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German Pages 80 [88] Year 1932
Das Verbrechen
als Ausdrucksform sozialer Entmutigung Eine einführende Betrachtung über das Werden und die Behandlung der kriminellen Persönlichkeit auf Grund der Erkenntnisse der modernen Psychologie
Von
Dr. Eugen Schmidt Rechtsanwalt in München.
1931 München, J. S c h w e i t z e r
Berlin Verlag
und
Leipzig
(Ärthur
Sellier).
Druck von Dr. F. P. Datterer t Cie., F r e i s i n g - M ü n c h e n
Inhaltsverzeichnis. Seite
Einleitung I. Moderne Psychologie II. Entstehung von Verbrechen III Analyse eines Schwurgerichtsfalles IV. Alfred Döblin, Berlin—Alexanderplatz V. Der Sexualverbrecher VI. Strafvollzug
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Einleitung. Vor mir liegt das Werk von H e l b i n g - B a u e r , Die Tortur 1 , dem ich folgenden Teil eines Berichts aus der Hinrichtung eines Attentäters im 18. Jahrhundert entnehme: „Bei jedem Zuschnappen der Zange stieß er einen Schmerzensschrei aus; aber wie er beim Verbrennen der Hand getan, betrachtete er jedesmal die Wunde, und der Schrei hörte auf, sobald die Zange zurückgezogen war. Endlich schritt man dazu, Beine und Schenkel an die Pferde zu befestigen. Diese Vorbereitung dauerte lange. Da die notwendigerweise festgeschnürten Stricke in die frischen Wunden schnitten, entlockte ihm das neue Schmerzenslaute. Dennoch hinderte dies den Unglücklichen nicht, sich immer mit derselben Neugier zu betrachten. Die gepeitschten Pferde zogen an. Es war der entsetzlichste Schrei, den man aus dem Munde des Opfers gehört. Die Glieder wurden zu einer unglaublichen Länge gedehnt, aber sie rissen nicht. Die Tiere waren jung und stark, eigens dazu ausgesucht, aber obwohl sie sich mehr als eine Stunde bemühten, wollte der Körper nicht auseinander. Nun spannte man 6 Pferde vor. Auch dies war vergeblich. Da traten die Ärzte und Wundärzte zusammen und erklärten, die Kraft der Pferde würden die Glieder ins Unendliche und Unförmliche recken und dehnen, ohne daß sie doch stark genug wären, ihn wirklich auseinanderzureißen, falls man sich nicht entschließe, die Hauptsehnen zu durchschneiden. Präsident und Kommissare traten zusammen und berieten. Das Gutachten der Ärzte war nicht zu widerlegen. Zudem wurde es schon dunkel. Es war ein Schauspiel, das jeder sehen sollte, zur Abschreckung und Warnung; in der Nacht hätte man das nicht vermocht. Sie erteilten also den Befehl, mit Stahlmessern die Trennung zu erleichtern. Darauf zerschnitt man die Sehnen an den Schultern und Hüften. Damiens war noch nicht tot. Seine gläsernen Augen stierten auf die neue Operation. Er behielt noch das Bewußtsein, wird uns berichtet, bis die beiden Schenkel und ein Schultergelenk durchschnitten waren. Zum Schreien schien ihm die Lungenkraft ausgegangen zu sein. Man spannte die Pferde an und zuerst löste sich ein Schenkel. Das Volk klatschte in die Hände. Erst bei der Trennung des zweiten Armes vom Rumpfe verschied er." 1
H e l b i n g - B a u e r , D i e Tortur, Verlegt bei Dr. P. Langenscheidt Berlin. 1926. S c h m i d t , Verbrechen. 1
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Einleitung.
Vor mir liegt ferner der Entwurf eines allgemeinen deutschen Strafgesetzbuches, in dessen Begründung die Frage aufgeworfen ist, ob es richtig sei, das Verbrechen als Tatsache hinzunehmen und gerechte Vergeltung zu üben, oder ob nicht vielmehr nach den Gründen, aus denen das Verbrechen entstand, geforscht werden und ihnen planmäßig entgegengewirkt werden müsse, um nach Möglichkeit Verbrechen zu verhüten und in welcher der Ansicht Ausdruck gegeben wird, daß nach den heute noch geltenden Gesetzen Strafen und insbesondere Freiheitsstrafen in zu weitem Umfange und ohne genügende Rücksicht darauf verhängt werden, ob die Tatsache der Bestrafung und der Vollzug der Strafe nicht auf die weitere Entwicklung der Verurteilten unheilvoll einwirken und so der Gesellschaft einen dauernden Schädling entstehen lassen. Es bedarf demnach keiner weiteren Ausführungen darüber, daß die Entwicklung von Strafrecht und Strafvollzug von der Tortur in jeder Form, und sei es auch von der Zufügung von Leid unter dem Gesichtspunkte der gerechten Vergeltung, abrückt und darauf ausgeht, den Kriminellen zu „bessern" und die Gesellschaft vor Schädigungen zu schützen. Die außerordentlichen Fortschritte, die auf dem Gebiete der Psychologie in den letzten Jahrzehnten gemacht wurden, sind in der Strafrechtspflege und im Strafvollzug bisher nicht in genügender Weise zur Geltung gekommen. Schuld daran traf zum Teil das herrschende Strafgesetz, das einer früheren Epoche entstammt. Das kommende Strafgesetzbuch wird diese Schranken vielfach beseitigen. Die Beschäftigung mit der Psychologie als einer Hilfswissenschaft der Kriminaljurisprudenz wird für jeden am Strafgericht oder im Strafvollzug tätigen Juristen eine unerläßliche Notwendigkeit sein. Sie sollte es heute schon sein! Diese Schrift stellt den Versuch dar, ein den modernen psychologischen Anschauungen entsprechendes Bild über das Werden der kriminellen Persönlichkeit zu zeichnen und damit zu einer diesen Erkenntnissen entsprechenden fruchtbaren Arbeit in Strafrechtspflege und Strafvollzug beizutragen. München, Silvester 1930. Der Verfasser.
I. Moderne Psychologie. Unsere Zeit drängt krampfhaft nach neuen Lösungen. Eine Krise löst die andere ab. Krisen der Weltanschauungssysteme, Krisen der Wirtschaftssysteme, Krisen der politischen Systeme. Und in kaum irgendeiner dieser Krisen scheint sich schon jetzt ein klarer Weg nach vorwärts zu eröffnen. Ein Kulturpessimismus schlimmster Art ist über uns hereingebrochen, dessen Auswirkungen uns immer mehr dazu antreiben, nach Wegen Ausschau zu halten, die uns, sei es auf welchen Gebieten auch immer, eine gesunde Fortentwicklung versprechen. Und es gibt in der Tat solche Gebiete, auf die derjenige, der noch nicht alle Hoffnung aufgegeben hat, Pessimisten und Skeptiker verweisen kann. Das eine Gebiet ist das Gebiet der Technik, das den Vorzug hat, daß hier mit Quantitäten, Maßen und Zahlen aufgewartet werden kann, die man nun nicht so einfach mit Gegenargumenten totschlagen kann. Das andere Gebiet aber ist die moderne Psychologie, die mit den Namen B r e u e r , F r e u d , A d l e r , J u n g unlösbar verbunden ist. Gegenüber den gewiß nicht zu unterschätzenden Ergebnissen der Schul- oder Experimentalpsychologie bedeutet die moderne Psychologie, wie sie die Obengenannten begründet haben, eine umwälzende Neuerung. Wenn wir die charakteristischen Gesichtspunkte dieser Umwälzung herausgreifen wollen, so handelt es sich wohl um folgende: 1. Die Entdeckung der Bedeutung des Unbewußten, bzw. des Unterbewußtseins. Die moderne Psychologie hat uns gelehrt, daß neben den Bewußtseinsvorgängen, denen vor allem bisher die Experimentalpsychologie ihre Aufmerksamkeit zugewendet hatte, das Unbewußte oder Unterbewußtsein eine ganz hervorragende Rolle spielt. Und daß viele seelische Vorgänge, die bisher einer Bewußtseinspsychologie unerklärlich blieben, dieser — wenn wir sie so nennen dürfen — Unterbewußtseinspsychologie mit einem Schlage verständlich wurden. 2. Die moderne Psychologie ist eine Ganzheitspsychologie, d. h. eine Psychologie, die die ganze Persönlichkeit als solche erfaßt und sie nicht, wie etwa die Schul- oder Experimentalpsychologie als ein Bündel von Gefühlen, Trieben und Vorstellungen auffaßt, aus dem einzelne Stücke gewissermaßen nach Belieben herausgenommen werden können. Diese neue Psychologie ist eine Psychologie des Lebens und erscheint so als eine Wissenschaft in dem Stile 1*
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unserer Zeit, in welcher ja auch in der Philosophie der Wert des Lebens trotz der Bekämpfung durch R i c k e r t eine solch außerordentliche Bedeutung gewonnen hat 1 . Wenn wir auf eine leichtfaßliche Art und Weise in die Eigenart dieser neuen Psychologie Einblick gewinnen wollen, so geschieht dies wohl am besten an der Hand des Werkes von Sigm. F r e u d , „Zur Psychopathologie des Alltaglebens" 2 . In diesem Werk weist F r e u d in eben so witziger wie scharfsinniger Weise darauf hin, daß all die kleinen Fehlleistungen des Alltags: Vergessen, Versprechen, Verlesen, Verschreiben, Vergreifen und sonstige Irrtümer nicht etwa bloß Zufälligkeiten sind, als welche sie die oberflächliche Betrachtung hinnimmt, sondern in allen diesen Fehlleistungen eine ganz bestimmte Tendenz zum Ausdruck kommt. Aus der Fülle von Beispielen, die in diesem Buche enthalten sind, greife ich zur Veranschaulichung folgende heraus: „ F e r e n z i erzählt: Als ich Prüfung aus Philosophie als Nebengegenstand machte, wurde ich vom Examinator nach der Lehre Epikurs gefragt, und dann weiter, ob ich wisse, wer dessen Lehre in späteren Jahrhunderten wieder aufgenommen habe. Ich antwortete mit dem Namen Pierre Gassendi, den ich gerade zwei Tage vorher im Café als Schüler Epikurs hatte nennen hören. Auf die erstaunte Frage, woher ich das wisse, gab ich kühn die Antwort, daß ich mich seit langem für Gassendi interessiert habe. Daraus ergab sich ein magna cum laude fürs Zeugnis, aber leider auch für später eine hartnäckige Neigung, den Namen Gassendi zu vergessen. Ich glaube, mein schlechtes Gewissen ist schuld daran, wenn ich diesen Namen allen Bemühungen zum Trotz jetzt nicht behalten kann. Ich hätte ihn ja auch damals nicht wissen sollen. Will man die Intensität der Abneigung gegen die Erinnerung an diese Prüfungsepisode bei unserem Gewährsmann richtig würdigen, so muß man erfahren haben, wie hoch er seinen Doktortitel anschlägt, und für wieviel anders ihm dieser Ersatz bieten muß." — „In einer kleinen Gesellschaft von Akademikern, in der sich auch zwei Studentinnen der Philosophie befanden, sprach man von den zahlreichen Fragen, welche der Ursprung des Christentums der Kulturgeschichte und Religionswissenschaft aufgibt. Die eine der jungen Damen, welche sich am Gespräch beteiligte, erinnerte sich, in einem englischen Roman, den sie kürzlich gelesen hatte, ein anziehendes Bild der vielen religiösen Strömungen, welche jene Zeit bewegten, gefunden zu haben. Sie fügte hinzu, in dem Roman werde das ganze Leben Christi von der Geburt bis zu seinem Tode geschildert, doch wollte ihr der 1 Heinr. R i c k e r t , Die Philosophie des Lebens. Darstellung und Kritik der philosophischen Modeströmung unserer Zeit, Tübingen 1920. 2 Internationaler Psychoanalytischer Verlag Leipzig/Wien/Zürich 1924.
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Name der Dichtung nicht einfallen (die visuelle Erinnerung an den Umschlag des Buches und an das typographische Bild des Titels war überdeutlich). Auch drei von den anwesenden Herren behaupteten, den Roman zu kennen, und bemerkten, daß auch ihnen sonderbarerweise der Name nicht zur Verfügung stehe . . . Nur die junge Dame unterzog sich der Analyse zur Aufklärung dieses Namensvergessens. Der Titel des Buches lautete: Ben Hur (von Lewis Wallace). Ihre Ersatzeinfälle waren: Ecce homo — homo sum — quo vadis? gewesen. Das Mädchen verstand selbst, daß sie den Namen vergessen, ,weil er einen Ausdruck enthält, den ich und jedes andere junge Mädchen — noch dazu in Gesellschaft junger Leute — nicht gern gebrauchen wird'. Diese Erklärung fand durch die sehr interessante Analyse eine weitere Vertiefung. In dem einmal berührten Zusammenhang hat ja auch die Übersetzung von homo, Mensch, eine anrüchige Bedeutung. R e i k schließt nun: Die junge Dame behandelt das Wort so, als ob sie sich mit dem Aussprechen jenes verdächtigen Titels vor jungen Männern zu den Wünschen bekannt hätte, die sie als ihrer Persönlichkeit nicht gemäß und als peinlich abgewiesen hat. Kürzer gesagt: unbewußt setzt sie das Aussprechen von ,Ben Hur' einem sexuellen Angebot gleich und ihr Vergessen entspricht demnach der Abwehr einer unbewußten Versuchung dieser Art. Wir haben Grund zur Annahme, daß ähnlich unbewußte Vorgänge das Vergessen der jungen Männer bedingt haben. Ihr Unbewußtes hat das Vergessen des Mädchens in seiner wirklichen Bedeutung erfaßt und es . . . gleichsam g e d e u t e t . . . Das Vergessen der Männer stellt eine Rücksicht auf solch abweisendes Verhalten dar . . . Es ist so, als hätte ihnen ihre Gesprächspartnerin durch ihre plötzliche Gedächtnisschwäche einen deutlichen Wink gegeben, den die Männer unbewußt wohl verstanden hätten." — „Auf absichtliche Zurückhaltung geht das nachstehende Beispiel von Versprechen zurück. Ich treffe einmal in den Dolomiten mit zwei Damen zusammen, die als Touristinnen verkleidet sind. Ich begleite sie ein Stück weit und wir besprechen die Genüsse, aber auch die Beschwerden der touristischen Lebensweise. Die eine der Damen gibt zu, daß diese Art, den Tag zu verbringen, manches Unbequeme hat. ,Es ist wahr', sagt sie, ,daß es gar nicht angenehm ist, wenn man so in der Sonne den ganzen Tag marschiert und Bluse und Hemd ganz durchgeschwitzt sind.' In diesem Satze hat sie einmal eine kleine Stockung zu überwinden. Dann setzt sie fort: ,Wenn man aber dann nach Hose kommt und sich umkleiden kann . . I c h meine, es bedurfte keines Examens, um dieses Versprechen aufzuklären. Die Dame hatte offenbar die Absicht gehabt, die Aufzählung vollständiger zu halten und zu sagen: Bluse, Hemd und Hose. Dies dritte Wäschestück zu nennen, unterdrückte sie dann aus
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Gründen der Wohlanständigkeit. Aber im nächsten, inhaltlich unabhängigen Satz setzte sich das unterdrückte Wort als Verunstaltung des ähnlichen Wortes ,nach Hause' wider ihren Willen durch." — „Ein junger Mann sagt zu seiner Schwester: Mit den D. bin ich ganz zerfallen, ich grüße sie nicht mehr. Sie antwortet: Überhaupt eine saubere Lippschaft. Sie wollte sagen: Sippschaft, aber sie drängte noch zweierlei in dem Sprechirrtum zusammen, daß ihr Bruder einst selbst mit der Tochter dieser Familie einen Flirt begonnen hatte, und daß es von dieser hieß, sie habe sich in letzter Zeit in eine ernsthafte unerlaubte Liebschaft eingelassen." — „Bei welcher Waffe befindet sich Ihr Herr Sohn? wird eine Dame gefragt. Sie antwortet: ,Bei den 42er Mördern'." — „Leutnant H e n r i k H a i m a n n schreibt aus dem Felde: ,Ich werde aus der Lektüre eines fesselnden Buches herausgerissen, um für einen Moment den Aufklärungstelephonisten zu vertreten. Auf die Leitungsprobe der Geschützstation reagiere ich mit: Kontrolle richtig, Ruhe. Reglementmäßig sollte es lauten: Kontrolle richtig, Schluß. Meine Abweichung erklärt sich durch den Ärger über die Störung im Lesen." — „,Diesen neuen, reizenden Hut haben Sie wohl sich selbst aufgepatzt' ? sagte eine Dame in bewunderndem Tone zu einer anderen. — Die Fortsetzung des beabsichtigten Lobes mußte nunmehr unterbleiben; denn die im Stillen geübte Kritik, der Hutaufputz sei eine ,Patzerei', hatte sich denn doch viel zu deutlich in dem unliebsamen Versprechen geäußert, als daß irgendwelche Phrasen konventioneller Bewunderung noch glaubwürdig erschienen wären." — „Als Patient eines (Lungen-)Sanatoriums erfahre ich zu meinem Bedauern, daß bei einem nahen Verwandten dieselbe Krankheit konstatiert wurde, die mich zur Aufsuchung einer Heilanstalt genötigt hat. In einem Briefe lege ich nun meinen Verwandten nahe, zu einem Spezialisten zu gehen, einem bekannten Professor, bei dem ich selbst in Behandlung stehe, und von dessen medizinischer Autorität ich überzeugt bin, während ich andererseits allen Grund habe, seine Unhöflichkeit zu beklagen; denn der betreffende Professor hat mir — erst kurze Zeit vorher — die Ausstellung eines Zeugnisses verweigert, das für mich von großer Wichtigkeit war. In der Antwort auf meinen Brief werde ich von meinem Verwandten auf einen Schreibfehler aufmerksam gemacht, der mich, da ich seine Ursache augenblicklich erkannte, außerordentlich erheiterte. Ich hatte in meinem Schreiben folgenden Passus verwendet: übrigens rate ich Dir, ohne Verzögerung Professor X zu insultieren.' Natürlich hatte ich konsultieren schreiben wollen. — Es bedarf vielleicht des Hinweises darauf, daß meine Latein- und Französischkenntnisse die Erklä-
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rung ausschalten, daß es sich um einen aus Unwissenheit resultierenden Fehler handelte." — „ F r e u d erzählt von sich: Mein Tintenzeug besteht aus einer Platte von Untersberger Marmor, die für die Aufnahme des gläsernen Tintenfäßchens ausgehöhlt ist; das Tintenfaß trägt einen Deckel mit Knopf aus demselben Stein. Ein Kranz von Broncestatuetten und Terrakottafigürchen ist hinter diesem Tintenzeug aufgestellt. Ich setze mich an den Tisch, um zu schreiben, mache mit der Hand, welche den Federstiel hält, eine merkwürdig ungeschickte, ausfahrende Bewegung und werfe so den Deckel des Tintenfasses, der bereits auf dem Tische lag, zu Boden. Die Erklärung ist nicht schwer zu finden. Einige Stunden vorher war meine Schwester im Zimmer gewesen, um sich einige neue Erwerbungen*anzusehen. Sie fand sie sehr schön und äußerte dann: J e t z t sieht Dein Schreibtisch wirklich hübsch aus, nur das Tintenzeug paßt nicht dazu. Du mußt ein schöneres haben.' Ich begleitete die Schwester hinaus und kam erst nach Stunden zurück. Dann aber habe ich, wie es scheint, an dem verurteilten Tintenzeug die Exekution vollzogen. Schloß ich etwa aus den Worten der Schwester, daß sie sich vorgenommen habe, mich zur nächsten festlichen Gelegenheit mit einem schöneren Tintenzeug zu beschenken und zerschlug das unschöne alte, um sie zur Verwirklichung ihrer angedeuteten Absicht zu nötigen ? Wenn dem so ist, so war meine schleudernde Bewegung nur scheinbar ungeschickt; in Wirklichkeit war sie höchst geschickt und zielbewußt und verstand es, allen wertvolleren, in der Nähe befindlichen Objekten schonend auszuweichen." — Wir ersehen aus all diesen Beispielen, daß diese anscheinenden Zufälligkeiten alle ihren ganz bestimmten Sinn und ihren ganz bestimmten Zweck haben, daß also offenbar das Unterbewußtsein der Persönlichkeit ein höchst sinnvolles und zweckmäßig eingerichtetes Organ sein muß. S i g m . F r e u d arbeitete in seinen jungen Jahren als Assistent bei dem Forscher C h a r c o t i n Paris, dem es gelungen war,bei hypnotischen Experimenten Lähmungen, Brandnaben, die über das Erwachen aus dem hypnotischen Schlaf hinaus anhielten, an Personen hervorzubringen. Es war C h a r c o t damit also gelungen, körperliche Merkmale, wie sie in der Hysterie vorkommen, nach seinem Belieben durch hypnotische Beeinflussung zu erzeugen. Dies brachte C h a r c o t zur Erkenntnis, daß der Hysterie keine auf organische Leiden beruhende, sondern eine auf seelische Ursachen zurückzuführende (psychogene) Krankheit sei. Inzwischen hatte Dr. B r e u e r in Wien, dessen Name ganz zu Unrecht in letzter Zeit in den Hintergrund getreten ist, ein Verfahren zur Behandlung von Hysterischen ausgearbeitet. Er ließ die Patienten in der Hypnose Erinnerungen an die Entstehung ihrer Krankheit in freien Gedankenreihen bringen. Dadurch gelang es, gewisse seelische Eindrücke
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(damals vielfach mit dem Namen Trauma bezeichnet) den Patienten wieder ins Bewußtsein zurückzuführen und zu verarbeiten. Durch das Bewußtwerden und die Verarbeitung der bisher im Unbewußten wirkenden und daher nicht kontrollierbaren Eindrücke, wurden die Patienten ihre hysterischen Symptome los. Das charakteristischste von B r e u e r gebrauchte Beispiel ist wohl folgendes: Ein junges Mädchen litt an hysterischen Erscheinungen. Sie hatte insbesondere heftige Widerstände dagegen, ein Glas Wasser zu trinken. Bei der Behandlung ergab sich: Das junge Mädchen hatte in seiner Kinderzeit eine Gouvernante, welche sie nicht leiden konnte. Diese Gouvernante hatte die unangenehme Gewohnheit, ihrem kleinen Hündchen aus einem Glas Wasser zu trinken zu geben. Dadurch hatte sich in dem jungen Mädchen ein außerordentlicher Widerwille festgesetzt, an dessen Ursachen sie sich aber später nicht mehr erinnern konnte. Es verblieb als bewußte Erscheinung der Widerwille gegen das Glas Wasser. Als in der Behandlung die Ursache des Widerwillens, klar aufgezeigt werden konnte, verschwand dieses hysterische Symptom. Dieses Beispiel zeigt deutlich das Typische der von F r e u d sogenannten psychoanalytischen Methode, welches darin besteht, durch Bewußtmachung bisher unbewußter Vorstellungen Verarbeitung dieser Vorstellungen und damit Heilung zu erzielen. Wenden wir uns nunmehr dem System F r e u d s , der P s y c h o a n a l y s e , zu. Wie wir schon aus der „Psychopathologie des Alltags" ersehen haben, hat F r e u d gezeigt, daß Inhalte des Unterbewußtseins durch Verdrängung geschaffen werden. Eindrücke, die der Persönlichkeit in irgendeiner Weise unangenehm sind, werden beiseite geschoben, ins Unbewußte verdrängt. Damit ist diese Persönlichkeit dieser unangenehmen Eindrücke und damit auch der Notwendigkeit ihrer Verarbeitung zunächst wenigstens enthoben; zunächst nur, — wie wir sehen, da diese Eindrücke trotz ihrer Verdrängung ins Unterbewußtsein immer noch, wirksam sind. Nach der Auffassung F r e u d s , über deren Berechtigung noch zu sprechen sein wird, besteht die Ursache der Verdrängung in sexuellen Wünschen dieser Persönlichkeit. Es handelt sich hier um gewisse anormale sexuelle Wünsche der Persönlichkeit, wie autoerotische (Selbstbefriedigungswünsche) oder inzestuöse (blutschänderische Wünsche). Allerdings ist der Weg der Verdrängung dieser Wünsche, die in einem gewissen Stadium in jeder Persönlichkeit vorkommen, nicht der einzige. Der Normale verarbeitet seine Wünsche und überwindet sie. Der Perverse realisiert seine Wünsche und erlangt so Befriedigung. Allein der Nervöse wählt den Weg der Verdrängung. Für die Bezeichnung der inzestuösen Wünsche hat F r e u d das
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Schlagwort vom „Ödipus-Komplex" geprägt. Ödipus' Vater, ein griechischer König, erhält vor der Geburt seines Sohnes geweissagt, daß dieser Sohn seinen Vater erschlagen und seine Mutter heiraten würde. Aus Furcht vor dieser Weissagung läßt er seinen Sohn gleich nach der Geburt aussetzen; dieser wird aber von mildtätigen Hirten gefunden und aufgezogen. Der mannbar gewordene Ödipus begibt sich auf die Wanderschaft. Unterwegs trifft er auf einen Wagen mit einem Greis. Als Ödipus nicht rechtzeitig aus dem Weg geht, schlägt der Greis mit dem Stock nach ihm. Ödipus, darüber ergrimmt, tötet den Greis. Er kommt nach seiner Heimatstadt Theben, vor deren Toren die Sphinx ihr Unwesen treibt. Jeder Mann, der bei ihr vorbeikommt, muß drei Rätsel lösen. Kann er dies nicht, wird er von ihr zerrissen. Ödipus gelingt es, die Rätsel zu lösen; die Sphinx verschwindet, ödipus wird der Befreier Thebens und ehelicht die verwitwete Königin, seine Mutter. Als Ödipus später diesen grauenvollen Zusammenhang erfährt, blendet er sich. Durch die Wortwahl F r e u d s ist der Name ödipus zum Symbol für Inzestneigung geworden. Warum ist Verdrängung nötig? Nach der Erklärung F r e u d s deswegen, weil die Not des Lebens der Lustgewinnung große Schwierigkeiten bereitet. Dem Trieb zur Lustgewinnung tritt die Notwendigkeit der Selbsterhaltung entgegen. Während früher in paradiesischen Zeiten unbeschränkte Lustgewinnung möglich war, erwachsen dieser in fortschreitender Kultur immer erneute Schwierigkeiten und Beschränkungen. Hie Lustgewinnung, hie Selbsterhaltung! Schon hier kommt ein später noch mehr in den Vordergrund tretender Kulturpessimismus F r e u d s zur Geltung. Kultur als Erschwerung der Lustgewinnung, als Beeinträchtigung der ungebrochenen Kraft der Persönlichkeit. Die Libido, das Streben nach sexueller Befriedigung, macht nach F r e u d in der Entwicklung der Persönlichkeit folgende Perioden durch: 1. P e r i o d e : Der Säugling findet Befriedigung im Saugen an der Mutterbrust, ferner in der Harn- und Stuhlentleerung. 2. P e r i o d e : Periode der Selbstbefriedigung, Lutschen an gewissen Körperteilen, Betasten, Greifen. 3. P e r i o d e : Inzestuöse Periode, Wünsche, den Vater als Gatten zu haben, die Mutter zur Gattin zu haben. 4. P e r i o d e : Zweite Selbstbefriedigungsperiode. 5. P e r i o d e : Periode des normalen geschlechtlichen Verkehrs. Das ist nach F r e u d die normale Entwicklung der Libido, jedoch geht die Entwicklung nicht immer diesen normalen Gang. Es kommt mitunter zu Fixierungen oder zu Regressionen. Eine Fixierung, eine Festlegung, wenn die Libido aus irgendwelchen Gründen in einem Punkte ihrer Entwicklung stehen geblieben ist, sei es bei der Selbst-
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befriedigung oder bei der sexuellen Liebe zu Vater oder Mutter oder sonstwo. Es kann aber auch vorkommen, daß das eintritt, was F r e u d mit „äußerer Versagung" bezeichnet: Der normalen Befriedigung stehen gewisse nicht oder nur schwer zu überwindende Hindernisse entgegen. In solchen Fällen wird es häufig vorkommen, daß nun der Rückzug (Regression) zu früheren Entwicklungsstadien angetreten wird. Damit erklärt F r e u d Perversionen und die Unfähigkeit zum normalen Geschlechtsverkehr. Die Erschwerung der Lustgewinnung muß das Kind schon in frühester Jugend erfahren, wenn ihm die Mutterbrust entzogen wird und wenn es sich an regelrechte Harn- und Stuhlentleerung gewöhnen muß. Mit diesem Hinweis verbindet sich bei F r e u d schon der Gedanke an die große Bedeutung der Kindheitserlebnisse, deren Auffindung mir gleichfalls ein hervorragendes Merkmal der modernen Psychologie zu sein scheint. Ein wichtiges Mittel, den Konflikt der Libido mit dem Trieb zur Selbsterhaltung (Ichtrieb) zu lösen, ist für F r e u d die sogenannte Sublimierung (Vergeistigung der Libido). Aus der sublimierten Libido sind nach F r e u d Kunst, Wissenschaft, Humanität entstanden. Der ganze Bau unserer Kultur ist nach F r e u d ein Produkt dieser sublimierten Libido, eine Auffassung, die wiederum eine Stütze des bereits erwähnten F r e u d s c h e n Kulturpessimismus darstellt. Die Forschungen F r e u d s haben — wie schon so oft wissenschaftliche Forschungen — uralte Volksweisheit wieder zu Ehren gebracht. Ich habe hier die Forschung F r e u d s auf dem Gebiet der Traumdeutung im A u g e 3 . Im Volke ist ja niemals der Gedanke auszurotten gewesen, daß Träume keine Schäume, sondern bedeutungsvolle Vorgänge darstellen. Diese uralte Erkenntnis ist durch F r e u d s Traumdeutung bestätigt worden. Während die Schulpsychologie mit den Träumen nichts anderes anzufangen wußte, als sie als das Ergebnis einer zerbröckelten Gehirntätigkeit darzustellen, hat die geniale Einsicht F r e u d s uns hier neue Erkenntnisgebiete geschaffen. Das E r g e b n i s der in seinem Werke „ D i e Traumdeutung" beschriebenen Forschung faßt F r e u d in dem Satz zusammen: Jeder Traum ist eine Wunscherfüllung. Um diese These darzulegen, entnehme ich dem Werk von F r e u d den als erstes Beispiel wiedergegebenen eigenen Traum F r e u d s : „Eine große Halle — viele Gäste, die wir empfangen. — Unter ihnen Irma, die ich sofort beiseite nehme, um gleichsam ihren Brief zu beantworten, ihr Vorwürfe zu machen, daß sie die Lösung noch nicht akzeptiert. Ich sage ihr: ,Wenn Du mal Schmerzen hast, so ist es wirklich nur Deine Schuld.' — Sie antwortet: ,Wenn Du wüßtest, was ich für 3
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Sigm. F r e u d ,
Die Traumdeutung, Franz Deuticke, Leipzig
und
Wien
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Schmerzen jetzt habe, im Hals, Magen und Leib, es schnürt mich zusammen.' — Ich erschrecke und sehe sie an. Sie sieht bleich und gedunsen aus; ich denke, am Ende übersehe ich doch etwas Organisches. Ich nehme sie zum Fenster und schaue ihr in den Hals, dabei zeigt sie etwas Sträuben, wie die Frauen, die ein künstliches Gebiß tragen. Ich denke mir, sie hat es doch nicht nötig. — Der Mund geht dann auch gut auf und ich finde rechts einen großen weißen Fleck und anderwärts sehe ich an merkwürdigen krausen Gebilden, die offenbar den Nasenmuscheln nachgebildet sind, ausgedehnte, weißgraue Schorfe. — Ich rufe schnell Dr. M. hinzu, der die Untersuchung wiederholt und bestätigt . . . Dr. M. sieht ganz anders aus als sonst; er ist sehr bleich, hinkt, ist am Kinn bartlos . . . Mein Freund Otto steht jetzt auch neben ihr und Freund Leopold perkutiert sie über dem Leibchen und sagt: ,Sie hat eine Dämpfung links unten', weist auch auf eine infiltrierte Hautpartie an der linken Schulter hin (was ich trotz des Kleides — wie er — spüre) . . . M. sagt: ,Kein Zweifel, es ist eine Infektion, aber es macht nichts, es wird noch Dysenterie hinzukommen und das Gift sich ausscheiden' . . . Wir wissen auch unmittelbar, woher die Infektion rührt. Freund Otto hat ihr unlängst, als sie sich unwohl fühlte, eine Injektion gegeben mit einem Propylpräparat, Propylen . . . Propionsäure . . . Trimethylamin (dessen Form ich fettgedruckt vor mir sehe) . . . Man macht solche Injektionen nicht so leichtfertig . . . Wahrscheinlich war auch die Spritze nicht rein." Wir sehen in diesem Traum verkörpert die Unzufriedenheit F r e u d s , daß eine Patientin noch nicht gesund geworden ist, die Befürchtung, er möchte irgend etwas bei dieser Patientin übersehen oder versäumt haben, endlich die Befreiung dadurch, daß sich herausstellt, daß ein ungeschickter Eingriff von dritter Seite an dem noch vorhandenen Leiden der Patientin schuld ist. Wunscherfüllung! F r e u d s geniale Entdeckungen haben uns außerordentliche und unerwartete neue Einblicke verschafft. Sie haben eine Umwälzung auf dem Gebiet der Psychologie mit sich gebracht. Sie sind in ihrer Mehrheit von bleibendem Wert. Zu diesen bleibenden Ergebnissen F r e u d s c h e r Forschung rechne ich in erster Linie die Entdeckung des Sinnvollen in fast allen menschlichen Handlungen. Das Gebiet des Zufälligen wird eingeschränkt. Menschliche Handlungen sehen nur so aus, als ob sie zufällig wären, in Wirklichkeit sind sie es nicht. Früher unerklärliche Symptome und Phänomen erhalten plötzlich einen Sinn aus dem Streben der Persönlichkeit heraus, erscheinen plötzlich als äußerst zweckmäßig, um nicht zu sagen raffiniert, während die Schulpsychologie an den einzelnen Symptomen hängen blieb, ein Verständnis für diese nicht gewinnen konnte. Das zweite wichtige Ergebnis F r e u d scher Forschung ist die Entdeckung der Bedeutung des Unbewußten oder Unterbewußt-
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seins und der Bedeutsamkeit der dort wirkenden Kräfte, während man sich vordem ganz offenbar einer Überschätzung der Kräfte des bewußten Willens und der bewußten Überlegung hingegeben hatte. F r e u d hat gezeigt, daß zur Erkenntnis der Persönlichkeit in ganz andere Tiefen der Seele hineingeleuchtet werden muß. Gleichzeitig hat F r e u d in Traumdeutung und Psychoanalyse eine Technik geschaffen, die es uns ermöglicht, dem Unbewußten durch Deutung der Träume und Bildung freier Assoziationsreihen nahe zu kommen. Endlich ist es ein unverkennbares Verdienst F r e u d s , auf die Bedeutsamkeit allererster Kindheitserlebnisse hingewiesen zu haben. Dagegen wird die Erklärung F r e u d s über die Ursache der Verdrängung sich auf die Dauer nicht als richtig erweisen können. Die Ursachen der Verdrängung sind nicht oder nicht nur unerfüllbar sexuelle Wünsche. Anscheinend sexuelle Wünsche sind häufig nur das Gewand, in dem sich ein viel allgemeineres Streben der menschlichen Persönlichkeit, das Streben nach Macht, verkleidet. Wenn sich dieses Streben nach Macht häufig, weil leicht zur Verfügung stehend, sexueller Form bedient, so dürfen diese Formen nicht mit dem Streben selbst verwechselt werden. Damit kommen wir aber schon zu dem Lebenswerke A l f r e d A d l e r s . A l f r e d A d l e r gehörte lange Jahre der psychoanalytischen Schule S i g m . F r e u d s an. F r e u d s und A d l e r s Wege trennten sich, als F r e u d nach einem Vortrag A d l e r erklärte, daß die in diesem Vortrag entwickelten Anschauungen sich mit den Anschauungen der psychoanalytischen Schule nicht mehr vertrügen. Dies hatte den Austritt A l f r e d A d l e r s und seiner Freunde aus den Reihen der Psychoanalytiker zur Folge. Unter der Führung A l f r e d A d l e r s entstand eine neue und besonders in der letzten Zeit stark anwachsende Richtung der modernen Psychologie. Diese Richtung erhielt den Namen „Vergleichende Individual-Psychologie" oder kurz „Individual-Psychologie". Die Lehre A l f r e d A d l e r s baut in vielen Punkten, wie von A d l e r selbst in seinem Hauptwerke über den nervösen Charakter anerkannt wird, auf den Forschungsergebnissen F r e u d s a u f 4 . Gleich F r e u d versucht A d l e r durch Aufdeckung der Vorgänge des Unterbewußtseins diese Vorgänge bewußt zu machen, ihre Verarbeitung und auf diese Weise eine Lösung der mit ihnen verbundenen Konflikte herbeizuführen. Auch für A d l e r bilden die Träume der Persönlichkeit und die von ihr gebrachten freien Assoziationen den Weg zur Erschließung des Unterbewußtseins. Noch schärfer als bei S i g m. F r e u d kommt bei A l f r e d A d l e r das Sinnvolle des seelischen Verhalten, auch des un4
Alfred A d l e r , Über den nervösen Charakter. Qrundzüge einer vergleichenden Individualpsychologie und Psychotherapie, nunmehr dritte verbesserte Auflage, Verlag J. F. Bergmann-Wiesbaden.
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bewußten, zur Darstellung. Bezeichnungen wie Kunstgriffe, Lebensplan, Entwertungsstreben, Geltungsstreben, Überlegenheitsstreben, bringen dies besonders deutlich zum Ausdruck. Ganz besonderen Wert legt die Ad 1 e r s e h e Schule auf die ersten Kindheitserlebnisse und hat auf Grund der von ihr gemachten Entdeckungen eine ganz besondere Bedeutung, vor allem auch auf dem Gebiet der Pädagogik und Heilpädagogik, erlangt. Den Ausgangspunkt der Lehre Alfred A d l e r s stellen seine Forschungen über minderwertige Organe dar. Bei diesen Forschungen hatte Adler die Feststellung gemacht, daß sich bei minderwertigem Organ ein Kompensationsbestreben (Ausgleichsbestreben) zeige. Die Persönlichkeit, die mit einem minderwertigen Organ behaftet ist, zeigt im Laufe ihrer Entwicklung das Bestreben, die Minderwertigkeit des Organs durch irgendwelche Mehrleistung auf einem anderen Gebiet, durch die besondere Entwicklung eines Ersatzorganes, wettzumachen. So war es vielleicht kein Zufall, daß Demosthenes, der der Geschichte zufolge mit einem Zungenfehler behaftet gewesen sein soll, sich zum größten Redner des Altertums entwickelte. Und es war vielleicht auch kein Zufall, daß Beethoven, bei dem sich schon in jungen Jahren Zeichen einer beginnenden Gehörerkrankung geltend machten, der größte Musiker aller Zeiten geworden ist. Das minderwertige Organ treibt zu erhöhter Leistung an und versucht auf diese Weise die Minderwertigkeit des Organs auszugleichen. Die organische Minderwertigkeit wird häufig ausgeglichen durch eine Mehrleistung oder Höherentwicklung der zugeordneten psychischen Funktion (von A l f r e d A d l e r psychischer Überbau genannt). Als Ausgangspunkt nervöser Erkrankungen stellt A d l e r ein in der Kinderzeit erworbenes Minderwertigkeitsgefühl fest. Dieses Minderwertigkeitsgefühl ist an und für sich nichts anormales. Notwendigerweise muß das zur Welt gekommene Kind auf die neue Umgebung mit einem Minderwertigkeitsgefühl reagieren. Ist doch die größte Veränderung, die der junge Erdenbürger in seinem Leben durchzumachen hat, der Übergang aus dem Mutterleib in die Welt mit ihren vollkommen andersgearteten Bedingungen. Niemals wird wieder von ihm eine derartige Fähigkeit der Anpassung und des sich Einfühlens verlangt werden. Aber auch dem erwachsenen Menschen sind Minderwertigkeitsgefühle etwas naturnotwendig Gegebenes. Steht er doch den kosmischen und den großen Ereignissen des gesellschaftlichen Lebens der Menschen bis zu einem hohen Grade hilflos gegenüber. In einer Zeit, die eben den größten aller Kriege und auch nur zeitlich hinter sich gebracht hat, bedarf dies keines besonderen Hinweises. Das Neugeborene hat es aber besonders schwer, da es für die erste
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Zeit wenigstens vollständig hilflos und durchaus auf die Unterstützung der Erwachsenen angewiesen ist. Vater und Mutter können je nach den besonderen Umständen für das Kind übermächtige Wesen darstellen, denen es jemals gleichtun zu wollen für es ein aussichtsloses Beginnen darstellt. Im Vergleich mit den Erwachsenen muß sich das Kind klein, hilflos, ungeschickt, mit einem Wort unterlegen vorkommen. Das an und für sich normale Minderwertigkeitsgefühl des Kindes kann durch eine Reihe von Umständen eine besondere Verstärkung erfahren, welche dann leicht der Ausgangspunkt einer ungesunden Entwicklung wird. Zu diesen Umständen gehört vor allem eine angeborene Organminderwertigkeit des Kindes, welche die Schwierigkeiten der ohnehin nicht leichten Aufgaben des Kindes in den ersten Lebensjahren stark vergrößern kann. Hiebei kommt es leicht zu einer Beeinträchtigung des Lebensmutes des Kindes. An die Stelle solcher angeborenen Organminderwertigkeiten können aber auch andere Einflüsse treten, unter denen eine f a l s c h e E r z i e h u n g wohl als die wichtigste zu erachten ist. Man kann zwei Grundarten der falschen Erziehung unterscheiden. Eine strenge, lieblose, nörgelnde und verletzende Erziehung, und auf der anderen Seite eine verweichlichende, verzärtelnde Erziehung. Häufig findet ja eine Vermischung dieser beiden Formen statt. Eine harte Erziehung wird notwendigerweise zur Folge haben, daß das Kind den naturgegebenen Abstand von dem Erwachsenen als einen übergroßen und unerreichbaren empfindet und so den Glauben an seine gesunde Weiterentwicklung verliert. Eine verweichlichende Erziehung macht das Kind hilflos und abhängig und versäumt die wichtigste Aufgabe der Erziehung, die Erziehung zur Selbständigkeit. Das Kind lernt nicht seine Fähigkeiten und Kräfte im Kampf mit der Wirklichkeit gebrauchen und entwickeln. Es wird so an Schwierigkeiten scheitern, die für andere, besser vorbereitete, leicht zu überwinden sind; es wird auf diese Weise einen Teil seines Lebensmutes einbüßen und so in immer neue Schwierigkeiten geraten. Der Werke über die Erziehung von Kindern gibt es eine Legion. Es gibt aber nur eine Methode der richtigen Erziehung, und dies ist die Methode der Erziehung der Erzieher. Nur Personen, die selbst den Schwierigkeiten des Lebens gewachsen sind und sich zu freien, selbständigen Persönlichkeiten entwickelt haben, sind in der Lage, freie, selbständige Persönlichkeiten auch wieder heranzubilden. Wo aber eine solche Reife des Erziehers nicht vorhanden ist und dieser im Gefühl seiner eigenen Schwäche immer wieder dazu getrieben wird, nach Bestätigungen seiner eigenen Stärke zu suchen, entsteht jenes starre Autoritätssystem der Erziehung, dem der Dichter W e r f e l in seinem Roman „Nicht der Mörder der Ermordeten ist schuldig" einen so erschütternden
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literarischen Ausdruck verliehen hat. Solch starre Autorität ist keine geeignete Erziehungsmethode und schüchtert die Kinder nur ein. Ist diese Einschüchterung keine sehr tief liegende, so gelingt es oft leicht, diese zu beheben, wie aus folgendem, von A l f r e d A d l e r auf einer Zusammenkunft geschilderten Fall sich ergibt: In Wien kam z u A l f r e d A d l e r eines Tages ein besorgter Vater. Sein Sohn war in der zweiten Lateinklasse und hatte in sämtlichen lateinischen Schulaufgaben des Jahres die Note 4 (die schlechteste Note) erhalten. Er stand kurz davor, die letzte lateinische Schulaufgabe zu machen und da nach menschlicher Voraussicht auch bei dieser mit keinem anderen Ergebnis zu rechnen war, vor dem Durchfall. Hier war natürlich guter Rat teuer! A d l e r , dem der eingeschüchterte Junge leid tat, sagte zu ihm: „Weißt was? Jetzt hast das ganze Jahr in allen lateinischen Schulaufgaben einen Vierer geschrieben, jetzt schreibst halt in der letzten Schulaufgabe auch noch einen Vierer!" Der Vater war ganz entsetzt, aber der Erfolg gab A d l e r recht. Der Junge, der nun nicht mehr unter dem Zwange stand, unbedingt eine gute Arbeit machen zu müssen, war sichtlich erleichtert. Die letzte lateinische Schulaufgabe war die einzige, in der er keinen Vierer schrieb und die ihn vor dem Durchfall rettete. Der Gang der normalen Entwicklung geht nun dahin, daß das Kind aus seinem Minderwertigkeitsgefühl allmählich herauswächst, sich in der Welt umtut, seine Kräfte gebrauchen lernt und auf diese Weise einen Zustand des Vertrauens zu sich und zu seiner Kraft erlangt. Ist jedoch das Minderwertigkeitsgefühl des Kindes durch die bereits erwähnten ungünstigen Umstände verstärkt und fixiert worden, so wird gewöhnlich eine solch normale Entwicklung nicht eintreten. Aus einem verstärkten Minderwertigkeitsgefühl heraus wird sich über das normale Kompensationsstreben hinaus ein krankhaft gesteigertes Ausgleichsbestreben ergeben, v.on A d l e r Überlegenheitsstreben, auch männlicher Protest genannt. Dieser überstiegene Ehrgeiz, der seinen Ursprung aus vorausgehender Entmutigung nicht verleugnen kann, führt leicht zu außerordentlicher Schädigung der Entwicklung. Die verstärkte Entmutigung führt zum Überlegenheitsstreben, das, weil übersteigert, an den Schwierigkeiten der Realität scheitern muß. Der Mißerfolg vertieft die Entmutigung und verstärkt damit weiter die krampfhaften Versuche, von einer vermeintlichen Unterlegenheit in eine vermeintliche Überlegenheit zu kommen. Ein Teufelskreis! Die immer stärker werdende Entmutigung bringt ein immer weiteres Abweichen von der gesunden und geraden Linie der Vorwärtsentwicklung und des Vorwärtsstrebens. Die Linie der Entwicklung gerät auf Abwege, auf Nebenkriegsschauplätze, weil man sich große Leistungen nicht mehr zutraut.
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Damit sind wir nun schon auf das große Gebiet der sozialen Verirrungen, der Perversionen, der kriminellen Handlungen gelangt. Es ist das große Verdienst A l f r e d A d l e r s , die ausgesprochen soziale Seite aller dieser Erscheinungen hervorgehoben zu haben. Es handelt sich nicht um eine Erkrankung der Persönlichkeit an sich, sondern um eine Störung der Beziehungen dieser Persönlichkeit zu der Gesellschaft, zur Gemeinschaft der Mitmenschen. Wie es das Verdienst der modernen Psychologie überhaupt war, die einzelnen Erscheinungen des Seelenlebens nicht isoliert, sondern im Zusammenhang mit dem Ganzen der Persönlichkeit zu betrachten, so ist es das besondere Verdienst A l f r e d A d l e r s , das Individuum nicht isoliert zu betrachten, sondern in seiner Verbindung mit der Gemeinschaft. Von diesem Standpunkt aus gesehen, könnte die A l f r e d A dl ersehe Lehre mit vollem Recht auch Sozialpsychologie heißen. Die Entmutigung der sozial abgeirrten Persönlichkeit hat ihren besonderen Charakter; auch ihre Entmutigung ist eine soziale Entmutigung. Sie hat den Glauben daran verloren, sich innerhalb des normalen Gesellschaftskreises durchzusetzen. Es ist ein ganzes System von Sicherungen, das die entmutigte (nervöse) Persönlichkeit um sich herum aufbaut, um ihr labiles Selbstgefühl vor Schädigungen zu bewahren. Gesellschaftliche Schüchternheit, Ängstlichkeit sind solche Sicherungen. Die Hypochondrie sieht alles schwarz, die Gefahren vergrößert und hat sich begründeten Anlaß gegeben, auch jeglicher Gefährdung auszuweichen. Das Mißtrauen gegenüber Menschen unterbindet großenteils den geselligen Verkehr und schützt vor vermeintlichen Angriffen. Die über alle Anfechtung erhabene Tugend ist weniger, wie oft scherzhaft bemerkt wird, ein Mangel an Gelegenheit, als ein Mangel an Mut. Hinzutretende krankhafte Erscheinungen, wie z. B. Platzangst, führen die Persönlichkeiten leicht in eine vollkommene Isolierung hinein. Eine Isolierung, die dann vollkommen in der Psychose geworden ist, wo die Persönlichkeit auch die Gemeinschaftsbindung der Logik abgestreift hat. Es ist die Tendenz zum risikofreien Leben, die sich in den aufgezeigten Erscheinungen auswirkt. Hand in Hand damit geht regelmäßig eine starke Entwertungstendenz gegenüber der Umwelt. Weniger durch eigene positive Leistung, als durch Herabsetzung der Leistungen und Fähigkeiten anderer, wird die eigene fiktive Überlegenheit erreicht. Eigensinn und Trotz treten in verstärktem Maße hervor. Wir alle kennen den Oppositionellen aus Prinzip, der nicht nur in der Politik sein Unwesen treibt. Wichtigste Lebensfragen, wie etwa die Berufswahl oder die Eheschließung, werden durch die grundsätzliche Oppositionseinstellung entschieden, so daß es nur immer zu neuen Schwierigkeiten kommen muß. Besonders gefähr-
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lieh ist diese Entwertungstendenz in der Erziehung. Uns allen geläufig ist jener Typus von Lehrern und Erziehern, die ihre eigene Unsicherheit durch überscharfe Kritik an den ihrer Erziehung unterstehenden Schülern auszugleichen suchen. Ins Pathologische gesteigert, sehen wir diese Entwertungstendenz im Sadismus und sonstigen Perversionen am Werk. Sogar bei dem Selbstmord sind häufig Rachegelüste wirksam. Wir sehen also Persönlichkeiten vor uns, deren Weltbild durch eine besondere Einseitigkeit gekennzeichnet ist, ein Weltbild, in dem weniger die sympathischen Züge der Mitmenschen, als deren unsympathische und feindselige Züge dominieren, in dem die günstigen Chancen des Daseins verblaßt sind, die ungünstigen Möglichkeiten das Bild beherrschen. Offenbar also ein auf Irrtümern aufgebautes Weltbild, und zwar auf Irrtümern, die in früher Jugendzeit entstanden sind. Die ersten Eindrücke der Jugend sind meist die entscheidenden;sind sie ungünstige gewesen, so werden sie leicht das Weltbild beherrschen, weil der junge Mensch nicht über die Erfahrung verfügt, dieses Erlebnis an der Hand anderer etwa gegensätzlicher Erlebnisse in seinem Wert und seiner Bedeutung richtig einzuschätzen. Die menschliche Seele ist aber keine Apparatur, welche die auf sie wirkenden Eindrücke gleichmäßig und unbeeinflußt aufzeichnet. Eindrücke sind gleichzeitig für sie das Material, nach welchem sie ihre Einstellung zur Welt formt. Auf ungünstige Eindrücke folgt nicht etwa nur die Feststellung „ungünstig", sondern «s folgen weiter Mißtrauen, Ängstlichkeit und Sicherungen. Der junge Mensch ist nur allzu leicht geneigt, nach ersten ungünstigen Erfahrungen jeden Mitmenschen überhaupt von vorneherein als unfreundlich, lieblos und gefährlich anzusehen. Es bildet sich ein starres Apperzeptionsschema heraus, das bis zu einem gewissen Grad auch die Möglichkeit, neue gegensätzliche, günstigere Erfahrungen zu machen, versperrt. Das Mißtrauen isoliert und verhindert so den geselligen Verkehr, der möglicherweise eine Berichtigung der ersten Erfahrungen mit sich bringen würde. Eine Befreiung aus dieser starren Einseitigkeit ist nur dadurch möglich, daß man die Irrtümer dieser Persönlichkeit aufdeckt. Doch handelt es sich dabei nicht um eine Aufklärung nach Art eines Rechenexempels, da es sich hier ja nicht um theoretische oder verstandesmäßige Irrtümer, sondern um gelebte Irrtümer handelt. Gelebte Irrtümer können aber nur durch erlebte Wahrheiten korrigiert werden. Die Wahrheit, die nicht nur aufgezeigt, sondern, um eine Heilung zu erzielen, erlebt sein muß, ist die Logik des menschlichen Lebens, das Gemeinschaftsgefühl, das bei A d l e r im Mittelpunkt seines Systems steht. Die Wandlung, die vollzogen werden muß, besteht darin, daß das egozentrische Macht- und Überlegenheitsstreben abgebaut wird Schmidt, Verbrechen.
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zugunsten der Forderungen der Gemeinschaft. A d l e r wird nicht müde, immer wieder auf die außerordentliche Bedeutung der Gemeinschaft u n d der Beziehung zur Gemeinschaft f ü r die Entwicklung der Persönlichkeit hinzuweisen. Sprache, Denken, Logik, Vernunft und Ethik, unsere ganze menschliche Kultur, sind Ergebnisse des Gemeinschaftslebens. Sind doch selbst solch subtile und von uns gewöhnlich als ureigenstes d e r Persönlichkeit betrachteten Vorgänge, wie das Gewissen, im G r u n d e Funktionen der Gemeinschaft. Gewissen entsteht aus einem Verkehr der Persönlichkeit mit sich selbst, ein Vorgang, der erst möglich ist, nachdem die Persönlichkeit den Verkehr mit den Mitmenschen aufgenommen, hat. Das kleine Kind spricht zunächst immer von sich als von einer dritten Person. Sehr feine und eingehende Analysen des .Gewissens finden sich in H o l z a p f e l s P a n i d e a l 5 . Nur der Mensch, der wirklich, in der Gemeinschaft verwurzelt ist, ist sachlich, d. h. frei von allen die Hingabe an seine Aufgabe störenden persönlichen Schwächen und Abirrungen. Nur er allein verrichtet seine Arbeit auf der nützlichen Seite des Lebens, frei von allen Verirrungen eines krankhaft gesteigerten Egoismus. Zur Methodologie A l f r e d A d l e r s ist zu sagen, daß sie die konsequenteste Durchführung der finalen (teleologischen) Betrachtungsweise aller psychologischen Systeme darstellt. Menschliche Handlungen sind nicht durch die kausale Betrachtungsweise, die Frage nach dem Woher, zu deuten, sondern einzig und allein durch die finale Betrachtungsweise, die Frage nach dem Wohin. Ich kann eine Persönlichkeit erst dann verstehen, wenn ich weiß, welches das Ziel dieser Persönlichkeit ist. Für die Beurteilung einer Persönlichkeit ist weit weniger wichtig zu wissen, was diese Persönlichkeit denkt oder fühlt, sondern ihre Handlungen zu kennen und so festzustellen, wohin ihr W e g f ü h r t . Eine Platzangst etwa wird erst dann verständlich werden, wenn ich weiß, zu welchem Zweck die Platzangst als Mittel in dem System dieser Persönlichkeit verwendet wird. Es darf allerdings nicht übersehen werden, daß alteingeübten Gewohnheiten und Verhaltungsweisen ein Automatismus innewohnt, der durch ein Training oder Umtraining nach den neuen Zielen überwunden werden muß. Eine Grundlehre der Individualpsychologie ist der Fundamentalsatz von der Einheitlichkeit und Unteilbarkeit der Persönlichkeit. Individualpsychologie bedeutet also nicht etwa — wie häufig mißverstanden wird — die Lehre von der Psychologie der Einzelpersönlichkeit, sondern die Lehre von der Unteilbarkeit (Individuum) der Persönlichkeit. Die Möglichkeit der Ambivalenz, der Spaltung der Persönlichkeit, wird von 5 Rudolf Maria H o l z a p f e l , Panideal. Neugestaltung, Eugen Diederich Jena 1923.
Das Seelenleben und seine soziale:
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der Irrdividualpsychologie bestritten. Innere Widerstände, wie sie von jedermann erfahren werden, bedeuten, wenn sie auffällig lange Zeit hindurch festgehalten werden, nicht etwa das Ringen verschiedener gleichwertiger Tendenzen dieser Persönlichkeit gegeneinander, sondern einen Kunstgriff der Persönlichkeit, von einem gefährlichen Unternehmen Abstand zu nehmen, ohne sich deswegen selbst Vorwürfe machen zu müssen. Sie ist dann in ihren Augen nicht etwa feig oder schwach, sondern kann eben nicht anders. Von der Philosophie her haben auf die Individualpsychologie eingewirkt F r i e d r i c h N i e t z s c h e , der den Willen zur Macht zur eingehenden Untersuchung gewidmet hat, und V a i h i n g e r , dessen Philosophie des Als-ob uns die außerordentliche Bedeutung falscher, der Wirklichkeit widersprechender Annahmen (Fiktionen) zu praktischen Zwecken nachgewiesen hat. Nicht nur die Rechtswissenschaft, sondern alle Wissenschaft, nicht zuletzt jeder Mensch im Kampf ums Dasein arbeitet mit solchen Fiktionen, um sich behaupten zu können. Der Hamburger Psychologe W i l l i a m S t e r n ist von anderer Seite kommend zu ähnlichen Ergebnissen wie A d l e r gelangt.
II. Entstehung von Verbrechen. Nach dem deutschen Reichsstrafgesetzbuch ist Verbrechen jede strafbare Handlung, die mit Tod, Zuchthaus oder Gefängnisstrafe von mehr als 5 Jahren bedroht ist. Es ist ohne weiteres klar und bedarf keiner näheren Begründung, daß eine psychologische Untersuchung sich mit diesem juristischen Begriff nicht zufrieden geben kann. Von psychologischen Gesichtspunkten aus wird man den Verbrecher (nur der Verbrecher, nicht das Verbrechen kann psychologisch definiert werden) verstehen müssen als jemanden, der in seiner seelischen Haltung sozial feindselig eingestellt ist und mit den bestehenden Gesetzen durch schwere Straftaten in Konflikt kommt. Es kommen Fälle vor, in denen Persönlichkeiten, deren Verhalten nichts Gemeinschaftsfeindliches innewohnt, mit den Gesetzen in Konflikt kommen. Um ein allem Streit der Meinungen und der Parteien entrücktes Beispiel anzuführen, nenne ich: Wilhelm Teil (nach Schiller). Teil begeht, juristisch genommen, einen Mord. Wir würden es aber ablehnen, ihn vom psychologischen Standpunkt aus als einen Verbrecher zu bezeichnen. Kein Zweifel, daß häufig auch politische Verbrechen an diese Grenzen heranreichen. Der politische Verbrecher wird mitunter gerade durch den Glauben, etwas zu tun, was der Gesellschaft nützlich ist, zu der Tat veranlaßt werden. Besonders in unserer Zeit, in welcher der Glaube an die herrschende Wirtschafts-, Gesellschafts- und Rechtsordnung so starken Erschütterungen ausgesetzt worden ist, wird man solchen Grenzfällen 2*
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häufiger als in ruhigeren Zeiten begegnen. Es soll damit über die Berechtigung solcher Zweifel an dieser Stelle nichts ausgesagt werden. Daß es einerseits gesellschaftsfeindliche Einstellungen und Verhaltungsweisen genug gibt, die mit den Strafgesetzen andererseits nicht in Konflikt kommen, sei es nun, weil sie mit einer großen Sicherheit auf der Grenzlinie wandeln, sei es, weil das Gesetz eine Lücke hat, dafür haben wir heute Beispiele genug. Man würde einer einseitigen Betrachtung über die Entstehung von Verbrechen geziehen werden können, wollte man nicht auch der Mitschuld der Gesellschaft an der Entstehung von Verbrechen einiges Augenmerk zuwenden. Diese Mitschuld der Gesellschaft besteht nicht zum wenigsten darin, daß es ihr bis heute nicht gelungen ist, eine Organisation zu schaffen, welche wirtschaftliche und politische Katastrophen wie die der letzten Jahre zu verhindern imstande ist. Allgemeine Verelendung und wirtschaftliche Not, wie die gesteigerte Unsicherheit des Lebens überhaupt, sind von jeher ein günstiger Nährboden der Kriminalität gewesen. Gemeint sind damit etwa nicht nur die aus Not entstandenen strafbaren Handlungen, welche ein Kapitel für sich bilden. Auch die häufige Verletzung des Prinzipes der wirtschaftlichen Gerechtigkeit kann in ihrer Bedeutung für die Erleichterung der Verbrechensbereitschaft gar nicht hoch genug veranschlagt werden. Wirtschaftliche Gerechtigkeit ist heute mehr denn je die Forderung des Tages und sie wird die Forderung der Zukunft sein. Und es kann unbeschadet jeder Parteianschauung gesagt werden, daß eine Vogel-Strauß-Politik treibt, wer diese gebieterische Forderung überhört. Es gibt in der Tat kein anderes Fundament, kein unlöslicheres Bindemittel der Gesellschaft, als die Gerechtigkeit. Die schlimmsten Feinde der Gesellschaft sind Achselzucken und das mokante Lächeln, mit dem Verstöße gegen diese Grundsätze abgetan werden. Eine Gesellschaft, die dieses Gefühl entbehrt, ist krank geworden. Es wäre wirklich an der Zeit, nicht jeden finanziellen Strauchritter als Wirtschaftskapitän zu feiern, und es war zumindest eine gesunde Korrektur, wenn die Gesellschaft früher nicht nur nach dem Vermögen, sondern auch nach dem Ursprung der Vermögen gefragt hat. Wird das Prinzip der Gerechtigkeit verletzt — nirgends wird dies stärker vermerkt, als gerade auf wirtschaftlichem Gebiet — so leidet darunter das Ansehen des Gesetzes. Es erscheint dann selbstverständlich, wenn manchen die Gesetze als eine Institution erscheinen, in denen einige ohne großes Verdienst sehr viele Freiheiten und Vorteile haben, während andere mit den größten Entbehrungen kämpfen. Dies fördert den Gehorsam vor dem Gesetz nicht.
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Dabei soll nicht verkannt werden, daß uns die Forderung der wirtschaftlichen Gerechtigkeit vor schwere Aufgaben stellt. Immer wieder tauchen die Versuche auf, die Entstehung von Verbrechen aus der Vererbung verbrecherischer Anlagen und Neigungen zu erklären. L o m b r o s o hat darüber in seinem Werk „II delinquentenato" eingehende Untersuchungen veröffentlicht. Dieser Kategorie von Erklärungsversuchen haben wir es auch zuzurechnen, wenn die Entstehung von Verbrechen betrachtet wird als das Hervorbrechen uralter (atavistischer) Triebe, die bei dem normalen Menschen durch kulturelle Hemmungen zurückgedämmt oder überwunden sind. Auf diesem Standpunkt steht etwa T h e o d o r L e s s i n g in seiner Untersuchung über den-Fall Haarmann. Dies zeigt schon der Titel seines Buches „Haarmann, die Geschichte eines Werwolfs". Es mag sein, daß Vererbung von Anlagen für eine verbrecherische Entwicklung von außerordentlicher Bedeutung sein kann. Auch organische, durch Krankheit bedingte Änderungen können hier Einfluß haben. K r e t z s c h m e r hat mich gelegentlich einer Korrespondenz darauf aufmerksam gemacht, daß in Fällen von Kopfgrippe ganz plötzlich außerordentliche charakteruelle Veränderungen eingetreten sind. Gleichwohl muß demgegenüber betont werden, daß eine zwingende Notwendigkeit der Entwicklung zum Verbrecher auf Grund derartiger organischer Veränderungen und vererbter Anlagen auch mit den größten Anstrengungen wohl kaum zweifelsfrei nachgewiesen werden kann. Wie wollen wir feststellen, ob das in einer Alkoholikerfamilie heranwachsende Kind auf Grund minderwertiger Erbanlagen zum Verbrecher wird oder weil es in seiner näheren Umgebung Schwäche, Flucht in den Rauschzustand als hauptsächliches, aber doch sehr unvollkommenes Mittel im Kampfe gegen die Schwierigkeiten des Lebens kennengelernt hat. Einwandfreie Feststellungen auf diesen Gebieten wären schon deswegen von großer Wichtigkeit, weil sie uns nutzlose Versuche und Arbeit ersparen. Solange solche Feststellungen aber nicht vorliegen, bleibt die einzig mögliche Arbeitshypothese auf dem Gebiet der Verbrechensbekämpfung zunächst einmal, die Entstehung von Verbrechen aus Einflüssen der Umwelt und der Reaktion der Persönlichkeit auf diese Umwelt anzunehmen. Es mag sein, daß dabei manche fruchtlose Arbeit aufgewandt werden wird, auf der anderen Seite haben wir dann die Gewißheit, daß keine Chancen, die gerade auf diesem Gebiet noch in hohem Maße bestehen, ausgelassen werden. Die hohe Chance, die auf dem Gebiet der Verbrechensbekämpfung liegt, sehen wir darin, daß das Verbrechen ein Produkt der Mutlosigkeit ist, daß es die typische Haltung eines Menschen ist, der den Glauben daran verloren hat, sich innerhalb der Gesellschaft mit den durch die
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Gesellschaftsordnung zugelassenen Mitteln durchzusetzen. Der Verbrecher leidet an Irrtümern, die er in der Jugend erworben hat und die ihn verleiten, sich feindselig gegen die Umwelt einzustellen. Bei der Überprüfung von Jugenderinnerungen von Verbrechern werden wir immer wieder darauf stoßen, daß es sich hier um einen Menschen handelt, der in seiner Jugend zur Mitarbeit und Mitmenschlichkeit nicht gewonnen worden ist. Ich bringe hiezu im folgenden einige Beispiele aus H u g o F r i e d l ä n d e r s Sammlung: „Interessante Kriminalprozesse", aus denen die Merkmale der sozialen Entmutigung deutlich hervorgehen. E i n R a u b m o r d im
Eisenbahncoupé.
Ein Altonaer Zahnarzt fuhr Samstag nachmittags nach Blankenese, um in seiner Villa mit Frau und Kind das Wochenende zu verbringen. Der Zug war wenig besetzt. Das Coupé 2. Klasse, in dem er Platz genommen hatte, war leer. Kurz vor Abgang des Zuges stieg ein junger Mensch von 17 Jahren in das Coupé und ließ sich gegenüber dem Zahnarzt nieder. Ein junger Mensch, offenbar aus guter Familie. Aber er hatte Hunger und hatte seit mehreren Tagen nichts gegessen. So war er auf den grauenvollen Gedanken gekommen, mit einem Beil, das er von seinen Wirtsleuten mitgenommen hatte, in ein Coupé 2. Klasse einzusteigen und dort einen alleinfahrenden, wohlhabenden Mann zu erschlagen. Die eine Mark Fahrgeld für die Vorortsbahn hatte er von seinen Wirtsleuten geliehen. Kurz bevor der Zug an einer Zwischenstation hielt, schlug er den Zahnarzt mit dem Beil nieder, raubte Uhr, Kette und Portemonnaie und stieg aus. Bei Gericht gab der junge Mörder u. a. an : Er sollte Theologie studieren und habe das Gymnasium bis Obersekunda besucht. Das Lernen sei ihm aber schwer gefallen. Daraufhin sei er bei einem Gärtner in die Lehre gegangen. Dieser habe ihn aber bald entlassen. Er hat ihm ins Arbeitsbuch geschrieben, er sei als Gärtner vollkommen unbrauchbar. Als Gärtner fand er auch keine Anstellung mehr. Einige Tage war er in einer Eisenwarenhandlung tätig, verlor aber auch bald diese Stellung. Das wenige Geld, das ihm verblieben war, war bald zu Ende und er hungerte tagelang. Wenn er an seinen wohlhabenden Vater geschrieben hätte, so hätte er Geld erhalten, das aber widerstrebte ihm. So kam er auf den Gedanken eines Raubmordes. In seinem Tagebuch fand man folgende Stellen : Die Behandlung bei Berndt (dies ist der Gärtner) hat mir jede Lust für die Gärtnerei genommen. Er hat es fertig gebracht, mich zu ruinieren. Ich bin schon solange arbeitslos. In solch einer arbeitslosen Zeit muß man immer tiefer sinken. Ich bin sehr tief gesunken. Ferner: Um einen Betrug zu be-
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Verbrechen.
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gehen, fehlte mir der Mut, dagegen könnte ich es fertig bringen, zur Stillung meines Hungers einen Menschen zu ermorden und zu berauben. Die als Zeugen vernommenen Wirtsleute gaben an: Er sei ein sehr ordentlicher Mensch gewesen, der gänzlich zurückgezogen lebte. Sie hätten ihm eine schlechte Tat, am allerwenigsten aber ein solches entsetzliches Verbrechen, nicht zugetraut. Sie wußten nicht, daß der junge Mensch hungere. Wenn er sich ihnen offenbart hätte, dann würden sie ihm unbedenklich Geld gegeben haben, zumal ihnen bekannt war, daß er der Sohn wohlhabender Eltern sei. Er spielte so wunderbar Geige, daß die Leute auf der Straße stehen blieben, um dem Spiel zu lauschen. Die Entmutigung liegt offen zutage. Sie geht wohl schon auf die Kindheit des jungen Mörders zurück, der offenbar zu seinen Eltern ein rechtes Verhältnis nicht finden konnte; denn wie wäre es sonst denkbar, daß ein Sohn wohlhabender Eltern zur Mordtat kommt, um einige Mittel zu erhalten, obwohl eine briefliche Bitte an seinen Vater ihm diese Mittel sofort verschafft hätten. Der Mißerfolg bei dem Gärtner, die Bemerkung seines Lehrherrn, er sei vollkommen unbrauchbar, hat ihn dann endgültig in die Verzweiflung getrieben. Seine Mordtat ist das einzige, was er sich überhaupt noch zutraut. Er ist zu feige, um einen Betrug zu begehen. Das Zutrauen, durch eigene Kraft sich auf dem Wege der Berufsarbeit die Mittel zu verdienen, ist ihm völlig abhanden gekommen. Seine Mordtat ist der Verzweiflungsakt eines restlos Entmutigten. Dabei ist er offenbar ein Mensch von ganz bedeutenden Fähigkeiten. H a u p t m a n n von K ö p e n i c k . Dieser gab u. a. an: Er sei genötigt gewesen, einen Gaunerstreich auszuführen, da er nach seiner Entlassung aus dem Zuchthaus von der Polizei von Stadt zu Stadt gehetzt worden sei. Er habe in Wismar bei einem Hofschuhmachermeister lohnende Arbeit gefunden. Er sei dort, obwohl man seine Vergangenheit kannte, wie ein Familienmitglied behandelt worden. Sehr bald aber sei er von der Polizei ganz aus Mecklenburg ausgewiesen worden. Auch aus Berlin hat ihn die Polizei ausgewiesen. Er konnte nirgend Arbeit finden. Der Fall des Hauptmann von Köpenick, der, von Beruf Schuster, in Hauptmannsuniform eine Militärpatrouille auf der Straße anhielt und mit ihr die Stadtkasse eines Ortes in der Nähe Berlins beschlagnahmte und an sich nahm, ist ja wohl den meisten Leuten aus der Erinnerung bekannt. Auch hier die Tat eines entmutigten Menschen, an dessen Entmutigung allerdings staatliche Maßnahmen mitschuldig sind, da sie ihm die soziale Einordnung erschwert, wenn nicht unmöglich gemacht haben.
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Erschießung zweier
Musikschülerinnen.
Ein junger Mensch erschießt auf deren Verlangen zwei junge Mädchen, die bei ihm Klavierunterricht genommen haben. Der unmittelbare Anlaß ist, daß der Bräutigam des einen Mädchens die Verlobung gelöst hat. Der junge Mann wollte sich auch miterschießen, fand aber angesichts der zwei Leichen nicht mehr den Mut dazu. Bei seiner Vernehmung ergab sich folgendes: Er hatte sich zur Kaiserlichen Marine gemeldet, wurde aber als zu schwach befunden. Er wollte dann Schriftsteller werden und verfaßte mehrere Dramen, das erste mit dem Titel: „Der Sonderling", das zweite mit dem Titel: „Elternlos". Aber auch mit seinen schriftstellerischen Arbeiten hatte er kein Glück. Er ließ sich dann Unterschlagungen zuschulden kommen. Aus dem Untersuchungsgefängnis heraus schreibt er in Briefen u. a . : „Ich bin keineswegs ein an Geist und Körper gebrochener Mensch. Wenn ich herauskomme, dann werde ich vom unreifen Knaben zum reifen Mann herangewachsen sein." Weiter: „Ich bin keineswegs eine geknickte Lilie, sondern eine stolze Eiche." Der Angeklagte bereute nicht und gab an, er wollte nicht feige sein, er mußte das den Mädchen gegebene Versprechen einlösen. Dem psychiatrischen Gutachter, bei dem er sich in Beobachtung befand, erzählte er: Er sei einmal in einer recht fröhlichen Gesellschaft gewesen, bei ihm sei es aber sehr bald öd und leer geworden. Er mußte sich sehr schnell aus der Gesellschaft entfernen, da er nur dann einen moralischen Halt habe, wenn ihm der ganze Ernst des Lebens in Erscheinung trete. Das Urteil lautete auf drei Jahre Gefängnis. Nach einigen Wochen hat sich der Täter in der Zelle erhängt. In diesem Fall tritt die Isolierung von der Gemeinschaft besonders stark in die Erscheinung. Zu beachten sind in dieser Richtung die Titel der Dramen: „Der Sonderling", „Elternlos". Sein Minderwertigkeitsgefühl gibt zu starken Kompensationsbestrebungen Anlaß. Er will zum „reifen Mann" werden, zur „stolzen Eiche". Der Fall
Kneißl.
Kneißl war der bekannteste und verwegenste bayerische Räuber um die Jahrhundertwende. Über seine Vorgeschichte kurz folgendes: Er entstammt einer alten Verbrecherfamilie. Sein Vater war der Besitzer der sogenannten „Schachermühle", eines Unterschlupfes für Verbrecher. Dieser starb auf dem Transport nach dem Gefängnis. Die Mutter war wegen Hehlerei und Diebstahls mit langjährigem Gefängnis bestraft. Sein Onkel, namens Pascolini, war bereits vor 40 Jahren der gefürchtetste Räuberhauptmann in Oberbayern. Kneißl verübte schon in jungen
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Jahren einen höchst verwegenen Einbruchdiebstahl. Nach Entlassung aus dem Gefängnis konnte er wegen seines jugendlichen Alters noch nicht unter Polizeiaufsicht gestellt werden, trotzdem wurde er von der Polizei beobachtet. Dadurch wurde seine Vergangenheit sehr bald bekannt. Er ging infolgedessen immer nach sehr kurzer Zeit seiner Arbeitsstelle verlustig. Bei einem Meister arbeitete er volle 7 Monate. Der Meister war mit dem Fleiß und der Geschicklichkeit Kneißls sehr zufrieden. Eines Tages kam ein Gendarm, um sich nach Kneißl zu erkundigen. Der Meister hätte trotzdem den tüchtigen und fleißigen Gesellen sehr gerne behalten, er war aber genötigt ihn zu entlassen, da die anderen Gesellen sich weigerten, noch länger mit dem Verbrecher zusammenzuarbeiten. Kneißl verlor schließlich den Mut, sich weiter um Arbeit zu bemühen. Gemeinsam mit anderen bewaffnete er sich mit Revolver, Gewehr und Dolch und verübte eine ganze Reihe von Einbrüchen. Um einer Festnahme zu entgehen, erschoß er zwei Gendarmen. Folgende Zeugenaussagen sind bemerkenswert: Ein Schulkamerad sagt aus: Kneißl sei keineswegs schlecht, sondern im Gegenteil sehr folgsam gewesen. Er sei sowohl vom Pfarrer als auch vom Lehrer, augenscheinlich aus Haß gegen die Familie, sehr schlecht behandelt worden. Die Kneißl-Buben wurden von Pfarrer und Lehrer stets „Pascolinis" genannt. Der Schreiner, bei dem Kneißl 7 Monate gearbeitet hatte, sagte aus: Kneißl hat 7 Monate bei mir gearbeitet. Ich habe ihn aber schließlich entlassen müssen, weil bekannt wurde, daß er mehrere Jahre im Gefängnis gesessen hat. Man hat mir gesagt, einen solchen Menschen dürfe man nicht in Nußdorf dulden. Er war sehr fleißig und geschickt. Kneißl hat sich große Mühe gegeben, weitere Arbeit zu erhalten, ist aber überall abgewiesen worden. Schließlich ist er sehr traurig aus Nußdorf fortgegangen. Kneißl ist in einer ungünstigen Umgebung aufgewachsen, in einer Familie, die traditionell auf die Feindschaft gegen die Gesellschaft eingestellt war. Die Gesellschaft hat dann noch alles mögliche getan, ihm zu zeigen, daß sie ihn nicht als ihresgleichen betrachte. Schon Lehrer und Pfarrer bringen dies in der Schule deutlich zum Ausdruck. Es ist kein großes Wunder, daß ein solcher Mensch Wege abseits von der Gesellschaft sucht. Einige Versuche, sich in die Gemeinschaft einzuordnen, die beinahe geglückt waren, mißlangen schließlich. Ihr Mißerfolg, an dem staatliche Organe keine geringe Schuld haben, treibt nur noch stärker in die Isolierung hinein. Eine gewisse Ähnlichkeit mit dem Schicksal des Hauptmanns von Köpenick ist unverkennbar. Wenn man behauptet, daß das Verbrechen ein Ergebnis der Mutlosigkeit ist, so wird man sehr leicht auf Erstaunen und Ungläubigkeit
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stoßen. Es ist aber gleichwohl so, wenn auch der Verbrecher seine Mutlosigkeit unter den Masken von Trotz, Gewalttätigkeit, Grausamkeit und Todesverachtung verstecken mag. Es ist der Mut von Leuten, die auf der Flucht befindlich sind und dabei allerdings häufig vor keinem Hindernis zurückschrecken. In einem jüngst erschienenen Werk: „Der Verbrecher und seine Richter" 1 glauben die Autoren 3 Klassen von Verbrechern unterscheiden zu können: 1. den neurotischen Kriminellen, dessen Haltung aus ähnlichen seelischen Erlebnissen zu verstehen ist wie die Psychoneurose, 2. den Normal-Kriminellen, der in seiner Psyche dem Normalen ähnlich ist, 3. den durch organische Krankheitsprozesse bedingten Kriminellen. Der normale Kriminelle wird von diesen Autoren weiterhin bezeichnet als ein Mensch, der in seinem psychischen Aufbau von dem nichtkriminellen normalen Menschen nicht verschieden sei; vielmehr seien es Menschen, die einer anderen Gemeinschaft gut angepaßt und in dieser Gemeinschaft sozial seien. Ich glaube jedoch nicht, daß der Begriff des normalen Kriminellen einer ernsthaften Untersuchung stand hält. Es geht offenbar zu weit, wenn man die Klasse der Berufsverbrecher (denn diese haben jene Autoren vorzugsweise vor Augen) gleichstellt mit irgendwelchen anderen Gruppen und Ständen der Gesellschaft. Man kann zwar zugeben, daß bis zu einem gewissen Grade jede Klasse und jeder Stand ihre eigene Moral hat. Aber zwischen der Verbrechermoral der Berufsverbrecher und der Moral irgendeiner anderen sozial eingeordneten Klasse oder Schicht besteht doch ein grundlegender Unterschied, an dem nicht vorbeigegangen werden kann. Jede sozial eingeordnete Klasse, mag sie noch so sehr exklusiv sein, mag sie noch so sehr von den anderen Klassen abweichende Moral- und Ehrbegriffe haben, mag sie noch so sehr ihre eigenen Interessen in den Vordergrund stellen, wird immer den Versuch machen, ihre Eigeninteressen mit denen der Gesamtheit in Beziehung zu setzen, die Interessen der Gesamtheit zu berücksichtigen. Und selbst wenn diese Rücksicht auf die Interessen der Gesamtheit in einzelnen Fällen nur so weit ginge, daß man unter dem bloßen Vorwand die Interessen des Ganzen zu verfolgen, die eigenen Interessen wahrnimmt, so ist selbst diese Heuchelei, dieser cant, noch ein letzter Rest der Überzeugung, daß die Interessen der Gesamtheit den Interessen einer Einzelklasse übergeordnet sind. Diese Beziehung und Berücksichtigung der Interessen der Gesamtheit fehlt 1
Franz A l e x a n d e r und Hugo S t a u b , Der Verbrecher und seine Richter, ein psychoanalytischer Einblick in die Welt der Paragraphen, Intern. Psychoanalytischer Verlag, Wien 1929.
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aber der Klasse der Verbrecher offenbar. Und die sehr feine, aber doch genau bestimmbare Grenzlinie zwischen dem Rechtsbrecher aus politischen Motiven und dem Kriminellen besteht darin, daß jener in der Überzeugung handelt, den Interessen der Gesamtheit zu dienen, während dieses Motiv bei dem Kriminellen nicht vorhanden ist. Es ist aber doch auch nicht richtig, daß die Berufsverbrecher innerhalb ihrer Klasse gut sozial angepaßt und in ihrer Gemeinschaft sozial seien. Die Erfahrungen auf diesem Gebiet lehren doch gerade das Gegenteil. Wenn wir etwa die Publikation von W a l t e r L u z durchsehen: „Das Verbrechen in der Darstellung des Verbrechers" oder „Ursachen und Bekämpfung des Verbrechens im Urteile des Verbrechers" 2 , so sehen wir, welche Fülle von Zwistigkeiten und auch von Verbrechen, die der Verbrechermoral widersprechen, unter den Verbrechern vorkommen. Oder wenn wir Berichte über die amerikanischen Gangsters lesen, so scheint, unbeschadet der Vorsicht, die gegenüber Zeitungsberichten anzuwenden ist, eine besonders soziale Gemeinschaft auch innerhalb dieser Klasse nicht zu bestehen. Auch der bekannte Kriminalist H e i n d l in seinem aufschlußreichen Werk „Der Berufsverbrecher" scheint diese Ansicht nicht zu teilen 3 . Wenigstens betrachtet er auf Grund seiner persönlichen Erfahrungen und Erlebnisse in der französischen Strafkolonie Neukaledonien diesen Versuch als gescheitert und hat somit offenbar den Eindruck gewonnen, daß man es hier nicht mit Menschen zu tun hat, die innerhalb ihrer Klasse sozial eingeordnet sind. Es kommt hier allerdings der erschwerende Umstand hinzu, daß es sich nicht um eine Gemeinschaft handelt, die sich freiwillig zusammengefunden hat, sondern um eine Masse, die durch äußerliche Gewalt auf diesen Platz zusammengebracht worden ist und durch Gewalt zusammengehalten wird. Es ist auch darum wohl eine zu weitgehende Schlußfolgerung, wenn H e in d l aus dem Beispiel der französischen Verbrecherkolonie Neukaledonien die Unmöglichkeit und Aussichtslosigkeit jedweder pädagogischen Einwirkung auf die Verbrecher ableiten will. Daß H e i n d l auf Grund seiner reichen praktischen Erfahrungen auf die große Gefährlichkeit (auch in volkswirtschaftlicher Hinsicht) der Berufsverbrecher hinweist, ist sein unbestreitbares Verdienst. Über seinen Vorschlag der lebens-
2 Walter L u z , Das Verbrechen in der Darstellung des Verbrechers, ein Beitrag zur Naturgeschichte des kriminellen Menschen, Carl Winter's Universitätsbuchhandlung, Heidelberg 1927. D e r s e l b e , Ursachen und Bekämpfung des Verbrechens im Urteile des Verbrechers, ein Beitrag zur Psychologie des Verbrechers und Verbrechens und zur Reform der Verbrechensbekämpfung, derselbe Verlag 1928. 3 Robert H e i n d l , Der Berufsverbrecher, ein Beitrag zur Strafrechtsreform, 2. Auflage, Pan-Verlag Rolf Heise, Berlin 1926.
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länglichen Sicherungsverwahrung von Berufsverbrechern wird an anderer Stelle zu reden sein. Es ist aber doch recht interessant, daß H e i n d l , dem man irgendwie Humanitätsduselei nicht nachsagen kann, gelegentlich einer in seinem Werk allerdings seltenen psychologischen Betrachtung folgendes ausführt: „Der Verbrecher ist meist ein Resultat geistiger und körperlicher Minderwertigkeit, wobei geistige Minderwertigkeit keineswegs Geistesschwäche, sondern nur lückenhafte Intelligenz, mangelnde geistige Spannkraft und Ausdauer bedeuten soll. Selbst bei den „genialen" Verbrechern dürfte stets irgendein geistiges und körperliches Manko vorliegen. Geistige und körperliche Unebenbürtigkeit gegenüber den Mitmenschen führt zum Egoismus. Wer lange krank ist, wird Egoist. Hohes Alter macht egoistisch. Ein ehrliches Leben ist nur möglich, wem der nötige Vorrat an geistigen und körperlichen Kräften für den Kampf ums Dasein gegeben ist. Nur der kräftige und geistig Überlegene freut sich am Überwinden von Schwierigkeiten; der Schwache sucht im struggle for life den Weg des mindesten Widerstandes (und wenn er auch durch Tresortüren führen sollte!). Im Kampfe zweier Athleten ist es stets der Schwächere, der die Kampfregeln verletzt und ,falsche Griffe' sich erlaubt. Das berufsmäßige Verbrechertum ist eine ganze Schicht, die mit solch falschen Griffen sich durchhilft." H e i n d l sieht also sehr wohl, daß der anscheinend mutige Weg des Einbrechers, der durch die Tresortüren führt, im Grunde genommen doch ein Weg der Schwäche und der Flucht vor den Schwierigkeiten des Daseins ist. Diese Auffassung deckt sich im wesentlichen mit der hier vorgetragenen. Hinzuzufügen wäre allerdings noch, daß körperliche und geistige Minderwertigkeit nicht notwendigerweise als objektive Faktoren vorhanden sein müssen, sondern daß es genügt, wenn das Individuum sich als minderwertig einschätzt, sich also das normale Leben nicht mehr zutraut. Aber auch das liegt irgendwie schon in den Worten H e i n d l s , wenn er auf den Mangel an geistiger Spannkraft und Ausdauer des Verbrechers hinweist. Denn dieser Mangel an geistiger Spannkraft und Ausdauer findet sich immer bei dem, der den Glauben an sich verloren hat. Ausdauer und Spannkraft sind Funktionen des Selbstwertgefühls und des Mutes der Persönlichkeit. Wenn wir auch vorhin feststellen konnten, daß das Verbrechertum als Klasse die Berücksichtigung der Interessen des Ganzen in seinem Moralkodex vermissen läßt, so ist damit noch nicht gesagt, daß nicht die Gesetze der Gemeinschaft dem Verbrecher starke Hemmungen bereiten. Die immanente Logik des menschlichen Zusammenlebens zwingt auch den Verbrecher in ihren Bann und meist nur unter Schwierigkeiten
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und unter beständigem Training gelingt es dem Verbrecher, zur gemeinschaftsfeindlichen Tat durchzubrechen. A l f r e d A d l e r hat über diesen Vorgang einiges Material der „Aktenmäßigen Darstellung merkwürdiger Verbrechen" von A n s e l m v o n F e u e r b a c h entnommen 4 . Ich entnehme dieser Untersuchung folgendes: „Josef Auermann, tadelloser Mensch, Bürger, Familienvater, schuldet seinem Knecht 4 0 0 Gulden. Dieser bedrängt ihn in der erbarmungslosesten Weise. Alles Hilfesuchen bleibt vergebens. Der Gedanke, sich seines Peinigers zu entledigen, gewinnt Raum, erscheint ihm geradezu als einziger Weg. Fühlt sich von allen verlassen. Findet die erleichternden Gedanken in der Erwägung: „Wenn der Knecht noch bei mir ist und um das Geld mich quält, wozu er in meinem Haus kein Recht hat, zumal die Zahlungszeit noch nicht vorüber ist, so erschlage ich ihn. Er ist nicht mehr wert. Trinkt mehr als sonst in verschiedenen Wirtshäusern, um sein Gemeinschaftsgefühl, sein Gefühl der Verantwortung zu betäuben. So gelingt ihm der Durchbruch. Er erschlägt den Knecht beim nächsten Streit, gesteht seine Schuld nachher, stellt sich dem Gericht. Als er die Braut des Erschlagenen sieht, sucht er sich zu verstecken. — Konrad Kleinschrod erschlägt mit Hilfe eines Knechtes seinen Vater, der ein wüstes Leben führt, seine Familie grausam behandelt, und als sie einmal zurückschlagen, sie bei Gericht anzeigt. Der Gerichtsvorstand sagt: ,Ihr habt einen bösen, streitsüchtigen Vater, euch ist nicht zu helfen.' Die Familie sann vergeblich auf Abhilfe. Der Vater lebte mit einer Dirne und drängte die Söhne, das Haus zu verlassen. Ein Taglöhner, der einer Leidenschaft huldigte, Hühnern die Augen auszustechen, und dem auch in 20 jähriger wüster Soldatenzeit das Training zu Mord und Totschlag erleichtert war, riet ihnen, ^den Vater zu erschlagen. Darüber fanden lange Beratungen statt. Zuerst versuchte man es mit einem Zaubermittel. Als dies versagte, erschlug Konrad gemeinsam mit dem Taglöhner den Vater. — Margarete Zwanziger, die deutsche Brinvillier, wuchs als Kostkind auf, war klein und verwachsen und deshalb eitel, gefallsüchtig und kriecherisch höflich. Nach mehrfachem Mißgeschick, wo sie der Verzweiflung nahe ist, versucht sie dreimal durch Vergiftung von Frauen in den Besitz von deren Ehegatten zu kommen. Spiegelt in listiger Weise Schwangerschaften und Selbstmordversuche vor. Äußert in ihrer Selbstbiographie: ,So oft ich nachher Böses tat, dachte ich, mit dir hat kein Mensch Mitleid gehabt, so habe denn auch kein Mitleid, wenn 4 Alfred A d l e r , Neurose und Verbrechen, Internationale Zeitschrift für Individualpsychologie, 3. Jahrgang, Seite 1.
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andere unglücklich sind.' Arbeitet also auf das Verbrechen hin und sucht nach Milderungsgründen. — Matthias Lenzbauer, schlechte Erziehung, durch Vernachlässigung an einem Fuße lahm. Vertritt an seinem jüngsten Bruder Vaterstelle, treibt aber in roher Weise seine Mutter zum Betteln an mit den Worten: ,Geh nur wieder, du altes Luder, warum hast du mich krumm gemacht.' Kann lange Zeit keine Arbeit finden, wird geschlechtskrank und hat kein Geld, um als Geselle freigesprochen zu werden. Erschlägt den Bruder auf dem Heimweg nach vergeblicher Arbeitssuche, um dessen kleines Erbe zu gewinnen. — Andreas Bichl, der Mädchenhändler, verheiratet, ist als Dieb, als feig und grausam bekannt. Lockt Mädchen unter abergläubischen Vorgaben in einen Keller, wo er sie tötet und ihrer Habseligkeiten beraubt. Versetzt sich dabei in einen erotischen Zustand, durch den er sich sein Vorhaben erleichtert und rechtfertigt. — Simon Stigler, schlecht vorbereitet fürs Leben. Kann nicht lesen noch schreiben. Vater wegen Diebstahl im Zuchthaus. Macht das Training im Elternhaus durch, wo er den Eltern mit Erstechen droht, sobald sie ihm nicht den Willen tun. Später wird er gegen Fremde tätlich, die ihn an seinem Willen hindern, droht Gegnern mit dem Erstechen, gerät immer leicht in Raufhändel und tötet mehrere Menschen. Auf der Anklagebank leugnet er. Bricht in die Worte aus: ,Was frage ich danach, ob mein Leben weg ist!' Erwartet also nichts vom Leben und findet darin eine Erleichterung für den Durchbruch des Gemeinschaftsgefühls." Wir sehen aus diesen wenigen Beispielen, die sich ins Ungezählte vermehren ließen, daß gerade auch der Verbrecher sich mit den Forderungen des Gemeinschaftslebens, allerdings auf seine Weise, auseinandersetzt. A n s e l m v o n F e u e r b a c h hat uns hier mit feiner Psychologie einen Einblick in die Seele des Kriminellen gegeben. Etwas mißtrauisch muß es dagegen stimmen, wenn wir in den den Behörden zugänglichen Schriften und Schilderungen von Verbrechern moralische Betrachtung von einer Stärke und Intransigenz finden, wie wir sie bei Angehörigen des strengsten Ordens kaum vorzufinden erwarten. Hier handelt es sich offenbar nicht mehr um die auf jeden Menschen mit ungeheurer Macht wirkende Logik des menschlichen Zusammenlebens, sondern um ganz andere und höchst eindeutige Motive. So lesen wir etwa bei W a l t e r L u z : „Warum nun bin ich ein so gemeiner Lump geworden? Hätte ich die Gebote Gottes und hauptsächlich das 4. Gebot beachtet, dann säße ich heute nicht im G e f ä n g n i s . . . Es ist kein Schaden für mich, daß ich im Gefängnis bin — im Gegenteil. Eine heilsame und kräftige Ermahnung ist mir durch meine Strafe zuteil geworden. Eine Lehre für mein ganzes Leben und jetzt endlich weiß ich, wie ich mein
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Leben einzustellen habe. Das eine weiß ich gewiß, einmal und nie wieder komme ich in eine solche Lage. Und das alles sind bei mir die Folgen eines gottlosen und sündhaften Lebens." Starken Worten wird man immer mit einer gewissen Vorsicht begegnen müssen und wohl auch hier. Auch das in den letzten Jahren in einer Reihe deutscher Strafanstalten eingeführte Stufensystem birgt zum mindesten die Gefahr, daß äußere Änderungen, welche Vorteile f ü r den Gefangenen mit sich bringen, inneren Wandlungen gleichgesetzt werden. Man wird versuchen müssen, diesen Gefahren zu begegnen. Den Begriff des normalen Kriminellen glaubten wir ablehnen zu müssen. Aber auch der Begriff des nervösen (neurotischen) Verbrechers bedarf einer näheren P r ü f u n g . Nachdem die moderne Psychologie von nervösen Krankheitserscheinungen des Seelenlebens ihren Ausgang genommen hat, bedarf es immer einer gewissen Vorsicht, wenn auf andere Gebiete übergreifende Schlüsse gezogen werden sollen. Naturgemäß bestehen zwischen dem Seelenleben des Nervösen und dem Seelenleben des Verbrechers erhebliche Unterschiede, wenn auch die gemeinsamen Merkmale eines verstärkten Minderwertigkeitsgefühles, verbunden mit einem überhitzten Überlegenheitsstreben der sozialen Mutlosigkeit, bei beiden festzustellen sind. Bei aller Entmutigung besteht bei dem Verbrecher immer noch genügend Mut, seine Ziele, die allerdings nunmehr auf einem Nebenkriegsschauplatz liegen, zu realisieren. Er realisiert seine Wünsche. Auch F r e u d hat dies ja schon festgestellt: Der Nervöse verdrängt seine anormalen, sexuellen Wünsche, der Perverse befriedigt sie. Der Verbrecher hat also die stärkere Aggression und hat offenbar also auch die stärkere Wirklichkeitsverbundenheit. Auch dies ist bis zu einem gewissen Grade ein günstiges Prognostikon f ü r die Möglichkeit von Wandlungen des Verbrechers. Denn es ist auch ein Weg, Irrtümer einzusehen, seine irrigen Pläne im Räume, wo sich hart die Sachen stoßen, durchzuführen zu versuchen. Mit Recht sagt W i l h e l m M i c h e l in seinem feinen Buch „Das Leiden am I c h " 5 : „Denn im entschlossenen Irren (gemeint ist das irrige Handeln. Verf.) lebt das Rechte tausendmal stärker als in jener Dumpfheit und Feigheit, die keine Entscheidung, keine extremen Verfehlungen, und daher keine heilsamen Zusammenstöße mit der unbeugsamen Wahrheit des Lebens kennt. Kommen wir denn jemals anders weiter, als durch Verwundungen? Sehen wir jemals eine Wahrheit ein, an der wir uns nicht gestoßen h a b e n ? " Bis zu einem gewissen Grad trifft es den Unterschied zwischen Nervösen und Verbrecher, wenn wir den Nervösen als asozial, den Ver5 W i l h e l m M i c h e l , Das Leiden am Ich, A n w e i s u n g e n und Betrachtungen zur praktischen Geistesführung, Verlag Karl Schünemann, Bremen 1930.
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brecher als antisozial bezeichnen. Bei den Nervösen handelt es sich um eine Umgehung des Gemeinschaftsgefühls, dessen sich der Nervöse nicht bewußt ist. Bei dem Verbrecher liegt ein Durchbruch durch die Gemeinschaftsbindungen vor, die von ihm richtig, allerdings nicht in ihrer vollen Tragweite, erkannt werden. Ohne Zweifel sind dem Verbrecher starke Gemeinschaftsbindungen geblieben, die es allerdings nicht rechtfertigen — wie bereits bemerkt — ihn als Normal-Eingeordneten zu bezeichnen. Aber es gibt eine Verbrechersprache, die die ganze Zunft versteht, und es gibt international bekannte Verbrecherzeichen (Zinken), die an Verbreitung dem Esperanto sicher nicht nachstehen. Zum Verständnis des Verbrechens scheint mir ein Gesichtspunkt von großer Wichtigkeit zu sein, den man allerdings nur mit einem gewissen Zögern vorbringen kann, da der Vorwurf eines platten Utilitarismus hier allzuleicht bei der Hand ist. Aber gleichwohl ist dieser Gesichtspunkt wichtig. Ich meine damit, daß der Weg des Verbrechers im allgemeinen kein lohnender ist. Das Verbrechen ist mit einem Wort u n rentabel. Dies liegt auf der Hand bei Affektverbrechen. Daß jemand, der aus Eifersucht auf seine Geliebte schießt, sich nicht von Nützlichkeitserwägungen leiten läßt, ist klar. Aber auch der Beamte oder Angestellte, der sich etwa eine Unterschlagung oder eine Reihe von Unterschlagungen zuschulden kommen läßt, handelt vom Standpunkt einer Nützlichkeitserwägung aus falsch. Die gleiche Unrentabilität können wir aber auch bei dem Berufsverbrecher feststellen, der doch eine ausgezeichnet arbeitende Organisation zu seiner Verfügung hat. Es gibt zwar — H e i n d 1 zufolge — eine sehr große Zahl ungesühnter, von Berufsverbrechern ausgeführter Straftaten, es gibt aber, ebenfalls H e i n d 1 zufolge, nur eine sehr geringe Zahl von Berufsverbrechern, denen es gelingt, den Schlingen des Gesetzes dauernd zu entgehen. Auch die Betätigung des Berufsverbrechers also, selbst des erfolgreichen, ist von wenigen Ausnahmen abgesehen, keine rentable. Es werden im großen und ganzen für verhältnismäßig geringe Resultate ein hohes Maß von Mühen, Entbehrungen, Qualen und Risiken aufgewandt, die auch nicht im entferntesten zu den erzielten Erfolgen in einem entsprechenden Verhältnis stehen. Der Weg des Verbrechers ist also nicht der Weg einer nüchternen, die Aussichten und Erfolgsmöglichkeiten abzuschätzenden Überlegung. Dieser Satz ist nicht ganz so selbstverständlich, als er zunächst erscheint. H e i n d 1 glaubt nun allerdings bei den Berufsverbrechern im Gegensatz zu den Gelegenheitsverbrechern, stets das Motiv der Gewinnsucht feststellen zu können. So stellt es sich bei vielen Berufsverbrechern
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heraus, daß sie über ihre Missetaten und deren Ertrag genauestens Buch führen. H e i n d l verweist insbesondere auf das schauerliche Geschäftsbuch des Massenmörders Denke. In diesem Geschäftsbuch befand sich hinter dem Namen eines jeden Opfers eine Gewichtsangabe in Pfund, die das „Schlachtgewicht" darstellte. Diese Anschauung scheint mir jedoch irrig zu sein, wie sich schon aus der eben angestellten Untersuchung über die Rentabilität des Verbrechens ergibt. Das Verbrechen kann nicht aus der Erwerbssucht, aus dem Gewinntrieb erklärt werden. Das Verbrechen kann einzig und allein verstanden werden aus der dem verbrecherischen Individuum eignenden Leitlinie, der Feindseligkeit gegen Gesellschaft und Mitmenschen. Man hat den Sinn des Geschäftsbuches des Massenmörders Denke falsch verstanden, wenn man darin nur das nach dem Muster eines Metzgers aufgemachte Geschäftsbuch eines Menschenmörders sieht. Man übersieht dann die ungeheure Entwertung und den gräßlichen Hohn, der darin liegt, daß Menschen gleich Schlachttieren nach ihrem Schlachtgewicht notiert werden. Man wird auch den Hauptmann von Köpenick nicht verstehen, solange man glauben wollte, es sei ihm bei seinem viel belachten Raubzug allein auf den Inhalt der Gemeindekasse der Gemeinde Köpenick angekommen. Man kann die Tat des Hauptmann von Köpenick nur verstehen, wenn man den ungeheuren Triumph erkennt, der den armen, ständig von der Behörde verfolgten und an der Gründung einer normalen Existenz verhinderten Schuster erfüllt haben mag, als es ihm gelang, eine militärische Truppe in seine Hand zu bekommen und nun mit ähnlichen Mitteln einer Behörde gegenüber aufzutreten, mit welchen bisher diese Behörde ihn angepackt hatte. Warum kommt es immer und immer wieder vor, daß Mörder, wie z. B. der Düsseldorfer Massenmörder Kürten, Briefe an die Behörden richten, in denen sie diese Behörde verhöhnen? Dies erscheint nur bei solchen Persönlichkeiten verständlich, welche sich den erbitterten Kampf gegen die Gesellschaft zum Ziel gesetzt haben. Streng genommen ist vom Standpunkt der hier vertretenen Auffassung der Titel dieser Schrift falsch. Es gibt, um es pointiert auszudrücken, keine Verbrechen, sondern nur Verbrecher. Das Verbrechen ist lediglich das Produkt der Entwicklung einer verbrecherischen Persönlichkeit. Das Verbrechen ist lediglich das Symptom der Leitlinie einer verbrecherischen Persönlichkeit; so, wie auch ein Krankheitssymptom eben nur ein Symptom ist und nicht mit der Krankheit selbst verwechselt werden darf. Infolge einer irrtümlichen Auffassung der Jugendsituation apperzipiert der Verbrecher die Umwelt auf seine Weise: als feindlich. Und im Verlauf dieser feindlichen Leitlinie kommt es eines Tages zu der verbrecherischen Tat, beinahe möchte man sagen, mit einer gewissen S c h m i d t , Verbrechen.
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Naturnotwendigkeit. Es ist der große Nachteil der heutigen Straf justiz, dem sie auf Grund der Technik des Gesetzes auch schwer entgehen kann, daß sie das Verbrechen an sich betrachten muß, daß sie einen Ausschnitt aus einem unteilbaren Ganzen, eben dem verbrecherischen Leben, herausgreift. Der Gegenstand juristischer Anatomie ist das herauspräparierte Delikt. Es käme aber darauf an, eine juristische Pathologie zu treiben und diese kann nur an der lebendigen Gesamtpersönlichkeit studiert werden. In diesem Zusammenhang muß auch des vielzitierten § 51 des Deutschen Reichsstrafgesetzbuches gedacht werden, welcher bekanntlich bestimmt, daß eine strafbare Handlung dann nicht vorhanden ist, wenn der Täter zur Zeit der Begehung der Handlung sich in einem Zustand von Bewußtlosigkeit oder krankhafter Störung der Geistestätigkeit befand, durch welchen seine freie Willensbestimmung ausgeschlossen war. Der führende Kommentar der Reichsgerichtsräte definiert die freie Willensbestimmung als „die Fähigkeit, die verschiedenen gleichzeitig oder nacheinander beim Wollen auftretenden Gefühls- und Vorstellungsinhalte, die als solche selbst Elemente des Wollens sind, schöpferisch zu einem neuen, gleichsam Gesamtwillen, als Resultante zusammenzufassen und in einem solchen zusammenfassenden, den einzelnen Willensvorgang zum Abschluß bringenden Entschluß, die gesamten seelischen Kräfte zu konzentrieren und gegenüber den einzelnen Wollungen zur Herrschaft zu bringen und damit das eigene Ich, das eben in der Gesamtheit der Seelenkräfte liegt, bewußt selbst zu bestimmen". Die Bedeutung dieser und ähnlicher Definitionen, die das Ergebnis vielseitiger Bemühungen darstellen, soll nicht verkannt werden. Vielleicht läßt sich gegen diese Definition an sich nichts Stichhaltiges vorbringen. Auf der anderen Seite erscheint es aber doch, daß solche Definitionen nur möglich sind, wenn man von einer unrichtigen Auffassung über das Wesen des Verbrechens, oder besser des Verbrechers, ausgeht. Das Verbrechen ist eben alles mehr als das Ergebnis eines die einzelnen Gefühls- und Vorstellungsinhalte schöpferisch zu einem neuen Gesamtwillen zusammenfassenden Entschlusses. Das Verbrechen ist nichts anderes als ein im Laufe einer längeren verbrecherischen Entwicklung mit einer gewissen Zwangsläufigkeit auftretender Vorgang. Es tritt hier eine zwar landläufige, aber vollkommen unwissenschaftliche und unrichtige Auffassung vom Verbrecher zutage, als ob dieser ein Normalmensch wäre bis zu dem verbrecherischen Entschluß und der verbrecherischen Tat, die einen besonders zu beurteilenden Einschnitt im Leben dieses Menschen darstellten. Vollkommen wird dabei übersehen, die im Grunde beinahe allein ausschlaggebende und ungeheure Belastung des Vorlebens und der große, mitunter unwiderstehliche Zwang eines gemeinschaftsfeindlichen Trainings.
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Im neuen Entwurf zum Reichsstrafgesetzbuch hat man nun allerdings Bestimmungen geschaffen, die die Berücksichtigung anormaler Seelenzustände in einem erhöhten Maß zulassen. Es handelt sich hier in der Hauptsache um die sogenannten Psychopathen. Daß um die Normierung dieses Begriffes sich in der Rechtsprechung heftige Meinungskämpfe abspielen werden, ist unschwer vorauszusehen. Auf jeden Fall bedeutet die Einführung solcher Bestimmungen eine Anpassung an die Fortschritte medizinischer und psychologischer Erkenntnisse. Aber auch die Einführung des Begriffs des Psychopathen in das neue Reichsstrafgesetzbuch darf uns nicht darüber hinwegtäuschen, daß jeder Verbrecher, auch der sogenannte normale, durch seine Vorgeschichte seelisch belastet ist. Unter dem Gesichtspunkt der Feindschaft gegen die Gesellschaft lassen sich verschiedene Gruppen von Verbrechen, je nach dem Maß ihrer Entmutigung, unterscheiden, womit jedoch keineswegs behauptet werden soll, daß gerade der G r a d der Entmutigung für die Verbrechenswahl ausschlaggebend sei. Es verrät immerhin noch einen gewissen Mut, gegen einen überlegenen Gegner anzufechten, also etwa gegen den Staat oder seine Organe, wie Polizei, Behörden usw. In diese Klasse fallen vor allem die politischen Verbrecher. Daß zwischen dem politischen Verbrecher und dem radikalen Politiker prinzipielle Unterschiede bestehen, darauf habe ich bereits hingewiesen. In der Praxis selbstverständlich können die Grenzen verschwinden. A l e x a n d e r - S t a u b führen politische Attentate auf mehr oder weniger sublimierte Vatermord-Tendenzen zurück (Ödipus-Komplex). Daß der sogenannte Ödipus-Komplex eine recht anschauliche Formel für das Verständnis gewisser Verhaltungsweisen ist, soll nicht in Abrede gestellt werden. Immerhin ist es möglich, die Einstellung politischer Attentäter auch nüchterner und realer zu verstehen, als an der Hand griechischer Mythen. Wir werden immer ein gutes Bild der Einstellung der Persönlichkeit zu ihrer Umwelt gewinnen, wenn wir die Kindheitssituation des Betreffenden, insbesondere das Verhältnis zu Vater, Mutter und Geschwister betrachten. Und so wird man S t a u b A l e x a n d e r wohl darin rechtgeben müssen, daß wir bei dem politischen Attentäter häufig auf eine feindselige Einstellung gegen den Vater in der Jugendzeit stoßen werden. Die patria potestas, die väterliche Autorität, wird ja häufig mit der Staatsgewalt identifiziert (vgl. den bereits zitierten Roman von F r z . W e r f e i „Nicht der Mörder der Ermordeten ist schuldig"). Daß dem Verbrecher häufig Mut in der Richtung übriggeblieben ist, andere Einzelpersonen überwinden zu können, zeigt sich an dem 3*
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Gros der Verbrechen, angefangen von Körperverletzung, Vergewaltigung bis zur Vernichtung in Mord und Totschlag. All diese Verbrechen werden wir restlos nur dann verstehen können, wenn wir sie nicht sehen lediglich als die von dem Täter gewünschte Lösung irgendeines realen Konfliktes, sondern als die Begleiterscheinung der Leitlinie zur Überlegenheit, die mangels genügenden Selbstvertrauens hauptsächlich mit negativen Mitteln arbeiten muß. Wer sich nicht traut, aus eigener Kraft andere zu überflügeln oder es ihnen gleichzutun, beschränkt sich darauf, die Überlegenheit durch Entwertung des Rivalen, die bis zur Vernichtung gehen kann, zu realisieren. Auch beim Delikt des Betrugs ist offensichtlich, daß der Betrüger der schlauere ist. Der gelungene Betrug steigert sein Selbstgefühl. Noch deutlicher ist die Überlegenheitstendenz beim Hochstapler, eine Verbrechensart, die in außerordentlichem Maße das Überlegenheitsstreben erkennen läßt. Auch die Prostitution, worüber später noch zu reden sein wird, zeigt deutlich das Streben nach Macht und Überlegenheit. Die Prostituierte hat Macht über viele Männer, was ihrem Selbstgefühl schmeichelt. Daneben spielt hier auch der sogen, männliche Protest eine Rolle. Männlichen Protest nennt A l f r e d A d l e r zunächst die Auflehnung der Frau gegen die ihr als untergeordnet erscheinende weibliche Rolle und dann weiter die verstärkte Oppositionseinstellung überhaupt. Indem die Prostituierte nicht dem Manne die Werbung überläßt, sondern das Verhältnis umdreht und um den Mann mit offenen Mitteln wirbt, tritt der männliche Protest gegen ihre Geschlechtsrolle zutage. Besonders stark drückt sich Entmutigung in einer weiteren Gruppe von Verbrechen aus, zu denen Bettelei, Landstreicherei, aber auch die ganzen sexuellen Perversionen gehören. Landstreicherei und Bettelei sind die Fluchtgebiete derjenigen, die den Glauben daran verloren haben, durch eigene berufliche Arbeit und Tätigkeit sich durchzusetzen. In den sexuellen Perversionen kommt die Furcht vor dem normalen Geschlechtspartner zum Ausdruck. Eine besondere Beleuchtung erfährt von unserem Standpunkte aus auch die Deliktsform der Fahrlässigkeit, bei der die Rechtfertigung der Strafe vom Standpunkt der Vergeltungstheorie aus immer gewisse Schwierigkeiten gemacht hat. Wie kann man einen Menschen für etwas bestrafen, was er nicht eigentlich gewollt hat, wenigstens solange man das Hauptgewicht auf die Bewußtseinsseite legt. Betrachtet man die Persönlichkeit jedoch als ein einheitliches zielstrebiges Ganzes, so bleibt nichts anderes übrig, als dieser Persönlichkeit auch die fahrlässigen Handlungen anzurechnen. Auch die fahrlässigen Handlungen können sehr wohl in den Lebensplan der betreffenden Persönlichkeit hineinpassen, mag ihr dies auch im Einzelfalle nicht bewußt sein. (Ich
III. A n a l y s e eines Schwurgerichtsfalles.
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erinnere kurz an das zitierte Beispiel aus F r e u d s „Psychopathologie des Alltagslebens", in welchem F r e u d sein Tintenfaß zwar fahrlässigerweise zerbrochen hat, aber doch erkennt, daß die Fahrlässigkeit durchaus seinen tieferen Intentionen entsprach.) Dies gibt Anlaß darauf hinzuweisen, daß die neuen psychologischen Forschungen die Verantwortung der Persönlichkeit in einem ungeheuren Maße erweitert haben. Es ist also nicht richtig zu glauben, daß man es hier mit einer weichlichen Mitleidshaltung (tout connaitre c'est tout pardonner) zu tun hat. Wir werden Gelegenheit haben, darauf bei der Besprechung von D ö b l i n s „Berlin Alexanderplatz" noch näher einzugehen 6 . Allerdings ist die Konstatierung der erhöhten Verantwortlichkeit -hier nur ein Anlaß zu verstärkter erzieherischer Beeinflussung, nicht zur Bestrafung.
III. Analyse eines Schwurgerichtsfalles. Die zweite Ehe des Schreiners M. wird aus seinem Verschulden geschieden, wegen Mißhandlung seiner Frau. Die Urteilsgründe führen u. a. aus: Das Gericht kommt zu der Feststellung, daß der Beklagte in der Nacht des . . . die Klägerin derart ins Gesicht schlug, daß sie Anschwellungen im ganzen Gesicht und einen Bluterguß im linken Auge davontrug. Er hat, wie sich aus dem Vorakte ergibt, seine erste Frau Wilhelmine wiederholt grob mißhandelt, auch hat er sich zugestandenermaßen schon früher zu Mißhandlungen der Klägerin hinreißen lassen. Wenige Tage nach Urteilsverkündung gibt M. auf seine Frau auf der Straße fünf Schüsse aus einem Revolver ab, durch welche seine Frau, wenn auch nicht lebensgefährlich, verwundet wird. In der Untersuchungshaft wird er von mir ersucht, sein Leben unter folgenden Gesichtspunkten aufzuzeichnen: a) meine Jugend, b) Schule und Verkehr mit Kameraden, c) mein Berufsleben, d) meine Beziehungen zu Frauen, e) meine Enttäuschungen. Er erklärt, lieber seinen Werdegang in freier Weise schildern zu wollen, ohne sich an diese Punkte zu halten. Im folgenden soll aus dieser Niederschrift das Wesentliche vorgetragen werden. Hiezu eine kleine Vorbemerkung: Der Zug der sozialen 6 Alfred D ö b l i n , Berlin Alexanderplatz, D i e G e s c h i c h t e von Franz Biberkopf, V e r l a g S. Fischer, Berlin 1930.
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III. Analyse eines Schwurgerichtsfalles.
E n t m u t i g u n g g e h t w i e ein roter F a d e n durch d i e s e A u f z e i c h n u n g e n . G e w i ß m ö g e n die e i n z e l n e n hier w i e d e r g e g e b e n e n E r l e b n i s s e viel zu u n w i c h t i g s c h e i n e n , um m o t i v i e r e n d zu wirken. D a ß s i e aber s o apperzipiert u n d reproduziert w u r d e n , läßt einen Schluß auf die Leitlinie zu. „Mein erstes Erlebnis war wohl das, daß man mich in eine Kinderbewahranstalt steckte, in die meine ältere Schwester — die damalige ,Zenzi' und spätere ,Senta' schon geraume Zeit ging. Ich kann mich erinnern, daß ich ein mörderisches Qeheul anschlug, weil ich nicht bei der ,Zenzi' sitzen durfte, sondern, wie es eben aus falscher und verlogener Moral in solchen Anstalten eingeführt war, Knaben und Mädchen getrennt sitzen mußten." Es g e l i n g t d e m J u n g e n dadurch, z w a r nicht n e b e n , aber d o c h in die N ä h e s e i n e r S c h w e s t e r g e s e t z t zu w e r d e n . — D i e Eltern s i n d arm, s i e hatten h ä u f i g kein G e l d , w e s h a l b m i t u n t e r das A n s t a l t s g e l d nicht b e z a h l t u n d mitunter auch der B e s u c h d i e s e r A n s t a l t e i n g e s t e l l t w e r d e n m u ß t e . D e r Versuch d e s Vaters, ein S p e z e r e i g e s c h ä f t a u f z u b a u e n , m i ß l i n g t . D a s k l e i n e H e i r a t g u t der Mutter w i r d dadurch a u f g e z e h r t , der Vater arbeitete dann a l s Schreiner, die M u t t e r m a c h t e Bürsten. „Ja, wir waren arm, und der Hunger tut weh. Vater verdiente wohl nicht viel und hielt Mutter sowieso sehr knapp. Es wurde viel wegen Oeld gestritten." E i n e s T a g e s k o m m t er in die H e i m a t s e i n e r Mutter, da die Mutter w e g e n M i ß h a n d l u n g e n von zu H a u s e w e g g e g a n g e n ist. Sie hat ein b l a u e s A u g e . D e r Vater h o l t die M u t t e r w i e d e r zurück. Er fährt dann auch einmal mit s e i n e m Vater ins Fränkische in d e s s e n H e i m a t , w o er o f f e n b a r s c h ö n e S t u n d e n verlebt. „Doch auch f ü r mich begann der Ernst des Lebens. Ich wurde für die erste Schulklasse eingeschrieben, sie wollten mich zwar nicht nehmen, da ich noch keine 6 Jahre und so klein war, daß ich nicht einmal auf den Tisch bei der Einschreibung hinaufsah. Ich kam in die alte einstöckige Schule. Sie mußte wegen Baufälligkeit bald geräumt werden, noch bevor das erste Schuljahr zu Ende war. Am Tage, wo der Umzug begann, kam gerade meine Mutter, um sich nach meinen Fähigkeiten zu erkundigen. Wie sie ausgefallen war, weiß ich nicht, aber daran kann ich mich erinnern, daß ich bitterlich weinte, alle Jungen durften Bücher und sonstiges Inventar tragen, nur ich nicht. Mein Lehrer konnte sich nicht erklären, was los war, bis ihn meine Mutter darauf brachte, daß ich nur deswegen heulte, weil ich nichts zu tragen hatte. Gekränkter Ehrgeiz, weiter nichts, ich bekam auch etwas und die Sache war gehoben." „Der Lehrer war nicht unrecht, nur zog er einem an den Ohren, daß man blutete. Diese Methode hat mir damals und auch heute noch nicht imponiert. Na, er hats zum Oberstudienrat gebracht damit und so wirds f ü r ihn schön richtig gewesen sein." „Die Zeit, die mir nach der Hausaufgabe noch blieb, mußte ich fleißig Kindsmagd machen, denn die Familie wurde größer und die Mutter pflegte zu sagen, die Buben passen besser auf. Nur einmal, als ein Schwesterchen starb an der Kolik, da hieß es, ich hätte sie beim Spazierenfahren nicht warm genug gehalten. Ich war nämlich zuletzt mit ihr fort. Bei der Beerdigung brachte ich keine Träne heraus, obwohl ich so unglücklich war, wie noch nie. — Ich ging darauf später noch in den Speicher und weinte, wie's Niemand sah. Da ward mir wieder wohl und leicht ums Herz."
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Hier zeigt sich bereits eine starke Isolierung und Störung des Verhältnisses zu den Eltern, er verzweifelte daran, sich gegen ungerechte Vorwürfe erfolgreich verteidigen zu können. Er unterdrückte seine Gefühle aus Trotz. Ähnliche Erlebnisse hat wohl jeder von uns einmal gehabt, es kommt darauf an, ob sie überwunden werden. Aus einer späteren Zeit berichtet M.: „Zwei Ereignisse fielen in die damalige Zeit. Die erste Kommunion und die Firmung. Von der Kommunion war das Schönste der Kuchen, den Mutter buk und f ü r 30 Pfennig Gefrorenes erhielt ich auch und selbstredend der schwarze Anzug. Ich wurde der Billigkeit halber nach Sendling zum Photographieren geschickt — es war auch danach. Mit der Firmung war es ein rechtes Kreuz. Vater war evangelisch und kümmerte sich um solche Sachen nicht. Wo einen Firmpaten hernehmen und nicht stehlen. Unsere Bekannten waren selber arme Teufel, bei denen man mit solchen Sachen keine Ehre aufhebte. Da kam meiner Mutter ein rettender Oedanke, sie schickte mich zum Olasermeister H., der Gemeindebevollmächtigter war. Er sagte zu und als der gefürchtete Tag kam, schickte er einen Berufskollegen, weil er im Rathaus Sitzung-hatte. Ich hatte schon Angst, er käme überhaupt nicht. Endlich kam der Herr Vizefirmpat, wir kamen als letzte in die Kirche, gingen dafür aber als erste heraus. Jetzt sollte es nach meiner Meinung erst los gehen, was sich halt so ein Kinderherz träumt. Gutes Essen und so fort, aber was hatte ich für Pech! Wir gingen in die Pschorrbräubierhallen. Der Herr Vize bestellte zweimal Nudelsuppe f ü r sich und f ü r mich und das waren damals noch ordentlich tiefe Teller. Als ich meine Suppe endlich heraus hatte, sagte der Herr Vize: da iß die meine auch, mir ist so wie so schon alles zu heiß! Ich traute mir nicht nein zu sagen und löffelte auch die noch aus. Jetzt erschien der eigentliche Pate, der Herr Gemeindebevollmächtigte und bestellte auch Suppe, auch die mußte ich essen, verflucht und zugenäht, mir klebte das Hemd am Leibe, wie wenn ich im Dampfbad wäre, aber ich habs geschafft und als das Essen kam, da gings nicht mehr. Verdutzt schauten sich die 2 Größen an, bis ich sagte, ich hätte ja 3 Teller Suppe gegessen und das war mein Firmlingsschmauß. Ich erhielt keine Uhr, sondern 5 Mk., die Vater gleich annektierte (!) als ich heim kam." „Im selben Jahr hatten wir einen Maiausflug, bei dem ich folgendes Pech hatte. Wir gingen durch den Wald und ich zockelte als Letzter hinterdrein, plötzlich hörte ich vorne bei den anderen ein großes Hallo. Ich lief hin und sah, wie sie einer Kröte den Garaus machten. Ich, der ich gar nichts damit zu tun hatte, drehte die tote Kröte mit dem Fuße um und schon stand der Lehrer hinter mir. Dies und eine andere Sache, die ich nie vergessen habe, trug mir nachstehende Bemerkung in der Note ein: Hat den Lehrer auf Kirchweih geladen und einen Frosch mit Absicht zertreten."
Die Welt, die einen ungerecht behandelt und unschuldig verurteilt! M. will Kaufmann werden, aber der Vater erlaubt es nicht. „Anderntags f r u g mich mein Vater, was ich werden wolle, ich sagte Kaufmann. Mein Vater sagte, dazu habe ich Mädchen genug, wenn Dir nichts anderes einfällt, dann machst Du, daJ3 Du in die Werkstatt hinter kommst und so wurde ich Schreiner — leider!" „Ich erinnere mich noch wie heute, am 15. I. 1910 lernte ich der Form nach aus. — Als ich am Sonntag im weißen Sweater mit den Schlittschuhen in der Hand, ich wollte einmal aufs Eis gehen, vor meinen Vater hintrat geduldig wartend bis er seine Zeitung gelesen hat, er schaute gar nicht auf, bis ihm Mutter einen Wink
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gab. ,Was ist denn los?' Mir war bei dieser Rede alle Lust vergangen und so sagte ich, nichts besonderes ist los, aber ich habe ausgelernt und ich möchte gern wissen, was ich verdiene. Darauf erhielt ich eine Antwort, die für mein ganzes späteres Verhalten zu meinem Vater bestimmend war. ,Hier sind 5 Mark und wenns Dir nicht paßt — die Sonne scheint.' Das tat weh, jetzt, weil ich nicht mehr ausschließlich billige Arbeitskraft war, weil ich schon Lohn bekommen sollte, jetzt kann ich gehen. Ich zog mich wieder aus, verwahrte meine Schlittschuhe und blieb zuhause. Von da ab sparte ich und verkaufte meine Bücher und entbehrlichen Sachen und als ich ca. 20 Mk. beisammen hatte, sagte ich zu meinem Vater, ich gehe jetzt in die Fremde. Er — ich halte Dich nicht auf, des Menschen Wille ist sein Himmelreich. Na, so ganz recht wars ihm doch nicht, aber ich konnte ihm den Ausdruck ,die Sonne scheint' nicht vergessen." M. ist der Situation im e l t e r l i c h e n H a u s ü b e r d r ü s s i g und g e h t in d i e F r e m d e . Auf der W a n d e r s c h a f t durchzieht er die m e i s t e n e u r o p ä i s c h e n Länder, Österreich, U n g a r n , S c h w e i z , Frankreich, H o l l a n d , L u x e m b u r g , B e l g i e n . „ F r e i h e i t , ein B e g r i f f , d e n nur der e r m e s s e n kann, der einmal wirklich frei w a r . " D i e Z e i t der W a n d e r j a h r e s c h e i n t a l l e r d i n g s h e u t e vorbei zu sein. Auf der Landstraße treiben sich viel z u s a m m e n g e b r o c h e n e E x i s t e n z e n herum, von d e n e n j u n g e Leute m e i s t nichts G e s c h e i t e s l e r n e n k ö n n e n . M. läßt sich ü b e r s e i n e E r l e b n i s s e auf der W a n d e r s c h a f t nur kurz aus. Er ist w ä h r e n d der g a n z e n Z e i t mit e i n e m treuen Kameraden z u s a m m e n , an d e m er s e h r hängt. D i e V e r b i n d u n g m i t d i e s e m verliert er j e d o c h , a l s er in die H e i m a t zurückkehrt, u m sich den M i l i t ä r b e h ö r d e n zur U n t e r s u c h u n g zu s t e l l e n . A l s n e g a t i v e s E r g e b n i s d i e s e r W a n d e r j a h r e s e h e n wir eine zunehmende Entfremdung von Familie und Heimat. „Meine ältere Schwester war es, die mir die Türe öffnete, es war ein Sonntag vormittag und alle zuhause, die erschrak ordentlich, führte mich jedoch dann herein. ,Grüß Gott beisammen!' Mutter zeigte mir eine neue Schwester. Ich merkte auch, daß sie schon wieder guter H o f f n u n g war. Es war ihr und mir peinlich. Durch diesen Umstand fand ich damals schon nicht mehr den rechten Anschluß am heimatlichen Herd." „Ich war wiederum im elterlichen Geschäft tätig, jedoch auch da stimmte die Sache nicht. Ich sollte den Gesellen und Lehrlingen gegenüber als Meistersohn auftreten, auf der anderen Seite vergaß mein Vater vollständig, daß ich zwar sein Sohn, doch nicht mehr Lehrjunge war. Mit einer Sache, die weder kalt noch heiß war, machte ich deshalb Schluß und schon am 8. Mai 19. . befand ich mich auf der Fahrt nach Berlin." M. g e h t a l s o nach kurzem A u f e n t h a l t zu H a u s e w i e d e r auf d i e W a n d e r s c h a f t , f i n d e t a b e r s e i n e n l ä n g j ä h r i g e n W a n d e r k a m e r a d e n nicht mehr. Im K r i e g e rückt er ein, b l e i b t a b e r zunächst in der G a r n i s o n . „Da sagte ich mir, als Soldat wäre es ganz nett, wenn ich ein ständiges Verhältnis hätte und wozu denn in die Ferne schweifen. Im Bekleidungsamt war eine Zivilabteilung etliche 1500 Frauen und Mädchen, etliche davon aßen in unserer Kantine und so lernte ich ein nettes Mädchen kennen. Die Maid war 2 Jahre jünger." Im F e l d e erfährt dann M., daß das M ä d c h e n v o n ihm in der H o f f n u n g ist. D i e G r o ß m u t t e r g i b t zur H o c h z e i t 5 0 0 Mk.
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„Mit diesem Oelde machte ich während eines sogenannten Genesungsurlaubes (M. war verwundet worden) ein Schlafzimmer und das Andere kaufte man so nach und nach und am 12. III. 1917 war ich verheiratet aus purer Anständigkeit, denn es war mir längst klar, daß ich sie nur deshalb heiratete, weil ich mir sagte, wenn ich wieder ins Feld komme und es stoßt mir etwas zu, dann steht sie mit dem Kind hilflos da. Ich hatte es später genug zu bedauern." „Der Betrag, den meine Frau vom Wohlfahrtsamt erhielt, war zu gering um das Leben und die Miete zu bestreiten. Meine Frau sagte deshalb, sie wolle unser Kind in Kost geben, um etwas zu verdienen. Ich andererseits konnte mich den Tatsachen nicht verschließen, war aber erfahren genug, um zu wissen, daß man Kostkinder in 99 Fällen nur nimmt, um eine Einnahmemöglichkeit zu haben und daß diese armen Würmer darunter Schaden leiden, deshalb ging ich zu meiner Mutter und f r u g sie, ob sie mein Kind nicht in Kost nehmen würde, da sie ja von meiner großen Schwester auch eins hatte. Mein Oedankengang war der, daß es bei meinen Eltern doch gut versorgt sei. Mutter sagte sie hätte nichts dagegen, aber sie müsse erst mit Vater sprechen; am nächsten Tag ging ich wieder hin, sie sagte, ich würde ja recht gerne, aber Vater sei dagegen, ich sagte gar nichts, ging ins Geschäft und f r u g Vater, der sagte ja er hätte nichts dagegen, aber Mutter sei nicht d a f ü r . Ich sagte wieder nichts, sondern nahm mir vor, Mittag beide, wenn sie beisammen sind, in Verlegenheit zu bringen und richtig, als ich dann mit der Frage heraustrat, wer lügt nun von Euch beiden? Da wußten sie nichts zu sagen, mich hat die Affäre meinen Glauben gekostet, denn als ich kurz darauf ins Feld mußte und ich einen Brief von zuhause erhielt, in dem mir meine Mutter schrieb, sie bete alle Tage für mich, daß mir nichts passierte, da kriegte ich die Wut und ich antwortete, sie hätte mir eine viel schlimmere Sorge, als die um mein bißchen Leben abnehmen können, aber unter diesen Umständen hätte ich weder Verständnis noch Dank dafür, — denn nach ihrem Glauben hieße es doch ,an ihren Früchten sollt ihr sie erkennen, nicht an ihren Worten'. Durch diesen Brief verlor ich den Kontakt f ü r lange Zeit mit meinen Eltern. Und suchte sie weder 18 im Urlaub, noch nachdem der Krieg zu Ende war, auf."
Nach der Rückkehr des M. aus dem Felde kam es bald zu Zwistigkeiten in der Ehe (1. Ehe!). Das Kind war schon, während M. im Felde war, im Alter von vier Monaten an der Diphtherie gestorben. „Ich ging wieder meinem Beruf nach, meine Frau übte ihre Damenschneiderei aus und es hätte ganz schön umgehen können. Nur ich war und blieb mißtrauisch. Ging meine Frau zu ihren Kundschaften abends zum Probieren, so kam sie spät nachts nachhause. Es gab Vorwürfe, Streitigkeiten, mir ging der Gaul durch, es kam zu Tätlichkeiten. Ich sagte, sie könne es sich so einteilen, daß sie ihre Sachen untertags erledige. Sogenannte Freunde sagten mir, ist das der Onkel mit dem ich sie sah usw. und sagte ich zu einem, ob er darauf stehen könne, so ga"b es Ausflüchte. Kurz und gut, mir war alles so verekelt, daß es nicht zum Beschreiben ist. Endlich hatte ich sie so weit, daß sie ging und auszog. Sie teilte unser Mobiliar selbst — wie halt ein Weib teilt und stellte Scheidungsklage, ich hatte keinen Beweis, doch endlich am 27. Dezember 1920 gelang es mir, ihr Verhältnis festzustellen. Die Ehe wurde dann aus beiderseitigem Verschulden geschieden am 27. Jan. 1921 und knapp ein Vierteljahr darauf stellte mir die Frau eine Vollmacht aus, daß sie mich wieder heiraten möchte — ich sollte f ü r sie um Heiratsdispens nachsuchen. Na, ich bin doch kein Komiker! — Von da ab hatte ich einen ordentlichen Ekel vor den Frauen und bemühte mich nur um eine, wenn ich es f ü r meine Natur erforderlich hielt."
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Gleichwohl heiratete M. einige Jahre später wieder. Auch diese Ehe wurde bekanntlich geschieden. Nach dem Urteilsspruch der I. Instanz verübte M. das Attentat. Über diese zweite Ehe berichtet M. folgendes: „ W i r lernten zwei Schwestern kennen, beide j u n g und scheinbar von ordentlichen Eltern, die eine fesselte mich wirklich durch ihr stilles gediegenes Wesen, wir schlössen uns näher zusammen, aber immerhin gebranntes Kind scheut das F e u e r und ich glaubte dem Ernst dadurch auszuweichen, daß ich ihr nur das Geständnis machte ,ich glaube, ich könnte Dich gern haben' es nutzte alles nichts, sie küßte mich und sagte ,und ich hab Dich lieb', da wußte ich, daß ich diesem Weibe mit Leib und Seele verfallen sei. Nun ging es an ein Hungern und Sparen, bis ich das Nötigste zusammenbrachte zum Heiraten. E s war 1 9 2 2 mitten in der Inflation und soviel ich mich erinnere stand der Dollar an meinem Hochzeitstage genau auf 2000 M. Nun, wir haben es doch fertig gebracht, daß wir am 26. Juli 1 9 2 2 heiraten konnten, wir machten sogar noch eine kleine Hochzeitsreise nach Kochel, es war die schönste Zeit meines Lebens und ich hatte nur den einen Wunsch, daß es immer so bleiben sollte, nur einmal zog ein Wölkchen herauf, aber sogar das schien mir dazu zu gehören, denn es bewies mir nur das Sprichwort nach Regen f o l g t Sonnenschein! Marie ging wieder ihrem Berufe nach. Sie war Schabloniererin und wohnte nach wie vor bei ihren Eltern — leider! Am 1. November 1 9 2 2 entband sie in der Frauenklinik von einem Mädchen. W i r tauften es Hildegard und ich war ganz glücklich gewesen, wenn nicht die leidige Wohnungsfrage gewesen wäre. J a die Wohnungsfrage war uns, hauptsächlich mir ein arger Kummer. Die ältere Schwester meiner F r a u lebte von ihrem Mann getrennt, mit ihrem Knaben zu Hause, sie war mehr oder weniger öffentlich erbost auf uns, denn sie glaubte, wir wären ihr im W e g e sowohl wegen der Wohnung als auch sonst. Kurz und gut, siebtens der Neid. — Mein Kind war wund, wie dies bei kleinen Kind e m öfters vorkommt, da f r u g sie meine Frau, ob sie gewiß wisse, ob ich auch nicht geschlechtskrank sei — ich fühlte mich durch diese Schikanen bald als fünftes Rad am W a g e n , schon das machte Unfrieden, wenn ich jeden Abend um 6 Uhr nach Neuhofen ging, so war diese Wohnung voller Menschen, mit denen ich schließlich nichts gemein hatte, als das zweifelhafte Vergnügen, verschwägert zu sein. Ging ich um 9 U h r nach Hause, ein W e g , der wenigstens 1 Stunde dauerte, so war es meiner F r a u nicht recht, und blieb ich länger, so bekam ich zu hören, daß man zuviel Licht verbrenne und als ich, um nicht fremdes Gas zu verbrennen, sogar eigenes Petroleum brannte, hieß es, ob uns (Jas teuere Öl nicht reue und ob ich gar nicht auf die Gesundheit meiner F r a u schaue. Solcher Art war die Zwickmühle in der ich mich befand. Endlich gelang es mir eine Wohnung, und s o g a r vom Wohnungsamt zu erhalten. Welche Summe von Raffinesse, sogar eine Beleidigungsklage war notwendig." „Ich kann nicht anders sagen, Geld kriegte meine F r a u nie genug, dagegen was ich von meinem Verdienst für mich beanspruchte, war immer zuviel. S o gab es oft Streit und leider muß gesagt werden, wir gingen beide oft zu weit — nur mit dem Unterschied, daß ich mein Leid und Unglück mit Niemand teilte und ich litt wirklich darunter, während meine F r a u zu ihren Eltern lief und mich schlecht machte. Ich war halt immer der schuldige Teil und wenn ich wirklich einmal ein Glas über den Durst trank, dann hieß es immer ,ich kriege auch noch einen anderen Mann, oder gelt Kind, wir bekommen noch einen anderen Papa' und diese Äußerungen machten mich wahnsinnig eifersüchtig; es kam zu Szenen, wie sie nicht vorkommen sollten und es wurden diese Sachen alle auf das Konto Trunksucht geschrieben, bis sich eben die bekannten Verhältnisse herausbildeten."
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Damit schließt der Bericht, wobei zu bemerken ist, daß M. im letzten Jahr arbeitslos war. In einem Schlußwort schreibt M. an mich : „Werter Herr Dr.! Ich habe versucht, Ihrem Wunsch betreffs meines Lebenslaufes von mir in vorstehenden Zeilen nachzukommen. Ich habe mein Möglichstes, soweit mir dies mein jetziger Seelenzustand erlaubt, gegeben. Es ist, glaub ich, etwas mehr als der bloße äußere Rahmen — wenn ich auch nicht alles geben konnte. Es liegt mir nichts daran, nochmals meine harmlosen Liebschaften zu beschwören oder haarklein zu erzählen, wie ich in Rotterdam Opium rauchte und zur Strafe um meine Barschaft kam, aus der Schweiz per Schub kam, durch die schöne Wachau als Schifferknecht fuhr, in Brüssel Eis und in Münster heiße Würstchen verkaufte usw. alles mitsammen war für mich vom heutigen Standpunkt aus verfehlt, ich nehme auch "zu den letzten Ereignissen nicht Stellung, nur eines weiß ich gewiß, wenn ich das Schwerste, das doch nicht das Schwerste ist, hinter mir habe, werde ich Frieden mit meiner Frau schließen und sollte ich den ,Mond' holen müssen und dann mache ich einen dicken Schlußstrich hinter meine Vergangenheit, denn nur mit Frieden im Rücken kann ich daran denken, wieder aufzubauen, um vielleicht doch nicht umsonst gelebt zu haben."
M. ist in vorstehendem Bericht, der beinahe alles wesentliche enthält, selbst zu Wort gekommen. Dieser Bericht bedarf kaum eines Kommentars. Die wesentliche Leitlinie des Kriminellen, die soziale Entmutigung, geht daraus mit außerordentlicher Deutlichkeit hervor. Charakteristisch schon der erste Einfall: M. wird im Kindergarten von seiner Schwester getrennt. Die Gemeinschaft als Feind und Zwang! Seine geringe Körpergröße macht dem Jungen schon früh zu schaffen. Bei dem Umzug der Schule erhält er darum nichts zu tragen, fühlt sich zurückgesetzt und reagiert darauf sehr stark. Damals weinte er noch. Als er später, seines Erachtens zu Unrecht an dem Tode des kleinen Schwesterchens schuldig erklärt wird, weint er schon nicht mehr. Er erhebt keinen lauten Protest, verzweifelt also offenbar schon daran, durch einen Protest die Ungerechtigkeit aus der Welt zu schaffen, seine Angehörigen von seiner Unschuld zu überzeugen. Er ist einen bedeutungsvollen Schritt in die Vereinsamung und in die Opposition hineingegangen. Ich bin unschuldig, aber Euch werde ich es doch nicht beweisen können, ich will es Euch auch gar nicht beweisen. Ihr mögt mich ruhig für gefühllos halten, ich bin aber nicht gefühllos, ich bin viel besser, wie Ihr denkt, Ihr seid es mir aber gar nicht mehr wert, daß ich Euch davon überzeuge. Der Glaube an die Gerechtigkeit, das Fundament jeder Gemeinschaftsbeziehung, beginnt zu wanken. Man wird nicht gerecht behandelt, man hat Ungerechtigkeit zu gewärtigen. Diese Ansicht beginnt allmählich sich festzusetzen. Sie wird durch weitere Vorkommnisse bestätigt, die sie als willkommenes Material verwendet. Zu Unrecht wird er beschuldigt, ein Tier in grausamerWeise getötet zu haben und gegen seinen Lehrer unflätige Ausdrücke gebraucht
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zu haben (aus Raummangel in dem hier wiedergegebenen Teil des Berichtes nur kurz angedeutet!). Immer und immer wieder muß M. Zurücksetzung erleiden, er fühlt sich auch als Pechvogel. Nicht nur die menschlichen Institutionen also behandeln ihn wenig günstig, auch mit den kosmischen scheint es irgendwie zu hapern. Man bedenke ein Erlebnis, wie die Firmung und muß sich sofort darüber klar sein, daß ein solches Erlebnis auf ein Kindergemüt in höchstem Grade niederschmetternd wirken muß. Mit Mühe und Not wird ein Firmpate gefunden, der Junge zittert vor Angst, er möchte an seinem Ehrentage nicht erscheinen. Ganz so schlimm wird es nicht, aber immerhin, der Firmpate hat Wichtiges zu tun und schickt einen Vertreter, wie zu einer belanglosen Prozeßsache. Drei volle Suppenteller muß er auslöffeln, das empfindet M. noch irgendwie humoristisch, aber offenbar kann man nur einen Firmling so behandeln, der für den Firmpaten eine ungern erfüllte Pflicht bedeutet. Eine goldene Uhr erhält er nicht, sondern 5 Mark. Zu Hause angekommen, nimmt sie ihm der Vater. Eine kaum verständliche lieblose Handlung des Vaters. Wenn der Junge, der doch viel Strenges schon in seiner Jugend erlebt, das Resummee seiner Firmung zieht, was bleibt übrig: Viel Angst und drei Teller voll Suppe, so daß er nachher nichts mehr zu essen imstande ist. Was sind die gemachten Erfahrungen: Zurücksetzung, Unzuverlässigkeit und Eigensucht. Und dies an einem Tage, der eigentlich in dem strengen Jungendasein einen Lichtpunkt hätte bedeuten sollen. Das Apperzeptionsschema steht nunmehr fest: fünftes Rad am Wagen, Pechvogel, Märtyrer. In diesem Sinne wird das Weltbild gestaltet und erhält zu seiner Fundierung immer neues Material, wobei es weniger darauf ankommt, ob dieses Material dem Weltbild immer objektiv entspricht, als vielmehr darauf, daß es in diesem Sinne verarbeitet wird. Der Wunsch, Kaufmann zu werden, bleibt dem jungen Menschen versagt. Er wird Schreiner, aber der Vater zahlt nicht gerne. Wenn er sich mit einem Taschengeld nicht zufrieden geben will, so steht es ihm frei, wegzugehen. „Die Sonne scheint!" Dies bestimmt seine Stellung zur Familie beinahe endgültig, er geht von zu Hause weg und kurze Zeit darauf auf die Wanderschaft. Diese Wanderschaften sind nicht die Lehr- und Wanderjahre der guten alten Zeit, sie sind ein Zeichen der sozialen Entmutigung, eine Loslösung aus einem Milieu, in dem einem im wesentlichen eine ungerechte Zurücksetzung und wenig Freude zuteil wird. Als er von der Wanderschaft nach Hause zurückkehrt, fühlt er dies nur noch deutlicher. Nach kurzer Zeit geht er darum auch erneut auf Wanderschaft.
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Wir haben also deutlich das Bild eines Menschen vor uns, der innerhalb des normalen für ihn in Betracht kommenden Lebenskreises sich durchzusetzen den Mut verloren hat. Die Möglichkeiten bestünden an und für sich sehr wohl. M. ist ein sehr intelligenter aufgeweckter Mensch, bei dem nicht recht einzusehen ist, warum er nicht als tüchtiger Schreiner eine annehmbare Existenz finden sollte. Aber die Zuversicht dazu mangelt und damit mangeln auch jene Eigenschaften, die einer zuversichtlichen Stimmung als Nährboden bedurften: Fleiß, Energie, Gewissenhaftigkeit. Eigenschaften, die notwendig sind, sich innerhalb seines sozialen Kreises durchzusetzen. Es kommen nun Verhaltungsweisen zum Vorschein, die der Mutlosigkeit entspringen und die gesellschaftsfeindlich sind: Wandern ohne festes Ziel, Trinken, Trotz, Gehässigkeit. Es ist ohne weiteres klar, daß M. schlecht vorbereitet in die Ehe tritt. Es ist aus den kurzen Schilderungen naturgemäß nicht einwandfrei festzustellen, woran die erste Ehe gescheitert ist. Es ist aber nicht von der Hand zu weisen, daß auch die Frau daran, wie auch das Urteil ausspricht, ein wesentliches Verschulden mittrifft. Kurze Zeit nach dem Tode des Kindes ersucht sie ihren im Felde befindlichen Mann um die Genehmigung zur Scheidung. Später muß M. seine Frau auf Untreue ertappen. Von da ab hat M. einen „ordentlichen Ekel vor den Frauen". Im Laufe der Zeit hat sich bei M. als eine Waffe im Kampfe um seine soziale Geltung die Gewalttätigkeit entwickelt. Schon seine erste Frau hatte unter Mißhandlungen ihres Mannes zu leiden. Gewalttätigkeit ist immer die Waffe der Mutlosigkeit, ist das Verhalten eines Menschen, der nicht mehr in gerader Aggression und sachlicher Arbeit sein Lebensziel erreichen zu können glaubt. Auch die zweite Ehe scheint in die Brüche zu gehen. Die Frau fürchtet, ihren Mann allein ernähren zu müssen, da der Termin heranrückt, in dem die Arbeitslosenunterstützung in Wegfall kommt, sie hat Furcht vor einer weiteren Schwangerschaft, es kommt zu Auftritten in der Ehe, sie reicht die Scheidungsklage ein. „Ich kriege auch noch einen anderen Mann", oder zu ihrem Kinde: „Wir bekommen noch einen anderen Papa". Die Ehe wird aus Verschulden des M. geschieden. Damit ist die Grenze seiner Belastungsfähigkeit erreicht. Er betrinkt sich und begeht in diesem Zustand das Attentat, wobei es hier nicht interessiert, worauf der Vorsatz gerichtet war. Für die Psyche des M. ist ein Traum bezeichnend, den er bei einem Besuch erzählte: M. befindet sich vor einem Warenaufzug im Hofe eines großen Lagerhauses. Der Aufzug setzt sich gerade in Bewegung und M. versucht mit dem Aufzug noch mitzukommen. Er kann sich aber gerade nur noch mit den Händen festhalten und rutscht, während er versucht, ganz hinaufzuklettern, immer wieder aus. Der Aufzug steigt
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in die Höhe bis zum 40. Stockwerk. Er rutscht mit den Händen langsam gegen den Rand des Aufzuges und befürchtet ständig abzustürzen. Ein charakteristisches Bild für die Lebenssituation des M. M. steht unsicher im Leben. M. sieht sich ständig in der Gefahr, den Halt zu verlieren. Von analytischem Interesse ist es, daß im Geschäftshaus seiner Frau sich ein solcher Aufzug befindet. In seiner zweiten Ehe hat die Frau das Geld verdient, während M. längere Zeit hindurch arbeitslos war, ein Umstand, der auf den intelligenten und offenbar auch ehrgeizigen Mann stark deprimierend einwirkte. In dieser Ehe ist die Frau die stärkere, der Mann der unterlegene. Bezeichnend hiefür ist auch der verhältnismäßig seltene Umstand, daß die Frau die Ehescheidungsklage einreicht, während der Mann der Scheidung widerspricht und unter allen Umständen die Ehe aufrecht zu erhalten sucht. Immer und immer wieder versucht er die Frau zu veranlassen, die Scheidungsklage zurückzunehmen, in persönlichen Rücksprachen und Briefen, mit Bitten und Drohungen. Gleich bei Zustellung der Scheidungsklage schreibt er an seine Frau: ^Ich sage es Dir deshalb noch einmal, scheiden lasse ich mich nie, lieber wirst Du Witwe und mein Kind Waise, das ist mir nicht so schlimm als umsonst und zwecklos zu leben." Eine Woche vor dem Attentat schreibt er an seine Schwiegermutter: „Liebe Mutter! Heute ist es das letztemal, daß ich Dich so nennen kann. Ich bin heute endlich zu dem Entschluß gekommen, Maria und mich aus der Welt zu schaffen, denn nur so komme ich aus der ungeheueren seelischen Bedrängnis, die mich sonst zum Wahnsinn treiben würde, heraus." Die typische Verengerung des Gesichtskreises, das Übersehen der noch zu Gebote stehenden Lebensmöglichkeiten als Ausdruck einer bis zum Letzten gesteigerten Mutlosigkeit. Wie sich aus der Gerichtsverhandlung und auch aus den Akten ergibt, ist M. in hohem Grade eifersüchtig, ohne daß er dafür immer einen realen Grund gehabt hätte. Schon in seiner ersten Ehe ist er aus diesem Grunde mißtrauisch. Durch die Bemerkungen der zweiten Frau, wie etwa die: „Gelt, Hildegard (das gemeinsame Kind!), wir kriegen schon noch einen anderen Papa!" wird dem M. die Schwäche seiner Position nur noch deutlicher vor Augen geführt. Der Machtkampf in der Ehe scheint nun ganz offensichtlich mit einer Niederlage des Beklagten zu enden, dem es nicht mehr gelingt, sich aus der Verstrickung zu lösen, diesen Machtkampf zu beenden und sich wieder freie Bahn zu positiver Tätigkeit zu schaffen. Die Entscheidung der Frage: Wer ist in der Ehe der Stärkere? wird zu einer Existenzfrage, Sein oder Nichtsein! Aber auch die Frau führt den gleichen Kampf (wenngleich auf wesentlich gesünderer Basis, sie versucht ja aus einem offenbar unerträglich gewordenen Zustand herauszukommen!). In der Hauptverhandlung be-
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kommt man von der Frau keinen gerade günstigen Eindruck und der Vorsitzende des Gerichts führt in der Urteilsbegründung aus, daß es das Gericht dahingestellt sein lasse, ob die Frau ihren Mann recht behandelt hat. Am Vortage der Tat erhielt M. die Mitteilung, daß die Ehe aus seinem alleinigen Verschulden geschieden worden ist. An der Niederlage ist nun nicht mehr zu zweifeln. Sie kann aber von M. nicht ertragen werden, der aus der Antithese: Ich oder du! nicht mehr heraus und den Weg zum „ W i r " nicht mehr zurückfindet. Diese Antithese sucht M. in seinem Sinn zu lösen, wobei es hier weiter nicht interessiert, ob M. seine Frau lediglich zu verletzen oder zu töten beabsichtigte. Das Gericht hat M. wegen Totschlagsversuch verurteilt. Warum M. zur Lösung seiner Schwierigkeit nach dem Revolver gegriffen hat, ist naturgemäß nicht schlüssig zu beantworten. Umgebung und Vorbilder werden dabei eine Rolle gespielt haben. Schon in der elterlichen Familie kam es zu Mißhandlungen der Ehefrau. Die Jahre des Weltkrieges, an dem der Angeklagte als Soldat teilgenommen hat, haben Hemmungen gegen den Gebrauch der Schußwaffe durch Gewöhnung geschwächt. Gewalttat ist immer das Zeichen der schwachen Position. Der Mann, der sich in der Ehe unterlegen fühlt, besinnt sich auf die Domäne seiner Überlegenheit, die körperliche Kraft. Körperliche Mißhandlungen waren ja, wie bekannt, auch in den beiden Ehen des M. vorgekommen. Die Leitlinie des M. trägt den deutlichen Stempel der sozialen Entmutigung. Enttäuschungen in der Kindheit führen zu einer zunehmenden Vereinsamung, zu einem Ausbruch aus der normalen Berufslaufbahn, zu Mißtrauen und Verbitterung, zur kämpferischen Haltung gegenüber der Umwelt, welche eine zunehmende Steigerung erfährt, zumal M. keine Möglichkeit mehr sieht, durch positive Arbeit zur Geltung zu kommen. Dies ist ohne Zweifel auch die Ursache seines Alkoholismus, der in einem unglückseligen circulus vitiosus eine Schwächung der Widerstandskraft und Energie herbeiführt. Die Tat erfolgt in einem Augenblick stärkster Depression, welche einen Weg der Gemeinschaft nicht mehr sieht, sondern nur den Weg des Kampfes, der mit der Unterwerfung des einen oder des anderen enden muß und der in das Gebiet der Politik übertragen, den Kampf aller gegen alle bedeuten müßte. Die tiefste Ursache des begangenen Attentates ist die kämpferischfeindselige Einstellung des M. zu seiner Umwelt, sei es nun zu Eltern, sei es zu Vorgesetzten, sei es zur Frau. Ganz offenbar wird durch die Technik des Strafgesetzes die einzelne Straftat allzusehr aus dem Zusammenhang der Persönlichkeit herausgedrängt, objektiviert. Gegenstand der Strafrechtsprechung ist die Tat. Im Grunde genommen handelt es sich aber nicht um diese einzelne Tat, sondern um einen Menschen,
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seine Entwicklung von frühester Jugend an, die Vorbereitung schuf zu einem Vergehen, das bei diesem Menschen im geeigneten Moment, besser gesagt an der Grenze der seelischen Tragfähigkeit, mit einer gewissen Notwendigkeit produziert werden mußte. Eine Besserung, wie sie vielfach als Zweck der Strafe proklamiert wurde, kann nicht eintreten dadurch, daß man die Tat anstatt der Person des Täters in den Vordergrund der Betrachtung stellt (wobei zu bemerken ist, daß M. für seine Tat durchaus verständnisvolle Richter fand). Wenn wir uns fragen, ob bei einem Mann, wie M., eine Zurückgewinnung für die Gesellschaft erfolgen kann, so ist zu sagen, daß die Diagnose durchaus günstig ist. Sie erfordert allerdings bis zu einem gewissen Grade eine Veränderung seines Weltbildes, das in die Beziehungen zum Mitmenschen fast durchwegs den Kampfcharakter hineingetragen hat. Im Grunde hat M. dies ja auch erkannt, wenn er schreibt: „Wenn ich das Schwerste hinter mir habe, werde ich Frieden schließen . . . denn nur mit Frieden im Rücken, kann ich daran denken, wieder aufzubauen." Einen solchen Wandlungsvorgang hat D ö b l i n „Berlin— Alexanderplatz" ausgezeichnet beschrieben. Immerhin ist eine solche Wandlung, die in der Korrektur eines einseitigen Weltbildes besteht, nicht so leicht. Denn es handelt sich nicht um theoretische Erkenntnisse, sondern um praktische Anschauungen. Wenn es nicht gelingt, den Gefangenen den Irrtum seiner einseitigen Auffassung e r l e b e n zu lassen, werden alle theoretischen Belehrungen fruchtlos bleiben. Kein Zweifel somit, daß in den Strafanstalten nur die besten Erzieher verwendet werden können. Denn gerade hier besteht die Möglichkeit, dem Gefangenen im Umgang von Mensch zu Mensch seine Irrtümer aufzudecken.
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„Die Geschichte vom Franz Biberkopf." D ö b l i n s vielbeachteter Roman ist der Roman eines Zuhälters, ein Roman, der sich durch eine beachtliche Kenntnis des Milieus auszeichnet. Dies ist ja wohl überhaupt ein Kennzeichen des modernen Romans, daß er sich auf sehr exakte Tatsachenforschungen aufbaut. Obwohl ursprünglich in den Spalten eines linksstehenden Blattes erschienen, hat er auch in diesem Leserkreis wegen der Details Anstoß erregt. Ob mit Recht oder Unrecht, kann hier dahingestellt bleiben, für den sachlich Interessierten wird dies den Wert des Buches nur steigern. Ich stehe nicht an, D ö b l i n s Roman für den besten literarischen Kriminalroman 6a Alfred D ö b l i n , Berlin Alexanderplatz, Die Geschichte von Franz Biberkopf, Verlag S. Fischer, Berlin 1930.
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der letzten Jahre zu erklären, von dem reinen Unterhaltungs-Kriminalroman selbstverständlich ganz abgesehen. Es kann auf die Dauer wirklich nur harmlosen Gemütern Spaß machen, immer wieder zu sehen und immer wieder darüber zu erstaunen, daß derjenige, auf den alle Verdachtsmomente gehäuft sind, gar nicht der Täter ist, sondern auf der drittletzten, vorletzten oder letzten Seite des Buches zu erfahren, daß der Täter in Wirklichkeit ein auf den vorgehenden 500 Seiten als vollkommen harmlos erscheinender Mensch ist. Vor dem erhabensten Kriminalroman der Weltliteratur allerdings, D o s t o j e w s k y s „Brüder Karamasoff", muß auch D ö b l i n s Werk klein erscheinen. D ö b l i n hat in der Form seines Buches manches von der alten Moritat übernommen. So, wie in der Moritat dem Zuhörer häufig vorneweg erklärt wird, worum es sich handle und was der Sinn der Erzählung sei, so auch bei D ö b l i n . D ö b l i n sagt es uns von vorneherein, was der Sinn seines Romans sei: Schicksal sieht nur so aus wie Schicksal. Es ist unser Lebensplan, unsere Einstellung, die unser Schicksal ausmachen. Wir selbst machen unser Schicksal, wir selbst haben es in der Hand. Es ist kein Grund zu verzweifeln. Der ehemalige Zement- und Transportarbeiter Franz Biberkopf hat seiner Freundin Ida in einem Streit derart schwere Verletzungen beigebracht, daß sie nach einigen Wochen im Krankenhaus stirbt. Der Grund der Auseinandersetzung war, daß die Dirne ihrem von ihr ernährten Freund wegen eines anderen den Laufpaß geben wollte. Wegen Totschlags verbüßt er vier Jahre Gefängnis in der Strafanstalt Tegel. Mit seinem Wiedereintritt in die Gesellschaft beginnt das Buch. Mit feinem Verständnis schildert D ö b l i n die typische Situation des Entlassenen. „Die schwarzen, eisernen Torflügel, die er seit einem Jahre mit wachsendem Widerwillen betrachtet hatte (Widerwillen, warum Widerwillen?), waren hinter ihm geschlossen. Man setzte ihn wieder aus. Drin saßen die andern, tischlerten, lackierten, sortierten, klebten, hatten noch zwei Jahre, fünf Jahre. Er stand an der Haltestelle. Die Strafe beginnt." In seiner Not wird er von einem rothaarigen Juden aufgenommen, der ihm die Geschichte eines Stefan Zannowich erzählt, der durch Falschspiel viel Geld gewann und dessen Sohn ein Hochstapler großen Formats wurde, der in allen Kreisen der großen Welt sehr angesehen war. Der Glanz dieser Geschichte verblaßt jedoch, als ein Neuhinzukommender korrigierend bemerkt, daß jener große Hochstapler durch Selbstmord im Gefängnis geendet habe. Trotzdem klingt dieses Leitmotiv irgendwie in Biberkopf nach. Bei einem späteren Zusammenkommen mit dem rothaarigen Juden meint er: „Wißt Ihr noch die Geschichte von Zannowich. Doller Kerl. Fein ist der gewesen. Nachher haben sie ihn gekillt. Wat Ihr alles wißt. Ich möchte auch so S c h m i d t , Verbrechen.
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als Prinz gehen und studieren. Nee, studieren tun wir nicht. Vielleicht heiraten wir." „Biberkopf hat den festen Vorsatz gefaßt, anständig zu bleiben. Er hat aller Welt und sich geschworen, anständig zu bleiben. Und solange er Geld hatte, blieb er anständig. Dann aber ging ihm das Geld aus, welchen Augenblick er nur erwartet hatte, um einmal allen zu zeigen, was ein Kerl ist." Es ist aber nicht so leicht, anständig zu bleiben, vor allem wenn man nicht die entsprechende Gesellschaft hat. D ö b l i n berichtet vorgreifend: „Damit haben wir unseren Mann glücklich nach Berlin gebracht. Er hat seinen Schwur getan, und es ist die Frage, ob wir nicht einfach aufhören sollen. Der Schluß scheint freundlich und ohne Verfänglichkeit, es scheint schon ein Ende, und das Ganze hat den goßen Vorteil der Kürze. Aber es ist kein beliebiger Mann, dieser Franz Biberkopf. Ich habe ihn hergerufen zu keinem Spiel, sondern zum Erleben seines schweren, wahren und aufhellenden Daseins. Franz Biberkopf ist schwer gebrannt, er steht jetzt vergnügt und breitbeinig im Berliner Land, und wenn er sagt, er will anständig sein, so können wir ihm glauben, er wird es sein. Ihr werdet sehen, wie er wochenlang anständig ist. Aber das ist gewissermaßen nur eine Gnadenfrist." Biberkopf muß nun Geld verdienen und verlegt sich auf den Straßenhandel, kommt mit Angehörigen verschiedener politischer Parteien zusammen. Bei einer politischen Auseinandersetzung wird er aus einer Kneipe herausgeworfen. Dies macht ihm aber noch nichts. Da trifft ihn der erste schwere Schlag. Sein Freund Lüders, dem Biberkopf von einem Liebesabenteuer berichtet, nützt die dadurch erlangte Kenntnis der Örtlichkeit zu einem schweren Raub aus. Biberkopf gerät in den Verdacht, der Anstifter zu sein. Über diesen Vertrauensbruch ist er vollkommen zusammengebrochen. „Da steht Biberkopf ganz auf, im Augenblick rutscht Lüders an die Tür, hat die Hand an der Klinke. Biberkopf aber geht schräg nach hinten an den Waschständer, nimmt die Waschschüssel und — wat sagste — gießt das Wasser in einem Schwung durch die Stube vor Lüders Füße. Von Erde bist du gekommen, zur Erde sollst du wieder werden. Lüders reißt die Augen auf, weicht zur Seite, drückt auf die Klinke. Biberkopf nimmt die Waschkanne, es war noch mehr Wasser drin, wir haben noch viel, wir machen reinen Tisch, von Erde bist du gekommen. Er schüttet sie gegen den an der Tür, dem es gegen Hals und Mund spritzt, eiskaltes Wasser. Lüders rutscht raus, weg ist er, die Tür ist zu." Biberkopf ist die nächste Zeit nicht mehr fähig zu arbeiten. „Wir arbeiten nicht mehr, es lohnt nicht, und wenn der ganze Schnee verbrennt, wir rühren keinen Finger." Biberkopf besäuft sich. Aber er erholt sich wieder. D ö b l i n erklärt: „Eine rasche Erholung, der Mann steht wieder da, wo er stand, er hat nichts zugelernt
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und nichts erkannt. Jetzt fällt der erste schwere Streich auf ihn. Er wird in ein Verbrechen hineingerissen, er will nicht, er wehrt sich, aber er muß müssen. Er wehrt sich tapfer und wild mit Händen und Füßen, aber es hilft nichts, es geht über ihn, er muß müssen." Biberkopf gerät wider Willen, aber doch offensichtlich fahrlässig in die Teilnahme an einem Verbrechen. Sein Freund Reinhold, dem er immer hilfreich die Mädchen abgenommen hat, deren dieser überdrüssig war, nimmt ihn zu einem Einbruchdiebstahl mit. In plötzlich aufsteigendem Grimm wirft Reinhold Biberkopf aus dem fremden Auto vor die Räder des verfolgenden Autos. Biberkopf wird überfahren. Der rechte Arm muß amputiert werden. Er hat nur mehr den linken. Und dabei hatte er doch den festen Vorsatz, sich auf anständige Weise durchs Leben zu schlagen. D ö b l i n berichtet: „Es ist die grausige Wahrheit, was ich berichte von Franz Biberkopf, der ahnungslos von Haus wegging, wider seinem Willen bei einem Einbruch mitmachte und vor ein Auto geworfen wurde. Er liegt unter den Rädern, der unzweifelhaft die redlichsten Bemühungen gemacht hat, seinen ordentlichen erlaubten und gesetzlichen W e g zu gehen. Aber ist das nicht grade, um zu verzweifeln, welcher Sinn soll denn in diesem frechen, ekelhaften und erbärmlichen Unsinn liegen, welcher verlogene Sinn soll denn dahineingelegt werden und vielleicht gar ein Schicksal für Franz Biberkopf daraus gemacht w e r d e n ? " Nach dem Unfall hat Biberkopf ein Gespräch mit seinen Komplizen von früher vor der Strafverbüßung: „Herbert fragte noch: ,Sag mir bloß noch, Franz, wir gehen bald raus: zu uns biste nicht gekommen, weil du Zeitung handeln wolltest?' Er kann nicht sprechen, er denkt: Ja, ich wollte anständig bleiben. Ich bin anständig geblieben bis zuletzt. Da müßt ihr euch nicht darüber kränken, daß ich nicht her kam. Ihr seid meine Freunde geblieben, ich hab keinen von euch verraten. Er liegt stumm, sie gehen raus." Es hat den Biberkopf nun, wie er meint, alles nichts genützt, daß er auf anständige Weise durchs Leben kommen wollte, so macht er es nun anders. Unterkriegen läßt er sich nicht. Er kriegt wieder ein Mädel, die Mieze. Auch von dem Reinhold läßt er sich nicht unterkriegen. Unbewaffnet, einarmig, allein, rückt er dem Reinhold auf die Bude, der für alle Fälle einen Revolver vor sich auf den Tisch legt. Da überkommt Biberkopf mit einem Mal die Angst vor dem brutalen Menschen, er fängt an zu zittern. Reinhold merkt seine Schwäche und stopft dem Krüppel den leeren rechten Ärmel mit alten Socken aus. Biberkopf kehrt nach Haus zurück und weint beinahe vor Scham über seine Schwäche. Aber er rückt dem Reinhold noch ein zweites Mal auf die Bude und diesesmal zittert er nicht mehr. Er wird nun bewußt Mitglied der Einbrecherkolonne Pums. Er ist Zuhälter und hat sein gutes Auskommen. 4*
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Doch der Zweikampf Biberkopf-Reinhold ist noch nicht entschieden. Reinhold geht darauf aus, Biberkopf endgültig zu erledigen. Er macht sich an die Freundin Biberkopfs, die Mieze, heran, von der ihm Biberkopf große Dinge erzählt hat. Um sie ihm zu zeigen, versteckt Biberkopf Reinhold in seiner Bude. Reinhold wird bei dieser Gelegenheit Zeuge einer schweren Mißhandlung Miezes durch Biberkopf im Affekt. Reinhold will Mieze dem Biberkopf ausspannen. Bei einem Ausflug nach Freienwalde sucht er sie sich gefügig zu machen. Als sie sich widersetzt, ermordet er sie in bestialischer Weise und verscharrt die Leiche. In den Verdacht der Täterschaft gerät Biberkopf, der nach einer Schießerei in einer Kneipe überwältigt und gefangengenommen wird. Unter dem Furchtbaren, das er durchgemacht hat, bricht Biberkopf endgültig zusammen. Es beginnt die große Wandlung, deren mancher Mensch nur nach schwerstem Leiden teilhaftig werden kann. Zu Franz Biberkopf spricht der Tod: „Ich habe hier zu registrieren, Franz Biberkopf, du liegst und willst zu mir. Ja, du hast recht gehabt, Franz, daß du zu mir kamst. Wie kann ein Mensch gedeihen, wenn er nicht den Tod aufsucht? Den wahren Tod, den wirklichen Tod. Du hast dich dein ganzes Leben bewahrt. Bewahren, bewahren, so ist das furchtsame Verlangen der Menschen, und so steht es auf einem Fleck, und so geht es nicht weiter. Als Lüders dich betrog, hab ich zum erstenmal mit dir gesprochen, du hast getrunken und hast dich — bewahrt! Dein Arm zerbrach, dein Leben war in Gefahr, Franz, gesteh es, du hast in keinem Augenblick an den Tod gedacht, ich schickte dir alles, aber du erkanntest mich nicht, und wenn du mich errietst, du bist immer wilder und entsetzter — vor mir davongerannt. Dir ist nie in den Kopf gekommen, dich zu verwerfen und was du begonnen hast. Du hast dich in Stärke hineingekrampft und noch immer nicht ist der Krampf verdampft, und es nützt doch nichts, hast selbst gefühlt, es nützt doch nichts, es kommt der Augenblick, da nützt es nichts, der Tod singt dir kein sanftes Lied und legt dir kein würgendes Halsband um. Ich bin das Leben und die wahre Kraft, du willst dich endlich, endlich nicht mehr bewahren." „Wat hab ick denn gemacht. Hab ick mir nicht genug gequält. Ich kenne keenen Menschen, dems gegangen ist wie mir, so jämmerlich, so erbärmlich." „Du warst nie da, Dreckkerl du. Ich habe mein Lebtag keenen Franz Biberkopf gesehen. Als ick dir Lüders schickte, haste die Augen nich aufgemacht, biste zusammengeklappt wie ein Taschenmesser und dann haste gesoffen, Schnaps und Schnaps und nichts als- Saufen." „Ick wollte anständig sein, der hat mir betrogen." „Ich sag, du hast die Augen nicht aufgemacht, du krummer Hund!
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Schimpfst über Gauner und Gaunerei und kuckst dir die Menschen nicht an und fragst nich, warum und wieso. Was bistu fürn Richter über die Menschen und hast keene Oogen. Blind bist du gewesen und frech dazu, hochnäsig, der Herr Biberkopf aus dem feinen Viertel, und die Welt soll sein, wie er will. Ist anders, mein Junge, jetzt merkst dus. Die kümmert sich nicht um dir. Als dir der Reinhold packte, unters Auto schmiß, der Arm wurde dir abgefahren, nicht mal zusammengeklappt ist unser Franz Biberkopf. Wie der noch unter die Räder liegt, schwört der: ick will stark sein. Sag nich: nu mal überlegen, nu mal den Grips zusammennehmen, — nee der sagt: ich will stark sein. Und nicht merken willst du, daß ich zu dir rede. Aber jetzt horste mir." „Nichts merken, warum? Wat denn?" „Und zuletzt Mieze, — Franz, Schande, Schande, sag: Schande, schrei Schande!". „Ich kann nicht. Ich weiß ja nicht, warum?" „Schrei Schande. Sie ist zu dir gekommen, war lieblich, hat dich beschützt, hat Freude an dir gehabt, und du? Was war dir ein Mensch, son Mensch wie eine Blume, und du gehst hin und prahlst mit ihr vor Reinhold. Vor dir der Jipfel aller Jefühle. Du willst ja bloß stark sein. Bist glücklich, daß du mit Reinhold fechten kannst, und daß du ihm über bist und hingehst und ihn reizt mit ihr. Das überlege dir, ob du nicht selbst schuld bist, wenn sie nicht lebt. Und keine Träne um sie geweint, die für dich gestorben ist, für wen denn." Gesichte tauchen vor Biberkopf auf: „Reinhold! Ah! Reinhold, pih Deibel! Das Luder, da bist du, wat willste hier, willst dir vor mir wichtig tun, dir wascht kein Regen rein, du Strolch, du Mörder, du Schwerverbrecher, nimm die Pfeife aus die Schnauze, wennste mit mir redst. Det ist gut, daß du kommst, du hast mir gefehlt, komm, du Dreckkerl, haben sie dir noch nicht gefaßt, ein blauen Mantel haste? Paß uff, in dem gehste verschütt. „Wat bist du denn, Franz?" „Ich, du Strolch? Kein Mörder, weeßte, wen du gemordet hast?" „Und wer hat mir das Mädel gezeigt, und wer hat sich aus dem Mädel nischt gemacht und ich muß mir unter die Bettdecke legen, du Großschnauze, wer war denn d a s ? " „Darum brauchste sie doch noch nicht umbringen. Wat is dabei, hast sie nicht etwa ooch beinah krumm geschlagen, du? und dann soll noch da eine gewisse Gewisse sein, die in der Landsberger Allee liegt, die is ooch nicht von allein da aufn Kirchhof gekommen. Na, wat is nu? Jetzt sagste nischt! Wat sagt nu der Herr Franz Biberkopf, von Profession Großschnauze?" „Mir haste unters Auto geschmissen, den Arm haste mir abfahren lassen." „Haha ha, kannst dir ja einen aus Pappe anbinden. Wenn du son
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Ochse bist und läßt dich mit mir ein." Ein Ochse? „Na merkste nich, daß du ein Ochse bist. Jetzt biste in Buch und spielst den wilden Mann und mir gehts gut, wer is nu ein O c h s e ? " Und da geht er, und das höllische Feuer blitzt dem aus den Augen und ihm wachsen Hörner aus dem Kopf und der kreischt: Box doch mit mir, komm, zeig wat du bist, Franzeken, Franzeken Biberkopf, Biberköpfchen, ha! Und Franz preßt die Lider. Ich hätte mit ihm nichts machen sollen, ich hätte nicht kämpfen sollen mit dem. Warum hab ick mir in den verbissen. „Komm doch, Franzeken, zeig doch, wer du bist, hat du K r a f t ? " Ich hätt nicht kämpfen sollen. Er triezt mir, er reizt mir noch immer, oh, das ist ein Verfluchter, ich hätt es nicht gesollt. Gegen den komm ich nicht auf, ich hätt es nicht gesollt. „Kraft mußte haben, Franzeken." Ich hätte keine Kraft haben müssen, gegen den nich. Ick seh es, es war ja falsch. Was hab ich alles gemacht. Weg, weg mit dem. Er geht nicht. W e g , weg mit — Franz brüllt, er ringt die Hände: Ich muß einen andern sehn, kommt kein anderer, warum bleibt der stehen? „Ich weeß es, mir magste nich, schmeck nicht schön. Kommt gleich ein a n d e r e r ! " Herankommen lassen. Herankommen lassen. Die großen, flachen, stummen Ebenen, die einsamen Ziegelhäuser, aus denen rötliches Licht kommt. Die Städte, die an einer Strecke liegen, Frankfurt an der Oder, Guben, Sommerfeld, Liegnitz, Breslau, die Städte tauchen an den Bahnhöfen auf, die Städte mit ihren großen und kleinen Straßen. Herankommen lassen die fahrenden Droschken, die gleitenden, schießenden Autos. Und Reinhold geht, und dann steht er wieder und blitzt Franzen a n : „Nu, wer kann nu wat, wer hat gesiegt, Franzeken?" Und Franz zittert: „Ick hab nicht gesiegt, ick weeß e s . " Franz Biberkopf ist es klar geworden, daß das, was er als ein Schicksal ansah, das über ihn verhängt war, doch kein Schicksal war, sondern die Folge eines Lebensplanes, eines Lebensplanes, „der wie nichts aussah, aber jetzt plötzlich ganz anders aussieht, nicht einfach und ganz selbstverständlich, sondern hochmütig und ahnungslos frech, dabei feige und voller Schwäche". Die Wandlung Biberkopfs wäre das Musterbeispiel für die Zurückgewinnung eines Verbrechers für die menschliche Gesellschaft. W i r verkennen dabei nicht, daß es sich hier um ein Werk der Literatur handelt und daß die härtere Wirklichkeit schwierigere Nüsse zu knacken gibt. Dennoch ist diese geniale Intuition eines Dichters auch für den Praktiker
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nicht ohne Wert. Biberkopf hat zwar den festen Vorsatz, sich nach verbüßter Strafe auf anständige Art und Weise durchzubringen, aber daß ihm dies nicht gelingt, ist doch nur scheinbar eine Angelegenheit seines Schicksals, in Wirklichkeit ist es eine Angelegenheit seines eigenen — wenn auch unbewußten — Wollens. „Man fängt sein Leben nicht mit guten Worten und Vorsätzen an, mit Erkennen und Verstehen und mit dem richtigen Nebenmann." Wir erkennen, wie W e x b e r g auf einem Kongresse der Internationalen Gesellschaft für Individual-Psychologie in einer Diskussionsbemerkung ausgeführt hat, den Menschen nicht an dem, was er sagt, denkt, fühlt oder sich vornimmt, sondern allein an dem, was er tut. Biberkopf glaubt zwar nach seiner Entlassung aus dem Gefängnis den ernstlichen Vorsatz zur Wandlung zu haben, wir glauben ihm aber diesen ernstlichen Vorsatz solange nicht, als wir sehen, daß dieser ernstliche Vorsatz keine Früchte bringt, sondern bloß gegenteilige Erlebnisse. Man könnte ein ganzes Buch über das Kapitel der Selbsttäuschung schreiben. Für die Forderung: „Erkenne dich selbst" ist vielleicht zum ersten Male in der Forschung der modernen Psychologie ein praktischer, gangbarer Weg gezeigt worden. Erst am Schluß seines Leidensweges wird es Biberkopf klar, daß eine wirkliche Wandlung nur darin besteht, auf der nützlichen Seite des Lebens tätig zu sein und in die Gemeinschaft derer einzutreten, die hier tätig sind. Auf der anderen Seite ist der Irrtum, sind die Vorsätze, auf dieser Seite ist die Tat, ist die Wahrheit. Das, was uns begegnet, sieht in einem oberflächlichen Zusammenhang aus wie unabweisbares Schicksal, in einer tieferen Zusammenhangsbetrachtung ist es doch die Folge unserer Einstellung und unseres Lebensplanes. Eine Wandlung herbeizuführen, gelingt bloß dann, wenn der Persönlichkeit der ihr selbst unbewußte Lebensplan bewußt gemacht wird. Erst wenn sie den Irrweg erkannt hat, auf welchen sie infolge einer nichtverstandenen Jugendsituation geraten ist, wird es ihr gelingen, eine Korrektur vorzunehmen und sich in die Gemeinschaft einzuordnen. Dies gilt insbesondere auch für die kriminellen Persönlichkeiten. Da D ö b l i n s Buch hierüber eine so überaus klare und eindrucksvolle Einsicht vermittelt, war diese vielleicht etwas breit anmutende Darstellung veranlaßt.
V. Der Sexualverbrecher. Die Sexualität eines Menschen ist eine Funktion seines Charakters. So, wie der Charakter der Persönlichkeit beschaffen ist, so ist auch ihre Sexualität. Es geht nicht an, die Sexualität einer Persönlichkeit zu trennen von der Gesamtpersönlichkeit, genau so wenig wie es angeht, die
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verbrecherische Tat einer Persönlichkeit zu trennen von ihrem Lebensstil, ihrer Leitlinie. Nur von der Leitlinie der Persönlichkeit aus können wir auch ein Verständnis für die Sexualität der Persönlichkeit erhalten. Es ist die einheitliche Grundrichtung der Persönlichkeit, die sich auf dem Gebiet der Sexualität, wie auf vielen anderen Gebieten, auslebt. Ein mutiger Mensch ist auf dem Gebiet der Sexualität mutig, was durchaus nicht gleichbedeutend mit aggressiv ist. Ein entmutigter Mensch ist auf dem Gebiet der Sexualität ängstlich, was durchaus nicht mit passiv gleichzusetzen ist. So, wie die anormale (sozial abgeirrte) Haltung der Persönlichkeit herrührt aus einer Entmutigung, die auf Abwegen oder Umwegen durchzukommen versucht, so hat auch das anormal-sexuelle Verhalten (Perversion) seine Ursache in der Entmutigung. Bei den Pervertierten werden wir immer auf die Angst vor dem normalen Geschlechtspartner stoßen. Auch für die Vererblichkeit sexualer Perversionen gilt nichts anderes wie für die Vererbung verbrecherischer Anlagen überhaupt. Bei der ungewöhnlichen Schwierigkeit, die Einflüsse der Vererbung einwandfrei zu diagnostizieren, bleibt nichts anderes übrig, als in der praktischen Arbeit von diesen Möglichkeiten zunächst abzusehen. Selbstverständlich wird nicht übersehen, daß das, was das Individuum mitbekommen hat, ebenso wie auch das Milieu für es eine schwere Belastung bedeuten kann. Eine andere Frage ist die, ob nicht die Möglichkeit besteht, auch mit solchen Belastungen fertig zu werden. Nur all zu leicht gibt gerade auf dem Gebiet der Sexualität die auch wissenschaftlich verfochtene Behauptung der angeborenen oder ererbten Perversion, ein Vorwand, sich der Verantwortung zu entziehen. Daß es sich hiebei lediglich um eine wissenschaftliche, nicht um eine moralische Feststellung handelt, bedarf wohl keines ausdrücklichen Hinweises. Wenn einer Erweiterung der Grenzen der Wandlung der Charaktere das Wort geredet wird, so nicht zu dem Zwecke, eine Mehrung der Strafe herbeizuführen, sondern im Sinne einer hoffnungsfreudigen Arbeit an der Erziehung sozial abgeirrter Charaktere. Auch auf dem Gebiet der Sexualität spielen für die Einstellung des heranwachsenden Menschen zum anderen Geschlecht die ersten Kindheitseindrücke eine außerordentliche Rolle, was heute wohl allgemein zugegeben wird. Die wichtigste Person des anderen Geschlechts, die dem Kind entgegentritt, stellt für den Knaben die Mutter, für das Mädchen der Vater dar. Die Beziehungen, die sich hier in früher Kindheit entwickeln, sind häufig von ausschlaggebender Bedeutung für die spätere Sexualität des Erwachsenen. Wie wir in unserem ganzen Denken und Handeln, um der Vielheit der Eindrücke Herr zu werden, Schema-
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tisch vorgehen, so auch in der Beziehung zum anderen Geschlecht. Gerne wird, wenn auch unbewußt, in jedem Manne der Vater gesehen, in jeder Frau die Mutter. War nun eines der Elternteile streng, lieblos, egoistisch, so wird die Folge sein, daß der Heranwachsende dem anderen Geschlecht mit Mißtrauen begegnet, eine Distanz, die oft schwer überwunden werden kann. Der entmutigte Mensch apperzipiert weit mehr schematisch, als der mutige, weil er vor neuen Erfahrungen scheut, weil ihm neue Erscheinungen weniger Anlaß zur Erweiterung seiner Erfahrungen, als zu allzu rascher Bereitschaft und Sicherung geben. Die Gefahr einer starren und daher wirklichkeitsfremden Apperzeption liegt außerordentlich nahe. Es erscheint fraglich, ob es notwendig ist, den Kampf der Generationen an der Hand altgriechischer Mythen (Ödipuskomplex) darzustellen, wo sich viel genauere Darstellungen an Hand der realen Kindheitsbeziehungen ergeben. Die Furcht vor dem Geschlechtspartner, allgemeiner die Furcht der Geschlechter voreinander, ist eine aus unserer Gesellschaftsstruktur nicht wegzuleugnende Tatsache. Der Kampf der Geschlechter gegeneinander, sei es in humoristischer, satirischer oder schwererer Form, vollzieht sich täglich und stündlich. Erleben wir doch gerade in der heutigen Zeit mit den starken Emanzipationsbestrebungen der modernen Frau eine neue Phase dieses Kampfes, dessen Entwicklung noch nicht abzusehen ist. B a c h o f e n hat uns durch seine genialen Forschungen die Epoche des M a t r i a r c h a t s rekonstruiert, in welcher der Frau die führende Rolle in der Gemeinschaft zukam. Heute leben wir in einer Zeit der wohl übersteigerten Männerherrschaft, vielleicht — wir können dies nicht beweisen — als Reaktion auf die vorausgehende Zeit des Matriarchats. Bezeichnend ist, daß heute in der normalen Haltung des sexuellen Verkehrs der Mann oben und die Frau unten ist, während sich aus den Darstellungen aus den Zeiten des Matriarchats ergibt, daß die typische Haltung damals gerade die umgekehrte war 1 . Die soziale Vormachtstellung des Mannes muß sich auch auf dem Gebiet der Sexualität ungünstig auswirken. Der Sexualverkehr wächst sich hiedurch leicht zu einem Machtkampf aus. Die typischen Waffen der Frau sind in diesem Kampfe der männliche Protest, d. i. der Versuch, mit männlichen Mitteln sich durchzusetzen oder aber auch mit Angst und Versagung. Der Mann, vor die Forderung, eine überlegene Position einzunehmen, gestellt, neigt zum Rückzug und zur Abirrung auf Nebenwege da, wo sein Sieg in Frage gestellt ist. Eine Lösung dieser Schwierigkeiten kann nur in der Weise erfolgen, daß die Liebesbeziehung aus 1 K a u s - K ü n k e l , Handbuch der Individualpsychologie München 1926, Verlag Bergmann, verweisen hiezu auf die Sammlung im Institut für Sexualwissenschaften in Berlin.
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der Sphäre des Machtkampfes herausgenommen wird. Dies aber bedeutet Kameradschaft der Geschlechter und Abbau der Rivalität. Die Grenze zwischen Perversion und normalem Verhalten ist schwer zu ziehen und kann nicht nach äußeren Merkmalen bestimmt werden. Ausschlaggebend wird immer der psychische Tatbestand sein. Man wird demnach als normal-sexuelles Verhalten ein solches bezeichnen können, das neben der Entfaltung der Eigenpersönlichkeit das Wohl des Partners und der Gesamtheit bewußt oder unbewußt zum Ziele hat, als ein perverses, ein solches Verhalten, das die Eigenbefriedigung und Lustgewinnung in den Vordergrund stellt. Die Zahl der sexuellen Abirrungen ist bekanntlich eine außerordentlich große. Gleichwohl würden wir bei ihnen allen die Furcht vor dem normalen Geschlechtspartner als entscheidenden Faktor feststellen können. So werden wir auch bei der H o m o s e x u a l i t ä t in der überwiegenden Zahl der Fälle weder Degeneration, noch konstitutionelle Disposition, noch besonders fixierende Erlebnisse als ausschlaggebend erachten können. Gewiß werden Minderwertigkeit des Sexualapparates (weiblicher Körperbau, hohe Stimmlage, kleines, männliches Glied) den Übergang zur Homosexualität erleichtern. Die Konstruktion des sogenannten gesunden Homosexuellen, der seine Sexualität in homosexueller Form nicht minder naturgemäß wie normale in heterogen-sexueller Form auslebt, erscheint wenig glücklich. Vielfach wird zur Stützung dieser Konstruktion die Knabenliebe in AltGriechenland herangezogen, die möglicherweise damals eine kulturelle Bedeutung gehabt hat. Eine an sich gewiß dankenswerte und nützliche Erforschung dieser merkwürdigen Erscheinung der Antike erübrigt sich heute wenigstens soweit, als für heute feststeht, daß eine solche kulturelle Bedeutung der modernen Homosexualität jedenfalls nicht innewohnt. Daran vermögen auch überragende Leistungen hervorragender Homosexueller — man denke etwa an Oscar Wilde — nichts zu ändern, da nicht feststeht, daß wir diese Leistungen gerade der Homosexualität verdanken. Gewiß entstehen hervorragende Leistungen und außergewöhnlich positive Entwicklung häufig im Kampfe mit Schwierigkeiten. Heute jedenfalls sind wir noch nicht soweit, daß wir bewußt solche außerordentliche Schwierigkeiten zu setzen uns getrauen könnten. Dazu kommt, daß neben vereinzelten überdurchschnittlichen Leistungen die große Zahl der unterdurchschnittlichen Leistungen steht. Durch keine noch so starke Propaganda wird die Gesellschaft in ihrem gesunden Instinkt nach Fortpflanzung veranlaßt werden, die Homosexualität als gleichberechtigt anzuerkennen. Man mag sie von Strafe freilassen, an ihrer grundsätzlich soziologischen Bewertung wird sich dadurch nichts ändern. Homosexualität bedeutet die Distanzierung des Entmutigten vordem
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normalen Geschlechtspartner. Sie bedeutet zumeist auch gleichzeitig die Entwertung des normalen Oeschlechtspartners, der für den Homosexuellen überflüssig wird. Einer Darstellung A l f r e d A d l e r s entnehmen wir folgende, für die Homosexualität typischen Fälle 2 . „Der Homosexuelle wuchs bei seinen Eltern mit Schwestern auf, die ihn bei ihren Spielen ganz als Spielzeug benutzten. Bei einem Spiel war er die Kuh und wurde von den anwesenden Mädchen am Geschlechtsteil gemolken. Als man ihm aus Gesundheitsrücksichten sein Schaukelpferd wegnahm, kam er auf den Zusammenhang dieser Maßregel mit dem Geschlechtsorgan und versuchte, seinen Geschlechtsteil im Unterleib verschwinden zu lassen. Im Stalle hatte er die Gelegenheit, den Geschlechtsteil des Stallburschen zu sehen, dessen Größe ihn verwirrte. Bei dieser Gelegenheit gelangte er auch bald zum ersten homosexuellen Verkehr. — Ein weiterer Homosexueller wächst als uneheliches Kind einer Bauerntochter heran und muß in der nachfolgenden Ehe zwei Mädchen Tag und Nacht überwachen. Frauen und Mädchen werden von ihm als ihm feindliche Wesen angesehen, die an seinem verachteten Wesen die Schuld tragen. Die unangenehme Situation seiner unehelichen Mutter wird von Verwandten zur Belehrung über die Verwerflichkeit von Liebesbeziehungen benutzt. — In einem weiteren Falle sehen wir die Kindheitsjahre ausgefüllt durch den Verkehr mit einer um sechs Jahre älteren Cousine, die ihm wegen ihrer besonderen Energie Achtung und Furcht einflößt. Beide spielen spielen häufig Hochzeit, das Mädchen spielt den Bräutigam, der Knabe die Braut. Mit sechzehn Jahren spielt er eine weibliche Rolle bei einer Schülervorstellung und kokettiert mit einem fremden Besucher, der annimmt, ein Mädchen vor sich zu haben. — In einem während des Krieges untersuchten Falle handelt es sich um einen Mann von schwächlicher Konstitution, der seinem älteren Bruder unterlegen war und mehrfach an Geschlechtskrankheiten erkrankte. Seine sexuellen, wie später auch seine homosexuellen Beziehungen wurden immer mit Personen unterer sozialer Schichten angeknüpft, von denen er unbedingte Unterwerfung verlangte." Es ist die Furcht vor der Frau, die den Homosexuellen auf den sexuellen Abweg bringt, wenn auch diese Flucht durch die Betonung der unwiderstehlichen Disposition maskiert oder durch den Versuch der Entwertung der Frau in ihr Gegenteil verkehrt wird. Der Fall des homosexuellen Mörders H a a r m a n n ist nicht genügend geklärt, um genaue Aufschlüsse über die Entwicklung Haarmanns 2
Dr. Alfred A d l e r , Das Problem der Homosexualität, Erotisches Training und erotischer Rückzug, Verlag S. Hirzel, Leipzig 1930.
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zu geben. Der Darstellung L e s s i n g s zu diesem Falle entnehmen wir folgendes 3 : „Für den Seelenforscher ist es von Wichtigkeit, daß schon der kleine Knabe in dem Vater eine Art Nebenbuhler sah, welchen er haßte und tot wünschte. Durch das ganze Leben zieht sich diese Feindschaft mit dem Vater. Die beiden beschuldigen und bedrohen einander. Der Vater droht, den Sohn ins Irrenhaus zu bringen, der Sohn will den Vater (wegen eines angeblichen Mordes an seinem Lokomotivführer) ins Zuchthaus setzen. Es kommt immer wieder zu Mißhandlungen und Schlägereien. Jeder behauptet, daß der andere ihm nach dem Leben trachte, ihn vergiften wolle, ihn beeinträchtige. Zwischendurch verbinden sie sich aber auch mal wieder zu gemeinsamen Betrügereien oder entlasten einander vor Gericht. Das Verhältnis Haarmanns zur Mutter dagegen ist von immer gleicher Schwärmerei. Sie ist die Einzige, von der er Gütiges zu erzählen weiß und stets mit sentimentalen Gefühlen spricht. Im übrigen ist die Familie heillos zerrüttet. Die Geschwister prozessieren unaufhörlich. Erst um das Erbteil der am 5. April 1901 verstorbenen Mutter; späterhin auch um das väterliche Erbe. Aus den Anekdoten, die wir aus den Kinderjahren Haarmanns erfahren konnten, entnehmen wir zwei Züge: Erstens seine weiblichen (,transvestiten') Neigungen. Er spielte gern mit Puppen, machte auch weibliche Handarbeiten und wurde in Gesellschaft von Knaben rot und verlegen. Zweitens: seine Neigung, Angst und Entsetzen in seiner Umgebung zu erregen, indem er die Schwestern festband, ausgestopfte Kleiderpuppen auf die Treppe legte, heimlich nachts an die Fenster klopfte und Gespensterfurcht erweckte. Ostern 1886 kam er auf die Bürgerschule 4 am Engelbostelerdamm. Die Lehrer schildern das hübsche Kind als verwöhnt, verzärtelt, still, leicht lenksam, allgemein beliebt und verträumt." Das Beispiel Haarmanns zeigt, daß auch die furchteinflößende Gestalt eines Vaters den heranwachsenden Knaben so entmutigen kann, daß er sich eine männliche Rolle nicht mehr zutraut. Das Verhältnis zu seinem Vater ist für Haarmann offenbar auch der Ausgangspunkt seiner vernichtenden Feindschaft gegen die Gesellschaft. Es ist für ihn bezeichnend, daß er gelegentlich bei der Familie eines von ihm vermutlich Gemordeten erschien, sich als Kriminalist ausgab und versprach, den Fall aufzuklären. Die kleine Schwester des Ermordeten gab an, er habe sie, während er einige Augenblicke mit ihr allein im Zimmer war, „teuflisch angelacht". Sicher war es für Haarmann ein außerordentlicher Triumph, daß er seinen verbrecherischen Neigungen viele Jahre hindurch unentdeckt nachgehen konnte. 3
Theodor L e s s i n g , Haarmann, Die Geschichte eines Werwolfes, Verlag Die Schmiede, Berlin 1925.
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Von der Homosexualität ergibt sich leicht der Weg zum Transvestitentum, zum Vertauschen der Geschlechtsrollen. Der Mann, der Frauenkleider anzieht, die Frau, die in Herrenkleidung geht, die Lokale, in denen sich diese treffen, sind in manchen Großstädten keine seltene Erscheinung, allerdings auch häufig auf den Besuch aus der „Provinz" eingestellt. Jedenfalls einer der interessantesten Fälle auf diesem Gebiete ist der Fall der Lilias Irma Valerie B a r k e r , als Oberst Barker in England weithin bekannt, die erst vor kurzem vor einem englischen öffentlichen Gericht abgeurteilt worden ist 4 . Frau Barker war die Tochter wohlhabender Eltern, jedoch nach ihrer Angabe nach zwei unglücklichen Ehen genötigt, für ihre Kinder zu sorgen, wozu sie in der Rolle eines Mannes am besten in der Lage zu sein glaubte. Den tieferen Ursachen kommen wir jedoch näher, wenn wir erfahren, daß sie von ihrem Vater wie ein Knabe erzogen wurde und sich in früher Jugend schon in ihr die Vorstellung festsetzte, daß ein Knabe ein gutes, angenehmes Leben habe. Oberst Barker wurde 1927 Sekretär des Präsidenten der englischen Nationalsozialisten, ging viel in Uniform, mit Kriegsorden geschmückt, und erzählte gerne von seinen Kriegsabenteuern. Oberst Barker war mit einer Frau legitim getraut, die er aus ihrem Elternhaus entführt hatte. Erst bei einer Verhaftung wegen Konkursvergehens stellte sich das Geschlecht heraus. Der Fall des Oberst Barker ist einer der typischen Fälle des männlichen Protestes der Frau gegen die Vormachtstellung des Mannes, jedoch selbstverständlich nicht allein aus dieser soziologischen Tatsache zu erklären, sondern nur aus einer subjektiv übersteigerten Reaktion. Ganz offensichlich tritt die Entmutigung im E x h i b i t i o n i s m u s zutage, zugleich aber eine, wenn auch stark gehemmte Gewaltsamkeit gegenüber dem anderen Geschlecht. Die oft grauenhaften Verirrungen des Sadismus zeigen eine außerordentlich ausgeprägte Tendenz zur Überlegenheit, die hauptsächlich mit den Mitteln der Entwertung des Partners arbeitet. Die ganze „Erotik" erschöpft sich in der Herbeiführung einer willenlosen Unterwürfigkeit des Opfers, das alle möglichen Martern über sich ergehen lassen muß. Wohl nirgends deutlicher wie gerade hier zeigt sich, daß ein solches Verhalten eben nicht aus Sexualität heraus erklärt werden kann, sondern daß hier die Sexualität im Dienste eines wahnsinnigen Machtstrebens mißbraucht wird. Der Sadist ist nicht nur im Gebiete der Sexualität machtlüstern, sondern überall. Nur daß das Gebiet der Sexualität, zum Teil bedingt durch die bereits geschilderte soziologische Situation, für das Wüten des Machtstrebens ein besonders geeignetes 4
Die nähere Schilderung dieses Falles befindet sich in dem Buch von Erich Wulffen, Irrwege des Eros, Hellerau bei Dresden 1929, Averlunverlag.
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Feld darstellt. Daß es sich hier um die Überkompensation eines ursprünglichen Minderwertigkeitsgefühls handelt, liegt zum Greifen deutlich. Daß die Macht nicht nur auf dem Wege aktiver „männlicher" Aggressionen erlangt werden kann, sondern auch auf dem listigen Wege der „Unterwerfung", zeigt der Masochismus. Der Masochismus ist ein Musterbeispiel für jene große Zahl der sich selbst und andere o d e r andere täuschenden menschlichen Verhaltungsweisen. Wir wissen, daß Macht nicht nur durch aktive männliche Mittel, sondern auch durch passive weibliche Mittel erreicht werden kann. W u 1 f f e n setzt sadistisch gleich aktiv, männlich und masochistisch gleich entsagend, hingebend, weiblich 5 . Doch ist diese Identifikation nicht unbedenklich. Masochismus kennzeichnet sich als ein Versuch, durch Unterwürfigkeit und Nachgiebigkeit Macht über den anderen zu gewinnen. Er geht häufig aus einer Jugendsituation hervor, in welcher dem Heranwachsenden keine anderen Möglichkeiten zu Gebote zu stehen schienen, als Unterwürfigkeit. K a u s K ü n k e l 6 berichten von einem Mädchen, das dazu erzogen wurde, die männlichen Familienmitglieder zu bedienen. Für jede Unart wurde es geschlagen und legte sich bei einer Verfehlung über einen Stuhl, um die Züchtigung entgegenzunehmen. So wurde es zu einem trefflichen Objekt für rohe und sadistische Männer geschult. Es ging diesen Leidensweg, bis es einer Behandlung gelang, die Irrtümer aufzuklären und sie der Heilung zuzuführen. Der Lustmord ist seiner psychologischen Struktur nach unschwer als Sadismus in einer bis zum Äußersten getriebenen Konsequenz zu verstehen. Die Entwertungstendenz des Entmutigten steigert sich bis zur Vernichtung des Partners. Daneben ist fast immer die Komponente einer rasenden Feindschaft gegen die Gemeinschaft und des Versuches, über diese Gemeinschaft zu triumphieren, bemerkbar. Die Briefe des Düsseldorfer Mörders Kürthen, durch welche er die ihm gegenüber machtlose Obrigkeit verspottete, wurden bereits erwähnt. Im Grunde entspringen auch diese Perversionen der Furcht vor dem normalen Sexualpartner. D ö b l i n in seinem Roman „Berlin — Alexanderplatz" hat einen solchen Typ treffend charakterisiert. Der Mörder Reinhold ist Frauen gegenüber furchtsam. Er traut sich nicht, sie wegzuschicken, wenn er ihrer überdrüssig geworden. Dazu braucht er den Franz Biberkopf, der ihm die Mädchen abnimmt. Erst in einem starken Rausch gelingt es ihm, seinen Widerstand zu überwinden und ein Mädchen nach einem heftigen Auftritt wegzuschicken. Diese neue Entdeckung seiner selbst bedeutet für ihn beinahe eine Erlösung. Später ermordet er Biberkopfs Freundin Mieze. 5
Dr. Erich W u l f f e n , Großlichterfelde 1910.
Der Sexualverbrecher, Verlag Langenscheidt, Bln.6 a. a. O.
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Die Erscheinung der Prostitution ist mit durch den männlichen Charakter unserer Gesellschaftsordnung bedingt. In der Dirne kommt der sogenannte männliche Protest mit besonderer Deutlichkeit zum Vorschein. Sie hat auf ihrem ureigensten Gebiet die Frauenrolle abgelegt und tritt wie ein Mann auf. Sie ist der aktive Teil; sie wirbt wie ein Mann. Die Opposition zu der herrschenden Sitte und Anschauung, die von der Frau Zurückhaltung verlangt, ist offensichtlich. Die Prostituierte, nicht gewillt, sich ihrer Frauenrolle zu fügen, macht den Versuch, dem Manne überlegen zu sein. Diese Überlegenheit wird besonders betont durch die nüchterne, geschäftsmäßige Einstellung, mit der sie im Grunde dem Partner gegenübertritt. Auch die Prostitution als Dauererscheinung kann aus dem Gesichtspunkte des Gelderwerbes nicht verstanden werden, wenn auch nicht zu verkennen ist, daß manche Frauen durch die Not zeitweise auf die Bahn der Prostitution gezwungen werden. Im Grunde aber ist die Prostitution der freilich nicht verstandene Versuch, aus der weiblich unterlegenen, in die männlich überlegene Rolle zu kommen, und zwar ein Versuch, der aus der Entmutigung stammt, die den Glauben daran verloren hat, sich mit anderen Mitteln durchsetzen zu können. Ein sehr charakteristisches Beispiel zur Psychogenese der Prostitution entnehme ich dem Vortrag eines Herrn F. in München. Es handelt sich um die Tochter einer bekannten Adelsfamilie im Rheinland. Der Vater erzog milde und möglichst wenig. Die Mutter, eine arrogante Landaristokratin, kritisierte viel. Eine häufige Redensart von ihr war: „Was sagen die Leute dazu. Das schickt sich nicht." Die Tochter war ein hübsches, lebhaftes Mädchen. Bei ihrem Vater war ein junger Forstgehilfe angestellt, mit dem das Mädchen öfters zusammenkam, ohne daß ernsthafte Liebesbeziehungen bestanden hatten. Ihr häufiges Zusammensein mit diesem jungen Beamten, dessen männliche Eigenschaften sie schätzte, wurden von ihrer Mutter beanstandet, und schließlich auch mit Zimmerarrest bestraft. Es kam zur Revolte gegen die Familie, als der junge Mann offenbar wegen dieser Beziehungen zu ihr entlassen wurde. Er konnte zunächst keine andere Stelle finden und wohnte im Dorf. Dort traf das junge Mädchen sich häufig mit ihm und aus dem freundschaftlichen Verhältnis wurde ein Liebesverhältnis, in dessen Verlauf das junge Mädchen schwanger wurde. Sie wurde in aller Heimlichkeit in ein Entbindungsheim gebracht, und gebar dort einen Jungen, der gleich bei der Geburt starb. Sie trauerte über den Verlust „seines Kindes", von dem sie auch später noch sehr gerührt sprach. Auf Veranlassung ihrer Eltern kommt sie in ein schwesterlich geleitetes Institut, geht dort durch und erscheint in der nahen Stadt und prostituiert sich dort, indem sie jedermann erzählt, wessen Tochter sie sei. Sie wird
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durch die Polizei aufgegriffen, und nur mit Rücksicht auf ihren sehr einflußreichen Vater nicht in ein Strafverfahren verwickelt. Als sie wiederum in das Schwesterninstitut kommt, entflieht sie neuerdings und geht wieder in jene Stadt, um dort als Prostituierte zu leben, wobei sie immer wieder ihren Namen nennt. Bald erkrankt sie an einer Gonorrhöe und wird nach erfolgter Anzeige wegen Übertragung der Krankheit polizeilich sistiert und auf Kosten ihrer Eltern in ein Krankenhaus gebracht. Sie besteht hartnäckig auf ihrer Forderung, jenen Forstbeamten zu ehelichen. Gegen den Willen der Mutter willigt der Vater schließlich ein. Der junge Beamte jedoch, als er die Wahrheit erfährt, verzichtet auf die Heirat. Trotzdem liebt sie ihn weiter und macht die Eltern verantwortlich. Aus dem Krankenhaus entlassen, geht sie wiederum auf die Straße und übt in der Stadt weiter ihre Rache gegen ihre Eltern aus. Sie erkrankt syphilitisch. Erneut in das Krankenhaus verbracht, stellt sich eine Lungentuberkulose heraus, an deren Folgen sie stirbt. Im Krankenhaus hatte man wiederum mit Rücksicht auf ihre Eltern von der Übung abgesehen, ihren Namen auf der am Kopfende des Bettes angebrachten Tafel anzuschreiben; so oft es ihr möglich war, schrieb sie ihren Namen eigenhändig auf diese Tafel. Sie verkaufte sich nach Möglichkeit an Männer aus niedrigsten Bevölkerungsschichten, obwohl sie dafür nur geringes Entgelt erhielt. — Ein charakteristisches Beispiel dafür, wie die feindliche Einstellung gegenüber den Eltern vor der Vernichtung des eigenen Daseins nicht zurückschreckt. Offenbar ist schon ihre Neigung zu dem jungen Beamten zum Teil durch ihre schon in früher Jugend erworbene Oppositionseinstellung gegenüber ihren Eltern mitbedingt, wenngleich, wie mir mein Gewährsmann versichert, die Neigung eine echte und tiefe gewesen sein soll. Die feindliche Einstellung zur Umwelt kommt hier mit besonderer Deutlichkeit zum Ausdruck; wir dürfen sie aber bei der großen Mehrzahl der Prostituierten, wie der Verbrecher überhaupt voraussetzen.
VI. Strafvollzug. Der Begriff der Strafe ist mit dem Begriff der Gerechtigkeit unlöslich verbunden. Strafe ist der unlösliche Bestandteil eines moralischen Bezugssystems, zu welchem die Begriffe „Zurechnungsfähigkeit", „Willensfreiheit", „Schuld", „Sühne", „Vergeltung" als notwendige Beziehungsglieder gehören. Von jenen zwei Gruppen von Strafrechtstheorien — die Vergeltungstheorien auf der einen Seite, die Sicherungsund Besserungstheorien auf der anderen Seite — vermag wohl nur die Vergeltungstheorie den Begriff der Strafe einwandfrei zu rechtfertigen. Nur solange, als man auf dem Standpunkt steht, daß die Strafe die ge-
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VI. Strafvollzug.
rechte Sühne für ein begangenes Delikt darstelle und daß es notwendig sei, jedes Verbrechen gegen die sittliche Weltordnung mit einer diesem Vergehen angemessenen Sühne zu belegen, ist die Strafe als solche haltbar. Die Verbrechensbekämpfung mag von jedem anderen Standpunkt her vielleicht oft mit größerem Nachdruck und größerer Intensität gefordert werden, aber man muß sich darüber klar sein, daß es sich hier dann lediglich mehr um Maßnahmen gegen Verbrechen und Verbrecher, aber nicht um Strafe handelt. Das Ziel der Vergeltung ist die Herstellung der Gerechtigkeit auf Erden und in ihrer unerbittlichen Konsequenz führt sie zu dem Satze: „fiat justitia pereat mundus." I m m a n u e l K a n t hat folgerichtig gefordert, daß der letzte Mörder hingerichtet werden müsse und wenn darüber das Menschengeschlecht aussterbe. Wir haben aber schon gesehen, daß bei näherer Betrachtung die Vorstellungen von Strafe und gerechter Sühne mit Menschen rechnen, wie sie nicht sind. Die Willensfreiheit, an sich schon ein bestrittenes Postulat, oder nach V a i h i n g e r eine Fiktion, ist — wie wir gesehen haben — für den Verbrecher zumindest insoweit nicht vorhanden, als das Verbrechen nicht das Ergebnis eines freien Entschlusses, sondern vielmehr das Produkt einer längeren Entwicklungsreihe ist. Verbrechen werden nicht aus freiem, schöpferischen Entschluß, sondern aus Schwäche begangen und man wird in der Praxis nicht umhin können, diese Schwäche zunächst einmal als gegebenes Faktum anzuerkennen, womit selbstverständlich nicht gesagt sein soll, daß sie damit endgültig hingenommen werden muß. Dies anzuerkennen ist gerade auch die Praxis der Verbrechensbekämpfung mehr und mehr gezwungen worden. Die Begründung zum Entwurf eines allgemeinen deutschen Strafgesetzbuches vom 14. Mai 1927 führt zur Rechtfertigung des neuen Entwurfes aus: „Man warf die Frage auf, ob es richtig sei, das Verbrechen als Tatsache hinzunehmen und gerechte Vergeltung zu üben, oder ob nicht vielmehr nach den Gründen, aus denen das Verbrechen entsteht, geforscht und ihm planmäßig entgegengewirkt werden müsse, um nach Möglichkeit zu verhüten, daß Verbrechen begangen und daß dem Heere der Verbrecher neue Scharen zugeführt werden und ob nicht auch die Strafgesetze selbst weit mehr als bisher in den Dienst dieses Gedankens zu stellen seien." So ist mit der fortschreitenden Entwicklung des Strafrechts der Standpunkt der Vertreter der Vergeltungstheorie ein recht schwacher geworden. Ein bekannter Vertreter der Vergeltungstheorie führt aus: „Vergeltung sei zwar ein sittliches Prinzip, daraus ergebe sich aber noch nicht, daß auch der Staat durch Strafe Vergeltung üben müsse. Da aber die Vergeltungsidee so wirksam sei, daß sie sich auch ohne oder gar gegen den Staat, z. B. in Form der Rache, durchsetzen würde, müsse der Staat die praktische Durchführung der Vergeltungstheorie zur Wahrung seiner AutoriS c h m i d t , Verbrechen.
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VI. Strafvollzug.
tät selbst in die Hand nehmen. — Diese Theorie bedeutet aber im Grunde schon die Aufgabe des Standpunkts der gerechten Vergeltung. Die Erkenntnisse der modernen Psychologie vollends erschüttern den Standpunkt der Vergeltungstheorie auf das schwerste. Worin schließlich soll die Gerechtigkeit liegen, einen Menschen, der aus Irrtum und Entmutigung auf die Bahn des Verbrechens geraten ist, durch Strafe noch weiter zu entmutigen? Wie will man ferner einen gerechten Maßstab zwischen Verbrechen und Sühne finden? Dieser Standpunkt ist mitunter von Gegnern der Vergeltungstheorie in einer stark sarkastischen Form zum Ausdruck gebracht worden. So sagt der bekannte italienische Psychiater F e r r y in „La Justice Pénale" (1898): Die Frage, welche Strafe dem Verbrechen gemäß sei, sei eben so berechtigt wie die Frage, wie vieler Hammerschläge es bedürfe, um einen Irrtum zu beseitigen. Und um auch den Schalk zu Wort kommen zu lassen, sei folgende Äußerung von B e r n h a r d S h a w zitiert, in welcher er sich über den Versuch, Besserungs- und Sicherungstendenzen durch eine gemeinsame Maßregel zu verfolgen, lustig macht: „Will man einen Menschen im Geiste der Wiedervergeltung strafen, so muß man ihm wehe tun. Will man ihn zu einem anderen Lebenswandel bringen, so muß man ihn zu bessern suchen. Und Menschen werden nicht gebessert dadurch, daß man ihnen wehe tut. Der Vorschlag, durch ein und dasselbe Verfahren zu strafen und zu bessern, ist genau so, als ob man einen Mann, der an Lungenentzündung erkrankt ist, hernehme und versuche, Straf- und Heilmaßnahmen miteinander zu verbinden. Von dem Argument ausgehend, daß ein Mann mit Lungenentzündung eine Gefahr für die Allgemeinheit bedeutet und daß er sie nicht zu bekommen braucht, wenn er seine Gesundheit gehörig in acht nimmt, beschließt man, er soll eine strenge Lektion erhalten, einerseits, um ihn für seine Fahrlässigkeit und Lungenschwäche zu bestrafen und andererseits, um andere vor einer Nachahmung seines Beispiels abzuschrecken. Man zieht ihn deshalb nackt aus und läßt ihn so die ganze Nacht über im Schnee stehen. Da man aber einsieht, daß man die Pflicht hat, seine Gesundheit — wenn möglich — wieder herzustellen und ihn mit gesunden Lungen zu entlassen, so stellt man einen Arzt an, der die Bestrafung zu überwachen und ihm Hustenpastillen zu verabfolgen hat, die möglichst unangenehm schmecken müssen, damit der Übeltäter nicht verzärtelt wird." In der vorher zitierten Argumentation, die anführt, daß der Staat Vergeltung üben müsse, weil sonst zu befürchten sei, daß sich die Vergeltungstendenz ohne oder gegen seinen Willen durchsetzen würde, steckt ohne Zweifel ein richtiger Kern. Offenbar fordert in einer ganzen Reihe von Fällen die öffentliche Meinung in weitem Umfange die Vergeltung besonders verabscheuungswürdiger oder besonders brutaler De-
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VI. Strafvollzug.
likte. Und scheint es nicht so, als ob in gewissen Fällen unser natürliches Gefühl, unser natürlicher Menschenverstand, ein gleiches fordert? Denken wir etwa an die entsetzlichen Verbrechen Haarmanns oder an einen Lustmord an einem Kind. Aber natürliches Gefühl und gesunder Menschenverstand haben nicht auf ewig die gleichen Inhalte, die gleichen Anschauungen und die gleichen Normen. Sicherlich hat es im Mittelalter gegen den gesunden Menschenverstand und das natürliche Gefühl verstoßen, wenn man eine Hexe nicht verbrannt hat. Auch der gesunde Menschenverstand und das natürliche Gefühl sind im Laufe der Entwicklung Wandlungen unterworfen gewesen und werden weiter Wandlungen unterworfen sein. Irgendwie werden verbrecherischer Entschluß und verbrecherische Handlung, indem man gegen sie gerechte Sühne zur Anwendung bringen will, positiver gewertet, als sie es in Wirklichkeit verdienen. Dem wirklichen Sachverhalt widersprechend, erhält das Verbrechen die unverdiente Gloriole, als ob es das Ergebnis eines w i r k l i c h freien Willensentschlusses sei, also f o r m a l vollwertiges menschliches Handeln darstelle. Ganz offensichtlich wird bei dem Verbrechen zu sehr, oder beinahe ausschließlich, die positive Seite der Befriedigung durch einen realen Erfolg ins Auge gefaßt, während die Beachtung der anderen negativen Seite vernachlässigt wird. Wir sehen beispielsweise bei Sittlichkeitsverbrechen viel zu sehr die Lustgewinnung des Attentäters, als die Qual und Trostlosigkeit des Verirrten; bei Eigentumsdelikten viel zu sehr den materiellen Effekt, als das Leid der Antisozialität. Ganz offenbar sind wir dem Verbrecher verwandter, als wir es selbst gerne wahrhaben möchten, eine Erkenntnis, die in gelegentlichen Sätzen, wie „daß in jedem Menschen ein Verbrecher stecke", zum Ausdrucke kommt, ohne daß deswegen diese Erkenntnis praktisch irgendwie wirksam geworden wäre. Man ist angesichts dieser Tatsache beinahe geneigt, die gewagte Behauptung aufzustellen, daß die Strafe eine Reaktion des Neides der durch soziale Schranken Gehemmten gegenüber dem Ungehemmten sei. Sind nicht für uns alle zum Teil kulturelle Schranken und Hemmungen gefühlsmäßig negativ bewertet, eben als Hemmungen eines freien Sichauslebens und nicht gefühlsmäßig positiv bewertet als Entwicklungsfortschritte der Einzelpersönlichkeit. Ein Standpunkt, dem S i g m u n d F r e u d in seinem Buch „Das Unbehagen in der Kultur" vergeistigten Ausdruck verliehen hat. Ohne Zweifel ist auch unser geltendes Strafsystem zu werten als Symptom einer noch ungenügend entwickelten Kultur. Der Strafrechtslehrer L. v. B a r erklärt in seinem im Jahre 1881 erschienenen Buche „Geschichte des deutschen Strafrechts": „Bei mehr entwickelter Kultur würden Prozeß und Urteil den wichtigsten Teil der Strafe bilden." 5*
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VI. Strafvollzug.
Solange Verbrechen der Ehre der Vergeltung teilhaftig werden, wird auch die Gloriole der Romantik, die immer noch manche Verbrechen umgibt, nicht verschwinden. Eine Gloriole, die eine der wichtigsten Quellen der heute wie eine Sündflut über uns hereinbrechenden KriminalSchundromane bildet. Eine Gloriole, die weiter auch, man denke an die Verbrechen, die in jugendlicher Romantik begangen werden, eine psychologische Quelle von Verbrechen darstellt. Hat sich erst einmal die Überzeugung durchgesetzt, daß Verbrechen nicht die Ergebnisse des Handelns freier und mutiger Persönlichkeiten sind, sondern die Reaktion von Schwäche und Mutlosigkeit, so wird damit ein wichtiger Anreiz zum Verbrechen beseitigt sein. Es kommt darauf an, die soziale und auch individuelle Minderwertigkeit verbrecherischer Handlungen der öffentlichen Meinung geläufig zu machen, was dadurch, wenn es auch seltsam klingt, viel besser erreicht wird, daß man die psychologischen Untergründe aufdeckt, als dadurch, daß man einen moralischen Maßstab an sie anlegt. Durch die Anwendung moralischer Maßstäbe nämlich ruft man die irrtümliche Vorstellung hervor, als ob die Kriminellen die Freiheit und die Kraft des Willens besäßen, zwischen Gut und Böse zu wählen, während sie in Wirklichkeit aus Schwäche und aus Irrtum den Weg des Verbrechens mit einer gewissen zwingenden Notwendigkeit gehen. Dabei ist noch die Frage, ob das Vergeltungsprinzip wirklich einer eingehenden soziologischen oder psychologischen Analyse standhält, zu prüfen. Vielfach glaubt man, es als sublimierten Rachetrieb entlarvt zu haben. P o p p e r meint, daß ihm nur ein Irrtum in der Zeit unterlaufen sei, indem es eine verspätete Notwehr-Reflexbewegung darstelle 1 . Daß in unserem geltenden, deutschen Strafgesetzbuch der Grundsatz der Vergeltung vielfach von anderen und bedeutend wirksameren Gesichtspunkten durchbrochen ist, ist bekannt. Vielfach ist für die Höhe der Strafe die Größe des angerichteten Schadens von ausschlaggebender Bedeutung, oder es tritt eine Erhöhung der Strafe auf Grund bestimmter, vom Täter völlig unabhängiger Auswirkungen oder Begleitumständen der Tat ein. Der mißglückte Versuch eines Verbrechens wird milder bestraft als das geglückte Verbrechen. Auch die Bestrafung der Fahrlässigkeit bereitet nach dem Grundsatz der Vergeltung große Schwierigkeiten. Bezeichnenderweise führt der Kommentar der Reichsgerichtsräte aus: „Die Verhältnismäßigkeit der Vergeltung wird nicht nach der Stärke des unbotmäßigen Willens, sondern nach der Höhe der Schmälerung, die die reagierende, mißachtendePersönlichkeit(der Staat, dieGesellschaft)erleidet, bemessen. Es bleiben somit lediglich, wenn wir uns nach den Gründen von Maßnahmen gegen die Kriminalität umsehen, die Gedanken des Schutzes 1
Josef P o p p e r - L y n k e u s , Philosophie des Strafrechts, Verlag R. Löwit, Wien-Leipzig 1924.
VI. Strafvollzug.
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der Gesellschaft gegen verbrecherische Übergriffe übrig, unter welche auch die Möglichkeit der sogen. Besserung des Verbrechers zwanglos eingereiht werden kann, da diese naturgemäß, sofern sie erreichbar wäre, die beste Sicherung darstellen würde. Daran, daß die Strafe für absehbare Zeiten auch einen zwangsartigen Charakter haben muß, kann, wenn man sich nicht in wirklichkeitsfremden Theorien ergehen will, kein Zweifel sein. Die Zwangsorganisation des Staates macht sich ja etwa nicht nur auf dem Gebiete des Strafrechts geltend, sondern auch auf jedem anderen Gebiet. Die Leiden, die die Einzelpersönlichkeit auf anderen Gebieten durch Zwangsmaßnahmen erleidet, stehen häufig an Intensität in keiner Weise gegenüber Strafmaßnahmen zurück. Man denke an die schmerzhaften Eingriffe, die sich für das Individuum auf dem heute ungeheuer angeschwollenen Gebiete der zivilen Zwangsvollstreckung ergeben. Wenn wir zunächst von jenen Gedankengängen, die als Strafzweck eine Besserung des Verbrechers im Auge haben, absehen, so beruht die durch die Strafe gewährleistete Sicherung hauptsächlich auf einer psychologischen Abschreckung. Sei es nun, daß man sich diese Abschrekkung in der Form der Spezialprävention — der einmal bestrafte Verbrecher soll mit der Strafe abgeschreckt werden, weitere Verbrechen zu begehen — oder in der Form der Generalprävention — die Allgemeinheit soll durch die sinnfällige Bestrafung von Verbrechen abgehalten werden, solche zu begehen — denkt. Die Kardinalfrage, von der jeder Fortschritt des heutigen Strafvollzuges abhängt, ist, ob die Abschreckung, die durch den Strafvollzug ausgeübt wird, wirklich jene außerordentliche Bedeutung für die Verbrechensbekämpfung hat, die man ihr bisher zusprach. Eine solche Bedeutung hat die Abschreckung aber offenbar nicht. Da man, wenn man die Bedeutung der Abschreckung zu bezweifeln wagt, leicht in den Verdacht weltfremden Theoretisierens gerät, sei es gestattet, die Ansicht eines erfahrenen Praktikers in diesem Punkte anzuführen: H e i n d l erklärt in seinem bereits öfters zitierten Werk „Der Berufsverbrecher" in seiner Kritik über den Strafvollzug in der französischen Verbrecherkolonie Neukaledonien: „Mit Strenge wurden also noch weniger Resultate erreicht, als mit der Milde." Derselbe Autor schildert uns die öffentliche Exekution in dieser französischen Strafkolonie. Er schildert uns die öffentlichen Hinrichtungen in den Straßen der Städte von China, wo dem Verurteilten Glied für Glied abgeschnitten und er erst zuletzt umgebracht wird, ohne daß dadurch die Kriminalität wirksam zurückgedämmt werden würde. Schließlich haben auch die Erfahrungen der mittelalterlichen Justiz mit ihren entsetzlichen Torturen gezeigt, daß der abschreckenden Wirkung der Strafe Grenzen gesetzt sind. Insbesondere
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VI. Strafvollzug.
ist die abschreckende Wirkung der Strafe auf Gevvohnheits- und Berufsverbrecher äußerst gering, sicherlich derjenigen Strafen, wie sie in unserer heutigen, wesentlich humaneren Zeit vollzogen werden. Man müßte schon zu mittelalterlichen Formen zurückkehren, um den Abschreckungscharakter der Strafe zu verstärken. Aber selbst so müßte ein Erfolg notwendigerweise ausbleiben. Es ist das Zeichen einer geringen und auch unrichtigen Einschätzung der menschlichen Psyche, wenn man glaubt, durch Abschreckung allzuviel erreichen zu können. Die Erfahrungen der modernen Psychologie zeigen uns auch aufs deutlichste, warum der Abschreckung ein tieferer Einfluß auf die Motivation notwendigerweise versagt bleiben muß. Wenn wir einmal erkannt haben, daß der Werdegang des Verbrechens seinen Anfang nimmt aus einer mißverstandenen Jugendsituation und einer dadurch bewirkten Entmutigung, so wird uns klar, daß jede fortgesetzte weitere Entmutigung, wie sie nun einmal der gegenwärtige Strafvollzug darstellt, keine bessernde, sondern nur eine verschlechternde Wirkung haben kann. Der Verbrecher, der teils bewußt, teils unbewußt, seine Entwicklung in feindseliger Einstellung gegen die Gesellschaft nimmt, wird durch den Strafvollzug in dieser seiner Haltung nur noch mehr bestärkt und verhärtet. An der Leitlinie des Verbrechers, der feindseligen Einstellung gegen die Gesellschaft, wird durch die Abschreckung nichts geändert, im Gegenteil, sie wird dadurch verstärkt. Bestenfalls wird die Abschreckung den Erfolg haben, daß der Verbrecher bei Ausübung seiner Taten mit besonderer Raffinesse und besonderer Vorsicht zu Werke geht. In der Zeit einer verschärften Lebensmittelgesetzgebung erzählte der Leiter eines größeren industriellen Werks, daß das verbotene Angebot von Lebensmitteln durch Verschärf u n g der Strafbestimmung keineswegs zurückging, sondern daß die einzige Folge eine Erhöhung der Preise dieser Lebensmittel darstellte. Es wurde also das erhöhte Risiko einkalkuliert. Die übertriebene Wirkung, die man der Abschreckung beimißt, entspringt einer pessimistischen und (soll man wagen zu sagen: daher) irrigen Einschätzung der menschlichen Natur. Es gibt viel wirksamere Motive als die der Abschreckung. Gleichwohl — es wurde bereits darauf hingewiesen — ist die abschreckende Wirkung der Strafe von Bedeutung. Und man wird sich nicht entschließen können, auf diese abschreckende Wirkung voll und ganz zu verzichten. Jedoch wird man sich — und dies wird zunächst genügen, um einen Fortschritt auf dem Gebiet des Strafvollzuges zu erzielen — über die enggezogenen Grenzen der Einwirkung durch Abschreckung klar werden müssen. Die abschreckende Wirkung der Strafe beruht weniger auf ihrem heute gegenüber früheren Zeiten wesentlich milderen Vollzug, als in einer soziologischen Begleiterscheinung der Strafe. Daraus erklärt sich, daß die abschreckende Wirkung
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der Strafe gegenüber den einzelnen Gesellschaftsklassen von sehr verschiedener Stärke ist. Für den Bankdirektor etwa, der wegen Betrugs ins Gefängnis kommt, liegt das Strafübel nicht so sehr in dem Strafvollzug selbst, sondern in einer soziologischen Nebenwirkung der Strafe, die hier zur Hauptwirkung wird: In der sozialen Diffamierung des Sträflings. Durch die Verurteilung verliert er nicht nur seine berufliche, sondern auch seine gesellschaftliche Stellung. Er ist aus seinem Gesellschaftskreis ausgeschlossen, eine Wirkung der Strafe, die ihn meist weit tiefer treffen wird, als der Strafvollzug selbst. Diese Wirkung entfällt für den Berufsverbrecher vollkommen. Der berufsmäßige Einbrecher wird nach der Rückkehr aus dem Zuchthaus von seinen Genossen wieder aufgenommen. Er hat von seinem sozialen Kontakt innerhalb seines Kreises nichts eingebüßt. Es ergibt sich damit die These von der doppelten soziologischen Ungerechtigkeit der Strafe: 1. die Strafe trifft Angehörige der unteren sozialen Schichten häufiger; 2. sie trifft Angehörige der oberen sozialen Schichten härter. Diese Erkenntnis der soziologischen Nebenwirkung der Strafe ist für die Einrichtung des Strafvollzugs von besonderer Bedeutung. Es ist wichtig, zu beachten, daß die sozial deklassierende und diffamierende Wirkung der Strafe von der Art des Strafvollzugs bis zu einem gewissen Grade unabhängig ist. Und es ergibt sich, daß die abschreckende Wirkung der Strafe in vielen Fällen weniger wegen des Strafvollzuges, als wegen der soziologischen Nebenwirkung der Strafe auch eine außerordentlich große sein wird. Es gibt eine ganze Reihe von Fällen, ,in denen der Staat auf absehbare Zeit auf diese abschreckende Wirkung der Strafe kaum verzichten wird. Wer würde vorschlagen, an Stelle der Festsetzung hoher Steuerdefraudationsstrafen den Versuch der Erziehung und Aufklärung zu setzen? Es ist weiter zu beachten, daß der Entzug der persönlichen Freiheit, auch wenn er ohne Straftendenz erfolgt, bis zu einem gewissen Grade für jedermann ein Übel darstellt, das man zu vermeiden wünscht. Die gewonnenen Erkenntnisse setzen uns in die Lage, zu der Art und Weise des Strafvollzugs grundsätzlich Stellung zu nehmen. Es handelt sich um folgende Feststellung: 1.Für die große Mehrzahl ist die Freiheitsentziehung auch ohne Strafcharakter ein Übel, das man zu vermeiden sucht und dessen Androhung abschreckend wirken muß. 2. Für den Berufs- und Gewohnheitsverbrecher ist die abschreckende Wirkung der Strafe erfahrungsgemäß eine äußerst geringe. 3. Für einen großen Kreis von Personen beruht die abschreckende Wirkung der Strafe weniger in dem Strafvollzug selbst, als in der mit der Verurteilung verbundenen Diffamierung und Deklassierung.
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Daraus ergibt sich mit zwingender Folgerichtigkeit: E s b e d e u t e t k e i n e G e f ä h r d u n g , s o n d e r n v i e l m e h r e i n e n F o r t s c h r i t t in der V e r b r e c h e n s b e k ä m p f u n g , wenn k ü n f t i g der Strafv o l l z u g d a v o n a b s i e h t , A b s c h r e c k u n g s t e n d e n z e n zu v e r f o l g e n . Es ist nicht n o t w e n d i g , daß d e r z u n ä c h s t i n v i e l e n F ä l l e n noch u n e n t b e h r l i c h e F r e i h e i t s e n t z u g den S t r a f c h a r a k t e r b e t o n e n muß. Die Annahme dieser These eröffnet den W e g für eine wirklich fortschrittliche und mit wirksameren Mitteln als bisher arbeitende Kriminalpolitik. Sie allein gibt die Möglichkeit, die Beeinflussung des Kriminellen künftig in einer Weise zu versuchen, die dem Stand der wissenschaftlichen Erkenntnis von heute entspricht. In der Phantasie mancher Überängstlicher werden sich nun wohl die Gefängnisse der Zukunft bereits in luxuriöse Sanatorien verwandeln. Daß davon keine Rede sein kann, braucht wohl nicht weiter betont zu werden. Daß für Anstalten, die ja so viele schwierige Elemente bergen, eine energische und zugleich aber auch gütige Hand walten muß, ist ohne weiteres klar. Versuchen, wie sie ja jetzt schon hin und wieder vorkommen, die Gefängnisse als Obdach in Anspruch zu nehmen, wird man zu begegnen wissen. Vor allem von der psycho-analytischen Schule werden der Wirksamkeit der Strafe auch von anderen Gesichtspunkten her erhebliche Zweifel entgegengebracht. Die Autoren dieser Richtung behaupten, daß der neurotische Verbrecher durch sein Strafbedürfnis zum Verbrechen getrieben wird. A l e x a n d e r - S t a u b führen aus: „Diese Menschen begehen das Verbrechen vor allem darum, weil es verboten ist und weil seine Ausführung ihnen eine seelische Erleichterung bringt. Ein sie dauernd belastendes Schuldgefühl unbekannter Herkunft wird durch das Vergehen an eine bestimmte Tat geknüpft und so wenigstens irgendwie in einer bewußtseinsfähigen, leichter ertragbaren Form untergebracht. Ihr Schulde gefühl stammt nämlich aus unbewußten Wünschen, die vom eigenen „Über-Ich" viel schwerer verurteilt werden, als die real begangene Handlung . . . . Die Beurteilung für die meistens ziemlich harmlose (jedenfalls von ihrem Über-Ich als wesentlich harmloser, als der verpönte Wunsch empfundene) Tat bedeutet für sie einen moralischen Gewinn, weil sie mit der realen Strafe gleichzeitig für ihre unbewußten Wünsche (Ödipus-Komplex, Anm. d. Verf.) bezahlen und damit das Schuldgefühl beschwichtigen können 2 . Daß die Strafe um ihrer selbst willen aufgesucht werden kann, leuch2 Vergleiche auch Theodor R e i k , Geständniszwang und Strafbedürfnis, Probleme der Psychoanalyse und der Kriminologie. Internationaler Psycho-analytischer Verlag Wien 1927.
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tet ohne weiteres ein. Warum soll eine masochistische Oeisteshaltung gerade vor der Kriminalstrafe halt machen? Die erlittene Strafe, aber auch schon bloße Reue und Schuldgefühl, dient der Wiederherstellung des gestörten Selbstwertgefühls der Persönlichkeit. Schuld- und Reuegefühle, offenbar Funktionen des Gemeinschaftsgefühls, werden mißbraucht zu einer individuellen Erleichterung. Man hat Reue- und Schuldgefühl gezeigt, glaubt dadurch den Forderungen der Gemeinschaft Genüge getan zu haben, absolviert sich und geht auf der alten Bahn weiter. Es ist sicherlich eine große Gefahr für den Strafvollzug, auf die Produktion von Schuld- und Reuegefühlen bei den Gefangenen Wert zu legen. Abgesehen von vielen Fällen der Heuchelei, kann die Reue als solche wenig befriedigen. Es kommt nicht so sehr darauf an, reuige Sünder als vielmehr darauf an, Menschen zu gewinnen, die für die Mitarbeit innerhalb der Gesellschaft besser vorbereitet sind. Die Belastung mit Reue- und Schuldgefühlen widerspricht auch dem hier vertretenen therapeutischen Weg. Die Belastung mit Reue- und Schuldgefühl bedeutet eine weitere Entmutigung der Persönlichkeit; gerade auf das Gegenteil aber, auf die Ermutigung, kommt es an. Bei allen Bemühungen, den Strafvollzug in einer humaneren und zugleich auch wirkungsvollen Weise auszugestalten, kann nicht übersehen werden, daß es Verbrechertypen gibt, denen mit den bisherigen Mitteln des Strafvollzugs nicht beizukommen ist. Aus diesen Erwägungen heraus fordert H e in d l in seinem Werk „Der Berufsverbrecher" die lebenslängliche Sicherungswahrung der Gewohnheitsverbrecher. Dieser Forderung ist sicher bei einer gewissen Gruppe von Verbrechern zuzustimmen. Die Sicherungswahrung ist ja auch im neuen deutschen Strafrechtsentwurf vorgesehen, wenn auch nicht in der von H e i n d 1 geforderten radikalen Form. Auch die Sicherungswahrung ist als ein Fortschritt auf dem Gebiete des Strafvollzugs zu begrüßen. Es ist nicht einzusehen, warum die Gesellschaft vor gefährlichen Verbrechern nicht ebenso geschützt werden soll, wie vor gefährlichen Geisteskranken. Die These H e i n d l s allerdings, daß Berufs- und Gewohnheitsverbrecher nicht erzieherisch beeinflußt werden können, kann zum mindesten als allgemeine These nicht bestehen bleiben. Es sollen gewiß nicht die außerordentlichen Schwierigkeiten einer derartigen Beeinflussung verkannt werden. Wenn jedoch H e i n d 1 einzig und allein auf Grund der Erfahrungen in der französischen Strafrechtskolonie Neukaledonien zu dem Ergebnis kommt, daß jeder Erziehungs- und Besserungsversuch ein aussichtsloses, um nicht zu sagen ein lächerliches Unternehmen sei, so muß dem widersprochen werden. Die Erfahrungen in der französischen Strafrechtskolonie Neukaledonien sind nur eine sehr schwache Stütze für eine derartige Behauptung, denn der moderne Strafvollzug wird selbstverständ-
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lieh nicht mit derartig antiken Mitteln, wie sie Deportationen und Strafkolonien darstellen, arbeiten. Daß eine Gemeinschaft von Verbrechern nicht imstande ist, sich zu einer gesunden Gemeinschaft zu entwickeln, war von vorneherein vorauszusehen. Denn, wie bereits früher betont wurde, es gibt keine normalen Verbrecher; bei jedem Verbrecher sind die Gemeinschaftsbeziehungen gestört. Somit kann es keine aussichtsvolle Gemeinschaft von Verbrechern geben. So schwer die gestellte Aufgabe aber auch sein mag, ist jedoch darauf hinzuweisen, daß wir nunmehr mit einem ganz anderen Rüstzeug an die Bekämpfung des Verbrechens gehen können, da wir weit besser als früher über die Entstehungsgründe des Verbrechers orientiert sind und auch hier eigentlich noch am Anfang unserer Erkenntnis stehen. Ein neues, großes Feld für die Kriminalpsychologie tut sich auf. Wie auch immer die Erfolge sein mögen, keinesfalls haben wir gerade heute das Recht, eine Unmöglichkeit zu konstatieren. Die Grenzen unserer Möglichkeit ergeben sich von selbst, wir brauchen sie nicht eigens aufzurichten. Die Beeinflussung des Verbrechers hat zur Aufgabe die Resozialisierung des Verbrechers, seine Zurückgewinnung für die Mitarbeit innerhalb der Gemeinschaft. Von einer Besserung des Verbrechers zu sprechen, sollte man unterlassen. Denn das Wort „Besserung" hat eine moralisierende Tendenz. Moral ist gut, aber moralisieren ist von Übel. Haben wir festgestellt, daß der Verbrecher aus einer mißverstandenen Jugendsituation kommt, wozu auch das Mißverständnis des angetroffenen Jugendmilieus als Norm gehören mag, so sind wir berechtigt, zu schließen, daß eine Änderung durch Aufklärung möglich sein muß. Haben wir erkannt, daß Verbrechen in der Atmosphäre der Mutlosigkeit entstehen, so drängt sich uns die Überzeugung auf, daß durch Beseitigung dieser Mutlosigkeit, durch Ermutigung, ein Fortschritt möglich sein muß. Das bislang geltende Strafsystem bedeutet die E n t m u t i g u n g . Nicht nur Entmutigung soweit unumgängliche Begleiterscheinungen gesellschaftlichen Schutzes, sondern darüber hinaus a b s i c h t l i c h e E n t m u t i g u n g . Der Grund des Mißerfolges des bisherigen Strafsystems liegt auf der Hand. Die Strafe treibt den Kriminellen nur immer noch weiter in die Mutlosigkeit hinein, sie verstärkt seine oppositionelle 'Haltung, sie verstärkt seine feindselige Haltung gegenüber der Gesellschaft. Gerade aus dieser feindseligen Haltung gegenüber der Gesellschaft entspringen aber auch die Straftaten, die wiederum die Reaktion der Gesellschaft hervorrufen. So spielen sich Straftat und Vergeltung in einem fürchterlichen circulus vitiosus gegenseitig die Trümpfe zu, nur daß der eine der beiden Beteiligten, die Gesellschaft, den längeren Atem hat.
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Wenn nun mit anderen Methoden die Resozialisierung des Verbrechens versucht werden soll, so braucht dies nicht mit übertriebenem Optimismus, soll aber auch nicht mit Pessimismus geschehen. Daß zwar leicht beieinander die Gedanken wohnen, sich aber hart im Räume die Sachen stoßen, ist eine alte Wahrheit. Es spricht f ü r diese neuen Methoden vorerst nur eine geringe Erfahrung. Es besteht keine andere Möglichkeit, als der Praxis zunächst einmal diese neuen Methoden darzubieten; ihre A u f g a b e wird es sein, mit den Schwierigkeiten, die w i r haben, fertig zu werden. Zu den wichtigsten Aufgaben der Praxis wird künftig die Kenntnis des psychologischen Werdegangs des Verbrechers gehören. Diese Kenntnis sollte schon vor dem behandelnden Gericht nach Möglichkeit vorbereitet werden. Es ist zu fordern, daß künftig die Urteilsgründe jeden Strafurteils einen Teil enthalten, in welchem der Richter die abwegige Entwicklung der verurteilten verbrecherischen Persönlichkeit zeichnet und seine Ansicht über die Möglichkeit und die Art und Weise einer Resozialisierung dieser Persönlichkeit darlegt. Diese analytische A u f g a b e ist während des Strafvollzugs fortzusetzen. Hiezu gehören besondere zu diesem Zweck ausgebildete und geeignete Kräfte. Denn die Möglichkeiten einer erzieherischen Beeinflussung des Kriminellen ergeben sich nur durch das Medium des Vertrauens. Darum wird gerade auch die Zusammenarbeit mit dem Strafverteidiger außerordentlich wichtig sein, weil sich zwischen Strafverteidiger und Angeklagten gewöhnlich ein besonderes Vertrauensverhältnis herausbildet, das ja eine der wichtigsten psychologischen Grundlagen f ü r die Verteidigung darstellt. Nur eine Auswahl bester Kräfte wird den Strafvollzug mit den neuen Methoden zu einem E r f o l g führen können. Aller Übereifer unzureichender Persönlichkeiten ist mehr schädlich als nützlich. Im folgenden gebe ich einen Fragebogen weiter, der zur Erleichterung der Charakterforschung eine Reihe der wichtigsten Punkte, auf die es ankommt, zusammenstellt, ohne daß damit auf Vollständigkeit Anspruch gemacht werden soll. Dieser Fragebogen soll lediglich eine g e w i s s e Erleichterung f ü r die Forschung bieten und nicht direkt und schematisch angewendet werden. Soferne man nicht überhaupt den streng analytischen W e g (Träume, freie Assoziationsreihen) vorzieht, wird man gesprächsweise auf die wichtigsten Punkte kommen müssen, allmählich das Vertrauen des Gefangenen zu gewinnen versuchen und es schließlich soweit bringen, daß der G e f a n g e n e selbst an der Forschung ein Interesse gewinnt und mitarbeitet. Dies wird immer dann der Fall sein, wenn der G e f a n g e n e merkt, daß diese Arbeit in seinem ureigensten Interesse liegt.
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Fragebogen über die wichtigsten G e s i c h t s p u n k t e der C h a r a k t e r e r f o r s c h u n g bei Kriminellen. I. K i n d h e i t : 1. Organminderwertigkeiten. 2. Milieu. 3. Verkehrsbeziehung zu a) Vater, b) Mutter, c) Geschwister. Stellung in der Reihe der Geschwister: ältestes, jüngstes, einziges Kind, d) Lehrer, e) Kameraden und Freunde, 4. Älteste Kindheitserinnerung. 5. Erste Erfolge, erste Mißerfolge und Enttäuschungen, positive Leistung. 6. Begabung und Unbegabtheit. Wozu? 7. Lieblingslektüre. 8. Vorbilder: Klassenkameraden, Romanhelden, Helden der Geschichte oder der Jetztzeit. 9. Art der Erziehung: harte — weichliche. 10. Lieblingswünsche. 11. Züge von Trotz und Gehorsam. Vereinsamung, Kontaktfähigkeit. II. S p ä t e r e Z e i t : 1. Einstellung zum Beruf; Berufsziele. 2. Einstellung und Beziehungen zu Frauen. 3. Einstellung und Beziehungen zu Kameraden und zur Gesellschaft. Freundschaften — Feindschaften. 4. Enttäuschungen — Erfolge. 5. Urteile über a) Staat, b) Kirche, c) Politik, d) Moral (gut und böse), e) Gerechtigkeit, f) Schicksal. 6. Die Anschauung des Kriminellen über die Ursache seiner Mißerfolge. 7. Die Gedanken des Kriminellen über seine Zukunft. 8. Erlebnisse. 9. Frage: Was würde ich machen, wenn ich es mir einrichten könnte, wie ich wollte?
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10. Lieblingsbeschäftigung. l t . G e b i e t e , auf denen sich der Kriminelle viel, am meisten zutraut; Gebiete, auf denen sich der Kriminelle am wenigsten zutraut.
Die Bedeutung der einzelnen Punkte des oben vviedergegebenen Fragebogens ergibt sich im wesentlichen aus den vorausgegangenen Ausführungen: Daß auf die Erforschung der Jugendsituation des Kriminellen besonderer W e r t gelegt wird, ergibt sich daraus, daß die Jugendjahre die wichtigsten Jahre für die Entwicklung des Charakters darstellen. Für alle späteren Beziehungen des Menschen sind seine Jugenderziehung zu Vater, Mutter und Geschwistern, dann zu Lehrern und Kameraden, die aufschlußreichsten. Wichtig sind auch die ersten Enttäuschungen des Kindes, da hier häufig die Entwicklung abwegig wird. Die Vorbilder, die sich der Jugendliche gewählt hat, erleichtern die Auffindung seiner Leitlinie. Die Art der Handhabung der Erziehung des Jugendlichen läßt wichtige Schlüsse zu. Die Situation des Erwachsenen wird am besten an drei Beziehungspunkten erkannt: An der Beziehung zum Beruf, an der Beziehung zur Frau und an der Beziehung zur Gesellschaft. Dies entspricht der von A l f r e d A d l e r aufgestellten Dreiteilung. Die Gedanken über die Zukunft ergeben ein Bild, inwieweit noch Mut für die Aufgabe des Lebens vorhanden, bzw. wie weit die Mutlosigkeit fortgeschritten ist. Die Feststellung endlich, auf welchem Gebiet der Kriminelle sich das meiste zutraut (faule Witze sind hier leicht zur Hand, aber etwas billig), zeigen Möglichkeiten und W e g e , auf denen der Kriminelle mit den geringsten Schwierigkeiten positive Beziehungen zur Gemeinschaft wieder erreichen kann. Es sei bei dieser Gelegenheit auf die beiden ausgezeichneten Abhandlungen von W a l t e r L u z „Das Verbrechen in der Darstellung des Verbrechers" und „Ursachen und Bekämpfung des Verbrechens im Urteile des Verbrechers" verwiesen. L u z hat einen Teil des in seiner Arbeit verwerteten Materials auf Grund folgenden Fragebogens gesammelt: I. W i e urteile ich über das Leben und seine Einrichtungen auf Grund der Erfahrungen, die ich an mir und anderen in demselben gemacht habe? II. Meine (auf Grund von Erfahrungen gewonnenen) Ansichten: 1 . W i e urteile ich über Religion und ihre Bedeutung in meinem Leben? 2. Gut und böse. 3. W i e urteile ich über das Zusammenleben der Menschen? 4. W i e denke ich über die staatlichen Einrichtungen? 5. Was finde ich schön?
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Ohne den Wert der äußerst interessanten und originellen Luzsehen Arbeit irgendwie schmälern zu wollen, muß doch gesagt werden, daß eine Untersuchung, die sich lediglich auf die vorgenannten Punkte erstreckt, notwendig zu ungenügenden Resultaten führen muß. Kommt es doch gerade für den Gefangenen weniger darauf an, den Bewußtseinsinhalt des Kriminellen zu erfahren, als vielmehr auf das, was bisher unbewußt in ihm wirkte, da ja gerade die Bewußtseinsmachung des Unbewußten einen wichtigen Faktor der Heilung darstellt. Solange sich der Kriminelle nicht über die tieferen Gründe seines Handelns klar geworden ist, ist es ihm auch nicht möglich, eine andere Einstellung zu gewinnen. Nur mit dem, was mir bewußt ist, vermag ich mich auseinanderzusetzen. Nur bei den Motiven, die mir bewußt sind, vermag ich zu entscheiden, ob ich sie fürder anerkennen und wirken lassen soll wie bisher. Nur hinsichtlich der Bewußtseinsinhalte besteht die freie Willensbestimmung, „die Fähigkeit, die verschiedenen Gefühls- und Vorstellungsinhalte schöpferisch zu einem neuen, gleichsam Gemeinwillen, als Resultante zusammenzufassen". Die Änderung mag sich dann in mannigfachen Formen vollziehen. Sei es als Gefühl, aus einem bösen Traume aufzuwachen, sei es als Erkenntnis, aus der Verstrickung in einen lebensgefährlichen Irrtum losgelöst zu sein, sei es auch nur aus der nüchternen Feststellung, dieses oder jenes bisher falsch gemacht zu haben und künftig besser machen zu wollen. Das früher erwähnte D ö b l i n s c h e Buch „Berlin — Alexanderplatz" gibt ein großartiges, mit feiner, dichterischer Intuition gezeichnetes Bild einer solchen Wandlung. So kann es gewiß einmal sein, meist wird es viel nüchterner und erdbehafteter sein. Man kann nicht immer die volle Wahrheit erkennen, aber die Wahrheit liegt auf dem Wege vom größeren zum kleineren Irrtum. Immer wieder ist zu betonen, es handelt sich um gelebte Irrtümer, die nicht mit bloßen Worten beseitigt werden können. Gelebte Irrtümer können nur durch Aufklärung beseitigt werden. Wenn es dem Erzieher nicht gelingt, lebendiges Wissen an den Gefangenen heranzutragen, wenn der Gefangene nicht das Gefühl hat, daß hier wirklich eine andere, lebendigere Einstellung zur Welt nicht nur gepredigt, sondern gelebt wird, so werden alle Versuche nutzlos und vergeblich bleiben. Die Einsamkeit der Gefängniszellen bietet vielleicht eine nie wiederkehrende Gelegenheit, auf Menschen zu wirken. Für Erzieher, nur für Erzieher! Die Institution der sogenannten Bewährungsfrist, die sich heute schon in der Praxis ausgezeichnet bewährt hat, geht von dem Gedanken aus, daß es künftig bei den ersten Konflikten mit dem Strafgesetz genügt, daß das gerichtliche Urteil auf das Bedenkliche des kriminellen
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Handelns aufmerksam macht und vor Augen führt, welche Gefahren sich aus einem weiteren Verbleiben auf dieser Linie ergeben. Von dieser praktischen Möglichkeit wird man auch in Zukunft im weitesten Umfange Gebrauch machen können. Gerade auf Grund der Erkenntnisse der modernen Psychologie wird man sich jedoch mit der bedingt verhängten Strafe nicht immer begnügen können. Ist es doch gerade hier dringend geboten, zu sehen, von welcher Entwicklung das hier aufsteigende Symptom der kriminellen Handlung zeugt. Wenn irgendwo, so ist gerade hier die dringendste Notwendigkeit, einzugreifen und auch die größte Aussicht für einen Erfolg. Gerade hier kann durch rechtzeitig gewährte Hilfe — eine Hilfe, die wir auf Grund unserer gewonnenen Erfahrungen weit besser als früher zu geben imstande sind, unendlich viel Unheil für die Zukunft des Verurteilten verhütet werden. Eine viel wichtigere Rolle sollte die Wiedergutmachung des durch die verbrecherische Handlung hervorgerufenen Schadens bilden. Zunächst einmal hat der Geschädigte weit mehr davon, wenn ihm gewisser Ersatz geschaffen wird, als wenn der Übeltäter gerechte Vergeltung erleidet. Gerade aber wenn der Verurteilte zur Wiedergutmachung — etwa gar freiwillig — kommt, wird ihm die volle Verantwortlichkeit seines Handelns klar, ohne daß in dem Entmutigten Schuldgefühle hervorgerufen werden. Die positive Leistung der Wiedergutmachung kann für den Kriminellen der erste Schritt auf dem Weg zur nützlichen Seite des Lebens sein. Es ist andererseits das gute Recht der Gesellschaft, vor gefährlichen Gewohnheitsverbrechern durch Sicherungswahrung geschützt zu werden. Man wird aber auch hier nicht ohne strenge Prüfung die Möglichkeit einer Resozialisierung verneinen dürfen. Auch der Verbrecher kann seiner Menschenrechte nicht verlustig gehen, oder, um es mit Kant auszudrücken, er ist Selbstzweck, nicht nur Mittel zum Zweck. Wenn wir zum Schlüsse zusammenfassend die großen Linien der Entwicklung des modernen Strafvollzugs zu ziehen versuchen, so ist es geradezu frappant, zu sehen, wie letzten Endes entscheidend die Auffassung über das Wesen des Verbrechens und des Verbrechers ist. Von der Beurteilung des Verbrechens mit den Begriffen der Moral und Moralität sind wir heute gekommen zur Auffassung vom Verbrechen als einer sozialen Krankheitserscheinung. Es handelt sich darum, daß der soziale Teil des Individuums erkrankt ist. Es handelt sich um eine psychische Erkrankung, woraus zu folgern ist, daß die Bekämpfung mit Mitteln der Psychologie zu geschehen hat. Daß die Kriminalität nicht lediglich eine Folge der irrigen Einstellung des Individuums ist, sondern daß auch andere Faktoren mitwirken, ist wiederholt betont worden. Es würde die Grenzen dieser Arbeit überschreiten, auch die über-individu-
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eilen soziologischen Ursachen des Verbrechens eingehender zu behandeln, zumal hier auf absehbare Zeit eine Einigung in dem Streit der Meinungen nicht zu erzielen sein wird. Wenn das Verbrechen heute als eine soziale Krankheitserscheinung aufgefaßt und die Bekämpfung des Verbrechens entsprechend gestaltet wird, so ist dies von einer wirklichkeitsfremden Humanitätsduselei meilenweit entfernt. Der Sinn der neuen Erkenntnisse besteht nicht darin, durch Anhäufung von Entschuldigungsgründen den Start zu kriminellen Handlungen zu erleichtern, oder den Kriminellen vor den Folgen seines verbrecherischen Handelns zu schützen. Ganz im Gegenteil bedeuten diese neuen Erkenntnisse eine außerordentliche Erweiterung der Verantwortlichkeit der Persönlichkeit, worauf ja schon wiederholt hingewiesen wurde. Keineswegs besteht die Gefahr einer laxen „tout comprendre c'est tout pardonner", im Gegenteil, die Maßnahmen gegen das Verbrechen werden viel intensivere und, wie wir hoffen, auch erfolgreichere werden. Die Reaktion allerdings auf verbrecherische Haltungen und Handlungen wird eine andere sein. Das Mittel der vergeltenden oder abschreckenden Strafe wird zurücktreten hinter den wirksameren Mitteln der bewußtmachenden Aufklärung und Ermutigung. Dies ist zwar Humanität, aber echte Humanität.
Handbuch für Untersuchungsrichter als System der Kriminalistik Von Hans Groß. 7. umgearbeitete Auflage. Von
1922. Mit zahlreichen Abbildungen.
Dr. E. Höpler,
Generalstaatsanwalt in Wien.
2 Bände. Gr. S°. 1197 Seiten. Geh. RM. 22.—, Geb. RM. 2 4 — . Für den Strafrechtspraktiker ein unentbehrliches Handbuch.
Die Erforschung des Sachverhalts strafbarer Handlungen Ein Leitfaden für B e a m t e des Polizei- und Sicherheitsdienstes.
Von Hans Groß. 6. ergänzte Auflage von Generalstaatsanwalt Dr. E. H ö p l e r , Wien. Mit zahlreichen Abbildungen. 1921 gr. 8°. XI, 232 Seiten. Gebunden RM. 3.50.
Signalementslehre Handbuch der Personenbeschreibung für Polizeibehörden, Gendarmerieund Polizeischulen. Mit 4 Tafeln u. zahlreichen Abbildungen im Text. 2. völlig umgearbeitete Auflage.
Von Dr. Hs. Schneickert, Leiter des Erkennungsdienstes beim Polizeipräsidium Berlin. 1922. 8°. VI, 158 Seiten. Gebunden RM. 3.—.
Die polizeiliche Untersuchung von Kraftfahrzeugunfällen Von Polizeihauptmann Max Julier, Leiter des Einzeldienstes der Schutzpolizei WUrzburg.
Mit zahlreichen Abbildungen. 8°. 72 Seiten. Geheftet RM. 2.80. Juristische Wochenschrift 58. J a h r g . , Heft 40: Die Vermehrung der Kraftfahrzeugunfälle, nicht nur in der Großstadt, sondern auch auf der Landstraße, bewirkt, dafe in immer häufigeren Fällen auch an den kleinstädtischen und ländlichen Polizeibeamten die kriminalistische Unter» suchung derartiger Fälle herantritt . . . Der Verfasser hat es sich zur Aufgabe gemacht, für eine polizeiliche Untersuchung von Verkehrsunfällen die wich« tigsten Fingerzeige zu geben. Seine Darstellung wird durch eine Reihe von Bildern und Skizzen ergänzt.
J. Schweitzer Verlag (Arthur Sellier) München, Berlin, Leipzig.