber auch Welt und Natur in ihrer Vielfalt studieren ließen.68 Als Mikrokosmen waren sie von

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vornherein auf das Staunen angelegt, das wiederum in den Wunderkammern seinen bevorzugten Entfaltungsort besaß. Die Wunder der Welt sind deren Präsenzen schlechthin. Sie zu sammeln heißt, jene sowohl in ihren Singularitäten wie ihrer Universalität zu erfassen. Sie nebeneinanderzustellen heißt, Punkte zu erzeugen, an denen sich die Enden von Natürlichkeit und Künstlichkeit berühren und ein Funke entsteht, der den Betrachter intellektuell wie sensuell berührt. Auch die Sammlungen in Buchform setzen darauf, nicht bloß zu klassifizieren, sondern auch zu affizieren: die Monstergalerien nicht weniger als die Trachtenbücher, die beide überseeische Figuren aufnehmen. Die konkreten Wunderkammern waren Teil einer Kunstkammer – die Zeitgenossen sprachen von Studiolo, Theatrum, Schatzkammer oder Raritätenkabinett – oder auch selbständige Gefüge. Jedenfalls Versammlungen von vielerlei Dingen. Versteinerungen und Muscheln, Gehörne und Skelette, Gemmen, Büsten und Statuen, Gewänder und Kopfbedeckungen, Waffen und Schilde, Münzen, Vanitäten und andere Kleinkunstobjekte fanden sich neben Exotica aus fernen Ländern und Monstrositäten aus vertrauten Regionen, auch neben mechanischen Kunstwerken, die die Bewunderung auf die menschliche Schöpfungskraft lenkten. Die Wunderkammern dienten der Ausstellung des Exotischen wie dem Rückzug ins Exotische. Zugleich warfen sie gerade in ihrer Vielheit die Frage auf, wie Welt und Natur in den humanen Wissensordnungen, den vorhandenen Topologien zu erfassen wären. Man erprobte Gliederungen, oft auch in Kombination, nach den Planeten, den Elementen, den Erdteilen, den Sinnen, den freien Künsten. Man erprobte Aufstellungen nach dem Modell des Theaters oder der Wandelhalle. Ole Worm entwarf in den vier Büchern seines Museum, dessen Illustrationen auf Piso-Markgrafs Historia Naturalis Brasiliae zurückgreifen, eine systematische Ordnung, die vom niedersten Bereich der Natur (Steine, Mineralien) über den höheren (Pflanzen, Tiere) zum höchsten (Mensch) führte und im letzten Bereich die Artificialia umfaßte, die im Laufe der Sammlungstätigkeit immer mehr an Bedeutung gewannen. Samuel Quiccheberg veröffentlichte 1565 einen idealen Sammlungsplan, der gleichzeitig nicht ohne Praxisbezug war: Im Hintergrund stand die in diesen Jahren von Herzog Albrecht V. von Bayern eingerichtete Kunstkammer; auch die Ordnung der ›maravillas‹ im Madrider Escorial, den weltumspannenden Machtanspruch Philipps II. dokumentierend, ähnelte der Quicchebergschen. Der systematische Ort der artifiziellen Exotica in diesem Plan war im Rahmen der ›instrumenta‹, nach den Jagdwaffen, den Spielen und den Waffen fremder Völker. Während die natürlichen Besonderheiten die dritte Klasse füllten, wurden hier in der vierten Klasse fremdartige indianische, arabische und türkische Gewänder, wundersame Feder- und Webarbeiten, Waffen und Felle untergebracht, geordnet gemäß den Formen und Hierar-

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chien des Seienden, nicht seinen konkreten Vorkommensweisen.69 Die Wunderkammer war ein Heiligtum heterotopischer Dinge, die ihre je eigene Fremdheit transportierten.70 Das Exotische umfaßte Stücke, die aus Ostasien wie aus Afrika oder Amerika stammen konnten. Und es befand sich immer an der Grenze zwischen den Naturalia und den Artificialia – weil die ersteren, wie in der berühmten Kunstkammer Kaiser Rudolfs II., auch Antiken einschlossen, während die letzteren auch Dinge enthalten konnten, die von der Natur ›kunstvoll‹ hervorgebracht wurden. Die theoretische Systematik der Gelehrten wurde verwischt durch historische und ästhetische Gesichtspunkte, die für den jeweiligen Besitzer wichtig waren. Erzherzog Ferdinand II. von Tirol, ein Neffe Kaiser Karls V., ließ seine Ambraser Sammlung nach dem strikten Schema der Materialzuordnung aufbauen, wobei zugleich jeder Kasten in einer anderen Farbe gestrichen war; der 17. enthielt unterschiedlichste Naturalia, Artificialia, Mirabilia und Scientifica und bot so etwas wie eine »Summe der Universalität der Kunstkammer«.71 Ursprünglich Zusammengehöriges blieb auf diese Weise eher zufällig zusammen, zum Beispiel dann, wenn eine Schiffsladung direkt nach der Ankunft weiterverschenkt wurden: Herzog Albrecht V. erhielt aus der Ladung ›indischer‹ Raritäten, die am 23. Mai 1572 in Livorno einlief, von Cosimo I. de’ Medici ein aus Federn gemachtes Madonnenbildnis, »ein mexikanisches Götzenbild, indianische Gerätschaften, lederne Flaschen mit Farben verziert« – mexikanische Objekte für die Kunstkammer, denen aber auch lebendige Objekte, ein Lama, ein Krokodil, kleine Vögel, indianische Mäuse und Hennen, zur Seite standen, um das Fremde gegenwärtig zu machen. Mexikanische Kunstwerke bildeten einen der wichtigsten Bereiche des überseeischen Kunstimports, da die Ausbeutung der Regionen und die Ausbildung des Sammlungswesens annähernd parallel verlief. Vor allem in italienischen und deutschen Sammlungen waren sie prominent vertreten, stärker als in Spanien, wo zunächst viele Objekte der Vernichtung preisgegeben wurden, darunter die Goldarbeiten, von denen Martyr und Dürer schwärmten.72 Erst unter Philipp II. gewannen mit den ›maravillas‹ des Escorial indianische Schätze, »representaciones naturalistas« und künstlerische Wiedergaben überseeischer Dinge an Bedeutung.73 In der gleichen Zeit bemühte sich Ferdinand II. von Tirol intensiv um mexikanische Federarbeiten, die er im Federkasten der Ambraser Kunstkammer versammelte. Bei seiner zweiten Hochzeit im Jahre 1582 trugen er und sein Pferd selbst »mörische Federbuschen«.74 Achtzig Jahre später erschien bei einem großen Umzug Ludwigs XIV. der Duc de Guise als phantastisch geschmückter »Americanorum Rex«.75 Die exotischen Dinge sind also keine rein antiquarischen. Sie dienen demonstrativen Zwecken. Sie stellen Präsenz her, und dies in gelegentlich paradoxer Weise: Ein Kokosnußbecher (heute im Bayerischen Nationalmuse-

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um in München) zeigt eine Ansicht von Mauritsstad und Recife – »eine brasilianische Repräsentation auf einem Stück aus Brasilien«.76 So versetzen die Dinge die Anschauung der überseeischen Welt in Bewegung – nicht nur, weil sie in den Kunstkammern in die Nähe von Automaten oder Schüttelkästen geraten können,77 sondern weil sie dort in besonderer Weise den Betrachter auffordern, die Welt zu durchwandern, an ihren Repräsentationen ihre Prinzipien zu erkennen. Mit ihnen wird sichtbar, greifbar, fühlbar, was ansonsten entzogen ist.78 Mit ihnen werden aber auch die klassifikatorischen Ordnungen, die semiotischen Systeme, die künstlichen Weltentwürfe herausgefordert. Wenn um 1700 das gewaltig angewachsene Wissen nicht mehr nur in Museen, sondern in Museen von Museen gesammelt wird, spielen auch die überseeischen Welten keine kleine Rolle: so in D. Michael Bernhard Valentinis Natur= und Materialkammer auch Ost=Indianische Send= Schreiben und Rapporten oder Museum Museorum oder Vollständige Schau-Bühne Aller Materialien und Specereyen.79 Das Verhältnis von Natur und Kultur zeigt sich nun als eines, aus dem die Rolle der Repräsentation ebensowenig mehr wegzudenken ist wie die des Betrachters. Der Kunst der Wunderkammer steht die Kunst der Repräsentation der Wunderkammer zur Seite. Stiche und Gemälde geben Ansichten der jeweiligen Ordnung und machen damit wiederum modellhaft verfügbar, was in der Sammlung selbst nicht immer die gleiche Übersichtlichkeit besitzt. Die Metonymien der fremden Welt gehen in ein Tableau ein, in dem sie metaphorisch den Prozeß der Übertragung aufscheinen lassen, der sich zwischen der Welt, der Sammlung und ihrer Darstellung vollzieht. Diese Konstellation offerierte ihrerseits Möglichkeiten für eine Kunst, die sich zunehmend mit der Repräsentation ihrer eigenen Gegebenheiten beschäftigte und alle Formen der Metapikturalität ausschöpfte. Der Bildtypus der Liebhaberkabinette oder der Gemalten Kunstkammer, in Antwerpen zu Beginn des 17. Jahrhunderts begründet, führte die Dokumentation von Kunst mit einer Reflexion ihrer Bedingungen zusammen – wobei zu diesen Bedingungen häufig auch die Inbezugsetzung verschiedener Typen des Kunstwerks oder generell des kunstvollen Objekts gehörte: neben Gemälden, die das Zentrum bilden, Statuen und Skulpturen, Instrumente und Globen, Kleinkunst, Naturalia und Exotica, zum Beispiel die omnipräsenten Papageien. Die je individuelle Kontextualität der Objekte in den Kunstoder Wunderkammern schlägt um in Intertextualitäten, die den Status des einzelnen Bildes, seiner Vorläufer und Konkurrenten, des Typus und der Sammlung zur Diskussion stellen.80 Dokumentarischer Anspruch und allegorische Sinnbildung interferieren ebenso wie Realitätseffekte und Lokalbezüge einerseits, exponierte Figuren und paradoxe Räume andererseits. Gleichwohl ist das Exotische in diesem Zusammenhang eher Beiklang als Träger der Bedeutungskonstruktion. Die Allegorisierung Amerikas und

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die Sensibilisierung reflektierender Wahrnehmung treffen nur punktuell zusammen, in den Erdteilallegorien etwa, in denen aber die Darstellung der Neuen Welt weitgehend nach bekannten ikonographischen Mustern erfolgt.81 Eine Ausnahme stellt der Antwerpener Jan van Kessel d. Ä. dar. Unterstützt vielleicht von Erasmus Quellinus II malte er sowohl ein Kunstkammerbild wie einen Erdteilzyklus und ein Erdteileinzelbild. Das Kunstkammerbild (um 1650–60) vereint Artificialia und Naturalia zu einem Sinnbild körperlichen und geistigen Sehens, das die Rolle der Malerei bei der Erkenntnis allegorisch verschlüsselt.82 Der Erdteilzyklus (1664–66) bietet ein furioses Panorama zeitgenössischer Weltkenntnis. Jeder der vier Teile besteht aus einem Zentralbild (Rome, Jerusalem, Le Temple des Idoles, Parajba en Brasil) und 16 darum herum angeordneten Kleinbildern: wilde Tiere vor dem Hintergrund von Landschaften, Küsten oder Städten als Veranschaulichung wichtiger Orte.83 Diese Orte beziehen sich im Falle des Amerikagemäldes, den holländischen Aktivitäten gemäß, zu weiten Teilen auf Brasilien. Die Tiere wiederum sind meist im Kampf gezeigt, manche aber auch mit neugeborenen Jungen. Es entsteht der Eindruck einer dynamisch im Kreislauf von Leben und Tod befangenen Welt. Das Zentralbild (Abb. 29) nennt mit Paraiba eine der im 17. Jahrhundert wichtigsten brasilianischen Ortschaften, die indes nicht dargestellt wird. Statt dessen dominiert der Ausschnitt eines scheinbar den Betrachter einschließenden Raumes, in dem sich Afrikaner und Indianer befinden, Vögel, Fische und andere Tiere, Muscheln, Schmuck und Münzen. In der Ecke steht eine SamuraiRüstung, kopiert nach dem Vorbild der realen Rüstung, die in Brüssel Erzherzog Albrecht, Statthalter der Niederlande, besaß.84 Auch die daneben plazierten »indianischen« Gegenstände, Bogen und Köcher, Lanze und Schwert, japanische Schrifttafel und asiatische Gongs, verweisen auf die gleiche Sammlung. Sie werden ergänzt durch die Objekte der Wände und Nischen: indianische und asiatische Figuren (unter den indianischen Eckhouts Kannibalin), Masken und Gemälde, teils ihrerseits Kunstkammerstücke, der Aufreihung einzelner Exemplare verschrieben, teils Szenenbilder des indianischen Dorflebens, des kannibalischen Rituals und der asiatischen Witwenverbrennung – auch hier bindet sich Kultur an Gewalt. Alles in allem also eine Wunderkammer, die Dinge und Figuren verschiedenster Art vereint – ohne Instrumente, Globen oder andere Zeichen europäischer Wissenschaft. Das Gemälde setzt auf Unmittelbarkeit, nicht Gelehrtheit. Differenzierungen ethnographischer und zoologischer Art sind überspielt. Die Kleinbilder mischen unter die amerikanischen Tiere Einhörner, Elefanten und Giraffen. Die dargestellten Bilder der Witwenverbrennung, der Käfer und Schmetterlinge beziehen andere Kontinente ein. Der Afrikaner und die Indianerin im Vordergrund signalisieren ebenso wie die beiden Putti eine Situation kultureller Symbiose.85 Die Repräsentation der

Wunderkammern

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Wunderkammer führt vor, wie die Grenzen der Welten sich verwischen – an den Orten des Imaginären. Ein solcher Ort ist das Bild selbst. Es verkörpert Exotik par excellence. Es erweckt das Unbelebte zum Leben und zeigt die Erweckung als Illusion: Die Fische im Vordergrund schwimmen in einem imaginären Wasser. Kategorial Verschiedenes verbindet sich: gemalte und lebendige Tiere, bildlich dargestellte, plastisch geformte und leibhaftige Indigene. Sie betreten aus einer Tür in der hinteren Wand den Raum, tanzend und fröhlich, begleitet von Musik. Ein theatralischer Einzug, wie ihn keines der anderen Erdteilbilder kennt. Ein Einzug aber auch mit selbstreflexiven Zügen. Manche der Indianer scheinen ihre eigene Darstellung in Statuenform zu betrachten. Die vielfältigen Repräsentationsformen zielen auf die Repräsentationsprinzipien, auf die Frage nach mittelbarer und unmittelbarer Präsenz. Anders als bei den anderen Erdteilen geht es um die sinnliche Erscheinung und Vorstellung des Fremden als solchen.

Abb. 29: Jan van Kessel, Die vier Erdteile: America, Ölgemälde, 1664–66.

Jan van Kessel hat Schule gemacht. Mehrere Kopien der Serie sind bekannt. Schule gemacht hat damit auch eine Darstellung, die weniger eine authentische Anschauung bietet als eine vielgesichtige – Anschauung einer Welt, deren geistiges Zentrum nach wie vor Europa ist. Das erwähnte Erdteileinzelbild (1670) führt dies vor. Zwar sind auch hier Exotisches und Überseeisches dargestellt, doch kein Zweifel besteht: In puncto Wissenschaften und

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5 Sinnliche Gegenwärtigkeit

Künsten, Spiritualität und Handel gebührt der Alten Welt der Vorrang.86 Die Neue reizt nicht so sehr als Gegenstand kultureller Neugier, sondern als Herausforderung sinnlicher Vergegenwärtigung. Auch die Erdteilallegorien der Folgezeit werden die gleiche Richtung einschlagen: Verstärkung erotischer Momente, Entwicklung neuer Präsenzeffekte durch das trompe l’œil von Wand- und Deckengemälden.87

Anmerkungen 1 Nürnberg, Stadtarchiv, Familien-Archiv Behaim, E 11/II, No. 585; Chr. JOHNSON, Bringing the World Home, Kap. 2, Anm. 135. 2 Ulrich Schmidels Reise, ed. LANGMANTEL, S. 112,12f.; 111,20f. 3 Elaine TENNANT: Telling the Treasure: Earliest European Reactions to the Mexican Gold Shipment of 1519 (unveröffentlichtes Manuskript). 4 Dürer, Schriftlicher Nachlaß, ed. RUPPRICH, S. 155: »Auch hab jch gesehen die dieng, die man dem könig auß dem neuen gulden land hat gebracht: ein gancz guldene sonnen, einer ganczen klaffter braith, deßgleichen ein gancz silbern mond, auch also groß, deßgleichen zwo kammern voll derselbigen rüstung, desgleichen von allerley jhrer waffen, harnisch, geschucz, wunderbahrlich wahr, selczamer klaidung, pettgewandt und allerley wunderbahrlicher ding zu maniglichem brauch, das do viel schöner an zu sehen ist dan wunderding. Diese ding sind alle köstlich gewesen, das man sie beschäczt vmb hundert tausent gulden werth. Und ich hab aber all mein lebtag nichts gesehen, das mein hercz also erfreuet hat als diese ding. Dann ich hab darin gesehen wunderliche künstliche ding und hab mich verwundert der subtilen jngenia der menschen jn frembden landen. Und der ding weiß ich nit außzusprechen, die ich do gehabt hab.«; vgl. FEEST, ›Selzam ding von gold‹. 5 Gute Übersichten mit Katalog: KENSETH, The Age of the Marvelous; DOGGETT/HULVEY/AINSWORTH, New World of Wonders. 6 Das Gebetbuch Kaiser Maximilians, ed. SIEVEKING, S. XXIIIf. und f. 41r. 7 Triumphzug Kaiser Maximilians, ed. APPUHN, Nr. 129–131 und S. 195f. 8 SCHEICHER, Die Kunst- und Wunderkammern, S. 27. 9 Zu den frühneuzeitlichen Gütern JARDINE, Worldly Goods; NORTON, New World of Goods; SMITH/FINDLEN, Merchants and Marvels. 10 Martyr, Zehn Dekaden, ed. KLINGELHÖFER, S. 374–376 (IV 9); lat. Text: f. lxjv/lxijr (S. 156f.). 11 Ebd., S. 375 (IV 9); lat. Text, f. lxjv (S. 156): »Veluti pauonum, aut fasianorum caudas illi visas admirarentur, ita et nos illorum pennas, quibus et flabella, et cristas conficiunt, et elegantia ornant cuncta.« 12 Ebd., S. 371–373 (IV 8); lat. Text, f. lxjr (S. 155): »Sunt characteres a nostris valde dissimilis, taxillis, hamis, laqueis, limis, stellisque, ac formis alteriusmodi lineatim exarati more nostro. Aegyptias fere formas emulantur, interlineatim hominum, animaliumque spes, regum praecipue, ac progerum depingunt. Quare credendum est ibi esse maiorum ciuisque regis gesta conscriptas, quomodo nostra fieri tempestate videmus, sepenumero Calcographos generalibus historiis, fabulosis etiam codicibus, ipsius rei, quae narratur, ad alliciendos emere cupientium animos, auctorum figuras interserere.« 13 Ebd., S. 373; lat. Text, f. lxjv (S. 156): »Pueros iam anniculus, puellasque cum piis cerimoniis, sacerdotes in templis, aqua in crucem cum vrcelo capiti super iniecta baptizare vident, verba non percipiunt, actus et murmura licet animaduertere.« 14 Ebd., S. 19f. (Einleitung).

Anmerkungen

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15 Peter Martyr, Zehn Dekaden, ed. KLINGELHÖFER, Bd. 1, S. 159–163 (II,3,18); zur Episode HADFIELD, Literature, Travel, and Colonial Writing, S. 72–81. 16 Vgl. z. B. MACKENTHUN, Metaphors of Dispossession, S. 229–240. 17 BITTERLI, Die ›Wilden‹ und die ›Zivilisierten‹, S. 180–203; MASON, Infelicities, S. 110– 130. 18 DOGGETT/HULVEY/AINSWORTH, New World of Wonders, S. 14, 38. 19 New American World, ed. QUINN, Bd. 1, S. 149; BITTERLI, Die Entdeckung Americas, S. 154. 20 CLINE, Hernando Cortés and the Aztec Indians in Spain. 21 Trachtenbuch, ed. HAMPE; COLIN, Das Bild des Indianers, S. 340–344 (M.12); Abbildungen bei HONOUR, The New Golden Land, S. 59f. 22 Dampier, ed. WALZ, S. 271. Die englische Originalausgabe erschien in London 1697, eine deutsche unter dem Titel Neue Reise um die Welt in Leipzig 1702. 23 Ebd., S. 255. 24 Vgl. GOLDMANN, Wilde in Europa; HONOLD/SIMON, Kolonialismus als Kultur; GREWE/FLECKNER, Exhibiting the Other. 25 SIXEL, Die deutsche Vorstellung vom Indianer, S. 22 (Abb. 12), S. 136f. (Nr. 37); STURTEVANT, First Visual Images, S. 438f. und Abb. 28; COLIN, Das Bild des Indianers, S. 224f. (B.51 und B.52); Walter L. STRAUSS: The German Single-Leaf Woodcut 150–1600. A Pictorial Catalogue. Bd. 1, New York 1975, S. 135, 201, 376; Das Porträt auf Papier. Ausstellungskatalog Zentralbibliothek Zürich 1984, S. 122–124, Nr. 125 (Expl. der Graphischen Sammlung, Zürich); Zusammenstellung und ethnographische Auswertung der gesamten Inuit-Illustrationen bei STURTEVANT/QUINN, This New Prey. 26 Zum Kontext jetzt Franz MAUELSHAGEN: Johann Jakob Wicks »Wunderbücher«. Reformierter Wunderglaube im Wandel der Geschichtsschreibung. Zürich 2003. 27 Zusammenfassend MCGHEE, The Arctic Voyages; Texte in: The Three Yoyages, ed. STEFANSSON. 28 FULLER, Voyages in print; HADFIELD, Literature, Travel, and Colonial Writing. Zu den Modellen von Wildheit und Zivilisiertheit SHEEHAN, Savagism and Civility. 29 HONOUR, The New Golden Land, S. 17 und 67f.; das Oeuvre von White in: HULTON, America 1585. Andere Abbildungen: DOGGETT/HULVEY/AINSWORTH, New World of Wonders, S. 40–42. 30 George Best: A True Discourse of the Late Voyages of Discoverie, for the Finding of a Passage to Cathaye, by the Northwest (1578), in: The Three Voyages, ed. STEFANSSON, S. 4–129, hier S. 65; zur Stelle KNAPP, An Empire Nowhere, S. 122f. 31 Man mag darin eine implizite Kritik an solchen primär den Spaniern zugeschriebenen Praktiken sehen. Auch Raleigh erwähnt, wie leicht man die Indigenen durch Vorzeigen eines Bildes der Queen Elizabeth zur Idolatrie verleiten könne, und zeigt zugleich, wie wenig den Engländern daran gelegen sein kann; Raleigh, Gold aus Guyana, ed. LARSEN, S. 68; KNAPP, An Empire Nowhere, S. 190. 32 Best, A True Discourse, S. 69: »Hauing now got a woman captiue for the comforte of our man, we broughte them both togither, and euery man with silence desired to beholde the manner of their meeting and entertaynement, the whiche was more worth the beholding, than can be well expressed by writing.« 33 Ebd., S. 124f.: »They will teache vs the names of eache thing in their language, which we desire to learne, and are apt to learne any thing from vs. [...] They wondred muche at all our things, and were afraide of our horses, and other beastes, out of mesure. They beganne to growe more ciuill, familiar, pleasaunt, and docible amongst vs in a verye short time.« 34 Lateinischer Text in: The Three Yoyages, ed. STEFANSSON, Bd. 2, S. 135–137; englische Übersetzung in: New American World, ed. QUINN, Bd. 4, S. 216–218. 35 KNAPP, An Empire Nowhere, S. 14f. 36 Faksimile des gedruckten und bebilderten Prosatextes: L’Entrée de Henri II, ed. MCGOWAN, mit instruktiver Einleitung.

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5 Sinnliche Gegenwärtigkeit

37 Ebd., S. 21–24; außerdem Steven MULLANEY: The New World on Display. European Pageantry and the Ritual Incorporation of the Americas, in: DOGGETT/HULVEY/AINSWORTH, New World of Wonders, S. 105–113. 38 L’Entrée de Henri II, ed. MCGOWAN, S. 33. 39 HAMY, Les Indiens de Rasilly. 40 DOGGETT/HULVEY/AINSWORTH, New World of Wonders, S. 116f., 139f. 41 Smith, Generall Historie, lib. 4, ed. ARBER/BRADLEY, S. 532; MOSSIKER, Pocahontas, S. 232; zu Smith und Pocahontas HULME, Colonial Encounters, S. 137–173, BURGHARTZ, Der ›große Wilde‹, hier S. 184–187. 42 Der Essay erschien zuerst in der Zweitausgabe von 1625; Bacons Essays and Coulours of Good and Evil, hg. von W. Aldis WRIGHT. London 1903, Nr. 18, S. 74: «let it appeare, that he doth not change his Country Manners, for those of Forraigne Parts; But onely, prick in some Flowers, of that he hath Learned abroad, into the Customes of his owne Country«. 43 ROBERTSON, Pocahontas at the Masque. 44 Smith, Generall Historie, lib. 4, S. 533: »After a modest salutation, without any word, she turned about, obscured her face, as not seeming well contended.« 45 Ebd.: »she began to talke, and remembered mee well what courtesies shee had done: saying ›You did promise Powhatan what was yours should bee his, and he the like to you; you called him father being in his land a stranger, and by the same reason so must I doe to you‹«; MOSSIKER, Pocahontas, S. 273–275. 46 Zum Kontext FULLER, Voyages in print, S. 85–140, 186–193. 47 Smith, Generall Historie, lib. 4, S. 400; MOSSIKER, S. 73–88, im Appendix S. 341–344 Text der beiden Szenen in Smiths Berichten von 1608 und 1624. 48 MOSSIKER, S. 280. 49 Zur Vorgeschichte des Massakers SHEEHAN, Savagism and Civility. 50 HULME, Colonial Encounters, S. 172; MACKENTHUN, Metaphors of Dispossession, S. 210f.; FULLER, Voyages in print, S. 132f. 51 Vgl. MOSSIKER, Pocahontas, S. 321–337; THEWELEIT, Pocahontas in Wonderland. 52 BAUMUNK, »Von Brasilischen Fremden Völkern«, S. 189; zum gesamten Unternehmen WHITEHEAD/BOESEMAN, A Portrait of Dutch 17th century Brazil; P. HERKENHOFF, O Brasil e os Holandeses; BERLOWICZ u. a., Albert Eckhout returns to Brazil; BOOGAART, Marcgrave’s Brazil. 53 Zu den verschiedenen Zugangsweisen und Praktiken erhellend, wenn auch etwas schematisch SEED, Ceremonies of Possession. 54 ALPERS, Kunst der Beschreibung, S. 277. 55 B. SCHMIDT, Innocence Abroad. 56 Ernst VAN DEN BOOGAART: The Population of the Brazilian Plantation Colony Depicted by Albert Eckhout, 1641–1643, in: BERLOWICZ u. a., Albert Eckhout returns to Brazil, S. 117–131, hier S. 123f.; SCHMIDT-LINSENHOFF, Rhetorik der Hautfarben, S. 296–298. 57 Die wundersamen Reisen des Caspar Schmalkalden, ed. JOOST, S. 21. 58 Das Dokumentarische betont ALPERS, Kunst der Beschreibung, S. 279; nuancierend Peter MASON: Eight Large Pictures with East and West Indian Persons. Albert Eckhout’s Marvellous Montage, in: BERLOWICZ u. a., Albert Eckhout returns to Brazil, S. 147–154; ders., Infelicities, S. 42–63. 59 SILVA, Brasil Holandês. 60 Vgl. Peter WAGNER: The Plant World of Albert Eckhout’s Paintings, in: BERLOWICZ u. a., Albert Eckhout returns to Brazil, S. 197–199. 61 Genaue Beschreibung bei BOOGAART, ebd.; die Identifikation kann sich unter anderem auf die Texte von Zacharias Wagener stützen, die seine Kopien begleiten; Dante Martins TEXERIRA: The »Thierbuch« of Zacharias Wagener of Dresden (1614–1668) and the oil paintings of Albert Eckhout, in: ebd., S. 165–185. 62 Rebecca PARKER BRIENEN: Albert Eckhout’s paintings and the Vrijburg Palace in Dutch Brazil, in: BERLOWICZ u. a., Albert Eckhout returns to Brazil, S. 81–91. 63 SCHMIDT-LINSENHOFF, Rhetorik der Hautfarben.

Anmerkungen

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64 HONOUR, The New Golden Land, S. 81. 65 BERLOWICZ u. a., Albert Eckhout returns to Brazil, S. 127–129, 176. 66 Zur Zirkulation fundierte Übersicht bei PÉREZ DE TUDELA/JORDAN GSCHWEND, Luxury Goods. 67 Bente GUNDESTRUP: The Eckhout Paintings and the Royal Danish Kunstkammer. History of the Collection, in: BERLOWICZ u. a., Albert Eckhout returns to Brazil, S. 103–115; Berete DUE: Brazilian Artefacts in the Royal Kunstkammer, in: ebd., S. 187–195; grundlegend GUNDESTRUP, The Royal Danish Kunstkammer. Auch das Bild einer 1654 in Grönland gefangengenommenen Gruppe von Inuit kam in die Kunstkammer; DOGGETT/HULVEY/AINSWORTH, New World of Wonders, S. 42 (Nr. 7). 68 Zuletzt: IMPEY/MACGREGOR, The Origins of Museums (Überblick über die verschiedenen europäischen Sammlungen, ausführliche Bibliographie); BRÄUNLEIN, Theatrum Mundi; BREDEKAMP, Antikensehnsucht und Maschinenglauben; MINGES, Das Sammlungswesen der frühen Neuzeit; MASON, Infelicities, S. 64–89; FALGUIÈRES, Les chambres des merveilles. Viel Material auch bei KENSETH, The Age of the Marvelous. 69 Quarta classis, inscriptio decima (MINGES, S. 213): »Vestitus peregrini vt Indiani, Arabici, Turcici iique rariores: atque aliqui ex plumis psittacorum, ex tela, vel textura qualibet mirifica, vel corio variè consuto.« Gesamtausgabe des Traktats durch Harriet ROTH (Hg.): Der Anfang der Museumslehre in Deutschland. Das Traktat Inscriptiones vel Tituli Theatri Amplissimi von Samuel Quiccheberg. Lateinisch-Deutsch. Berlin 2000. 70 FALGUIERES, Les chambres des merveilles, S. 45. 71 SCHEICHER, Die Kunst- und Wunderkammern, S. 123. 72 HEIKAMP/ANDERS, Mexikanische Altertümer aus süddeutschen Kunstkammern; HEIKAMP, American Objects in Italian Collections; FEEST, The Collecting of American Indian Artifacts (mit reicher Literatur). 73 CHECA CREMADES/MORAN, El coleccionismo en España; CHECA CREMADES, Las maravillas de Felippe II. 74 ANDERS, Der Federkasten der Ambraser Kunstkammer, S. 124 mit Abb. 75 DOGGETT/HULVEY/AINSWORTH, New World of Wonders, S. 131 (Nr. 57) 76 MASON, Infelicities, S. 73. 77 BREDEKAMP, Antikensehnsucht und Maschinenglauben, S. 49f. (im Kontext der historischen Kette Naturform – antike Form – Kunstwerk – Maschine). 78 Zur generellen Bedeutung des Spannungsfeldes von Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit POMIAN, Der Ursprung des Museums. 79 Focus Behaimglobus, Tl. 2, S. 847 (5.20). 80 STOICHITA, Das selbstbewußte Bild, S. 125–165; Kurt WETTENGL: Kunst über Kunst. Die Gemalten Kunstkammern, in: Ekkehard MAI / Kurt WETTENGL (Hg.): Wettstreit der Künste. Malerei und Skulptur von Dürer bis Daumier. München 2002, S. 126–141. 81 POESCHEL, Studien zur Ikonographie der Erdteile; KÜGELGEN, Texte zu Erdteil-Allegorien. 82 MAI/WETTENGL, Wettstreit der Künste, S. 385f., Nr. 168 (WETTENGL). 83 Bildbeschreibung bei POESCHEL, Studien zur Ikonographie der Erdteile, S. 372–374, Nr. 59. 84 TRNEK/HAAG, Exotica, S. 137 (Mario Scalini). 85 Vgl. MASON, Infelicities, S. 158; zu den ›Irrtümern‹ HONOUR, The New Golden Land, S. 99, Abb. S. 100 und 104f. 86 KENSETH, The Age of the Marvelous, S. 233f. (Nr. 13). 87 HONOUR, The New Golden Land, S. 106–117.

6 Utopische Inseln

Heterotopien und Utopien Die Neue Welt, sie bestimmt sich zunächst einmal dadurch, daß sie gleichzeitig vom Bekannten abweicht und mit ihm übereinstimmt. In traditionellen Modellen beschrieben, erweist sie sich als Möglichkeit, Differenzen zur Tradition zu behaupten. Mit Hilfe der antiken und zeitgenössischen Geographie verortet, gewinnt sie den Reiz einer Nicht-Verortbarkeit, die zu neuen Kartierungen zwingt und neue Chancen eröffnet. Michel Foucault hat den Begriff der Heterotopie geprägt, um Orte und Räume zu bezeichnen, die nicht ohne weiteres zugänglich und aus der normalen Zeit herausgenommen sind, die zwischen Abgeschlossenheit und Durchlässigkeit oszillieren und verschiedene Prinzipien vereinen.1 Die Neue Welt bietet ein ganzes Ensemble solcher Heterotopien, sich beständig verschiebend, neu auftauchend, sich auflösend. Sie repräsentieren nicht nur das Vorfindliche, dessen Neuheit man erkennt, sie werden produziert, um das Neue an einen Ort zu knüpfen, der zugleich entzogen ist. Die Schätze, die sich eröffnen, und die Geheimnisse, die deren genaue Lage umgeben, hängen zusammen. Colón bekennt in seinem Brief aus Jamaika von 1503 (Lettera rarissima), der Mannschaft die kartographische Situierung der goldreichen Inseln vorenthalten zu haben; er verschafft sich so die Position des allein Wissenden. Immer wieder werden sich in der Folgezeit Eroberer, Entdecker und Abenteurer auf den Weg machen zu Orten, deren Existenz angenommen wird, aber nicht zu eruieren ist. Die Indigenen werden ihrerseits die Möglichkeit ergreifen, die Fremden loszuwerden, indem sie sie weiterschicken. Das Land des Vergoldeten (El Dorado), das Reich der Amazonen, die Region der Giganten – sie sind Orte des Imaginären nicht so sehr, weil sie schließlich als nicht-existierend eingestuft werden, sondern weil sie eine Bewegung inspirieren, die sich zugleich im Raum und in der Repräsentation, Text oder Bild, vollzieht. Die Heterotopien sind deshalb generelle Stimuli des Imaginären, auch wenn dessen Entfaltung selbst rudimentär bleibt. Die Verortung zwingt zur Konkretisierung des Fremden, das sich allerdings auch genau in ihr auch wieder verbirgt: in Stereotypien, Vertrautheiten, Vergleichen. Verbreitester Typus der Heterotopie ist traditionsgemäß die Insel.2 Schon die Odyssee und der antike Roman nutzten die Möglichkeit, anhand von In-

Heterotopien und Utopien

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seln die Begegnung mit fremden Menschen oder monströsen Wesen auszumalen. Im christlichen Mittelalter kamen heilsgeschichtliche Dimensionen hinzu. Die Faszination an unaufgefundenen, fernen Inseln, denjenigen des Heiligen Brandan oder der der Heiligen Ursula, verband sich mit der Sehnsucht nach dem Paradies. Auch die Wunder des Ostens wurden großteils auf Inseln situiert. Der letzte Teil von Mandevilles Reiseroute springt regelrecht von Insel zu Insel. Viele andere Reiseberichterstatter erwähnen die Vielzahl von Eilanden, die gar nicht alle beschrieben werden könnten. Einen Versuch der Beschreibung unternimmt im 16. Jahrhundert André Thevet. In seinen kosmographischen Werken geht er immer wieder auf zahlreiche Inseln ein: bewohnte und unbewohnte, fruchtbare und unfruchtbare, vom Augenschein oder vom Hörensagen bekannte, normale und außerordentliche – wie die Insel des Feuers, die der Dämonen und die der Ratten, auf der einige Schiffbrüchige jahrelang überlebten. In späteren Jahren versucht er auch diese Sammlung zu systematisieren: Ein Grand Insulaire erfaßt, anschließend an italienische Insularien von Benedetto Bordone und Thomaso Porcacchi da Castiglione (L’isole piu famose del mondo), mehrere hundert Inseln, die jeweils auch in einer Karte wiedergegeben werden. Unter ihnen ist auch die Isle de Thevet, gegenüber Brasilien gelegen, ein »second paradis terrestre«, auf das er selbst als erster den Fuß gesetzt habe.3 Inseln besaßen handels- und militärstrategische Bedeutung und waren zwischen den großen Seefahrtsnationen heiß umstritten. Madagaskar, Ceylon, Sumatra, Java, Borneo und die Molukken waren wichtig für den Gewürzhandel im Osten, die Kanarischen und die Kapverdischen Inseln, die Großen und die Kleinen Antillen für den Weg nach Westen. Sie alle spielten eine Rolle bei der Auseinandersetzung um konkrete und symbolische Macht. Doch sie sind nur ›Spitzen des Eisbergs‹, nur Punkte einer grenzenlosen Fülle. Fluktuierende Punkte. Als bewegliche Momente der Kartographie konnten Inseln wandern, sich vermehren und verschwinden.4 Atlantis suchte man in Amerika wiederzufinden. Antillia, die Insel der Sieben Städte, auf alten Karten verzeichnet, wurde als Vorahnung der Neuen Welt verstanden und diente schließlich zur Benennung der ›Westindischen Inseln‹. Brasil (Bresil, Brazir, Berzil etc.) bezeichnete zunächst eine Insel westlich von Irland, aber auch eine der Azoren, bevor es auf Regionen im überseeischen Südwesten übertragen wurde, mehr oder weniger weit der asiatischen Landmasse vorgelagert oder zwischen Europa und Asien verstreut. Neufundland galt umgekehrt zunächst als Teil des asiatischen bzw. nordamerikanischen Festlands, dann als Archipelag und schließlich um 1600 als einzelne Insel. In Shakespeares Tempest (1611) vergleichen Sebastian und Antonio die Insel, auf die sie gelangt sind, mit einem Apfel, den der Fürst nach Hause nehmen und aus dessen im Meer ausgesäten Kernen er neue Inseln wachsen lassen werde.5

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6 Utopische Inseln

Inseln sind inkorporierbar. Sie sind aber auch, von den Kontinenten getrennt, schwer fixierbar, geheimnis- und reizvoll, erreichbar und doch nicht erreichbar. Ein symbolisches Kapital, das Sinnstiftungen verschiedenster Art erlaubt. Einerseits konnten an einzelnen Inseln soziale und politische, ökonomische und religiöse Zustände in nuce beobachtet oder erprobt werden: England fand in Inseln wie dem imaginären Utopia, dem nahen Irland und dem fernen Roanoke (vor der nordamerikanischen Küste) Entfaltungsräume für Selbstbespiegelungen und koloniale Erfahrungen, Entfaltungsräume auch literarischer Art. Reformationsgegner fanden in der sich in verstreute Inselgruppen verlierenden Welt ein Bild für die im Zuge der konfessionellen Zersplitterung zerfallende Einheit der christlichen Kirche.6 Andererseits konnten an Inseln als Mikrokosmen auch Beziehungen zwischen Ost und West durchgespielt werden. Der um 1520 in Venedig erschienene Bericht eines Juan de Angliara, wenig darauf ins Deutsche übersetzt, erzählt von der Reise mehrerer Schiffe nach Calicut. Von südlichen Winden abgetrieben, stößt eines der Schiff auf eine große Insel, bewohnt von fremdartigen, aber weißhäutigen Eingeborenen sowie, ein Stück weiter, von einem kultivierten Volk, mit dem man sich auf Indisch verständigen kann. Sie verfügen über reiche Goldvorkommen, erweisen sich aber auch als Untertanen des berühmten Priesterkönigs Johannes und als Vertreter eines archaischen Christentums. Beglückt von der Begegnung reist man nach Calicut weiter, ohne daß die Lage der Insel genauer bestimmt würde. Das ist Voraussetzung, eine traumhafte Fahrt zu einem Goldland zu schildern, auf dem man ohne moralische Fragwürdigkeit verweilen kann, ein Land, zusammengefügt aus kulturellen Versatzstücken der Zeit, das die Sehnsucht nährt zu finden, was der geheimnisvolle Juan de Angliara fand und was sich am Ende der Reise und des Berichts als verwischte Spur in die eigene Welt hineinzieht.7 Ein utopischer Text insofern, als es um einen nicht genau verorteten Ort (ou-topos) geht, gleichermaßen inmitten der Welt und außerhalb von ihr. Insofern auch, als hier zwei Aspekte verknüpft sind, die für die Neue Welt keine kleine Rolle spielten: die Sehnsucht nach unerhörten Goldschätzen und die Sehnsucht, einer Fremde zu begegnen, die sich bei genauerem Zusehen als christlich entpuppt. Guillaume Budé hatte einige Jahre zuvor in seiner Briefvorrede der Utopia von Morus das unverfälschte Christentum der Utopier heraus gestellt. Francis Bacon wird in seinem Nova Atlantis (London 1638) ausführlich die Herkunft des Christentums auf jener Insel, auf die es die Seefahrer durch Unwetter verschlagen hat, begründen. Jeweils stehen hier allerdings staatliche Gefüge und soziale Organisationen, Formen des Zusammenlebens und der Bedürfnisbefriedigung, Abwägung von Pflichten und Neigungen im Zentrum. Die Utopien unterscheiden sich von den Heterotopien durch ihre grundsätzliche Ortlosigkeit, ihren systema-

Kunstvolle Staatsmechanik

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tischen Charakter und ihre analogischen Beziehungen zur aktuellen Gesellschaft.8 Sie sind in der Regel nicht an der Beschreibung des Fremden an und für sich interessiert, sondern an dessen Modellfunktion. Sie können sich deshalb dem Fürstenspiegel oder dem Staatsroman annähern, vom Faktisch-Vorfindlichen zum Moralisch-Vorbildlichen bewegen. Das Imaginierte kann als solches kenntlich werden: Bacon weist sein Werk explizit als Fabel aus, dazu dienend, die beste Staatsverfassung vorzuführen.

Kunstvolle Staatsmechanik Die Neue Welt besaß das Potential, von der Heterotopie zur Utopie zu werden. Doch sind es zunächst nur vereinzelte Züge der Idealität, des Goldenen Zeitalters, des Paradiesischen, die aufgerufen werden. Einen systematischen Entwurf bietet Thomas Morus, der damit einen Markstein setzte ebenso für die Entwicklung der Gattung der Utopie wie die Entwicklung konkreter kolonialer Projekte. Zugleich führte er vor, wie eine philosophisch-literarische Anverwandlung der Neuen Welt aussehen kann.9 Der Text erschien zunächst 1516 in Löwen, im Jahr darauf in Paris und ein weiteres Jahr später in Basel, korrigiert und erweitert, betreut von Erasmus, nun unter dem Titel: De optimo reipublicae statu deque nova insula Utopia libellus vere aureus nec minus salutaris quam festivus (»Ein wahrhaft herrliches, nicht weniger heilsames denn kurzweiliges Büchlein von der besten Verfassung des Staates und von der neuen Insel Utopia«).10 Fünfundzwanzig Jahre waren vergangen, seit in Basel Colóns erster Bericht über die neuen Inseln publiziert wurde. Doch nicht er dient als Bezugspunkt, sondern die Reiseberichte Vespuccis, mit denen sich, auch in Gelehrtenkreisen, das Neue der Neuen Welt am stärksten verband. Auch bei Morus ist Utopia eine Insel, deren genauer Ort offen bleibt. Die geographischen Hinweise im Text sind ebenso vage wie die Signale des Holzschnitts (Abb. 30). An Entscheidendes kann der Autor sich nicht erinnern: an die Namen des Landes und des Häuptlings, die die Schwelle markieren, von der Vespucci nach Europa, sein Begleiter hingegen ins Innere der Neuen Welt aufbrach. Auch habe man vergessen, Raphael Hythlodaeus, von dem die Beschreibung der Insel stammt, nach ihrer Lage zu fragen.11 Der in der Zweitausgabe hinzugefügte Brief von Pierre Gilles (Petrus Aegidius) an Hieronymus Busleiden gibt eine andere Variante. Raphael hätte die Lage der Insel mit wenigen Worten erwähnt, die unglücklicherweise sowohl Morus wie Aegidius entgangen seien: »Als Raphael auf das Thema kam, näherte sich dem Morus einer der Diener, um ihm irgendetwas ins Ohr zu flüstern, und mir geschah es, daß, obwohl ich um so aufmerksamer zuhörte, einer aus der Gesellschaft, der sich zweifellos auf der Seefahrt eine

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Erkältung geholt hatte, zu husten begann und einige Worte des Erzählers übertönte.« Störungen der Kommunikation, teils mitgebrachte, teils hausgemachte, die doch den Reiz des Geheimnisses nur erhöhen. »Gewiß werde ich nicht ruhen, bis ich in diesem Punkt vollständig bescheid weiß und nicht nur die Lage der Insel, sondern auch die [auf ihr zu messende] Höhe des Pols kenne – vorausgesetzt, unser Hythlodaeus ist wohlauf.«12

Abb. 30: Thomas Morus, Libellus vere Aureus (Utopia), Louvain 1516, S. [2].

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Vorausgesetzt auch: er existiert. Hythlodaeus ist eine schillernde Figur. Ein Reisender, ein Fremder, ein Nomade, zu Gast bei Königen und Fürsten, Kaufleuten und Gelehrten. Sonnengebräunt, mit langem Bart, doch alles andere als ein Wilder. Er habe auf seiner Reise, so heißt es, eine Reihe von Ländern durchzogen, sei auf die Insel Ceylon und schließlich nach Calicut gelangt, von wo ein Schiff die Reisenden nach Portugal zurückbrachte. Wenig später wird noch erwähnt, er habe im Bereich des Äquator und innerhalb der Wendekreise endlose Wüsteneien und erst mit zunehmendem Abstand davon lieblichere Regionen und kultiviertere Völker angetroffen. Eine Sammlung von Gemeinplätzen also, deren Spitze indes darin besteht, daß die Neue Welt durchquert und Indien erreicht wird. Es geht hier genau jener Traum in Erfüllung, der die Westfahrten inspiriert und einige Jahre zuvor in Balboas Versuch, über die Landenge von Panama zum »anderen Meer« zu gelangen, neue Nahrung erhalten hatte. Hythlodaeus erweist sich als Vollender dessen, was Colón und Vespucci in Angriff nahmen. Begleiter Vespuccis auf dessen letzten drei Reisen, bleibt er, während jener nach Europa zurückkehrt, mehr als fünf Jahre in der Neuen Welt. Er entdeckt viele neue Völker und vor allem den Staat der Utopier, den er insgesamt viermal besucht haben will. Eine Figur der Erfahrung und der Teilhabe, die, wie aus anderen Texten geläufig, Nähe und Eindringlichkeit der Beschreibung ermöglicht. Eine Figur aber auch der Überbietung vorhandener Erfahrungen: Schon Vespucci suchte mit der Gesamtzahl von vier Fahrten (von denen nur zwei nachweisbar sind) an die ebenfalls vier Fahrten Colóns anzuschließen, das gleiche wiederholt sich nun bei Hythlodaeus. Er ist eine Art von Heilsbringer (sein hebräischer Vorname weist darauf hin), der den Utopiern Errungenschaften der Alten Welt und den Europäern solche von Utopia bringt. Doch er ist auch von einer Aura des Zweifelhaften umgeben. Sein griechischer Nachname läßt sich auf einen Philosophen wie einen Arzt beziehen, sowohl als »erfahren in Possen« wie als »Feind leerer Worte« verstehen. Die Vorrede an Pierre Gilles deutet an, die eine oder andere Angabe des Hythlodaeus sei vielleicht zu korrigieren. Morus geht es indes nicht bloß um die Fragilität des Augenzeugen. Er verwandelt das bekannte Problem, Erfahrung als authentisch zu erweisen, in eine Konstitutionsbedingung des eigenen Textes. Dieser verläßt sich über weite Strecken auf einen Erzähler, welcher, zuverlässig und unzuverlässig zugleich, die perfekte Voraussetzung für einen Entwurf des utopischen Staates bietet, der selbst nicht einfach wörtlich genommen werden will. Im Schlußpassus bekennt der Autor, nicht in allem mit Hythlodaeus übereinzustimmen, gleichwohl, nicht wissend, wie dieser reagieren würde, nicht widersprochen zu haben. So ergibt sich ein Vexierspiel zwischen den Ebenen des Dargestellten (Utopia), der Darstellung (Hythlodaeus) und des Kommentars (Gilles, Morus). Ein beständiges Kippen zwischen Vorbild und

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Gegenbild, Realität und Irrealität, Faktischem, Möglichem und Unwahrscheinlichem. Der Name des Protagonisten, die Anspielungen auf antike Autoren, der Reichtum rhetorischer Figuren, die kunstvolle Verschachtelung eines Gesprächs im Gespräch – sie alle tragen dazu bei, den Text zu einem literarischen zu machen. In der Ausgabe von Thierry Marten traf der Leser nach dem Titelblatt auf eine Karte der unbekannten Insel, ein Alphabet der Sprache der Utopier und ein Gedicht in dieser Sprache samt lateinischer Übersetzung – Zeichen der Authentizität, die zugleich die Anknüpfung an klassische Muster und deren Überschreibung signalisieren: Die Konstellation (Begegnung der Gesprächspartner nach der Messe) variiert ähnliche Konstellationen bei Platon und Lukian, mit dem Ergebnis, daß die die Zeit beschäftigende Frage nach dem Verhältnis von Moral, Politik und Staat (Macchiavelli, Erasmus) nicht einfach traktathaft abgehandelt, sondern formal wie gedanklich dialogisiert und pluralisiert wird.13 Auch wird der Staat der Utopier nicht einfach als solcher präsentiert, sondern erst nachdem im ersten Teil, ebenfalls aus der Sicht des Hythlodaeus, Zustände in England (Eigentum, Finanzpolitik, Strafrecht) kritisch beleuchtet wurden. Dadurch bleibt die utopische Gesellschaft auf eine konkrete bezogen, wird aber ihr utopischer Charakter, zugleich erstrebenswert und unerreichbar zu sein, erst richtig deutlich. Und die Neue Welt? Sie liefert den zeitgenössischen Hintergrund, vor dem sich die Hoffnung, in der Ferne zu finden, was für die eigene Gegenwart Bedeutung besäße, profiliert.14 Sie gewinnt dabei aber andere Züge als aus den Texten Colóns oder Vespuccis bekannt. Waren dort traditionell lebende Völker ohne Schrift und ohne staatliche Ausdifferenzierungen beschrieben worden, deren Unterlegenheit gegenüber der abendländischen Zivilisation nicht in Zweifel stand, so rücken nun solche in den Blick, die den Europäern Spiegel nicht nur ihrer primitiven Vergangenheit, sondern auch ihrer komplexen Gegenwart bieten. Ausgangspunkt ist das Verweilen bei Eingeborenen, mit denen die Vespucci-Nachfolger freundschaftlich verkehren und von denen sie die Mittel erhalten, sich auf ihre Entdeckungsfahrt zu machen. Diese Fahrt führt gleich anfangs und dann wieder nach Durchquerung des Äquatorialgürtels zu Städten und Staaten, dicht bevölkert, mit Institutionen versehen, im Nah- und Fernhandel tätig. Eine zunehmende Annäherung an Vertrautes stellt sich ein: zunächst noch Schiffe mit Segeln aus Bast, Weidengeflecht oder Tierhaut, dann »auch spitze Kiele und Hanfsegel, schließlich alles unseren Schiffen ähnlich«. Zwar seien die Gesellschaften nicht in allem ideal eingerichtet, doch böten sie viel Vorbildhaftes, »um die Mißstände der hiesigen Städte und Staaten, Völker und Reiche zu verbessern« (S. 29f.). Davon allerdings soll nicht erzählt werden, zumindest nicht im vorliegenden Buch. In ihm wechselt die Perspektive zu den englischen Mißständen und dann den utopischen Idealzuständen. Damit ist ei-

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nerseits der Eindruck erweckt, es gäbe nicht nur einen, sondern viele Staaten im Dunstkreis der Neuen Welt, die Interesse verdienen. Andererseits kommt die Macht des Autors zum Vorschein, Wissen auszubreiten, wie und wann es ihm beliebt. Schon bei Vespucci war die auktoriale Autorität durch Verweise auf vorliegende und noch kommende Texte gestützt worden. Die Neue Welt wird also wahrhaftig zum Terrain des Imaginären. Sie erlaubt nicht nur, wie ansonsten zu beobachten, Sinnstiftungen vielfältiger Art. Sie ermöglicht den Zugang zu einer Fülle von Binnenwelten, in denen der Philosoph, Moralist und Staatsmann mannigfache Gegenstände der Reflexion findet. Keine Neue Welt, bewohnt von entweder schlichten und gutmütigen Insulanern oder grausamen und aggressiven Kannibalen. Keine Welt, die durch Nacktheit und Lieblichkeit verführt, durch Nähe zum Naturzustand oder zum Paradiesischen reizt. Vielmehr Welten, die Kulturformen bieten, mit denen ein wechselseitiger Austausch möglich scheint, jenseits des Tauschs von Goldklumpen gegen Glitzertand. Einem der Völker habe man, so Hythlodaeus, den Gebrauch des Kompaß beigebracht, dadurch die Wagnisse ihrer Seefahrten (bei rechtem Gebrauch) verringernd (S. 30). Seit etwa zweihundert Jahren war der Kompaß in Europa bekannt, seit etwa hundert standardmäßig im Gebrauch – ein Zeichen, daß die überseeischen Völker nicht um Äonen, sondern nur um einige Generationen hinter den abendländischen zurück sind. Die Utopier wiederum stehen auf andere Weise mit der Alten Welt in Verbindung. Sie repräsentieren eine alte Zivilisation. Der Erzähler hält ihre Sprache für ›urverwandt‹ mit dem Griechischen. Überdies haben sie von den Fertigkeiten anderer Hochkulturen profitiert (S. 68). Ägypter und Römer seien an den Strand gespült worden und hätten die Insel nicht wieder verlassen wollen. Auf der Basis dieses Kontakts entwickelte sich eine Kultur parallel zur abendländischen, doch nicht in allem von deren Problemen betroffen. Man verzichtet auf Privateigentum und Geldwirtschaft, sorgt für Gleichheit und Ordnung – und schafft damit das perfekte Staatswesen. Die erneute Begegnung mit der Alten Welt, vertreten durch Hythlodaeus, bringt zusätzlich noch den Segen einer optimalen Religion, des Christentums, das organisch an vorhandene Glaubensformen anschließt, und den Segen der jüngeren Erfindungen, die der Vermehrung der Bildung dienen: Papierherstellung und Buchdruck. Auf seine letzte Reise nimmt Hythlodaeus ein ansehnliches Bücherpaket mit, das er am Ende den Insulanern vererbt. Es handelt sich um die Summe der griechischen Literatur: Platon, Aristoteles, Theophrast, Homer, Aristophanes, Euripides, Sophokles, Thukydides, Herodot, Plutarch, Lukian, außerdem Grammatiken, Lexika und medizinische Werke (S. 117). Mores Schwager John Rastell zeigt in seinem etwa zur gleichen Zeit entstandenen Dialog The Nature of the Four Elements die Neue Welt als para-

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diesischen, zugleich aber durch Kultivierung und Erziehung zu verbessernden Raum.15 More hingegen entwirft Utopia als optimale Vereinigung kultureller Leistungen. Ein Paradies humaner Lebensgestaltung – in der Tat wie im Wort: die utopische Sprache gilt jetzt schon als die Sprache der Welt. Allerdings ein künstliches Paradies. Künstlich ist die Insel selbst, geschaffen durch den Kulturheros Utopus, der das Land eroberte, das rohe und wilde Volk kultivierte und die Verbindung der Halbinsel mit dem Festland abtragen ließ; nach ihm ist das Land, das vormals Abraxa hieß, benannt (S. 71). Künstlich ist auch die Gesellschaftsform, die zwar Einfachheit, nicht aber Natürlichkeit sucht. Nur wenige Gesetze gibt es, dafür viele Regeln und Vorschriften. Stadtplan, Bevölkerungszahl, Verwaltung, Behörden, Wohnen, Haushalt, Kleidung, Tagesablauf, Ernährung, Berufswahl, Verheiratung, Reisen – alles unterliegt strenger Kontrolle. Selbst die Freizeit ist eine Form der Zwangsentspannung. Ein Kommunismus avant la lettre sucht das Beste für die Bürger zu garantieren. Doch die Gleichheit geht auf Kosten der Gleichförmigkeit. Überdies ist sie nicht perfekt. Die Gesellschaft basiert auf Sklavenarbeit. Und sie scheut nicht koloniale Tendenzen. So wie schon die Gründung auf einer gewaltsamen Landnahme beruhte, so ist auch für den Fall der allgemeinen Überbevölkerung Ähnliches vorgesehen: eine Übertragung der utopischen Prinzipien auf eine Nachbarinsel – in Symbiose mit den dort Lebenden, wenn diese Staatsform und Sitten übernehmen, gewaltsam, wenn sie nicht partizipieren wollen; sie werden aus dem Land verdrängt, soweit dies für die Anbaupläne der Utopier notwendig ist. Der Krieg, obschon grundsätzlich als bestialisch abgelehnt, gilt als gerecht, wenn er sich gegen ein Volk richtet, das seinen Überfluß an zu kultivierendem Land nicht teilen will. Ihn zu führen bedienen sich die Utopier der Söldnertruppe der Zapoleten, eines gewaltbereiten, unzivilisierten, wilden Hirten- und Jägervolkes, »unbekannt mit allen feineren Genüssen, ohne Neigung zum Ackerbau, weder auf Kleidung noch auf Wohnung besonderen Wert« legend (S. 134f.). Wieder also eine kulturelle Hierarchie, die neben der Superiorität der Utopier zugleich die Homologie in der Position der Utopier und der Europäer zu ›minderwertigen‹ Völkern herausstellt. Daraus ein Plädoyer des Autors für das (englische) Engagement bei der Kolonisierung der Neuen Welt abzuleiten, wäre verfehlt.16 Berichterstatter ist Hythlodaeus, und seine Begeisterung für die utopische Welt steht außer Frage. Doch hat das, was er zu erzählen hat, nicht mehr als Modellcharakter. Es repräsentiert eine Möglichkeit, attraktiv ohne Zweifel, aber als Möglichkeit gekennzeichnet. Utopia, der imaginierte Unort, ist zugleich Eutopia, das allgegenwärtige Vorbild. Es bietet die Option, Rhetorik und Ethik zu verschränken und damit auch den Dialog im Kreis der Gelehrten um eine neue Nuance zu bereichern. Vor allem Erasmus ist als impliziter Ge-

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sprächspartner, seine Texte sind als Intertexte präsent – bis in Details hinein. Der Name Abraxa, den Utopia gemäß seinem eigenen Mythos ursprünglich besaß, klingt dem Kundigen als Echo einer Stelle aus Erasmus’ Laus stultitiae, wo die Torheit Christus sagen läßt: »Keinen Gefallen finde ich an denen, die an ihren eigenen Werken zu sehr Gefallen finden. Wer heiliger scheinen will als ich, soll in den Himmeln der Abraxasier sich Platz suchen oder von denen sich einen neuen Himmel erbauen lassen, deren Regelchen ihnen mehr galten als meine Gebote.«17 Es geht um diejenigen, die nicht unter den Toren der Welt sein wollen, Ordensleute, Sektierer und andere, die damit aber auch die in der Heiligen Torheit steckende (zutiefst christliche) Existenzform verfehlen. Daß die Utopier auf die Abraxasier folgen, kann also signalisieren: Sie etablieren eine neue religiöse Ordnung in der Welt und Morus’ Text ein positives Pendant zu dem von Erasmus kritisch, satirisch, ironisch entworfenen Bild der Gegenwart.18 Doch so wie in der Laus stultitiae das Selbstlob der Torheit zugleich Entlarvung und Transzendierung ist, so bleibt auch in der Utopia der Charakter des besten Staates ein schillernder. Und so wie dort die Schilderung des Weltzustands sich als rhetorisch-gelehrte enthüllt und zugleich reflektiert, so ist auch der Bericht von der anderen Welt ein in seinen Bedingungen ständig bedachter. Die Insel im Irgendwo und Nirgendwo erweist sich auch textuell als künstliche, in der das Verhältnis zwischen Ist- und Sollzustand, Hier und Dort, England und Utopia, London und Amaurotum in unendlichen Spiegelungen – oder mit Greenblatt: im Modus der Anamorphose19 – sich zeigt. Auch die Neue Welt wird Gegenstand verzerrter und schräger Perspektiven, Hintergrund und Durchgangsraum für die ideale Gesellschaft. Im Hindurchgreifen durch sie findet die Alte das, was sie selbst sein könnte, sein möchte oder sein sollte.

Diesseits und jenseits des Realen Schon Guillaume Budé betont in seinem Brief an Thomas Lupset, die Pariser Ausgabe von 1517 einleitend, den sowohl philosophischen wie literarischen Charakter des Buches. Die Insel Utopia ist für ihn ein Scharnier zwischen Himmlischem und Irdischem. Sie ist aber auch eine besondere Schöpfung des Autors Morus. Zwar habe dieser die Entdeckung Hythlodaeus zugeschrieben, erst seine eigene Stilfertigkeit und Redekunst aber hätten dem Werk Glanz, Ansehen und Autorität verliehen.20 Beschreiben und Schreiben, Repräsentation und Konstruktion verflechten sich.21 Wie später bei Montaigne bedarf es des Gelehrten, der zugleich Literat und Philosoph ist, um die Rede von Neuen Welten in eine für die europäischen Diskurse fruchtbare zu verwandeln. Wie dort dient auch hier der Informant

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nur als Kanal, der das literarische Produkt mit seinem fernen Ursprung, seiner fremden Wirklichkeit verbindet. In beiden Fällen sind die Verheißungen, die sich an die Neue Welt knüpfen, intellektuelle, und in beiden wird deshalb die Neue Welt aufgesogen von einem Möglichkeiten erprobenden Denken. Daß Utopia eine künstliche Insel ist, besitzt von hier aus noch eine weitere Pointe: Es zeigt eine Verschiebung der Verheißung an. Die überseeischen Inseln, so die Suggestion, waren 1516 zur veritablen Welt geworden, nicht aber zum Terrain eines tieferen Sinns. Neue Vorstöße, neue Entdeckungen sind nötig. Neue Inseln, diesmal aber solche, deren Künstlichkeit die Imagination stimuliert. Noch vor dem Scheitern der Entradas in Venezuela, der Landnahmen in Florida, der Kolonien in der Bucht von Rio de Janeiro und auf der Insel Roanoke spricht aus dem utopischen Text die Skepsis, ob materielle Gewinne genügen, die Neue Welt zu einer Erneuerung der Alten zu nutzen. So kühn Morus in der Anlage seiner artifiziellen Welt war, so sehr lag seine Idee der perfekt durchgeplanten Gesellschaft in der Luft. Allerdings weniger als Modell des europäischen Idealstaats denn der kolonialen Verwaltung. Im Jahr des Erstdrucks der Utopia veröffentlichte Bartholomé de las Casas ein Memorial de remedios, Vorschläge zur Schaffung indianischer Gemeinschaften, den utopischen nicht unähnlich. Wenig später orientierte sich der mexikanische Bischof Vasco de Quiroga für seine Gemeindeorganisation direkt an Morus.22 Doch gibt es daneben Reflexe der literarischen Dimension der Utopia: in den seriösen wie satirischen Entwürfen idealer Sozietäten, aber auch in den von zufällig aufgefundenen und schwer erreichbaren Inseln erzählenden Reiseberichten. War bei Morus die Beschreibung der Reise ganz hinter die der Gesellschaft zurückgetreten, so verlagern sich anderswo die Akzente und ergeben sich Räume für literarische Entfaltung.23 Ein italienischer Text, 1558 in Venedig erschienen, 1600 von Hakluyt in den dritten Band seiner Voyages aufgenommen und 1613 ins Deutsche übersetzt, schildert die abenteuerlichen Erlebnisse der Venezianer Brüder Nicolò und Antonio Zeno bei unbekannten Völkern im Nordatlantik und illustriert die neuentdeckten Inseln auf einer Karte. Die Angaben fanden schnell in die zeitgenössische Kartographie Eingang (Abb. 31). Doch wurden auch Zweifel laut. Purchas übernahm zwar bei seiner Erweiterung von Hakluyts Sammlung längere Ausschnitte der Geschichte, rückte sie aber in die Nähe des Fabulösen, »wobei die Unwahrhaftigkeit nicht bei den Zeni liegt, die solches mitteilen, sondern bei anderen, die sich auf sie beziehen«. Eine ambivalente Position: Er will den möglichen Nutzen für eine Kartierung der nördlichen Regionen nicht preisgeben, doch verhindern, daß der Text unbesehen für faktisch genommen und wissenschaftlich ausgeschlachtet wird. Noch Kartographen und Amateurhistoriker des 19. und 20. Jahrhunderts werden hitzig die Frage nach der Verifizierbarkeit von

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Text und Karte diskutieren – dabei aber die eigentümliche Verknüpfung von Realem und Imaginärem verfehlen.24

Abb. 31: Abraham Ortelius, Septemtrionalium regionum descriptio, 1570.

Realität suggeriert das Werk, und für real wurde es zumindest teilweise von den Zeitgenossen genommen. Doch Realität, so signalisiert es auch, wird vermittelt, und Spuren einer solchen Vermittlung auszulegen gehört zu seinen Strategien. Nicht zufällig ist der historische Ort des Berichts wie im Falle der Fahrt zur goldenen Insel Venedig, die Lagunenstadt, die traditionell hohe Bedeutung für die Seefahrt im mittelmeerischen Raum besaß, durch die Entwicklung im Atlantik und Pazifik aber an Gewicht zu verlieren drohte. So knüpft der Text an das Venezianer Geschlecht der Zeno einen bislang unbekannten Beitrag zur Entdeckungsgeschichte, der die italienische Präsenz im Diskurs steigert. Die Genealogie, eingangs präsentiert, kulminiert in Nicolò Zeno, der im letzten Viertel des 14. Jahrhunderts als Befehlshaber von Flotten im Golfstrom und in der Ägäis bezeugt ist. Sie kulminiert ein weiteres Mal in einem zweiten, ebenfalls historischen Nicolò Zeno (1515–1565), der ein Stück (Familien-)Geschichte ans Licht zu bringen behauptet. Unter abenteuerlichen Umständen: In seiner Jugend habe er die lang unbeachtet im Familienbesitz verwahrten Briefe von Nicolòs d. Ä.

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Bruder Antonio an den dritten Bruder Carlo gelesen und dann großteils vernichtet. Aus den erhaltenen Fragmenten und der Erinnerung rekonstruiere er nun die Geschichte.25 Diese Geschichte steht ihrerseits dem Abenteuerroman nicht fern: Im Jahr 1380 beschließt der Ritter M. Nicolò, die Welt, die Sitten und Gebräuche verschiedener Völker kennenzulernen. Er segelt nach England durch die Meerenge von Gibraltar, also über die traditionelle Schwelle des »Nec plus ultra« hinweg. Es kommt zu Sturm und Schiffbruch. Man gelangt auf die Insel Frisland, vom Fürsten Zichmni beherrscht, der die Gestrandeten auf Lateinisch willkommen heißt, respektvoll behandelt und auf seine Eroberungsfahrten zur See mitnimmt. Nicolò läßt seinen Bruder Antonio aus Venedig nachkommen und entdeckt Engroneland im Norden, bewohnt von Dominikanern, die sich im Umkreis eines Vulkans eine spezielle Lebensform eingerichtet haben. Nach Nicolòs Tod macht sich Antonio mit Zichmni nach Westen auf, wo einige Fischer – 26 Jahre zuvor – Inseln entdeckt haben sollen, »sehr reich und besiedelt«. Sie erreichen zwar nicht diese, aber andere, manche mit wilden Bewohnern, »more like unto beasts then men«. Während Antonio nach Frisland zurückkehrt, läßt Zichmni sich auf einer der neuen Inseln nieder und gründet eine Stadt, von der aus er das Land erschließt. Das von den Fischern entdeckte Land im Westen bleibt also den Protagonisten vorenthalten. Nicht aber den Lesern. Nicolò behauptet, inhaltlich getreu den verlorenen Brief wiederzugeben, in dem Antonio die Erzählung eines überlebenden Fischers referiert. Sie ist der eigentliche Sensationskern der Geschichte (»the noveltie and strangeness of the thing«). Mehr als 1000 Meilen von Frisland entfernt fanden die Fischer die bewohnte Insel Estotiland, wo sie sich dank einem früheren Schiffbrüchigen als Dolmetscher mit dem König auf Lateinisch verständigten. Fünf Jahre verbrachten sie dort (wie Hythlodaeus auf Utopia). Sie lernten die Sprache und erfuhren, daß sie sich in einem reichen Land befinden, »in dem kein Mangel an den Gütern der Welt herrscht. Die Bewohner sind sehr weise und verfügen über alle Künste und Fertigkeiten, die wir auch haben. Wahrscheinlich haben sie in der Vergangenheit schon einmal Handel mit uns getrieben, denn er [einer der Fischer] sagte, er habe lateinische Bücher in der Bibliothek des Königs gesehen, die man gegenwärtig nicht mehr verstehe. Sie haben eine merkwürdige Sprache und Buchstaben oder Schriftzeichen, die nur sie kennen.«26 Ansonsten sind ihre Gegebenheiten wohl bekannt: Sie besitzen Städte und Burgen, treiben Handel, brauen Bier, graben nach Metallen in Bergwerken, fahren zur See. Nur Magnetstein und Kompaß kennen sie nicht. Auf Geheiß des Königs setzen die Fischer ihren Erkundungszug nach Süden hin, zum Lande Drogio, fort, allerdings mit unglücklichem Ausgang: gefangengenommen, werden die meisten »von den Wilden verspeist, die sich von Menschenfleisch ernähren, das sie für das wohlschmeckendste

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Fleisch halten«; einer überlebt, indem er den Kannibalen den Fischfang beibringt und damit eine neue Nahrungsquelle eröffnet. Weiterreisend stößt er auf neue große Länder (»as it were a new world«), bewohnt von nackten, sich beständig bekriegenden und aufessenden Menschen, schließlich aber auch (»farther to the Southwestwards«) auf gemäßigtere und zivilisiertere Regionen: »so that there they have cities and temples to idols, wherein they sacrifice men and afterwards eate them, they have there some knowledge and use of gold and silver« (S. 457). Es gelingt ihm, durch Handel reich zu werden und schließlich nach Hause zurückzukehren. Unschwer sind die Bestandteile der frühneuzeitlichen Reiseliteratur zu erkennen, Splitter aus Mandevilles Reisen, aus den Kolumbus- und Vespuccibriefen, aus der Utopia und aus Berichten über die spanische Eroberung Mexicos. Verschiedene der Entdeckungen stehen vor der Folie der mittelamerikanischen Gegebenheiten; in der Figur des Dolmetschers scheint die Rolle Jerónimos de Aguilar durch.27 All dies ist zu einem chaotisch-bunten Ganzen verwoben, das vor allem durch die immer neue Bewegung des Reisens geprägt ist. Man reist nach Norden und trifft auf ein Imperium, das den europäischen Mächten nicht nachsteht. Von ihm aus werden systematische Entdeckungsfahrten in alle Richtungen unternommen: weiter nach Norden zu einem großen Land mit monastischen Lebensansätzen, nach Westen zu einer alten Zivilisation, nach Süden zu kannibalisch lebenden Völkern. Alles in allem eine umfassende Erkundung des nördlichen Atlantik, unternommen von Venezianern im Dienste eines geheimnisvollen frisischen Herrschers, von Venezianern, die überall auf Kulturen treffen, die mit der eigenen urverwandt sind: Lateinisch spricht man sowohl auf Frisland wie auf Engroneland und auf Estotiland. Doch das letztere erreichen Antonio Zeno und Fürst Zichmni nicht. Ausgerechnet das Land, das Züge eines irdischen Paradieses trägt, entzieht sich: Güter im Überfluß gibt es dort, einen Berg im Zentrum, dem vier Flüsse entspringen, die das Land durchströmen – das gleiche Bild hatte Benedette Bordone schon 1528 für Mexico benutzt. So spielt der Text zwar mit einer Entdeckung der Neuen Welt avant la lettre, macht sie aber seinerseits schon zur Erzählung und schwächt dadurch Estotilands Verheißungscharakter gleich wieder ab. Es handelt sich um kein Schlaraffenland, sondern um ein Land normal arbeitender Menschen. Von ihnen wie ihrer Gesellschaft erfährt der Leser weniger als vom Leben der Dominikaner auf Engroneland. Dieses übernimmt den Status des Utopischen: eine in der Mischung aus Studium und Handwerk, aus Muße und Tätigkeit lebende Gemeinschaft, die unter anderem geschickt die warmen Schwefelquellen nutzt – zum Kochen, zum Bewässern und zum Heizen. Das Augenmerk gilt nicht dem Staatlichen und Politischen wie in der Utopia. Es gilt dem Praktischen und Behaglichen. Damit deutet sich aber auch an, daß gelobte Länder nicht bloß im Westen zu finden sind. Das Faszino-

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sum, schon vor Colón Westfahrten nachzuweisen, ist zwar einer der Antriebsmomente des Textes. Er wird jedoch überwuchert von der Idee, die Welt sei vollständig bewohnbar und selbst in der fernsten Fremde Vertrautes aufzufinden. Der Text schwankt zwischen dem, was er als Bezugshorizont voraussetzt, und dem, was er ins Werk setzt, diesen Horizont zu verwischen. So kommt es zu einer Vervielfachung der Figuren und der Reisen, der Instanzen und der Referenzen. Mehrere Heroen, mehrere attraktive Inseln, mehrere Berichte. Auch mehrere Brüder: Nicolò, Antonio und Carlo, sie sichern im Verbund den Zusammenhang von Erfahrung, Bericht und Überlieferung. Wie in einer Erzählung aus Tausendundeine Nacht verschachteln sich die Erzählwelten, die zugleich durch zahlreiche Bezüge verbunden sind. Das verleiht dem Text autoreflexive Dimension, verstärkt durch einen Rahmen, der auf die Erzeugung der Geschichte aus den Fragmenten der zenonischen Hausüberlieferung verweist. Details kommen dazu: Der Name des auf Engroneland gefundenen Klosters (der einzige der dortigen Namen, der nicht schon in einer früheren Karte erscheint) lautet St. Thomas Zenobius. Der Schluß führt ins Offene: Der Erzähler ist, was Zichmnis Städtegründung auf Engroneland angeht, auf Vermutungen angewiesen. Von Antonios Brief, der Genaueres darüber mitzuteilen in Aussicht stellt, besitzt er nurmehr den Anfang: »Hinsichtlich der Dinge, die du von mir wissen willst, wie zum Beispiel über die Menschen und ihre Sitten und Gebräuche, über die wilden Tiere und über die angrenzenden Länder – ich habe daraus ein besonderes Buch gemacht, das ich mit Gottes Hilfe mitbringen werde. Darin beschreibe ich das Land, die Seeungeheuer, die Gebräuche und Gesetze von Frisland, Island, dem Königreich Norwegen, Estotiland und am Ende das Leben M. Nicolòs, des Ritters, der unser Bruder ist, mit seiner Entdeckung und dem Staat von Engroneland.«28 Zum Geheimnis gehört die Aussparung, zur Plausibilität die Möglichkeit der Überprüfbarkeit. Beides leistet der Verweis auf das Buch jenseits des vorliegenden. Schon dieses ist ebenso wie die Karte von einer Aura umgeben, gespeist aus dem ungewissen Verhältnis von Vergangenheit und Gegenwart, Erinnerung und Vergessen. Doch ist es nur Ausschnitt aus einem größerem Wissen, das aufblitzt und zugleich verborgen bleibt. Der Text entwirft eine vielfältige Inselwelt mit ebenso vielfältigen Lebensformen und suggeriert damit, auch die Entdeckung der Neuen Welt lasse sich von dort her begreifen. Hatte Morus im Hindurchgreifen durch die Neue Welt seine Utopie entwickelt, so tut Zeno es im Zurückgreifen. Doch das eigentlich Utopische ist nun die Verbindung zwischen den Venezianern und den Frisen, über die großen überseeischen Mächte Spanien und Portugal, hinweg. Das erklärt, warum Hakluyt, interessiert an der mit England verbindbaren Vor- und Frühgeschichte der Entdeckungen, den Text in seine Sammlung

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aufnahm. In ihr findet sich auch die Legende von Prince Madoc, Geschichte der Landung an einer unbekannten und nicht genau festgelegten Küste, mit der ebenfalls die Entdeckung Amerikas um Jahrhunderte sich zurückzuverschieben scheint.29

Die poetische Insel Inseln überall. In den Kosmographien, den Reiseberichten, den Romanen. Geheimnisvolle, neue, wie Pilze aus dem Boden schießend. Menschenleere und überfüllte. Besiedelte, bezwungene und benutzte. Gefängnisse, Enklaven und Zufluchtsorte. Gesuchte und ungesuchte. Ausgesucht hatten sich die Engländer die Insel Roanoke vor der Küste der nunmehr Virginia genannten Region. Dort versuchten sie zwischen 1584 und 1590 in mehreren Anläufen eine Kolonie zu gründen, was scheiterte, gleichwohl für den kolonialen Diskurs wichtig wurde: Aus dem Unternehmen erwuchs Thomas Harriots Briefe and True Report of the New Found Land of Virginia, eine systematische Bestandsaufnahme des Landes, 1590 zusammen mit großformatigen auf John Whites Zeichnungen basierenden Kupferstichen als erster Band von de Brys Amerikaserie gedruckt – Startschuß für eine neue Phase überseebezogener Publizistik in England.30 Nicht ausgesucht hatten sich die Engländer die Bermudainseln, auf denen 1609 die Überlebenden eines schrecklichen Sturms neun Monate verbrachten, bevor ihnen die Heimkehr gelang. Doch auch hier brachte das Scheitern diskursive Früchte: die Bermuda Pamphlets, Berichte des Unglücks und Beschreibungen der Inselgruppe durch mehrere Überlebende (Richard Rich, William Strachey), die zugleich die Vorstellung verabschiedeten, die Inseln seien von Dämonen bewohnt.31 Diese Vorstellung war verbreitet. Schon in Brandans Reisebericht spielte sie eine Rolle. Thevet verzeichnete eine Insel der Dämonen. Und noch Richard Head wird 1675 eine Beschreibung der Insul O-Brazile, gelegen in der Nähe von Irland, publizieren, Beschreibung eines Orts, den ein schottischer Edelmann samt Gefolge bewohnt habe und der erst vor kurzem, aus seiner Verzauberung befreit, sichtbar geworden sei.32 Jenseitiges und Fremdes, Außerordentliches und Extremes knüpfen sich in besonderer Weise an Inseln. Ebenso Stürme und Unwetter, die den Zugang zu ihnen als nicht ohne weiteres wiederholbar erweisen. In den poetischen Seiten, die Strachey dem Wüten des Sturms widmet, treffen Katastrophe und Chance, Natur und Schicksal zusammen. Affektives und literarisches Potential ergänzen sich. Und dementsprechend liegt auch die literarische Produktivität der Inseln, auf die es Seefahrer, Kaufleute, Siedler und Glücksritter verschlägt, darin, daß sich an ihnen Kontingenz und Providenz, Ausgrenzung und Auszeichnung, Heiliges und Teuflisches in den

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Blick nehmen läßt. Die literarische Heterotopie setzt auf die Überlagerung der Bedeutungen dort, wo in die Welt hineinragt, was ansonsten aus ihr verschwunden ist oder unsichtbar bleibt. Sie setzt auf die Entfaltungsmöglichkeiten für Isolation wie Sozialisation. Jörg Wickram schildert in seinem Roman Von gĤten und bösen nachbaurn (1556) eine Episode, bei der das Schiff, auf dem einige Kaufleute von Spanien nach Portugal zurückreisen, durch ein Unwetter gezwungen wird, in einem Inselhafen zu ankern.33 Die Reisenden nutzen die Zeit zur Erkundung des Eilands, fangen Fisch, Wild und Geflügel, laben sich an den Früchten der Bäume, genießen das entspannte Zusammensein. Manche würden am liebsten bleiben und bedauern nur die Unbewohnheit der Insel. Andere wünschen sich so rasch wie möglich nach Hause und zu ihren Geschäften zurück. Margarete von Navarra erzählt in ihrem Heptameron (Histoire des Amans fortunez), erschienen im gleichen Jahr wie der Frislandbericht (1558), von dem Mann, der Kapitän Robertval bei seinem Aufenthalt in Kanada an die Indianer verraten wollte und dafür mit dem Tode bestraft werden sollte. Seine Frau erreichte eine Umwandlung der Strafe in die Aussetzung auf eine einsame Insel. Dort behaupteten sie sich gegen wilde Tiere, errichteten sich eine Behausung, ernährten sich vom erlegten Fleisch und von einigen Kräutern. Nach dem Tod des Mannes wurde die Frau gänzlich zur frommen Einsiedlerin: sie lebte, »was ihren Leib betraf, ein tierisches Leben, hinsichtlich ihrer Seele aber fromm und rein wie ein Engel und verbrachte ihre Zeit mit Lesen, Andachten und frommen Betrachtungen und behielt ein frohes und zufriedenes Gemüt in einem abgezehrten und halb toten Leib.«34 Fächert Wickram exemplarisch Chancen und Risiken, Glück und Unglück eines Inselaufenthalts auf, setzt Margarete den Akzent auf das Spirituelle: die Insel als Substitut der Wüste, in der die frühchristlichen Eremiten die Abtötung des Irdischen und die Unmittelbarkeit der Gottesbegegnung suchten. So kann sich ein Ort des Schreckens in einen des Heils verwandeln, können gesellschaftliche Probleme ausgelagert und fern ihres Ursprungs gelöst werden. Das scheint der Fall in einer der wirkungsreichsten Konfigurationen des unfreiwilligen Inselaufenthalts: Shakespeares Spätwerk The Tempest. Das Stück, 1611 uraufgeführt und 1623 werbewirksam an den Beginn der Folioausgabe gestellt, versammelt verschiedene Personen auf einer namenlosen Insel und spielt dabei verschiedene Beziehungs- und Vergesellschaftungsformen durch. Ausgangspunkt ist der durch den Sturm verursachte Schiffbruch eines Seglers, der von Tunis, dessen König die Prinzessin Claribel von Neapel heiratete, nach Neapel zurückkehrt. An Bord: Alonso, König von Neapel, Ferdinand, sein Sohn, Sebastian, sein Bruder, Antonio, Herzog von Mailand, verschiedene Begleiter. In Gruppen zerstreut, finden sie sich auf der Insel wieder, die nicht so unbewohnt ist, wie es zunächst den Anschein hat. Es gibt einen halbwilden Indigenen sowie wandlungsfä-

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hige Geister. Außerdem lebt hier seit zwölf Jahren Prospero mit seiner Tochter Miranda, Prospero, der frühere Herzog von Mailand, der von Antonio aus seiner Position vertrieben wurde. Er ist es, der, wie Zuschauer und Leser schnell erfahren, durch seine magischen Kräfte den Sturm verursachte. Und er ist es, der nun in kurzer Zeit, drei Stunden etwa, in denen Zeit der Handlung und Zeit des Spiels sich zur Deckung bringen, mit Hilfe seines Luftgeists Ariel eine komplexe Inszenierung arrangiert. An ihrem Ende ist die Wahrheit aufgedeckt und die Rückkehr möglich, sind überdies Ferdinand und Miranda ein Paar geworden und Neapel und Mailand verbunden. Mit den Worten Gonzalos, des edlen alten Ratgebers: »Auf einer Reise fand Claribel in Tunis ihren Gatten, fand Ferdinand, ihr Bruder, eine Gattin, als er selbst verloren war, Prospero sein Herzogtum auf einer elenden Insel, fanden wir alle zu uns selbst, als niemand mehr Herr seiner selbst war.«35 Ein märchenhaftes happy end, in dem sich leichtfüßig alle Probleme aufzulösen scheinen. Doch der Schein täuscht, oder anders gesagt: Er bleibt als Schein kenntlich. Nicht nur hält das Stück inne, bevor Prospero den wiedergefundenen Landsleuten seine Geschichte erzählt hat und die Überfahrt nach Neapel vollzogen ist. Es hält auch die Dimensionen theatralischer Agonalität bewußt: Spiel ist die Präsentation der Insel, Spiel im Spiel die planvolle Anordnung von Begegnungen, Mißverständnissen und Aufklärungen durch Prospero, Spiel im Spiel im Spiel die Umsetzung von Prosperos »present fancies« in einem paradiesisch-traumhaften Reigen von Iris, Ceres und den Nymphen: Preis von Natur, Sinnlichkeit und Liebe, Inspirationsquelle vielleicht für Smiths Beschreibung des Kornfests der Powhatan. Sinnlich-traumhafte Gegenwärtigkeit sucht das Stück, unter anderem durch exzessiven Einsatz und Thematisierung von Musik. Zugleich sucht es die Gegenwärtigkeit als abgründige zu erweisen, indem es Schein und Wirklichkeit engführt, Fremdartiges herausstreicht: ein ›Spectacle of Strangeness‹.36 Das Fremde ist allerdings nicht eindeutig ›westindischer‹ Natur. Man kann sogar daran zweifeln, ob die Diskurse der Neuen Welt eine große Rolle spielen für Shakespeares Text. Das Szenario scheint eher mittelmeerisch, die expliziten Hinweise auf Amerikanisches sind spärlich: Erwähnung der Bermudas und des patagonischen Gottes Setebos, Einspielung der Utopie des Goldenen Zeitalters und der Metapher der ›plantation‹.37 Die Neue Welt ist ein Subtext, der gelegentlich an die Oberfläche tritt. Die zeitgenössischen Kontexte, das spektakuläre Virginiaprojekt und der vielbesprochene Schiffbruch auf den Bermudainseln, bestimmen die Semantiken des Textes mit, aber sie bestimmen sie nicht allein.38 Sie sind Teil eines komplexen Beziehungsnetzes ökonomischer, politischer, ethischer und literarischer Aspekte. Stephen Greenblatt hat vorgeschlagen, die Beziehung zwischen Strachey und Shakespeare als die zweier Aktiengesellschaften zu sehen,

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hier die Virginia Kompanie, dort The King’s Men, beide interessiert an der »Zirkulation kulturell signifikanter Erzählungen« und der mit ihnen verbundenen »öffentlichen Manipulation von Angst«.39 In diesem Rahmen vollzöge sich eine Aufladung des Stückes mit kultureller Energie. Eine Aufladung, so wäre zu ergänzen, die nicht zuletzt dadurch möglich wird, daß Shakespeare Praktiken von Macht und Herrschaft, Diskussionen von Naturzustand und Sklaverei, Muster von Schiffbrucherzählungen und Liebesromanen zusammenführt und sich die Neue Welt wie Morus und Zeno so anverwandelt, daß Erfahrungen des Fremden und Entwürfe idealen Lebens sich verflechten. Ost, Süd und West verschwimmen.40 Nicht so sehr indes im Dienste einer allgemeinen Exotik, wie William Davenant sie in seinem Temple of Love (1634) erzeugen wird.41 Vielmehr im Dienste eines vielschichtigen Vexierspiels zwischen Eigenem und Fremdem, Konkretem und Abstraktem, bei dem die Poetisierung der Neuen Welt einhergeht mit einer Pluralisierung der Referenzen. Was die Vervielfältigung der Erzählperspektiven in den anderen Texten leistet, leistet das dialogische Prinzip des Spiels bei Shakespeare.42 Schon die Insel erhält dabei ein je anderes Gesicht. Wenig erfährt man über ihre Gestalt, viel hingegen über ihren Status – viel Widersprüchliches. Sie ist Ort von ›folly‹, ›madness‹ und ›sorcery‹, aber auch von ›subtleties‹ und ›fancies‹, von »torment, trouble, wonder and amazement« (5.1.104f.). Sie gilt als verlassen und unbewohnt und ist dies doch nicht ganz; was ihr fehlt, sind eine größere Population, eine Gesellschaft, eine Ansiedlung. Dank Prosperos Künsten wird sie zum Terrain, auf dem sich verschiedene Figuren tummeln und die italienischen Machtkämpfe eine Neuauflage erfahren – eine verfremdende, weil die Figuren selbst ins Fremde geworfen sind, auf das sie sich ihren je eigenen Reim zu machen versuchen. Die einen nehmen liebliche Düfte, andere modrige Gerüche wahr. Den einen erscheint die Insel paradiesisch, anderen dämonisch. Manche sehen sie als Exil, manche als unfreiwillige Station, manche als gelobtes Land. Gonzalo träumt davon, die Insel zu kultivieren und auf ihr eine ganz neue Gesellschaft zu errichten. Er erweist sich damit als Leser Montaignes, dessen Essais seit 1605 auf Englisch vorlagen: »In diesem Staatswesen würde ich alle Angelegenheiten ganz anders regeln als gewohnt. Denn keinerlei Handel ließe ich zu, keinerlei Behörden; ein Schrifttum wäre unbekannt; Reichtümer, Armut und Dienstbarkeit – nichts davon; Vertrag, Erbfolge, Landbesitz, Grenzsteine, Wein- und Ackerbau – nichts; auch kein Gebrauch von Metall, Getreide, Wein oder Öl; keine Arbeit; alle Männer müßig, alle; und auch die Frauen, dabei unschuldig und rein; keine souveräne Macht. [...] Alles müßte die Natur für den gemeinsamen Bedarf liefern, ohne Schweiß und ohne Anstrengung. Verrat oder Verbrechen, Schwert, Spieß, Flinte oder anderes Kriegswerkzeug gäbe es bei mir nicht. Stattdessen brächte die Natur

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aus eigener Kraft den größten Überfluß, die größte Fülle hervor, um mein friedliches Volk zu ernähren.«43 Wie bei Montaigne hat die utopische Gesellschaft nicht Züge des moreschen Staatswesen, sondern des Goldenen Zeitalters, eines dem Naturzustand nahen Schlaraffenlandes.44 Anders aber als bei Montaigne weiß der Leser oder Zuschauer, daß die gegenwärtige Insel die utopischen Kriterien nur teilweise erfüllt. Und anders als dort interessiert sich der Sprecher nicht nur intellektuell für die ideale Sozietät. Gonzalo sieht sich selbst als deren König und wird prompt deswegen von seinen Zuhörern Sebastian und Antonio der Ungereimtheit geziehen. Da diese Zuhörer aber selbst machtversessene Intriganten sind, können die Zwischenreden, mit denen sie Gonzalos Phantasie persiflieren, ihrerseits keine volle Autorität beanspruchen. So steht jede der Positionen auf dem Prüfstand. Es gibt keine Aussage, die nicht durch andere unterminiert würde. Keine Figur, die nicht in einer andern ein verzerrtes Echo fände. Träumer sind sie allesamt. Das von Prospero inszenierte Spiel im Spiel nehmen sie, auf unterschiedliche Weise, zum Beweis dafür, daß das Wunderbare in der Welt existiert. Sebastian bekennt, nunmehr an Einhorn und Phönix zu glauben. Gonzalo hält die »strange Shapes«, die vor seinen Augen tanzen, für die eigentlichen »islanders«, monströs zwar, aber in ihren Sitten edler und gütiger als die meisten des gegenwärtigen Menschengeschlechts (3.3.29–34); Prospero ergänzt, nur den Zuhörern verständlich, in der Tat seien einige unter den Anwesenden wahre Teufel – wieder eine Bezugnahme auf Montaigne, der die kannibalischen Praktiken gegen die europäischen ausgespielt hatte. So wie aber Montaigne nicht einfach das traditionelle Verhältnis zwischen Wilden und Zivilisierten auf den Kopf stellte, so propagiert auch Shakespeare nicht schlichtweg das Ideal des edlen Wilden – sowenig wie das Modell einer zu kolonisierenden Welt. Die Gestalten, die Gonzalo sieht, sind Geister; ihre mythologische Erdverbundenheit ist eine andere als die des chthonischen Inselbewohners Caliban, der seinerseits nicht einfach den zu unterwerfenden Ureinwohner repräsentiert. Als Sohn von Sycorax, die wegen magischer Praktiken aus Algier vertrieben und, schwanger, auf der Insel ausgesetzt wurde, ist er zwar anscheinend der erste dort Geborene, doch nicht der erste Bewohner. Die Anciennität gebührt dem Luftgeist Ariel, den Sycorax in einen Baum bannte und Prospero befreite.45 Es gibt also eine Genealogie von Herrschaft auf der Insel: Ariel – Sycorax – Prospero, verbunden jeweils mit Unterwerfung des Vorgängers und unterstrichen durch die zeitliche Markierung: jeweils zwölf Jahre vor und nach der Ankunft Prosperos. Diese Ankunft trägt Züge der Befreiung, aber auch der Verknechtung. Prospero macht Ariel zu seinem Diener und nimmt Caliban in sein Haus auf, um ihm Sprache und Bildung beizubringen. Als jener wild bleibt und Miranda zu schänden versucht, sperrt Prospero ihn in einen Fel-

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sen und benutzt ihn als Sklaven für niedere Dienste. Die Absicht, ›nature‹ durch ›nurture‹ zu überwinden (4.1.188), scheint gescheitert.46 Am Ende schenkt er Caliban ebenso wie Ariel die Freiheit. Eingeständnis der Unmöglichkeit, das Wilde zu domestizieren?

Das monströse Subjekt Caliban bleibt eine schillernde Figur.47 Sein Name verweist, als Anagramm von Canibal gelesen, auf die Wilden der Neuen Welt, mit deren Kannibalismus er doch nichts tun hat. Er verweist, der an der afrikanischen Küste situierten Stadt Calibia zuordnet, auf den mittelmeerischen Kontext, aus dem seine Mutter stammt und in dem er doch ebenfalls keinen klaren Ort hat. Seine Erscheinung entspricht nicht dem, was man von der Beschreibung amerikanischer Indianer kannte. Sie hat aber auch wenig gemein mit sonstigen Vertretern der Wunder der Welt oder des Ostens. Hexenbalg, Afrikaner, wilder oder verwilderter Inselbewohner – Calibans beständigstes Charakteristikum ist Monstrosität als solche.48 Die Details variieren von Augenblick zu Augenblick. Prospero nennt ihn, teilweise auf die Mutter anspielend, ›slave‹, ›earth‹, ›filth‹, ›savage‹, ›hag-seed‹, ›malice‹, ›mis-shapen knave‹, ›demi-devil‹, ›thing of darkness‹. Trinculo und Stephano bezeichnen ihn als Fisch und Mondkalb und bedenken ihn mit allen nur möglichen Epitheta des Monströsen: ›delicate monster‹, ›shallow m.‹, ›poor, credulous m.‹, ›puppy head m.‹, ›scurvy m.‹, ›abominable m.‹, ›ridiculous m.‹, ›howling m.‹, ›drunken m.‹, ›brave m.‹, ›Monsieur Monster‹, ›servant-monster‹. Shakespeare erzeugt den Effekt eines schier unerschöpflichen Reichtums an Benennungen, der sich allerdings in dem Maße erschöpft, in dem die beiden Caliban zu ihrem Diener machen. Die Unterwerfung des Fremden unterwirft sich auch die zunächst freigesetzte kreative Energie. Sie ist indes keine vollständige, da der Text immer wieder gegenläufig das Fremde hervortreibt und das Eigene verfremdet. Kulturelle Differenzen, durch manche Figuren gesetzt, werden durch andere überspielt. Daß Caliban ausgerechnet auf Trincolo, den Spaßmacher, und Stephano, den betrunkenen Mundschenken, trifft, gehört zu den besonderen Kunstgriffen von Prosperos (und Shakespeares) Arrangement. Hier treffen drei aufeinander, die auf je andere Weise von der Normalität abweichen und eine merkwürdige Allianz bilden. Zunächst im konkreten Sinne: Trinculo, Schutz suchend vor einem neuerlichen Unwetter, verkriecht sich unter Calibans Umhang; Stephano meint daraufhin ein Inselmonster mit vier Beinen zu sehen. Dann im weiterreichenden Sinne: Sie planen Prospero zu ermorden und die Herrschaft auf der Insel zu übernehmen; jener muß, dies zu verhindern, das Spiel seiner Geister abbrechen. Es bleibt also denk-

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bar, daß die zyklischen Machtwechsel auf der Insel sich weiter fortsetzen. Es wird aber auch sichtbar, daß Intrigen sich auf allen Ebenen abspielen: So wie Sebastian und Antonio die Gelegenheit nutzen wollen, um in Analogie zur früheren Usurpation des Mailänder Throns nun auch Alonso zu stürzen, so zielt auch die Parallelaktion der ›Trickster‹ auf eine gewaltsame Revolution. Ob Fürsten oder Randständige, Monster oder Derangierte, ihnen allen geht es um Macht und Herrschaft, die damit aber ihrerseits eine Verfremdung erfahren. Prospero übernimmt in seiner abschließenden Erklärung gegenüber den eigenen Landsleuten die Verantwortung für Caliban: »this thing of darkness I Acknowledge mine« (V,1; 275f.). Ein vielschichtiger Satz. Verstehbar als Formulierung eines Besitzanspruchs, aber auch als Ausdruck einer tieferen Verbindung zwischen Schöpfer und Geschöpf, einer Anerkennung des Andern als dunklen Flecks im eigenen Selbst.49 Umgekehrt zeigt sich auch Caliban nicht bloß als widerspenstiger Sklave, der versucht, unter Stephano und Trinculo bessere Bedingungen als unter Prospero zu finden. Der traumhafte Sinnenzauber des Meisters läßt auch ihn nicht kalt: »Die Insel ist voll von Geräuschen, Klängen und süßen Melodien, die das Ohr erfreuen und harmlos sind. Manchmal summen mir tausend schwirre Instrumente um die Ohren. Und manchmal, wenn ich gerade nach langem Schlafe aufgewacht war, wiegen Stimmen mich erneut in Schlaf; und dann im Traum, schienen die Wolken sich aufzutun und mir Schätze zu zeigen, im Begriffe, auf mich herabzuregnen, so daß ich beim Aufwachen weinte und wieder träumen wollte.«50 Der Wilde, der von sich selbst sagt, er hätte von Prospero nur das Fluchen gelernt: ein verkappter Poet, nicht weniger bestimmt von Sehnsucht nach onirischem Glück als andere Figuren. Der Wilde: eine fluktuierende Erscheinung, die immer neue Oppositionen auftauchen und sich wieder auflösen läßt. Sklave Prosperos, ist er zugleich dessen Kind. Gegentypus zum luftigen Ariel, erweist er sich als vom gleichen Freiheitsdrang geprägt. Diener Trinculos und Stephanos, bildet er zugleich mit diesen zusammen die ›madness‹ und ›folly‹ der Insel. Kehrseite der lieblich-schönen Miranda, will er sich mit ihr verbinden, um die Insel mit kleinen Calibans zu bevölkern. Die koloniale Phantasie wird hier dem zugeschrieben, der selbst Kolonisierter ist, während der Kolonialherr die Insel verlassen will: eine verkehrte Welt, in der sich vielfältige Möglichkeiten bieten, Positionen zu besetzen, ein vertracktes Spiel, in dem Geltung und Entlarvung der kolonialen Idee anamorphotisch im gleichen Bild vereint scheinen. Der ›Andere‹ hat eine Stimme. Er kann Prosperos Darstellung der Frühzeit des Inselaufenthalts seine eigene Version entgegenstellen, die zwar abqualifiziert (»Thou most lying slave«; 1.2.345), nicht aber widerlegt wird.51 Beherrschender und Beherrschter, Zivilisierte und Unzivilisierte, Schönheit und Monster – sie stehen sich zwar gegenüber, doch im Spiel der Schemen verwischen sich ihre Konturen. Die textuellen

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Praktiken zielen weniger darauf, die Frage nach der Beherrschbarkeit von Welt und Wirklichkeit zu beantworten als ihre Implikationen freizulegen. Dazu trägt der verschwommene Charakter der Insel ebenso bei wie die bewegliche Fremdheit Calibans. Er ist das wilde Subjekt par excellence. Unterworfener, Untergeordneter, Untertan, bezeichnet er sich selbst gegenüber Prospero als »all the subjects that you have« (I.2.342), gegenüber Trinculo und Stephano, vom ungewohnten Alkohol berauscht, als »true subject« (2.2.122). Ein durchaus eigenständiges Subjekt: ausgestattet mit einer Geschichte, mit Gefühlen, mit Plänen. Ein Subjekt, in dem die Natur zur Sprache kommt und wiederum den Inselfremden der Zugang zur Natur eröffnet wird. Im Sinne Montaignes der ideale Topograph des Fremden: »Ich zeigte dir alles«, sagt er zu Prospero, »was die Insel bot: die frischen Quellen und die Salzbrunnen, die dürren und die fruchtbaren Flecken« (1.2.338f.). Caliban erscheint als Bindeglied zwischen Natur und Kultur – im äußeren wie inneren Sinne. Naturnahes Leben und wildes Wesen, Kultivierbarkeit der Insel und Kultivierbarkeit des Selbst treffen in ihm zusammen.52 Zugleich finden in ihm verschiedene Figuren einen Bezugspunkt ihres eigenen ›self-fashioning‹ und ›self-estrangement‹.53 Sich selbst zu finden oder wiederzufinden ist, ich hatte es zitiert, eine der expliziten Optionen des Inselaufenthalts, in dem sich bekannte Konflikte wiederholen, verschieben und verfremden, in dem Spirituelles und Materielles, Himmlisches und Höllisches gleichermaßen zum Vorschein kommen. Sich selbst zu finden im Raum des Fremden heißt aber im Tempest auch, sich in der Sprache zu finden, die das Fremde zum Ausdruck bringt. Calibans Erlernen der Sprache ist Bedingung der Möglichkeit der Verständigung wie des Komplotts. Einübung in die Sprache des Zaubers, des Traums, der Phantasie ist, was das Stück fordert. Ein dichtes begriffliches Netz führt zu zahllosen Echoeffekten und verursacht einen Wirbel, der dem von Prosperos Geist veranstalteten nicht nachsteht. Als ›monstrous‹ erscheint nicht nur Caliban, ›monstrous‹ sind auch die tanzenden Geister, die die Italiener willkommen heißen (3.3.31), und die unheimlichen Laute, die Alonsos schlechtes Gewissen wegen des Verbrechens an Prospero wachrufen (3.3.95). Als ›wonder‹ gilt nicht nur allgemein, was man auf der Insel antrifft (5.1.104) oder was Prospero vor Augen stellen kann (5.1.170). Ein Wunder ist auch Prosperos Tochter Miranda (nomen est omen) in den Augen des Prinzen Ferdinand (1.2.427/433). Und ein Wunder ist es wiederum für Miranda, zum ersten Mal Europäer auf der Insel zu sehen: »O wonder! | How many goodly creatures are there here! | How beauteous mankind is! O brave new world, | That has such people in’t!« (5.1.181–184). Für einen Gott den trunkenen Stephano zu halten war auch Caliban geneigt gewesen – unter Einfluß des »himmlischen Getränks«. Die Szenen des Erstkontakts, so wichtig für die Berichte von der

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Neuen Welt, werden damit doppelt verzerrt: durch Naivität und Trunkenheit. Die Lichtgestalten der Neuen Welt sind entweder die Schurken oder die Derangierten der Alten. Zugleich wenden sich die mit dem Fremden verbundenen Begriffe auf das Eigene zurück. Das Monströse ist ebensosehr ein äußeres wie ein inneres. Das Wunder ist nicht nur ein reichlich banales, sondern auch ein vom Vater erzeugtes. Er rückt denn auch die Perspektive sogleich zurecht: »Neu ist diese Welt (nur) für dich« (»’Tis new to thee«). Alles nur Spektakel? Alle Wunder und Monstrositäten, alle Visionen und Erscheinungen, alle Verführungen in Gestalt und Klang nur Effekt von Inszenierungskünsten? Das Stück ist durchzogen von Begriffen theatralischer Art und Hinweisen auf die artifizielle Dimension von Prosperos Tun. Doch entlarven sie das Ganze nicht als pure Illusion. Viel eher geht es um die Unsicherheit jedes Wirklichkeitsverständnisses. »We are such stuff | As dreams are made on, and our little life | Is rounded with a sleep« (4.1.156–158). Nicht: das Leben ein Traum. Doch: das Leben Stoff für Träume – die Prospero sichtbar macht; umgeben von Schlaf – in den Caliban, schatzträumend, sich zurücksehnt. Paradigmatischer Ort für die zugleich traumbestimmte und traumentzogene Existenz ist die Insel, die zugleich innerhalb und außerhalb des Bekannten liegt, ist aber auch das Theater, das zugleich Leben darstellt und bildet. Der Unsicherheit der Wirklichkeit entspricht in der Insel des Theaters die Instabilität der Repräsentation – und: der Macht der Repräsentation. Prosperos Macht liegt in seinen Büchern. In ihnen lag aber auch sein Verhängnis: Mit der Bibliothek als Herzogtum vorliebnehmend (1.2.109f.) verlor er jenes und rettete von dieser nur, was Gonzalo ihm heimlich mit auf den Weg gab – genug, um nun seine Position zurückzugewinnen und fürderhin auf die Bücher zu verzichten. Schon vor dem Finale schwört Prospero der »rough magic« ab und gelobt, sein Buch in tiefste Tiefe zu versenken. Damit wäre die Ausgangslage revidiert: Die Konzentration gilt nunmehr dem realen Herzogtum, nicht dem literarischen. Zugleich wäre das letztere sowohl nobilitiert wie reglementiert: Die Magie der Bücher vermag die Wirklichkeit zu verändern – unter Preisgabe ihrer selbst. Der Gewinner dieses poetischen Nullsummenspiels? Das Theater. In ihm werden die Präsenzeffekte, die Prospero mit Hilfe seiner Bücher erzeugt, ›wirklich‹. Und dies gerade dadurch, daß das Spiel mit einem Konjunktiv schließt, der das Gelingen an externe Instanzen koppelt: das Publikum und Gott. Im Epilog präsentiert Prospero sich als machtlos, angewiesen auf das Publikum, das allein zum Verlassen der Insel verhelfen, auf die Gnade Gottes, die allein von der Verzweiflung erlösen könne. So bleibt das happy end im Raum der Öffentlichkeit ein hypothetisches, das eben deshalb aber ins Reale hineinwirkt. Und so macht sich das Spiel als Spiel kenntlich, ohne seinen Wirklichkeitsanspruch preiszugeben. Nicht nur erweist es die Wirk-

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lichkeit, die im Spiel ist, als komplex: fremd und vertraut, fern und nah, geistig und körperlich, begrifflich und sinnlich. Es wechselt auch mit den Ebenen die Referenzen: von der durch den Zauberer oder den Dichter vorgestellten Welt zu der diese ermöglichenden. Erst von ihr aus zeigt sich wiederum die vorgestellte als nicht einfach illusionäres, sondern imaginäres Szenario, wirklicher als die Wirklichkeit, weil diese in ihm überhaupt erst zum Vorschein kommt. Eben in jenen Jahren, in denen die englische Expansion konkret und diskursiv sich verdichtet, lenkt Shakespeare den Blick auf die Implikationen von Extraterritorialität und die Möglichkeiten der Literatur, diese auf ihre Weise zu verdichten. Daraus resultiert das schillernde Verhältnis von Text und Kontext, beruhend ebenso auf direkten Bezügen wie auf Anspielungen und Assoziationsmöglichkeiten. Sowenig die Bedeutung des Stücks durch seine Kontexte festgelegt ist, sowenig ist sie ohne diese zu haben. Das literarische Erproben der Alterität der Macht gehört in den Rahmen des politischen Erprobens von Expansion, eines durchaus zeitspezifischen Erprobens: In der Folgezeit, in der das Kolonialunternehmen vom Projekt zur Realität wurde, nahm das Interesse an einer symbolischen Darstellung im Medium des Theaters ab.54 Zumindest an einer Darstellung des Fremden als eines nicht bloß verzerrten Spiegelbildes des Vertrauten. In Fletchers Island Princess (1619–22), situiert auf der Molukkeninsel Tidore, scheinen zwar koloniale Situationen sehr viel deutlicher auf als in The Tempest, doch zeigen sich hier vor allem die Folgen schlecht geplanter Kolonisation: gegenseitiges Mißtrauen der Parteien. In Fletchers und Massingers Sea-Voyage (1622) sind die einzigen ›Wilden‹ goldgierige, zu Kannibalen degenerierte Portugiesen, die sichtbar machen, wie sehr die kolonialen Projekte der Kontrolle und Disziplinierung bedürfen, um zivilisatorisch fruchtbar sein zu können.55 Wie bei Morus ist bei Shakespeare die Insel ein utopischer Ort, an dem sich Prinzipien von Gesellschaft sichtbar machen lassen. Wie bei Montaigne ist die fremde Welt eine imaginäre, an der sich die Logik von Kultur und der Status des Selbst entwickeln lassen. Überhaupt reichen die Parallelen zwischen dem Essai und dem Stück weiter, als es zunächst scheinen mag.56 Beide bringen die semantischen Kategorien in Bewegung. Beide setzen mehr auf Konnotationen als auf Denotationen. Beide umkreisen das Verhältnis zwischen dem Selbst, dem Andern und der Repräsentation. Und beide bieten keine fertigen Lösungen an: Montaignes den Gemeinsinn ironisierender Schlußsatz, Shakespeares Übergang zur Beziehung zwischen Inszenator und Publikum – jeweils wechseln die Texte vom Vergangenen ins Gegenwärtige, dem sie zugleich einen Widerhaken einpflanzen. Alles scheint in der Welt der Insel und der des Stücks bedeutend (»There’s meaning in thy snores«, stellt Sebastian fest; 2.1.218), doch die Bedeutung ergibt sich erst in bezug auf das, was sie nicht ist. Nicht nur das »little life«,

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auch die Reflexion und die Imagination sind »rounded with a sleep«. Aus ihm aufzustören, dient die Kunst der Sprache und des Klangs, des Überblendens und Überraschens, des Verzerrens und Verfremdens. Ohne sie gäbe es auch die wilden Subjekte nicht.

Segnungen Calibans Phantasie, die Insel mit seinen Nachkommen zu bevölkern, läßt Shakespeare nicht in Erfüllung gehen. Anders ein halbes Jahrhundert später der Satiriker Henri Neville. Zunächst anonym, dann unter dem Namen Henri Cornelius van Sloetten veröffentlicht er 1668 in London die kleine Schrift The Isle of Pines, or A Late Discovery of a fourth Island in Terra Australia, Incognita. Es handelt sich um den hochaktuellen Bericht eines holländischen Kapitäns, der im Jahr zuvor eine unbekannte Insel entdeckte, in der Nähe jenes von den zeitgenössischen Geographen angenommenen, aber noch unaufgefundenen Südkontinents, auf den sich in der gleichen Zeit auch die aus Ost- und Westindien vertriebenen Mirabilia verlagerten.57 Die Insel ist unbekannt, aber nicht unbewohnt. Sie trägt sogar eine vielköpfige Bevölkerung. Die Erklärung: 1589 (das englische Roanokeprojekt stand gerade vor dem Scheitern) erlitt eine englische Kaufmannsflotte, nach Indien unterwegs, kurz vor Madagaskar Schiffbruch. Nur fünf Personen überlebten: der Buchhalter George Pines, die vierzehnjährige Tochter des Kaufmanns sowie drei Mägde, darunter eine Afrikanerin. Sie richteten sich auf dem ressourcenreichen und klimatisch angenehmen Eiland ein. Sukzessive kam es zu Beziehungen des Buchhalters zu allen vier Frauen; auch in den nächsten Generationen setzte sich die Fruchtbarkeit fort. Nach vierzig Jahren hatte Pines (ein unschwer anagrammatisch lesbarer Name) 48 Kinder und im ganzen 560 Nachkommen. Er achtete nun darauf, jeweils männliche und weibliche Kinder verschiedener Haushalte zu verheiraten, um Polygamie und Inzest für die Zukunft zu vermeiden. Auch bemühte er sich, seine Kinder lesen zu lehren und fromme Bibelchristen aus ihnen zu machen. Nach 78 Jahren war die Bevölkerung auf 1789 Köpfe angewachsen. An seinem Lebensende hinterließ der Stammvater eine Beschreibung seines Aufenthalts, auf die sich der holländische Kapitän zu stützen vorgibt. Er hinterließ aber auch eine alles andere als friedliche Situation: Mehrfach brechen Aufstände aus, und auch das Durchgreifen der Holländer läßt keine dauerhafte Harmonie erwarten. Die koloniale Inselutopie, gepaart mit sensationsträchtigem Exotismus, dominiert solchermaßen nicht ungebrochen. Zwar scheint zunächst die polygam-inzestuöse Neubegründung von Kultur, ermöglicht dank biblischer Fortpflanzungskraft, zu gelingen, die Fruchtbarkeit der Menschen diejenige

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des Landes auf ideale Weise zu ergänzen. Doch das Paradies hat, je länger es währt, desto weniger paradiesische Züge. Seine Blütezeit liegt in der Vergangenheit, die wiederum mit der elisabethanischen Zeit in Verbindung gebracht wird: ein retrospektiver Blick auf koloniale Hoffnungen, die sich (siehe Virginia) nicht konfliktlos realisieren lassen. So hat denn auch die geraffte »Zivilisationsgeschichte aus westeuropäischer, kolonialistischfrühkapitalistischer, maskuliner Wahrnehmungsperspektive«58 nicht einfach satirisch-absurden Charakter. Wie bei Swifts Schriften einige Jahrzehnte später sind auch hier Aufdecken sozialer Mißstände und Lächerlichmachen zeitgenössischer Gegebenheiten bezogen auf staatsphilosophische, völkerrechtliche und ökonomische Diskurse. Dazu zählt die Diskussion um die Bevölkerungspolitik (ausgetragen zum Beispiel im englischen Parlament, dem Neville angehörte), bei der unter anderem die Polygamie eine Rolle spielte: als Möglichkeit, in einer Situation des Frauenüberschusses die Population zu vermehren. Dazu zählt die Diskussion um den Status schwarzer Sklaven: Philippa, die Schwarze, letzte der vier anfänglichen Geschlechtspartnerinnen von Pines, ist nicht nur als lüsterne Figur auf der Grenze von Kultur und Natur entworfen, sondern auch als Urheberin des vierten Stammes der Phils, von dem in der Folgezeit immer wieder die Aufstände ausgehen.59 Eine aktuelle Thematik: Als Kehrseite des Staatsprojekts zeigt sich die ständig drohende Anarchie, als Kehrseite der Fruchtbarkeit die schwer kontrollierbare Entartung. Das Gesetz, das der Stammvater begründet, muß sich behaupten gegen das Begehren, auf das es sich bezieht, die Zivilisation gegen die Transgression, die sie überhaupt erst als solche sichtbar macht. Neville schafft eine utopische Chimäre, zusammengesetzt aus verschiedenen Gattungs- und Kulturmustern, frivolen und moralischen Zügen, die zwischen historischen Referenzen und literarischer Eigendynamik schillert und genau damit die Imagination der Zeitgenossen beflügelte. Der Text vermehrte sich fast so rasch wie die Inselbevölkerung. Schon nach drei Wochen erschien eine deutsche Übersetzung in Georg Greflingers Nordischem Mercurius, kurz darauf eine dänische in Kopenhagen. Zwei weitere englische und neun deutsche, drei niederländische, zwei schwedische, zwei französische und eine italienische Ausgabe folgten noch im gleichen Jahr. Abhandlungen und Kommentare, Imitationen und Polemiken schlossen sich an, Auseinandersetzungen mit einer schnell mythisch gewordenen Geschichte, deren Wahrheitspotential die einen zu sichern, deren Lügenhaftigkeit die anderen zu erweisen suchten. Eine der raschen Reaktion auf die Isle of Pines stammt von Hans Jacob Christoffel von Grimmelshausen. Gerade war, vorausdatiert auf 1669, Der Abentheurliche Simplicissimus Teutsch in fünf Büchern erschienen, als er eine Continuatio anhängte, die den Helden erneut in die Welt hinausschickt

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und schließlich mit einer Situation konfrontiert, die diejenige von Pines variiert: eine Insel im Zwischenraum von Bekanntem und Unbekanntem, klimatisch heilsam, reich an natürlichen Ressourcen und an Möglichkeiten geschickter menschlicher Selbstbehauptung – das Material stammt großteils aus der Beschreibung der Insel Do Cerne (Mauritius) im Fünfften Theil der Orientalischen Indien der Brüder de Bry (Frankfurt/M. 1601). Grimmelshausen bedient sich hemmungslos beim Vorhandenen und erreicht doch eine doppelte Transformation: sowohl der Inselgeschichten wie auch der Simpliciusgeschichte.60 Das Ende des Simplicissimus hatte den Protagonisten als Einsiedler gezeigt. Die Continuatio zeigt ihn als Reisenden, der sowohl im Traum wie im Wachen, in der Imagination wie der Realität, auf dem Papier wie auf seinen Füßen die Welt erfährt. Als Pilger macht er sich vom Schwarzwald auf den Weg nach Einsiedeln. Als Erzähler kennt er die fernsten Ecken der Erde. Einem Gastgeber erzählt er von Rußland, Asien und sogar den Antipoden (610,23f.). Den Wirten, die ihn seiner »Seltzamkeit wegen« aufnehmen, tischt er die »Lugen und Grillen der alten Scribenten und Poeten« auf: lange Aneinanderreihungen der Wunder des Ostens, ergänzt durch Insulaner, Grönländer, Indianer und Brasilianer, Aufstellungen der besonderen Gewässer und anderer Singularitäten – fast alles aus Tommas Garzonis Piazza Universale übernommen (629–634). Die reale Reise soll über Loreto und Rom nach Jerusalem führen, doch sitzt Simplicius bald schon am Nil fest, wo er sich als Reiseführer zu den ägyptischen Pyramiden betätigt und eines Tages von arabischen Räubern gefangengenommen wird. Geschäftstüchtig verwandeln diese den durch seinen mächtigen Bart und sein langes Haar ohnehin wild aussehenden Pilger in einen vollendeten Waldmenschen, beinah nackt, nur die Scham mit Moos verdeckt: »solcher Gestalt führten sie mich als einen wilden Mann in den Flecken und Stätten an rothen Meer herumber und liessen mich umb Geld sehen« (652,18–20). Sie verdienen nicht schlecht an ihrem Ausstellungsstück, ziehen aber schließlich soviele Menschen an, daß auch Europäer den ›Wilden‹ bemerken. Es gelingt ihm, seine Geschichte darzulegen und dem ›Spectacul‹ ein Ende zu bereiten.61 Die erzwungene Verwilderung im Vorderen Orient erweist sich im Blick auf das Kommende als episches Ausrufezeichen. Pendant zu der Vertorung, die der Held, in ein Kalbsfell gesteckt und mit Eselsohrenkapuze versehen, im zweiten Buch erleidet, signalisiert die Verwilderung eine neuerliche Wende der an Rollenspielen und Existenzwechseln reichen Geschichte des Simplicius Simplicissimus. Wieder geht es um das Verhältnis zwischen Weltzugewandtheit und -abgeschiedenheit, Zivilisiertheit und Unzivilisiertheit, Vernunft und Torheit, doch diesmals außerhalb der bekannten Räume und in bezug auf die Diskurse des Fremden. In der Figur des Wilden Mannes verbinden sich der Einsiedler und der Exot. In ihr verbinden sich auch

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die einerseits auf Rückzug, andererseits auf Welterkundung gerichteten Neigungen des Protagonisten. Der, der zuvor in der Heimat seine Umgebung belauscht und beobachtet hatte, wird nun selbst zum Gegenstand der Betrachtung und des Staunens. Er wird dadurch aber auch auf einen anderen Weg gebracht. An die Stelle der gefährlichen Weiterreise nach Jerusalem tritt die Reise nach Santiago de Compostela, dem anderen berühmten Pilgerziel, nur scheinbar weniger gefährlich. Der portugiesische Segler zerschellt bei Madagaskar in einem Unwetter an einer Klippe. Der Held wird, sich an Trümmern festhaltend, »in das weite Meer gegen Terram Australem incognitam hinein« getrieben – bis zu der erwähnten unbekannten Insel, auf der er zunächst zusammen mit einem Zimmermann, dann allein ein protokulturelles, frommes Dasein abseits der Welt verbringt.

Schiffbruch am Erdrand Wie so oft macht sich im scheinbar Kontingenten die göttliche Providenz bemerkbar. Simplicius erleidet zwar eine Katastrophe, findet aber in ihr eine ideale Lebensform – allerdings nicht die gleiche wie Pines. Zwar auf einer Insel in der gleichen Region gestrandet, ergeht Simplicius sich nicht im Inzest, wird er nicht zum Stammvater, gründet er keine neue Kultur. Das Pinesmodell wird eingespielt, aber abgewiesen, genauer: angespült und aufgelöst. Kaum haben die Schiffbrüchigen Fuß gefaßt auf der Insel, als die Wellen eine Frau an Land treiben, mit ihr eine Kiste, die chinesische Gewänder, Waffen, Geschirr und allerlei nützliches Haushaltsgerät enthält. Man identifiziert die Leidensgenossin als abessinische Christin und findet in ihr obendrein eine Köchin. Doch das Glück zivilisatorischen ›Nachschubs‹ ist ein scheinbares. In Simplicius’ Abwesenheit beratschlagen Zimmermann und Köchin, wie die glückselige Insel fruchtbar genutzt werden könnte. Die Vorschläge: (1) Um die spannungsreiche Dreiheit zu beseitigen, erschlägt man den deutlich älteren Simplicius. (2) Um das Menschengeschlecht auf der Insel zu vermehren, verbindet sich die Köchin mit dem Alten, eine Tochter hervorbringend, die wiederum Gemahlin des Zimmermanns werden kann. Da dieser indes nicht so lange warten will, bevorzugt er Vorschlag (1) – mit anderem als dem erwarteten Erfolg. Als Simplicius nach der Rückkehr das Benedicite spricht und ein Kreuz schlägt, verschwindet die Köchin samt Kiste, nichts als Schwefelgestank zurücklassend. Das Pinesmodell wird so doppelt verkehrt: Statt Frauenüberschuß herrscht Männerüberschuß, und die einzige Frau erweist sich als Erscheinungsform des Teufels – dem zum Opfer zu fallen im übrigen auch die Protagonisten von Garcilasos Serranogeschichte, wenn man sich erinnert, befürchtet hatten und noch Defoes Crusoe befürchten wird.

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Damit ist nicht nur die Möglichkeit, die Insel zu bevölkern, ausgeschlossen, sondern auch die Hoffnung, die Zivilisation einfach aus einer Kiste herbeizuzaubern. Zugleich wird der Blick auf die spirituellen Dimensionen des Inselaufenthalts gelenkt. Der Zimmermann errichtet zur Buße drei Kreuze mit Inschrift. Man ergeht sich in Gesprächen »von heiligen und göttlichen Sachen« (669,12). Die Sorge vor neuerlichen Versuchungen des Teufels wird gebannt durch Aktivität. Systematisch kultivieren die beiden die Insel. Sie fertigen sich Werkzeuge an, gewinnen Salz aus dem Meer, legen einen Lustgarten an, zweigen ein Bächlein zum bequemen Fisch- und Krebsfang ab, formen Lehm und brennen Gefäße, backen Brot und Kuchen, stellen Palmwein her, an dessen übermäßigem Genuß der Zimmermann schließlich zugrundegeht. Simplicius wird daraufhin wieder zum Einsiedler. Die vita contemplativa tritt in den Vordergrund. Die Spiritualisierung gewinnt gegenüber der Kultivierung an Gewicht. Die Insel wird ihm zum Inbegriff der Welt und zugleich zum Buch des Heils. Überall, in den Bäumen, den Äpfeln, den Steinen, dem Meer, dem Garten, sieht er Memorialzeichen der Passion Christi. Seinerseits schneidet er, wie man später erfährt, in die Bäume geistliche Sentenzen ein – ein sonst vor allem in der barocken Liebesdichtung gern benutztes Motiv. In einem mit Brasilholztinte auf Palmblättern geschriebenen Buch zeichnet er die eigene Lebensgeschichte auf. Die Kreuzinsel ist ein Ort, an dem nukleushaft Vergesellschaftungs- und Lebensformen präsentiert werden können: das Dreieck des Begehrens, das fromm-tätige Männerpaar, das Einsiedlerdasein. In dem Maße, in dem die Bestandteile der profanen Welt verschwinden, tritt die sakrale in den Vordergrund. Vertreibung des Bösen, Verstärkung religiöser Praxis, schließlich Versicherung beständigen Heilsbezugs, sie markieren eine Intensivierung der christlichen Existenz, die einhergeht mit einer Engführung von Welt und Schrift. Der Protagonist macht seine Eremitage zum heiligen Memorialbuch, geschrieben in den Sprachen der Welt, zugleich das Material (Palmenblätter, Brasilholz- und Zitronensaft) bietend, die eigene Lebensgeschichte zu verschriftlichen. In Baltasar Graciáns Criticón (1651–57) gelangen die Protagonisten am Ende auf die Insel der Unsterblichkeit, gelegen in einem See aus Tinte: das Medium zum Entwurf einer Welt. Während hier aber die Reise am Weltrand endet, führt sie bei Grimmelshausen in die Welt zurück. Ihm geht es um den paradoxen Ursprung des Erzählens. Und so muß sich die Abgeschlossenheit zumindest punktuell öffnen. Das geschieht nach dem Muster der Pinesgeschichte: Nach über 15 Jahren wird ein holländisches Schiff ebenfalls durch ein Unwetter abgetrieben und steuert das einzig erkennbare, aber auf keiner Karte verzeichnete Stück Land an. Dadurch wird mehreres möglich: die Etablierung einer Außensicht, die Übermittlung der Geschichte, die Schilderung einer Begegnung, die Bestä-

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tigung der eremitischen Existenz. Die Begegnung geschieht mit Verzögerung. Zunächst sind es Zeichen, die Kreuze und Bauminschriften, an denen die Holländer erkennen, daß die Insel bewohnt ist. Sodann ist es die Sprache, in der sie mit dem Eremiten in der Tiefe einer finsteren Höhle kommunizieren. Am Ende steht die Begegnung von Angesicht zu Angesicht und die Beschreibung des Insulaners: eines idealtypischen Vertreters des männlichen Geschlechts (groß, aufrecht, gesunder Teint, korallenfarbige Lippen, liebliche schwarze Augen), der sich zugleich als idealtypischer Einsiedler (nach dem Muster des Heiligen Onofrius) erweist – »die Haupthaar hiengen ihm biß über die Hüffte / und der Bart biß über den Nabel hinunter; umb die Scham hatte er einen Schurtz von Balm-Blättern und auff dem Haupt einen breiten Hut hatte auß Bintzen geflochten / und mit einem Gummi überzogen« (691,15–20). Der haarige, doch nicht unkultivierte Inselbewohner ist für die Holländer ein Retter: Er allein kennt das Gegenmittel gegen den Wahnsinn, der einen Teil der Mannschaft nach dem Genuß von Pflaumen befiel. Er allein kann den in die Höhle Eingedrungenen mit Hilfe seiner Glühwürmchen den Ausgang zeigen. Diese Höhle ist ein Raum der Begegnung mit der Außenwelt, die ihrerseits zur eingeschlossenen Innenwelt wird und den Einsiedler zum Beherrscher der Differenz von Innen und Außen, von Insel und Welt macht.62 Im Dunkeln der Höhle finden kulturelle Aushandlungsprozesse statt. In ihm legt Simplicius die Bedingungen fest, unter denen eine Rückkehr in die Kultur stattfinden kann. Zu diesen Bedingungen gehört das Verschweigen der Lage der Insel und die Gewährleistung der Isolation des Autors: Niemand solle auf ihr zurückbleiben und er selbst nicht genötigt werden, nach Europa zurückzukehren. Damit behaupet sich die eremitische Existenz gegen die kulturelle Verführung. Zugleich erzeugt der Text das Geheimnis seines eigenen Ursprungs, eines paradoxen, weil in ihm Erinnerung (einer Lebensgeschichte) und Vergessen (ihres behaupteten Entstehungsortes) gleichursprünglich sind. Der holländische Kapitän nimmt den zwischenzeitlich verschwundenen Text als Geschenk nach Europa zurück. Sein Urheber hingegen bleibt im Raum des Utopischen – zumindest scheinbar. Berichterstatter ist der holländische Kapitän: ein neues auktoriales Subjekt, das zwischen dem handelnden und dem schreibenden Subjekt des Romans vermittelt, aber seinerseits nicht ungebrochen bleibt. In der Schlußrede artikuliert sich unter dem Kürzel H. J. C. V. G. (Hans Jacob Christoffel von Grimmelshausen) ein drittes Subjekt, das behauptet, den Simplicissimus unter den nachgelassenen Papieren des Samuel Greifnson von Hirschfeld (seinerseits ein Anagramm Grimmelshausens) gefunden zu haben. Autorität und Exzentrizität des Ursprungs werden in das Spiel der literarischen Imagination verwickelt und damit auch die Insel dem Modus literarischer Utopie anverwandelt.63

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Die Insel ist nicht nur der Ort, an dem sich das wahre, durch keine menschlichen Händel gestörte Christentum des Protagonisten entfalten kann. Sie ist auch der Ort am Weltrand, an dem innerliche Determination und äußerliche Indetermination sich dialektisch verschränken. Innen und außen schlagen beständig ineinander um. Sie werden zur Kippfigur. Zwar bleibt die traditionelle Opposition von Hülle und Kern gültig: Das Essen der Pflaumenkerne vermag die durch Genuß der Pflaumen verursachte Verwandlung aufzuheben (687,25f.). Das Bedenken des Kerns der Geschichte kann zu tieferer Einsicht führen (564,20–25). Doch der Text trägt selbst dazu bei, aus seinen Kernen immer neue Früchte wachsen zu lassen, seinen christlichen Kern zu entäußern, Mikro- und Makrokosmos zum perspektivischen Phänomen zu machen. Vom Weltrand aus ist jene Beschreibung der Welt möglich, die als deren einzig beständiges Prinzip die Unbeständigkeit erweist. Da aber eben diese Dialektik gefährdet ist durch die mit einer immer genaueren kartographischen Vermessung einhergehende Homogenisierung des Raumes, ist die räumliche Position eine notwendig ungewisse: Sie allein erlaubt es, jenes Refugium zu bewahren, in dem sich sowohl der Welt entkommen wie auf sie blicken läßt, und sie allein erlaubt es, den Text selbst zum Medium der Bewahrung zu machen. Wenn es zutrifft, daß alle Utopien nach Vermessung verlangen,64 ist die utopische Insel der Continuatio ein paradoxer Ort: vom Protagonisten in ihren Höhen und Tiefen durchmessen, bleibt sie in ihrer Lage unbestimmt. Den Eindringlingen wird untersagt, irgendjemandem »weder schrifft: noch mündlich vielweniger durch eine Mappa« zu offenbaren, »wo und unter welchem Gradu diese Jnsul« liege (690,11–14). So verortet sich die individuelle Erfahrung zugleich diesseits und jenseits der allgemein wiederholbaren, die kleine Welt zugleich innerhalb und außerhalb der großen. Für den Protagonisten gilt, was wenig später Daniel Caspar von Lohenstein in seinem Nachruf auf Andreas Gryphius feststellen wird: »sein Gedächtnis ist die Mappe ganzer Welt«.65 Basierend auf einer subjektiven Erinnerungsleistung repräsentiert und verkörpert die im Unbekannten angefertigte Schrift auf Palmblättern eine spezifische Territorialität und Literarizität in einem: In ihr kann ein außerhalb des Verfügbaren Liegendes erscheinen – als authentisches, das aber nur als literarisches möglich ist. Der Geist, der die Welt enthält und erschafft, der von ihr geprägt ist und doch über sie hinauswächst, er ist die Bedingung der Möglichkeit einer Dezentrierung, die doch ein ideelles christliches Sinnzentrum nicht preisgibt. Das Titelkupfer zur Continuatio faßt dies in einem Sinnbild, das seinerseits auf die Grenzen der kartographischen Erfassung hinweist: Ein Pegasus erhebt sich, über den Rand der Weltkugel hinausstürmend, zu den Sternen – auf die sich in der gleichen Zeit auch die Utopien zu verlagern begannen.

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Nicht alle indes waren an den Sternen interessiert. Andere suchten die Sensationen anderswo. Eine Umschrift von Grimmelshausens Inselepisode in Andreas Pinxners Reisebeschreibung, anonym und mit fingiertem Druckort publiziert (1702 unter dem Titel Die hitzige Indianerin, 1704 unter dem Titel Die erlauchte Sklavin), verleiht dem Einsiedlerleben besondere Nuancen.66 Schauplatz ist wieder einmal die ungefähr im Zentrum des Dreiecks von Brasilien, Angola und dem Kap der guten Hoffnung gelegene Insel St. Helena. Auf sie hoffte sich der holländische Segler in der Continuatio zu retten, und auf sie gelangte der Schiffbrüchige in Graciáns Criticón, der dort einen jungen Naturmenschen trifft, mit dem zusammen er sich auf eine (allegorische) Weltreise begibt. Bei Pinxner trifft das Schiff der Ostindischen Compagnie auf die Insel und mit ihm der junge Siebenbürger Dacier, der im Jahre 1694 nach Batavia segelt. Auch hier ist es ein Sturm, der die Abweichung von der Route bedingt. Die Insel ist wie bei Gracián unbewohnt. Man ergötzt sich auf ihr, diskutiert aber auch die Vorund Nachteile des Verweilens. Daciers erfahrener Begleiter Probando lobt in höchsten Tönen das einsame Leben in Einklang mit der Natur. Der junge Protagonist macht sich dies sogleich zu eigen: »O du Brunn aller Freuden und reiner Wollust, o du Sitz aller Lieb und Freundlichkeit, nimm mich auf, damit ich ruhig unter deinen Schatten leben mag, damit ich mich von aller Unruh abgesondert in diesen denen Europäern unbekannten Kräutern und Blumen mit offenem Auge einherspazieren, Gott, mein Schöpfer, in Stille loben und preisen und also mit Betrug meiner Sorgen allhie mein Leben zubringen möge.« Doch er muß sich belehren lassen, Erholung und Weltverzicht seien zweierlei, die Insel sei »zur mäßigen Wollust und nicht zur Eitelkeit, zur Ruhe und nicht zur Faulheit erfunden« (86f.). Das intertextuelle Signal ist deutlich: Dacier soll nicht als zweiter Simplicius, die Reisebeschreibung nicht am Weltrand enden. Damit bleibt der Held Beobachter, der ein wenig von den Früchten der Fremde nascht, im wesentlichen aber Erzählungen sammelt. Auf der Insel sind es gleich zwei, verbunden mit den beiden Personen, die man findet: den toten Einsiedler Salvo und die zur Wildfrau gewordene Sara. Salvo hat wie Simplicius nicht nur ein Kreuz errichtet und die Insel mit Schriftzeichen bedeckt, sondern auch seine Lebensbeschreibung hinterlassen. Es ist die Beschreibung eines märchenhaften Aufstiegs zu Ehre und Wohlstand, Ehe- und Kinderglück, schließlich zum »Oberhaupt der dänischen [!] Länder in Ostindien« (96) mit der unvermeidlichen Peripetie: Sturm, Schiffbruch, Inselaufenthalt, 24 Jahre währendes Einsiedlerdasein. Die Geschichte Saras, von ihr selbst mitgeteilt, ist noch bewegter: In Goa als Tochter eines Portugiesin und einer Inderin geboren und aufgewachsen, will sie als Europäerin gelten, läßt sich aber mit Afrikanern und Indern ein; sie gewinnt die Liebe des Emil Bomgal von Golkonda, wird nach dessen Tod versklavt

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und in den Harem gesteckt, kann als Mann verkleidet auf einem englischen Schiff fliehen, wird entdeckt und auf der Insel St. Helena ausgesetzt. Die Begegnung mit den beiden Figuren ist die mit zwei auf unterschiedliche Weise Verwilderten. Der kurz zuvor gestorbene Salvo repräsentiert, in ein Blatt- und Fellgewand gekleidet, den klassischen Einsiedler, seine Hütte birgt als einziges Buch die in der Zeit bekannteste Anleitung zu mystischer Selbstheiligung: Johann Arndts Paradies-Gärtlein. Sara hingegen verkörpert ein dem Humanen scheinbar stark entfremdetes »Wundertier«, nackt, runzlig, mit brennenden Augen und Haaren wie Igelstacheln. »Sie sahe leibhaftig demjenigen Tod gleich, den die Maler mit einer Sensen vorstellen, sie hatte kein Pfund Fleisch auf dem ganzen Leibe, ihr Fell hing ihr kräuselweis übereinander, als wenn es ein wahrhaftiger Pavian gewesen, ihre Scham hatte sie mit zusammengeflochtenen wilden Feigenblättern bedeckt« (90f.). Doch hat sie die portugiesische Sprache noch nicht verlernt, auch die christliche Gesinnung nicht eingebüßt. Das zeigt sich gerade im Umgang mit dem Vergehen, das sie begangen hat und auf das die Geschichte zuläuft: Sara, die hitzige Indianerin (= Inderin), ist Sodomitin. Sie gab den Verführungskünsten eines großen Pavians nach: »Der Aff fing, je länger, je mehr, mich an zu streichen und zu lecken, drückt und hielt sich an mir wie ein verliebter Mensch, bis sich das Tier endlich zu was anders erkühnete. O der unerhörten Tat! Ihr Berge, fallet auf mich und bedecket mich, ich bin unwürdig, ein Bild Gottes zu heißen, unwürdig ein Mensch zu sein, denn ich habe meine Seele verunreinigt und mich von einer Bestie unterhalten lassen« (131). Die späte Reue steht einem langen Genuß gegenüber: Die ersten fünfzehn ihrer 33 Jahre auf der Insel verbrachte sie mit dem Pavian. Auch das Auftauchen Salvos, mit dem sich einen Monat lang eine scheinbar ideale platonische Symbiose entwickelte, änderte daran nichts. Erst der Tod des Pavians machte der Gemeinschaft ein Ende. Das Skandalon ist der Höhepunkt von Pinxners Reisebeschreibung. Zweimal wird die entscheidende Inflagrantiszene mitgeteilt, zunächst im Bericht Salvos, dann in der Erzählung Saras. Im Nachklapp referiert Probando noch allerlei antike Autoren, die über wunderbare Vermischungen, Mißgeburten und dritte Naturen berichten. Der wissenschaftliche Anstrich soll das Sensationelle plausibel machen – schon Johannes Dryanders Vorwort zu Stadens Historia war ähnlich verfahren. Vor allem aber geht es darum, die Vermischung als Prinzip einer zunehmend unübersichtlich werdenden Welt zu erweisen. Einer Welt, in der »das Ebenbild Gottes in solchen viehischen Gefängnissen« wie den Afrikanern eingeschlossen ist, also in Menschen mit wolligem Haar, affenartigen Gesichtern und gelber Haut, die »faules, ungekochtes Fleisch« essen (140). Einer Welt, in der Menschen ihre Farbe ändern, Muslime frömmer als Christen erscheinen, Bräute von Pfaffen entjungfert und Witwen verbrannt werden. Einer Welt, in der sich

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Adlige (wie der General Camphuisen) unbewohnte Inseln als Kuriositätenkabinette einrichten: seltene Tiere, Vögel und Pflanzen aus allen Teilen der Welt, Schnecken, Muscheln und Versteinerungen, »seltsamste Wildnisse, worinnen nach der indianischen Manier die Fakir und Mollah, nach der europäischen die Einsiedler, sehr courieus sein ausgehauen« (290). Eine solche Welt, durch und durch »denkwürdig und seltsam« (142) und genau damit das neugierige Auge anziehend, ist eine hybride. Auf Hybridität ist der ganze Text gerichtet – schon mit seiner Eingangsfrage, warum so viele Holländerinnen in Indien zu finden seien. Hybridität ist das Kennzeichen des Beschriebenen ebenso wie der Beschreibung. Auch der Umgang mit den Prätexten zielt auf nichts anderes. Grimmelshausens Vorgabe bleibt in zahlreichen Details präsent. Sie wird nicht verabschiedet oder auf den Kopf gestellt. Eher kommt es zu einer Aufpfropfung, bei der die Sodomie den Kitzel darstellt, der in seiner theologischen Verwerflichkeit markiert ist, doch keine grundlegende Verkehrung bewirkt.

In extremis Erzählungen von Schiffbrüchen und Inselaufenthalten werden im Laufe des 17. Jahrhunderts zur regelrechten Mode. Nationalsprachliche Traditionen bilden sich.67 Kaum ein Reisebericht oder Reiseroman verzichtet auf den Kitzel des Abenteuerlichen, Unerwarteten und Außergesellschaftlichen. Der Freibeuter William Dampier beschreibt, wie ein versehentlich auf der Insel Juan Fernandez (bei der Magellanstraße) zurückgelassener MoskitoIndianer drei Jahre lang (1691–1684) überlebte, wie er es schaffte, Feuer zu machen, Werkzeuge herzustellen und Fische zu fangen, wie er, als man ihn wieder antraf, nur ein Stück Fell um die Lenden trug. Noch bekannter war die Geschichte des schottischen Matrosen Alexander Selkirk, der mit Dampier zusammen segelte und sich zwanzig Jahre später auf der gleichen Insel aussetzen ließ. Fünf Jahre bleibt er dort, baut sich, nach Überwindung anfänglicher Einsamkeit, zwei Hütten, zieht Schafe auf und fühlt sich als absoluter Inselherrscher. Seine Verwilderung ist bei der Wiederbegegnung weiter fortgeschritten als im Falle des Indianers: Er tanzt mit den Ziegen, trägt keine Schuhe mehr und trinkt nur Wasser; die Umstellung auf die Nahrung an Bord fällt ihm schwer. Nach wie vor besteht der literarische Reiz der Inselaufenthalte in der Spannung zwischen der Neubegründung kultureller Praktiken und der Freilegung des Natürlichen und Animalischen im Menschen. Doch geht es zunehmend um die Nuancen, die sich daran entfalten lassen: die Nuancen der Verwilderung ebenso wie der Kulturstiftung, ihrer gleichzeitigen, aber gegenläufigen Entwicklung. Zur Verhandlung stehen anthropologische Mo-

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mentaufnahmen, die sich mit ökonomischen, kolonialen oder spirituellen Diskursen verbinden können.68 Das berühmteste Beispiel, Defoes Robinson Crusoe (1719), der auf Berichten wie den beiden gerade erwähnten basiert, enthält von allem etwas: Gefahren, Abenteuer und Schicksalsschläge, Gefangenschaft und Schiffbruch, Verzweiflung und Zuversicht, materiellen Erfolg durch Pflanzungen, Handel und Geldgeschäfte, spirituellen Gewinn durch Einsicht, Reue und Frömmigkeit. Die Insel, die im Zentrum der Ereignisse steht, wird zunächst auf den Namen ›Insel der Verzweiflung‹ getauft. Doch im Laufe der 28 Jahre, die Crusoe auf ihr verbringt, ändert sich ihr Charakter. Sie wird zum Ort der Kultivierung, der Besinnung, der Erneuerung, aber auch zum Ort der Angst, des Schreckens, der Begegnung – mit Kannibalen und dem künftigen Diener Friday. Von den Vorgängertexten unterscheidet sich The Life and Strange Surprizing Adventures of Robinson Crusoe nicht nur durch seinen Detailreichtum (der ihm das Etikett des ersten realistischen Romans eingetragen hat). Er unterscheidet sich auch durch die Konzeption des Subjekts und des Anderen. Genauer: durch den Status eines gespalteten Subjekts und eines sowohl exponierten wie absorbierten Anderen.69 Wie bei Grimmelshausen ist es auch bei Defoe der Protagonist selbst, der die Geschichte erzählt. Stärker aber als dort ist die Subjektivität des Erzählers präsent: durch Reflexionen und Kommentare, Vor- und Rückgriffe, Mitteilung von Eindrücken und Stimmungen. Der Erzähler ist souverän und fragil zugleich. Er verfügt über die Geschichte, höhlt diese Verfügungskraft aber auch beständig aus, indem er auf das Unbedeutende der Ereignisse oder die Unzureichendheit des Menschen angesichts göttlicher Providenz hinweist. Selbstermächtigung und -entmächtigung gehen Hand in Hand. Daß der Lebensrückblick nicht von der Insel aus, sondern von einem Ort außerhalb erfolgt, bedeutet auch: Die Ich-Rede wird durch keinen scheinbar neutralen Bericht autorisiert und behält eine elementare Instabilität. Die Unbeständigkeit der Welt, um die sich Grimmelshausens Roman drehte, dehnt sich auf das Subjekt aus: nicht nur weil Crusoe wie Simplicius verschiedene Rollen spielt, sondern weil er von der epistemologischen Schwäche eines Subjekts befallen ist, dessen Ort unklar und dessen Standpunkt unfest ist. Während Simplicius das freundliche Angebot des holländischen Kapitäns ausgeschlagen und diesem statt seiner selbst seine Geschichte mitgegeben hatte, vertraut Crusoe sich dem freundlichen Kapitän an, der ihm zur Rückkehr und zur Bewahrung seiner Finanzen verhilft. Doch statt zur Eindeutigkeit des erzählerischen Rückblicks führt dies zu einer Verunsicherung der Eindeutigkeit. Einer kunstvoll ausgestalteten: Für das erste Jahr des Inselaufenthalts teilt Crusoe das Tagebuch mit, das er geführt habe. Doch beständig schiebt sich in die Wiedergabe der ordnende Autor-Erzähler ein. Er

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fügt kleine Bemerkungen an, ergänzt den Bericht und geht streckenweise ganz in die Perspektive des personalen retrospektiven Erzählens über. Im Kontext des ersten Jahrestags seines Ankommens auf der Insel vermerkt er: »Nicht lange danach ging meine Tinte zur Neige; ich fand mich darein, sparsamer damit umzugehen, nur noch die besonders wichtigen Ereignisse aufzuzeichnen und fortan auf die tägliche Eintragung sonstiger Vorkommnisse zu verzichten.«70 Einerseits also die aus vielen Reiseberichten bekannte Suggestion eines nicht erst aus der Erinnerung erzeugten, sondern auf unmittelbare Wahrnehmung gestützten Berichts, eines mimetischen Textes. Andererseits die Betonung der Differenz zwischen Erleben und Schreiben, des artifiziellen Textes. Der Leser liest den Abdruck der Abschrift der Urschrift, ohne genau zu wissen, wie diese sich zueinander verhalten. Zwar gibt es Doppelungen zwischen Erzählung und Tagebuch, die den Eindruck stärken, diese seien konvergent, doch Sicherheit ist nicht zu gewinnen. Die Erzählung bleibt höherrangig und vermag sogar zu imaginieren, was Crusoe anfangs in sein Tagebuch hätte schreiben können, wenn er dieses zu diesem Zeitpunkt schon begonnen hätte. Die Unsicherheit setzt sich fort im Verhältnis der Subjekte zueinander: des erlebenden Insulaners, des schreibenden Crusoe, des ungenannten Defoe, der seinerseits die Debatte über ›fact‹ oder ›fiction‹ durch das Vorwort zu den (noch im gleichen Jahr erschienenen) Farther Adventures anheizt. Eine Konsequenz daraus: Die Idee der Lesbarkeit der Welt erweist sich als unwiderruflich gebunden an das lesende Subjekt, dieses zugleich als unfähig, Bedeutung dauerhaft transzendental zu fixieren. So entsteht ein Hin und Her der Perspektiven, korrespondierend dem Hin und Her des Protagonisten und dem Auf und Ab des Erfolgs. Der lange Inselaufenthalt beendet nicht die Zirkulation der Güter und die Unstetigkeit des Helden, er unterbricht sie bloß: Crusoe versucht, nach drei Jahrzehnten den Gewinn seiner brasilianischen Pflanzungen zu realisieren. Der Inselaufenthalt verwischt auch nicht, er unterstreicht geradezu den Eindruck eines gespaltenen Subjekts, hin- und hergerissen zwischen Überschwang und Trübsal, bestimmt von widerstrebenden Neigungen. Crusoe richtet sich einerseits auf der Insel ein, schafft Vertrautheiten, vollbringt kulturelle Akte: Pflanzen und Anbauen, Viehzucht und Milchgewinnung, Korbflechten, Töpfern und Kerzenherstellen, Festungs- und Bootsbau, Erfindung des Rades. Er organisiert sein Leben in Zeit und Raum. Er operiert mit einer doppelten Buchführung. Er etabliert einen vollentwickelten, Überschuß produzierenden Einmannbetrieb und führt ein Leben deutlich über bloßem Subsistenzniveau: »Allmählich wurde mir klar, um wieviel glücklicher mein jetziges Dasein mit all seiner Not war als das gottlose, verruchte, abscheuliche Leben meiner vergangenen Tage. [...] Von diesem Augenblick an reifte in mir die Erkenntnis, daß ich mich in meiner

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Einsamkeit und Verlassenheit weit glücklicher fühlen durfte als in irgendeiner anderen Lebenslage, und in diesem Bewußtsein dankte ich Gott, daß er mich hierhergebracht hatte.«71 Das rückblickende Subjekt schreibt dem handelnden eine Einsicht zu, die doch alle Spuren des Bemühens um Sinnstiftung trägt. Sie markiert keinen Lebensbruch, sondern eine Erweiterung der Möglichkeiten der Selbstdeutung. Neuanfang und Neugeburt, Zufriedenheit, Glück und neuer Gottesbezug sind nicht einfach faktische Momente des neuen Daseins, sondern auch hermeneutische Momente einer Reflexion, die die Kluft zwischen Ist- und Soll-Zustand nicht schließt. ›Not‹ und ›Einsamkeit‹ lösen sich nicht einfach in Wohlgefallen auf. Dementsprechend gibt Crusoe, dies die andere Seite, den Wunsch, die Insel zu verlassen und in die Gesellschaft zurückzukehren, nie auf. Auch als er den Kannibalen begegnet und überlegt, wie er einen ihrer Gefangenen retten könnte, steht die Idee im Hintergrund, sich eine neue Möglichkeit der Flucht zu eröffnen. Im Subjekt trifft zusammen, was schwer zusammenzuhalten ist: Beweglichkeit und Ruhe, Nomadentum und Seßhaftigkeit. Diese Spannung bestimmt den frühen Aufbruch vom Elternhaus ebenso wie die spätere Reue darüber und dann wieder das Ignorieren dieser Reue in neuerlichen Schiffahrten und riskanten Aktionen. So findet der Insulaner zu keiner dauerhaften Selbstgenügsamkeit. Er wird kein Einsiedler wie Simplicius. Er verwildert auch nicht. Die Kontrolle über Zeiteinteilung und -zählung, Versorgung, Verhalten und Auftreten bleibt erhalten. Die berühmte Selbstbeschreibung zeigt ihn eher als (im zeitgenössischen Sinne) ›kuriose‹ denn als unzivilisierte Erscheinung: Ziegenfelljacke, -hose und -gürtel, Ziegenfellmütze und -schirm, dazu Schwert, Dolch, Säge und Beil an der Seite, Flinte auf dem Rücken – ein ›barbarischer Anzug‹, der doch an allen Ecken und Enden die Fertigkeiten seines Herstellers zu erkennen gibt. Dieser Hersteller, der sich anders als die bekannten europäischen Insulaner den Bart stutzt, überläßt sich nicht einfach der Natur. Wo er sich dieser doch annähert, bleibt die reflexive Differenz der Erzählhaltung, der Gestus halbironischer Selbstmythisierung: »I fancy’d my self now like one of the ancient Giants, which are said to live in Caves, and Holes, in the Rocks, where none could come at them« (179). Am Ende wird der ›alte Riese‹ seinen Ziegenfellanzug sogar dazu benutzen, Unheimlichkeit zu erzeugen und die auf der Insel gelandeten Spanier einzuschüchtern.

Das Ich und sein Wilder Das souveräne und das fragile Subjekt, sie stehen in ständigem Wechsel. Der Herrscher und Meister, Erfinder und Inszenator handelt sich, eben indem er soziale Energie und kulturelles Kapital schafft, Ängste und Sorgen

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ein: um seine Tiere, seine Ernte, seine Festung, sein Leben. Hobbes hatte im Leviathan den Naturzustand wie Montaigne als Absenz kultureller Standards definiert, aber die negativen Begleiterscheinungen betont: »No Arts, no Letters; no Society; and which is worst of all, continuall feare, and danger of violent death«.72 Auch Defoe preist nicht einfach das Natürliche. Statt das Angeschwemmte wie Grimmelshausen als Teufelswerk zu entlarven, gibt er seinem Helden reichlich Gelegenheit, von dem lange vor der Insel liegenden Schiffswrack alles Brauchbare mitzunehmen und sich so optimale Voraussetzungen für den kulturellen Neuaufbau zu schaffen.73 Man kann dies, wie seit Karl Marx geschehen, als frühkapitalistischen Optimismus verstehen. Man kann demgegenüber aber auch die pietistischen Elemente religiöser Selbstfindung herausheben. Charakteristisch ist, daß sich Erfolgsgeschichte und Konversionsgeschichte nicht ausschließen – weil sie gleichermaßen fragil sind. Das Projekt, finanziell sein Glück in der Welt zu machen, ist immer wieder vom Scheitern bedroht. Die Haltung, sich auf sich selbst zu besinnen, hält nicht für alle Zeiten vor. Das Bedürfnis, in der Bibel Rat zu suchen, folgt dem gleichen Kontingenzprinzip, das auch sonst Leben und Fahrten prägt: Crusoe liest die zufällig aufgeschlagenen Stellen in der Hoffnung, so der göttlichen Providenz teilhaftig werden zu können, ohne sich ihr doch gänzlich anzuvertrauen. Das macht den Inselaufenthalt komplex, herrschen doch in ihm weder die politische Utopie noch die ökonomische Sicherheit noch die religiöse Selbstvergewisserung ungebrochen. Mit den Kannibalen wird das Subjekt von Angst, Abscheu, aber auch kulturellem Relativismus heimgesucht. Mit den später eintreffenden Spaniern und Engländern wird der Hobbes’sche Gedanke, der Mensch sei dem Menschen ein Wolf, nur allzu deutlich sichtbar. So läßt sich die Insel als Ort des Heils nicht bewahren, ohne deshalb zum Ort des Schreckens zu werden. Crusoe verläßt sie am Ende, nur um in den Farther Adventures auf sie zurückzukehren und in ›seiner‹ Kolonie nach dem Rechten zu sehen. Die Insel spiegelt die Ambivalenzen des Subjekts. Sie ist unbewohnt, aber nicht unbenutzt. Sie hat geheimnisvolle Züge, bleibt aber nicht unfixierbar: in der Mündung des Orinooko gelegen, läßt sie sich in die Schifffahrtsrouten nach Südamerika und Ostasien integrieren. Auch ihre Topographie ist signifikant: eine gute, liebliche und eine schlechte, felsige Seite; auf dieser hat Crusoe sich niedergelassen – zu seinem Bedauern (nachdem er die ganze Insel kennengelernt hat) und seiner nachträglichen Erleichterung (nachdem er weiß, daß die Kannibalen ihre Gelage auf der anderen Seite feiern). Zwiespältigkeit also auch hier, die sich wiederholt in der Haltung gegenüber den Menschenfressern: zuerst massive Rachegelüste, dann Zweifel an der Berechtigung zu verdammen, was nur das göttliche Urteil richten kann. Relativierend fällt der Blick wieder einmal auf die Greueltaten der Spanier in der Neuen Welt.74

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Doch geht es nicht eigentlich um die Verunsicherung des eurozentrischen Standpunkts. Deutlich wird, wie sehr die Kannibalen vom Subjekt her und auf dieses hin gedacht sind. Sie repräsentieren den vertrauten Gegner, grausam, blutrünstig, wild. Crusoe rechnet mit ihnen von Anfang an, wenn er davon ausgeht, daß der gesamte zwischen der spanischen Kolonie und Brasilien gelegene Landstrich von »Cannibals, or Man-eaters«, den »worst of Savages« (80) bewohnt werde. Ihr schlußendliches Auftauchen ist spektakulär, aber auch erwartbar, vorbereitet durch verschiedene Ereignisse, die den Helden in Unruhe versetzen: ein Traum, in dem ein schrekkenerregender Mann mit Speer vom Himmel herabsteigt, drohend, ihn zu töten; der Schreck durch eine menschliche Stimme, die ihn aus dem Schlaf weckt und sich als die des Papageien erweist; der Schock, einen Fußabdruck am Strand zu finden, der nicht der eigene ist und aufwendige Deutungsversuche auslöst. Bild, Stimme, Abdruck – in ihnen wird die Präsenz eines Anderen immer greifbarer. Und dieses Andere ist nicht die Natur oder der Hunger, sind nicht die wilden Tiere, die Erdstöße oder Unwetter. Wurde als Glück gerade die Beschränkung auf den Umgang mit sich selbst und Gott bestimmt, so betrifft die Unruhe die Existenz anderer Menschen. Von einer »Fear of Man« spricht Crusoe (118). Sie ist das eigentliche Zeichen seiner Asozialität. Und sie wird bewältigt dadurch, daß der Andere zum Nächsten wird. Schon die Rettung Fridays, Umsetzung eines zweiten Traums, trägt euphorische Züge: seine (unverständlichen) Worte klingen herrlich; »they were the first sound of a Man’s Voice, that I had heard, my own excepted, for above Twenty Five Years« (147). Die Angst schlägt in Verheißung um. Der Gerettete wird Crusoes Wilder (»my Savage«), das Jahr mit ihm zum schönsten auf der Insel. Wenig später ist sogar von drei Jahren reinen und vollkommenen Glücks die Rede. Über einhundert Jahre nach Shakespeares Tempest tritt wieder ein Indigener in den Vordergrund des literarischen Textes: namentlich, handelnd, sprechend. Doch er ist in vielem ein Gegenbild Calibans: kein Inselbewohner, sondern selbst ein Verschleppter, nicht monströs, sondern ebenso männlich wie liebenswürdig, nicht unzähmbar, sondern erziehungswillig, nicht bloß zum Fluchen, sondern auch zum Sprechen in der englischen Sprache begabt. Crusoe findet in ihm ein ideales Subjekt: Sohn und Diener, Gefährte und Helfer. Einen Spiegel des Selbst: 26 Jahre war er selbst alt, als er auf die Insel kam, Fridays Erscheinen trifft mit dem Beginn des 26. Jahres des Aufenthalts zusammen, auf 26 Jahre schätzt er dessen Alter. Friday ermöglicht Crusoe den Eintritt in eine neue Phase seiner Existenz, die Entwicklung eines Erziehungsprojekts, das sowohl die Abkehr vom Kannibalismus wie die Einübung in zivilisiertes Verhalten und die Unterweisung in religiöse Grundlagen umfaßt. Defoe entwirft das Modell einer weitgehend

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konflikt- und gewaltfreien Begegnung, in der der zivilisatorisch Unterlegene sich freiwillig unterwirft, um als gelehriger Schüler vom Überlegenen zu profitieren – der seinerseits nicht als Ausbeuter, sondern als erfahrener Partner und Lehrer erscheint. Es ist das Modell der Kultivierung des Kultivierbaren. Ein Modell allerdings, das die der Kultur entgegenstehende Natur von vornherein in bestimmte Bahnen lenken muß. Der Wilde ist nur sehr bedingt ein Wilder: Europäisch seine Züge, schimmernd oliv sein Teint, unterscheidet er sich sowohl von den Afrikanern wie den »brasilianischen, virginischen und anderen amerikanischen Eingeborenen«. Ein künstlicher Wilder insofern, als er genau jene Mischung aus abweichenden und nicht-abweichenden Charakteristika besitzt, die der kulturellen Modellierung förderlich ist, insofern auch, als Crusoe ihn erst eigentlich als ›seinen Wilden‹ hervorbringt. So wie Critilo in Graciáns Criticón dem jungen Naturmenschen Andrenio zunächst einmal die Sprache beibringt, so lehrt auch er Friday Sprechen. Er lehrt ihn die Bedeutung von Ja und Nein, lehrt ihn Milch trinken und sein Brot eintauchen. Ein Schöpfer mit seinem Geschöpf: Für den Herrn und Vater trägt der Diener und Sohn keinen Namen, bis er ihm einen verleiht – Friday, der Name des Tages, »an dem ich ihm das Leben gerettet habe« (149), der Name als Zeichen, um dieses Tages immer eingedenk zu sein. Die Erinnerung des Christen an die Passion, kontinuierlich zyklisch-rituell erneuert, wird für Crusoe, der sich selbst Master nennen läßt, zur Erinnerung an den Tag, an dem sein Projekt des Erfindens und Schaffens, der Befreiung und Erlösung, der Selbstgestaltung und -erhebung eine neue Wende erlebte. Dieses Projekt findet im Anderen ein williges Instrument. Das handelnde Subjekt trifft hier auf ein beherrschbares Subjekt, das erzählende auf ein gestalterisch brauchbares, das die Möglichkeiten von Kultur und Erziehung bezeugt, von ihnen aber auch absorbiert wird. Mit dem Verlassen der Insel verliert Friday an Bedeutung. Lapidar heißt es, er hätte Crusoe auf allen Reisen getreulich begleitet und sich als zuverlässiger Diener erweisen. Nur einmal tritt er noch in den Vordergrund: als man die Pyrenäen überquert und sich gegen Wölfe und Bären behaupten muß. Hier zeigt sich Friday in seinem Element. Die Bärenjagd macht er zur Inszenierung seiner eigenen (nunmehr gewandelten) Beziehung zum Natürlichen und Wilden: »You Fool you, says I, he will eat you up: Eatee me up! Eatee me up! Says Friday, twice over again: Me eatee him up: Me make you good laugh: You all stay here, me show you good laugh« (212). Das Gelächter der Wilden war für Léry Zeichen ihrer Pfiffigkeit. Das Gelächter der Europäer, das der ehemalige Wilde hervorrufen will, ist bei Defoe Zeichen der erfolgreichen Anpassung an die europäische Kultur. Einige Fertigkeiten im Umgang mit wilden Tieren einerseits, einige Mängel in der Syntax andererseits – sie sind alles, was vom vormaligen Kannibalen

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geblieben ist. Die ›Erfindung des Andern‹, die man Defoe zugeschrieben hat,75 ist zugleich auch schon dessen Auslöschung. Wie wenig es im Robinson Crusoe um die Entfaltung von Alterität geht, zeigt die Beschreibung des chinesischen Reichs im zweiten Teil: »Wenn ich aber diese elende Bevölkerung mit der unsrigen vergleiche, ihre Gebäude, ihre Lebenshaltung, ihre Regierung, ihre Religion, ihr Vermögen, ihr ganzes Ansehen sozusagen, so muß ich gestehen, es lohnt sich kaum, darüber zu reden oder für meine künftigen Leser Aufzeichnungen darüber zu machen. [...] Wie ihre militärische Stärke und politische Macht, so ist auch ihr Schiffahrtswesen, ihr Handel und ihre Landwirtschaft im Vergleich zu europäischen Verhältnissen unentwickelt und bedeutungslos. Mit der Bildung, dem Unterrichtswesen und den gelehrten Wissenschaften verhält es sich nicht anders« (dt. Übers., 581f./584). Es sei dies im übrigen, so der Erzähler, die einzige derartige Abschweifung gewesen. Im folgenden wolle er nur noch von seinen eigenen Abenteuern erzählen, »von einem Leben, das mich wie keinen anderen herumgeworfen hat«. In der Tat: Der Bericht über »das Leben und die seltsamen Abenteuer«, »geschrieben von ihm selbst«, ist auf dieses Selbst zentriert, und auch der Andere besitzt nur in bezug darauf seinen Ort. Von der melancholischen Haltung eines Léry, der konjunktivischen eines Montaigne, der spielerischabgründigen eines Shakespeare ist hier wenig zu spüren. Daß das Paar Crusoe/Friday gleichwohl Furore machte, liegt an der Musterhaftigkeit der Etappen: Rettung, Unterwerfung, Benennung, Erziehung, Lebensgemeinschaft. Und an der Prägnanz der Momente: die Unterwerfungsgeste (der Wilde beugt sein Haupt unter den Fuß des Europäers), die Anähnlichung (er bekommt die gleiche Ziegenfellkleidung verpaßt), das Gespräch über Fragen der Religion, bei dem Crusoe auf das Problem der Theodizee, die Schwierigkeit, das Wesen des Teufels zu erklären, stößt. So fand in Crusoe und Friday der Gedanke der freiwilligen Knechtschaft, gegen den La Boétie und Montaigne angegangen waren, neue Nahrung. Hier ließ sich das Fremde ohne moralische Bedenken, aber auch ohne kulturelle Verunsicherung goutieren. Hier ließ sich ein pädagogisches Modell gewinnen, das verschiedenste Akzentuierungen ermöglichte und durch Rousseau entscheidende Impulse gewann. Dem Helden seines Erziehungsromans Émile (1762) gedenkt er ein einziges Lehrbuch zu: Robinson Crusoe. Doch gleichzeitig vollzieht er eine Transformation: Der Insulaner wird zur Identifikationsfigur, weil er sich zu den Wurzeln der Natur zurückbewegt.76 Die Insel wird zum Ort, an dem sich das Selbst jenem Naturzustand wieder annähert, der im Laufe der kulturellen Entwicklung verlorengegangen ist. Eine Utopie des natürlichen Subjekts, das in sich zur Natur zurückfindet und in der Natur es selbst sein kann. Eine Weichenstellung für die Entwicklung des Romans zum Kinderbuch, die erst in der Moderne ins Stocken gerät. Zeitge-

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schichtliche Skepsis, psychologische Ausdifferenzierung und gebrochene Identitätsmodelle machen den Inselaufenthalt in anderer Weise attraktiv – als Möglichkeit, das Abgründige in den Vordergrund zu stellen: In William Goldings The Lord of the Flies (1954) verwandelt sich im Kontext des Atomkriegs eine auf einer Insel gestrandete Gruppe Kinder in ›savages‹, die in Gewalt, Jagd und Ritual eine archaische Agonalität ausagieren; in Michel Tourniers Vendredi ou Les Limbes du Pacifique (1969) wird die Robinsongeschichte zu einer Geschichte des postindividualistischen Selbstverständnisses, das bezogen auf Zivilisationsdynamik und Sexualität die narrativen Bedingungen von Kontingenz und Transzendenz verhandelt.

Anmerkungen 1 FOUCAULT, Andere Räume, nennt sechs Grundzüge der Heterotopien, von denen ich hier nur einige Aspekte herausgreife. 2 Vgl. BRUNNER, Die poetische Insel; SEIDEL, Robinson Crusoe; GLASER, Utopische Inseln; MOSER, Archipele der Erinnerung. 3 Thevet, Le Brésil et les Brésilien, ed. LUSSAGNET, S. 313–320; LESTRINGANT, L’atélier du cosmographe, S. 151–158, 167f. 4 D. S. JOHNSON, Fata Morgana der Meere. 5 Shakespeare, The Tempest, ed. VAUGHAN/VAUGHAN, 2.1.93: sowing the kernels of it in the sea, bring forth more islands. 6 LESTRINGANT, Utopia and Reformation, S. 164. 7 KIENING, Die goldene Insel. 8 Zum Begriff Lucian HÖLSCHER: Utopie, in: Otto BRUNNER/Werner CONZE/Reinhart KOSELLECK (Hg.): Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland. Bd. 6. Stuttgart 1990, S. 733–788. 9 Neuere Literatur bei Hans-Edwin FRIEDRICH, Utopie, in: Jan-Dirk MÜLLER u. a. (Hg.): Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft. Bd. 3. Berlin, New York 2003, S. 739–743; außerdem für die frühe Neuzeit: Louis MARIN: Utopiques. Jeux d’espaces. Paris 1973; Miriam ELIAVFELDON: Realistic Utopias. The Ideal Imaginary Societies of the Renaissance, 1516–1630. Oxford 1982; Marina LESLIE: Renaissance Utopias and the Problem of History. Ithaca/N. Y. 1998. 10 L’Utopie de Thomas Morus, ed. PREVOST, S. 235 (Abb. des Titelblattes); der Titel Utopia begegnet zuerst 1629; s. ebd., S. CCXLV. 11 Ebd., S. 351: »Nam neque nobis in mentem uenit quaerere, neque illi dicere, qua in parte noui illius orbis Vtopia sita sit«. Jüngere Gesamtinterpretationen bei LOGAN, The Meaning of More’s Utopia, und BAKER-SMITH, More’s Utopia. 12 L’Utopie de Thomas Morus, S. 338/340: »siquidem cum ea loqueretur Raphael, adierat MORVM e famulis quispiam qui illi nescio quid diceret in aurem, ac mihi quidem tanto attentius auscultanti, comitum quispiam, calrius, ob frigus opinor nauigatione collectum, tussiens, dicentis uoces aliquot intercepit. Verum non conqiescam donec hanc quoque partem ad plenum cogonouero, adeo ut non solum situm insulae, sed ipsam etiam poli sublationem sim tibi ad unguem redditurus, si modo incolumis est noster Hythlodaeus.« Zum Spiel mit Utopie und Fiktion KUON, Utopischer Entwurf und fiktionale Vermittlung, bes. S. 55–134. 13 Ausführliche Nachweise der unzähligen Zitate und Anspielungen in den Ausgaben von SURTZ/HEXTER und PREVOST. 14 Vgl. zuletzt HERMAN, Who’s That in the Mirror. 15 Vgl. HAHN, Indians East and West, S. 88–91.

Anmerkungen

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16 Als koloniale Propaganda liest den Text KNAPP, An Empire Nowhere, S. 21. 17 Erasmus von Rotterdam: Laus stultitiae, in: Ausgewählte Werke. Lat.-dt., hg. von Werner WELZIG. Bd. 2. Eingeleitet und mit Anmerkungen versehen von Wendelin SCHMIDT-DENGLER. Darmstadt 1975, S. 148f.: »Nec eos agnosco, qui sua facta nimis agnoscunt, isti qui me quoque sanctiores videri volunt, Abraxasiorum coelos, si libet, occupent, aut ab his sibi novum exstrui coelum iubeant, quorum traditiunculas meis praeceptis anteposuerunt.« 18 L’Utopie de Thomas Morus, ed. PREVOST, S. 675 (Notes complémentaires). 19 GREENBLATT, Renaissance Self-Fashioning. 20 L’Utopie, S. 9: »Morus certe insulam et sancta instituto stilo orationéque illustrauit, ac ciuitatem ipsam Hagnopolitanorum ad normam regulamque expoliuit, omniaque ea addidit, unde operi magnifico decor uenustasque accedit, et auctoritas, etiam si in ea opera nauanda sibi tantum partes structoris uendicauit.« 21 HERMAN, Who’s That in the Mirror, S. 125f. 22 WILLIAMS/LEWIS, Early Images of the Americas, S. XXIV. 23 Zum Verhältnis von Utopie und Narration JAMESON, Of Islands and Trenches; zur Nachwirkung der Utopia in England BOESKY, Founding Fictions. 24 [Nicolò Zeno:] De i commentarii del viaggio in Persia di m. Caterino Zeno il k. & delle guerre fatte nell’imperio persiano, dal tempo di Ussuneassano in quà : libri due : et dello scoprimento dell’isole Frislanda, Eslanda, Engrouelanda, Estotilanda, & Icaria, fatto sotto il polo artico, da due fratelli Zeni, m. Nicolò il k. e m. Antonio : libro uno : con un disegno particolare di tutte le dette parte di Tramontana da lor scoperte. Venetia: Francesco Marcolini, 1558. [6], 6 [i.e. 7]–58 Bll., 1 gefaltete Karte (Faksimile und englische Übersetzung bei LUCAS, The Annals of the Voyages); Hakluyt, The Principall Navigations, Neuausg., Bd. 7, S. 445–466; D. S. JOHNSON, Fata Morgana der Meere, S. 99–124; zur Diskussion um die Authentizität zuletzt Brian SMITH: Earl Henry Sinclair’s fictitious trip to America (2002), http://www.rosslyntemplars.org.uk/zenos_voyage.htm. Deutscher Text: Hieronymus Magiser: Septentrio Novantiquus Oder Die Newe NortWelt, Leipzig 1613, S. 120–167 (Neuabdruck durch Wolfgang MÜLLER, Berlin 2005, S. 99–133). 25 Hakluyt, S. 463: »it grieveth me, that the booke and divers other writings concerning these purposes, are miserably lost: for being a child when they came to my hands, and not knowing what they were, (as the maner of children is) I tore them, and rent them in pieces, which now I cannot cal to remembrance but to my exceeding great griefe. Notwithstanding, that the memory of so many good things should not bee lost: whatsoever I could get of this matter, I have disposed and put in order in the former discourse, to the ende that this age might be partly satisfied, to the which we are more beholding for the great discoveries made in those parts, then to any other of the past time, being most studious of the newe relations and discoveries of strange countries, made by the great mindes, and industrie of our ancestors.« 26 Hakluyt, S. 455f.: »The inhabitants are very wittie people, and have all artes and faculties, as we have: and it is credible that in time past they have had trafficke with our men, for he said, that he saw Latin bookes in the kings Librarie, which they at this present do not understand: they have a peculiar language, and letters or caracters to themselves.« 27 Ausführliche Nachweise bei LUCAS, The Annals of the Voyages. 28 Hakluyt, S. 463: »Concerning those things that you desire to know of me, as of the men and their maners and customes, of the beasts, and of the countries adjoyning, I have made therof a particular booke, which by Gods help I will bring with me: wherein I have described the countrey, the mounstrous fishes, the customes and lawes of Frisland, Island, Estland, the kingdome of Norway, Estotiland, Drogio, and in the end the life of M. Nicolo, the knight our brother, with the discovery which he made, and the state of Groneland.« 29 MACKENTHUN, Metaphors of Dispossession, S. 24–34. 30 Harriot, A Briefe and True Report, ed. HULTON; Übersetzung: Amerika 1590; zum Roanokeprojekt QUINN, Set Fair for Roanoke; zusammenfassend BITTERLI, Die Entdeckung Amerikas, S. 165–170; zu Harriot HADFIELD, Literature, Travel, and Colonial Writing, S. 111–133. 31 Text in: Shakespeare, The Tempest, ed. VAUGHAN/VAUGHAN, S. 287–302. 32 Beschreibung der Insul O-Brazile, Oder die Bezauberte Insul/ in Nord-Irland. o. O. 1675;

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Expl.: Wolfenbüttel, Herzog August Bibliothek, T 753. 4° Helmst. (22); im gleichen Jahr erschien auch eine schwedische Version; vgl. GLAUSER, Die textuelle Dynamik der Polygamie, S. 286, Anm. 37. Zur französischen Tradition der ›île des démons‹ CHINARD, L’exotisme, S. 66f. 33 Georg Wickram: Sämtliche Werke, hg. von Hans-Gert ROLOFF. 4. Bd.: Von gĤten und bösen nachbaurn. Berlin 1969, S. 76–78. 34 Conteurs français du XVIe siècle, hg. von Pierre JOURDA. Paris 1965, S. 1082: »Ainsy vivant, quant au corps de vie bestiale, et, quant a l’esperit, de vie angelicque, passoit son temps en lectures, contemplations, prieres et oraisons, ayant ung esprit esperit joieulx et content dedans ung corps emmaigry et demy mort«; Margarete von Navarra: Heptameron. München 1979, S. 698. 35 Ausgabe: Shakespeare, The Tempest, ed. VAUGHAN/VAUGHAN, 5.1.208–213: »in one voyage | Did Claribel her husband find at Tunis; | And Ferdinand, her brother, found a wife | Where he himself was lost, Prospero his dukedom | In a poor isle, and all of us ourselves | When no man was his own« (Übersetzung von STRATHMANN). 36 DEMARAY, Shakespeare and the Spectacles of Strangeness; s. auch FIEDLER, The Stranger in Shakespeare. 37 Zusammenfassend zur Diskussion: Tempest, ed. VAUGHAN/VAUGHAN, S. 39–54; vgl. auch FREY, The Tempest and the New World; BROWN, ›This thing of darkness I acknowledge mine‹; SKURA, Discourse and the Individual; WILLIS, Skakespeare’s Tempest and the Discourse of Colonialism; zum mediterranen Kontext BROTTON, ›This Tunis, sir, was Carthage‹. 38 Zusammenstellung der für den kolonial-überseeischen Horizont wichtigen Punkte bei THEWELEIT, Shakespeare on Tour, S. 281–300; außerdem WEIMANN, Shakespeares Sturm, S. 171f. 39 GREENBLATT, Verhandlungen mit Shakespeare, S. 189f. 40 Vgl. HULME, Colonial Encounters, S. 106. 41 DOGGETT/HULVEY/AINSWORTH, New World of Wonders, S. 117, 145. 42 Zur Vieldeutigkeit zusammenfassend STRATHMANN im Nachwort zur Ausgabe, S. 182– 186. 43 2.1.148–165: »I’th’ commonwealth I would by contraries | Execute all things; for no kind of traffic | Would I admit; no name of magistrate; | Letters should not be known; riches, poverty | And use of service, none; contract, succession, | Bourn, bound of land, tilth, vineyard – none; | No use of metal, corn, or wine or oil; | No occupation; all men idle, all; | And women too, but innocent and pure: No souvereignty – | [...] All things in common nature should produce | Without sweat or endeavour; treason, felony, | Sword, pike, knife, gun, or need of any engine,| Would I not have; but nature should bring forth | Of ist own kind all foison, all abundance, | To feed my innocent people.« 44 LEVIN, The Myth of the Golden Age; PLEIJ, Der Traum vom Schlaraffenland. 45 SKURA, Discourse and the Individual, S. 50. 46 Zur Bedeutung dieses Begriffspaars STRATHMANN, Nachwort, S. 179f. 47 VAUGHAN, Shakespeare’s Caliban; LIE/D’HAEN, Constellation Caliban. 48 Vgl. HULME, Colonial Encounters, S. 108. 49 GREENBLATT, Verhandlungen mit Shakespeare, S. 200. 50 3.2.133–141: »the isle is full of noises, | Sounds and sweet airs, that give delight and hurt not. | Sometimes a thousand twangling instruments | Will hum about mine ears; and sometime voices, | That if I then had waked after long sleep, | Will make me sleep again; and then, in dreaming, | The clouds, methought would open and show riches | Ready to drop upon me, that, when I waked | I cried to dream again«. Zur Stelle WEIMANN, Shakespeares Sturm, S. 179f. 51 HULME, Colonial Encounters, S. 125. 52 Zur Umsetzung der metaphorischen Vorstellung des naturnahen Raums in eine konkrete BROWN, ›This thing of darkness I acknowledge mine‹, S. 66. 53 SKURA, Discourse and the Individual, S. 63. 54 DOGGETT/HULVEY/AINSWORTH, New World of Wonders, S. 123. 55 HADFIELD, Literature, Travel, and Colonial Writing, S. 254–264; KNAPP, An Empire Nowhere, S. 241f. 56 Ähnlich WEIMANN, Shakespeares Sturm.

Anmerkungen

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57 Vgl. FAUSETT, Writing the New World, zur Isle of Pines S. 81–90; wichtige Beobachtungen bei BOESKY, Founding Fictions, S. 141–161. 58 GLAUSER, Die textuelle Dynamik der Polygamie, S. 288f. 59 BOESKY, S. 150–152. 60 Grimmelshausen, Werke I,1, ed. BREUER; zum Inselaufenthalt aspektreich STROHSCHNEIDER, Kultur und Text. 61 Zur Episode BATTAFARANO, Der seltsame Pilger, S. 32–37. 62 Zur Höhlenepisode STROHSCHNEIDER, Kultur und Text, S. 109–112. 63 KAMINSKI, Narrator absconditus. 64 COSGROVE, Mappings, S. 15f.: »All utopias require mapping, their social order depends upon and generates a spatial order which reorganizes and improves upon existing models«. 65 Daniel Casper von Lohenstein: Blumen. Breslau 1689, S. 23ff. (Hyazinthen), Str. 8. 66 Pinxner, Die hitzige Indianerin, ed. WALTHER. 67 Die portugiesischen Texte zum Beispiel wurden von Bernardo Gomes de Brito gesammelt und 1735/36 in einer berühmten Anthologie herausgegeben. Neuausgabe: Historia TrágicoMarítima. Introduçao de Neves Àguas. 2 Bde. Mem Martins 1981; vgl. LANCIANI, Os relatos de naufrágios; dies., Tempeste e naufragi. 68 Vgl. SCHLAEGER, Die Robinsonade. 69 Vgl. zuletzt LE GOFF, Robinson Crusoé; außerdem HULME, Colonial Encounters, S. 175– 222; zusammenfassende Darstellungen des Textes bei SEIDEL, Robinson Crusoe; BROSSE, Le Mythe de Robinson. 70 Zitate nach dem Text der Erstausgabe, ed. SHINAGEL, S. 76: » A little after this my Ink began to fail me, and so I contented my self to use it more sparingly, and to write down only the most remarkable Events of my Life, without continuing a daily Memorandum of other Things«; dt. Übers., S. 116. 71 Ebd., S. 82f.: »It was now that I began sensibly to feel how much more happy this Life I now led was, with all its miserable Circumstances, than the wicked, cursed, abominable Life I led all the past Part of my Days. [...] From this Moment I began to conclude in my Mind, That it was possible for me to be more happy in this forsaken Solitary Condition, than it was probable I should ever have been in any other Particular State in the World; and with this thought I was going to give thanks to God for bringing me to this place«; dt. Übers., S. 125f.; vgl. HONOLD, Das Glück des Schiffbrüchigen. 72 Thomas Hobbes: Leviathan, hg. von A. R. WALLACE. Cambridge 1935, S. 84 (I,13). 73 Crusoe selbst begreift dies als entscheidende Gegebenheit und verbringt viel Zeit damit, sich auszumalen, »wie sich mein Leben wohl gestaltet hätte, wenn ich aus dem Schiff nichts hätte retten können«; dann »hätte ich wie ein Eingeborener leben müssen« (dt. Übers., 144). 74 Zum Kannibalismus zuletzt NOVAK, Fleischlose Freitage; als skrupelloser ›Inkorporierer‹ erscheint Crusoe bei Minaz JOOMA: Robinson Crusoe Inc(orporates): Domestic Econony, Incest, and the Trope of Cannibalism, in: GUEST, Eating Their Words, S. 57–78. 75 LE GOFF, Robinson Crusoé. 76 Ebd., S. 33–40.

7 Ausblick: Reisen ins Selbst

Die Außenwelt der Innenwelt Robinson Crusoe reflektiert viel: über sein Leben, seine Geschichte, seine Einstellungen. Der Aufenthalt auf der Insel ermöglicht Besinnung und Innerlichkeit, Zweifel und Selbstbefragung. Er deutet eine Verflechtung von äußerer und innerer Fremde an, die allerdings nicht den ganzen Text trägt. Crusoes spirituelle Sorgen beschränken sich auf singuläre Momente. Ebenso seine Erfahrungen mit Indigenen und Kannibalen. Der Roman erzählt nicht von Wandlungen und tieferen Einsichten. Das Besondere hat abenteuerlichen Charakter, und in seinen Abenteuern profiliert sich das Subjekt mehr als in seinen Empfindsamkeiten. Damit bleibt der Roman, so sehr er sich den situativen Details widmet und die narrativen Unentschiedenheiten forciert, der Tradition verpflichtet: einer Tradition, in der die Bewegung ins Fremde hinein schon deshalb kaum als Prozeß eines reflektierenden Subjekts gedacht ist, weil diesem Subjekt die Bewußtseinsidentität fehlt, die einem solchen Prozeß zugrundeliegen müßte. Die Modernität, die wir an dem Text zu bemerken glauben, ist eine historisch relative. Sie manifestiert sich weniger im Bruch mit den alten Ordnungen als im Aufweichen bestimmter Semantiken, schillernd nunmehr zwischen historiographischen und literarischen Diskursen. Dies gilt es zu bedenken, wenn man danach fragt, wie sich das Imaginäre der Neuen Welt seit dem frühen 18. Jahrhundert verfestigt. Ich blicke zunächst noch einmal zurück. Beschrieben wurden in den frühneuzeitlichen Reiseberichten und Romanen Erfahrungen, die zwar des Subjekts bedürfen, nicht aber als individuelle Selbsterfahrungen erscheinen. Selbst die privaten Aufzeichnungen der Zeit, Autobiographien, Tage- und Memorialbücher, gaben weit mehr den äußeren als den inneren Ereignissen Raum oder knüpften Innerliches ans Äußerliche: an den Körper etwa, seine Krankheiten und Gebrechen, die zunehmend die Aufmerksamkeit auf sich zogen. Montaigne führte ein (unpubliziert gebliebenes) Tagebuch seiner Bäderreise durch Deutschland, die Schweiz und Italien, in dem er die Beobachtung lokaler Gegebenheiten mit einer konsequent an der physischen Befindlichkeit, an den leiblichen Zuführungen und Ausscheidungen orientierten Selbstbeobachtung kombinierte. Zur Seelengeschichte fügte er die Stationen nicht zusammen. Die autoreflexive Introspektion überließ er seinen (publizierten) Essais, in denen das Subjekt zwar den Punkt des Zusammen-

Die Außenwelt der Innenwelt

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halts bietet, zugleich aber sich als philosophisches, politisches und ethisches präsentiert. Dementsprechend wurde auch die Neue Welt zunächst kaum zum Mittel subjektiver Selbsterkenntnis. Zwar mehrten sich schon im Laufe des 16. Jahrhunderts die Stimmen, die neben den konkreten Interessen und Gewinnen eine allgemeine Faszination am Fremden als Grund des Aufbruchs zu erkennen geben. Doch die Idee einer Kultivierung durch Horizonterweiterung, wie sie sich für die europäischen Bildungsreisen der Zeit andeutet, fand in Übersee eher einen Kontrapunkt als ein Pendant: die Möglichkeit, einem (sonst im Schwinden begriffenen) Natürlichen zu begegnen. Der Jesuitenpater Anton Sepp aus Südtirol stellte fest, Paraguay übertreffe alle europäischen Länder an Schönheit und Annehmlichkeit, weil jene zwar »mehrer von der Kunst als Natur, dises aber alleinig ihre völlige Schönheit von der Natur her entlehnet. Solte America wie Europa bewohnet seyn, und dise zwen Theil der Welt der grosse Oceanus nicht also weit von einander entschiden hätte; wurde America in ein Volckreiches Europam, Europa aber in ein Americanische Einöde verkehret zusehen seyn.«1 Die äußere Natur konnte als Spiegel der inneren gelten, doch der Gedanke der Seelenlandschaft hatte noch einen anderen Gehalt als in späterer Zeit: Man begegnet den Seelen Verstorbener im Diesseits oder, temporär entrückt, im Jenseits, man liest Räume als Zeichen für Heil oder Unheil. Die Perspektive ist eine soteriologische oder eschatologische. Ihre Übertragung auf die Neue Welt weitet zwar den Begriff des Heilsgeschehens aus, führt aber zu keiner konsequenten Individualisierung. Gegenüber der Ontogenese behält die Phylogenese ihre Bedeutung: Welt, Landschaft und Bewohner werden begriffen als Zeichen des früheren Entwicklungszustands der (zivilisierten) Menschheit oder einer (europäischen) Nation. Das Selbst, das sich in diesem Zusammenhang zeigt, ist dementsprechend ein allgemeines: ein kulturelles, ein nationales, ein religiöses. Wo es sich vereinzelt und doch Wahrheit beansprucht, braucht es der Stütze durch etablierte Sinnmuster – etwa die Christusnachfolge. Colón und Cabeza, Hutten, Staden und viele andere spielen Momente des Martyriums ein, um ihre Leiden in und an der Neuen Welt plausibel zu machen. Selbsterniedrigung und Selbstheiligung lassen sich auf diese Weise in der Schwebe halten. Das Subjekt profiliert sich in jenem Spannungsfeld von Ausgrenzung und Auszeichnung, das charakteristisch für Heroengeschichten und Heiligenlegenden ist. Das Terrain und seine Bewohner erweisen sich als Bewährungsraum sowohl für die eigene christliche Standhaftigkeit wie die kirchenpolitische Expansion. Äußeres und Inneres sind so in mancher Hinsicht füreinander durchlässig. Oder anders gesagt: noch nicht in jenem Sinne einer ›res cogitans‹ und einer ›res externa‹ voneinander geschieden, mit dem Descartes der Philosophiegeschichte eine entscheidende Wendung geben wird. Solange der Ge-

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danke der Zeichenhaftigkeit der Welt vorherrschte, waren zwar einerseits die Zeichen, andererseits ihr Interpret nötig, zugleich aber beide aneinander gekoppelt. Inneres braucht die Erscheinungsform, die wiederum Lesbarkeit bedingt, welche Verinnerlichung ermöglicht. Es sind deshalb zwei Seiten ein und derselben Münze, wenn die Subjekte von Reiseberichten entweder primär von faktischem Geschehen oder primär von innerem Erleben berichten. In jedem Fall sind Außenwelt und Innenwelt durch keine dynamische, prozessuale Relation verbunden. Das Modell, um die eine und die andere in Beziehung zu setzen, ist das seit Augustinus geläufige der spirituellen Autobiographie, ein Modell, dazu angetan, das Äußere im Inneren aufzuheben. Galt das Leben als Pilgerschaft, d. h. strukturierbar in seinen Stationen und Peripetien, ausgerichtet auf das eine Ziel, so konnte eine Darstellung dieses Lebens sich auf das konzentrieren, was die innere Einheit des Weges ausmacht – wobei diese Einheit sich nicht in der Verfestigung der Identität des Selbst, sondern in der Anähnlichung an ein ideales, göttliches Selbst einstellt. Demgemäß gewinnen die Ereignisse des Lebens ihren Sinn in bezug auf das individuelle Heil, das sie sichtbar machen und zugleich als allgemeingültig erweisen.2 Der barocke Roman, Graciáns Criticón oder Grimmelshausens Simplicissimus, bringt diese Idee zu narrativer Entfaltung. Oszillierend zwischen den Metaphern der Lebensreise und des Welttheaters entwirft er Universalgemälde, die die Vielfalt des Möglichen allegorisch bändigen, aber die Allegorie selbst an ihre Grenzen führen. An den Texten über die Neue Welt ist Ähnliches zu beobachten: Geltungsbehauptungen, die nicht alles übergreifen, was man zur Sprache bringt, Sinnstiftungen, die sich nicht in der Bezeichnung des Faktischen oder Wahren erschöpfen. In ihnen zeigt sich eine Ausdehnung des Imaginären, die ihrerseits die Diskurse des Realen ergreift. Selbst dort, wo die Mission im Zentrum steht und Eigengeschichte und Bekehrungsgeschichte sich verschränken, kommt es zu einer Verselbständigung von Kontexten – Landschaften, Begebenheiten, Stimmungen –, die sich nicht ohne weiteres der Finalität der spirituellen Autobiographie unterwerfen.

(Nicht-)Andere Eines der prägnantesten Beispiele liefert die französische Ursuline Marie de l’Incarnation (mit bürgerlichem Namen: Marie Guyart). Jungverwitwet und lange schon spirituell orientiert, legte sie 1633, vierunddreißigjährig, in Tours das Ordensgelübde ab, überzeugt davon, Gott habe größere Prüfungen für sie vorgesehen. Diese Prüfungen, angekündigt durch die Traumvision eines fernen weiten Landes, ließen sich verwirklichen in der Übersied-

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lung nach Kanada, auf das Marie durch die jesuitischen Relationen aufmerksam geworden war. Ab 1640 verbrachte sie bis zu ihrem Tod (1672) über drei Jahrzehnte im Umkreis Quebecs, beschäftigt mit der Etablierung der Mission, der Evangelisierung der Indianerinnen und der Entfaltung der eigenen Gottesbegegnung, beschäftigt auch mit der Mitteilung ihrer Erfahrungen an andere: in Form spiritueller Autobiographien und unzähliger Briefe an Ordensmitglieder und Verwandte.3 Die Briefe, von denen nur ein Bruchteil, wenig mehr als 200 in einer durch den Sohn, den Benediktiner Dom Claude Martin stilistisch geglätteten Publikation erhalten sind, sprechen vom Alltag der Mission: Klima und Witterung, Anbau und Ernährung, Bautätigkeit und Gottesdienst, religiöse Unterweisung und ethnische Spannungen. Es geht um pragmatische Details: Schwierigkeiten der Subsistenz, Beziehungen zu einzelnen Schülerinnen. Aber auch um zeitgeschichtliche Konstellationen: Unstimmigkeiten zwischen den Ursulinen von Quebec und Paris, Krieg zwischen den Franzosen und den Irokesen. Neu-Frankreich hatte seit der Mitte des Jahrhunderts für das Mutterland an Bedeutung gewonnen. Colberts Projekt, die Staatsfinanzen zu sanieren, stützte sich unter anderem auf die in Übersee erhofften Erträge. Man betrieb verstärkt die militärische Besiedlung und ökonomische Erschließung des Landes, suchte nach Auswanderungswilligen (sog. ›Engagés‹), förderte die Missionstätigkeit und die ›Zivilisierung‹ der Indianer.4 Daß indes Zugang zum christlichen Glauben und Übernahme französischer Lebensformen nicht notwendig Hand in Hand gingen, machen gerade auch Maries Briefe sichtbar. So optimistisch sie ist, für die Glaubenslehre einen fruchtbaren Boden zu finden, so nüchtern stellt sie hinsichtlich der Akkulturierung fest: »Es ist doch eine sehr schwierige, wenn nicht unmögliche Sache, die Indianer an französische Sitten zu gewöhnen oder sie zu zivilisieren. Wir haben damit mehr Erfahrung als irgendwer sonst und haben beobachtet, daß von hundert Mädchen, die durch unsere Hände gingen, kaum eines durch uns zivilisiert wurde.«5 Das führt zu keiner Resignation. Für Marie ist Neu-Frankreich das Land ihres Lebens, die Siedlung in Quebec ihr eigenes Reich des apostolischen Geistes und der spirituellen Erfahrung. Sie sieht sich, empfänglich wie die Indianerinnen für den christlichen Glauben sind, in eine urchristliche Situation versetzt. Ein Jahr nach der Ankunft schreibt sie an eine Bekannte: »ne sommes-nous pas les plus heureuses et les plus avantages de la terre? Je ne puis vous exprimer le ressentiment [die Freude] que j’en ai dans mon âme.«6 Am Tag darauf (4. Sept. 1640) beginnt sie einen anderen Brief mit einem überschwänglichen originalsprachlichen Gruß: »Ni-Misens eriouek ouasa ouapicha entaien aiega eapitch Khisadkihir arioui Khioua parmir souuga ouiechimir. Ni-Misens, miouitch Kasasadkihatch Dieu, Kihisadkihir. Tja, diese Worte sind mir jetzt entschlüpft. In unserer Sprache bedeuten sie:

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›Meine Schwester, auch wenn Ihr weit entfernt seid, liebe ich Euch doch mehr, als wenn ich Euch sähe. Ich umarme Euch herzlich, meine Schwester, und weil Ihr Gott liebt, liebe ich Euch.‹«7 Am Ende ihres Lebens wird Marie drei Indianersprachen, Algonkin, Huron und Irokesisch, gelernt haben, wird Katechismen und kleine Wörterbücher in diesen Sprachen zusammengestellt haben und wird schließlich sogar ein »großes Werk« über die Heilsgeschichte und die Heilstatsachen verfaßt haben – eine Theologie, »für die sie sich in der Sprache der Franzosen nicht qualifiziert hielt.«8 Maries Briefe suchen nicht wie die Relationen der Jesuiten die ethnographisch genaue Erfassung der Gegebenheiten, der Lebensweisen und Glaubenspraktiken. Sie wollen Zeugnis ablegen vom schätzenswerten Wesen der neuen Christen und zugleich vom Enthusiasmus der eigenen christlichen Sendung. Immer wieder werden die Grenzen der Kulturen überspielt: die Scheu vor den (aus europäischer Wahrnehmung) schmutzigen und stinkenden Körpern der Indianer, die Sorge angesichts des Eintauchens in eine fremde Welt, »ce bout du monde, où l’on est sauvage toute l’année«.9 An den Grenzen des Bekannten wird Marie selbst zur Grenzgängerin: zwischen den Kulturen, zwischen Formung der ›Wilden‹ und Formung des eigenen inneren Selbst.10 Sie sucht die Nähe, die Gemeinsamkeit, die Einheit – bei der Arbeit, im Chorgesang, im Gebet. Sie zittert um ihre Schützlinge. Sie verfolgt deren Schicksal. Sie vertieft sich in eine Welt, die zunehmend zur eigenen wird – im doppelten Sinne: Heimat mit befremdlichen Zügen und Eigenwelt mit spezifischen Mischungsverhältnissen.11 Weder die Lebensweisen noch die Glaubensformen gleichen sich völlig an, doch in Maries Augen durchdringen die Berührungen selbst die Differenzen. Sie zitiert die Rede des bekehrten Schamanen Etienne Pigarouich, der sich bei der Jagd nunmehr an den »Großen Häuptling Jesus« wendet, und referiert die Geschichte der Marie Kamaketeouinouetch, die, Christin geworden, in die Gefangenschaft verschiedener Stämme gerät und eine abenteuerliche Flucht übersteht: fast drei Monate lang zog sie »allein im Frühling durch die Wälder, orientierte sich tagsüber an der Sonne, sammelte Wurzeln, Getreidekörner und Vogeleier, fand einen Irokesentomahak und verfertigte Werkzeuge zum Fischen und Jagen, in ständiger Angst vor den nahen Irokesen. Einmal versuchte sie in ihrer Verzweiflung, ›als Wilde in den Irrtum zu verfallen‹, Selbstmord zu begehen und sich aufzuhängen, doch Gott beschützte sie und das Seil riß. Schließlich stieß sie auf ein Irokesenkanu, paddelte in ihm zum Lorenzstrom und weiter von Insel zu Insel, bis sie schließlich in Montréal ankam.«12 Fluchtgeschichten im Grenzsaum von europäischen und indigenen Kulturen, Geschichten, schwankend zwischen Selbstbehauptung und Verzweiflung, kannte man bis dahin überwiegend von Europäern. Nun betrifft die Fluchtgeschichte eine zum Christentum übergetretene Algonkin-Indianerin

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– ein Zeichen für die wachsende Komplexität der kolonialen Verhältnisse und die zunehmende Bedeutung von Spiegelbeziehungen: In ihrer Autobiographie schildert Marie, wie sie selbst zeitweise dem Selbstmord nahe war. Der geschärfte Sinn für die (mündlichen) Überlieferungen der Indigenen verbindet sich mit einem verstärkten Interesse an den Verbindungen zwischen Missionaren und Missionierten, zwischen den Heilsbringern und den -empfängern, an deren spirituelles Glück wiederum die ersteren ihr eigenes koppeln. Marie folgt nicht der Doppelstrategie der Jesuiten, sich einerseits auf die lokalen Verhältnisse einzustellen, andererseits auf eine klare theologische Superiorität zurückzuziehen. Sie ist bereit zur völligen Hingabe an ihre Aufgabe, weil diese Aufgabe zugleich Schritt der Vereinigung mit dem himmlischen Bräutigam ist. Das Engagement im Dienste der Evangelisierung zielt damit auch auf die Selbstpreisgabe, das Leben im Glauben auf die Abtötung in Gott und für Gott. Die Neue Welt verwandelt sich in einen ›locus amoenus‹, in dem nicht nur die Kulturen, sondern auch Glück und Leiden, Gewinn und Opfer eins werden. Fremdheit und Gefahr, Zweifel und Verunsicherung sind nichts, was das kanadische Paradies trübt, sondern Zeichen seiner idealen Eignung für den spirituellen Prozeß. Die Gefährdung, die Marie für ihre Anfangsjahre beschreibt, betrifft diesen Prozeß als solchen. Sie geht nicht vom Martyrium aus, das ja die Heiligung sichtbar machen könnte. Sie ergibt sich aus dem Gefühl innerer Verlassenheit, das die Dynamik der Selbstverkommnung in Frage stellt. So fraglos hier der Sinn der Mission und dort der Sinn des (Selbst-)Opfers ist, so gefährdet bleibt der imaginäre Raum, in dem diese sich verschränken: Er bedarf der Stabilität des Subjekts und ist von den flackernden Beziehungen zwischen Selbst- und Fremderfahrung eher freizuhalten. Das zeigt sich an der spirituellen Autobiographie. Schon 1633 hatte Marie eine erste Relation verfaßt, in der sie ihr inneres Leben bis zum Eintritt ins Kloster darstellte. Eine zweite Relation von 1654 nimmt nun auch auf die kanadischen Erfahrungen bezug – und hebt sie zugleich in der Gotteserfahrung auf. Schon die Vision, die den Entschluß, nach Übersee zu gehen, vorwegnimmt, offenbart ein deutliches Bild: »Kreuze ohne Ende, innere Verlassenheit von seiten Gottes und der Geschöpfe bis zu einem Grade, der wahrhaft kreuzigend war, dazu ein Leben völliger Verborgenheit und Unbekanntheit«.13 Diesen Zustand zu überwinden ist die eigentliche Herausforderung, Kanada dabei nur eine Möglichkeit: »Wäre es Indien, Japan, die Türkei oder China gewesen, so wäre ich auch dorthin gegangen«.14 Entscheidend bleibt die Fremde an und für sich: als das Terrain, das auf dem dornenreichen Weg zur Einheit mit dem Göttlichen zu durchqueren ist. Dieser Weg führt an die Ränder der Welt, weil an ihnen die Distanz zur irdischen Welt am greifbarsten wird. Er führt an die Ränder der Welt, weil hier

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jene frühchristliche Situation wiederersteht, in der das Opfer im Dienste des Glaubens noch unmittelbare Bedeutung besitzt. Immer wieder bezeichnet Marie sich als das Schlachtopfer, das sich, in der Nachfolge Christi, willig hingibt für die Ausbreitung der christlichen Idee. Genauso sieht sie sich aber als zweiten Hiob, ausgesetzt den eigenen Selbstanklagen, oder als Braut des Hohenlieds, hindurchgeschritten »durch die Höhlen von Löwen und Leoparden«. Die verschiedenen Bezugnahmen zeigen Aspekte einer Selbstdeutung, die darauf reagiert, daß ähnlich wie bei der frühchristlichen Parusieverzögerung das erwartete nahe Ende ausbleibt, das konkrete Martyrium metaphorische Ausdehnung erfahren muß. So oszilliert der Text zwischen den Unannehmlichkeiten des neuen Landes und den Lieblichkeiten der neugewonnenen Christenmädchen, zwischen der praktizierten Nächstenliebe und der internalisierten Leidensmystik.15 Geistige Süße ist es, in die Marie das Bittere und Herbe ihrer Prüfungen zu transformieren sucht. Doch diese Transformation absorbiert zugleich die Realität der kanadischen Welt. Kommen anfangs noch die äußeren Umstände, der Bau der Mission, das Lernen der Sprachen, der Umgang mit den Indianerinnen, zur Sprache, verschiebt sich das Gewicht schließlich zunehmend aufs Innere. Der Dialog mit den irdischen Gesprächspartnern verebbt zum Hintergrundrauschen des Dialogs mit dem unvergleichlichen Gesprächspartner. Vom Charme der kleinen Indianerinnen, die Marie unterrichtet, führt kein Weg zum Glanz dessen, mit dem sie in ihrem Innern umgeht: »Du bist das schönste unter den Menschenkindern, mein Vielgeliebter! Du bist schön, geliebte Liebe, schön in Deiner Gottheit, schön in Deiner Menschheit! Du bist schön, geliebte Liebe, und Du trägst in Deinem Geist hinweg in die Schau dessen, was Du in Deinem Vater bist und was der Vater in Dir ist.«16 Vom Fremdvertrauten der Lebenswelt führt keine Brücke zu der Verfremdung, die das Ich durchläuft. Das innere Selbst, das sich am göttlichen Andern bildet und zugleich in ihm auflöst, braucht die menschlichen Andern, die zu Nicht-Andern werden, nur als Gegenstand der Transzendierung. Die Sprache der Innerlichkeit ist keine indianische.

Hölle amerikanisch Was die Deutung überseeischer Erfahrungen ermöglicht, Figuren christlicher Heilsgeschichte, markiert zugleich die Grenzen ihrer Darstellbarkeit. Das gilt noch für die sich in der gleichen Zeit in Nordamerika ausbreitende Gattung der Gefangenschaftsberichte.17 Auch hier bleibt das Muster der spirituellen Autobiographie wirksam. Nur verschieben sich die Tendenzen der Deutung. Im puritanischen Kontext geht es nicht mehr schlicht um die Wunder des göttlichen Wirkens, sondern um die Möglichkeiten, die Zei-

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chen dieses Wirkens an sich selbst zu erkennen. Zwar begriff man sich grundsätzlich als neues auserwähltes Volk, bestimmt dazu, ein gelobtes Land zu besiedeln und ein ursprüngliches, nur auf die Bibel und die göttliche Vorhersehung gestütztes Christentum zu begründen. Für den einzelnen jedoch war es eine lebenslange Aufgabe herauszufinden, ob er oder sie zu den Erwählten oder den Verdammten gehörte. Das verlieh den Indizien an Gewicht, denen Aufschlüsse über das eigene Heil zu entnehmen waren. Sie zu fixieren führten viele der neuenglischen Puritaner Tagebücher, in denen Selbstprüfung und Gotteslob zusammentreffen, zugleich die eigene Gestimmtheit und die erhofften Gnadenerweise in Einklang gebracht werden konnten. Das Spannungsfeld ist das von Hingabe und Selbstbehauptung: in den Tagebüchern ebenso wie den ›captivity reports‹, dort allerdings angesiedelt an jener Grenze, an der sich Kultur und Natur, Christ und Antichrist berühren. Cotton Mather, einer der prominentesten Prediger der Zeit, der sich wenig später über die schandvolle ›Indianisierung‹ der Puritaner beklagen wird, beschrieb 1691 wortgewandt die Lage der »miserable captives«, die sich in der Hand des brutalen Feindes befinden: »Gefangene, die jede Minute darauf warten, wann sie lebendig geröstet werden, um den abscheulichen Kannibalen ein Ereignis und Spektakel zu bieten; Gefangene, die die schlimmste Kälte ertragen müssen, ohne wenigstens genug Lumpen zu haben, sich zu bedecken; Gefangene, die gerade mal soviel Fleisch zu sich nehmen dürfen, daß ein Hund sich kaum damit zufriedengäbe; Gefangene, die ihre nächsten Verwandten vor ihren Augen zerstückelt sehen und gleichzeitig Angst haben müssen, diesen Augen Tränen zu gestatten.«18 Die Gefangenschaft galt als stärkster Ausdruck der im Irdischen drohenden Gefahren – für den Leib ebenso wie die Seele. Sie wurde verstanden als Prüfung der Willens- und Glaubensstärke angesichts von Fremdheit und Angst, Mangel und Gewalt, aber auch als Zeichen der göttlichen Providenz im individuellen Schicksal. Voraussetzung, das Zeichen in diesem Sinne zu deuten, war der glückliche Ausgang durch Flucht, Befreiung oder Auslösung, war also die Abgeschlossenheit des Geschehens. Sie erlaubte die rückblickende Ordnung (häufig nicht durch die Beteiligten selbst) und die allegorische Lesart. Herausragendes Beispiel: die Geschichte der Mary Rowlandson, die 1675, etwa 39 Jahre alt und seit 37 Jahren in Massachusetts, in die Gefangenschaft der Nipmuscs, Narrangansetts und Wampanoags geriet. Jahrzehntelang hatten Engländer und Indianer in Massachusetts in einem fragilen Miteinander gelebt, bis die Ausdehnung der einen und die Dezimierung der andern die Balance in Frage stellte. Verstärkten die Engländer den Druck auf die Indianer, Land abzugeben, reagierten diese ihrerseits mit Gewalt, mit Überfällen, mit Entführungen, gipfelnd in dem nach dem Häuptling der Wampanoag benannten Metacomkrieg.19 So grausam er allerdings geführt wurde, so wenig setzte er bestimmte, zwischen den Par-

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teien etablierte Kommunikationsformen außer Kraft: Es gab Grenzgänger zwischen den Seiten und Verhandlungen über die jeweiligen Interessen.20 Gefangene waren nicht einfach Objekte von Rache und Vergeltung, sondern auch Objekte besonderen Werts. Sie konnten dazu dienen, Lücken in einem Stamm zu schließen, oder, ausgetauscht, Geld oder Waffen zu erwerben. Das war bei Mary der Fall: Nach drei Monaten wurde sie gegen zwanzig Pfund Lösegeld aus der Gefangenschaft entlassen. Die Tendenz ihres sechs Jahre später (1682) in Cambridge/Massachusetts veröffentlichten Berichts geht schon aus dem Titel hervor: The Souvereignty and Goodness of God.21 Das Buch war im Vorjahr am Ende von John Bunyans in der gleichen Druckerei erschienenem The Pilgrim’s Progress (zuerst 1679) angekündigt worden.22 Es schwamm somit im Gefolge der bald einflußreichsten Beschreibung einer spirituellen Reise, die die Zeit kannte, und wurde selbst zur Initialzündung für die sich schnell zur Massenliteratur entwickelnden ›captivity reports‹. Zwei weitere lokale Ausgaben erschienen noch im gleichen Jahr, dazu eine in London, unter dem Titel: A True History of the Captivity and Restoration of Mrs. Mary Rowlandson. Während man sich im Mutterland vor allem am fernen Abenteuer ergötzte, ging es in Neu-England um den unmittelbaren Sinn des kolonialen Tuns. Die Siedler lasen den Text als realitätsnahe Parabel ihrer eigenen Situation. Von einer 1706 in Boston erschienenen Sammlung mehrerer Gefangenschaftsberichte wurden binnen einer Woche tausend Exemplare verkauft – in einer Stadt mit etwa 15000 Einwohnern.23 Der Erfolg von Rowlandsons Text wurde zweifellos befördert durch die exemplarische Weise, in der er äußeres Geschehen und inneres Erleben verknüpft. Schon die Indianer sind nicht einfach unangenehme Gegner, sondern Feinde par excellence, die gegenwärtig schlimmsten Feinde des Christentums und der Zivilisation: »atheistical, proud, wild, cruel, barbarous, brutish (in one word) diabolicall creatures« (67). Zwar gibt es Episoden, die zeigen, daß auch bei ihnen Menschlichkeit wohnt, doch am Gesamturteil ändert sich dadurch nichts: Sie bleiben satanische Wesen gemäß jener Vorstellung, die sich unter den Puritanern verfestigt hatte: die Indianer seien nicht, wie sonst oft angenommen, Nachfahren der verlorenen Stämme Israels, sondern Nachfahren der aus der Hölle kommenden Tartaren. Eine Ausgabe von 1771 fängt dies im Holzschnitt ein (Abb. 32): Mary in expressiver Geste vor dem Hintergrund ihres brennenden Hauses, umgeben von Gestalten mit totenschädelartigen Köpfen, Indianern, die ihr und den Lesern den Weg in die Wildnis weisen – ein Bild reinen Schreckens.24 Zwar erschien nicht allen die Vorstellung, sich den dämonischen Andern anzugleichen oder unter ihnen zu leben, als totale Perversion. Manche Gefangene sahen die Indianer eher als nächste Fremde und begannen die neue Existenz zu schätzen. Sie wollten den Weg zurück nicht mehr antreten oder versuch-

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ten, Bindungen an beide Seiten aufrechtzuhalten.25 Doch diese Fälle erreichten zunächst keine größere Publizität. Erst im frühen 19. Jahrhundert wurden Geschichten populär wie jene der Mary Jemison, die, gefangengenommen, sich voll in den Stamm der Seneca integrierte und auch, als sie aufgrund von Krieg, Hungersnot und territorialer Umverteilung gezwungen wurde, sich wieder in der Nähe der ›Weißen‹ niederzulassen, Distanz zur europäisch-amerikanischen Denk- und Lebensweise behielt.26 Im ausgehenden 17. Jahrhundert waren solche Geschichten noch wenig im Interesse derer, die die lokalen Druckereien kontrollierten: Sie ließen sich weder siedlungs- noch frömmigkeitspraktisch zum Exempel machen. Probater war es, die mit den Indianern aufgeworfene Frage der Theodizee im Sinne der Zeichenhaftigkeit des göttlichen Plans zu beantworten. So konnte der Aufenthalt unter den Heiden als Hölle auf Erden und damit als Vorschein des Zustands verstanden werden, der den Verdammten droht. Und so konnte die Tatsache, daß die Indianer sich (zumindest teilweise) erfolgreich den Engländern widersetzten, dahingehend interpretiert werden, Gott wolle den Seinen signalisieren, ihr Verhalten sei zu verbessern: »now our perverse and evil carriages in the sight of the Lord, have so offended Him, that instead of turning His hand against them, the Lord feeds and nourishes them up to be a scourge to the whole Land« (106).

Abb. 32: Mary Rowlandson, A Narrative of the Captivity, Boston 1771.

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Rowlandsons Text zeigt, daß das Signal ankam. Gleichzeitig leitet er es weiter. Er demonstriert, wie eine durch die Hölle ging und viele daraus lernen können. Beschreibungen der indigenen Lebenswelt treten zurück zugunsten von Mitteilungen und Reflexionen eines inneren Zustands: der Schmerz über den Verlust der jüngsten Tochter, die Unsicherheit über das Verhalten in ungewohnter Umgebung, die Sorge um die Zukunft. Die zentralen Stichworte des Textes sind: ›melancholy‹ und ›affliction‹. Verweist der erste auf das Gefühl der Verlassenheit, das zu einer gefährlichen Abkehr vom Gottvertrauen führen kann, so bringt der zweite eben jenes Deutungsmuster ins Spiel, das im Leid eine Chance zu erblicken vermag: »Affliction I wanted, and affliction I had«. In Zitierung von Psalm 119,71 (»Wohl mir, daß Trübsal mich traf, auf daß ich deine Ordnungen lerne«) stellt Mary am Ende des Textes fest: »And I hope I can say in some measure, As David did, It is good for me that I have been afflicted« (112). Ein Überleben mit der Bibel. Ein Überleben im Horizont der Bibel. Zu dem, was der Text als einen entscheidenden Gnadenerweis Gottes präsentiert, gehört, daß die Protagonistin relativ früh von einem Indianer eine geraubte Bibel erhält. Aus ihr bezieht sie Trost und Zuspruch. Aus ihr gewinnt sie Sinnbezüge, die das aktuelle und das biblische Geschehen wechselseitig erhellen. Wie einige Jahrzehnte später Robinson Crusoe verläßt sich auch Mary Rowlandson auf die Lenkung Gottes beim willkürlichen Aufschlagen einer Stelle. So findet sie immer neue Zeichen der Providenz im scheinbar Kontingenten. Zugleich immer neue Herausforderungen für die eigene Aufgabe, das göttliche Wirken zu begreifen. Das Hin-und-Her-Wandern in der Bibel bildet den Kontrapunkt zu jenem Hin und Her, das sie in ihrer Gefangenschaft erlebt: der dauernden Ortsveränderung, dem Zug der Indianer von einem Punkt zum andern. Sie geben dem Bericht seine Struktur: Die Kapitel sind gemäß den zwanzig ›removes‹ eingeteilt. Sie erzeugen aber auch jene äußerliche Instabilität, von der sich die innere Stabilität, die des Glaubens, abhebt. Die fortwährenden ›removes‹ zeigen eine entwurzelte Protagonistin, das immer neue Aufschlagen der Bibel hingegen macht jene Wurzeln bewußt, die die Puritanerin mit ›ihrem‹ Land verbinden. Es entsteht jenes Netzwerk des Sinns, das Mary letztlich auffängt. Zugleich gerät der Bericht zum biblischen Kompendium und in die Nähe der Predigt. Die letzte Ansprache von Marys Ehemann, John Rowlandson, gehalten am 21. November 1678, zwei Tage vor seinem Tod, macht die Parallelen deutlich. Unter dem Titel The Possibility of God’s Forsaking a people, That have been visibly & dear to him ebenfalls 1682 publiziert, wird auch hier der Krieg mit den Indianern als ein Leid gedeutet, das Gott nicht ohne Grund über sein Volk gebracht habe.27 Doch Marys Text geht nicht in dieser Perspektive auf. Anders als die Predigt präsentiert er ein Subjekt, welches das Leid nicht nur überlebt, sondern auch als sinnerfüllt zu

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erweisen vermag: sinnerfüllt für das Selbst wie die Gemeinschaft. Statt schlicht zur Normalität zurückzukehren wendet sich der Text zur Introspektion und Reflexion: »Ich kann mich an die Zeit erinnern, da ich ruhig schlief, ohne das Mahlen der Gedanken, die ganze Nacht durch. Jetzt ist die Sache anders. Wenn alle um mich herum unbewegt liegen und kein Auge offen ist (außer das Auge dessen, der immer wacht), kreisen meine Gedanken um Vergangenes, um die schrecklichen Fügungen, die der Herr uns auferlegt, um seine wunderbare Macht und Herrschaft.«28 Nicht die Wilden an und für sich sind es, die dem Selbst die Ruhe rauben, und nicht die kulturelle Entfremdung oder die territoriale Ungesichertheit. Was beunruhigt, ist die ungewisse Beziehung zwischen den Ereignissen und ihrer Deutung. Sie führt dazu, daß die äußeren Unbilden doch eine Spur in der Existenz hinterlassen, eine Spur, die sich lesen und deuten, nicht aber verwischen und vergessen läßt. Weniger ein Trauma als ein Horror vacui: die Sorge um die dunklen Flecken auf der spirituellen Landkarte, die mal so mal so verstehbar scheinen, um die weißen, die noch der Erklärung harren. Zwar kann alles göttliches Zeichen sein, die Gewißheit der Zeichendeutung aber ist immer wieder neu zu sichern. Wo es darum geht, ein gelobtes Land sich neu zu erschließen, sind einerseits die äußeren Feinde zu besiegen, andererseits die inneren Bedingungen zu schaffen, die dem gnadenhaften Zuteilwerden der Erfüllung entsprechen. Indem sich aber das Subjekt der Landgewinnung wie der Selbsterkundung aussetzt, tendiert es zugleich dazu, die äußeren Feinde zu verinnerlichen. Diese verlieren ihre ursprüngliche Gestalt, werden Schemen, Schatten, monströse Irrlichter. Doch sie affizieren das Subjekt und machen denkbar, daß dort, wo die Macht Gottes nicht mehr unbefragt gilt, auch die Position des Andern sich wandelt: nicht nur vom ungreifbaren zum greifbaren Gegenüber, sondern auch vom Gegner, vom Nicht-Menschen, vom Naturwesen zum Partner, zum Pendant, zur Spiegelfigur.

Natur und Subjekt Über mehr als ein Jahrhundert hin blieb das Modell des spirituellen Erfahrungsberichts, wie Rowlandson es für Nordamerika prägte, gültig. Auch in späterer Zeit wurde der Text immer wieder aufgelegt. Doch begannen sich spätestens um 1800 die Akzente zu verschieben. Nicht das Spirituelle und Heilsträchtige stand nunmehr in den ›captivity narratives‹ im Vordergrund, sondern das Abenteuerliche und Sensationelle. So wie sich generell Theologie und Anthropologie in den aufklärerischen Diskursen voneinander abgrenzten, so traten auch in den nordamerikanischen Innenansichten religiöser und kultureller Sinn auseinander. Zwar konnte dem individuellen Be-

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richt nach wie vor überindividuelle Bedeutung zukommen, doch nun im Hinblick auf Superioritätskonzepte, Grenzerfahrungen oder Lebensmöglichkeiten, auf Identitäten, Alteritäten oder Hybriditäten. Der Typus wird frei für Anlagerungen verschiedenster Art: bis hin zu jener Verinnerlichung des ›going native‹, die wie in der amerikanischen Populärkultur das faktisch Verdrängte ins Zentrum des eigenen kulturellen Imaginären plaziert.29 Was sich den ›captivity narratives‹ ablesen läßt, reicht über den nordamerikanischen Kontext hinaus. Auch in Europa verschiebt sich das Dreieck zwischen dem erlebenden/berichtenden Subjekt und der Alten Welt auf der einen, der Neuen auf der andern Seite. In dem Maße, in dem religiöse Deutungsmuster in den Hintergrund traten, besetzten andere den Vordergrund. Sie betrafen die Konzeption der Natur wie des Subjekts. War Natur lange als Wesen einer Sache oder Gesamtheit der Schöpfung begriffen worden, jedenfalls als etwas, das dem Menschen innewohnt oder an dem er teilhat, gewann nun ein Verständnis Raum, demgemäß Natur ein Gefüge nicht-kultureller Gegebenheiten darstellt, dem der Mensch gegenübertreten kann, das er gestalten kann, das er aber auch schädigen oder dem Untergang preisgeben kann. Das ermöglichte zum einen Konzepte rassischer Überlegenheit, zum andern Modelle verlorener Unschuld.30 Mit dem Rousseauschen Gedanken einer Rückkehr zur Natur war nicht nur eine Idealisierung des (vermeintlich) Archaischen verbunden, sondern auch eine Sentimentalisierung: Der Eindruck, das Natürliche entgleite und schwinde, steigerte die Intensität seiner Wahrnehmung, machte die Natur zum bevorzugten Objekt des empfindsamen Subjekts.31 Eben dieses Subjekt stand aber seinerseits seinem Objekt in neuer Weise gegenüber: Verwiesen im Gefolge Kants und Fichtes nicht mehr auf eine vorgängige Einheit mit der Welt, sondern allein auf die Gewißheiten des eigenen Bewußtseins, wurde die Beziehung zwischen dem Ich und seinem Außen zum Problem – aber auch zur Chance. An das Verhältnis zum NichtIch und zur Welt ließ sich die Ausbildung des Ich knüpfen – als eines fragilen und prekären. Von nun an sind die philosophischen und literarischen Diskurse geprägt von einer Opposition zwischen dem Selbst und dem/den Andern, die paradoxerweise aus dem Diskontinuierlichen das eigentliche Kontinuitätsmerkmal menschlicher Identität gewinnt: die Reflexion des Andern als Bedingung der Möglichkeit des Selbst. Während indes die literarischen Texte gerade diese Problemstelle umkreisen, tendieren die wissenschaftlichen dazu, das Subjekt zu marginalisieren oder zu objektivieren. Noch bleiben zwar viele Beobachtungen an den Verlauf einer Reise gebunden. Doch tritt die Subjektivität des natur- oder völkerkundlichen Beobachters zurück hinter die Beschreibung, die Kategorisierung, den Vergleich. Die Sehnsucht gilt der unbestechlichen Registratur, der Aufzeichnungsmaschine, die Wahrnehmung ›unmittelbar‹ in Text oder Bild verwandelt. Die

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sich seit der Mitte des 19. Jahrhunderts entwickelnden neuen Medien werden diese Sehnsucht Wirklichkeit werden lassen. Sie werden aber auch ihre Kehrseite zu erkennen geben: den drohenden Verlust einer ursprünglichen Aura, die in ihrer Unfaßbarkeit einzufangen die alten Medien, auf das Imaginäre setzend, besonders geeignet waren, während die neuen erst ihrerseits neue Formen, Authentizität zu erzeugen, finden müssen.32 Das wird aber auch das Bewußtsein schärfen für die hermeneutischen Implikationen des Empirischen: Verfeinerte Aufzeichnungstechniken garantieren noch nicht Objektivität, Beschreibungen transportieren Geltungsansprüche, Beobachtetes ist von Beobachterpositionen abhängig. In der Zeit nach 1800 wird die Trennung zwischen dem wissenschaftlichen, unscheinbaren und dem literarischen, auffälligen Subjekt einerseits überspielt durch jenen aufklärerischen Typus des philosophischen Subjekts, in dem Reise und Reflexion, Bewegung durch die Welt und Bewegung im Raum des Geistes zusammentreffen. Sie wird andererseits aufgefangen durch einen Wechsel zwischen verschiedenen Schreib- und Publikationsformen, oft bei ein und demselben Autor. Adelbert von Chamisso, der 1815 bis 1818 an einer Forschungs- und Entdeckungsreise des russischen Schiffs Rurik in die Südsee und zur Beringsstraße teilnahm, hielt seine Beobachtungen in den 1821 publizierten Bemerkungen und Ansichten fest: fachwissenschaftliche Aufsätze, gedacht als Ergänzung zur offiziellen Reisebeschreibung, gespickt mit Detailinformationen zu Flora und Fauna, Sprachen und Gebräuchen, gehalten im allgemeinen Forschergemeinschaft und Schiffsbesatzung umfassenden Wir. Chamisso wollte sowohl die Früchte der gemeinsamen Bemühungen wie seine eigenen Überlegungen zu botanischen, zoologischen und ethnographischen Phänomenen bieten. Das Augenmerk galt dem Wissenschaftlichen, nicht dem Persönlichen. Als er 1834 für eine Gesamtausgabe seiner Werke daran ging, den Bericht erneut zu publizieren, stellte er einen ersten, Tagebuch betitelten Teil voran, in dem er dem Verlauf der Reise folgt, nun aber andere Aspekte heraushebt: Ereignisse an Bord, Stimmungen, Kontakte mit den Indigenen.33 Den Auftakt macht ein Lebensabriß des Autors, so in die Beschreibung der Weltreise mündend, daß diese als Höhepunkt des sich zwischen den Kulturen bewegenden Lebens erscheint. Damit kehrt nicht nur das Subjekt in den Bericht zurück. Die Reise bekommt auch eine Dynamik, die ihr in den Bemerkungen und Ansichten fehlte: die Dynamik der Selbsterfahrung. Die Begegnungen mit unbekannten Regionen erweist sich als Begegnung mit der eigenen Vergangenheit, der eigenen, lange verschütteten Kindheit.34 Das Schiff ist zugleich ›Mutterleib‹ und ›Wiege‹: es »wiegte mich wieder zum Kinde, die Jahre wurden zurückgeschraubt, ich war wieder im Vaterhause, und meine Toten und verschollene Gestalten umringten mich, sich in alltäglicher Gewöhnlichkeit bewegend, als sei ich nie über die Jahre hin-

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ausgewachsen, als habe der Tod sie nicht gemäht« (200). Der Kontakt mit den alten Vertretern des monarchistischen Prinzips in Chile ruft die Situation von Koblenz im Jahre 1792 in Erinnerung: »das Buch meiner Kindheit lag offen und verständlich vor mir« (140f.). Er begegnet nord- und südamerikanischen Indianern, zugleich der Sklaverei und dem Kolonialismus. Zwar besingt er später mit dem Abstand eines guten Jahrzehnts die »Söhne der Wildnis«,35 doch unübersehbar ist: Erst die Bekanntschaft mit den Eingeborenen der Osterinseln läßt die »schöne Verheißung der Reise« in Erfüllung gehen und kindliche Freude ausbrechen (158). Ort der Verheißung ist nicht mehr die Neue Welt, sondern das jenseits von ihr liegende Inselparadies, das sich im Gefolge von Cooks Reisen zu Europas Sehnsuchtsraum entwickelt hatte. Auch Chamissos Aufenthalt in der Südsee ist getragen von der die Zeit prägenden Ozeanienbegeisterung, die wenig später in Melvilles Typee (1846) ihre romanhafte Entfaltung finden wird.36 Wie Montaigne vor ihm und Melville nach ihm protestiert er gegen die Benennung der Eingeborenen als Wilde: »Ein Wilder ist für mich der Mensch, der ohne festen Wohnsitz, Feldbau und gezähmte Tiere, keinen anderen Besitz kennt, als seine Waffen, mit denen er sich von der Jagd ernährt. Wo den SüdseeInsulanern Verderbtheit der Sitten Schuld gegeben werden kann, scheint mir solche nicht von der Wildheit, sondern vielmehr von der Übergesittung zu zeugen. Die verschiedenen Erfindungen, die Münze, die Schrift u.s.w., welche die verschiedenen Stufen der Gesittung abzumessen geeignet sind, auf denen Völker unseres Kontinentes sich befanden, hören unter solchen Bedingungen auf, einen Maßstab abzugeben für diese insularisch abgesonderten Menschenfamilien, die unter diesem wonnigen Himmel ohne Gestern und Morgen dem Momente leben und dem Genusse« (160f.). Konsequenz des Kulturrelativismus ist aber auch die Einsicht, wie sehr der Reisende an seine eigene Kultur gebunden bleibt: Das Schiff als ›Mutterleib‹ verkörpert die »wandernde Welt«, die der Reisende mit sich herumschleppt, die Lebensweisen, die Essensgewohnheiten, die Tageseinteilungen, kurz: »das alte Europa, dem er zu entkommen vergeblich strebt« (98). Vergeblich deshalb, weil die Zeit nicht umkehrbar ist. Chamisso sucht zwar die Heimat in der Fremde und die Relikte naturnaher Existenz, sieht aber zugleich seine von Rousseau geprägten Illusionen immer wieder durchbrochen. Die ›Pflanze von Otaheiti‹, die ihn an das geliebte Frankreich der frühen Kinderjahre erinnert,37 läßt sich nicht zur romantischen Blauen Blume machen. Das vergangene Goldene Zeitalter bricht nicht wieder an. Das Märchenhafte, im Peter Schlemihl zu literarischer Meisterschaft gebracht, verliert als Kategorie der ozeanischen Fremderfahrung schnell an Bedeutung. Im Tagebuch situiert sich der Dichter Chamisso eher unter den der Zukunft Zugewandten als bei den die Vergangenheit Beschwörenden. Fasziniert davon, auf der Weltreise ein Stück eigener Vorgeschichte und ein

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Stück alternativer Menschheitsgeschichte ineinandergespiegelt zu sehen, betont er doch, wie wenig die Verzauberung dauern kann, wie wenig auch das Fremde ins Eigene übertragbar ist. Schon die Pflanzen, Tiere und Gegenstände, die er sammelt, werden von der aufräumwütigen Besatzung immer wieder über Bord geworfen. Nur ein Teil erlaubt am Ende die museale Rekonstruktion der Fremderfahrung. Erst recht die Menschen lassen sich nicht von einer Kultur in die andere transportieren. Den von den MarshallInseln stammenden Kadu, einen »der schönsten Charaktere, die ich im Leben angetroffen habe«, macht Chamisso in den Monaten des Segelns zwischen den Inseln zu seinem Freund, ja zu seiner Spiegelfigur: seinerseits ein seinem Herkunftsland Entfremdeter. Der Idee indes, ihn nach Europa mitzunehmen, erteilt er eine klare Absage: »was hättest du in unserm alten Europa gesollt? Wir hätten eitles Spiel mit dir getrieben, wir hätten dich Fürsten und Herren gezeigt; sie hätten dich mit Medaillen und Flittertand behangen und dann vergessen. Der liebende Führer, dessen du Guter bedurft hättest, würde dir nicht an der Seite gestanden haben; wir würden nicht zusammen geblieben sein, du hättest dich in einer kalten Welt verloren gefunden« (324f.). Das ›Schauspiel‹ des Natürlichen und des Menschlichen, dem Chamisso beiwohnt, läßt sich nicht einfach in die eigene Welt hinüberretten. Es bleibt gebunden an die Körper, die es aufführen. Der Versuch, den eigenen Körper – durch Tätowierung – zur Einschreibefläche des Fremden zu machen, scheitert. Die Welten verschmelzen nicht. Das erlebende Subjekt kann seine Haut nicht wechseln. Einem Freund schreibt Chamisso vom Ärmelkanal kurz vor der Heimkehr: »Ich kehre dir zurück, der ich sonst war – ganz – etwas ermüdet, nicht gesättigt von dieser Reise« (359). Was er wechseln kann, sind die Kleider: Nach Ende der Reise erschien er gern als Südseehäuptling oder als »Wilder von den Sandwich-Inseln«.38 Langhaarig, mit Pfeife im Munde spazierte er in Berlin durch seinen Garten – ein künstlicher Wilder, der seiner Umgebung einen ironischen Zerrspiegel präsentiert, ein neckischer Wilder, zu dessen Reiseentdeckungen neben botanischen und linguistischen auch eine literaturgeschichtliche gehört: In Brasilien fand er, Goethe lesend, daß in dessen Braut von Korinth der vierte Vers der vierten Strophe einen Fuß zu viel hat (134f.). Es sind diese Momente spielerischer Inszenierung, die der melancholischen Tendenz ihre Schwere nehmen. Sie tragen dazu bei, das Tagebuch statt zum dunklen Loblied verschwindender Natur zum vielstimmigen Konzert der Fremd- und Selbsterfahrungen zu machen: Bald zwei Jahrzehnte nach der Reise geschrieben und überdies auf die vorgängigen Bemerkungen und Ansichten bezogen, die in der Ausgabe nachfolgten, bewegt es sich in der Übergangszone von wissenschaftlicher Exaktheit, poetischer Bildlichkeit und subjektiver Involviertheit. Wie Melville verwandelt auch Chamisso die Erfahrungen der

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Südseereise in poetische Textur: hier aber in keinen Roman der (temporären) Zivilisationsflucht, sondern in ein Stück Erinnerungsarbeit.

Empathie und Reflexion Die angesprochene Übergangszone auszuloten reizte auch andere Wissenschaftler. Der Botaniker Carl Friedrich Philipp von Martius brachte von der Expedition durch Brasilien, die er zusammen mit dem Zoologen Johann Baptist von Spix 1817–1820 begleitet hatte, nicht nur 85 Säugetiere, 350 Vogelarten, 2700 Insekten- und 3500 Pflanzenarten sowie sechs Indianerkinder nach München zurück (ein Mädchen, einer Hofpfistermeisterswitwe anvertraut, machte »Fortschritte in den Sprachen und der Bildung der Europäer«, blieb aber kalt und gleichgültig gegen ihre Umgebung und überlebte eineinhalb Jahre). Er verarbeitete auch seine Entdeckungen und Eindrücke in Werken ganz verschiedenen Charakters: lateinischen wissenschaftlichen Handbüchern, die systematische Beschreibungen und Klassifizierungen der brasilianischen Flora liefern; einem umfangreichen deutschen Reisebericht, der eine Fülle von ethnographischen und geographischen, botanischen und zoologischen Beobachtungen mitteilt; schließlich einem unpubliziert gebliebenen autobiographischen Roman, der die Erfahrungen eines jungen Brasilienreisenden in den Mittelpunkt stellt.39 Bilder vom Amazonasstrom. Selbsterlebtes und Erzähltes ist der Roman im Manuskript überschrieben; eine andere Variante lautet: Frey Apollonio. Menschen- und Naturgemälde aus Brasilien, nach Erlebnissen und Erzählungen von Carl Hartoman; die an die Freunde gerichtete Vorrede ist mit Suitram unterzeichnet – ein Anagramm von Martius. Auch der Text selbst spielt mit dem Wissen um die Bezüge zum Autor: Zwischen Ich- und Er-Perspektive wechselnd bewegt er sich im Spannungsfeld von Distanz und Nähe, von historischer Wirklichkeit und literarischer Imagination. Der Münchner Freundeskreis jener Jahre, dem auch Franz Pocci angehörte, wußte dies zu goutieren; er betrieb eine Anverwandlung der brasilianischen Erlebnisse im gesellig-fröhlichen Miteinander. Literarisch steht der Roman, 1831 verfaßt, noch deutlich unter dem Zeichen der Romantik. Von einer »unnennbaren Sehnsucht, Wonne und Schmerzen« ist die Rede, von Träumen und Rätseln, Geistern und unheimlichen Fremden, gewaltigen Natureindrücken und zauberhaften Begegnungen. Die Reisegeschichte des jungen Deutschen ist verknüpft mit der Enthüllung der abenteuerlichen, zwischen Ost und West oszillierenden Lebensgeschichte eines spanischen Adligen und seines Sohnes – einer Geschichte von Liebe und Leidenschaft, Rache und Verfolgung, Buße und Frömmigkeit bis hin zum Martyrium in der Neuen Welt. Mit dieser Ge-

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schichte ragt die Alte Welt – mit ihren drei Hauptreligionen – in die Neue Welt hinein. Diese bestimmt sich vor dem Hintergrund von jener. Auch die Einsichten des Protagonisten bilden sich wesentlich in der Begegnung mit dem schillernden Mönch, der zum väterlichen Freund wird. Verglichen mit Frey Apollonio allerdings bleibt Carl Hartoman eine blasse Figur: Beschränkt auf die Rolle des teilnehmenden Beobachters und empfindsamen Subjekts macht er Erfahrungen vor allem im Angesicht der Natur und im Gespräch. Die Natur ist es, die ihn in ihren Bann schlägt, die Urwälder, die Sonnenuntergänge, die rauschenden Ströme, die vielstimmige Musik der Vögel und Tiere: »Ewige Einheit im Wechsel! Unendlichkeit! Welche Empfindungen, dann diesem heiligen Rhythmus des Elements zu lauschen, das – ob in Licht ob in Nacht – immer und unaufhaltsam, rastlos und unermüdlich – immer eine anderes und doch immer dasselbe dahinströmt, wie der Strom der Zeit, der ewigen Zeit!« (81). Die Gespräche sind es, die tiefere Einblicke in das Wesen der Indianer vermitteln: Gespräche mit dem Reisegenossen Riccardo, der von der Überlegenheit der Europäer überzeugt ist und die Chance der Indianer in der Übernahme abendländischer Kulturtechniken sieht; Gespräche mit Apollonio, die den Blick öffnen für die religiösen Praktiken der Indigenen und die Idee eines ursprünglichen, völkerübergreifenden Erlöserglaubens. Hartoman wird hineingezogen in die Fremde. Räumlich: er dringt in die wenig bekannten Wälder am Rio Yupurá und dann, als einziger Weißer, in den Urwald vor, in dem er dem Inka selbst begegnet. Und gedanklich: er lernt die Noblesse der Indianer, das Niveau ihrer Pflanzungen und die Idylle ihres Familienlebens kennen. Doch in gleichem Maße, in dem er die indianische Kultur zu schätzen beginnt, erkennt er auch deren unaufhaltsame Bewegung zum Untergang hin. Apollonios Kritik an der Rousseauschen Vorstellung des Naturmenschen, verbreitet in Europa »in Balletten, in Schauspielen und Opern« (60), muß er schließlich aus eigener Erfahrung bestätigen: »Wie ganz anders hatte er sich die freien Natursöhne nach den idealen Schilderungen eines Rousseau gedacht! Wo war hier jener reine, unverdorbene Mensch im unverkümmerten Genusse einer mütterlichen sorgsamen Natur? O, wie gerade das das Gegentheil von den Tugenden, die sich sonst bei Denen entwickeln, welche einsam, fern von der Civilisation des Staats leben, hatte er an diesen armen Wilden wahrgenommen« (79). Trauer und Melancholie machen sich breit. In einem Fiebertraum sieht der Erzähler die Vertreter der eigenen Kultur, die Conquistadoren, an sich vorüberziehen, hindurchschreiten durch einen Ozean von Menschenleichen. Es begegnet ihm als grauenhaftes Bild »der Geist des rothen Volkes«, das blutig dampfende Herz in der Hand tragend. Nachdem auch die Rätsel der Apolloniogeschichte aufgelöst sind, hält ihn nichts mehr in der Neuen Welt: »Seine Sehnsucht, die Wunder einer ihm vorher unbekannten Schöpfung zu

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schauen und ihren Menschen in der Nähe zu beobachten, war, wenn nicht befriedigt, so doch gestillt« (145). Hartoman macht eine doppelte Differenzerfahrung: hier die Andersartigkeit der Indianer, abweichend von den europäischen Klischees und doch beeindruckend in ihrer Menschlichkeit; dort eine Auslöschung dieser Andersartigkeit durch die Kolonisation und ihre Folgen. Er erlebt mit, wie der Spiegel im gleichen Moment, in dem er in ihm etwas zu sehen beginnt, blind wird. Daraus resultiert die Ambivalenz von Leid und Freude, von Abstoßung und Anziehung, die das empfindsame Subjekt prägt. Daraus ergibt sich aber auch die Abschließbarkeit des Geschehens, die der Roman braucht: Die äußeren Ereignisse in innere Eindrücke überführend kann er ein Ich/Er entwerfen, das sich selbst erfährt, das sich für die Fremde öffnet und das sich in seinen Stimmungen und Ansichten etwas von ihr bewahrt. Diese Bewahrung hat nostalgische Züge, weil sowohl die Geschichte der Indianer wie die eigene Lebensgeschichte keine Umkehr kennen. Sie hat aber auch utopische Züge, weil sie einen Raum zwischen Kultur und Natur denkbar macht – in dem Indianer glücklich zu leben und Europäer glücklich zu verweilen vermöchten. Der letzte Eindruck, den Hartoman, schon auf dem Rückweg zur brasilianischen Küste, mitnimmt, ist ein idyllischer: eine Insel in der Ilha (der Fortsetzung des Amazonas), von Mestizen bewohnt, indianischen Christen, halb naturnah, halb zivilisiert lebend. Unter ihnen, die von der archaischen Härte sich entfernt, nicht aber ihre Ursprünge komplett preisgegeben haben, findet er sein eigentliches Paradies, die Utopie naturverbundener Existenz: arm, aber gesund und glücklich, karg, aber unschuldig, anmutig und fröhlich; »kein instinctives Dasein«, sondern »ein gedachtes, ein empfundenes« (148). Bei Melville wird es heißen: »Zivilisiert die Wilden, aber bringt ihnen die Segnungen und nicht die Übel der Zivilisation!« (297). Hartomans Fall ist ein paradigmatischer. Kaum hatte man das Fremde in Europa als nicht nur zu kolonisierendes oder zu missionierendes entdeckt, entzog es sich auch schon wieder. Das galt für Südamerika genauso wie für Nordamerika. Im gleichen Jahr, in dem Martius seinen Brasilienroman schrieb, reiste der 26-jährige Alexis de Tocqueville zusammen mit seinem Freund Gustave de Beaumont durch Nordamerika. Seine konkrete Aufgabe war es, das amerikanische Gefängniswesen zu studieren und mögliche Impulse an Frankreich weiterzugeben. Sein weiterreichendes Ziel aber war es, die amerikanische Demokratie kennenzulernen und an ihr die Chancen der Demokratie in Europa zu prüfen – die Ereignisse der Julirevolution 1830 waren noch frisch im Gedächtnis. Doch reizten den Kultursoziologen avant la lettre auch die Grenzen der europäischen Zivilisation. Von New York nach Nordwesten ziehend suchten die Freunde Wildnis und Ursprünglichkeit, machten zunächst aber die Erfahrung, die viele in der gleichen Zeit

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machten: Die Indianer, die man traf, entsprachen kaum dem europäischen Bild des edlen Wilden. Zerstreut, bindungslos und vom Alkohol gezeichnet, ließen sie nurmehr ahnen, was dieses Bild einst begründet haben mochte. Erst als man sich von Buffalo aus über das Gebiet der großen Seen hinaus weiter vorwagte, erfüllte sich die Erwartung – zwar nicht im Hinblick auf gänzlich abgeschieden lebende Völker, aber doch auf eine »Wildnis, so wie sie sich zweifellos vor sechstausend Jahren den Blicken unserer Ahnen darbot«.40 Noch auf der Rückfahrt hält Tocqueville die Eindrücke seiner Quinze jours dans le désert fest. Eine Publikation allerdings unterbleibt zunächst. Während die 1835 erschienene Abhandlung De la démocratie en Amérique ihn berühmt machte, erblickten die Quinze jours erst postum (1860), herausgegeben von Beaumont, das Licht der Öffentlichkeit. Sie atmen die Begeisterung über die Begegnung mit der Wildnis und sind gleichzeitig wohlkomponiert. Präsentiert wird eine paradigmatische Reise an die Grenzen der Zivilisation, von größeren über kleinere Städte bis hin zu einsamen Vorposten und dem der einen wie der andern Welt angehörigen Dorf Saginaw. Die Figuren, die Tocqueville und Beaumont treffen, spiegeln den Weg, den sie durchlaufen: zunächst der Beamte, dessen Horizont nur soweit reicht wie die europäische Infrastruktur; dann der Pionier, der noch etwas kulturellen Ballast mit sich führt (Bibel, Milton, Shakespeare), aber im Grunde nur schätzt, was dem Wohlstand nützt; der Wirt, dem die wahre Absicht der Reisenden, sich auf die Wildnis um ihrer selbst willen einzulassen, unvorstellbar bleibt; der Trapper, der schon halb indianisch, halb europäisch gekleidet ist; schließlich die beiden Indianer, in denen die europäische Vorstellung vom Indianer Wirklichkeit wird: Wild und freundlich zugleich, bemalt, das Skalpiermesser und den »berühmten Tomahawk« an der Seite, vermitteln sie jenen Schauer von Undurchschaubarkeit und Unberechenbarkeit, den die beiden Reisenden suchen. Sie dienen als Führer bei einer nächtlichen Urwalddurchquerung, dem Herzstück der Reise: Eintauchend in eine Vorzeitwelt, fern des Menschlichen, begegnen die Freunde hier einer Schöpfung, verharrend zwischen den Zeiten, und erfahren sie das Gefühl einer ans Religiöse grenzenden Bangnis, einer die Rollen von Zivilisierten und Wilden umkehrenden Machtlosigkeit – »ringsum nur noch unbestimmt geballte Massen ohne Ordnung und Maß, seltsame und groteske Gestalten ohne Zusammenhang, phantastische Bilder, die den Wahnvorstellungen eines Fieberkranken entstiegen schienen. Das Gigantische und das Lächerliche berührten sich so eng wie in der Dichtung unserer Zeit«.41 Das Gefühl des Erhabenen wird gesteigert durch die Ahnung seiner Vergänglichkeit. Die Welt, in die man hier eindringt, wird nicht dauern. Schon jetzt hat sich die Wildnis in ein Reservat zurückgezogen. Bald wird die Einsamkeit dem Tatendrang gewichen sein. Tocqueville kennt »die Stoßkraft,

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die die weiße Rasse zur völligen Eroberung der Neuen Welt treibt«, und er kennt die korrumpierenden Wirkungen der zivilisatorischen Errungenschaften auf die mit ihnen nicht Vertrauen. Sein Blick bleibt analytisch und hellsichtig selbst dort, wo die Emphase zu dominieren scheint. Den Ort Saginaw, Zielpunkt des Urwaldtrips, beschreibt er als Schauplatz der Übergänge: Europäer auf der einen, Indianer auf der anderen Seite. Zwischen ihnen, im räumlichen wie kulturellen Sinne, die Mestizen, in Hütten lebend, bequemer als Wigwams und doch gröber als Häuser, die Bußpsalmen nach indianischer Melodie singend. Eine von ihnen, nach Art der französischen Bäuerinnen gekleidet, bekennt entwaffnend lakonisch: »je ne suis qu’une sauvage« (380). Eine Miniatur kultureller Hybridität, bei der die Selbstzuschreibung performativ die Gespaltenheit der Identität zum Vorschein bringt und wiederum dem Autor Gelegenheit zu einer präzisen Analyse des Mestizentums gibt. Empathie und Reflexion schlagen so beständig ineinander um. Und eben dieser Umschlag ist es, aus dem sich die poetische Energie der Momentaufnahme speist. Er ist es, der Gegenwärtigkeit und Überzeitlichkeit in der Schwebe hält: »Das Bild dieser natürlichen und wilden Größe, die zu Ende geht, vermischt sich mit den Vorstellungen, die das Vordringen der Zivilisation weckt. Man ist stolz darauf, Mensch zu sein, und gleichzeitig empfindet man eine Art bitteren Bedauerns angesichts der Macht, die Gott uns über die Natur gewährt hat. Die Seele wird von widersprechenden Gedanken, Gefühlen bewegt. Aber alle Eindrücke, die sie empfängt, sind groß und hinterlassen eine tiefe Spur«.42 Der Text repräsentiert diese Spur. Er beschreibt nicht nur Natur und Landschaft. Er zeigt die Wirkung des Erlebten auf das Subjekt – ein empfindsames und doch nicht einfach romantisches. Romantisch scheint zwar, wie die Grenzen zwischen Wahn und Wirklichkeit, zwischen Innen- und Außenwelt momenthaft verschwimmen. Doch im ganzen erweist sich der Weg in die Wildnis weniger als wahn- denn als traumhafter: traumhaft in seiner klaren, fast schmerzlich klaren Schärfe – »la lumière d’une autre sphère« (375). Das Bewußtsein des irreversiblen Gangs der Geschichte führt zu einer melancholisch imprägnierten, aber nicht von Melancholie triefenden Kulturdiagnostik, abseits sowohl der Schicksalsrhetorik der amerikanischen Kolonisatoren als auch der Verlustklagen der europäischen Naturfreunde. Tocquevilles Quinze jours entwerfen eine Bewegung, die sich im Innersten des Urwald selbst aufhebt und zugleich als poetische enthüllt, nämlich als Verwandlung einer schwindenden Welt in einen bleibenden Eindruck. Immer wieder erstarrt die Bewegung im Bild: anfangs das Bild des schottischen Soldaten in der Uniform von Waterloo, stummer Ausdruck europäischer Militärmacht, und das Bild der beiden in seiner Nähe fischenden nackten Indianer, Verkörperung einer noch nicht gänzlich getilgten Naturverbundenheit; am Ende die Bilder der wilden, düsteren, erhabenen Na-

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tur und der fragilen, instabilen, experimentellen Zivilisation: Sinnbilder eines welthistorischen Augenblicks. Die Bilder sind das, was bleibt – und was dem Subjekt bleibt. Mit ihnen hat der Leser teil an dem Prozeß, in dem Wahrgenommenes sich zu erinnerbaren Momenten formt. Er hat teil an einer Engführung von Subjektivem und Objektivem. So wie das Ziel der Reise ein Ort »auf der Grenze zwischen der Alten und der Neuen Welt« (379) ist, so ist ihre Bewegung eine »zwischen dem Wirklichen und dem Möglichen« (383). Verlusterfahrungen nähren die poetische Intensität. Der Text kann bewahren, was sonst in der Welt nicht zu bewahren ist, und er kann sich als eine solche Bewahrung inszenieren – eine Grundfigur moderner Literarizität. Er kann aber auch das Fremde völlig in sich aufsaugen, dem literarischen Subjekt anverwandeln. Nikolaus Lenau, der sich ein Jahr nach Tocqueville teilweise im gleichen Gebiet aufhält, trifft überall nur auf Spiegelungen der eigenen Befindlichkeit. Land und Bewohner enttäuschen. Der amerikanische Pragmatismus findet nur Hohn und Spott. Die nicht mehr aufzufindende Ursprünglichkeit verursacht Trauer und Trübsinn. Auch andere Reisende der gleichen Zeit äußern sich ähnlich. Frances Trollope nimmt in ihren Domestic Manners of the Americans (1832, dt. 1835) schonungslos die amerikanischen Unsitten aufs Korn. Generell vermittelt mehr die Natur als die Kultur intensive Erlebnisse, z. B. die Niagarafälle, die zum unverzichtbaren Bestandteil jeder Amerika- oder Kanadareise werden. Trollope verbringt dort »vier köstliche Tage in einem ununterbrochenen Erregungs- und Erschöpfungszustand; [...] wir saugten die Niagarafälle wie ein Schwamm in unser Gedächtnis auf; und ich glaube, daß wir uns dieser Bilder bis in alle Ewigkeit erinnern werden« (S. 385). Auch Lenau bewundert die Fälle. Sein Projekt allerdings, sich selbst in der amerikanischen Fremde zu finden, erfüllt sich nur ex negativo: »Hier sind tückische Lüfte, schleichender Tod. In dem großen Nebelbade Amerikas werden der Liebe leise die Adern geöffnet, und sie verblutet sich unbemerkt. Ich weiß nicht, warum ich immer solche Sehnsucht nach Amerika hatte. Doch ich weiß es. Johannes hat in der Wüste getauft. Mich zog es auch in die Wüste, und hier ist in meinem Innern wirklich etwas wie Taufe vorgefallen, vielleicht daß ich davon genesen bin, mein künftiges Leben wird es mir sagen. In dieser grossen, langen Einsamkeit, ohne Freund, ohne Natur, ohne irgend eine Freude, war ich wohl darauf hingewiesen, stille Einkehr zu halten in mich selber, und manchen heilsamen Entschluß zu fassen für meine ferneren Tage. Als Schule der Entbehrung ist Am. wirklich sehr zu empfehlen.«43 Daß die Gedichte durch die amerikanische Erfahrung gewonnen hätten, ist nicht zu erkennen. Kein neuer Ton macht sich bemerkbar. Kein Wort, das nicht auch vorher schon hätte gesagt werden können oder gesagt wurde.

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Die Beschreibungen sowohl des Urwalds wie der Fälle zielen jeweils aufs Allgemeinmenschliche. Hier die Größe des Untergangs: die drei Indianer, die sich, die Weißen verfluchend, den Fall hinunterstürzen. Dort die Kleinheit des Ich: ein Nichts im uralten Wald, im einsamen Blockhaus, in der zerstiebenden Gischt. Es dominiert das Spannungsfeld von Verzweiflung und neuer Hoffnung. Verzweiflung am Ende der ersten Strophe des auf die Niagarafälle bezogenen Gedichts Verschiedene Deutung: O Freund, auch wir sind trübe Wellen, Und unser Ich, es muß zerschellen, Nur stäubend in die Luft zergangen, Wird es das Irislicht empfangen.

Hoffnung am Ende der zweiten im Wechsel der Perspektive, im Blick auf die anderen, nicht anders beschaffenen Menschenmonaden: »Nun fliegt ein jeder Tropfen einsam, Ein armes Ich, doch stralen sie Im hellen Himmelslicht gemeinsam Des Bogens Farbenharmonie.«44

Die amerikanischen Impressionen verdampfen in einer Poesie, die nichts als ein leidendes Ich kennt. Sie lösen sich auf. Ich, Wassertropfen, Licht, Regenbogen, Harmonie, Himmel – die Sprache transformiert das eine ins andere, transportiert aber nichts von dem, von dem sie ausging. Lenaus Passionen haben mit denen der Neuen Welt wenig gemein. In ihnen bemächtigt sich das Allgemeine des Besonderen und verschwindet die Welt im Selbst. Wo nurmehr Fremdheit herrscht, ist keine mehr. Wer Nachtigallen in Amerika vermißt, wird in der Heimat anderes vermissen.45

Herzadern – Nervenbahnen Die Reisenden, die sich im 19. Jahrhundert in die Neue Welt aufmachen, ob literarische oder zumindest literarisierte, zeichnen sich allesamt durch ihre Sehnsucht aus, in der Ferne zu finden, was die Heimat nicht bietet: Natürlichkeit und Ursprünglichkeit, Intensität und Authentizität, Abenteuer und Grenzsituationen. Zugleich führen die Texte vor, daß diese Erwartungen sich nicht ohne weiteres erfüllen.46 Das Erhoffte bleibt entweder ganz aus oder schwer zugänglich. Es bleibt momenthaft und nicht-mitnehmbar. Galt in der frühen Neuzeit die Neue Welt als Reich der Fülle, die abzuschöpfen vor allem pragmatische Probleme aufwarf, so zeigt sich nun, daß das Füllhorn nicht unerschöpflich ist. Entdecken und Erobern, Kolonisieren und Kultivieren hatten die Grenzen zu dem, was man als Fremdes, Wildes oder Anderes sah, immer weiter verschoben, und mit ihnen auch die Art des hin-

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ter ihnen liegenden Geheimnisses. Aus konkreten Schätzen wurden kulturelle und imaginäre, aus weißen Flächen vermessene Territorien, aus unbegrenzten Ländern umgrenzte Reservate. In dem solchermaßen Gewandelten oder Geschrumpften lagerten nunmehr die Residuen einer anderen Welt, einer anderen Zeit, einer anderen Logik, und weil man solche Residuen auch im Menschen schlummern sah, bekam die Entsprechung von ferner und innerer Welt eine neue Bedeutung: als Retrospektion, Rückgang zu Wurzeln, Anfängen, Kindheiten, Annäherung an das hier wie dort Verborgene.47 Das temporäre Moment des Aufenthalts in der Neuen Welt, das die Texte zu erkennen geben, verkörpert deshalb auch die Unmöglichkeit, gleichzeitig in einem Gegenwarts- und einem Erinnerungsraum zu leben – eine Unmöglichkeit, die Texte in ihren imaginären Weltentwürfen aufheben können, in ihren Bezügen auf nicht-imaginierte Welten aber wieder sichtbar machen müssen. Das ermöglicht es, den Kitzel des Fremden zu vermitteln, seine Gefahren aber, Schmutz, Krankheit, Selbstverlust, Untergang, in der zeitlichen Begrenzung aufzufangen. Die Reise wird zur »experimentellen Möglichkeit einer natürlichen Lebensweise«,48 der Text zum Labor für die Nachstellung der künstlichen Natürlichkeit. Was das Subjekt affiziert, ist nicht so sehr der Wunsch, nicht mehr zurückzukehren, als das Wissen, den Augenblick nicht wiederholen zu können – schon weil die eigene Anwesenheit dazu beiträgt, den residualen Ort unwiderruflich zu verändern. Was wiederum Leserinnen und Leser affiziert, ist die Möglichkeit der Teilhabe und Identifikation ohne emotionale oder kulturelle Verluste, also die Möglichkeit, Grenzen des Vertrauten zu überschreiten, ohne die Grundlagen des eigenen Systems in Frage stellen zu müssen. Das ist eines der Prinzipien des Exotismus, wie er sich im fortschreitenden 19. Jahrhundert in Romanen und Erzählungen, aber auch in Ethnographien und Photographien, Ausstellungen und Völkerschauen entwickelt.49 Konnte man in den einen verfolgen, wie Protagonisten sich dem Fremden, Wilden, Animalischen, Weiblichen aussetzen, seine bitter-süßen Reize auskosten, ohne ihnen (in der Regel) zu erliegen, so waren in den anderen fremde Körper von Menschen und Tieren hautnah zu erleben: in nachgebauten Landschaften, zirkusartigen Vorführungen, inszenierten Ritualen oder kompletten kolonialen ›re-enactments‹.50 Jeweils entstanden »gesicherte Räume der Alterität«51, in denen Leser oder Zuschauer das Gefühl des Authentischen und Unmittelbaren genossen, ohne sich aufs Spiel zu setzen. Ihre Grenzen wurden sofort dort deutlich, wo das Exotische nicht mehr als wesenhaft distant und different aufgefaßt werden konnte. Die Völkerschau von 1908, veranstaltet zu Ehren von Kaiser Franz Josef II., zeigte fast alle Volksgruppen der österreichisch-ungarischen Monarchie und löste damit »bei den Zuschauern weniger das stolze Empfinden nationaler Einheit und Identität als ein fundamentales Befremden aus. Die massive Abwehr galt

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den dargebotenen Binnenexotismen, welche in ihrer Rückständigkeit und ungebildeten Primitivität als Fremdkörper im ›Eigenen‹ erschienen.«52 In der gleichen Zeit wurden aus kolonialkritischer Position komplexe Entwürfe von Fremd- und Selbsterfahrung erprobt. Robert Müller signalisiert in seinem expressionistischen Roman Tropen (München 1915) schon mit dem Untertitel Der Mythos der Reise. Urkunden eines deutschen Ingenieurs, daß hier die Idee vom Faszinosum des Reisens nicht mehr ungefragt gilt.53 Auch die Ausgangskonstellation ist schon von Unheil überschattet: Ein Herausgeber gibt an, den Text mitzuteilen nach dem ihm persönlich überreichten Manuskript eines deutschen Ingenieurs – Hans Brandlberger, der später bei einem Indianeraufstand in der Freilandkolonie an der brasilianisch-venezuelanischen Grenze sein Leben ließ. Also ein Ich-Erzähler, der nicht seinen eigenen Text verantwortet, ein individuelles Dokument, das sich zugleich als überindividuelle Narration gibt. Das ist in der Tat die Matrix des Textes: Zu zwei Dritteln aus Gesprächen und Reflexionen bestehend schildert er nicht einfach eine Reise, sondern das Prinzip der Reise in die südamerikanischen Tropen. Die eigentliche Handlung bleibt spärlich: Brandlberger macht sich zusammen mit dem holländischen Kaufmann und Glücksritter Charles van den Dusen und dem amerikanischen Enfant terrible und Weltbürger Jack Slim auf den Weg zu einem geheimnisvollen Wasserfall im Innern Gujanas, hinter dem sich die von Weißen angehäuften »Schätze einer Karawane« befinden soll – märchenhafter Reichtum, der indes schon viele das Leben gekostet hat. Ein längerer Aufenthalt in einem Indianerdorf führt zu erotischen Begegnungen und kulturellen Reflexionen, schließlich aber zu wachsenden Konflikten und einem raschen Aufbruch zum Wasserfall. Dort findet man statt des Schatzes nur altes Eisen. Die Gruppe zerfällt. Slim stirbt, van Dusen wird getötet, Brandlberger befindet sich im Fieberdelirium. Wie er gleichwohl den Tropen entkommt, bleibt offen. Eine Reise ins Selbst. Schon die Flußfahrt auf dem Rio Taquado über den Äquator führt nach Brandlbergers Selbstverständnis nicht bloß in die Tropen. Sie führt in die Vergangenheit der Menschheit und des Individuums. Die Vorwärtsbewegung auf dem Wasser bedeutet Rückwärtsbewegung ins Prähistorische wie ins Pränatale hinein. Der Fluß ist zugleich Blutund Nervenbahn. Die bizarren Formationen, die vorübergleiten, sind Kristallisationen früherer Zustände und verdrängter Existenzweisen: »Alle diese Lebewesen, all dies Generelle um mich her war einmal ich. Nun lag es da, von meinem Reinlichkeitstriebe verabscheut, die Schlangenhaut auf meinem Entwicklungspfade!« (28). Das Ich stößt in den Raum vor, aus dem es herstammt, den Raum des Mütterlichen, der nach wie vor in ihm schlummert. Das Vergangene erweist sich so zugleich als Gegenwärtiges, die Zeitreise als Bewußtseinsreise: hinein in das eigene Denken und Fühlen, in die eigenen Abgründe, in das Fremde im Ich, die Tropen im Innern.

Herzadern – Nervenbahnen

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Der Fluß als Medium der Selbsterfahrung im Fremden – Joseph Conrad hatte dies in seiner Novelle Heart of Darkness (in Buchform zuerst 1902) in unheimlicher Prägnanz zum Thema gemacht. Dort sind es gleich zwei Flüsse, deren Aura Protagonisten und Leser in ihren Bann schlägt: die Themse, auf der zwischen Abend- und Morgendämmerung das Erzählen der Geschichte stattfindet, und der Kongo, auf dem die erzählte Handlung spielt. Auf dem Kongo bewegt sich der Ich-Erzähler der Binnengeschichte: Marlow ins Innere Afrikas, auf der Suche nach dem Leiter der Handelsstation: Kurtz, dem Ungreifbaren, hochintelligent und rätselhaft, brutaler Ausbeuter und gottähnlich verehrter Herrscher. Die Bewegung bringt eine Begegnung mit der äußeren und inneren Fremde, mühsames Eindringen in das Land, behindert durch Havarien, Krankheiten, Unwegsamkeiten. Doch sie führt weniger zu wachsender Vertrautheit als zu sich steigerndem Befremden: Unruhe, Verdüsterung, Wirklichkeitsverlust bis an die Grenze des Wahnsinns – jene Grenze, die Kurtz verkörpert.54 In ihm, der seinen Platz im dunklen Kontinent gefunden hat, schließlich aber dem Dunklen in der eigenen Seele zum Opfer fällt, begegnet Marlow einer Faszinations- und Projektionsfigur, einem Pendant, das für ihn Anderer und Nicht-Anderer zugleich ist, einem Phantom der Fremde, das er schließlich in die Heimat zurück- und auf den Ich-Erzähler der Rahmengeschichte überträgt: »Ich hob den Kopf. Die hohe offene See war von einer schwarzen Wolkenbank versperrt, und die ruhige Wasserstraße, die zu den äußersten Enden der Erde führte, strömte unter einem verhangenen Himmel dahin, als führte sie mitten hinein ins Herz einer unermeßlichen Finsternis.«55 Die Wasserstraße ist Verbindungsader zwischen dem Nahen und dem Fremden, dem Vertrauten und dem Unvertrauten, dem Zentrum und der Peripherie. Zugleich Metapher für die Verbindungen, die der Text schafft, die Windungen, die er den Leser folgen läßt, die Verwindungen, die sich nicht einstellen. Marlows Erzählung ist einerseits, ein dichtes Netz der Spiegelungen und Rekurrenzen webend, eine souveräne. Sie ist andererseits, ungeordnet, sprunghaft, affektiv, eine nicht souveräne, gezeichnet von unverminderter Teilhabe, immer wieder durchbrechender Distanzlosigkeit, nicht zu verleugnender Überwältigung. Das Signum der afrikanischen Erfahrung, das Grauen (›horror‹), wird damit nicht einfach in einem geschlossenen Erzählraum dargestellt. Es wird evoziert, performativ zum Austrag gebracht, hergestellt in einem Erzählraum, der systematisch die Grenzen zwischen Hier und Dort, Gegenwart und Vergangenheit, Erzählen und Erzähltem verwischt. Das Grauen zeigt sich nicht nur im Schwinden der Unterscheidungsfähigkeit zwischen Wahn und Wirklichkeit. Es wirkt fort als beunruhigende Spur in der Unsagbarkeit, die der Text als seine eigene Grenze, seine eigene Dunkelheit und Auslöschung erweist.

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Daran knüpft Müller in seinen Tropen an. Der Fluß als Medium der Erfahrung, der Dschungel als Verkörperung der Selbstverstrickung, das Scheitern als Auflösung von Ichgrenzen, die Subjektivität des Erzählers, die Narration als kulturelle Reflexion – die Parallelen ließen sich fortsetzen. Während indes Conrad sich kritisch auf den europäischen Kolonialismus in Südafrika, insbesondere die menschenverachtende belgische Kongopolitik bezog,56 bezieht Müller sich auf jene allgemeine Schatzsucherei in Südamerika, jene Tropenbegeisterung, die in Abenteuerromanen und Reiseberichten der Zeit längst die Ebene der Kinder- und Jugendliteratur erreicht hatte. Diese Trivialisierung ist einer der Gegenstände seines Romans, verwoben in ein vielfädiges Netzwerk, das einerseits das subjektive Moment der Reisebeschreibung, andererseits deren sprachliche Verfaßtheit in solche Verstrickungen führt, daß sowohl die Subjektkonstruktion wie der Wirklichkeitsanspruch der Beschreibung prismatisch gebrochen erscheinen. Das Subjekt, Brandlberger, ist das fragile und nervöse der Moderne, gespannt zwischen Ermächtigung und Entmächtigung, zwischen Selbstzerstörung und Selbsterschaffung.57 Anfangs im Conquistadorengestus auftretend wird er schnell mit seinen Begleitern zusammen zu »abnormalen Gebilden« (51), exterritorialisiert und verwildert, hingegeben an eine freigesetzte Brutalität und ein triebhaftes Begehren. Auch ihre Überlegenheit im indianischen Dorf verflüchtigt sich mehr und mehr. Sie verstricken sich in Konkurrenzkämpfe und fangen sich in den Schlingen der Erotik. Zeitweise sind sogar die kolonialen Verhältnisse auf den Kopf gestellt: »Stumm und im Innern vor Wut knurrend saßen wir zur Schau. Slim gab hin und wieder Aufklärung über verschiedene Eigentümlichkeiten des Stammes, dem wir angehörten, während wir so auf Klappsesseln hockten und der Wissenschaft dienten. Als besonderes Merkmal mußten wir geladene Revolver in den Händen halten. [...] Slim managte uns als europäische Show ziemlich glücklich. Ich wußte, daß er bereits einmal als Manager einer Buffalo-BillTruppe auf der Pariser Weltausstellung runde Summen gemacht hatte« (95f.). Die Europäer schwanken zwischen Verachtung und Bewunderung der Indianer, denen sich einmal hilflos ausgesetzt, ein ander Mal wieder kulturtechnisch überlegen wähnen. Die äußerliche Verwilderung ist nur Zeichen der inneren Angleichung an den Dschungel, des Verlusts stabiler Identität: »Ich war der Schwächere in diesem Kampfe mit der fremden wilden Seele, die aus Land, Tier und Mensch zu mir flüsterte« (136). Traum und Wirklichkeit werden ununterscheidbar. Selbst das Irresein erscheint gleichzeitig als »ungeheuerliches Synthetisieren« (255). Überdies beginnen sich die Protagonisten, je länger sie verweilen und je weiter sie vordringen, desto stärker einander anzuähnlichen. Ihre Positionen im Gespräch changieren und fluktuieren. Brandlberger und Slim werden zu regelrechten Doppelgän-

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gern: gedanklich übereinstimmend hier, sich faktisch bekämpfend dort. Facetten eines Bewußtseins, bringen sie zugleich dessen Zerrissenheit zwischen zentrifugalen und zentripetalen Kräften zum Vorschein. Alle drei wollen im übrigen Berichte über ihre Erfahrungen verfassen, müssen deshalb aber auch damit rechnen, selbst nur Figur im Buch des andern zu sein. Die vorgeschlagenen Titel (Zana, Fieber, Irrsinn, Jägerlatein, Tropen) repräsentieren das Spektrum, in dem die Erfahrungen zu deuten sind: sehnsüchtig oder krankhaft, wahnsinnig oder schlicht erfunden?

Tropen Wie in einem Brennspiegel vereint Müller in seinem Roman, was die Eigenart von Reiseberichten seit je her auszeichnete: das Fremde, das Sensationelle, das Liminale, die räumliche Bewegung, die kulturelle Reflexion, die subjektive Beteiligung. Doch all diese Elemente haben ihre Unschuld verloren. Die Reise wird zum Fiasko. Das Subjekt diffundiert in gleichem Maße, in dem es sich bildet. Die Sehnsucht nach der Tropenidylle bleibt unerfüllt und wird vom Phantasma des Tropenkollers abgelöst. Auch sprengt die Beschreibung die Normen der Gattung. Sie ist von vornherein intertextuell markiert, ist Rede mehr über die allgemeinen Konstituenten als von den konkreten Umständen. Wo selbst in schwierigsten Momenten das kulturelle Räsonnieren nicht abbricht, wird auch die Illusion, einem Protagonisten folgend eine Welt zu durchwandern, immer wieder gestört. Gleichzeitig wird der Zweifel genährt, ob sich hier wirklich die Niederschrift einer vorgängigen Erfahrung präsentiert oder nicht vielmehr die Vorführung, wie eine solche Erfahrung entsteht – im erzählenden und reflektierenden Schreiben. Das Prinzip, die Ereignisse an ein sie zunächst erlebendes, dann mitteilendes Subjekt zu koppeln, wird hinfällig, weil sowohl die Differenz der Zeit wie die von Faktum und Imagination nicht mehr fraglos gilt. Der Leser mag nach der inneren Wahrheit suchen, in die sich das äußere Geschehen umsetzen ließe, finden wird er nur die unendlichen Verästelungen eines Bewußtseins und die beständigen Übergänge zwischen Außen und Innen, Handlungsraum und Ideengefüge. Bereits der Titel ist auf solche Übergänge hin angelegt. Die Tropen sind im konkreten wie rhetorischen Sinne zu verstehen: die heißen Zonen, in denen das ›nordische‹ Subjekt sich bis zum Wechsel in einen neuen Aggregatzustand erhitzt, und die bildlichen Ausdrücke, in denen die Fremde zu poetischer Fassung findet. Die Überblendung der beiden Bedeutungen signalisiert: Repräsentation und Kreation lassen sich nicht mehr unterscheiden. Der Text gibt nicht einfach eine Welt wieder, er schafft sie. Der Mensch wiederum steht nicht einfach der Welt gegenüber, er enthält sie,

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spiegelt sie, bringt sie hervor, wie er aber auch seinerseits von der Sprache hervorgebracht wird: »man könnte sagen, er selbst, der Mensch, sei im Verhältnis zu den Tropen ein Tropus« (400). Oder mit dem Schlußsatz des Textes: »Wenn man aber den Menschen der Zukunft fragen wird, ob er schon in den Tropen gewesen sei – ah, was Tropen, sagt er, die Tropen bin ich!« (402). Lange war es das zentrale Problem des Reiseberichts gewesen, nur Wiedergabe einer Erfahrung sein zu können, die zugleich vor ihm und außerhalb von ihm liegt. Das bedingte all jene vertrauten Strategien, Authentizität und Präsenz herzustellen, die Glaubwürdigkeit des Subjekts durch Verweise und Geltungsbehauptungen zu sichern, die Lücke des Wirklichen in der Fülle des Sagbaren zu schließen. Nun faltet sich dieses Problem in sich selbst: Der prekäre Status des Subjekts wird zum Prinzip, die Rolle der Sprache zur Bedingung der Möglichkeit von Welt. Die Tropen sind eine Metonymie: Ausdruck des südamerikanischen Faszinationsraumes, Verkörperung der Fremde und des Fremden – »Der Wilde kennt sie nicht, nur der Nordländer, sie sind ihm ein Tropus für seine Glut und das verzehrende Feuer in seinen Nerven. Er erfindet sie, um sich ein Gleichnis zu setzen« (304). Sie sind zugleich die Metonymie einer Metonymie: Begriff der Bilder, der Repräsentationen, der Zeichen, die das/die Fremde verkörpern. Bilder spielen eine zentrale Rolle im Roman: als narrative, die Momente scheinbar visuell, zum Beispiel in verschiedenen Beleuchtungsverhältnissen, greifbar machen; als sprachliche, die Sachverhalte konzentriert erfassen; als angeschaute, die Ordnungen der Repräsentation zu erkennen geben (die Bilder Kelwas, des indianischen Malers); als geschaute, die in Visionen Möglichkeiten sichtbar machen. Traditionell war der Verweis auf das Medium der Malerei eine Möglichkeit gewesen, die Grenzen der Sprache im Angesicht des Fremden zu fixieren und so in den Text selbst etwas vom Fremden aufzunehmen – als unsagbares: bei Léry nicht anders als bei Chamisso. Hier nun geht es um eine konkrete Entgrenzung: Bilder als Vermittler zwischen dem Bewußten und dem Unbewußten; Bilder als Übertragungsmittel zwischen Szene und Idee; Bilder als paradoxe Möglichkeit des Textes, sich zu transzendieren und zu konstituieren.58 Nicht Impressionen sollen eingefangen, sondern Expressionen gefunden werden, in denen das Subjekt die Welt begreift und hervortreibt, in denen es sich selbst enthüllt und entwirft. Die Tropen sind sowohl Gegenstand eines Begehrens wie Mittel zu dessen Darstellung. Sie sind sowohl Ziel der Bewegungen des Subjekts wie deren Ursprung. Sie sind Zeichen im Text wie Generatoren des Textes – und des Fremden, aus dem dieser sich speist. Der Aufenthalt im hitzigen Südamerika, so desaströs er faktisch verläuft, erlaubt ideell eine Erprobung von Kulturmodellen und -theorien, die zugleich explizit machen, was norma-

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lerweise in Reiseberichten implizit bleibt: Rahmenbedingungen der Erfahrung und Konzepte kultureller Differenz. Die Modelle benutzen Elemente aus der Biologie (die Dschungelwelt als organisches System), der Paläoanthropologie (die Tropen als Vorzeitraum) und der Technik (der Mensch als Maschine), und sie benutzen sie zu bunt wuchernden Analogiebildungen. Sie stehen damit ihrerseits im Ruch, Ausgeburt der zunehmend derangierten, tropisch wuchernden Phantasie der Protagonisten zu sein. Diese Phantasie sucht nach beständig neuen Kategorien der Daseins- und Kulturanalyse: Das Wasserrad bezeichnet die Umkehrbarkeit von Tatsachen ohne Einfluß auf deren Wirkung. Das Phantoplasma gilt als Verräumlichung jener Zone zwischen Gehirn und Eingeweiden, in der sich der Kern der Existenz ausmachen läßt – eine expressionistische Version des dritten Raums, in dem Subjekt-/Objekt- und Innenwelt-/Außenwelt-Oppositionen überwunden wären. Slim entwickelt daraus eine elementare Unterscheidung zwischen dem primitiven und dem modernen Menschen: der eine in der Zweidimensionalität, der Fläche lebend, der andere sich noch über Raum und Zeit hinaus in eine fünfte Dimension erhebend, die Geistiges und Körperliches neuartig umgreift – die Dimension des Künstlers, dem die Welt Poesie wird, der zur Fläche zurückkehrt, um die Flächigkeit zu überwinden, der in sich selbst findet, was andere in der Ferne suchen. Das wilde Subjekt unter den Bedingungen der Moderne: ungewiß in seinem epistemologischen Status, aufgesplittert in zahllose Einzel-Ichs, ausgeliefert der Dynamik seiner eigenen Nervenbahnen. Es kennt zwar die Sehnsucht nach dem Archaischen und Naturhaften, dem ursprünglichen Leben und der klaren Ordnung, vertraut sich ihr aber nicht mehr vorbehaltlos an. Technik, Maschinenwelt, Großstadtdschungel, Nervenwissenschaft sind seine Erfahrungsbereiche, die es, sich in den Tropen bewegend, nicht einfach hinter sich lassen, aber vermenschlichen will. So findet es im Wilden die Prinzipien des Menschlichen: »Menschenseele, von wilder Deutlichkeit in der Seele des Wilden« (153). Und in sich die Wildheit einer instabilen, auf dem Sprung befindlichen, mit den Dingen interagierenden Existenzform: »Der moderne Mensch läuft durchs Leben wie ein Indianer« (362) – und soll sich darüber erheben. Das indianische Leben wird als eine bestimmte Stufe der Existenz begriffen und die Reise in die Tropen als Möglichkeit, sich dieser Stufe bewußt zu werden. Doch Ziel, zumindest der Phantasien des Erzählers und der Protagonisten, ist der neue Mensch, der in sich die Vergangenheit und damit für sich die Zukunft findet, der neue innere Mensch, der noch auf keiner Landkarte steht und von keiner Geographie erfaßt ist. Daß diese Utopie fragile Züge trägt, weil sie eine subjektive und überdies von den Tropen beförderte ist, wird nur zu deutlich. Der ganze Text bewegt sich auf jener Grenze, auf der geschärfte und getrübte Wahrnehmung beständig ineinander umschlagen können. Er oszilliert zwischen

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einer Sprache des Affekts und einer der Vernunft und radikalisiert damit, was schon Tocqueville der Dichtung seiner Zeit zugeschrieben hatte: die Verquickung des Gigantischen und des Lächerlichen. Der Expressionismus treibt diese Verquickung auf die Spitze, indem er Überzeichnungen, Schrillheiten und Pathetismen sucht. Gleichzeitig reflektiert er sie, indem er die Perzeption und Konstruktion von Wirklichkeit ins Zentrum rückt. Bei Müller ist überdies auf den Punkt gebracht, in welchem Maße ein neuer Entwurf des Verhältnisses von Welt und Selbst auch eines neuen Verständnisses des Fremden bedarf, des Fremden, das nun dezidiert als zugleich räumlich und abstrakt begriffen wird (234). Die Reise in die Ferne dient als Paradigma jener traditionellen Vorstellung, wie sich Fremdes ins Eigene transportieren oder integrieren lasse: in Form von Erfahrungen, Objekten, Texten. Sie wird als Mythos entlarvt, als große Erzählung, die Komplexitäten reduziert: also zum Beispiel die oft eher katastrophischen als glanzvollen Dimensionen einer Reise beschönigt, die verwickelten Beziehungen von Ich und (fremder) Welt vereinfacht, die irritierenden Fragen nach Imagination und Repräsentation wegretuschiert. Statt dessen sollen die Implikationen der Reise radikal zum Austrag kommen – mit der Konsequenz einer neuen Form, die Narration und Reflexion engführt, den letztlich unangefochtenen Status des empfindsamen, philosophischen Subjekts dem prekären Status eines nervösen, getriebenen und gespaltenen Subjekt opfert. Da dieses aber andererseits die Welt in sich und aus sich hervorbringt, entfällt das Problem, wie kulturell Unverfügbares, gefiltert durch ein Ich, verfügbar werden soll. Wo das Ich ein durch und durch poetisches ist, ist die Welt durch und durch eine mögliche, keine wirkliche. Wo die Tropen immer auch sprachliche sind, sind die Fremden als solche nurmehr Staffage: Die Indianer in Müllers Roman bilden den Kontext für die Sehnsüchte und Ängste, die Begierde und Gefährdung der Protagonisten; sie bilden die Schablone für deren kulturelle Entwürfe. Am Ende des Textes erweisen sie sich einmal mehr als die Kannibalen, als die sie immer schon galten, erweisen sich aber auch als die eigentlichen Kannibalen des modernen Menschen – seine Maschinen! So werden die fernen Alteritäten zu nahen, die konkreten zu abstrakten, die äußeren zu inneren. Definitiv hat sich das, was sich mit der Neuen Welt verband, im Raum des Imaginären angesiedelt. Deshalb könnte die Kleine Poetik der Neuen Welt keinen besseren Schlußpunkt finden als mit den zu Sprach-, Sinn- und Denkfiguren gewordenen Tropen. Müllers Roman von 1915 stellt nicht nur einen Markstein dar für das Modell der Bewußtseinsreise, das in der Folgezeit Aragon und Artaud, Michaux und Leiris, Canetti und Brinkmann verfeinern werden.59 Er stellt auch eine Nahtstelle dar, an der die gesamte ältere Tradition noch einmal aufscheint: die schillernden Beziehungen von Alterität und Mimesis,

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die Leidensmotivik und ihre Effekte, die kannibalische Exzessivität, die Unmöglichkeit von Präsenz, die Rolle des Utopischen. Doch dieser Aufschein erfolgt hier selbst schon im Rahmen einer narrativen Poetik, die sich die überkommenen Muster entschieden im Dienste der Ästhetisierung von Fremd- und Selbsterfahrung anverwandelt. Daß die Neue Welt nicht nur Ressourcen, sondern auch Narrative biete, war im Laufe der frühen Neuzeit klar geworden. Daß sie Stoff für kulturelle und individuelle Selbstdeutungen bereit hielte, war die Faszination des 18. und 19. Jahrhunderts. Daß sie recht eigentlich das Reservoir des poetisch Imaginären sei, war die Entdekkung der Moderne – oder soll man sagen: Erfindung? Zumindest in dem Sinne, daß hier nichts Naturgegebenes freigelegt, vielmehr flottierende Exotismen in neue Bahnen gelenkt wurden: Südseeroman, Kolonialroman, Gefangenschaftsbericht, Western. So wie die Neue Welt ›erfunden‹ wurde in den Diskursen, in denen Europäer und Kolonisten über sie sprachen, so wurde auch ihre Poetizität ›erfunden‹ in den Texten und Bildern, die jenes Fremde in den Blick nahmen, das bereits spezifisch mit der europäischen Geschichte verknüpft war. Die ›Neue Welt‹ der Moderne ist eine historische. In dem Maße, in dem sich die existierenden, simulierten oder möglichen Welten vermehrt hatten und die fernen nahegerückt waren, war die süd- und nordamerikanische ›Neue Welt‹ nicht mehr ohne ihre Geschichte zu denken: die Geschichte von Eroberung und Kolonisierung, Auslöschung und Amalgamierung. Sie verleiht der ›Neuen Welt‹ ihr Potential in affektiver wie intellektueller Hinsicht. Das Poetische hängt am Fragilen. Wo zu viel verfügbar wird, übt das Unverfügbare einen um so größeren Reiz aus. Deshalb erzählen die poetischen Entwürfe der Moderne gerne, gegenläufig zu den Genealogien, in denen sich die Moderne sonst in bezug auf das Wilde, Fremde, Andere bestimmt, von den Residuen des Unbewältigten: den Abgründen des Selbst, die nur scheinbar schon vermessen sind, und den Verwerfungen einer Welt, die nur scheinbar zunehmend eins geworden ist. Dieser Poetik der Neuen Welt ist ihre Flüchtigkeit eingeschrieben – so wie in Kafkas Wunsch, Indianer zu werden (1913): »Wenn man doch ein Indianer wäre, gleich bereit, und auf dem rennenden Pferde, schief in der Luft, immer wieder kurz erzitterte über dem zitternden Boden, bis man die Sporen ließ, denn es gab keine Sporen, bis man die Zügel wegwarf, denn es gab keine Zügel, und kaum das Land vor sich als glatt gemähte Heide sah, schon ohne Pferdehals und Pferdekopf.«60

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Anmerkungen 1 Antonius Sepp: Continuation Oder Fortsetzung der Beschreibung, Deren denckwürdigeren Paraquarischen Sachen. Ingolstadt 1710; HARTMANN, Der Jesuitenstaat, S. 88. 2 CHRISTEN, »to the end of the line«. 3 Écrits spirituels et historiques, 4 Bde., ed. JAMET; Correspondance, ed. OURY; unbrauchbar ist wegen ihrer nicht kenntlich gemachten Auslassungen und Einschüben die deutsche Übersetzung: Marie de l’Incarnation. Zeugnis bin ich Dir. Luzern 1961. 4 Zum historischen Kontext DAVIS, Drei Frauenleben. 5 Brief an Dom Claude Martin vom 1. Sept. 1668; Correspondance, Nr. 237, S. 809; DAVIS, S. 138. 6 Brief an »une dame de qualité« vom 3. Sept. 1640; Écrits, Bd. 3, Nr. LXVI, S. 179f. 7 Brief an Mère Marie-Gillette Roland vom 4. Sept. 1640; Écrits, Bd. 3, Nr. LXIX, S. 190: »Ma Soeur encore que vous soyez bien loin, néanmoins je vous aime toujours plus que si je vous voyais. Je vous embrasse fortement, ma Soeur, et parce que vous aimez Dieu, c’est por cela que je vous aime.« 8 DAVIS, S. 131. 9 Brief an einen Mitbruder vom 4. Sept. 1640; Écrits, Bd. 3, Nr. LXVII, S. 181f. 10 Zu ihrer Zwischenstellung ZECHER, Life on the French-Canadian hyphen. 11 Zu Maries universalisierender Sicht DAVIS, S. 141–154. 12 DAVIS, S. 160, in Zusammenfassung von Maries Brief an Dom Claude Martin vom Sommer 1647; Écrits, Bd. 4, Nr. CXLI, S. 168–173; Correspondance, Nr. 110, S. 327–330. 13 Écrits, Bd. 2, S. 348: »croix sans fin, un abandon intérieur de la part de Dieu et des créatures en un point très crucifiant, que j’allais entrer en une vie cachée et inconnue.« 14 Ebd., S. 349: »s’il eut été question d’aller aux Indes, au Japon, à la Chine, en Turquie, j’y fusse allée.« 15 Zu Maries Mystik: Anya MALI: Mystic in the new world: Marie de l'Incarnation (1599– 1672). Leiden, New York 1996 (Studies in the history of Christian thought 72); Marie-Florine BRUNEAU: Women mystics confront the modern world: Marie de l'Incarnation (1599–1672) and Madame Guyon (1648–1717). Albany 1998. 16 Mitteilung eines schriftlich fixierten Gottespreises im Brief an Dom Claude Martin vom Sommer 1647; Écrits, Bd. 4, Nr. CXL, S. 157: »Vous êtes le plus beau d’entre tous les enfants des hommes, ô mon Bien-Aimé! Vous êtes beau, mon cher Amour, en votre double beauté divine et humaine! Vous êtes beau, mon cher Amour, et vous emportez mon esprit dans une vue inexplicable de ce que vous êtes en votre Père et de ce que votre Père est en vous.« 17 Vgl. u. a. COLEMAN, New England Captives; CLIFTON, Being and Becoming Indian; NAMIAS, White Captives; DEROUNIAN-STODOLA/LEVERNIER, The Indian Captivity Narrative; DEMOS, The Unredeemed Captive; CASTIGLIA, Bound and Determined; STRONG, Captive Selves, Captivating Others; HUHNDORF, Going Native; COLLEY, Captives, Tl. 2. 18 »Captives that are every minute looking when they shall be roasted alive, to make a sport and a feast, for the most execrable cannibals; Captives, that must endure the most bitter frost and cold, without rags enough to cover their nakedness; Captives, that have scarce a bit of meat allow’d them to put into their mouths, but what a dog would hardly meddle with; Captives, that must see their nearest relations butchered before their eyes, and yet be afraid of letting those eyes drop a tear«; COLLEY, Captives, S. 147. 19 Zum Kontext LEPORE, The Name of War. 20 Am Beispiel Pennsylvanias: MERRELL, Into the American Woods. 21 Überblick über neuere Interpretationstendenzen bei DEROUNIAN-STODOLA/LEVERNIER, The Indian Captivity Narrative, S. 94–111. 22 Rowlandson, The Souvereignty and Goodness of God, ed. SALISBURY, S. 44. 23 COLLEY, Captives, S. 151. 24 Ebd., S. 162f.; Rowlandson, The Souvereignty and Goodness of God, ed. SALISBURY, S. 53, fig. 9.

Anmerkungen

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25 DEMOS, The Unredeemed Captive. 26 Seaver, A Narrative of the Life of Mrs. Mary Jemison, ed. NAMIAS. 27 Text in: The Souvereignty and Goodness of God, ed. SALISBURY, S. 149–164. 28 Ebd., S. 111: »I can remember the time, when I used to sleep quietly without workings in my thoughts, whole nights together, but now it is other ways with me. When all are fast about me, and no eye open, but his who ever waketh, my thoughts are upon things past, upon the awfull dispensation of the Lord towards us; upon his wonderfull power and might.« 29 BERKHOFER, The White Man’s Indian; RODENBERG, Der imaginierte Indianer; HUHNDORF, Going Native. 30 Zum Zusammenhang zwischen der den Indianern zugeschriebenen körperlichen Inferiorität und der Idee einer Beherrschbarkeit der Natur CHAPLIN, Subject Matter. 31 Vgl. auch Hartmut BÖHME: Natur und Subjekt. Frankfurt/M. 1988 (es 1470). 32 TAUSSIG, Mimesis und Alterität; vgl. auch WIENER, Ikonographie des Wilden. 33 Zitierte Ausgabe: Chamisso, Werke, ed. FEUDEL/LAUFER, Bd. 2; zur Weltreise jetzt auch der Band zur Ausstellung: Mit den Augen des Fremden. 34 GOLDMANN, Die Südsee als Spiegel Europas, S. 219. 35 Chamisso, Werke, ed. FEUDEL/LAUFER, Bd. 1, S. 302–305, 314–325. 36 DÜRBECK, Ozeanismus. 37 Brief an die Schwester; Chamisso, ed. SYDOW, S. XII. 38 Chamisso, ed. SYDOW, S. LXXXIVf. und CXIXf.; GOLDMANN, Die Südsee, S. 219f. 39 Zum Kontext HELBIG, Brasilianische Reise; Ausgabe des Romans: Martius, Frey Apollonio, ed. ROSENTHAL; zum Text SCHWAKE. 40 Tocqueville, Quinze jours, ed. MAYER, S. 382: »Le désert était là tel qu’il s’offrit sans doute il y a six mille ans aux regards de nos premiers pères«; In der nordamerikanischen Wildnis, S. 77. 41 Ebd., S. 374: »L’œil n’apercevait plus autour de lui que des masses confusément amoncelées, sans ordre ni symétrie, des formes bizarres et disproportionnées, des scènes incohérentes, des images fantastiques qui semblaient empruntées à l’imagination malade d’un fiévreux. (Le gigantesque et le ridicule se tenaient là d’aussi près que dans la littérature de notre âge)«; In der nordamerikanischen Wildnis, S. 60. 42 Ebd., S. 384: »L’idée de cette grandeur naturelle et sauvage qui va finir se mêle aux superbes images que la marche de la civilisation fait naître. On se sent fier d’être homme, et l’on éprouve en même temps je ne sais quel amer regret du pouvoir que Dieu vous a accordé sur la nature. L’âme est agitée par des idées, des sentiments contraires, mais toutes les impressions qu’elle reçoit sont grandes, et laissent une trace profonde«; In der nordamerikanischen Wildnis, S. 72. 43 Brief an Emilie von Reinbeck aus Lissabon vom 5. März 1833; Lenau, Werke und Briefe, Bd. 5, ed. STEINEKE/VIZKELETY, S. 236. 44 Lenau, Werke und Briefe, Bd. 2, ed. MÁDL, S. 56. 45 Brief an den Schwager Anton Schurz aus Baltimore vom 16. Okt. 1832; Lenau, Werke und Briefe, Bd. 5, S. 230f.: »Die Nachtigall hat Recht daß sie bei diesen Wichten nicht einkehrt. Das scheint mir von ernster, tiefer Bedeutung zu seyn, daß Amerika gar keine Nachtigall hat. Es kommt mir vor, wie ein poetischer Fluch. Eine Niagarastimme gehört dazu, um diesen Schuften zu predigen, daß es noch höhere Götter gebe, als die im Münzhause geschlagen werden.« 46 Vgl. BOERNER, Utopia in der Neuen Welt. 47 Zur literarischen Umsetzung ZENK, Innere Forschungsreisen. 48 So Xavier (und Adèle) Hommaire de Hell in ihrem Rußlandreisebericht: Travels in the Steppes of the Caspian Sea, The Crimea, The Caucasus, Etc. London 1847, S. 208. 49 Zu Ethnographie und Photographie WIENER, Ikonographie des Wilden; zum Kolonialroman Sibylle BENNINGHOFF-LÜHL: Deutsche Kolonialromane 1884–1914 in ihrem Entstehungsund Wirkungszusammenhang. Bremen 1983. 50 THODE-ARORA, Für fünzig Pfennig; LINDFORS, Africans on Stage; SCHWARZ, Anthropologische Spektakel; GREWE/FLECKNER, Exhibiting the Other. 51 JACOBS, ›Wildnis‹ als Wunschraum.

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7 Ausblick: Reisen ins Selbst

52 Ebd. 53 Vgl. ZENK, Innere Forschungsreisen, S. 103–162; Thomas SCHWARZ: Die kolonialen Obsessionen des Nervösen, in: HONOLD/SCHERPE, Mit Deutschland um die Welt, S. 457–464; HOLDENRIED, Künstliche Horizonte, S. 263–295; FRANK, Exotik. 54 Zum Kontext Susan J. NAVARETTE: The Shape of Fear. Horror and the Fin-de-Siecle Culture of Decadence. Lexington 1998. 55 Heart of Darkness, Schlußpassage: »I raised my head. The offing was barred by a black bank of clouds, and the tranquil waterway leading to the uttermost ends of the earth flowed sombre under an overcast sky – seemed to lead into the heart of an immense darkness.« 56 Zu diesem Kontext Peter Edgerly FIRCHOW: Envisioning Africa. Racism and Imperialism in Conrad’s Heart of Darkness. Lexington 2000; Susanne GEHRMANN: Kongo-Greuel. Zur literarischen Konfiguration eines kolonialkritischen Diskurses (1890–1910). Hildesheim 2003 (ECHO. Literaturwissenschaft im interdisziplinaeren Dialog 3). 57 Vgl. Joachim RADKAU: Das Zeitalter der Nervosität. Deutschland zwischen Bismarck und Hitler. München 1998. 58 Vgl. DIETRICH, Poetik der Paradoxie. 59 NELL, Reflexionen und Konstruktionen des Fremden, S. 272, 296f. 60 Franz Kafka: Betrachtung. Leipzig 1913, S. 77f.

Literatur

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Literatur

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Forschungen

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Abbildungen

Abb. 1 Abb. 2 Abb. 3

Mundus novus, Rostock 1505, Titelblatt. Francis Bacon, Instauratio magna, London 1620, Titelblatt. Hieronymus Marini, Weltkarte, Venedig 1512; Unikat: Rio de Janeiro, Ministério das Relações Exteriores (Museo Itamaraty). Abb. 4 Heinrich Bünting, Itinerarium Sacrae Scripturae, Helmstadt 1581, S. 4/5. Abb. 5 Newe vnbekanthe landte, Nürnberg 1508, Titelblatt. Abb. 6 Newe Zeytung von einem seltzamen Meerwunder, Augsburg 1565. Abb. 7 Hans Staden, Warhaftige Historia, Marburg 1557, Titelblatt. Abb. 8 Hans Staden, Warhafftig Historia, Frankfurt 1557, Titelblatt. Abb. 9/10 Hans Staden, Warhaftige Historia, Marburg 1557, l jv, m iiijv. Abb. 11a/b Mandevilles Reisen (Diemeringen-Übersetzung), Straßburg 1499. Abb. 12 Lorenz Fries, Uslegung der Mercarthen, Straßburg 1525, f. XVIr. Abb. 13 Theodor Galle nach Stradanus, America, aus Nova reperta (Amsterdam 1589). Abb. 14 Dise figur anzaigt vns, Augsburg 1505/06 (Einblattdruck). Abb. 15/16 Hans Staden, Warhaftige Historia, Marburg 1557, s iiiv, t iiijv. Abb. 17 Hans Staden, Warhaftige Historia, Marburg 1557, t iiir. Abb. 18 Dritte Buch Americae, Frankfurt/M. 1593 (de Bry-Ausgabe von Staden), S. 48. Abb. 19 André Thevet, Singularités, Paris 1557, S. 109 (Ejr). Abb. 20 Georg Müller, Reisebuch, um 1700; St. Gallen, Stiftsbibliothek, Cod. 1311, S. 123. Abb. 21 Christoph Weiditz, Trachtenbuch, 1529; Nürnberg, Germanisches Nationalmuseum, Hs 22474, f. 12v/13r. Abb. 22 Warhafftige Contrafey einer wilden Frawen, Augsburg 1567 (Flugblatt). Abb. 23 C’est la deduction du sumptueux ordre plaisantz, Rouen 1551, K ijv/K iijr. Abb. 24 Albert Eckhout, Früchte, 1641/43; Kopenhagen, Nationalmuseum, Ethnographische Sammlung. Abb. 25 Albert Eckhout, Maniok, um 1641/43; Kopenhagen, Nationalmuseum, Ethnographische Sammlung. Abb. 26 Albert Eckhout, Tapuyafrau, 1641; Kopenhagen, Nationalmuseum, Ethnographische Sammlung. Abb. 27 Albert Eckhout, Tapuyatanz, um 1641/43; Kopenhagen, Nationalmuseum, Ethnographische Sammlung. Abb. 28 Ole Worm, Musei Wormiani Historia, Leiden 1655, Titelblatt. Abb. 29 Jan van Kessel, Die vier Erdteile: America, 1664-66; München, Alte Pinakothek. Abb. 30 Thomas Morus, Libellus vere Aureus (Utopia), Louvain 1516, S. [2]. Abb. 31 Abraham Ortelius, Septemtrionalium regionum descriptio, Amsterdam 1570. Abb. 32 Mary Rowlandson, A Narrative of the Captivity, Boston 1771.

Register Aegidius, Petrus 205, 207 Aguilar, Jerónimo de 55, 215 Albrecht V. von Bayern 193f. Annari, Girolamo 116 Anne von England 179 Aristoteles 21, 148, 210 Arndt, Johann 235 Augustinus, Aurelius 18, 21, 250 Bacon, Francis 19f., 179, 204f. Balboa, Vasco Núñez de 207 Balbuena, Bernardo de 12 Barlaeus, Caspar 26, 183 Beaumont, Gustave de 266f. Behaim, Michael 163 Behn, Aphra 39 Belon, Pierre 136 Benzoni, Girolamo 145 Best, George 173–175 Beverley, Robert 74, 181 Bhabha, Homi 32 Boemus, Joannes 51 Bordone, Benedetto 203, 215 Bracciolini, Poggio 54 Brant, Sebastian 18f. Breu, Jörg d. Ä. 165 Bry, Johann Theodor de und Johann Israel de 37, 58, 99, 129, 217, 229 Budé, Guillaume 204, 211 Bünting, Heinrich 22f. Bunyan, John 256 Burgkmair, Hans d. Ä. 165 Burrough, Edgar Rice 36 Busleiden, Hieronymus 205 Cabeza de Vaca, Alvar Núñez 72, 84–91, 95, 98, 101–103, 249 Cabot, Sebastian 169 Cabral, Pedro Alvares 41 Caminha, Pero Vaz de 41, 53, 118 Cantino, Alberto 169 Carder, Peter 98 Carletti, Francesco 158 A. 17 Carvajal, Gaspar de 30 Cavendish, Thomas 84, 98 Chamisso, Adelbert von 261–264, 276

Chateaubriand, François-René de 39f., 74 Claudius 147 Colón, Cristóbal 14f., 21, 24, 28–31, 36, 41–43, 53, 58, 67, 80–84, 88, 94, 111f., 114f., 122, 140, 163, 168, 202, 205, 207f., 215f., 249 Conrad, Joseph 273f. Conti, Nicolò de’ 12, 54 Cooper, James Fenimore 39 Cortés, Hernán 30f., 36, 41, 55–57, 83, 163, 169, 180 Cuneo, Michele de 115–117, 122 Dampier, William 170f., 236 Dante Alighieri 19 Davenant, William 220 Davies, John 181 Davis, Natalie Zemon 81 Defoe, Daniel 39, 120, 230, 237–244, 248, 258 Descartes, René 249 Díaz del Castillo, Bernal 55 Diderot, Denis 74 Dodding, Edward 173, 175 Drake, Francis 98 Dryander, Johannes 68f., 235 Dürer, Albrecht 163–166, 194 Eckhout, Albert 183–192 Elizabeth I. von England 173, 175 L’Entrée de Henri II à Rouen 176–178 Erasmus von Rotterdam 162 A. 89, 208, 211 Ercilla y Zúñiga, Alonso de 12 Federmann, Nikolaus 92 Ferdinand II. von Tirol 28, 41, 194 Fichte, Johann Gottlieb 261 Fletcher, John 226 Fontaneda, Hernando de Escalante 72f. Forli, Giovanni Ruffo de 169 Foucault, Michel 202 Fracanzano, Montalboddo 24 Franck, Sebastian 18 Franz Josef II. 271 Frederick III. von Dänemark 185, 191 Fries, Lorenz 22, 24, 113 Frobisher, Martin 173

310

Register

Garcilaso de la Vega 9–13, 39, 50, 52, 56, 72, 232 Garzoni, Tommas 229 Geiler von Kaysersberg, Johannes 43 A. 25 Georgius de Hungaria 54f. Gesner, Conrad 134 Gilles, Pierre 205, 207 Goethe, Johann Wolfgang von 263 Golding, William 244 Goltwurm, Kaspar 69 Gómara, Francisco López de 14, 55 Gorrich, Gaspar 81 Gracián, Baltasar 231, 234, 242, 250 Greenblatt, Stephen 211, 219f. Greflinger, Georg 228 Grimmelshausen, Hans Jacob Christoffel von 228–234, 236f., 240, 250 Grynaeus, Simon 16 Gryphius, Andreas 233 Guerrero, Gonzalo 56f., 71, 101 Hakluyt, Richard 37, 69, 83, 98, 102, 152, 212–216 Harder, Michael 123 Harriot, Thomas 217 Head, Richard 217 Heinrich II. von Frankreich 58, 176f. Héret, Maturin 133, 135 Hernández, Pero 85 Herzog Ernst 168 Hobbes, Thomas 240 Hölderlin, Friedrich 39 Homer 20, 203, 210 Horaz 147 Husserl, Edmund 33 Hutten, Philipp von 30f., 91–98, 249 Isabella von Spanien 119 Joachim von Fiore 82 Jonson, Ben 179 Josephus, Flavius 133 Juvenal 147 Kafka, Franz 279 Kant, Immanuel 260 Karl V. von Spanien 83, 152, 163, 169, 194 Katharina von Medici 71, 177 Kessel, Jan van d. Ä. 196–198 Knivet, Anthony 72, 98–100, 102–104 Kolumbus s. Colón Kopernikus, Nikolaus 27 Krafft, Hans Ulrich 55

La Boétie, Étienne de 153, 243 La Hontan, Louis-Armand de 74 Laetus, Pomponius 122 Las Casas, Bartholomé de 14, 112f., 212 Lazarillo de Tormes 103 Lenau, Nikolaus 39, 269f. Leonardo da Vinci 20 Léry, Jean de 38, 58, 70, 73, 127f., 130, 135– 142, 144–146, 150, 154, 156, 242f., 276 Lévi-Strauss, Claude 38, 70 Locke, John 38 Les Louanges de la Folie 149, 162 A. 89 Lohenstein, Daniel Caspar von 233 Ludovico de Varthema 55, 66 Ludwig XIV. von Frankreich 194 Lukan 132 Lukian 208f. Lupset, Thomas 211 Macchiavelli, Niccolò 208 Magalhães de Gandavo, Pedro de 77 A. 21 Malinche 180 Malouet, Jean-Pierre 40 Mandeville, Jean de 112f., 203, 215 Manuel von Portugal 118 Margarete von Navarra 218 Marie de l’Incarnation 250–254 Marini, Hieronymus 22f. Markgraf, Georg 27, 183f., 193 Marten, Thierry 208 Martius, Carl Friedrich Philipp von 264–266 Martyr de Angleria, Petrus 16, 30, 55, 70, 122, 165–169, 194 Marx, Karl 240 Massinger, Philip 226 Mather, Cotton 255 Maximilian I. 165 Medici, Cosimo I. de’ 194 Medici, Lorenzo di Pier Francesco de’ 16, 119 Melville, Herman 74, 262, 264 Mendieta, Jerónimo de 26 Menéndez de Avila, Pedro 72 Mercator, Hondius Janssonius 24, 36, 99 Merleau-Ponty, Maurice 33 Milton, John 267 Montaigne, Michel de 38, 145–157, 165, 190, 212, 220f., 226, 243, 248f., 262 Montezuma 163, 166 Morus, Thomas 12, 115, 156, 205–212, 214– 216, 220f., 226 Müller, Georg 144 Müller, Robert 272–279 Münster, Sebastian 22, 35

Register Narváez, Panfilo de 84, 95 Nash, Thomas 103 Nassau-Siegen, Johan Maurits von 26, 183– 185, 191f. Neukomm, Titus 92 Neville, Henri 227f. Nunes, Pedro 20 Ortelius, Abraham 24, 213 Oviedo, Gonzalo Fernández de 30f., 85, 136 La Pazzia 162 A. 89 Percy, George 73 Philipp II. von Spanien 26, 193f. Philipps, Miles 102 Pinxner, Andreas 234–236 Piso, Willem 27, 183, 193 Platon 148f., 208f. Platter, Felix 58 Plinius 21, 132f. Plutarch 147, 209 Pocahontas (Matoaka) 178–181 Pocci, Franz 264 Polydor Vergil 133 Porcacchi, Thomaso da Castiglione 204 Post, Frans 183f. Properz 147 Purchas, Samuel 12, 98f., 213 Ptolemäus 21 Quellinus, Erasmus II 196 Quiccheberg, Samuel 193, 201 A. 69 Quiroga, Vasco de 212 Rabelais, François 137, 139 Raleigh, Walter 73, 175, 199 A. 31 Ramusio, Giovanni Battista 12, 30 Rastell, John 12, 211 Rich, Richard 218 Rolfe, John 179f. Rousseau, Jean-Jacques 243, 260, 262, 265 Rowlandson, John 258 Rowlandson, Mary 255–259 Rudolf II. 194 Sahagún, Bernardino de 37 Saint-Pierre, Bernardin de 39 Santa Rita Durão, José de 72 Santángel, Luis de 80, 111 Schiller, Friedrich 39 Schmalkalden, Caspar 183f. Schmidel, Ulrich 83, 86, 90, 96, 163 Schrott, Raoul 40

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Seneca 148f. Sepp, Antonius 249 Seume, Johann Gottfried 39 Shakespeare, William 36, 170, 178, 203, 218– 226, 241, 243, 267 Smith, John 73f., 120, 179f., 219 Soares de Sousas, Gabriel 71 Soto, Hernando de 85 Spelman, Henry 75 Spix, Johann Baptist von 264 Springer, Balthasar 86 Staden, Hans 26, 57–71, 73, 75, 83, 85, 101– 103, 123–131, 133, 135–137, 139f., 150, 156, 190, 249 Strachey, William 217, 219 Swift, Jonathan 36, 228 Tacitus 17 Thevet, André 130–136, 139–141, 145f., 150, 156, 203 Titu Kusi Yupanki 13 Tocqueville, Alexis de 266–269, 278 Tournier, Michel 244 Trithemius, Johannes 42 A. 12 Trollope, Frances 269 Valentini, D. Michael Bernhard 195 Vasconcellos, Simão de 71 Velasco, López de 26 Verardus, Carolus 28 Vergil 21, 133, 147–149 Verstegan, Richard 142 Vespucci, Amerigo 16, 18, 21, 24, 37, 58, 105, 115, 118–124, 127, 140, 148, 168, 205, 207–209, 215 Villegagnon, Nicolas Durand de 130, 135, 141 Voltaire 74 Wagener, Zacharias 183–185, 190, 200 A. 61 Wagner-Buch 18 Weiditz, Christoph 169f. White, John 173, 217 White, Richard 32 Wick, Johann Jakob 173 Wickram, Jörg 218 Williams, Roger 26 Worm, Ole 192f. Zeno, Nicolò 212–216, 220

Historische Semantik Band 1: Egon Flaig Ritualisierte Politik

Band 6: Matthias Müller Das Schloß als Bild des Fürsten

Zeichen, Gesten und Herrschaft im Alten Rom

Herrschaftliche Metaphorik in der Residenzarchitektur des Alten Reichs (1470–1618)

2. Auflage 2003. 288 Seiten, gebunden ISBN 3-525-36700-7 E. Flaigs innovative Studie behandelt politische Rituale, Gesten und Performanzen der römischen Senatoren und ihre Interaktion mit dem Volk.

Band 3: Mireille Schnyder Topographie des Schweigens Untersuchungen zum deutschen höfischen Roman um 1200 2003. 447 Seiten, gebunden ISBN 10: 3-525-36701-5 Grundmuster der Schweigewahrnehmung und ihre Darstellungsformen im deutschen höfischen Roman um 1200.

Band 4: Thomas Maissen Die Geburt der Republic Staatsverständnis und Repräsentation in der frühneuzeitlichen Eidgenossenschaft 2006. Ca. 464 Seiten mit 48 Abb., gebunden ISBN 3-525-36706-6 Thomas Maissen untersucht am schweizerischen Beispiel den Übergang vom Reichsverständnis und Reichsrecht zum westlichen Staats- und Völkerrecht und stellt die gesellschaftlichen Träger des Prozesses vor, der den souveränen Staat schuf.

2004. 560 Seiten mit 208 Abb., gebunden ISBN 3-525-36705-8 Die ästhetische Vergegenwärtigung fürstlichen Regententums im Medium der Schlossbaukunst des Alten Reichs.

Band 7: Marion Oswald Gabe und Gewalt Studien zur Logik und Poetik der Gabe in der frühhöfischen Erzählliteratur 2004. 372 Seiten, gebunden ISBN 3-525-36707-4 Aus interdisziplinärer Perspektive wird der diskursive Zusammenhang von ›Gabe und Gewalt‹ untersucht.

Band 8: Christel Brüggenbrock Die Ehre in den Zeiten der Demokratie Das Verhältnis von athenischer Polis und Ehre in klassischer Zeit 2006. Ca. 384 Seiten, gebunden ISBN 3-525-36708-2 Die Arbeit analysiert das ehrenhafte Verhalten athenischer Bürger in der demokratischen Polis in klassischer Zeit.