Das utopische Staatsmodell von Platons Politeia aus der Sicht von Orwells Nineteen Eighty-Four: Ein Beitrag zur Bewertung des Totalitarismusvorwurfs gegenüber Platon [1 ed.] 9783428481767, 9783428081769


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German Pages 342 Year 1994

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Das utopische Staatsmodell von Platons Politeia aus der Sicht von Orwells Nineteen Eighty-Four: Ein Beitrag zur Bewertung des Totalitarismusvorwurfs gegenüber Platon [1 ed.]
 9783428481767, 9783428081769

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Philosophische Schriften Band 12

Das utopische Staatsmodell von Platons Politeia aus der Sicht von Orwells Nineteen Eighty-Four Ein Beitrag zur Bewertung des Totalitarismusvorwurfs gegenüber Platon

Von

Dirk Otto

Duncker & Humblot · Berlin

DIRK OTTO Das utopische Staatsmodell von Piatons Politeia aus der Sicht von Orwells Nineteen Eighty-Four

Philosophische Schriften Band 12

Das utopische Staatsmodell von Piatons Politeia aus der Sicht von Orwells Nineteen Eighty-Four Ein Beitrag zur Bewertung des Totalitarismusvorwurfs gegenüber Piaton

Von

Dirk Otto

Duncker & Humblot * Berlin

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Otto, Dirk: Das utopische Staatsmodell von Piatons Politela aus der Sicht von Orwells Nineteen Eighty-Four : ein Beitrag zur Bewertung des Totalitarismusvorwurfs gegenüber Piaton / von Dirk Otto. - Berlin : Duncker und Humblot, 1994 (Philosophische Schriften ; Bd. 12) Zugl.: Freiburg (Breisgau), Univ., Diss., 1993 ISBN 3-428-08176-5 NE: GT

D 25 Alle Rechte vorbehalten © 1994 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fotoprint: Color-Druck Dorfi GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 0935-6053 ISBN 3-428-08176-5 Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier gemäß der ANSI-Norm für Bibliotheken

Vorwort Die vorliegende Untersuchung bildet die überarbeitete Fassung meiner Dissertation, die im Sommer 1993 der Philosophischen Fakultät der AlbertLudwigs-Universität Freiburg i.Br. vorgelegt wurde. Herzlich bedanken möchte ich mich bei meinem Doktorvater und Lehrer, Herrn Prof. Dr. Jann Holl, der stets zum Gespräch bereit war, mir die nötige Freiheit gewährte und meine Arbeit mit Geduld und freundlichem Interesse begleitete. Auch von seinen Lehrveranstaltungen, besonders zwei Utopieseminaren, habe ich viel profitiert. Herrn Prof. Dr. Klaus Jacobi schulde ich Dank für die Übernahme der Zweitkorrektur sowie für die Möglichkeit, die Arbeit in seinem Kolloquium zur Diskussion zu stellen. Das Drittgutachten übernahm dankenswerterweise Herr Prof. Dr. Thomas Würtenberger. Wertvolle Anregungen verdanke ich fachlichen Gesprächen mit Prof. Dr. Willi Erzgräber, Dr. Thomas Nisters, meinem früheren Philosophielehrer Dr. Klaus Wurm und den Freunden Isabel-Dorothea Jahn, Michael Esfeld und Carsten Hollweg, ferner einem rechtsphilosophischen Seminar bei Prof. Dr. Alexander Hollerbach. Die Mühen des Korrekturlesens nahmen auf sich Frau Isabel-Dorothea Jahn, Frau Dorothea Jahn, Frau Ira Paulenz und meine Eltern Eva und Joachim Otto. Bei der endgültigen Druckerstellung war freundlicherweise Frau Heide Peper-Ludwig behilflich. Herrn Prof. Norbert Simon danke ich für die Aufnahme in sein Verlagsprogramm. Dank geht ferner an meine Eltern und die Studienstiftung des deutschen Volkes, die mein Studium finanziell erst ermöglicht haben. Besonders bedanken möchte ich mich aber bei Isabel für die ständige Bereitschaft zum Gespräch, ihre aufopferungsvolle, tatkräftige Unterstützung bei den Korrekturen und das "Mitleiden" bei der Entstehung der Arbeit. Ich widme dieses Buch meinen Eltern.

Freiburg, Juli 1994

Dirk Otto

Inhaltsverzeichnis Α. Einleitung

13

I.

Thema

13

II.

Forsc/mngsstand

18

III.

Methode

23

IV.

Gang der Untersuchung

24

B. Staatsphilosophische L e g i t i m a t i o n s m o d e l l e : Harmonie und Konflikt I.

Modellbegriff,

Erkenntniswert

II.

Harmonie- und Konfliktmodell

und Funktion

C. Vergleich von Politeia u n d Nineteen E i g h t y - F o u r I.

II.

III.

27 27 28

32

Überblick über die Autoren und ihre Werke 1. Piaton und die Politeia 2. Orwell und Nineteen Eighty-Four

32 34

32

Darstellungstechnik und formale Aspekte 1. Textart, Darstellungsform und utopische Stilmittel 2. Metaphorik

36 46

Gemeinsame Strukturen 1. Organisation des Gemeinwesens a. Soziale Gliederung und Staatsaufbau b. Menschenbild und Staatsziele 2. Mechanismen der Erziehung und Kontrolle a. Erziehungssystem b. Dialektik als Herrschaftstechnik c. Stellung der Frau und Rolle der Familie d. Eugenik

51 51 51 56 58 58 62 64 68

36

8

nsverzeichnis e. Stellenwert des Eigentums f. Religion g. Dichterkritik und Zensur, Musik und Künste, Sprache h. Täuschungen und Manipulationen i. Überwachungsapparat und Säuberungen, Rechtswesen und Straftheorie 3. Regelungsbereiche a. Arbeit und Freizeit b. Wirtschaft und Wissenschaft c. Außenbeziehungen, Krieg und Rassenideologie d. Vergangenheit und Zukunft

71 74 78 87 90 96 96 99 101 105

IV.

Hauptunterschiede 1. Wertesystem 2. Rolle des technischen Fortschritts 3. Staatsästhetik, Stellung zur Natur, Architektur 4. Geschichtsphilosophische Positionen

107 107 111 112 115

V.

Ergebnis

118

D. Auswertung I.

120

Totalitarismusvorwurf gegenüber Piaton 1. Totalitarismusbegriff 2. Position der Antiplatoniker 3. Einwände der Platoniker

120 129 134

120

II.

Utopiebegriff 1. Begriffsbestimmung und Erläuterung 2. Weitere zentrale Wesensmerkmale 3. Anwendbarkeit auf die Antike, besonders auf Piaton

139 139 148 156

III.

Interpretation der Politeia 1. Historischer Rahmen; Piaton, Sokrates und die Sophistik 2. Piatons Stoß gegen die Sophistik in Buch 1 3. Schriftkritik und Dialogstil 4. Ideenlehre 5. Geschichtsphilosophie 6. Politisches Programm und Verhältnis zur Demokratie a. Einrichtung des Idealstaats auf Sizilien? b. Piatons Verhältnis zur Demokratie 7. Einzelinstitute der Politeia a. Erziehungssystem und Dichterkritik b. Philosophenherrschaft c. Rechtswesen d. Frauen, Familie und Eugenik e. Eigentum

161 170 176 182 187 195 195 200 211 211 217 222 224 234

161

nsverzeichnis 8.

Verwirklichungsproblematik a. Haupttextbelege b. Interpretationsproblematik von Utopien c. Intention Piatons 9. Ergebnis: utopischer Entwurf

IV.

Folgerungen für den Totalitarismusvorwurf.

V.

Weiterführender

VI.

Interpretation 1. 2. 3. 4.

VII.

VIII.

9 239 239 245 247 252 253

methodischer Ansatz: isolierte Betrachtung der Politeia

von Orwells Nineteen Eighty-Four

Historischer und biographischer Hintergrund Literarischer Einfluß Piatons? Orwells Erkenntnisse aus dem Modell des Marxismus Zielrichtung von Nineteen Eighty-Four

Anwendung der Orwellschen Erkenntnisse auf Piatons Entwurf. 1. Kritik am utopisch-intellektuellen Konstrukt der Politeia 2. Philosophischer Gehalt des Orwellschen Ansatzes 3. Grenzen der Orwellschen Kritik 4. Konsequenzen für die Legitimationsmodelle

258 258 261 265 274 280 280 283 291 293

Gemeinsame positive Zielrichtung von Piaton und Orwell

E. Ergebnis

295

298

Summary

304

Literaturverzeichnis

308

Personenregister

325

Sachregister

331

Abkürzungsverzeichnis I. Werke Platon: Apol. (Apologie), Crat. (Kratylos), Cri. (Kriton), Criti. (Kritias), Ep. (Briefe), Euthyd. (Euthydemos), Euthyphr. (Euthyphron), Gorg. (Gorgias), Leg. (Nomoi), Menex. (Menexenos), Phaedr. (Phaidros), Pol. (Politikos), Rep. (Politeia), Theaet. (Theaitetos), Tim. (Timaios) Orwell: AF (Animal Farm), CEJL (The Collected Essays, Journalism and Letters), DOPL (Down and Out in Paris and London), HC (Homage to Catalonia), NEF (Nineteen Eighty-Four), RWP (The Road to Wigan Pier) Aristophanes: Av. (Vögel), Eccl. (Ekklesiazusen) Aristoteles: EN (Nikomachische Ethik), Pol. (Politik) Diels / Kranz (Vorsokratiker): DK Marx / Engels, Werke: MEW

I L Zeitungen und Zeitschriften AC AGPh ARSP A&A BAGB BJS CJ CU C1Q C&M CPh CR DNS FAZ GB GWU Gymn. HPTh JHI JHS JPC MH PhJ PSQ PVS PZ

L'Antiquité classique Archiv für Geschichte der Philosophie Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie Antike und Abendland Bulletin de l'Association Guillaume Budé The British journal of sociology The Cambridge Journal Classical Journal Classical Quarterly Classica et mediaevalia Classical Philology Classical Review Die neueren Sprachen Frankfurter Allgemeine Zeitung Grazer Beiträge Geschichte in Wissenschaft und Unterricht Gymnasium History of political thought Journal of the History of Ideas Journal of Hellenic Studies Journal of Popular Culture Museum Helveticum Philosophisches Jahrbuch Political science quarterly Politische Vierteljahresschrift Aus Politik und Zeitgeschichte (Beilage zu "Das Pariament")

Abkürzungsverzeichnis REG RhM RIDA RM WZ Berlin ZPhF

Revue des études grecques Rheinisches Museum Revue internationale des droits de Pantiquité Rheinischer Merkur Wissenschaftliche Zeitschrift der Humboldt-Universität Berlin, Gesellschafts- und sprachwissenschaftliche Reihe Zeitschrift für Philosophische Forschung

I I I . Wichtigste sonstige Abkürzungen Anm. Art. B.B.C. Bd. / Bde. bearb. bzw. ders. / dies. d.h. Diss. dt. Einl. f. FS grch. hrsg. / Hrsg. i.d.R. I.L.P. i.S. / i.e.S. / i.w.S. i.V. mit Kap. KP lat. m.w.N. n.Chr. o.J. o.O. P.O.U.M. s. / s.o. / s.u. S. / s.o.S. / s.u.S. s.v. u. u.a. UdSSR übers. UNO usw. u.U. v. v.a. v.Chr. vgl. z.B. zit. z.T.

11

Anmerkung Artikel British Broadcasting Corporation Band / Bände bearbeitet beziehungsweise derselbe / dieselbe(n) das heißt Dissertation deutsch Einleitung folgende Festschrift griechisch herausgegeben / Herausgeber in der Regel Independent Labour Party im Sinne / im engeren Sinne / im weiteren Sinne in Verbindung mit Kapitel Kommunistische Partei lateinisch mit weiteren Nachweisen nach Christus ohne Jahr(esangabe) ohne Ort(sangabe) Partido Obrero de Unificación Marxista siehe / siehe oben / siehe unten Seite / siehe oben Seite / siehe unten Seite sub voce und unter anderem / und andere Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken übersetzt United Nations Organization und so weiter unter Umständen vom / von vor allem vor Christus vergleiche zum Beispiel zitiert zum Teil

Α. Einleitung I. Thema Piatons Politeia stellt einen der am heftigsten diskutierten Staatsentwürfe der politischen Philosophie dar. Anlaß dafür sind nicht zuletzt konkrete Staatsstrukturen wie die hierarchische Gliederung in drei Klassen, die Abschaffung des Eigentums und der Familie in den beiden Oberklassen, Zensur, Eugenik, Staatslügen, ein straff organisiertes, staatliches Erziehungssystem und das generelle Primat der Gemeinschaft gegenüber dem Individuum. Aufgrund der geschichtlichen Erfahrungen gewann im 20. Jahrhundert besonders eine Interpretationsrichtung an Raum, die den platonischen Idealstaat als Prototyp eines totalitären - also mit allumfassendem Herrschaftsanspruch und exzessiven Durchsetzungsmechanismen ausgestatteten - Systementwurfs begreift, wobei v.a. Popper so weit geht, Piatons Gerechtigkeitsund Ideenlehre als bewußte Propaganda im Dienst menschenfeindlichen Machtstrebens zu verstehen 1. Freilich ergeben sich aus der Einbeziehung des historischen und biographischen Hintergrunds sowie des weiteren platonischen Werks gewichtige Gegenargumente, durch die nachgewiesen werden kann, daß die Politeia als utopischer, idealisierter Staatsentwurf - nicht etwa als konkretes, in die Wirklichkeit umzusetzendes politisches Programm - aufzufassen ist, der auf die Begründung eines regulativen Prinzips, einer ordnenden ethischen Instanz zielt 2 . Fraglich ist jedoch, ob dieser Ansatz der Bedeutung der in der Politeia ausdifferenzierten Kontrollmechanismen und dem über die bloße Setzung eines regulativen Prinzips hinausgehenden Systementwurf gerecht zu werden vermag. I n dieser Arbeit wird versucht, die Interpretation der Politeia als Utopie stärker zu vertiefen und Erkenntnisse aus dem Bereich der Utopieforschung für die Bewertung des Totalitarismusvorwurfs gegenüber Piaton fruchtbar 1 Karl R. Popper, Die offene Gesellschaft und ihre Feinde, Bd.I, Der Zauber Piatons, Tübingen 1980,134f.,168,184f.

Hartmut Erbse, Piatons "Politeia" und die modernen Antiplatoniker, Gymn.83 (1976) 169-191 (169f.,186-188).

14

Α. Einleitung

zu machen, u m so - neben einem philosophiegeschichtlich angemessenen Verständnis der Politeia

- auch zu einer kritischen B e u r t e i l u n g der Tauglich-

keit dieses E n t w u r f s als eines staatsphilosophischen Legitimationsmodells v o n Herrschaft z u gelangen. D a b e i bietet sich als Forschungsansatz insbesondere ein Vergleich schen Piatons Politeia

u n d George Orwells Nineteen

Eighty-Four

zwi-

als deren

m o d e r n e m utopiekritischen Spiegelbild an. D i e Rechtfertigung eines solchen vergleichenden Vorgehens ergibt sich einerseits aus der literarischen Anschaulichkeit u n d Gestaltungskraft des Orwellschen Entwurfs, der j e n seits einer r e i n theoretischen Diskussion v o n Systemmechanismen steht, andererseits aus den vielen zusätzlichen Anregungen, die der Beschäftigung m i t einem zweiten A u t o r , dessen anderem Erfahrungshorizont u n d dessen anderer M e t h o d i k i m V e r g l e i c h zu Piaton entspringen. D i e W a h l fiel keineswegs zufällig auf Orwell . Zunächst läßt sich eine bis ins D e t a i l gehende Parallelität der Herrschaftsstrukturen u n d deren gesellschaftlich-institutioneller A u s f o r m u n g i n b e i d e n Staatsentwürfen feststell e n 3 , o b w o h l sich O r w e l l v.a. auf Auswüchse des K o m m u n i s m u s , nicht aber direkt auf die Politeia n u r die Politeia,

bezieht. D e r Vergleich trägt auch deshalb, w e i l nicht

sondern i m K e r n auch Nineteen

Eighty-Four

durchaus auf

4

staatsphilosophischen Reflexionen b e r u h t . T r o t z dieser Ä h n l i c h k e i t e n fin-

3 Konrad Gaiser, Piaton 1984. Zur Kritik an Piatons Staatsphilosophie, Die alten Sprachen im Unterricht. Mitteilungsblatt der altphilologischen Fachgruppe im Bayerischen Altphilologenverband 31 (1984) 11-17 (11).

Dieser Punkt führt zur allgemeinen Frage nach der philosophischen Relevanz von Utopien. Gerade bei der Betrachtung vieler neuzeitlicher Utopien können zunächst mit der Romanform verbundene fiktional-narrative Stilelemente irritieren, wie der Aufbau von Spannung, von Konflikten, oder die Schilderung individueller Erlebnisse von Romanhelden - so auch bei Orwell. Schließlich findet sich ein derartiger Romanstil in philosophischen Werken, wie den traditionellen Staatsphilosophien eines Hobbes oder Locke, gewöhnlich nicht. Bei solchen genuin staatsphilosophischen Entwürfen fallen zumeist der Anspruch von Konsistenz und exakter Begründung der Darstellung sowie der Appell zur Realisation genau dieser Entwürfe auf. Dagegen enthalten Utopien oft widersprüchliche Elemente, sie arbeiten zumeist weniger systematisch, eher mit Kontrasten und dem Ansprechen von Gefühlen. Dadurch erzeugen sie beim Leser Stimmungen, die meist zu einer kritischen Distanz zur Gegenwart führen, aber dieser Weg ist indirekt, er enthält keine unmittelbare Handlungsaufforderung. Letzteres wäre auch deshalb schwer vorstellbar, weil Utopien i.d.R. mit einem radikalen, umfassenden, die Realität überschreitenden Anspruch auftreten. Dennoch geht es in beiden Darstellungsformen, den Utopien wie den klassischen staatsphilosophischen Entwürfen, um ein Staatsideal, anders als in den bloß deskriptiven Staatswissenschaften. Zentraler Inhalt der Staatsphilosophie als praktischer Philosophie sind Sollenssätze, die nie völlige theoretische Konsistenz erreichen, sondern stets an Erfahrung gebunden und daher unsicher, unbeweisbar sind (so bereits Aristoteles, EN 1094a26-1094b27). Berücksichtigt man zudem, daß viele staatsphilosophische Entwürfe irrationale Postulate und Argumentationsmuster enthalten, dagegen auf Seiten der Utopien vereinzelt sehr stringente, weitgehend rationale Entwürfe zufinden sind - z.B. im Fall von Piatons Politeia, passagenweise auch

15

I. Thema

det sich b e i P l a t o n ein überwiegend positiv zu verstehender Idealstaat, ein M u s t e r b i l d bzw. Paradigma, w ä h r e n d O r w e l l die düstere Zukunftsvision einer totalitären Schreckensherrschaft beschreibt, der eine W a r n f u n k t i o n zuk o m m t . W a s zu Piatons Z e i t e n erstrebenswert schien, w i r k t also i n der M o derne abstoßend. Beide Texte stecken einen denkbar weiten historischen schen Denkens

Rahmen

utopi-

ab, v o m U r b i l d u n d ersten großen utopischen Staatsentwurf

der A n t i k e , der Politeia,

bis z u m H ö h e p u n k t "antiutopischen" 5 oder utopie-

kritischen Denkens i n der Gegenwart i n Nineteen Eighty-Four . D e n n o c h stehen sie nicht v ö l l i g unverbunden nebeneinander, sondern die R e z e p t i o n bes t i m m t e r D e n k m u s t e r aus der Politeia lichen U t o p i e n w i e z.B. M o r u s ' Utopia

w i r k t einerseits über die frühneuzeitoder Swifts Gulliver's

Travels bis auf

O r w e l l fort, andererseits über die D i a l e k t i k eines H e g e l u n d M a r x bis zu Orwells geschichtlichen Erfahrungen m i t dem Stalinismus. A n h a n d des "antiutopischen Spiegels" von Nineteen Eighty-Four

lassen sich die Zeitlosigkeit

in Morus' Utopia -, so wird eine scharfe Trennung beider Literaturformen anhand des Rationalitätsgehalts stark relativiert. Das entscheidende Kriterium für die philosophische Relevanz ist also nicht die Rationalität, auch nicht die Nähe zur Realität oder die literarische Form, sondern es liegt auf einer inhaltlichen Ebene, nämlich dem gemeinsamen Beschäftigungsgebiet, der Frage nach dem idealen Staat. Damit müssen Utopien als ernstzunehmendes Teilgebiet der Staatsphilosophie angesehen werden. Zwar ist Orwell kein Philosoph, aber zumindest seine Werke Nineteen Eighty-Four und Animal Farm machen den idealen Staat zum zentralen Thema - auch wenn dies in Form der narrativen Utopie und dadurch, daß warnend das Gegenteil des eigentlichen Ideals präsentiert wird, geschieht. Zudem werden der Schreckensstaat von Nineteen Eighty-Four und seine tragenden Ideen sehr konsistent dargestellt, z.B. auch in konzentrierter Form als Pamphlet des Widerstandsführers Goldstein am Ende von Teil II, so daß sie sich gut mit der Politeia vergleichen lassen. 5 Bei Antiutopien handelt es sich wie bei Utopien um die Schilderung idealisierter Staatssysteme, allerdings in kritischer Absicht, mit negativem Vorzeichen, i.S. von satirischen Warnutopien (vgl. Hiltrud Gnüg, Der utopische Roman, München 1983, 18; Willi Erzgräber, Utopie und Anti-Utopie, München 1985,15f.). Charakteristisch ist die doppelte Zielrichtung der Kritik, nämlich einerseits gegen die utopische Tradition, andererseits aber auch direkt gegen Tendenzen in der gegenwärtigen Gesellschaft (Hans U. Seeber, Wandlungen der Form in der literarischen Utopie. Studien zur Entfaltung des utopischen Romans in England, Göppingen 1970 (Diss. Tübingen 1970), 12f.). Eine wichtige Problematik des Begriffs Antiutopie ergibt sich daraus, daß utopiekritische und satirische Züge oft auch in überwiegend positiven Utopien zu finden sind, während Antiutopien ihrerseits positive utopische Momente enthalten können, so daß bei vielen Mischformen keine klare Grenze gezogen werden kann (vgl. Arnhelm Neusüss, Schwierigkeiten einer Soziologie des utopischen Denkens, in: ders. (Hrsg.), Utopie. Begriff und Phänomen des Utopischen, Neuwied 31986,13-112 (35); Heinz-Gerd Schmitz, Wie kann man sagen, was nicht ist - zur Logik des Utopischen, Würzburg 1989, 25f.; Hans U. Seeber, Bemerkungen zum Begriff "Gegenutopie", in: Klaus L. Berghahn / Hans U. Seeber, Literarische Utopien von Morus bis zur Gegenwart, Königstein i.Ts. 1983, 163-171 (169f.), ders., Wandlungen 12f.; Hans-Georg Soeffner, der geplante Mythos. Untersuchungen zu Struktur und Wirkungsbedingungen des Utopischen, Hamburg 1974, 12f.). Dennoch hat sich der Begriff Antiutopie in der Literaturwissenschaft eingebürgert und soll hier im oben definierten Sinne verwendet werden.

16

Α. Einleitung

und Modellhaftigkeit von bereits bei Piaton begründeten Denkstrukturen und Herrschaftsmechanismen aufzeigen 6 und auf ihre Tauglichkeit zur staatsphilosophischen Legitimation überprüfen. Beide Werke bilden somit auch den Rahmen für die Dialektik utopischen Denkens 7 . M i t Orwell wurde ferner bewußt ein Autor des 20. Jahrhunderts gewählt, da in sein Werk historische Erfahrungen mit totalitären Systemen unmittelbar eingeflossen sind. Obwohl er überzeugter Sozialist war, sah er sich angesichts eigener Erfahrungen gezwungen, auch gut gemeintes utopisch-intellektuelles Denken seiner Zeit bis zur in Nineteen Eighty-Four übertrieben dargestellten, notwendigen Konsequenz fortzuführen und somit bloßzustellen. Diese gegen großangelegte Sozialexperimente gerichtete Kritik zeigt das in den totalitären Methoden begründete prinzipielle Scheitern solchen Denkens und sein unvermeidliches Umschlagen in Zwangssysteme. Orwell stützt sich dabei - ausgehend von der englischen Tradition des common sense - auf eine im Vergleich zu Piaton eher pragmatische, auf empirisch-historischen Erkenntnissen aufbauende Methode, die eine gewisse Überprüfung der anthropologischen Grundvoraussetzungen und der Realitätsnähe von Staatsentwürfen gestattet. A u f dieser Grundlage kann der reine Systementwurf der Politeia mit Orwell als zumindest mißverständlich verworfen werden, weil die Gefahr besteht, daß er - unabhängig von aller theoretischen Berechtigung und der Intention Piatons, ein regulatives Prinzip zu begründen - dogmatisch aufgefaßt wird und sich bei Verwirklichungsversuchen auf dieser Grundlage notwendig ein totalitäres System entwickelt. Angesichts dieser historischen Dimension wird klar, warum sich für den Vergleich ein Text der frühneuzeitlichen Utopietradition weniger eignet. Von den modernen "antiutopischen" Entwürfen hätte sich neben Orwell einzig noch Huxleys Brave New World angeboten. In Brave New World wird die perfekte Determination, die psychologische, pädagogische, v.a. aber medizinisch-technische Beherrschung des Menschen von der künstlichen Befruchtung in vitro bis zum sanften, friedvollen Tod geschildert, auf der Grundlage einer Technik, die über die Möglichkeiten des Orwellschen Systems weit hinausgeht. Der Nachteil gegenüber Nineteen Eighty-Four liegt jedoch gerade in der einseitigen Betonung technik- und fortschrittskritischer

6 Ralf Dahrendorf, Pfade aus Utopia. Zur Theorie und Methode der Soziologie, München 1986, 242. 7

Vgl. Rainer Zitelmann, Träume vom neuen Menschen, RM Nr.23 v.7.6.1991,17.

I. Thema

17

ο

Elemente , der Kritik an der modernen Konsumgesellschaft und einer so nahezu lückenlosen und gewaltlosen Determination, daß ethische Konflikte kaum noch auftreten können. Orwells Zielrichtung liegt dagegen im Bereich politischer Mechanismen 9 , nämlich der Kritik an totalitären Systemen, die repressiv gegenüber Individuen auftreten. Damit setzt Orwell bewußt den Schwerpunkt auf politischer und weniger auf technik- und gesellschaftskritischer Ebene, so daß in Nineteen Eighty-Four effizient-totalitäre politische Lösungsstrategien entwickelt werden, die weitgehend den klassischen Problemen der Politeia entsprechen, während in Brave New World bereits das gesamte anthropologische Fundament staatsphilosophischer Reflexion durch technische Lösungen erfolgreich und abschließend aus den Angeln gehoben wurde. Innerhalb des Orwellschen Werks eignet sich für eine Untersuchung eher Nineteen Eighty-Four als Animal Farm , da Animal Farm als politische Fabel v.a. auf die konkreten historischen Ereignisse in der Sowjetunion, von der Russischen Revolution über die Schauprozesse in den 30er Jahren bis zum 2. Weltkrieg, ausgerichtet ist, während Nineteen Eighty-Four stärker totalitäre Einzelmechanismen würdigt und in größerem Maß allgemeine staatstheoretische Überlegungen einfließen läßt. Ziel der Untersuchung ist es, mit Hilfe von Orwell über die gängigen A r gumente der Platoniker und Antiplatoniker hinaus ein angemesseneres Verständnis der Politeia zu erreichen Dabei geht es darum, die von Piaton erkannten Prinzipien der Dialektik von Freiheit und Ordnung, Individuum und Gemeinschaft, Triebwelt und Vernunftstruktur des Menschen sowie den ethischen Anspruch gegenüber politischer Führung und instrumenteller Intellektualität zu würdigen, aber auch das utopische Harmoniemodell der Politeia mit seinen mißverständlichen Institutionen als dem totalitären System von Nineteen Eighty-Four strukturell entsprechend zu verstehen und damit seine Gefahren zu erkennen.

Vgl. zu dieser Ausrichtung: Huxley, Brave New World 9f. (Vorwort); Erzgräber, Utopie 134f.; Lothar Fietz, Politik und Roman: David Herbert Lawrence und Aldous Huxley, in: Paul Goetsch / Heinz-Joachim Müllenbrock (Hrsg.), Englische Literatur und Politik im 20. Jahrhundert, Wiesbaden 1981,111-126 (119). So bringt auch Huxley erst im Vorwort von 1946 seine Kritik an totalitären Systemen zum Ausdruck (11-14, Vorwort), eine Interpretationsrichtung, die der Konzeption von Brave New World nicht unmittelbar zugrundeliegt (vgl. Hans U. Seeber, Totalitarismus-Kritik in der modernen englischen Utopie, in: Paul Goetsch (s.o.), 121131 (124,127f.)). Erzgräber, Utopie 172. 10

Vgl . die diesbezügliche Forderung von Thomas A. Szlezak, Zur üblichen Abneigung gegen die Agrapha Dogmata, Méthexis 6 (1993) 155-174 (156): wDie Aufgabe einer gerechten Würdigung des politischen Denkens Piatons bleibt insgesamt erst noch zu leisten". 2 Otto

18

Α. Einleitung

Durch diese Vorgehensweise ist es möglich - nicht zuletzt angesichts von aktuellen Diskussionen um einen neuen Anlauf zur Verwirklichung des "wahren" Sozialismus 11 - Chancen wie Gefahren utopischen Denkens herauszuarbeiten und dessen Stellenwert als Legitimationsbasis von Herrschaft, gemessen an anthropologischen und historischen Erfahrungssätzen, zu beurteilen.

II. Forschungsstand Während im Rahmen des Vergleichs zwischen Piaton und Orwell die Interpretation von Nineteen Eighty-Four nur relativ geringe Probleme aufwirft, spielen für die Interpretation des Herrschaftsmodells der Politeia und die Beurteilung des Totalitarismusvorwurfs zunächst einmal die Erfassung der Schlüsselbegriffe Totalitarismus und Utopie eine Rolle, dann aber v.a. der Streit zwischen Antiplatonikern und Piatonikern sowie Auslegungsvarianten innerhalb der letzteren Gruppe. Z u den Untersuchungsgebieten Totalitarismus und Utopie findet sich eine beträchtliche Menge an Forschungsliteratur und Streitfragen 1 , aber im Rahmen dieser Arbeit genügen eine praktikable inhaltliche Erfassung beider Begriffe, eine angemessene Definition und die Untersuchung der Anwendbarkeit auf Piaton. Die nahezu uferlose Kontroverse zwischen Piatonikern und Antiplatonikern, von denen hier nur die wichtigsten Stimmen repräsentativ erwähnt werden können, ist durch Erfahrungen mit totalitären Systemen im 20. Jahrhundert geprägt und im wesentlichen erst in dieser Zeit entstanden, auch wenn ge-

n Dazu die Kontroverse zwischen Zitelmann 17 und Wolfgang Kowalsky, Wachträumer haben nichts zu bereuen, RM Nr.30 v.26.7.1991, 17, sowie Arno Krüger, Die sozialistische Idee überlebt als Kritik und Sehnsucht, Arbeitgeber 17 (1991) 620-623. Vgl. auch Helmut Jenkis, Sozialutopien - barbarische Glücksverheißungen? Zur Geistesgeschichte der Idee von der vollkommenen Gesellschaft, Berlin 1992,510 Anm.4. J Zum Totalitarismus z.B. Konrad Low (Hrsg.), Totalitarismus, Berlin 1988; Bernhard Marquardt, Der Totalitarismus - ein gescheitertes Herrschaftssystem. Eine Analyse der Sowjetunion und anderer Staaten Ost- und Mitteleuropas, Bochum 1991,1-45; Bruno Seidel / Siegfried Jenker (Hrsg.), Wege der Totalitarismusforschung, Darmstadt 1969. Zur Utopieforschung umfassende Literaturhinweise bei: Jürgen Fohrmann, Zusammenfassende Bibliographie, in: Wilhelm Voßkamp (Hrsg.), Utopieforschung. Interdisziplinäre Studien zur neuzeitlichen Utopie, Bd.l, Frankfurt 1985, 232-253; Dietmar Heubrock, Utopie, in: Europäische Enzyklopädie zu Philosophie und Wissenschaften, hrsg. Hans J. Sandkühler, Hamburg 1990, Bd.4, 678-685 (684f.).

19

II. Forschungsstand

wisse A u f l o c k e r u n g e n der klassischen, v o m H u m a n i s m u s b e s t i m m t e n I n t e r pretationsrichtung bereits i m 19. Jahrhundert festzustellen s i n d 2 . Intensiv aufgeworfen haben den Totalitarismusvorwurf

gegenüber P i a t o n

j e d o c h v.a. Popper, Russell u n d Crossman 3 . Charaikteristischerweise w i r d dabei die Politeia

w ö r t l i c h - d.h. nicht als U t o p i e , sondern als politisches

P r o g r a m m Piatons - genommen, u n d es w e r d e n i n i h r antiindividualistische, reaktionäre u n d repressive Grundzüge entdeckt. Insbesondere die Ideenlehre Piatons erscheint als aufgesetzte Ideologie, die d e m E r h a l t eines Kastenstaats, der M a c h t der Oberschicht u n d der Sicherung v o n Privilegien d i e n t 4 . Seitens derjenigen Platoniker,

die sich überwiegend m i t diesen V o r w ü r f e n

auseinandersetzen, lassen sich drei Richtungen

unterscheiden: erstens die

w ö r t l i c h e Interpretation, i n der die Einzelmechanismen der Politeia

positiv

u n d als realistischer politischer A n s a t z verstanden w e r d e n 5 , zweitens die D e u t u n g als Satire, sei es als L o b A t h e n s u n d Satire auf Sparta, sei es als bloße provokative Zusammenstellung von Paradoxien 6 , u n d drittens eine Bandbreite an Interpreten, die den ethischen A n s p r u c h der Ideenlehre u n d

2

Genaueres bei Franz Mayr, Das Freiheitsproblem in Piatons Staatsschriften, Diss. Wien 1960, S.I-III (Einl). Popper (s.o.S.13 Anm.l); Bertrand Russell, Philosophy and politics. Unpopular Essays, London 1947; Richard Crossman, Plato today, New York 1939. 4 So v.a. Popper 77f.,134f.,184f.; Crossman 126-130,293; Russell 13f. (Russell bezeichnet die Politeia zwar als Utopie, wirft aber Piaton dennoch konkret-programmatische, totalitäre Absichten vor; ebenso Popper 213); ferner Hans Kelsen, Die Illusion der Gerechtigkeit. Eine kritische Untersuchung der Sozialphilosophie Piatons, Wien 1985, 123-125; Alban D. Winspear, The genesis of Plato's thought, Montreal 1974, 269-271,295f. Aus neuerer Zeit ähnlich z.B. Ernst Bloch, Das Prinzip Hoffnung, Frankfurt 1985, 562-566; Dahrendorf 242-246,311-313; Andreas Graeser, Bemerkungen zu "Piatons 'Politeia' und die modernen Antiplatoniker", Gymn. 84 (1977) 493-501 (494f.,499f.); Jann Holl, Begründung und Legitimation in der neuzeitlichen Staatsphilosophie, Bd.I, Die historische Begründung der Modelle bei den griechischen Philosophen und den Kirchenvätern, Würzburg 1987, 102f.,108,112; Lewis Mumford, Rückschritt nach Utopia und die Herausforderung der griechischen Dialektik, in: Rudolf Villgradter / Friedrich Krey (Hrsg.), Der utopische Roman, Darmstadt 1973, 3044 (42f.); Nicholas P. White, A companion to Plato's Republic, Oxford 1979,58-60. 5

Robin Barrow, Plato, utilitarianism and education, London 1975, 2-4; George Klosko, The development of Plato's political theory, New York 1986, 136f.,173f.,179; Gerhard Müller, Platons Dichterkritik und seine Dialogkunst, PhJ 82 (1975) 285-308 (292f.), ders., Platons Dialog vom Staat. Kunstform und Lehrgehalt, Wiesbaden 1981, 15-20; Edgar Salin, Pia ton und die griechische Utopie, München 1921, 3-5,46f. (Salin setzt dabei Utopie und politisches Programm im Ergebnis gleich, 47). ^ u r ersten Variante John H. Randall, Plato's treatment of the theme of the good life and his criticism of the Spartan ideal, JHI 28 (1967) 307-324 (322-324); zur zweiten Herbert D. Rankin, A modest proposal about the Republic, Apeiron 2,2 (1968) 20-22; mit ähnlicher Tendenz Ian M. Crombie, An examination of Plato's doctrines, Bd.I, Plato on man and society, London 1969, 73,100f.; Noel B. Reynolds, Plato's defense of rule of law, in: Stavros Panou (Hrsg.), Philosophy of law in the history of human thought, Stuttgart 1988, 16-21 ("the socalled ideal city of the Republic is a thought experiment in the impossible", 21). 2*

20

Α. Einleitung

den guten Z w e c k des Staats gegenüber k o n k r e t e n Einzelmechanismen hervorheben, gegen eine wörtliche Lesart der Politeia

argumentieren u n d zu-

w e i l e n auch den Utopiecharakter dieses Entwurfs b e t o n e n 7 . Gegen die A n t i p l a t o n i k e r w i r d insbesondere eingewandt, daß sie Textstell e n einseitig aus d e m Z u s a m m e n h a n g reißen, den historischen u n d biographischen K o n t e x t außer acht lassen u n d stattdessen Probleme der eigenen Z e i t - z.T. i n stark emotionaler Weise - hineininterpretieren, m i t Unterstellungen gegenüber P i a t o n arbeiten u n d den dialektischen sowie d e n utopischen Gesamtcharakter des platonischen Staatsentwurfs v e r k e n n e n 8 . E i n e Schlüsselbedeutung

k o m m t dabei der I n t e r p r e t a t i o n der Politeia

als

Utopie zu, da dieser A n s a t z zu einer befriedigenden E r k l ä r u n g der v o n den A n t i p l a t o n i k e r n als totalitär empfundenen Staatsmechanismen führen kann. N u r setzen sich die Platoniker meist nicht konsequent m i t diesen Mechanism e n auseinander, sondern es besteht eine Tendenz, diese gegenüber der Ideenlehre als sekundär anzusehen. Statt den oft angeführten U t o p i e c h a r a k ter der Politeia

für die D e u t u n g der Einzelmechanismen fruchtbar zu ma-

chen, w i r d der Staat v o m alles entscheidenden guten Z w e c k her erklärt,

Guy C. Field, Die Philosophie Piatons, Stuttgart 1952, 67f.; Paul Friedländer, Piaton, Bd. III, Die platonischen Schriften. Zweite und dritte Periode, Berlin 1975, v.a. 93,126-129,360; Konrad Gaiser, Piatons ungeschriebene Lehre. Studien zur systematischen und geschichtlichen Begründung der Wissenschaften in der Platonischen Schule, Stuttgart 1963, 415 (Anm. 255); Hermann Gauss, Philosophischer Handkommentar zu den Dialogen Piatons, Bd.2,2, Bern 1958, 124-128; Olof Gigon, Gegenwärtigkeit und Utopie. Eine Interpretation von Piatons Staat, Bd.I, Zürich 1976, v.a. 12f.; Werner Jaeger, Paideia. Die Formung des griechischen Menschen, Bd.2, Berlin 31959, 320; Ronald B. Levinson, In defense of Plato, Cambridge/ Mass. 1953, u.a. 630-645; Reinhart Maurer, Piatons "Staat" und die Demokratie. Historisch-systematische Überlegungen zur politischen Ethik, Berlin 1970,296; Mayr 138; Günter Rohrmoser, Nietzsche und das Ende der Emanzipation, Freiburg 1971,101-153 (145-151); Karl Vretska, Einleitung, in: Piaton, Der Staat (Politeia), übers, u. hrsg. Karl Vretska, Stuttgart 1982,182 (79f.); John Wild, Plato's modern enemies and the theory of natural law, Chicago 1953,5963. Den Utopiecharakter betonen besonders deutlich: Julia Annas, An introduction to Plato's Republic, Oxford 1981,186f.; Erbse, Politeia 169; Hellmut Flashar, Formen utopischen Denkens bei den Griechen, Innsbruck 1974,10-12, ders., Der platonische Staat als Utopie, in: Olof Gigon / Michael W. Fischer (Hrsg.), Antike Rechts- und Sozialphilosophie, Frankfurt 1988, 23-36 (35); Hans-Georg Gadamer, Piatons Denken in Utopien, Gymn. 90 (1983) 434-455 (446f.), ders., Piaton und die Dichter, in: ders., Piatons dialektische Ethik und andere Studien zur platonischen Philosophie, Hamburg 1968, 179-204 (188-191), sowie im selben Band: Dialektik und Sophistik im siebenten platonischen Brief, 221-234 (226f. Anm.9); Gaiser, Piaton 1984,14; Albert Jaufmann, Piaton in der Kritik. Anmerkungen zur "Politeia", in: FS BismarckGymnasium Karlsruhe, Karlsruhe 1986, 45-57 (48,56); Wolfgang Plenio, Der Mensch als utopisches Wesen. Utopie-Modelle von Homer bis Marcuse, Gymn.80 (1973) 152-171 (162-164). 8 Argumente u.a. bei Erbse, Politeia 181f.,188f.; Flashar, Formen 12f.; Levinson S.VII (Vorwort); Mayr S.I-IV (Einl.); Eric Unger, Contemporary Anti-Platonism, CJ 2 (1949) 643-659 (651-655); Gerrit J. de Vries, Antisthenes redivivus. Popper's attack on Plato, Amsterdam 1952, v.a. 1,61-64; Wild 23,26-30.

II. Forschungsstand

21

während viele Einzelinstitutionen letztlich doch wörtlich aufgefaßt oder gar noch Piatons historischer Bedingtheit angelastet werden 9 . Bei einigen wenigen Autoren wird allerdings der Utopiegedanke, einschließlich seines utopiekritischen Gehalts, ausdifferenziert und jenseits einer wörtlichen Auffassung versucht, die der Politeia entnehmbare konkrete politische Intention Piatons aufzuzeigen, nämlich bestimmte schrittweise, relative Verbesserungen der Situation im damaligen Athen statt der tatsächlichen Einrichtung des Idealstaats 10 . Letztere, in den angeführten Aufsätzen nur angedeutete Interpretationsrichtung soll in dieser Arbeit aufgegriffen und vertieft werden. Dabei wird zunächst anhand historischer und biographischer Argumente sowie durch eine Analyse der Politeia und anderer zentraler platonischer Schriften gegenüber den wichtigsten Argumenten der Antiplatoniker der Nachweis geführt, daß diese dem Bedeutungsgehalt der Politeia sowie dem Autor nicht gerecht werden. V.a. lassen sie eine autorimmanente, auf Konsistenz und historische Einbettung des Werks gerichtete Interpretation vermissen, da sie mit einem weitgehend unhistorischen, einseitig philosophiesystematischen Ansatz arbeiten. Sodann sollen der Utopiegedanke für die Deutung der Mechanismen der Politeia konsequent genutzt und diese als Übertreibungen erkannt werden, die nicht etwa Ideale Piatons darstellen, sondern nur dazu dienen, dem athenischen Zeitgenossen eine einseitig überspitzte Ordnungsstruktur gegenüber dem Chaos der athenischen Demokratie vor Augen zu führen. Dabei bleiben außer den geschilderten, direkt politischen Intentionen, die nur über konkrete historische Belege nachgewiesen werden können, die der Dialektik entspringenden Erkenntnisse und der ethische Appell Piatons an politische Führung erhalten. Über diesen Neuansatz innerhalb des Platonikerlagers hinaus besteht die Möglichkeit, mit Hilfe von Orwell über den Vergleich zwischen der Politeia und Nineteen Eighty-Four zu einem differenzierten Ergebnis im Streit von Platonikern und Antiplatönikern zu gelangen. Zwar werden beide Werke gelegentlich in einem Atemzug genannt 11 , aber ausschließlich bei Gaiser wird 9

Z.B. Erbse, Politeia 189f.; Gigon, Utopie 12f.; Jaeger II, 320,326-329; Jaufmann 48-51. Zum Utopiegedanken: Flashar, Formen 13; Gadamer, Utopien 450-455. Insbesondere zur konkret politischen Intention: Flashar, Staat 31-35; Gaiser, Piaton 1984, 14; Richard Saage, Utopia als Leviathan. Piatons Politeia in ihrem Verhältnis zu den frühneuzeitlichen Utopien, PVS 29 (1988) 185-209 (203f.). 10

11

Anthony Burgess, 1985, London 1978, 40; Dahrendorf 242; Gaiser, Piaton 1984, 11; Lars Gustafsson, Utopien. Essays, Frankfurt 1985, 88f.; Jenkis 15; George Kateb, The road to 1984, PSQ 81 (1966) 564-580 (577); Bernhard Kytzler, Platonische "Unorte", in: Hermann Funke (Hrsg.), Piatons Lehre vom Staat in der Moderne, Würzburg 1987,17-31 (19); Mayr 138; Jero-

22

Α. Einleitung

ein - wenn auch nur kurzer und oberflächlicher - Vergleich durchgeführt, so daß hier eine deutliche Forschungslücke besteht 12 . Der wichtigste - indirekte - Beitrag Orwells zu diesem Streit liegt darin, daß anhand seines Hauptwerks unter Hinzuziehimg weiterer, z.T. biographischer Materialien das notwendige Scheitern auch des als positiv aufgefaßten platonischen Idealstaats wegen der Gefahr zwangsläufigen Mißverstehens und Mißbrauchs von dessen Idee und Institutionen nachgewiesen werden kann. Damit führt, nach einer ersten, autorimmanenten Platoninterpretation, die Untersuchung Orwells - gestützt auf seinen Begriff des common sense und empirisch-historische Erfahrungen - v.a. zur notwendigen methodischen Trennung zwischen dem Autor Piaton nebst dessen historisch wohlverstandenen Intentionen einerseits und dem Werk Politeia andererseits, das als solches isoliert vom Autor einen geschlossenen Staatsentwurf darstellt und für sich genommen auf inhärente Gefahren hin analysiert werden kann. Hier erst kann und muß der Vorwurf des Totalitarismus gegenüber der Politeia zu Recht greifen 13 . A u f dieser im Unterschied zu der antiplatonischen Position methodisch abgesicherten, differenzierten philosophiesystematischen Ebene wird in der vorliegenden Arbeit dann der Schritt unternommen, die völlig losgelöst vom Autor betrachtete Politeia als utopisches Harmoniemodell auf ihre Legitimationstauglichkeit im Vergleich zum Modell der offenen Konfliktgesellschaft zu überprüfen. Die gesamte Untersuchung führt schließlich zu Erkenntnissen über die staatsphilosophische Legitimationskraft und die Ambivalenz utopischen Denkens, so daß der konkrete Vergleich der beiden Werke durchaus als Beitrag zur Utopieforschung zu werten ist. Daneben stößt die Betrachtung der Politeia gerade unter dem Aspekt der Utopie in eine weitere gewichtige Forschungslücke auf der Berührungslinie zwischen der Piatonforschung und der Utopieforschung, die jeweils kaum aufeinander eingehen, obwohl der Utopiebegriff eine zentrale Rolle bei der Totalitarismusdiskussion und der Aktualisierung von Piatons politischer Philosophie spielt, während umgekehrt Piaton in der Utopieforschung, die ihn oftmals als eigentlichen Begründer und Vorbild aller Utopien betrachtet, me Neu, Plato's analogy of state and individual: The Republic and the organic theory of the state, Philosophy 46 (1971) 238-254 (249); Schmitz 27-33; William Steinhoff, George Orwell and the origins of 1984, Ann Arbor 1975, 221f.; ebenso, ausgehend vom Kritias , aber auch bezogen auf die Politeia : Friedländer III, 359. 12

Erstmals ausführlicher mein Aufsatz: Dirk Otto, Mechanismen und Ziele totalitärer Herrschaft. Eine Gegenüberstellung von Piatons "Politeia" und Orwells "1984", Mitteilungsblatt Landesverband NRW im Deutschen Altphilologenverband 34.3 (1986) 5-9. 13 Vgl. dazu ähnlich Gaiser, Piaton 1984,16.

III. Methode

23

bisher nicht genug berücksichtigt wurde 1 4 . In der vorliegenden Arbeit wird versucht, wesentliche Beiträge zu beiden Problemfeldern zu leisten und beide zu vernetzen.

III. Methode Die Untersuchung erfolgt nach der analytischen Methode i.V. mit einem hermeneutischen, historisch-philologischen Ansatz 1 . Dabei werden problematische Begriffe wie Utopie und Totalitarismus, Freiheit und Demokratie analysiert und ihre historische Dimension unter dem Gesichtspunkt ihrer Vergleichbarkeit in Antike und Gegenwart betrachtet. Die Piatoninterpretation verläuft in einem ersten Schritt immanent-histofisch, nach dem Grundsatz, eine auch im Verhältnis zum Gesamtwerk möglichst widerspruchsfreie Deutung herauszuarbeiten 2. Dafür müssen zunächst weitere zentrale Werke der politischen Philosophie Piatons wie die Nomoi, der Gorgias, Politikos, Timaios/Kritias oder der 7. Brief - für die historische und biographische Dimension - hinzugezogen werden. Darüber hinaus wird versucht, über die Utopieforschung Zugang zu den hinter der Politeia stehenden konkreten politischen Absichten Piatons zu erhalten, und zwar auch mittels ergänzender historischer Materialien, die den faktischen und geistesgeschichtlichen Hintergrund für einige platonische Forderungen erhellen können. Schon der umfangreiche Meinungsstreit in der Literatur deutet allerdings darauf hin, daß hierbei, v.a. aufgrund der Vielzahl an (zunächst) wider-

14

Moderne, fachübergreifende und brauchbare Beiträge liegen hierzu nur vereinzelt, in Aufsatzform, vor, und zwar seitens der Piatonforschung v.a. von Flashar (Formen, Staat), seitens der Utopieforschung von Saage (Utopia) und Reinhard Herzog (Überlegungen zur griechischen Utopie: Gattungsgeschichte vor dem Prototyp einer Gattung?, in: Wilhelm Voßkamp (Hrsg.), Utopieforschung. Interdisziplinäre Studien zur neuzeitlichen Utopie, Bd.2, Frankfurt 1985, 1-20). Zur Forschungslücke in beiden Fachgebieten genauer: Kytzier, Unorte 20f. m.w.N. *Dazu Holl, Begründung 13f.; Maurer, Staat 23; Helmut Seiffert, Einführung in die Wissenschaftstheorie, Bd.2, Geisteswissenschaftliche Methoden: Phänomenologie - Hermeneutik und historische Methode - Dialektik, München 41972, 5,89,95; vgl. bei Friedrich O. Wolf (Die neue Wissenschaft des Thomas Hobbes. Zu den Grundlagen der politischen Philosophie der Neuzeit, Stuttgart-Bad Cannstatt 1969, 16) den Terminus "'postanalytische' politische Philosophie", gekennzeichnet durch die Vereinigung der analytischen und hermeneutischen Methode. 2 Seiffert II, 177f.; gleicher Anspruch bei Popper 333 Anm.45.

24

Α. Einleitung

sprüchlichen Passagen in der Politeia, bestenfalls Wahrscheinlichkeitsaussagen und Annäherungswerte möglich sind. A u f diesem nötigen historischen Interpretationsfundament zu Piatons Staatsphilosophie kann nunmehr erst in einem zweiten Schritt ein systematischer und kritischer Ansatz im Rahmen der Legitimationsproblematik und der Totalitarismusdiskussion aufbauen 3. Der Strukturvergleich mit Nineteen Eighty-Four führt zu der Berechtigung, von den historischen Bedingungen der Politeia zu abstrahieren und diese unabhängig vom Autor als in sich geschlossen konzipierten und mit Durchsetzungsmechanismen versehenen utopischen Staatsentwurf zu diskutieren 4 . Erst auf dieser Ebene läßt sich das Kritikpotential einer philosophiesystematischen Analyse berechtigtermaßen ausschöpfen. Insgesamt ergibt sich die beträchtliche Methodenvielfalt der Arbeit schon aus dem interdisziplinären Anspruch der Utopieforschung und der Totalitarismusdiskussion, die über die Philosophie hinaus auf die Gebiete zweier Philologien, der Geschichtswissenschaft und der Politologie führen.

IV. Gang der Untersuchung Nach einer einleitenden Betrachtung der der Politeia und Nineteen EightyFour zugrundeliegenden Legitimationsmodelle erfolgt der Textvergleich unter dem Gesichtspunkt staatsphilosophisch relevanter Mechanismen von Herrschaft und mit Blick auf die Legitimationsmodelle, v.a. das Harmoniemodell. Zuvor werden beide Werke (und ihre Autoren) kurz vorgestellt und dann bezüglich ihrer formalen Aspekte verglichen. Die Reihenfolge der danach untersuchten inhaltlichen Strukturen richtet sich nach deren Bedeutung innerhalb der beiden Staatssysteme; sie geht vom Zentrum des Staats (Staatsziele, Erziehung) zur Peripherie (Rechtswesen, Wirtschaft), von den grundlegenden Strukturen zur einzelnen Ausgestaltung. Dabei werden einander verwandte Themenkreise auch unmittelbar nacheinander behandelt, z.B. Familie-Eugenik oder Zensur-Manipulationen-Überwachungsapparat. Die Mechanismen und Grundzüge beider Werke werden zunächst provokativ unvermittelt - als Bestandsaufnahme, Diskussionsgrundlage und EinVgl. zum Verhältnis beider Ansätze: Holl, Begründung 14f.; Seiffert II, 173. Vgl. auch Gaiser, Piaton 1984,16; Ingrid Hantsch, Semiotik des Erzählens. Studien zum satirischen Roman des 20. Jahrhunderts, München 1975 (Diss. München 1973), 104.

IV. Gang der Untersuchung

25

führung in die Problematik - gegenübergestellt und als gemeinsame Strukturen weitgehend parallelisiert, ohne daß sogleich begriffliche und konzeptionelle Unterschiede beider Entwürfe problematisiert werden. Dies geschieht dann erstmals bei der Behandlung der Hauptunterschiede beider Texte, wobei hier erst einmal nur diejenigen Unterschiede berücksichtigt werden, die unmittelbar für das Verständnis und die Bewertung der gemeinsamen Strukturen besondere Bedeutung haben. Die daran anschließende Klärung des Totalitarismusbegriffs und seiner Anwendbarkeit auf die Antike geht einer Auseinandersetzung mit dem Totaütarismusvorwurf der Antiplatoniker voraus. Die Beurteilung dieser Vorwürfe geschieht anhand einer platonimmanenten Deutung, die biographische und historische Gegebenheiten sowie Probleme der Vergleichbarkeit zentraler Ideen und Begriffe in der Antike und der Moderne berücksichtigt und die platonischen Mechanismen insbesondere unter dem Gesichtspunkt der Verwirklichungsproblematik betrachtet. Dabei können nicht sämtliche staatsphilosophischen Strukturmerkmale der Politeia dargelegt werden, sondern es erfolgt eine Beschränkung auf diejenigen Elemente, denen im Hinblick auf den antiplatonischen Totalitarismusvorwurf zentrale Bedeutung zukommt. Es geht also nicht um eine rein abstrakte Darstellung der Politeia, sondern um eine zunächst autorimmanente Interpretation, die sich genau an den antiplatonischen - v.a. Popperschen - Vorwürfen orientiert. Der höchst wichtige Aspekt der Verwirklichungsproblematik bietet in diesem Zusammenhang ein ganz entscheidendes Argument gegen die antiplatonischen Attacken, weil eine Interpretation der Politeia als Utopie die platonkritische Methodik grundlegend in Frage stellt und besonders überzeugend zu einem konsistenten Verständnis von Werk und Autor führt. Dieser Ansatz erfordert eingangs eine vertiefte Analyse des Utopiebegriffs, seiner Anwendbarkeit auf Piaton und der Konsequenzen für Piatons politische Intentionen. A u f dieser Grundlage läßt sich zeigen, daß ein programmatisches Verständnis der Politeia fehlgeht und Piaton dies v.a. am Beispiel des notwendigen Scheiterns der Philosophenherrschaft demonstriert. Vielmehr ist die Politeia als Korrektiv für die individuell-philosophische sittliche Orientierung, nicht als dogmatische praktische Anweisimg zu verstehen. Insofern kann also der Totalitarismusvorwurf als ein grundlegendes Mißverständnis bezeichnet werden, das auf einer einseitigen Interpretationsmethode aufbaut. Nach einer solchen ersten Zurückweisung des Totalitarismusvorwurfs ergibt sich jedoch aufgrund der inneren Geschlossenheit des Systementwurfs die Notwendigkeit, die Politeia unabhängig von Piaton auf ihren Legitimationswert hin zu untersuchen. Ihre Geschlossenheit läßt sie als totalitäres

26

Α. Einleitung

Harmoniemodell erscheinen, das als solches aber noch nicht denknotwendig negativ sein muß. Bei der genaueren Beurteilung dieser Frage helfen insbesondere der Vergleich mit Nineteen Eighty-Four und die strukturellen Folgerungen daraus, die Berücksichtigung von Orwells Motivationen und seinen Erfahrungen mit dem Stalinismus sowie die Klärung literarischer Einflüsse der Politeia auf Orwell. Aus Orwells empirischem Ansatz des common sense und seinen historischen Erfahrungen läßt sich - ausgehend vom utopischen Marxismus und seiner gescheiterten Verwirklichung - eine prinzipielle Schranke gegenüber intellektuellen Harmonieentwürfen entnehmen, die in utopiekritischer Weise die verhängnisvolle Mißverständlichkeit von Konstrukten wie denen der Politeia, ihre notwendige Entartung in totalitäre Terrorsysteme bei praktischen Umsetzungsversuchen und damit ihre Beurteilung als negativtotalitär verdeutlicht und begründet. Insbesondere neuere Erkenntnisse der empirischen Rechtsanthropologie stützen diese Orwellsche Kritik. Trotz des bleibenden Werts bestimmter Aspekte utopischen Denkens muß somit verneint werden, daß die Politeia ein zum allgemeinen Nutzen brauchbares Legitimationsmodell von Herrschaft darstellt. Abschließend kann bei aller Differenz durchaus auch eine gemeinsame Basis zwischen Piaton und Orwell bezüglich ihrer engagierten moralischen Grundhaltung gefunden werden. Grenzen der Untersuchung ergeben sich angesichts der fast unübersehbaren Piatonliteratur, so daß neben einer repräsentativen Auswahl v.a. ein Schwerpunkt im Bereich der Verwirklichungsfrage und der Utopieproblematik bei Piaton, weniger im Bereich der platonischen Metaphysik, gesetzt werden muß. Gleiche Probleme bestehen im Bereich der Utopie- und Totalitarismusforschung sowie der Darstellung des Marxismus. Hier erfolgt eine Beschränkung auf die Erläuterung von für den Vergleich notwendigen Grundstrukturen. Auch bei der Erörterung der empirischen Rechtsanthropologie und der für diese grundlegenden naturwissenschaftlichen Erkenntnisse müssen Verweise auf die Literatur genügen. Dabei kommt es nicht allein auf Einzelergebnisse, sondern v.a. auf die methodischen Ansätze dieses neuen, umfangreichen Forschungsgebiets an. Schließlich bieten die vielen im Rahmen der Einzelmechanismen angerissenen Probleme aus den Gebieten der Soziologie, Anthropologie, Pädagogik oder Psychologie noch Raum für manche neuen Forschungsansätze, auf die hier nicht genauer eingegangen werden kann.

Β. Staatsphilosophische Legitimationsmodelle: Harmonie und Konflikt I. Modellbegriff, Erkenntniswert und Funktion I m Rahmen staatsphilosophischer Untersuchungen lohnt es sich, mit Modellen zu operieren, die das Verhältnis von Individuum und Gesellschaft charakterisieren und damit die Frage der Legitimation staatlicher Herrschaft aufwerfen. Unter Modellen sind Muster, formale Strukturen zu ver1

stehen, die bestimmte Originale abbilden und repräsentieren . Modelle vereinfachen dabei gegenüber den Originalen, da nur die für eine weitere Verwendung relevanten Faktoren in die Modelle einfließen 2 . Sie bieten daher eine gute Grundlage für die funktionale und vergleichende Analyse komplexer politischer Systeme3. Die Staatsphilosophie beschäftigt sich mit der Vermittlung von Individuum und Gesellschaft und dem Spannungsverhältnis beider im Staat, wobei sie nach der Begründung bestmöglicher Strukturen strebt. Diese sollen - auf anthropologischen Grundlagen aufbauend - dazu dienen, die jeweiligen Zielvorgaben für den Staat ideal umzusetzen. Dadurch wird nicht zuletzt die philosophische Basis zur Legitimation politischer Herrschaft geschaffen 4. Die philosophische Betrachtung abstrahiert bei der Analyse von Herrschaftsstrukturen durch die Modellbildung vom historischen Einzelfall. Modelle ermöglichen die Übertragung von Erkenntnissen auch auf andere historische Bedingungen - so wird bei staatsphilosophischen Neuentwürfen oft auf bewährte Legitimationsmuster zurückgegriffen - und führen schließlich auf eine philosophiesystematische Ebene, wo letztlich klassische, idealtypische Legitimationsformen diskutiert werden. Die Untersuchung der Philo^erbeit Stachowiak, Allgemeine Modelltheorie, Wien 1973,131. 2

Karl Deutsch, Politische Kybernetik. Modelle und Perspektiven, Freiburg 1969, 54f.; Dietmar Peil, Untersuchungen zur Staats- und Herrschaftsmetaphorik in literarischen Zeugnissen von der Antike bis zur Gegenwart, München 1983,16; Stachowiak 132. 3 Kurt Lenk, Methodenfragen der politischen Theorie, in: Hans-Joachim Lieber (Hrsg.), Politische Theorien von der Antike bis zur Gegenwart, Bonn 1991, 991-1016 (1006-1009, Systemtheorie). Vgl. Maurer, Staat 225: Demnach ist das zentrale Thema der Politeia die "Legitimation der Philosophie zur politischen Theorie und Praxis*.

28

Β. Staatsphilosophische Legitimationsmodelle

sophiegeschichte u n d die daraus hervorgehende M o d e l l b i l d u n g sind daher für die Staatsphilosophie notwendige, konstitutive methodische V o r g ä n g e 5 . D i e Suche nach der besten Verfassung erhält ihre A k t u a l i t ä t u n d ihre gesellschaftliche Relevanz d u r c h den suggestiven Charakter jedes Entwurfs. D i e A u s r i c h t u n g auf den idealen Endzweck w i r k t

handlungsmotivierend.

D a h e r ist eine historisch orientierte Staatsphilosophie niemals n u r deskriptiv, sondern erhebt stets auch einen normativen A n s p r u c h 6 , der sich i m potentiellen F o r t w i r k e n u n d der Weiterverwendbarkeit jedes Legitimationsmodells widerspiegelt 7 .

IL Harmonie- und Konfliktmodell I m folgenden soll das der platonischen Politeia

entnehmbare Herrschafts-

m o d e l l , das H a r m o n i e m o d e l l , als grundlegende F o r m utopischen Denkens e r l ä u t e r t 1 u n d einem entgegengesetzten Ansatz, verkörpert i m K o n f l i k t m o d e l l 2 , gegenübergestellt w e r d e n 3 . Das Harmoniemodell

5

bezeichnet einen

Holl, Begründung 28,40f.

^oll, Begründung 31; vgl. auch Bernard Willms, Thomas Hobbes. Das Reich des Leviathan, München 1987, 21f. 7

Holl, Begründung 168.

x

Zum Harmoniebegriff in diesem Sinne prägnant Jean Servier, Der Traum von der großen Harmonie. Eine Geschichte der Utopie, München 1971, 42; Ralf Dahrendorf 244 ("soziale Harmonie"). Vgl. auch Rep.431d-432a. ^ u m Konflikt als Gegensatz zu utopischem Denken: Dahrendorf 244; als Gegensatzpaar Konflikt-Harmonie bei Deutsch 76. 3 Anders als bei Holls Familienmodell und Organismusmodell besteht im Rahmen dieser Arbeit kein Interesse daran, die gesamte Geschichte der Staatsphilosophie unter zwei als ausschließlich verstandene Modelle zu subsumieren (vgl. Holl, Begründung 39,51-67). Der hier vertretene Ansatz stellt alternativ dazu auf zwei ausgesuchte, entgegengesetzte systemtheoretische Staatsmodelle ab, deren Untersuchung aus heutiger Sicht - nicht zuletzt angesichts der Aktualität utopischen Denkens - als besonders lohnend erscheint. Da hier nur rational begründbare Legitimationsansätze Berücksichtigung finden, kann auf die Einordnung anderer, v.a. historisch interessanter Legitimationsformen verzichtet werden. Holls Ansatz dagegen stößt bereits bei Piaton (den er unter das Familienmodell subsumiert) auf gravierende Schwierigkeiten und führt zur einseitigen Interpretation. So besteht das Prinzip des Familienmodells in einem abgeschlossenen Standesdenken, legitimiert durch Geburt oder Gott (Piatons Kritik dazu s.u.S.76 mit Anm.6), es ist also als irrational, konservativ und - i.S. der Struktur einer Familie - hierarchisch zu verstehen (Holl, Begründung 5155,62). Tatsächlich wird jedoch bei Piaton die Leistung zum einzigen Legitimationskriterium, so daß jenseits göttlicher oder vererbter Privilegien die freie Durchlässigkeit der angeblich "geschlossenen" Stände gegeben ist (s.u.S.55f.). Auch das Merkmal der Vergangenheitsbezo-

29

II. Harmonie- und Konfliktmodell

A n s a t z der V e r m i t t l u n g v o n I n d i v i d u u m u n d Gesellschaft, i n d e m das I n d i v i d u u m d u r c h Konsens u n d I d e n t i f i k a t i o n völlig i n der Gesellschaft aufgeht, so daß der Gegensatz u n d m i t i h m der Interessenwiderstreit aufgelöst w i r d . I n der Politeia

findet der Bürger sein vollkommenes G l ü c k , seine

Eudaimo-

nia, i n der völligen E i n g l i e d e r u n g i n die Gesellschaft. Diese w i r d d u r c h das Ausschließen jeglicher K o n f l i k t p o t e n t i a l e erreicht, u n d zwar mittels eines idealen Erziehungsmodells u n d einer unitarischen, funktionalen Staatsstruktur, welche durch radikale gesellschaftliche R e f o r m e n wie z.B. Eigentumslosigkeit oder die A u f l ö s u n g familiärer B i n d u n g e n zustandekommt. Das H a r m o n i e m o d e l l entspricht daher durch V e r s ö h n u n g der Gegensätze einem uralten Menschheitstraum der Utopietradition

- v o n der kosmischen,

4

paradiesischen H a r m o n i e - i n idealer W e i s e . W e n n auch die utopische T r a d i t i o n vielfältige Lösungsansätze i m Bereich der Staatsorganisation sucht, so zeichnet sich doch die ganz überwiegende M e h r z a h l der H a r m o n i e k o n z e p t e aus durch effiziente Staatsorganisation, M a c h t k o n z e n t r a t i o n an der F ü h rungsspitze, umfassende Regelung aller Lebensbereiche der Bürger, besondere Erziehungskonzepte u n d das A u f g e h e n des I n d i v i d u u m s i m Staat. D e r Staat stellt sich nicht als V e r e i n i g u n g v o n Individuen, sondern als lebendige Ganzheit, als Organismus

5

dar, b e i d e m das H a u p t , die Herrschaftsklasse,

genheit, des Konservatismus (Holl, Begründung 89) läßt sich für Piaton angesichts radikaler Neuerungen wie der Auflösung der Familie, der Gleichberechtigung der Frau, der Enteignung der beiden oberen Stände zugunsten des dritten Standes, der qualitativen Forderungen an legitime Herrschaft und der prinzipiellen Gleichheit der Bürger unter dem alles entscheidenden Kriterium der Leistung schwerlich begründen. Diese Züge in der Politeia weisen eher auf Charakteristika des Organismusmodells i.S. Holls (Begründung 53f.) hin als auf das Familienmodell. Hinzu kommt, daß Piaton oft mit dem Gedanken des Organismus operiert und die Familie sogar als untauglich für die maßgeblichen beiden oberen Stände abschafft (vgl. dagegen Holl, Begründung 104,112). Vielmehr muß zur angemessenen Beurteilung Piatons ein völlig anderer Standpunkt eingenommen werden, der - streng auf dem Boden der Rationalität - zu zwei prinzipiellen und heute hochaktuellen gegensätzlichen Möglichkeiten führt, ein Staatswesen zu organisieren: in Gestalt der Harmonie oder des Konflikts. Es gilt, die Politeia als einflußreichstes, grundlegendes, bereits im klassischen Griechenland begründetes Modell einer Extremform staatsphilosophischen Denkens - nämlich des utopisch-harmonischen - zu begreifen und über eine lange Tradition bis zu Orwell weiterzuverfolgen. Harmoniemodell und Konfliktmodell greifen als zwei Pole der Legitimation von Herrschaft eine in der Staatsphilosophie noch heute tragende Spannung auf, ohne in ihr Spektrum sämtliche denkbaren Legitimationsansätze - z.B. essentiell irrationale, wie theologische oder monarchisch-dynastische - aufzunehmen. 4 Servier 42,292-297,318-322; Walter Wallmann, Die Auseinandersetzung mit dem Sozialismus ist noch nicht vorbei, Sonde 3/4 (1990) 91-97 (91). 5 Z.B. Rep.462c-e; auch beim Orwellschen System, NEF 387. Zum Organismusmodell: Carl A. Emge, Einführung in die Rechtsphilosophie. Anleitung zum philosophischen Nachdenken über das Recht und die Juristen, Wien 1955, 270-275 (273); Andreas Graeser, Die Philosophie der Antike 2, Sophistik und Sokratik, Plato und Aristoteles (Reihe: Wolfgang Rod (Hrsg.), Geschichte der Philosophie, Bd.II), München 1983,183; Jaeger II, 328; Hans Meyerhoff, Plato among friends and enemies, in: Renford Bambrough (Hrsg.), Plato, Popper and politics. Some contributions to a modern controversy, Cambridge 1967,187-198 (196f.); Peil 878; Pop-

30

Β. Staatsphilosophische Legitimationsmodelle

mit besonderen intellektuellen Fähigkeiten 6 ausgestattet ist. Rationalität liegt diesen Konzeptionen durchaus zugrunde 7 ; allerdings läßt sich auch eine Vorliebe für eine metaphysisch-idealistische Denkungsart (und damit die Gefahr irrationaler Einschläge) ausmachen. Probleme bei diesem ersten idealtypischen Modell ergeben sich aus Schwierigkeiten der Verwirklichung, der Gefahr des Mißbrauchs politischer Macht durch die Herrscher und generell einer gewissen Tendenz zum Totalitarismus wegen der umfassenden Regelungsmechanismen in einer geschlossenen, statischen Gesellschaft. Konträr zum Harmoniemodell und dessen anthropologischer Grundkonzeption steht das zweite idealtypische Modell, das Konfliktmodell, da hier dem Individuum eine tragende Rolle zugestanden wird. Anstelle totaler Harmonie werden nunmehr gesellschaftliche Gegensätze akzeptiert und institutionalisiert, an die Stelle der statischen tritt die offene Gesellschaft 8. Findet der Bürger im harmonischen Staat seine Freiheit und seine Eudaimonia in der Identifikation mit der Gesellschaft, so liegen beide in der Konfliktgesellschaft im Pluralismus, dem Minderheitenschutz und individuellen Freiheitsrechten. Der Uniformität und der Effizienz des Harmoniestaats stehen die Gewaltenteilung und Gewaltenhemmung des Konfliktstaats gegenüber, einer metaphysischen Denkungsart dort eine empirisch-pragmatische und skeptische hier. Auch beim Konfliktmodell geht es um einen rationalen Ansatz, nur wird der Weg zum Glück in kleinen Schritten, nicht in einem großen Lösungsentwurf unternommen. Eine Charakterisierung der gesellschaftlichen Funktionen nach den Schemata "vergangenheits-/zukunftsbezogen" oder "konservativ/progressiv" 9 ist bei beiden Modellen nicht ohne weiteres möglich, sondern hängt von der individuellen Gestaltung und dem gesellschaftlichen Umfeld der Staatsentwürfe ab. So können der Lockesche wie auch der Marxsche Staatsentwurf in ihrer Zeit als progressiv gelten, aus heutigem Blickwinkel je nach Verwendungszweck aber auch als konservativ angesehen werden. Philosophiegeschichtlich läßt sich das Harmoniemodell außer bei den stark von Piaton beeinflußten, klassischen frühneuzeitlichen Utopisten Morus, Campanella und Bacon über Marx bis hin zur Orwellschen kritischen Konper 118-120,233f. (Piaton als feiner der Urheber dieser Theorie", 120); Reinhold Zippelius, Rechtsphilosophie, München 1989, 188. Das Organismusmodell anders gefaßt bei Holl, Begründung 38f.,53f. 6

Leg.964d-e; NEF 337. Vgl. auch Tim.70a (Parallele Haupt und Herrschaftsort Akropolis). Vgl. für Piaton: Crossman 292.

7

®Popper 233-236; Zippelius, RPh 140f.; vgl. Dahrendorf 244. So Holl (Begründung 62f.) bei seinen Modellen.

II. Harmonie- und Konfliktmodell

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zeption verfolgen, mit Einschränkungen auch bei Hobbes und Rousseau 10 in der totalitären Ausprägung - nachweisen. Das Konfliktmodell entspricht hingegen der demokratischen Tradition, die insbesondere seit Locke an Boden gewinnt, und wird von Orwell hinter der Negativfolie von Nineteen Eighty-Four indirekt als einzig positive Herrschaftsform und Gesellschaftsordnung vertreten. Geschichtsphilosophisch eröffnet v.a. Kant die Perspektive eines Fortschritts zur bürgerlichen Verfassung 11 , also zum Konfliktmodell, der trotz immenser Rückschläge letztlich als bestätigt angesehen werden kann.

Im Leviathan und im Contrat social; vgl. Hans Maier, Rousseau, in: ders. u.a. (Hrsg.), Klassiker des politischen Denkens, Bd.2, München 1987, 80-100 (96-100); Marquardt 5; Jaakov J. Talmon, Die Ursprünge der totalitären Demokratie, Köln 1961, 34-45; Willms 232. n Kant, Werkausgabe Bd. XI, Der Streit der Fakultäten, Abschnitt II, Erneuerte Frage, 6.10., 357-366.

C. Vergleich von Politeia und Nineteen Eighty-Four I. Überblick über die Autoren und ihre Werke 1. Platon und die Politeia Piaton wurde 428/427 v.Chr. als Mitglied einer angesehenen Adelsfamilie in Athen geboren und starb dort um 328/327. Wie seine Onkel Kritias und Charmides, beide Mitglieder der 404/403 in Athen herrschenden Dreißig Tyrannen, war er für eine politische Laufbahn prädestiniert. M i t 20 Jahren Schloß er sich aber dem Freundeskreis um Sokrates an und geriet in den Bann der Philosophie. Unter dem Eindruck der Unrechtsherrschaft der Dreißig und der Hinrichtung des Sokrates im Jahr 399 brach er endgültig mit jeder aktiven politischen Betätigung in Athen. Es folgten ausgedehnte Reisen, von denen v.a. die drei Aufenthalte in Sizilien große Bedeutung haben. Piaton versuchte, am Tyrannenhof von Syrakus eigene politische Vorstellungen durchzusetzen und Politik mit Philosophie zu versöhnen, aber die Bemühungen und Hoffnungen scheiterten schließlich mit der Ermordung seines Schülers Dion, des einzigen dortigen Herrschers mit wahrer philosophischer Einsicht 1 . Nach der ersten sizilischen Reise gründete Piaton eine eigene Philosophenschule, die Akademie, in der vielfältige Themenfelder behandelt wurden. Piatons zunächst stark von Sokrates beeinflußter politischer Philosophie kommt im Gesamtwerk besondere Bedeutung zu. Sie ist als Gegenbewegung zum Wertrelativismus der Sophistik sowie zu den chaotischen politischen Zuständen in der Zeit der späten attischen Demokratie zu verstehen. Eine Schlüsselstellung nimmt dabei Piatons Hauptwerk, die Politeia (der "Staat"), ein. -

*Zur Biographie v.a. 7. Brief \ 324b-326b; Kurt v.Fritz, Piaton in Sizilien und das Problem der Philosophenherrschaft, Berlin 1968; Helmut Kuhn, Plato, in: Hans Maier u.a. (Hrsg.), Klassiker des politischen Denkens, Bd.l, München 61986, 15-44 (16-19); Gottfried Martin, Piaton mit Selbstzeugnissen und Bilddokumenten, Reinbek bei Hamburg 1969, 7-81; Ulrich v. Wilamowitz-Moellendorff, Piaton. Sein Leben und seine Werke, Berlin 1948.

1. Platon und die Politeia

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Die Politeia wurde - möglicherweise abgesehen vom stilistisch abweichenden Buch I 2 - um 375 verfaßt und gehört der mittleren Schaffensperiode Piatons an. Das Thema der idealen Staatsverfassung wird im Spätwerk in den Nomoi noch einmal unter realistischeren Grundbedingungen als in der Politeia aufgenommen. Die im für das platonische Werk charakteristischen Dialogstil verfaßte Politeia ist in zehn Bücher aufgeteilt, eine Ordnung, die nicht auf Piaton selbst zurückgeht 3 . Buch I führt dabei in das zentrale Thema des Werks ein, nämlich die Frage nach dem Wesen der Gerechtigkeit und die Notwendigkeit dieser Fragestellung. I n Buch I I - I V wird dieses Thema auf der Ebene des Staats diskutiert und der Wächterstaat entworfen, wobei neben seiner Entstehung die tragenden Erziehungsprinzipien und Wertvorstellungen erörtert werden. Gerechtigkeit bedeutet dabei für jeden, seine eigene Aufgabe zu erfüllen (Rep.433b), und zwar gilt dies sowohl für die Stände im Staat als auch für die hiermit parallelisierte Ordnung der Seelenteile jedes Individuums. Buch V - V I I führen hinauf zum Entwurf des Philosophenstaats. Insbesondere Buch V spricht praktische Probleme an und bewegt sich auf der Ebene institutioneller Lösungsansätze, die Voraussetzung und Teil des Erziehungsprogramms sind, wie die Gleichberechtigung von Mann und Frau, die Auflösung der Familienstruktur und die Philosophenherrschaft. Buch V I und V I I enthalten die Ideenlehre Piatons, also die metaphysisch-ideelle Grundlage des Staats, und die Erziehungsstufen der Philosophen bis hin zur Dialektik. In Buch V I I I - I X schildert Piaton die vier Verfallsformen des Staats, nämlich Timokratie, Oligarchie, Demokratie und Tyrannis, und weist den steigenden Unrechtsgehalt in jeder Verfallsstufe nach. Buch X ergänzt die bereits in Buch I I thematisierte Dichterkritik und schließt im Er-Mythos mit dem Lohn des Gerechten im Jenseits. Trotz der Vielschichtigkeit der Politeia, die zentrale Aussagen Piatons zur Erkenntnistheorie, Metaphysik, Ästhetik, Ethik und Geschichtsphilosophie

philologischen Kontroverse: zugunsten eines aporetischen Frühdialogs Annas, Republic 16-18; Paul Friedländer, Piaton, Bd.II, Die platonischen Schriften. Erste Periode, Berlin 1964, 45 mit Anm.l; als Gegenposition Erbse, Politeia 170-172; Charles H. Kahn, Proleptic composition in the Republic , or why book 1 was never a separate dialogue, C1Q 43 (1993) 131142 (131f.,136); Vretska 27-30 m.w.N. Selbst wenn es sich um einen Frühdialog handelt, so wurde er zumindest von Piaton bewußt als Einleitung der Politeia vorangestellt, und nur diese Tatsache ist für die hier durchzuführende Interpretation von Bedeutung. Vretska 25 Anm.16. 3 Otto

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C. I. Überblick über die Autoren und ihre Werke

enthält, soll hier der Akzent auf das Hauptthema des Textes, nämlich seinen staatsphilosophischen Kern, gelegt werden.

2. Orwell und Nineteen Eighty-Four George Orwell - geboren 1903 als Eric Blair in Motihari, Bengalen (Indien), gestorben 1950 an Tuberkulose in London - verbrachte seine Jugend in England. A n der Privatschule St. Cyprian's und in Eton absolvierte er seine Ausbildung. Orwells Vater diente als Beamter in der indischen Kolonialverwaltung und wurde früh pensioniert, so daß der begabte Junge während der Schulzeit wegen der begrenzten elterlichen Mittel auf Stipendien angewiesen war. 1921 trat Orwell in die Indian Imperial Police in Burma ein, brach aber diese Karriere bald ab zugunsten einer schriftstellerischen Tätigkeit. Er lebte unter Landstreichern in Paris und London, betätigte sich zeitweilig als Lehrer und arbeitete später für Zeitungen und Verlage, im 2. Weltkrieg auch für die B.B.C. 1933 veröffentlichte er erstmals unter dem Pseudonym "George Orwell". Besonderen Eindruck hinterließ bei Orwell der Spanische Bürgerkrieg, an dem er 1936/37 teilnahm. Zeitlebens ein engagierter Sozialist, lernte er in Spanien und anhand der Schauprozesse in der Sowjetunion der 30er Jahre die Schattenseiten des Stalinismus kennen und wurde innerhalb der englischen Linken zu einem engagierten Kritiker des Kommunismus 4 . I n den 1949 erschienenen Roman Nineteen Eighty-Four - der Titel ging aus der Ziffernumstellung des Entstehungsjahres 1948 hervor - flössen viele Erfahrungen aus Orwells Leben und Elemente aus den vorhergehenden Romanen ein 5 . Neben seiner hochpolitischen satirischen Tierfabel bzw. Tierallegorie Animal Farm von 1945 erlangte Orwell v.a. durch Nineteen EightyFour Weltruhm. Hauptanliegen dieses Romans ist - ausgehend von den Erfahrungen mit dem 3. Reich und dem Stalinismus - die Warnung vor totalitären Systemen und deren drohender Zementierung durch Errungenschaften des technischen Fortschritts, gepaart mit der skrupellosen Machtideologie einer Herrschaftsschicht.

Biographisches z.B. bei Bernard Crick, George Orwell: Ein Leben, Frankfurt 1984; John R. Hammond, A George Orwell companion. A guide to the novel, documentaries and essays, London 1982,4-27; Hans-Joachim Lang, George Orwell. Eine Einführung, München 1983; Peter Lewis, George Orwell: Biographie, Frankfurt 1981; Hans-Christoph Schröder, George Orwell. Eine intellektuelle Biographie, München 1988. 5 Im einzelnen Erzgräber, Utopie 170; Bernd-Peter Lange, George Orwell: "1984", München 1982, 27-33; Steinhoff.

2. Orwell und Nineteen Eighty-Four

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Nineteen Eighty-Four gliedert sich auf in drei Teile und einen Appendix. Teil I beschreibt das Klassensystem, die Staatsorganisation und die einzelnen Überwachungs- und Kontrollmechanismen von Ozeanien. Der Hauptheld Winston Smith steht in zunehmender Opposition zu diesem System. Aus seiner Perspektive werden das tägliche Leben und die Atmosphäre in Ozeanien geschildert. Teil I I thematisiert die verbotene Liebesbeziehung zwischen Winston und Julia. Beide verstoßen gegen fundamentale Regeln des Systems und wollen sich einer vermeintlichen Widerstandsbewegung anschließen. Die Romanhandlung wird durch den Einschub längerer Passagen aus dem politischen Pamphlet des Widerstandsführers Goldstein unterbrochen, das bereits gewonnene Erkenntnisse über die Funktionsprinzipien des Unrechtsstaats systematisiert und die politischen Thesen Orwells zusammenfaßt. Die Verschwörung entpuppt sich als Falle des Funktionärs O'Brien, und Winston wie Julia werden von der Thought Police gefangengenommen. Teil I I I spielt in den Kellern des Ministry of Love , in dem Winston von O'Brien gefoltert, physisch und psychisch gebrochen sowie auf die Parteilinie eingeschworen wird, so daß ihm jegliche Fähigkeit zum Abweichen vom System genommen ist. A m Ende verrät er Julia und liebt den Staatsführer Big Brother. I m Appendix The Principles of Newspeak geht Orwell genauer auf einen besonders raffinierten Aspekt der totalen Überwachung ein, nämlich die absolute Konditionierung durch Sprachmanipulationen. Umfassende Zensur und die systematische Reduktion der Sprache sollen opponierendes Denken unmöglich machen und das System perfekt festigen. Interessante Aspekte in Nineteen Eighty-Four sind ferner die Manipulation der Vergangenheit sowie der Einsatz von Überwachungstechnik und medizinischer Technik zwecks Konditionierung. Orwells utopiekritische Zielrichtung schafft - neben den deutlichen inhaltlichen Parallelen - die Verbindung zur Politeia, die als erster klassischer utopischer Staatsentwurf das ursprünglichste Gegenstück zum Zerrspiegel des modernen Nineteen Eighty-Four darstellt. Wegen der hinter Nineteen EightyFour stehenden vernichtenden Kritik am utopischen Harmoniemodell können beide Werke als Gegenpole grundsätzlicher Möglichkeiten rationaler Herrschaftslegitimation angesehen werden.

3*

36

C. II. Darstellungstechnik und formale Aspekte

II. Darstellungstechnik und formale Aspekte 1. Textart, Darstellungsform und utopische Stilmittel Ein formaler Hauptunterschied zwischen der Politeia und Nineteen EightyFour liegt darin, daß der eine Text in Dialogform verfaßt wurde, der andere als Roman. Zudem übernehmen bei Piaton die Dialogpartner des Sokrates i.d.R. die Rolle, in kurzen Antworten und Partikeln den Argumentationsgang lediglich zu bestätigen, so daß ein wirklicher Dialog meist nicht zustandekommt; damit läßt sich die Politeia überwiegend als philosophischer Diskurs mit einer durchgehend - neben einigen fiktionalen Elementen - stringenten, rationalen Argumentation lesen. Bei Orwell dagegen liegt ein weitgehend fiktionaler Text vor, der sich durch eine ausführliche Handlung und den Aufbau von Spannung auszeichnet. I n Nineteen Eighty-Four wird der lebendigen Schilderung zu Lasten der systematischen Argumentation der Vorrang eingeräumt. Dieser Unterschied wird jedoch dadurch gemildert, daß im Detail auch viele formale Gemeinsamkeiten zwischen beiden Texten auszumachen sind: Beide Werke werden im Präteritum erzählt, und zwar bei Piaton in der 1. Person durch Sokrates, den Hauptredner des Dialogs, bei Orwell in der 3. Person, aber durchgehend vom Erkenntnis- und Gedankenhorizont des Protagonisten Winston Smith aus. Somit hat der Leser in beiden Texten die Möglichkeit, sich mit einer konkreten Person zu identifizieren. Dies dient im wesentlichen dem didaktischen Zweck, die Überzeugungskraft der Argumentation zu verstärken. So soll sich der Leser in Buch I der Politeia angesichts der Drohgebärden des Thrasymachos in die Gegenposition des Sokrates versetzen (Rep.336b337a); auf der anderen Seite dienen die Einwände von Glaukon und Adeimantos zu Beginn von Buch I I und V und deren ständige kritische Fragen im Dialog dazu, Bedenken des Lesers gegen die Argumente des Sokrates vorwegzunehmen. Bei Orwell wird durch die Identifikation mit Winston eine kritische Stellung des Lesers zum Staat bewirkt und seine Sichtweise gelenkt. Winston erfüllt damit die in vielen Utopien der Neuzeit typische Rolle des Außenseiters oder opponierenden Individuums, mit Hilfe dessen überhaupt erst eine didaktisch-fa-itische Erzählperspektive aufgebaut werden kann 1 . Beide Werke enthalten weiterhin die Beschreibungen einiger Charaktere. Obwohl die Politeia ein überwiegend philosophisch-systematisches Werk ^nüg 18; Seeber, Totalitarismus 130.

1. Textart, Darstellungsform und utopische Stilmittel

37

darstellt, tauchen in ihr mehrere Gesprächsteilnehmer (Rep.328b) und sogar handelnde Personen auf, die allerdings nur knapp skizziert werden, z.B. die Piatonbrüder Glaukon und Adeimantos - kritische und philosophisch interessierte junge Männer - oder Sokrates, der vom ironischen Eristiker (Rep.337a) in Buch I im Verlauf des Gesprächs immer stärker zum Wissenden wird (Rep.345a,473d u.a.). Genauer geschildert werden der Greis Kephalos, sein Sohn Polemarchos und der Sophist Thrasymachos, wobei der würdige Kephalos im Gespräch über die Gerechtigkeit für einen unreflektierten Traditionalismus steht (Rep.328b-331d), sein Sohn sich argumentativ an der überlieferten Gerechtigkeitsvorstellung der Dichter orientiert (Rep. 331d-332d) und der aggressive, selbstbewußte und rhetorisch gewandte Thrasymachos die radikale sophistische Bedrohung und Umwertung der Werte repräsentiert (Rep.336b-337a,343b-344c). A n späteren Stellen des Dialogs gelingt Piaton zudem eine sehr lebendige typologische Darstellung der Menschen unter den verschiedenen Verfassungsformen (Bücher V I I I IX). Ebenso typologisch gestaltet Orwell seine Personen aus. Die proles werden repräsentiert durch einen alten Mann (NEF 231-236) und eine singende Matrone (NEF 346f.), die Parsons symbolisieren den Zerfall der Familie (NEF 173-177). Insbesondere schildert Orwell bestimmte Arten von Parteimitgliedern. Mrs. Parsons (NEF 176f.) leidet unter dem System, v.a. der ständigen Angst vor Denunziationen. Die Parsonskinder stehen für von der Partei zu Spitzeln erzogene Jungaktivisten (NEF 175-177), während ihr Vater den gutmütigen, immer aktiven und etwas stupiden Typus eines durchschnittlichen Parteimitglieds darstellt (NEF 174f.,204). Der Philologe Syme ist der typische Parteiintellektuelle (NEF 197-204), Winstons Frau Katherine das perfekte gefühlskalte und hörige Produkt der Partei (NEF 213f.), Mr. Charrington angemessener Vertreter des allgegenwärtigen Geheimdienstes (NEF 351), der Thought Police, und der verunglimpfte Goldstein ein Symbol des Widerstands und Feindbild zugleich (NEF 166-169). Als Hauptfiguren erscheinen neben Winston, dem tragischen, kränkelnden Protagonisten und intelligenten, kritischen Außenseiter, noch Julia und O'Brien. Julia ist mehr Gefühlsmensch als Winston, daneben aber auch ein eher praktisch veranlagter Typ. Äußerlich scheint sie ein angepaßtes Parteimitglied zu sein, schön, aber hartherzig (NEF 164f.), doch innerlich rebelliert sie gegen das System. In Teil I I wird sie ganz zur Frau und Liebenden und prägt die dort vorherrschende idyllische Stimmung. O'Brien kann als die schillerndste Persönlichkeit des Romans aufgefaßt werden. Seine grobschlächtige Figur widerspricht dem hohen Intellekt (NEF 165), seinen grausamen Foltermethoden steht die feine Psychologie gegenüber, die er im Verhältnis zu Winston beweist. M i t dem perfekten Gebrauch der Technik

38

C. II. Darstellungstechnik und formale Aspekte

von doublethink (NEF 372) erweist er sich als idealer Vertreter der Herrschaftsschicht, der Inner Party. Die Handlung selbst nimmt bei Orwell naturgemäß wesentlich breiteren Raum ein als bei Piaton. Sie spielt im Jahre 1984 in London, Hauptstadt von Airstrip One, einer Provinz Ozeaniens (NEF 159). Insbesondere Teil I I und I I I sind vorwiegend durch Handlung geprägt, nämlich die Liebesbeziehung zwischen Winston und Julia und die Folterungen im Ministry of Love, so daß man von einer über die meisten Utopien hinausreichenden Durchgestaltung i.S. eines komplexen, tragischen Romans sprechen kann. Orwell erreicht durch diese A r t der Präsentation einen höheren Grad an Plastizität und Überzeugungskraft, da er die Wirkungsweise des Systems unmittelbar an Personen, ihren Gefühlen und an Details des täglichen Lebens schildern kann. Doch auch bei Piaton gibt es fiktional darstellende Passagen. Außerhalb des Dialogs finden sie sich v.a. in Buch I, wo Sokrates mit Glaukon dem Fest der Göttin Bendis im Piräus beiwohnt (Rep.327a) 2 und dann widerstrebend zum Haus des Kephalos geführt wird. Die Gesprächsszene mit Kephalos zeigt ganz die Stimmung attischer Urbanität (Rep.328b-e,331d), eine Stimmung, wie sie auch in Nineteen Eighty-Four gelegentlich aufkommt, so im Krämerladen von Mr. Charrington (NEF 237-242) oder im Benehmen O'Briens, dessen ungewöhnlich kultivierte Art, seine Brille zurechtzurücken, immer wieder betont wird (z.B. NEF 165,370). M i t dem stürmischen Auftreten des Thrasymachos und der Schilderung seiner Wirkung auf die Zuhörer wird in Buch I ein dramatischer Höhepunkt geschaffen (Rep.336b-337a), der den Rahmen eines bloßen philosophischen Diskurses sprengt 3 , ganz zu schweigen von den ironischen Seitenhieben in der Gesprächsführung dieser Passage. Eine weitere dramatische Handlungsszene liegt vor der Erörterung der drei Wogen zu Beginn von Buch V (Rep.449a-451c)4. Zudem zeichnet Piaton innerhalb der Dialoge Szenen mit höchster Lebendigkeit, so z.B. - neben den Mythen - die Staatsgründung in Buch I I (Rep. 369b-373e), das Gleichnis vom Schiffsherrn und die Darstellung der verderbten Philosophen (Rep.488a-496a) sowie die Beschreibung des vierstufigen Verfalls des Idealstaats (am Beispiel des jeweiligen Menschentypus) in Buch V I I I - I X . Damit gelingt es auch Piaton, sein Werk didaktisch eingängig und oftmals spannend zu gestalten. -

Vgl. zum Fest Vretska 487f. Anm.l Vgl. Klosko, Theory 126f. (mit weiteren Beispielen). 4

Friedländer III, 94.

1. Textart, Darstellungsform und utopische Stilmittel

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Bei genauerer Betrachtung der Textart lassen sich insofern Besonderheiten feststellen, als beide Autoren die Einheit der Form durchbrechen. Abgesehen vom stilistisch und dramatisch hervorzuhebenden Buch I der Politeia fallen bei Piaton die Mythen auf, die sich vom üblichen Dialogverlauf deutlich absetzen. Mythen als plastische Erzählungen sind fiktional und unterscheiden sich insofern in Stil und Funktion vom philosophischen Dialog. Dennoch stehen sich Mythos und Logos nicht unversöhnlich gegenüber, sondern die erdichteten Mythen enthalten stets einen wahren Kern (Rep.377a), der sich allerdings der rationalen Begründung entzieht und im Bereich der erleuchtenden Schau liegt. Damit stellen Mythen ein Bindeglied zwischen Philosophie und Dichtung dar und erfüllen einen ästhetischen wie auch didaktischen Zweck 5 , weil Piaton das Gemeinte in ihnen aufleuchten lassen kann. I n der Politeia sind v.a. der Metallmythos (Rep.414c-415c), das Höhlengleichnis (Rep.514a-518b), das Bild der Seele als eines vielköpfigen Tieres (Rep.588c-590d) und der Er-Mythos (Rep.614b-621d) zu erwähnen. Im Metallmythos ist die Rede von der Entstehung des Staatsvolkes mitsamt den verschiedenen Seelenanlagen und Fähigkeiten. Die anderen drei Erzählungen handeln von der Seele, insbesondere das Höhlengleichnis vom Aufstieg zum Licht der Erkenntnis und der Er-Mythos vom Bild des Jenseits. I n Nineteen Eighty-Four unterbrechen zuweilen Traumvorstellungen Winstons den Handlungsablauf. Drei Traumtypen lassen sich unterscheiden: erstens derjenige von der Vergangenheit, in dem Winston in seine Kindheit zurückversetzt ist, sich an die damalige Lebensweise zu erinnern versucht und Schuldgefühle gegenüber seiner Mutter und seiner Schwester aufarbeitet (NEF 181f.,295-298); zweitens Vorahnungen über das Zusammentreffen mit O'Brien im Ministry of Love y wobei O'Brien äußert: "We shall meet in the place where there is no darkness" (NEF 177f.), bzw. Alpträume über das Schicksal hinter dem "wall of darkness" (NEF 281). Schließlich bleibt der Traum vom Golden Country zu erwähnen, in dem vor Winston eine schöne Naturlandschaft mit einem sich entkleidenden Mädchen erscheint (NEF 182f.). Eine Parallelisierung dieser drei Träume mit den platonischen Mythen liegt nahe. Sowohl der Metallmythos als auch der erste Traum behandeln eine ferne Vergangenheit, insbesondere für Winston, der sich angesichts der umfassenden Geschichtsfälschung in Ozeanien nur auf seine bis in die Kindheit zurückreichenden Erinnerungen als einzig verläßliche Instanz stützen kann. Wie im Höhlengleichnis geht es auch im zweiten Traum um einen 5 Ludwig Edelstein, The function of the myth in Plato's philosophy, JHI 10 (1949) 463-481 (463-467).

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C. II. Darstellungstechnik und formale Aspekte

schmerzhaften Weg der Erkenntnis der Seele, der nach der Metaphorik Orwells jenseits der Dunkelheit endet, in den stets erleuchteten Folterräumen des Ministry of Love. Drittens entspricht Piatons Bild des himmlischen Jenseits - soweit die guten Seelen beschrieben werden - (Rep.614e-615a,616b) dem Golden Country bei Orwell, einer Art paradiesischem Traum Winstons. Orwell durchbricht den fiktionalen Stil von Nineteen Eighty-Four durch seine essayistischen Einschübe des Buchs von Goldstein und des Appendix The Principles of Newspeak. Hier verläßt er die künstlerische Form zugunsten diskursiver Partien und des ihm gut vertrauten Stils des politischen Journalismus, um seine Kritik zu systematisieren 6. Als Ergebnis der Betrachtung der Darstellungsform läßt sich festhalten, daß weder in der Politeia noch in Nineteen Eighty-Four eine einheitliche Darstellungsweise gewählt wurde, sondern daß beide Systematik und Fiktion verbinden, einen Kompromiß zwischen systematisch-politischem Gehalt und ästhetisch-didaktischer Form bilden und dadurch lebendig wirken, ohne die Intensität der Aussage aufzugeben. Insofern entsprechen beide einer typischen Eigenart utopischer Texte überhaupt 7 . Darüber hinaus können noch weitere in Utopien oft verwendete Stilmittel und Präsentationstechniken nachgewiesen werden. Als Formmerkmal findet sich in Utopien regelmäßig die räumliche oder zeitliche Distanz zur Gegenwart, eine Barriere, die oft mittels einer Reise des Haupthelden überwunden wird 8 . Dieses Reisemotiv taucht weder in der Politeia noch in Nineteen Eighty-Four in größerem Maßstab auf, nur als überbrückender Schlaf im ErMythos, der zeitweisen Entrückung des im Kampf gefallenen Pamphyliers Er ins Jenseits (Rep.614b), und in Winstons Träumen von der Vergangenheit. Das Gestaltungsmittel der zeitlichen Distanz zur Gegenwart selbst wird jedoch in beiden Werken verwendet: Bei Orwell ergibt es sich bereits aus dem Titel, bei Piaton erweist sich das Problem als komplizierter. Wegen des theoretischen Ansatzes ist nicht einmal der Ort des platonischen Staats bestimmbar, doch die A r t der beschriebenen Staatsgründung (Rep.540e-541a) legt eine fiktive Koloniegründung nahe, eine Annahme, die durch eine solche Gründung im Rahmen der Nomoi bestätigt wird (Leg.702c). Dies würde 6

Gerd Krause, George Orwells Utopie "Nineteen Eighty-Four". Ein Beitrag zur Würdigung des Dichters und politischen Kritikers, DNS 3 (1954) 529-543 (537). ? Erzgräber, Utopie 17; Gnüg 17f.; Seeber, Wandlungen 31-34. Vgl. genauer (am Beispiel von Morus' Utopia ) Erzgräber, Utopie 26,34; ferner (zu Orwell) Krause 537f. Wolfgang Schepelmann, Die englische Utopie im Übergang: von Bulwer-Lytton bis G. H. Wells. Strukturanalysen an ausgewählten Beispielen der ersten evolutionistischen Periode, Diss. Wien 1975,70.

1. Textart, Darstellungsform und utopische Stilmittel

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für die zeitliche Ansiedlung des Idealstaats in der Zukunft sprechen, was auch durch die paradigmatische Bedeutung gestützt wird, die Piaton seinem Entwurf - welcher im Himmel als Beispiel zu finden ist (Rep.592b) - zumißt, und durch die Vermutung, daß nach dem Staatenverfall bis zur Tyrannis ein Umschwung zum Ideal erfolgen könnte (vgl. Leg.709e-710e, wo ein junger, lernfähiger Tyrann als gute Grundlage für einen Staatsaufbau bezeichnet wird). A u f eine utopische Vergangenheitsworstellung deuten dagegen der Übergang vom Idealstaat in die Verfallsformen der damaligen griechischen Gegenwart und Geschichte (Rep.546a-587e), wie auch die Verlagerung des in der geschichtlichen Wirklichkeit handelnden Idealstaats in die sagenhafte Frühgeschichte Athens (Beginn des Timaios, der sich, obwohl das dortige Gespräch mit seinen völlig anderen Teilnehmern nicht direkt an den Dialog der Politeia anknüpft, doch inhaltlich deutlich auf die Erzählung der Politeia bezieht 9 , mit Fortsetzung im Kritias: Tim.l7c-19c; Criti.l08e-110d). Insofern zeigt sich zur Zeitfrage in der Politeia sogar eine doppelte utopische Zielrichtung (vgl. zur Geschichtsphilosophie Piatons genauer unten S.115-117, 187-195). Ein weiteres utopisches Stilelement ist die Beteuerung der Wahrheit, der Realität oder historischen Verbürgtheit, die sich als Lügen- bzw. Fiktionssignal deuten läßt 1 0 . Bei Orwell wird die historische Entwicklung zum Terrorstaat recht zwanglos bereits dadurch plausibel gemacht, daß er konsequent viele dem Leser geläufige Motive der Gegenwart (totalitäre Systeme, technische Überwachungsmöglichkeiten, ökonomische Mangelsituation der Nachkriegszeit) aufnimmt, ausgestaltet und ihr Funktionieren im System verdeutlicht. Piaton betont dagegen für seinen recht phantastischen Entwurf oftmals die - wenn auch äußerst schwierige - Möglichkeit der Realisierung (Rep.456c,499c,502c,540d); im Timaios und Kritias greift er sogar auf das Stilmittel einer komplizierten, 9000 Jahre alten historischen Überlieferung von den Ägyptern über Solon bis auf Kritias zurück (Tim.20d-25d; Criti. 108d-e). Auch die Themen und abgehandelten Gegenstände entsprechen in beiden Werken der utopischen Tradition n. Piaton erörtert nach einer einstimmenden Einleitung (Buch I) in Buch I I - I V die Gebiete der Erziehung i.w.S., nämlich Arbeit, Dichtung, Musik, körperliche Ertüchtigung, Eigentumslosigkeit, Rechtswesen, Verhältnis zur Außenwelt, Klassengliederung, Religi9 Hans Herter, Urathen der Idealstaat, in: ders., Kleine Schriften (hrsg. Ernst Vogt), München 10 1975, 279-304 (289-290, v.a. Anm.46 m.w.N., 294). Gnüg 27f. n F ü r Orwell: Seeber, Wandlungen 222.

42

II. Darstellungstechnik und formale Aspekte

on und ethische Maßstäbe. In Buch V - V I I folgen die Fragen Gleichberechtigung der Frau, Familie, Eugenik, Propaganda bzw. Täuschungen des Volkes, Kriegswesen, Wissenschaft, Dialektik und Ausbildung der Herrscherklasse. Buch V I I I - I X schildern satirisch die kritisierte Wirklichkeit, Buch X vertieft die Zensur bzw. Dichterkritik und eröffnet einen Ausblick ins Jenseits. Trotz der Romanform läßt sich eine klare Abhandlung solcher zentralen utopischen Themen auch in Orwells Gliederung nachweisen, und zwar v.a. in Teil I und im Goldstein-Buch am Ende von Teil II. Teil I beschreibt die Atmosphäre in Ozeanien, Propaganda, Familie, Erziehung, Sport, Arbeitsleben und Freizeit, Klassengliederung, Sprachmanipulation, Geschichtsfälschung, Spitzelwesen, Säuberungen und die Stellung der Frau. In Teil I I folgen kontrastierend die Landschaftsidylle und die Liebesbeziehung, im Goldstein-Buch dann systematisch die Themen Krieg, Wirtschaft, Wissenschaft, Technik, Eigentumslosigkeit, Erziehung, Überwachung, Staatsorganisation und doublethink . Teil I I I fügt ergänzend die herrschenden Wertvorstellungen der Inner Party hinzu. Der Appendix systematisiert die Theorie der Sprachkontrolle. Exkurse, Wiederholungen und retardierende Einschübe weichen bei Piaton teilweise die Systematik des Aufbaus auf, sind aber ganz bewußt gestaltet und dienen didaktischen Zwecken, so z.B. das sokratische Zögern zu Beginn von Buch V (Rep.449a-451b), das Bild der drei Wogen (Rep.457b-d, 472a) oder die Abschichtung zwischen Wächterstaat (Buch II-IV) und Philosophenstaat (Buch V-VII). Ebenso schildert Orwell erst zwanglos einzelne, verstreute Lebensbereiche, bis er im Goldstein-Buch und im Appendix seine Aussagen konzentriert darstellt. Desweiteren oft in Utopien anzutreffende Präsentationstechniken und Stilfiguren sind satirische Elemente wie Ironie, Humor; aktuelle politische Anspielungen, starke Kontraste und Paradoxa 12. Die satirische Darstellungstechnik eignet sich in Utopien besonders gut dafür, kritisierte Verhältnisse übertreibend, verfremdend oder verzerrend bloßzustellen. Die Erkennbarkeit derartiger Passagen und Anspielungen kann allerdings durch die Indirektheit der satirischen Präsentation, z.B. in Form der Ironie, gerade mit zunehmendem Zeitabstand für den Leser erschwert werden 1 3 . Bei Piaton finden sich satirische Textabschnitte zumindest in den Darstellungen des Thrasymachos, des Schweine- sowie des üppigen Staats (Rep.

Erzgräber, Utopie 30f.; Gilbert Highet, The anatomy of satire, Princeton 1962, 18,172; Seeber, Wandlungen 8-11,222f. "Vgl . am Beispiel des platonischen Menexenos: Highet 137f.

1. Textart, Darstellungsform und utopische Stilmittel

43

372c-e) und des Staatenverfalls in Buch V I I I - I X , wobei Piaton v.a. in den zuletzt erwähnten Passagen sehr treffend die Laster der jeweiligen Staatsformen am Beispiel des ihnen entsprechenden, überzeichneten Menschentypus aufzudecken vermag. Orwell läßt schon den Protagonisten Winston als satirische Figur auftreten, die eine - auch körperliche - Übersensibilität für die Häßlichkeit und Verlogenheit des Systems entwickelt 14 . Sodann finden sich zynische Euphemismen wie joycamp für Arbeitslager (NEF 423), die beschönigenden Bezeichnungen Victory Gin, Victory Cigarettes (NEF 160), und Victory Coffee (NEF 199), ferner satirische Attacken auf die Wissenschaftssprache und Tendenzen des Amerikanischen mittels der Theorie von Newspeak und auf den Mißbrauch von Religion zum Zweck von Machtpolitik (Big Brother als "My saviour", N E F 170), ganz zu schweigen vom satirischen Seitenhieb auf die konservative Zeitung Times (NEF 189), die als parteitreues Blatt in Ozeanien erscheint 15 . Gekrönt wird diese Darstellungsart durch die auf skrupellose Herrscher und übertriebene Systemhierarchie gemünzte satirische Überspitzung 16 : "Power is not a means, it is an end. ...The object of power is power" (NEF 386). Ironische Textstellen weist bei Platon am deutlichsten Buch I auf, so bei der Charakterisierung des später kritisierten Dichters Simonides als klug und göttlich (Rep.331e), beim selbstgefälligen Auftreten des Thrasymachos, der durch seine Rede glänzen will und Lob erwartet (Rep.338a-c), oder beim Zittern und Bangen des Sokrates nach dem Erscheinen dieses Sophisten (Rep.336d-337a). Doch Ironie findet sich auch in späteren Passagen, z.B. bei der Begründung "notwendigen" Imports und Exports (Rep.370e371a) bzw. dem Bedürfnis nach Händlern und Seefahrern im neuen Staat (Rep.371a-b), weil klar ist, daß Piaton den Seehandel und die damit verbundenen Berufe als Anzeichen des Staats- und Sittenverfalls bewertet (vgl. Criti.H7e; Leg.704d). Orwells Ironie zeigt sich besonders gut an der Bezeichnung der vier Ministerien (NEF 159f.,344): dem Ministry of Truth , das sich der Propaganda und Geschichtsfälschung widmet und daher sinnvollerweise Minitrue genannt wird (was wiederum die wahre Bedeutung der Tätigkeit trifft), dem Ministry of Peace ( Minipax ), dem ÄTiegyministerium, weiterhin dem furchterregenden, fensterlosen und scharf bewachten Ministry of Love {Miniluv, Sitz der Geheimpolizei) und dem Ministry of Plenty (Miniplenty, befaßt mit der ^Ausführlich Seeber, Wandlungen 220-222. Willi Erzgräber, George Orwells Nineteen Eighty-Four zwischen Fiktion und Realität, in: Horst Neumann / Heinz Scheer (Hrsg.), Plus Minus 1984. George Orwells Vision in heutiger Sicht, Freiburg 1983,11-37 (21-24). 15

16

Bernard Crick, Einleitung zu: George Orwell, Nineteen Eighty-Four, Einl. u. Anm. Bernard Crick, Oxford 1984,1-154 (10,122).

44

C. II. Darstellungstechnik und formale Aspekte

künstlichen Eindämmung des wirtschaftlichen Wachstums). Eine zynische Form von Ironie liegt in den religiös gewendeten Schlußsätzen, die Winstons Zustand nach der monatelangen Folterung kommentieren: "everything forgiven, his soul white as snow. ...He had won the victory over himself. He loved Big Brother" (NEF 416). Humor beweist Platon bei der Schilderung von Charakteren wie denen des kleinen, glatzköpfigen Schmieds (Rep.495e) und des fetten, geldgierigen Oligarchen (Rep.556d) oder bei der Darstellung der Demokratie als eines "Warenhauses der Verfassungen" (Rep.557d) und eines Orts höchster Freiheit, selbst der Pferde und Esel (Rep.563c), Orwell beispielsweise bei der Zeichnung des schwitzenden, stinkenden und übertrieben kumpelhaften Mr. Parsons (NEF 204f.). Die aktuellen politischen Anspielungen - so spricht Piaton u.a. im Demokratenkapitel mit Blick auf Athen von der Hochburg (Akropolis) der Seele (Rep.560b) - werden bis in die Namensgebung hinein durchgestaltet. Thrasymachos bedeutet "übermütig Kämpfender" und stellt eine Charakterisierung der gesamten Sophistenbewegung mitsamt ihrem Bedrohungspotential aus Piatons Sicht dar. Orwell spielt mit der Namensgebung Winston Smith einerseits auf den gegen totalitäre Systeme kämpfenden Winston Churchill an, andererseits soll Smith einfach für den normalen Bürger als Betroffenen stehen. Julia erinnert an Shakespeares klassisches Liebesdrama, der irische Name O'Brien verweist kritisch auf die katholische Kirche, der Widerstandsführer Goldstein deutet auf Leo Bronstein (Trotzki) und dessen Kritik am Sowjetsystem hin, und die Figur des allgegenwärtigen, schnurrbärtigen Big Brother läßt an Stalin denken 1 . Die satirisch-utopische Wirkung verstärken Gestaltungsmittel wie Paradoxa und Kontraste. Als Paradoxa finden sich Konstruktionen wie Ministry of Peace ( Minipax ) oder Ministry ofTruth 1^, bei Platon etwa die ungewöhnliche und langer Erklärungen bedürftige Figur des "Philosophen-Königs" (ab Rep. 473d). Starke Kontraste verwendet Piaton beim Übergang vom Idealstaat zu den Verfallsformen bis zur abscheulichen Tyrannis (Buch V I I I - I X ) , ferner als Gegensatz von Höhle und Licht im Höhlengleichnis und anläßlich der Behandlung guter und schlechter Seelen im Er-Mythos. Ähnliche Kontrastwirkungen erzielt Orwell in der Verhaftungsszene, die den Übergang von der Idylle zum Terror bildet (NEF 345-351), weiterhin anläßlich der verschiedenen Foltermethoden O'Briens ("He was the tormentor...he was the friend", N E F 369) und beim Wechsel vom Höhepunkt der Folter zur schein-

17

Erzgräber, Fiktion 18,24,27; Lange 72.

18

Highet 172.

1. Textart, Darstellungsform und utopische Stilmittel

45

bar idyllischen Schlußszene (Teil III, Kap.5-6). Dadurch erhöht sich die Wirkung auf den Leser beträchtlich. Abschließend läßt sich zum ästhetischen Gehalt anmerken, daß beide Werke einen kunstvollen äußeren wie inneren Außau aufweisen. So ist die Politeia nach den Gestaltungsprinzipien der Harmonie, Symmetrie und zahlenmäßigen Proportion genauestens ausgewogen, bis hin zur Tatsache, daß der inhaltlich zentrale Philosophen-Königs-Satz die genaue Mitte des Werks bildet 1 9 . Auch Orwell gestaltet Nineteen Eighty-Four nach einem strengen Bauplan, der in seinen drei Teilen mit einem dreiaktigen Drama vergleichbar ist, einer Tragödie 2 0 . Diese drei Teile lassen sich in ihren Schwerpunkten nach dem Schema Alone-Together-Apart (bezüglich der Liebesbeziehung), Vergangenheit-Gegenwart-Zukunft, oder Winston-Julia-O'Brien (Bedeutung der Personen) ordnen. Die dialektische Struktur dieses Aufbaus zeigt die sorgfältige Gestaltung des Romans 2 1 . Diese dialektische Struktur läßt sich auch in Buch I der Politeia finden, nämlich bei der Gesprächsabfolge Kephalos-Polemarchos-Thrasymachos und der Qualität ihrer Positionen, sowie im gesamten Dialog anhand der Beziehung Glaukon/Adeimantos-Thrasymachos-Sokrates, wobei Sokrates als Synthese zwischen der Tradition und der radikalen Kritik zu verstehen ist. Auch die Dreierfolge Idealstaat-Verfallsformen-Jenseitsvorstellung ist mit der Entwicklung von Teil I bis I I I in Nineteen Eighty-Four vergleichbar: Beide Werke enden - nach den Stufen der Begründung und Zerstörung - im "Religiösen" (vgl. die Schlußsätze bei Orwell, s.o.S.44, und Piatons Er-Mythos). Sodann lebt jedes der beiden Werke künstlerisch von seinen weiteren Stilmitteln und dem hohen sprachlichen Niveau. Die Politeia ist bis in die Bedeutung der einzelnen Partikel hinein genau ausgestaltet und überaus dicht mit Vergleichen, Metaphern, rhetorischen Fragen und zentralen Motiven besetzt 2 . Genauso überrascht bei Orwell die Dichte von Anspielungen, Symbolen (der Briefbeschwerer, welcher für die Vergangenheit sowie für Winstons Traumwelt steht und bei der Verhaftung zerschmettert wird (NEF 238f.,350), die abscheulichen Ratten (NEF 404-407) und der ein menschliches Gesicht zerstampfende Stiefel, N E F 390) und Leitmotiven (der Kinder19

Ausführlicher Vretska 23,39-49, v.a. 47. Krause 538.

20

21 Genauer Hans-Joachim Lang, Orwells dialektischer Roman - Nineteen Eighty-Four, in: Wolfgang Ritzel (Hrsg.), Rationalität - Phänomenalität - Individualität, FS Hermann u. Marie Glockner, Bonn 1966,301-341 (338f.). 22

Vretska 27, vgl. die Auflistung 641-643.

46

II. Darstellungstechnik und formale Aspekte

reim (NEF 241,311), das Lied der Waschfrau (NEF 278,346) und Sätze der Hoffnung oder Verzweiflung wie "If there is hope... it lies in the proles" (NEF 216,227), "two plus two make four" (NEF 226,374), "We are the dead", N E F 273,308,34s)23. Insgesamt lassen besonders die untersuchten Stilmittel, Themen und Einzelmotive auffällige Parallelen in beiden Werken erkennen, die v.a. durch die gemeinsame Zugehörigkeit zur Gattung Utopie zu erklären sind.

2. Metaphorik Interessante Parallelen ergeben sich aus der Betrachtung der Metaphorik in beiden Werken, wobei im Rahmen dieser Untersuchung die Differenzierung zwischen den rhetorischen Formen Metapher, Allegorie, Vergleich und Gleichnis wegen ihrer vergleichbaren Abbildfunktion unberücksichtigt bleiben kann 2 4 . ΛΓ

Auffällig ist erstens eine Fülle von Tiermetaphern , die zumeist positiv auf Beispiele aus der Natur verweisen, teils aber auch negativ bzw. abwertend und bedrohlich gebraucht werden. In positiver Absicht bedient sich Piaton der Bilder von Haustieren, um aus der Natur seine Vorstellungen von Herrschaft, Erziehung und Eugenik abzuleiten (Philosoph als Bienenkönig (Rep. 520b), als Hirte von Tieren (Rep.345c-d) oder Imker (Bienenvater, Rep. 564c), Mann und Frau gleichwertig wie Hund und Hündin (Rep.451d), Wächter als Jagdhunde, mutvolle Pferde (Rep.375a-b) und Gehilfen des Hirten (Rep.440d), der zweite Seelenteil als Löwe (Rep.588d), Hirten als Erzieher der Hunde (Rep.416a), zu erziehende Jünglinge als an den Kampfeslärm zu führende Fohlen (Rep.413d) und als Hunde, die vom Blut kosten dürfen (Rep.537a), Pferde, Jagdhunde und edle Hähne als Zuchtbeispiele, Rep.459a-b). Eine abwertende Metaphorik benutzt Piaton bei der Darstellung der Triebwelt, die in unkontrollierter Form zur Bedrohung wird (Schweinestaat (Rep.372d), reiche Männer als fette, zarte Schafe (Rep.422d) und nichtsnutzige Drohnen (Rep.552c), sich in Unwissenheit wälzende Schweine (Rep. 535e), in der Demokratie ungehemmt umherschreitende Pferde und Esel (Rep.563c), der dritte, triebhafte Seelenteil als vielköpfiges, bedrohliches Ungetüm aus wilden und zahmen Tieren, Rep.588c-590b). 23

Vgl. Erzgräber, Utopie 196f.; Lang, Roman 331-340.

^Vgl. ähnlich: Peil 14f. ^Zur Dichte an rhetorischen Mitteln in Utopien, speziell Tiermetaphern: Seeber, Wandlungen 37,73-78; vgl. auch Erzgräber, Utopie 30f.

2. Metaphorik

47

Orwells Tiermetaphern müssen vor dem Hintergrund seiner Wertschätzung der Natur gesehen werden, die auch in der Darstellung der Landschaftsidylle und von Julias schönem Körper zum Ausdruck kommt (NEF 257-265). Sie spiegelt sich in einer gewissen Bewunderung für die noch natürlichen, instinktverwurzelten, unverfälschten proles wider, die wie Tiere beschrieben werden ("Proles and animals are free" (NEF 218), "The birds sang, the proles sang, the Party did not sing" (NEF 348), "people swarmed in astonishing numbers - girls in full bloom...and youths who chased the girls" (NEF 227), "They needed only to rise up and shake themselves like a horse shaking off flies", N E F 216). Insbesondere wird der Sexualtrieb als positiv angesehen ("the animal instinct, the simple undifferentiated desire: that was the force that would tear the Party to pieces", N E F 265). I n dieser Hinsicht stehen die Tiermetaphern für eine ursprüngliche - im Gegensatz zu Piaton betont instinktbezogene - Natürlichkeit, die zur Quelle der Hoffnung und des Widerstands gegen ein denaturiertes Oppressionssystem wird. Oft verwendet Orwell aber auch Tiermetaphern in abwertender Absicht, wenn er die entmenschlichende Wirkung des Systems demaskierend demonstrieren will, v.a. bei der Charakterisierung von Personen (Goldstein als blökendes Schaf (NEF 169), ein angepaßtes Parteimitglied als quakende Ente (NEF 199), ein anderes als kleiner, häßlicher Käfer (NEF 208) und Mr. Parsons als Person "with...a froglike face" (NEF 204) oder "with the stupidity of an animal" (NEF 207), sein Haus als Wohnort eines "large violent animal" (NEF 174), schließlich die proles als Menschen mit dem Erkenntnishorizont von Ameisen, NEF 236). Die Ratte dient als Symbol existentieller Bedrohung ("Of all horrors in the world - a rat", N E F 281, vgl. später N E F 404407). Die Einstellung des Staats zur künftigen Kindererziehung und sein Verhältnis zu den Bürgern werden durch Vergleiche mit der Behandlung von Tieren verdeutlicht: "Children will be taken from their mothers at birth, as one takes eggs from a hen" (NEF 389) bzw. "the Thought Police had watched him like a beetle under a magnifying glass" (NEF 398). Eine weitere Parallele liegt in der Verwendung einer ausgeprägten LichtDunkel-Metaphorik durch beide Autoren. Bei Piaton führt das Licht zur Erkenntnis der Gerechtigkeit (Rep.427d); im Sonnengleichnis werden das Licht und die Sonne in der Welt des Sichtbaren mit der Wahrheit und der Idee des Guten in der Welt des Erkennbaren gleichgesetzt (Rep.508b-e). Der Aufstieg vom Dunkel zum Licht wird am deutlichsten im Höhlengleichnis, wo der Weg der Erkenntnis im Dunkel, bei den Schatten der Höhle beginnt und sich über das Feuer in der Höhle und die Schatten der hellen Außenwelt bis zum Betrachten der Sonne selbst fortsetzt, die der Idee des Guten entspricht. Dieser Prozeß ist schmerzhaft (Rep.515c-516a) und schwierig, aber im Rahmen der Erziehung zur wahren Erkenntnis notwendig.

48

C. II. Darstellungstechnik und formale Aspekte

Auch im Er-Mythos findet sich ein solcher Kontrast zwischen dem schmutzigen, furchtbaren Schlund der Unterwelt (Rep.614d,615d-616a) und dem reinen, prächtigen Licht des Himmels (Rep.616b-c), beide als Strafe oder Belohnung Konsequenzen der irdischen Lebensführung. Ebenso wird Nineteen Eighty-Four von Schwarz-Weiß-Kontrasten geprägt, nämlich vom Gegensatz zwischen der grauen, staubigen, kalten Welt von Ozeanien (NEF 157f.) und Winstons warmem, lichterfüllten, sonnigen Golden Country (NEF 182) bzw. der Naturidylle von Teil I I (NEF 257f.,262f.; vgl. dazu auch die Schilderung von Julias Körper, der weiß in der Sonne glänzt, N E F 264). Der "Aufstieg zum Licht" über einen schmerzlichen und grausamen Erziehungsprozeß kehrt in der Folterung und Umerziehung Winstons im Ministry of Love wieder, dem "place where there is no darkness" (NEF 178,369), in welchem wegen des ewigen elektrischen Lichts weder Tages- noch Jahreszeiten erkennbar sind (NEF 353,358). Allerdings arbeitet Orwell im Schwarz-Weiß-Bild teilweise auch mit satirischen Verschränkungen, denn hinter Winstons "wall of darkness" (NEF 281) steht nicht die Erlösung, sondern lauern die Ratten, Folterwerkzeuge in Raum 101 und Symbole der Finsternis; so ist auch das "ewig helle" Ministerium fensterlos (NEF 160,358) und befindet sich Raum 101 tief unter der Erde, fern vom Sonnenlicht (NEF 403). Dementsprechend beginnt der Roman im April, die Liebesromanze liegt im Sommer, während die Folterungen im Ministerium in den Winter fallen 2 6 . Der Weg zur "wahren Erkenntnis", zu doublethink , bedeutet also im Grunde die Entfernung vom Licht, die Beseitigung vernünftiger Erkenntnis, des common sense (NEF 225), zugunsten der völligen Unterordnung unter das System um des eigenen Überlebens willen; damit wird das Parteimotto "IGNORANCE IS STRENGTH" (NEF 159,315) vollauf bestätigt. Die Schwarz-Weiß-Symbolik als Bezeichnung von Gut und Böse (NEF 409) findet sich, zumeist satirisch verkehrt, in der Beschreibung von Big Brother ("the black-moustachio'd face...the dark eyes looked deep", N E F 158), in der Technik von blackwhite (NEF 341), welche fordert, man solle stets bedingungslos der Partei und ihren Geschichtsfälschungen glauben sowie neue Doktrinen loyal vertreten, und im Schachspiel, dem die Truppenbewegungen der Kriegspropaganda entsprechen und bei dem Weiß stets siegt (NEF 408f.); ironischerweise fällt übrigens Winston bei der Mitteilung des ozeanischen Sieges der weiße Springer aus der Hand (NEF 415) 2 . Ebenso ironisch wird am Ende das Bild vom schwarzen Bart des Big Brother

Chronologie: Erzgräber, Utopie 195. ^Seeber, Wandlungen 230f.

2. Metaphorik

49

mit der weißen Seele des "geheilten", durch einen sonnigen, weißen Korridor schreitenden Winston verbunden (NEF 416). Ergänzend zur Lichtmetaphorik erweist sich das Auge als wichtigstes Organ der Erkenntnis. Bei Piaton ist es das sonnenhafteste Organ (Rep.508b), das mit Hilfe des Lichts im Bereich der Sinnenwelt zur Erkenntnis gelangt. I n der Welt des Erkennbaren entsprechen dem Auge der Verstand, dem Licht die Wahrheit (Sonnengleichnis). Orwell benutzt die Metapher des Auges für die Optik der Herrschaft: "BIG B R O T H E R IS W A T C H I N G Y O U " (NEF 157); der stechende Blick des Staatsoberhauptes und die allgegenwärtigen, zugleich sendenden und empfangenden Televisoren verdeutlichen die Totalität der Überwachung. Parteifunktionäre tragen oft eine Brille (O'Brien, Mr. Charrington und selbst Winston während der Fälschungsarbeit, NEF 165,188,237), während die proles den Blickhorizont von Ameisen haben ("They were like the ant, which can see small objects but not large ones", NEF 23Ó) 28 . Dieser Deutung entspricht, daß Winston und Julia nach ihrer Folterung ausdruckslose, erloschene Augen haben (NEF 413). Ein weiteres verwendetes Bild ist das des Staats als eines Individuums und Organismus. Piaton vergleicht die drei Seelenteile mit den drei Ständen im Staat (Rep.440e-441a, auch Bild vom Seelentier, Rep.588b-590d i.V. mit Rep.591e) 9 , und die Verletzung eines Körpergliedes, des Fingers, mit der eines Mitglieds des Staats (Rep.462c-e), ganz zu schweigen vom Bild des Bienenstaats (Rep.564c). Konsequenzen dieses Vergleichs sind eine klare Hierarchie und die völlige Unterordnung des einzelnen unter das Gesamtwohl bzw. unter den Willen der Herrscher (s.o. S.29f. mit Anm.5). Ebenso versteht sich die Gesellschaft von Ozeanien: "Can you not understand, Winston, that the individual is only a cell? The weariness of the cell is the vigour of the organism. Do you die when you cut your fingernails?" (NEF 387). Dort stellen die Inner Party das Gehirn, die Outer Party die Hände des Staatsorganismus dar (NEF 337). Aufschlußreich sind schließlich noch die Metaphern zur Rolle der Herrscher im Staat. Außer als Hirte, Steuermann (Rep.341c-d) und Bienenvater erscheinen die platonischen Philosophenherrscher als Götter oder zumindest göttliche Menschen (Rep.497c,500c,540b-c), die nach dem Tod als solche zu verehren sind. Umfangreiche religiöse Bezüge enthält auch Nineteen Eighty-Four , wo Big Brother wie ein Gott angebetet wird ('"My saviour!\..she

28

Lange 48-52,63f.

29

Zur Verbindung des Gleichnisses vom Seelentier mit dem Organisationsgedanken des Staats: G. Müller, Dialog 22. 4 Otto

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C. II. Darstellungstechnik und formale Aspekte

was uttering a prayer", N E F 170). Der folternde Inquisitor (NEF 369) O'Brien versteht sich und die Inner Party als "the priests of power" (NEF 387), also diejenige Herrscherschicht, der in der Politeia die göttlichen Philosophen entsprechen. Insbesondere wird aber das Bild des heilenden Arztes bemüht, der zum Wohl des Patienten mit fachlicher Autorität alles Notwendige anzuordnen vermag. Damit wird der organologische Charakter des Staats verdeutlicht, ferner die Tatsache, daß der Staat einer hierarchischen Ordnung bedarf, in der der Bürger den Herrschern absoluten Gehorsam schuldet 30 . So irrt bei Piaton der Arzt als Fachmann nie (Rep.340d); er darf notfalls dem Kranken gegenüber Lügen als Arznei verwenden (Rep.389b) und ihn "säubern", indem er Schlechtes hinausschneidet (Rep.567c); das Gleichnis vom heilenden und erziehenden Arzt verweist direkt auf den Philosophenherrscher (Rep. 389b-c). I m Vergleich entspricht dem kranken Körper die kranke, unwissende Seele (Rep.604c-d), die durch Erziehungsmaßnahmen der Herrscher zu heilen ist. Ebenso wird in Ozeanien O'Brien als Arzt und Lehrer (NEF 371) tätig; er "heilt" den seelisch kranken Winston im Ministry of Love von seinem "abnormen" Individualismus ("Shall I tell you why we have brought you here? To cure you! To make you sane!", NEF 377). Nach beinahe völliger physischer sowie durch Hirnelektroschocks psychischer Zerstörung ist Winston "gesund" ("the final, indispensable, healing change", NEF 415), nämlich zum Widerstand unfähig, systemkonform ("Sanity was statistical", NEF 398). Der Arzt O'Brien verwendet zur Heilung - wie die Herrscher der Politeia - Täuschungen, denn er lockt Winston in eine Falle (NEF 301-311,369) und "säubert" dann sein Opfer ("Everyone is washed clean", N E F 379). Orwell weist aber auch satirisch auf die wahre Sachlage hin, auf die Verrücktheit des machtbesessenen O'Brien ("lunatic intensity", "lunatic enthusiasm", N E F 377,379). Winstons körperlicher Gesundheitszustand (die Magerkeit, das Krampfadergeschwür und der Husten, NEF 157,183) ist zunächst Symbol für seine Seelenverfassung - Winstons Leiden verschwinden durch die wohltuende Liebesbeziehung (NEF 286) und tauchen im Folterkeller wieder auf (NEF 393f.) -, aber am Ende ist er ironischerweise frei von Beschwerden, also "geheilt" von allergischen Reaktionen gegen seine Umwelt (NEF 408). Einen nicht derart satirisch verfälschten Indikator für Winstons Verfassung bildet die Abhängigkeit vom Victory Gin. Z u Beginn trinkt er dieses Gebräu gelegentlich (NEF 160), während seiner Liebesbeziehung überhaupt nicht mehr (NEF 286), und am Schluß muß der Kellner beständig nachschenken (NEF ^Peil 481-488; Fritz Wehrli, Der Arztvergleich bei Platon, MH 8 (1951) 177-184 (183).

1. Organisation des Gemeinwesens

51

407f.,416): Winston wird zum Alkoholiker - Zeichen seines wirklichen Seelenzustands. Zusammenfassend betrachtet weisen beide Werke trotz der unterschiedlichen Textarten viele detaillierte formale Gemeinsamkeiten auf, die Darstellungsweise, Stilmittel und Motive bis hin zur auffällig ähnlichen Metaphorik betreffen und auf die gemeinsame Gattung Utopie sowie auch inhaltlich auf sehr ähnliche Systementwürfe hindeuten.

III. Gemeinsame Strukturen 1. Organisation des Gemeinwesens a. Soziale Gliederung und Staatsaufbau Die Staatswesen der Politeia und von Nineteen Eighty-Four lassen sich als streng gegliederte, hierarchische Klassengesellschaften charakterisieren, die jeweils drei Stände - und am Rande noch die Sklaven - enthalten. Bei Piaton bestehen die drei Klassen aus dem Philosophenstand, dem Wächterstand und dem Erwerbsstand, bei Orwell aus der Inner Party, der Outer Party und den proles . I n beiden Fällen richtet sich die Zugehörigkeit zu einer dieser Klassen nicht etwa nach ererbten, übertragenen Standespositionen, sondern im Prinzip nach individuellen, intellektuellen Fähigkeiten, die sich im Rahmen eines Erziehungs- und Ausleseprozesses herauskristallisieren. I n der Politeia wird diese Klassengliederung begründet aus dem Streben des Menschen nach Gemeinschaft, seiner mangelnden Autarkie, die zur Bildung des Staats führt, und aus dem daraus resultierenden Prinzip der A r beitsteilung, das den Staat bestimmt (Rep.370b-c). Arbeitsteilung ist deshalb nötig, weil die Begabungen der Menschen nicht gleichmäßig, sondern - nach dem Bild des Metallmythos (Rep.414c-415c) - in Form von goldenen, silbernen und erzenen Begabungen unterschiedlich verteilt sind. Nach dem platonischen Seelenmodell sind zwar in jedem Menschen - auch bei Angehörigen des dritten Standes - alle drei Seelenteile vorhanden, aber es überwiegen im Individuum entweder die Vernunft, der Mut oder die Triebe. Ebenso zeichnen sich im Staat die Herrscher durch Weisheit (Rep.428e-429a), die Wächter durch Tapferkeit (Rep.429b-c) und die Erwerbsbürger v.a. durch die Triebbeherrschung und innere Ordnung, also die Besonnenheit aus (Rep. 389d-e), wobei den jeweils höheren Ständen die Grundtugenden ebenfalls

4*

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C. III. Gemeinsame Strukturen

zukommen, d.h. den Philosophen auch Tapferkeit und Besonnenheit, den Wächtern auch Besonnenheit (Rep.389d,427e-431b,435b-c). Aus dem Prinzip der Arbeitsteilung ergibt sich nun für Piaton, daß jeder diejenige Aufgabe im Staat zu erfüllen hat, zu der er am besten befähigt ist; nur dann - bei der Erfüllung der einem jeden zugewiesenen Aufgabe - läßt sich der Staat gerecht organisieren und verwalten (Rep.433b-434c). I n Nineteen Eighty-Four wird eine Dreigliederung der Gesellschaft als historisch durchgängiges Faktum aufgefaßt und akzeptiert (NEF 335), und aus Gründen der Effizienz und der Stabilität werden die Zuteilung zu diesen Ständen sowie die Organisation der Klassen einem rationalen Prinzip unterstellt. Zur herrschenden Inner Party gehören 2% der Bevölkerung Ozeaniens, zur Outer Party 13%, die restlichen 85% sind proies (NEF 337). A n der Spitze der Staatspyramide - ein Bild, das in der Bauweise der Ministerien wiederkehrt - steht Big Brother, ein aus der Inner Party hervorgegangenes Führungsidol, dessen Gesicht überall auf Postern und Produkten wiederkehrt und jeden Bürger mit seinem stechenden Blick verfolgt. A u f dieses Idol konzentrieren sich v.a. positive Emotionen der Parteimitglieder, und da Big Brother niemals persönlich in der Öffentlichkeit auftritt, kann er ewig als Vaterfigur verwendet werden (NEF 337). Unsterblich ist auch die Einheitspartei (beruhend auf den Prinzipien von Ingsoc, dem English Socialism), die die beiden oberen Klassen zusammenhält und das Leben - Beruf wie Freizeit - vollständig durchorganisiert, bis hin zur uniformartigen Kleidung, den blue Overalls der Outer Party und black overalls der Inner Party (NEF 157, 165). Auch in diesem Staat sind die Mitglieder der obersten Klasse die eigentlichen, durch Intelligenz qualifizierten Staatsführer. Die Outer Party wird dagegen im weiteren Staatsdienst, in den Behörden eingesetzt, während die proles den Erwerbsstand bilden. Betrachtet man die einzelnen Stände näher, so haben die Philosophen Piatons einen langen theoretischen und praktischen Erziehungsweg hinter sich und sind insbesondere in der Dialektik, die zur Ideenschau führt, geschult. Weiterhin verfügen sie über eine Fülle an hervorragenden intellektuellen und charakterlichen Fähigkeiten, wie Liebe zur Wissenschaft, Gedächtnisstärke, Gerechtigkeitssinn und Selbstlosigkeit, die sie für Führungsaufgaben prädestinieren (Rep.485a-487a). Durch diese Eigenschaften, die Ausbildung und staatliche Sicherungsmechanismen wie Eigentumslosigkeit oder die Auflösung der Familie soll der Mißbrauch von Macht verhindert werden. Auch in Ozeanien werden die Mitglieder der Inner Party auf der Grundlage besonderer Begabung aus der Masse ausgelesen und speziell geschult. Sie zeichnen sich u.a. durch eine brillante Rhetorik (so ein Festredner, N E F 312f.), umfangreiches Wissen, besondere Selbstbeherrschung und den perfekten Gebrauch von doublethink aus (ersichtlich an der Person von

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O'Brien, v.a. in Teil III). Auch hier wird durch institutionelle Vorkehrungen wie Eigentumslosigkeit, durch intensive Kontrollen und durch Auslese und Schulung der Führungskräfte jeglichem gegen das System gerichteten Machtmißbrauch vorgebeugt. Bei Piaton wie Orwell spielt die weitgehende Unabhängigkeit des herrschenden Standes von den Trieben eine gewichtige Rolle. So sind die Philosophen Meister der Selbstbeherrschung und lassen sich durch ihre Vernunft, den höchsten Seelenteil, lenken, und zwar so sehr, daß sie aus Liebe zur Wissenschaft nur ungern Regierungsverantwortung übernehmen. Daher bieten sie die Gewähr dafür, nie dem individuellen Glück, sondern stets dem Wohl der Gemeinschaft den Vorrang einzuräumen (Rep.519c-520a). Auch O'Brien, bei Orwell der eigentliche Repräsentant der Inner Party, ist ein Meister der self-discipline (NEF 373); z.B. wird er während des Two Minutes Hate , einer emotionsgeladenen Propagandaveranstaltung, nur ein wenig rot, während die anderen Zuhörer bereits in Ekstase verfallen (NEF 168). Da beide Systementwürfe vom Bild des idealen Herrschers ausgehen, entfällt die Notwendigkeit institutioneller Gewaltenteilung im Staat sowie überhaupt die Trennung zwischen Staat und Gesellschaft; den Herrschern kommt eine absolute Machtstellung zu (NEF 328). Piatons Wächterstand durchläuft - zunächst gemeinsam mit den Philosophen - die Stufen der musischen und gymnastischen Erziehung und muß die Gewähr dafür bieten, daß von ihm keine Gefahr für den Staat ausgeht (Rep. 416a). Die Wächter müssen charakterlich integer, insbesondere aber tapfer und körperlich gestählt sein. Was die Philosophen von ihnen unterscheidet, ist deren Befähigung zur vertieften wissenschaftlichen Beschäftigung (Rep. 485b), namentlich mit der Dialektik. Die Aufgabe der Wächter besteht dagegen in der Aufrechterhaltung der inneren und äußeren Sicherheit, v.a. im erfolgreichen Kampf gegen äußere Feinde (Rep.415e). Orwells Outer Party reicht von intelligenten Spezialisten wie Winston oder dem Linguisten Syme bis zu dümmlichen Figuren wie Mr. Parsons, der aber immerhin Organisationstalent für Freizeitaktivitäten beweist (NEF 174f., 188-190,199f.). Sie besteht also nicht überwiegend aus Soldaten - davon gibt es nur recht wenige -, sondern aus an allen Verwaltungsstellen des Systems für einigermaßen gehobene Tätigkeiten verwendeten Angestellten und Technikern. Dabei wird jeder seinen Fähigkeiten entsprechend möglichst sinnvoll eingesetzt (vgl. N E F 194). In beiden Systementwiirfen fällt auf, daß besondere Sicherungsmaßnahmen und Organisationsprinzipien nur für die beiden höchsten Klassen gelten, so die Eigentumslosigkeit (Rep.417a; NEF 335), die Eugenik (Rep.460c; N E F 208) und die weitgehende, anfangs für beide Stände gemeinsame Schulung

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und Erziehung; zudem sind sie räumlich weitgehend von der dritten Klasse getrennt (Rep.415d-e; N E F 217,228; in Ozeanien führt dies bis zu separaten Kinoplätzen, N E F 163). Bei Piaton ist die Frauen- und Kindergemeinschaft auf diese Stände begrenzt (Rep.423e-424a,451c-d), bei Orwell fallen nur diese Klassen unter den absoluten Organisations- und Überwachungsanspruch der Partei, der sich z.B. in der Regelung des Familienlebens und der Eheschließung oder dem beständigen Leben unter den Televisoren konkretisiert (vgl. N E F 217f.,339). Die jeweiligen dritten Stände unterliegen also einer Vielzahl von Regelungen nicht, d.h. ihnen kommen gegenüber den beiden oberen Ständen gewisse Freiräume zu. Dennoch erhebt Piaton gegenüber den Bauern, Handwerkern und Kaufleuten den Anspruch, daß sie durch Besonnenheit den bei ihnen dominierenden triebhaften Seelenteil zügeln (Rep.389d-e). Dem dritten Stand obliegt als Erwerbsstand zudem die Aufgabe, für die materielle Lebensgrundlage des Staats zu sorgen (Rep.416d,463b). Dabei läßt sich eine gewisse Ambivalenz bei der Charakterisierung dieses Standes durch Piaton feststellen. Einerseits steigen im Metallmythos seine Mitglieder zusammen mit den beiden anderen Ständen aus einer Erde, wenn auch mit erzenen Begabungen, und alle sind Bürger und Brüder im Staat. Diese prinzipielle Gleichheit zeigt sich auch daran, daß die Wächter den Erwerbsstand keineswegs unterdrücken sollen, sondern seinem Schutz und der Ordnung dienen (Rep.416a-d), und weder Wächter noch Philosophen Privilegien genießen, sondern im Gegenteil im Vergleich zum Erwerbsstand persönlichen und materiellen Beschränkungen unterliegen, wodurch sie sich unvoreingenommener dem Staatswohl widmen können (Rep.416d-417b). Andererseits ist unverkennbar, daß sich der dritte Stand im Bereich der Triebe und der niederen Erwerbsarbeiten bewegt, während den beiden höheren Ständen eine gediegene Ausbildung zuteil wird, durch die die Philosophen zu höchsten wissenschaftlichen Vernunftleistungen befähigt sind. Dadurch gelangt jenseits einer bloß funktionalen Arbeitsteilung auch ein ätiologisches Moment in die Unterscheidung der Stände, das seine Entsprechung beispielsweise im Bild goldener und silberner Begabungen gegenüber "bloß" erzenen im Metallmythos findet (Rep.415a). Die proles in Nineteen Eighty-Four schaffen - wie bei Piaton - die wirtschaftliche Grundlage des Staats oder nehmen dienende Funktionen im Staatsdienst ein, wie z.B. das Kantinenpersonal (NEF 199). Sie besitzen gegenüber den Parteimitgliedern ganz außerordentliche - beispielsweise sexuelle und religiöse - Freiheitsräume, werden zudem nur sporadisch kontrolliert und leben meist ohne Televisoren (NEF 217f.).

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Auch bei Orwell wird der dritte Stand sehr ambivalent geschildert. Aus Sicht der Partei gelten die proles fast als Tiere, die lediglich ihren sinnlichen und leicht von der Partei steuerbaren Trieben leben, nämlich Spielen, Sport, Trivialliteratur und Lotterie (NEF 193,230). Wegen des Mangels an jeglicher Erziehung besitzen sie nicht einmal genug kritisches Bewußtsein, um angesichts ihrer zahlenmäßigen Übermacht - revolutionäre Gedanken hervorzubringen (NEF 339), geschweige denn einen Aufstand zu organisieren ("They can be granted intellectual liberty because they have no intellect" (NEF 339), "Proles and animals are free", N E F 218). Daher genügt auch eine nur gelegentliche Überwachung seitens der Thought Police, die die intelligentesten proles ausfindig macht und eliminiert, um kein Gefahrenpotential aufkommen zu lassen (NEF 217f.,338). Aus Winstons Sicht liegt in den Massen mit ihren noch traditionellen Moralvorstellungen hingegen die einzige Hoffnung, das System zu verändern ("If there is hope...it lies in the proles", NEF 216,227), da sie noch natürlich, unverdorben, menschlich (NEF 163,299) und zahlenmäßig klar in der Übermacht sind, während aus der Partei kein organisierter Widerstand erwartet werden kann. Es gilt lediglich, in ihnen das Bewußtsein zum Widerstand zu wecken, sie aus ihrer Lethargie aufzurütteln. Winston stößt allerdings im Gespräch mit einem alten Mann schnell an die Grenzen seines Idealismus (NEF 232-236), und auch ansonsten erweckt Orwell diesbezüglich wenig Hoffnung ("From the proletarians nothing is to be feared", N E F 339). Eine Randexistenz führen in beiden Staaten die Sklaven. I n Piatons Politeia werden sie kaum erwähnt - sie sollen im Staat wie alle Stände ihrer Aufgabe nachkommen (Rep.433d) -, müssen aber als in der antiken Gesellschaft selbstverständlich vorausgesetzt werden 1 . Denknotwendig sind sie allerdings nicht neben dem dritten Stand, der die materiellen Bedürfnisse des Staats deckt. Ähnlich beschreibt Orwell die wenigen Sklaven, die von - an der Grenze des Existenzminimums lebenden - Einwohnern der in den Tropen eroberten Gebiete gebildet werden, nur am Rande. Ihre gesamtwirtschaftliche Bedeutung als Arbeitskräfte ist zu vernachlässigen (NEF 318f.,337). Ein wichtiger Punkt ist die Flexibilität des Systems, nämlich die Frage, inwieweit Fluktuationen zwischen den drei Ständen möglich sind. Nach Piaton spielen nicht die Herkunft, sondern nur Begabung und Leistung eine Rolle; 1 Annas, Republic 171; Erbse, Politeia 183 Anm.9; vgl. auch zum Hintergrund: Jochen Bleicken, Die athenische Demokratie, Paderborn 1988, 71-75. Zum Streitstand um die Existenz der Sklaverei in der Politeia: Çregory Vlastos, Does slavery exist in Plato's Republic?, in: ders., Platonic studies, Princeton 1981,140-146 (v.a. wegen Rep.433d bejahend, 145f.); nur für die Nomoi bejahend dagegen: Levinson 139-195 (v.a. 194); Vretska 549f. Anm.50.

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diese bilden das alleinige Kriterium für den Auf- oder Abstieg. I n letzter Konsequenz können die Kinder von Philosophen dem dritten Stand zugeteilt werden, Kinder dieses Standes mit außerordentlicher Begabung dem Philosophenstand (Rep.415b-c,423c-d). Da die Eigenschaften der Eltern vererbt und durch Eugenik verstärkt werden, dürfte dieser Fall aber selten auftreten, eher dagegen Fluktuationen zwischen Wächter- und Erwerbsstand bzw. Wächter- und Philosophenstand. Auch bei Orwell baut das Klassensystem ausschließlich auf den Fähigkeiten auf, die die beiden oberen Stände unterscheiden und den Aufstieg in die Inner Party ermöglichen; Blutsbande sind durch die verbindende Ideologie ersetzt (NEF 338). Allerdings erfolgt (im Unterschied zur Politeia) eine besonders scharfe, ideologische Trennung von den proles , zu denen kein Parteimitglied degradiert wird und von denen die Fähigsten nicht in die Partei aufgenommen, sondern beseitigt werden. I m Fall einer allgemeinen Degenerierung der Führungsschicht wird aber die Möglichkeit nicht ausgeschlossen, proles zum Wohl der Partei zu rekrutieren (NEF 338). Insgesamt sind beide Staaten streng hierarchisch in je drei Stände mit vergleichbaren Funktionen unterteilt. Beide können als echte Aristokratien bezeichnet werden, i.S. einer Herrschaft der aus der Sicht des Systems Befähigtesten und Intelligentesten. b. Menschenbild und Staatsziele Piaton wie Orwell gehen von einem dualistischen Menschenbild aus, von einem Menschen, der Körper und Geist, Triebe und den Intellekt umfaßt. I n beiden Staatssystemen wird aber an sehr weitreichende Möglichkeiten der Erziehung geglaubt; beide befassen sich ferner mit dem Gedanken der langfristigen Änderung des Menschen durch Mittel der Eugenik. Die Basis der Überlegungen bildet der nicht autarke Mensch, ein Gemeinschaftswesen, das seine wahre Erfüllung erst in der Polis bzw. der Partei findet. Dieses Bild wird im Staat bis zur Konsequenz ausgestaltet, daß der Gemeinschaft der absolute Vorrang vor dem Individuum eingeräumt wird und dieses in ihr im Idealfall ohne Konflikte aufgeht (daher bei Orwell das Parteimotto " F R E E D O M IS SLAVERY": Als Individuum - außerhalb der Bindungen an die Partei - ist der Mensch macht- und wertlos, N E F 159,387). U m dieses Ziel zu erreichen, muß das Individuum zur Kontrolle seiner Triebe, die den Staat zerstören könnten, erzogen werden. Eine völlige Entfesselung der Triebe, deren Freiheit, erweist sich in Wahrheit als höchste Unfreiheit, bei Piaton in Form des zutiefst unglücklichen und zerrissenen Tyrannen (Rep.579d-e), bei Orwell am Beispiel der proles , die aus Sicht der

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Partei ihren animalischen Instinkten verfallen und letztlich Sklaven ihrer Leidenschaften sind. Da beide Staaten sich als ideal verstehen, verwundert es nicht, daß das oberste Staatsziel darin liegt, den status quo aufrechtzuerhalten. I n den Idealstaat der Politeia darf keine ordnungsstörende Neuerung eindringen, sondern alles muß unverändert bewahrt werden (Rep.424b). Die offiziellen Meldungen in Ozeanien von Produktivitätszuwächsen und wissenschaftlichem Fortschritt sowie Parteislogans wie Demokratie und Freiheit (z.B. gegenüber der Unterdrückung und Sklaverei des Kapitalismus, N E F 218-220) verbergen nur, daß es um nichts anderes als die Perpetuierung der gegenwärtigen "Harmonie" und Stabilität geht. Dafür gilt es, Revolutionen zu verhindern und die Qualität der Herrschaftsschicht zu stärken. Dieses wird erreicht durch die Erziehung und die Kontrolle der Triebwelt. Bei Piaton erfolgt dies durch die Eigentumslosigkeit, die Frauen- und Kindergemeinschaft sowie die Zensur von Dichtung und Künsten. Bei Orwell sind die Zensur bereits perfektioniert und die Eigentumslosigkeit verwirklicht; als Fernziele bleiben dem Staat aber noch die öffentliche Kindererziehung, die künstliche Befruchtung, die Abschaffung des Geschlechtstriebs, der Familie, der Dichtung, Wissenschaft, Literatur und Kunst sowie die Perfektionierung der Überwachungsmechanismen und der Sprache (NEF 201,389f.). Damit steht Ozeanien bezüglich seiner Zukunftsziele dem Staat der Politeia teils näher als in der gegenwärtigen Form, teils geht es wiederum - aufgrund der erweiterten wissenschaftlich-technischen Möglichkeiten - weit über die Politeia hinaus. Die Qualität der Herrschaftsschicht läßt sich in beiden Systemen durch Maßnahmen der Eugenik fördern. Insbesondere Piaton entwickelt Täuschungstechniken, um die richtigen Paare zusammenzubringen, und eine Wissenschaft, um die günstigsten Zeugungszeiten zu berechnen (Rep.459ce,546a-d), wobei es ihm auf die Harmonie innerer wie äußerer Werte ankommt (Rep.402d). Ebenso propagiert die Partei in Ozeanien, neben der Förderung von bestimmten charakterlichen Eigenschaften (z.B. Tapferkeit, blindem Gehorsam, Fanatismus, NEF 196f.), das äußere Idealbild eines blonden, großen, sportlichen Parteigenossen (NEF 208). Die Mittel zur Umsetzung der erstrebten Auslese liegen hier - außer in der Ausmerzung nicht genügend angepaßter Bürger - im medizinisch-technischen Entwicklungspotential Ozeaniens, wie der Neurologie oder der künstlichen Befruchtung (NEF 213,389). Allerdings muß im Rahmen der eugenischen Maßnahmen beachtet werden, daß Piaton solchen Techniken durch sein Bild der Hochzeitszahl prinzipielle Schranken setzt (Rep.546a-547a) und den Fortschrittsoptimismus in den Bereich bloßer Idealität verweist, während im Or-

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wellschen System die perfekte Änderung und Kontrolle des Menschen uneingeschränkt in greifbare Nähe rückt (s.u.S.71,lllf.). Neben den Zielen des perfekten, neuen Menschen stehen diejenigen der äußeren und inneren staatlichen Sicherheit zwecks Erhaltung der Stabilität und eine Form von Glücksvorstellung für alle Staatsbürger, die zwangsläufig aus dem Selbstverständnis des Systems als Organismus resultiert. So läßt Piaton aus der Eudaimonia des Ganzen auch die der Individuen hervorgehen, auf Erden wie im Jenseits (Rep.612a-614a, vgl. auch den Er-Mythos). Gleichfalls behauptet die offizielle Doktrin der Einheitspartei Ozeaniens, Sinn und Ziel des Staats sei das Glück seiner Bürger ("the new, happy life", N E F 206), und erwartet von jedermann eine optimistische Grundeinstellung (NEF 183), obwohl letztlich die Machtinteressen der Führungsschicht auf Kosten der allgemeinen Lebensbedingungen die allein ausschlaggebenden Faktoren staatlichen Handelns sind (NEF 321,389f.). I m Ergebnis setzen beide Systeme einen dualistischen, auch triebbehafteten Menschen voraus. Sie reagieren mit rigiden Kontrollen und dem Versuch, einen perfekten, neuen Menschen zu schaffen, der das Staatsziel der glücklichen Stabilität gewährleistet.

2. Mechanismen der Erziehung und Kontrolle a. Erziehungssystem Die für den Erhalt beider Staatssysteme überaus wichtige Organisation der Erziehung bezieht sich nur auf die zwei oberen Stände, also bei Piaton ganz überwiegend auf die Wächter und Philosophen, bei Orwell auf die Parteimitglieder, wobei dort die proles sogar systematisch von jeder Erziehung ausgeschlossen werden, damit sie kein Potential für revolutionäre Veränderungen entwickeln (NEF 339). Zur Logik der Erziehung gehört somit die Erzeugung eines hohen Maßes an Unwissenheit bei bestimmten Bevölkerungsteilen ("a hierarchical society was only possible on a basis of...ignorance", N E F 321). Aus diesem Grund wird in Ozeanien bewußt ein breiter industrieller Fortschrittsprozeß vermieden, der ein höheres Bildungsniveau der proles voraussetzen würde. Vergleichbar mit einer solchen Bildungskontrolle aus Gründen der Stabilität ist - allerdings hier nur auf der Ebene der beiden oberen Stände - Piatons Abwehr von Neuerungen im Erziehungssystem, zwecks Aufrechterhaltung des status quo (s.o.S.57). Piatons Erwerbsstand erhält keine höhere Erziehung (die Ausführungen zur Erziehung ab Buch I I erwähnen bloß den Wächter- und Philosophenstand, z.B. Rep.374d), weil bei ihm die Fähigkeit, aber auch die Notwendig-

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keit für einen Ausbildungsgang wie den der Wächter und Philosophen nicht gegeben sind. Allerdings muß eine in der Politeia nicht explizit erwähnte Basisausbildung oder zumindest Begutachtung aller Kinder vorausgesetzt werden, da nur so eine Aufteilung gemäß ihren Begabungen, die allein maßgeblich für die künftige Standeszugehörigkeit sind, vorgenommen werden kann. Für die Notwendigkeit eines gewissen Erziehungsniveaus spricht v.a., daß auch der dritte Stand mit Besonnenheit und Maß seine Aufgabe im Staat zu erfüllen hat, nämlich die materielle Grundversorgung zu gewährleisten 2 . Innerhalb der ersten beiden Stände greifen im Verlauf der weiteren Erziehung Auswahlmechanismen ein. Beiden Systemen ist gemeinsam, daß die Erziehung bereits bei kleinen Kindern ansetzt und dort auf besonders fruchtbaren Boden fällt, da diese als außerordentlich lernfähig gelten (Rep.536d, 540e-541a). I n der Politeia gelangen Kinder unmittelbar nach der Geburt in staatliche Erziehungsheime und unterliegen der dortigen Aufsicht, d.h. sie werden von den Müttern getrennt, denen ihre Identität auch in Zukunft verborgen bleibt (Rep.460d). Damit wird die Auflösung der Familie und die Einrichtung einer echten Kindergemeinschaft garantiert. In Nineteen Eighty-Four existieren die Familien zwar noch, aber die Kinder werden durch Organisationen der Partei erfaßt, die Spies und den Youth League (NEF 174). Diese können die Kinder ungehindert konditionieren, d.h. sie auf die Parteidisziplin einschwören und gegen ihre Eltern aufhetzen. Die militärisch organisierten Spies werden darauf gedrillt, die Partei, ihre Slogans und Propagandaveranstaltungen begeistert zu unterstützen und allen Ehrgeiz darauf zu richten, eine Verschwörung aufzudecken, um so die Ehre eines child hero zu erlangen (NEF 177,196). Demzufolge leben Eltern in der ständigen Angst, von ihren eigenen Kindern ausspioniert und denunziert zu werden (NEF 177). Frauen werden bei Piaton als prinzipiell gleichberechtigt erachtet und deshalb voll in den Erziehungsprozeß der beiden oberen Klassen integriert. Wächterinnen und Philosophinnen sind im platonischen Staat nichts Ungewöhnliches (Rep.456a,540c). Auch bei Orwell üben die Frauen in der Partei normale Berufstätigkeiten aus und werden entsprechend erzogen. Allerdings liegt eine Besonderheit darin, daß die Partei mit der Ausrottung des Geschlechtstriebs und eines harmonischen Familienlebens bei Frauen außerordentliche Erfolge aufzuweisen hat. V.a. junge Frauen organisieren sich im Junior Anti-Sex League - dessen scharlachrote Schärpe sie zum Zeichen der Abschreckung um die Hüften tragen -, um einen seit der Kindheit allen Parteimitgliedern anerzogenen sexuellen Puritanismus zu propagieren; das Werter, Urathen 294; Maurer, Staat 105f.; zum Streitstand und den einzelnen Textstellen genauer Mayr 43-52.

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Geschlechtsleben wird als bloße, ungeliebte Zeugungspflicht gegenüber der Partei verstanden (NEF 213f.). I n der Politeia beginnt die eigentliche Vorbereitung auf die spätere staatsbezogene Tätigkeit im Knabenalter. Die künftigen Wächter müssen kräftig, mutvoll, aber auch wißbegierig (Rep.376c), ferner äußeren Feinden gegenüber grimmig, doch zu den eigenen Bürgern verträglich sein (Rep.375c). Die auf dieser Begabung aufbauende Erziehung gliedert sich in einen musischen und einen gymnastischen Teil. Die musische Bildung beinhaltet Dichtung und Gesang. V.a. bei der Auswahl der Dichtung sind strenge Maßstäbe anzusetzen. Geeignet sind nur solche Werke, die die Tapferkeit, Besonnenheit und Achtung vor den Göttern stärken (Rep.386a-c). Wegen des angestrebten Ziels der charakterlichen Stärkung können in Dichtung und Musik nur ernste Werke Verwendung finden, damit die Wächter nicht verweichlichen (Rep.398e), sondern zur Tapferkeit angespornt werden. Der Schaffung und Erhaltung eines gesunden Körpers und der Stärkung der Tapferkeit (Rep.410b) dient die Gymnastik, die darüber hinaus i.V. mit der musischen Bildung zur Harmonie der Seele führt (Rep.411e-412a). Nach sorgfältiger Beobachtung von Jugend auf fällt auf die besten Wächter die Wahl zur Fortbildung für das Herrscheramt. Neben Besonnenheit und Tapferkeit müssen sie Verantwortungsgefühl und Standhaftigkeit gegenüber Täuschungen besitzen (Rep.412c, 413c-414a), ferner körperliche Schönheit, Liebe zur Wissenschaft, eine schnelle Auffassungsgabe, ein gutes Gedächtnis und Gerechtigkeitssinn, kurz: sie müssen harmonische Menschen sein (Rep.413e,485a-487a,535a-536b). Der Bildungsgang gestaltet sich folgendermaßen: bis zum 17. Lebensjahr erfolgt die Ausbildung in Geometrie und Arithmetik, danach drei Jahre lang ausschließlich in Gymnastik. I m 20. Lebensjahr findet eine erste Auslese statt, dann folgen die Wissenschaften, v.a. Stereometrie, Astronomie und Harmonielehre. Nach einer zweiten Auslese nähern sich die Philosophen bis zum 35. Jahr vorsichtig der höchsten Wissenschaft, der Dialektik. Darauf übernehmen sie bis zum 50. Lebensjahr praktische Aufgaben im Staatsdienst, um Erfahrungen zu sammeln. Erst danach, sowie nach einer dritten Auslese, dürfen sie sich vollends - wie im Höhlengleichnis beschrieben - der Dialektik widmen und steigen zur Ideenschau auf, müssen aber auch bereit sein, die Bürde der Staatslenkung zu übernehmen (Rep.536d-540b). Die erlesenen Naturanlagen, die Ausbildung in Theorie und Praxis und das strenge Auswahlverfahren sorgen dafür, daß nur die Besten das verantwortungsvolle A m t des Philosophenkönigs bekleiden. Aufgrund ihrer Ausbildung erstreben sie dieses A m t nicht einmal, sondern würden sich lieber ganz der Philosophie widmen; unter Vernachlässigung ihres individuellen

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Glücks übernehmen sie die Aufgabe dennoch um des Allgemeinwohls willen (Rep.519c-520e,540a-b). Bei Orwell spielt die Erziehung eine gleichfalls zentrale Rolle; allerdings erfolgt sie in subtilerer, oft für die Betroffenen unbewußter Weise, und zwar in allen Lebensbereichen. Ein Bereich ist die Zerstörung enger zwischenmenschlicher Beziehungen, so derjenigen zwischen Eheleuten, die bereits deshalb keine wirkliche Partnerschaft knüpfen können, weil ein Komitee gezielt einander unsympathische Kandidaten zusammenführt (NEF 212f.). Weiterhin werden Frauen zur Kälte im Geschlechtsleben erzogen und somit Regungen des Geschlechtstriebs bekämpft (NEF 213). Emotionen wie Wut und Haß, aufgestaut durch die stete Unzufriedenheit mit den primitiven Lebensbedingungen, werden bewußt kultiviert und in Veranstaltungen wie dem Two Minutes Hate oder der Hate Week gegen angebliche Staatsfeinde gekehrt, also für die Aktivierung der Bevölkerung i.S. der Partei instrumentalisiert (NEF 340). A u f den Staat und Big Brother dagegen konzentrieren sich v.a. positive Emotionen wie Liebe oder eine A r t von Geborgenheitsgefühl. Ein anderer Bereich der Erziehung besteht im allmorgendlichen, obligatorischen Frühsport (übertragen und kontrolliert per Televisor, N E F 183, 187f.), mit dem Ziel, zur körperlichen Fitness beizutragen - eine Idee, die derjenigen Piatons entspricht, ebenso wie die beständig vernehmbare, aufmunternde Marschmusik. Über allgegenwärtige Kontrollmechanismen erreicht die Partei ebenfalls einen Erziehungseffekt, der in der Anpassung an das System aus Furcht besteht. Risiken liegen bereits darin, nicht an den organisierten Freizeitveranstaltungen teilzunehmen, sondern ein ownlife zu führen (NEF 226f.). Die Zerstörung der Privatsphäre führt zum erstrebten Aufgehen des einzelnen im Staat. Neigungen dazu, das System zu hinterfragen, werden durch geschickte propagandistische Methoden aufgefangen, durch Slogans, Meldungen über die hervorragenden Leistungen und Erfolge des Staats sowie die systematische Verfälschung und Beeinflussung der Sprache, der Literatur und v.a. der Geschichte. Durch diese Maßnahmen soll die Fähigkeit zur kritischen Distanz gegenüber dem Staatsapparat ausgelöscht werden. Wichtige, früh anerzogene Techniken, die darauf abzielen, Fehlleistungen der Partei zu verdrängen, sind crimestop, eine Art innerer Disziplinierung, die "unorthodoxes", d.h. kritisches Denken von der Wurzel auf verhindern soll, weiterhin blackwhite, die Fähigkeit, zugunsten der Partei verdrehte Fakten ungeprüft zu übernehmen und deren "Wahrheit" loyal zu vertreten, und schließlich doublethink , die vollständige Selbstkontrolle des Gedächtnisses,

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welches alle im Laufe des eigenen geschichtlichen Erfahrungshorizontes erlebten Widersprüche der offiziellen Doktrin gemäß zu bereinigen hat (NEF 340-343). Als äußerstes Mittel der "Erziehung" dienen die Folterkammern im Ministry of Love , in denen Abweichler notfalls mit medizinischen, stets aber zunächst psychologischen Mitteln wieder ins System eingefügt werden, als "perfekte", angepaßte Menschen (NEF 368f.,377). Was die Führungsschicht, die Inner Party betrifft, so erfährt man bezüglich ihrer Ausbildung nur, daß mit 16 Jahren eine Einstufungsprüfung zur Eingruppierung in eine der beiden Parteiklassen stattfindet und auch später noch Korrekturen dieser Entscheidung durch Auf- oder Abstufung möglich sind (NEF 337f.). A m Beispiel von O'Brien zeigen sich die wesentlichen Eigenschaften der obersten Klasse, die überwiegend mit denen von Piatons Philosophen übereinstimmen: Autoritätsausstrahlung, hervorragendes Wissen und ein enormes Gedächtnis, Rhetorik, Selbstbeherrschung, relative persönliche Bescheidenheit (trotz mancher Privilegien), Arbeitseifer, psychologische Fähigkeiten (NEF 376f.,380), staatsmännischer Weitblick, die perfekte Beherrschung von doublethink , die totale Einordnungsbereitschaft unter das System (NEF 387), allerdings auch völlige Skrupellosigkeit und Grausamkeit im Dienst des Staats. Für beide Staaten gilt, daß die Erziehung als Schlüsselfaktor im Ringen um staatliche Harmonie und Stabilität und damit als entscheidendes Machtinstrument erfaßt wird. Je höher der betroffene Stand, desto verhängnisvoller wirkt sich ein pädagogisches Versagen des Staats aus. Die Erziehungstheorien sind dabei stark intellektualistisch ausgerichtet; Wissen und entsprechendes Handeln verlaufen, unterstützt durch Kontrollmechanismen, weitgehend parallel. V.a. die Triebwelt, konkretisiert im Kampf um die Frau, um Eigentum und Herrschaft, wird als entscheidendes Gefährdungspotential angesehen, das es teils durch Instrumentalisierung, teils durch strengste Askese und Kontrollen einzudämmen gilt. Höchste Ziele dieser Erziehung sind die Anpassung der Staatsbürger an das System, die Schaffung eines neuen Menschentypus (vgl. "The proles had stayed human", N E F 299) und damit das Aufgehen des Individuums in der Eudaimonia der Gesellschaft. b. Dialektik als Herrschaftstechnik Die letzte Ausbildungsstufe der mehrfach auserlesenen Philosophen liegt in der Dialektik, die die Krönung aller Wissenschaften darstellt (Rep.534e) und in der staatlichen Praxis zur ethisch-qualitativen Fundierung der Philosophenherrschaft führen soll. Die Dialektik ist Tätigkeit und Ergebnis zu-

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gleich, sie bildet den voraussetzungslosen Urgrund wie auch das Ende und die Vollendung der Wissenschaften (Rep.533c-d,534e). Piaton bezeichnet sie auch als Mittel zur Erlangung der begrifflichen Klarheit vom Wesen der Dinge (Rep.534b), der im Höhlengleichnis die Schau der Idee des Guten entspricht. Die Ideenschau verweist aber auch auf das mythische Aufleuchten, das letztlich unvermittelbar irrationale Element der Dialektik, welches lediglich von den Philosophen erfaßt werden kann 3 . Orwell karikiert ein solches Erfassen metaphysischer Wahrheiten in seinem Konzept der bloß funktionellen Herrschaftstechnik von doublethink . Diese stellt die Schlüsseltechnik des Ingsoc dar und soll eigentlich von allen Parteimitgliedern beherrscht werden, so von Winston während seiner Arbeit bei der Geschichtsfälschung. Allerdings lassen sich für den perfekten Gebrauch von doublethink nur Beispiele aus der Inner Party finden, v.a. O'Brien ("You are no metaphysician, Winston", N E F 373). Die Definition lautet: "Doublethink means the power of holding two contradictory beliefs in one's mind simultaneously, and accepting both of them" (NEF 342). A m Beispiel von Parteislogans wie " F R E E D O M IS SLAVERY" (s.o.S.56) oder "WAR IS PEACE" (NEF 159,316,329; ständige Kriegführung zur Gewährleistung der inneren staatlichen Stabilität, s.u.S.104) kann man dieser Technik noch einiges an Plausibilität abgewinnen. Eine Grenze ist jedoch bei der Forderung erreicht, daß zwei plus zwei fünf ergeben soll, oder bei der These vom Primat des Intellekts vor den Naturgesetzen ("We make the laws of Nature", NEF 387; auch NEF 388,399). O'Brien demonstriert die perfekte Technik von doublethink , diesem "vast system of mental cheating" (NEF 343), besonders überzeugend dadurch, daß er selbst die Anwendung von doublethink im Bewußtsein verdrängt (vgl. auch N E F 342f.); so verbrennt er ein Photo, Beweisstück für die Geschichtsfälschung durch das System, leugnet dann aber dessen Existenz und selbst den Verbrennungsakt: "That was doublethink. ...it was perfectly possible that O'Brien had really forgotten the photograph. A n d if so, then already he would have forgotten his denial of remembering it, and forgotten the act of forgetting" (NEF 372). In Ozeanien bildet also die exklusive Verdrängungstechnik von doublethink ein letztlich irrationales, aber durch die allumfassende Machtstellung der Partei dennoch plausibles Instrument totaler Herrschaft. -

3 Kelsen (124f.) interpretiert auf dieser Grundlage die Dialektik als exklusives Herrschaftsmittel der platonischen Philosophen auf dem Weg zur Machtübernahme; ähnlich Popper 185187 ("Kunst der intellektuellen Intuition", 186).

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Insgesamt sind Piatons Dialektik und Orwells doublethink durch lediglich wenige, erlesene Bürger wahrhaft erreichbare, im Kern irrationale Legitimationstechniken von Herrschaft. c. Stellung der Frau und Rolle der Familie Innerhalb beider Gesellschaftssysteme werden die Frauen als weitgehend gleichberechtigt angesehen, eine Tatsache, die in den Bereichen Selbstverständnis der Frau, Erziehung und Beruf zum Ausdruck kommt. Piaton begründet die Gleichberechtigung von Mann und Frau in Erziehung und Beruf mit der prinzipiell gleichen Naturanlage beider Geschlechter. Er verdeutlicht diese Position am Beispiel von Jagdhunden, bei denen Rüden wie Hündinnen gleichermaßen zur Jagd taugen, wobei die Rüden lediglich stärker sind (Rep.451d-e). Ebensowenig spielt bei Mann und Frau im Hinblick auf die Eignung für öffentliche Berufe der geschlechtsspezifische Unterschied zwischen Zeugen und Gebären eine Rolle (Rep.454d-e) oder die - von Piaton angenommene - Tatsache, daß in allen Bereichen, v.a. in der Körperstärke, die Männer den Frauen überlegen sind (Rep.455c-e). Trotz der statistischen Überlegenheit der Männer lassen sich nämlich im Einzelfall auch hervorragende, überdurchschnittliche Frauen finden (erstmals wird dies angedeutet am Beispiel ernsthafter Frauen im Gegensatz zu klagenden, Rep. 387e), die zum Nutzen des Staats zu Wächterinnen und Philosophinnen auszubilden sind (Rep.455d). Da die Frauen alle notwendigen Anlagen für eine erfolgversprechende Erziehung besitzen, nämlich musische, gymnastische, mutvolle und wissenschaftliche (Rep.455e-456a), müssen sie auch in gleicher Weise wie die Männer erzogen werden (Rep.451e,456b). Ausdrücklich erfolgt auch die Ausbildung zur Wächterin, wobei allerdings Rücksicht auf die schwächere Körperverfassung zu nehmen ist (Rep.456a,457a). Wächterinnen dürfen folglich unbekleidet an Übungen teilnehmen und mit in den Krieg ziehen, um den Staat zu verteidigen (Rep.457a). Weitere leitende Positionen, wie diejenigen in den staatlichen Kinderkrippen, werden von Frauen wie Männern gleichermaßen besetzt, so daß Ämter teilweise gemeinsam, gemischtgeschlechtlich geführt werden (Rep.460b); dies gilt auch für das Priesteramt (Rep.461a). Konsequenterweise läßt Piaton die Frauen bei entsprechender Befähigung zur Position von Philosophenköniginnen aufsteigen und sie damit am gesamten Ausbildungsweg bis zu diesem A m t - auch an der Ideenschau - teilhaben (Rep.540c). Die Idee prinzipieller Gleichberechtigung aufgrund der Naturanlage erstreckt sich also vom Erziehungsweg über die Berufe der beiden oberen Stände bis hin zur Würde der höchsten Staatslenkung.

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Ganz ähnlich wird auch in Ozeanien die Frau als im wesentlichen dem Mann gleich angesehen. Alle Kinder und Jugendlichen durchlaufen gemeinsam die vorgesehenen Ausbildungsstufen sowie die außerschulischen Organisationen wie die Spies y den Youth League und den Junior Anti-Sex League. I m Beruf tauchen Frauen ganz selbstverständlich in der Bürokratie der Ministerien auf und üben auch typische Männerberufe aus, wie Julia, die Technikerin ist. Das traditionelle Bild der Hausfrau und Mutter gehört der Vergangenheit an oder beschränkt sich auf vereinzelte Fälle wie Mrs. Parsons. Die Gleichheit drückt sich auch rein äußerlich als Vereinheitlichung aus, nämlich in der gemeinsamen Kleidung, den blue overalls , sodann im standardisierten, kurzen Haarschnitt und dem Verbot von Parfüm und Schminke. Den Frauen sollen durch diese Regeln ihre weiblichen Reize (bzw. deren Betonung) genommen werden, so daß sie eine geringere Anziehungskraft auf Männer ausüben. Deutlich wird dies beim Vergleich mit den proles y deren Frauen sich im Gegensatz zu den Parteifrauen schminken, auffallend kleiden und sogar ungestraft der Prostitution nachgehen dürfen (NEF 212), sowie am Beispiel Julias, die sich im gemeinsamen Liebesnest unbeholfen schminkt, parfümiert und ein Kleid, Seidenstrümpfe und hochhackige Schuhe anzieht, wodurch sie auf Winston großen Eindruck macht ("she had become not only very much prettier, but, above all, far more feminine", N E F 279). Damit übersteigert Orwell in kritischer Absicht den offiziellen Gleichheitsanspruch der Partei bis hin zu gewaltsamer Gleichmacherei, der Einebnung natürlicher Unterschiede der Geschlechter, und geht insofern weiter als Piaton. Wie in der Politeia werden den Geschlechtern aber auch offiziell in bescheidenem Rahmen unterschiedliche Begabungen und Naturanlagen zugeschrieben. So werden Frauen als empfänglicher für das Erziehungsprogramm der Partei dargestellt, als fanatisch und außerordentlich gut konditionierbar durch die Propagandamittel, die insbesondere gegen den Geschlechtstrieb ins Feld geführt werden. Im Junior Anti-Sex League, der u.a. für eine A r t Zölibat und künstliche Befruchtung eintritt, sind v.a. junge Frauen aktiv (NEF 213). Aufgrund der Geschlechtsunterschiede finden für Mädchen und junge Frauen SpezialSchulungen statt, in denen kaltes, abweisendes Verhalten und starke Abneigung gegen den Geschlechtsverkehr anerzogen werden (NEF 213f.), ein Konzept, das bei Männern offenbar wenig Aussicht auf Erfolg verspricht (deren sexuelle Korrumpierbarkeit und die damit verbundene Gefahr für das System zeigt das Beispiel Julias, die seit ihrem 16. Lebensjahr Dutzende von männlichen Parteigenossen verführen konnte, N E F 264). Auch im Beruf werden geschlechtsspezifische Begabungsunterschiede ausgenutzt: Bespielsweise arbeiten in der Abteilung Pomosec, die Triviallitera5 Otto

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tur und pornographisches Material allerniedrigsten Niveaus für die proles erstellt (NEF 193), ausschließlich Frauen, da man bei Männern die Gefahr sieht, daß sie wegen ihres weniger kontrollierbaren Geschlechtstriebs durch das Material korrumpiert werden (NEF 269). A u f der anderen Seite erscheinen als Soldaten bei Kriegsszenen im Kino sowie als Angehörige der Thought Police bei der Verhaftung und in den Folterkellern lediglich Männer. Die weitgehend gleiche Behandlung der Stellung der Frau bei Piaton wie bei Orwell findet ferner eine Parallele darin, daß unterschwellig einige Widersprüche beim Postulat nahezu völliger Gleichberechtigung in beiden Systemen zu finden sind. Piaton geht zwar sehr weit darin, Unterschiede der Geschlechter nur in der größeren Stärke der Männer zu sehen, nicht aber als prinzipiell und qualitativ zu verstehen, so daß im Ergebnis Frauen die Staatsleitung übernehmen können; andererseits jedoch gehören die Frauen in Form der Frauengemeinschaft gemeinsam den Männern, werden also wie deren Eigentum behandelt (Rep.457c-d,464b). Auch erscheinen als Kriegshelden stets Männer oder Väter (Rep.467c-d), die sich nach erfolgreichem Kampf Mädchen oder - im Fall der Homosexualität - Jungen zum Lohn aussuchen können (Rep.460b,468b-c), d.h. das Bild einer Kriegsheldin, die sich ihre Männer erwählt, bleibt für Piaton doch zu gewagt. Der Vergleich von Frauen mit feigen Männern (Rep.387e), die Einordnung in die von Trieben beherrschte, minderwertige Masse mitsamt Kindern und Sklaven (Rep.431c, vgl. auch Rep.465c,557c) oder die Karikatur "freier Sklaven" und "männergleicher, freier Frauen" in der ungeordneten Demokratie (Rep.563b) tun ein übriges, um zu zeigen, daß Piaton sich trotz seines weitreichenden Ansatzes von Vorurteilen und Klischees nicht völlig freimachen kann 4 . Ebenso fällt bei Orwells Schilderung der Berufswelt in Ozeanien auf, daß in der Handlung kein weibliches Mitglied der Inner Party erscheint und auch Führungsposten im Bereich der Outer Party vorzugsweise durch Männer besetzt werden - selbst bei Pomosec dienen Männer als Abteilungsleiter eines ansonsten ausschließlich weiblich besetzten Büros (NEF 269). Die Gleichberechtigung dient insgesamt dazu, möglichst weitgehend die Staatsziele zu unterstützen und dem Staatswohl zu dienen. Daher kann Pla^eitere derart pejorative Stellen der Politeia, in denen Frauen ungünstig beurteilt oder durch Vergleiche in ein negatives Licht gerückt werden: Rep.350e,395d-e,398e,469dr549dT579b. Vgl. dazu auch: Julia Annas, Plato's Republic and feminism, Philosophy 51 (1976) 307-321 (311,315-317), dies., Republic 184; Sarah B. Pomeroy, Feminism in book V of Plato's Republic , Apeiron 8,1 (1974) 33-35; Suzanne Said, La République de Platon et la communauté des femmes, AC 55 (1986) 142-162 (151,161f.); Dorothea Wender, Plato: misogynist, paedophile, and feminist, Arethusa 6 (1973) 75-90 (80f.).

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ton in seinem Idealstaat nicht auf die Begabung und das Potential einer Vielzahl von Frauen verzichten (Rep.456e,457c). Dasselbe gilt in Nineteen Eighty-Four , nur kommt hier hinzu, daß die Existenz von liebevollen, häuslichen Frauen unerwünschte Privaträume im Staat schaffen würde, sei es in Form von glücklichen, erfüllten Liebesbeziehungen, sei es in Form der traditionellen Familie. Die Familie selbst wird von beiden Systemen als im Staat überflüssige, ihm sogar schädliche Institution zurückgewiesen. Piaton geht von der Frauen- und Kindergemeinschaft aus (Rep.457c-d,464a-b). Der Vorteil dieser Auflösung des Familienverbandes bzw. der Erweiterung der Familie auf die gesamten beiden oberen Stände liegt darin, daß keine Kämpfe und Intrigen zur Erlangung der gewünschten Frau und der Förderung der eigenen Kinder mehr nötig sind, sondern jedermann nur noch das Wohl des Staats im Auge hat - eine Analogie zur Notwendigkeit der Abschaffung des Privateigentums (Rep.464d-e). Die Einheit des Staats wird weiterhin durch die gegenseitige Durchmischung gefördert, denn wegen der frühen Trennung der Kinder von den Müttern kennt niemand seine Kinder oder Geschwister; die Kinder werden staatlich und zentral durch Pflegerinnen gesäugt und aufgezogen (Rep.460bd), so daß sich alle als Geschwister bzw. Eltern und Kinder ansehen müssen und der Staat wie eine Großfamilie, wie ein Organismus auftritt (Rep.463c464b). Schließlich führt die Auflösung der Familie dazu, daß die i.S. einer bewußten eugenischen Bevölkerungspolitik besten Zusammenschlüsse von Männern und Frauen leichter staatlich bestimmt werden können (Rep.459de). I n Ozeanien existieren noch Familien, aber es gibt bereits Pläne, sie abzuschaffen ("Children will be taken from their mothers at birth", N E F 389). Bis zu diesem Zeitpunkt versucht die Partei alles, um die innere Einheit der Familie zu zerstören. Das erste Mittel besteht in der Entfremdung und Umerziehung der Kinder durch staatliche Institutionen. Insbesondere die Spies , die zur Ausspionierung ihrer eigenen Eltern gedrillt werden, bewirken die Vergiftung der Familienatmosphäre und ständige Furcht der Eltern (NEF 177). Weitere Schwerpunkte der Erziehung richten sich gegen den Genuß des Geschlechtstriebs Ç'sexcrime ", NEF 423), Maßnahmen, die die Zeugungstätigkeit zur bloßen Pflichtübung herabwürdigen sollen und v.a. bei Frauen zum Erfolg führen ("our duty to the Party" (NEF 214), "goodsex ", N E F 423). Insbesondere führen Komitees bei Heiraten einander unsympathische Partner zusammen, wobei der rein funktionale Charakter der Ehe dadurch deutlich wird, daß zwar keine Scheidungen erlaubt sind (außer bei den proies , N E F 218), aber durchaus die Trennung eines Paares im Fall der Kinderlosigkeit (NEF 213). 5»

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Die Auswirkungen dieser Politik sind am Beispiel der unglücklichen Ehe zwischen Winston und Katherine zu sehen, der die Liebesaffäre mit Julia, das Familienleben der proles und Winstons Erinnerungen an seine Mutter gegenübergestellt werden: Erinnerungen an eine familiäre Geborgenheit, mit der "privacy, love, and friendship" verknüpft sind, Werte einer vergangenen Epoche (NEF 182). Bei Orwell liegt der Sinn dieser Maßnahmen darin, den Staat zu stärken und keine Privaträume oder positive emotionale Bindungen - außer gegenüber Big Brother - aufkommen zu lassen. Aus diesem Grund betrachtet die Partei den Geschlechtstrieb als Gefahrenpotential gegenüber dem eigenen, allumfassenden Herrschaftsanspruch ("The sexual act, successfully performed, was rebellion. Desire was thoughtcrime", NEF 215) und zieht mit Hilfe des wissenschaftlichen Fortschritts bereits weitreichende Fernziele in Betracht ("The sex instinct will be eradicated. Procreation will be an annual formality...We shall abolish the orgasm", N E F 389). I m Ergebnis werden die Stellung der Frau und die Rolle der Familie bei Piaton und Orwell nahezu identisch beurteilt und behandelt, nur daß Piaton die Gleichberechtigung im Beruf konsequenter ausgestaltet und die Familie gleich vollständig beseitigt, während Orwell insofern weiter als Piaton geht, als er nicht nur die Triebe kontrollieren läßt, sondern sogar deren baldige Abschaffung in Aussicht stellt. d. Eugenik Der Gedanke der Eugenik i.S. der Auslese und Züchtung eines dem Ideal entsprechend besseren, neuen Menschen läßt sich in beiden Staatsentwürfen nachweisen. Die Idee einer solchen Hochzüchtung der menschlichen Rasse in der platonischen Polis beruht auf Analogien zu den Selektionsprozessen, der Steuerung bei der Zucht von Haustieren wie Jagdhunden, Hähnen und Pferden (Rep.459a-b). Grundlage dieser Vorstellung ist beim Menschen das Bild der verschiedenen Seelenmetalle aus dem Metallmythos. Das Ziel des Paarungsprozesses liegt in der Erzeugung immer "höherwertiger" Metalle bzw. besserer Nachkommen (Rep.424a-b); unter dem Ideal des zu kreierenden neuen Menschen ist eine Verbindung aus möglichst edlen körperlichen und geistigen Anlagen zu verstehen, wie denjenigen, durch die sich die Philosophen im Rahmen der platonischen Tugendlehre auszeichnen. Die Staatslenker setzen ihr eugenisches Wissen dafür ein, einen solchen harmonischen, gottähnlichen Menschen und damit die Grundlage eines perfekten Staats zu schaffen (Rep.500e-501c). Ein weiterer Vorzug der Fortpflanzungsplanung besteht in der Möglichkeit einer quantitativen Kontrolle, denn der platonische Staat soll weder zu

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groß noch zu klein werden; die Hochzeitsplanung hat dabei sorgfältig Faktoren wie Kriege oder Krankheiten zu berücksichtigen (Rep.423b-c,460a). Auch in Ozeanien existiert ein Idealbild des neuen Menschen: Dieser soll groß, blond, vital und muskulös (NEF 208), zudem frei von Lastern wie Alkohol- oder Tabakkonsum, sportlich, arbeitswütig (NEF 197), ein Kriegsheld und angepaßter, fanatischer Anhänger von Ingsoc sein ("a nation of warriors and fanatics...all thinking the same thoughts...all with the same face", N E F 220). Letzteres beinhaltet auch die perfekte Beherrschung aller Techniken der Gedankenkontrolle und damit die vollständige Anpassung an das System. Ein entfernteres Zukunftsideal liegt in der Abschaffung des Geschlechtstriebs mit Hilfe des wissenschaftlichen Fortschritts (NEF 389). Die Tatsache, daß unter den bedrückenden Umständen der Parteiherrschaft eher der Typus eines kleinen, fetten, gedrungenen und insektenartigen Mitglieds der Outer Party gedeiht (NEF 208), ändert nichts an diesen eugenischen Idealen des Systems. Der Aspekt einer quantitativen Kontrolle spielt auch in Ozeanien eine Rolle: Die Partei kann ihre Mitglieder darauf verpflichten, Kinder im Interesse des Staats zu zeugen ("our duty to the Party", NEF 214), um so die Größe und Stabilität des Ganzen zu sichern. V.a. in der Politeia werden eugenische Methoden detailliert entwickelt. Den Ausgangspunkt der Steuerung bildet die Frauen- und Kindergemeinschaft (betroffen sind also nur die beiden oberen Stände, Rep.460c); dort sind legale Zeugungen nur über den Weg feierlicher Hochzeiten möglich, welche für kurze Zeit, bloß zu diesem besonderen Zweck, geschlossen werden. Wie bei der Haustierzucht müssen den tüchtigsten Männern dabei gleichartige Frauen zugeführt werden. Solche nützlichen, keineswegs wahllosen Verbindungen kommen dadurch zustande, daß sich Kriegshelden die würdigsten Geliebten aussuchen dürfen, oder dadurch, daß die Herrscher heimlich, mittels List und Täuschungen - damit kein Unwille in der Bevölkerung aufkommt - den besten Paaren per Auslosung häufiger Gelegenheit zur Zeugung geben als schwächeren Naturen (Rep.459c-460b). Wegen des hohen Ziels sind diese Täuschungen bei der Auslosung von Hochzeitspaaren gestattet. Sieche und Kranke dürfen überhaupt nicht zeugen, damit sie keine ähnlichen Nachkommen hervorbringen (Rep.407d). Besondere Regeln für die Vermählung bestehen weiterhin darin, daß die Beteiligten in körperlicher und geistiger Blüte stehen müssen, und zwar Frauen im 20. bis 40., Männer im 25. bis 55. Lebensjahr (Rep.460d-e). Inzest wird dadurch vermieden, daß Eltern die Verbindung mit allen denjenigen verwehrt ist, die das Alter der von ihnen gezeugten, ihnen aber persönlich nicht bekannten Kinder haben

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(Rep.461d-e). Kinder aus Ehen, die nicht von den Philosophen gestiftet wurden und deren Geburt nicht von Opfern und Gebeten der Priester begleitet wurde (Rep.461a), sowie schwächliche oder mißgestaltete Kinder finden keinen Platz im Staat, sondern werden ausgesetzt und nicht weiter versorgt, also letztlich getötet (Rep.459d-e,460c,461c)5. Diese grausame Praxis soll der Reinheit des Wächter- und Philosophenstandes im Staat dienen (Rep. 460c). Die eugenischen Prinzipien werden gekrönt durch eine von den Philosophen beherrschte Wissenschaft, die sich mit den besten Zeugungszeiten unter Berücksichtigung der Planetenbahnen befaßt. Wenn die Philosophen allerdings bei der komplizierten Berechnung der Hochzeitszahl irren und Hochzeiten unter ungünstigen Sternenkonstellationen stiften, hat dies in letzter Konsequenz eine qualitätsmindernde Durchmischung von Erbgut und damit den unaufhaltsamen Verfall des Staats zur Folge, da dann die Ämter der Philosophen von unwerten Naturen bekleidet werden (Rep.546a547a). Auch bei Orwell existiert eine Art von eugenischer Technik, da es dem System in Ozeanien um die Fortentwicklung der Menschheit in seinem Sinne und die Ausmerzung von aus Parteisicht negativen Eigenschaften geht. Ehen können nur durch ein Auswahlkomitee bestimmt werden (NEF 212), so daß bereits auf dieser Stufe eugenische Steuerungsmöglichkeiten bestehen. I m Fall einer allgemeinen Degeneration kann zur Not auf den genetischen Bestand der proles zurückgegriffen werden (NEF 338). Eugenische Ausleseprozesse finden nicht - wie in der Politeia - bei Kleinkindern statt, sondern die Partei hat die Macht, mißliebige Individuen aller Klassen und Altersstufen problemlos zu "vaporisieren" (NEF 209), d.h. zu eliminieren. Da von der Thought Police v.a. potentielle Querdenker, nicht genügend angepaßte oder zu intelligente Parteimitglieder und sogar proles erfaßt und beseitigt werden, verbleibt nur ein ganz bestimmter, der Partei höriger Menschenschlag für die Zukunft des Staats (NEF 208).

Während Rep.459d-e auch so verstanden werden kann, daß die schwächsten Kinder der Wächter nur keine Pflege in ihrer Klasse, wohl aber beim dritten Stand finden (analog zur Offenheit der Stände in Rep.415b-c,423c-d), verweisen Rep.460c und Rep.461c auf verkrüppelte und illegitime Kinder, die möglichst nicht einmal ausgetragen werden sollen (Rep.461c). Zumindest in diesen "Härtefällen" spricht vieles für eine beabsichtigte Tötung bzw. Aussetzung der Kinder, wie sie in Athen und Sparta durchaus üblich war, und nicht für eine Überstellung in den dritten Stand (vgl. Erbse, Politeia 183 Anm.9; Levinson 197; Herbert D. Rankin, Plato's eugenic ευφημία and άπόΰεσις in Republic, book V, Hermes 93 (1965) 407-420 (410-414)). Zu diesem Bild passen auch Piatons Vorschläge zur Tötung Behinderter und Nichtbehandlung unheilbar Kranker (Rep.406d-e,409e-410a).

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Als besondere eugenische Techniken, die in ihrer Brisanz über die platonische Berechnungstechnik der Hochzeitszahl deutlich hinausgehen, werden für Ozeanien mit der Neurologie und der künstlichen Befruchtung wissenschaftliche Zukunftsentwicklungen angedeutet, die direkt zur u.a. genetischen Manipulation und damit der vollständigen Beherrschung des neuen Menschen durch das System führen sollen (NEF 213,389f.). Somit kann Winston zu Recht als "the last man" (NEF 392), das letzte Symbol für die Menschheit und Menschlichkeit im traditionellen Sinne (NEF 394), bezeichnet werden. Insgesamt arbeiten beide Systeme mit eugenischen Techniken zwecks Kontrolle und Perfektionierung des Menschen. Dabei beschreibt zwar Piaton detaillierter als Orwell eugenische Methoden, sieht aber auch die natürlichen Grenzen solcher Möglichkeiten, während Orwell - unterstützt durch Entwicklungen der modernen Technik - die Schaffung eines neuen Menschentypus durchaus realistisch in Aussicht stellen kann. e. Stellenwert des Eigentums Eigentum wird in beiden Staaten als stabilitätsgefährdender Sprengstoff angesehen, den es sorgsam zu kontrollieren gilt. Daher beruhen beide - bezogen auf die oberen Stände - auf einem System der Eigentiunslosigkeit bzw. des Kollektivismus. Bei Piaton werden Geld und Reichtum zunächst als (nach Meinung des greisen Kephalos) gute Hilfe für ein gerechtes Leben eingeführt (Rep.329e-330a,330d-331b), im Verlauf der Untersuchung aber als überflüssiger Luxus im üppigen Staat entlarvt (Rep.372e-373a) und nach der Darlegung der Tugendlehre - bei der Schilderung der Verfallsstaaten (Buch V I I I - I X ) zudem als höchst gefährlich beurteilt. Schließlich beginnt der Staatenverfall bereits in der Timokratie, und zwar mit der Geburt der Geldgier (Rep.549b); in der Oligarchie wird Geld zum alleinigen Maßstab, die Gesellschaft spaltet sich in arm und reich (Rep.550d-e); dies führt in der Demokratie zu einer extremen Polarisierung und der Vertreibung der verweichlichten Reichen (Rep.556b-557a). Die Entwicklung endet beim Tyrannen, dem prassenden, mordenden, unersättlichen und hemmungslosen Triebmenschen (Rep.573d-574e). Ein wichtiges Ziel der Wächter und Philosophen im Idealstaat muß wegen des verderblichen Einflusses von Reichtümern auf die Seele die Selbstbeherrschung (Rep.430e), die völlige Kontrolle der Triebe sein. Es gilt, den negativen Einfluß einer Polarisierung der Gesellschaft in Arme und Reiche vollständig zu vermeiden und die Einheit des Staats zu erhalten, so daß sich weder eine luxusbedingte Schwächung der Herrscher noch Zwistigkeiten in-

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nerhalb einzelner Stände oder zwischen Ständen im Kampf um Güter einSchleichen (Rep.422a,464d-e). Wächter und Philosophen haben - wegen ihrer Tugenden dazu besonders geeignet - ausschließlich dem Schutz und der Leitung des Staats zu dienen, wobei es angesichts ihrer Machtposition wichtig ist, daß triebbedingte Übergriffe auf die eigenen Bürger unterbleiben (Rep.416a-d). Aus diesem Grund werden beide Stände zur Askese in einer Lebensgemeinschaft erzogen, von der schädliche Versuchungen fernzuhalten sind. Sie leben in gemeinsamen, kasernenartigen Häusern, nicht in individuellen Wohnungen (Rep.415e, 416d), nehmen ihre Mahlzeiten gemeinsam ein und haben keine eigenen Familien (die traditionelle Familie wird hier argumentativ mit Eigentum gleichgesetzt), sondern stehen der Frauen- und Kindergemeinschaft gegenüber (Rep.464a-e). Weiterhin erwerben sie kein Eigentum an Land oder an Geld, wobei es ihnen insbesondere untersagt ist, Gold und Silber in irgendeiner Form (z.B. als Schmuck oder Trinkgefäße) auch nur zu berühren, geschweige denn zu horten (Rep.416e-417a). Diese strenge Lebensform trägt zu dem Ziel der Ausbildung bei, das rechte Maß zu halten, und letztlich brauchen die Wächter nach erfolgreicher Erziehung keine Reichtümer für ihr Glück, da sie ihre Erfüllung in der Verteidigung und der Verwaltung des Staats finden (Rep.465d-466b). I m Hinblick auf mögliche Kriege führen die innere Einheit und Stärke des Staats - diese Eigenschaften zeigen sich insbesondere an der hohen Wehrhaftigkeit und Motivation der Wächter - dazu, daß Feinde von vornherein abgeschreckt werden. Die Armut des Staats verstärkt diese Wirkung: Es gibt nichts Wertvolles zu erobern (Rep.422d-423a). Der dritte Stand - v.a. bestehend aus Bauern, Handwerkern und Kaufleuten -, der von den Beschränkungen des Eigentums nicht betroffen ist, sondern frei über sämtliche Besitztümer im Staat verfügen und mit ihnen wirtschaften kann, übernimmt die Versorgung der Wächter (vgl. Rep.416c417a). Allerdings muß auch dieser geldliebende Stand, dem der strenge Kommunismus nicht auferlegt wird, besonnen mit den Gütern umgehen und seine Triebe - wie jeder Bürger - zügeln (vgl. Rep.389d-e,442a-b). Er deckt die materiellen Bedürfnisse der beiden oberen Stände (besonders an Nahrungsmitteln) als Lohn für die dem Staat geleisteten Dienste nach maßvoller Schätzung (Rep.416d-e,464c). Auch bei Orwell dient der dritte Stand (die proles) der materiellen Grundversorgung des Staats und lebt in weitgehender wirtschaftlicher Freiheit; die Abschaffung des Privateigentums betrifft daher nur die Parteimitglieder. Dennoch kontrolliert die Partei nach umfangreichen Kollektivierungsmaßnahmen alle wichtigen Produktionsmittel und wesentlichen Wirtschaftszwei-

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ge, so daß die proles , unbesehen einiger Freiheitsräume, leicht in bitterer Armut gehalten werden können. Trotz des allumfassenden Parteieigentums stehen den einzelnen Parteimitgliedern lediglich geringe persönliche Habseligkeiten - auch Geld für persönliche Einkäufe - zu, wogegen die verstaatlichten Unternehmen, Häuser und Ländereien der zentralen Verwaltung unterliegen ("Individually, no member of the Party owns anything, except petty personal belongings. Collectively, the Party owns everything in Oceania, because it controls everything", N E F 335). Damit kann, obwohl in Ozeanien - im Gegensatz zum Idealstaat der Politeia - die Hauptmasse an Sachwerten der Partei und daher den beiden oberen Klassen zugerechnet werden muß, das sozialistische Konzept von der Abschaffung des Privateigentums als vollständig verwirklicht gelten, da die Parteimitglieder über Parteieigentum nicht persönlich verfügen dürfen. Hinsichtlich der persönlichen Bedürfnisse läßt sich eine klare Hierarchie zwischen Outer Party und Inner Party feststellen. Für die Outer Party herrscht Mangel selbst an täglichen Gebrauchsgegenständen wie z.B. Rasierklingen (die wiederum auf dem free market, dem Schwarzmarkt, bei proles erhältlich sind, N E F 198), und auch die Qualität der Lebensmittel läßt viel zu wünschen übrig. Demgegenüber leben Mitglieder der Inner Party in einer komfortableren Atmosphäre, sie bewohnen größere Häuser, verfügen über Bedienstete und hochwertige Lebensmittel (NEF 301). Dadurch unterscheiden sie sich deutlich von den platonischen Philosophenherrschern, die keine materiellen Privilegien besitzen, sondern diesbezüglich sogar gegenüber dem dritten Stand zurückstehen. Dennoch kann man die Lebensform der Inner Party Members keineswegs als exzessiv oder ausschweifend charakterisieren (NEF 322), sondern sie entspricht im wesentlichen ihrer Repräsentationsfunktion als Amtsträger sowie ihren Bedürfnissen nach Arbeitsentlastung, nicht etwa einem Streben nach Reichtum und Luxus (vgl. NEF 386). I m übrigen wird die ökonomische Mangelsituation bewußt - beispielsweise durch die ständige Kriegführung - erzeugt und gesteuert, um eine im wesentlichen arme Bevölkerung besser kontrollieren zu können und aus einer guten wirtschaftlichen Lage erwachsende Bildungsbedürfnisse überhaupt nicht erst aufkommen zu lassen (NEF 320f.). Wirtschaftlich aufstrebende Bevölkerungsgruppen, die ein Potential für soziale Spannungen darstellen würden, können daher nicht entstehen, Revolutionen nicht geistig vorbereitet oder materiell unterstützt werden. Eigentumslosigkeit dient also erstens als Mittel gegen individuelle Ansätze von Korruption, zweitens aber auch zur Kontrolle von Klassen und damit

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der Stabilität des gesamten Staatsgefüges ("In the long run, a hierarchical society was only possible on a basis of poverty and ignorance", N E F 321). Insgesamt entspricht das Konzept der Eigentumslosigkeit mit den daran geknüpften Erwartungen demjenigen der Politeia, auch wenn dieses Konzept - v.a. bei der Zumessung der wirtschaftlichen Macht an die Partei statt an den dritten Stand sowie der Gewährung von materiellen Privilegien an die Inner Party Members - teilweise in beiden Staaten unterschiedlich ausgestaltet wird. /. Religion Gegenüber den traditionellen Religionsvorstellungen nehmen beide Autoren eine kritische Position ein. Dabei greift Piaton besonders die von den Dichtern zumeist vermittelte Gottesvorstellung als für den Staat schädlich an. Als Ansatzpunkte für die Dichterkritik dienen immer wieder Hesiod und besonders Homer, denen Piaton vorwirft, Götter und Menschen, besonders Heroen, schlecht darzustellen (Rep.377d-392b). In den klassischen griechischen Göttersagen und Epen erscheinen die Götter als Ursache menschlichen Übels; ferner täuschen sie die Menschen, sind zügellos, eifersüchtig und bekämpfen einander (Rep.377e-383b), kurz, sie werden anthropomorph, behaftet mit menschlichen Reaktionen und Schwächen, beschrieben. I m Idealstaat müssen die Götter dagegen als Ursache des Guten, als wahrheitsliebend und wegen ihrer Vollkommenheit unveränderlich geschildert werden, und zwar nicht deshalb, weil dies der Wahrheit entspräche (die Übeltaten des Kronos werden nicht geleugnet; doch nur wenige Eingeweihte - v.a. aber keine zu jungen Menschen (Rep.378a) - dürfen sie erfahren), sondern zu dem Zweck, die Wächter gottesfürchtig zu machen (Rep.383c). Der Hades soll nicht als Ort des Schreckens dargestellt, berühmte Heroen dürfen nicht als ängstlich oder feige, habgierig oder lügnerisch beschrieben werden, damit bei den Wächtern weder die Besonnenheit gegenüber Versuchungen der Triebwelt noch die Tapferkeit im Angesicht des Feindes ins Wanken gebracht wird (Rep.386a-392b). Aus Gründen der Erziehung und Motivation des Wächterstandes sind lediglich positive, platonischen Anforderungen entsprechende Götterhymnen sowie Loblieder auf gute Menschen im Idealstaat zuzulassen (Rep.607a). Diese Kritik macht deutlich, daß Piaton die üblichen griechischen Vorstellungen von der Götterwelt radikal angreift. Sein positives Bild von der Rolle der Religion im Staat wird in der Politeia dagegen nur kurz und fragmentarisch beschrieben: Die Götter sind gerecht, wahr, gut und unveränderlich. Sie sehen menschliche Gerechtigkeit bereits auf Erden und belohnen gute

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Menschen (Rep.612b-613b); im Jenseits, wie im Er-Mythos geschildert, ist bei der Wahl des menschlichen Daimonions - des Wächters und Schicksals der unsterblichen Seele im nächsten Leben (Rep.620d) - Gott schuldlos (Rep. 617e). Diese Wahl liegt überwiegend in der Verantwortung des - hoffentlich im vorherigen Leben durch sorgfältige Erziehung zur Tugend gut präparierten - Menschen (Rep.617e-620d). Einfluß nehmen daneben auch das Los und die Moiren mit ihrer kosmischen Spindel der Notwendigkeit, aber die Götter stehen wie Unbeteiligte über diesem Prozeß (Rep.616c617e). Diese Rollenzuweisung an die Götter zeigt den höchst begrenzten Einfluß, den Piaton ihnen im Idealstaat einräumt, wodurch er die Eigenverantwortlichkeit des Menschen und die Notwendigkeit einer fundierten Erziehung um so stärker betont. Überhaupt erscheinen in der Politeia religiöse Elemente nur selten, z.B. in Form der Gesetzgebung Apolls, dem die "wichtigsten und schönsten" Gesetze - über Tempelbau, Opfer und kultische Handlungen - vorbehalten sind (Rep.427b-c,469e-470a); für sämtliche nichtreligiösen Lebensbereiche werden Gesetze übrigens ohnehin als überflüssig abgelehnt (Rep.427a). Ferner erteilt die Apollonprophetin Pythia aus Delphi die Zustimmung zu manchen Hochzeiten (Rep.461e) und das Einverständnis mit der Verehrung verstorbener Philosophen als Götter (Rep.540b-c). Ein Stand der Priester tritt nur kurz im Zusammenhang mit Opfern und Gebeten in Erscheinung, die während der Geburten vorzunehmen sind (Rep.461a). Ansonsten spielt er keine Rolle im Idealstaat. Dagegen müssen die Philosophen und Kriegsheroen aus dem Wächterstand schon zu Lebzeiten hoch angesehen und nach dem Tod als Götter verehrt werden. Die hervorragendsten Kriegsheroen des Wächterstandes werden durch Opferfeste gefeiert und als göttliche Wesen bestattet (Rep.468d469b, vgl. auch Rep.383c). Auch die Natur der Philosophen gilt als göttlich bzw. dem Göttlichen verwandt (Rep.497c,500c,611e), und nach dem Tod kommen ihnen ebenfalls als göttlichen Menschen oder Göttern Opfer und Denkmäler zu (Rep.540b-c). Diese Bezeichnung der Philosophen und Heroen als eigentliche Götter des Staats ermöglicht einen Zugang zu Piatons eigener Gottesvorstellung. Die Seele wird durch Annäherung an die Tugenden gerecht, geordnet und göttergleich (vgl. Rep.613a-b), da sie so zu ihrer wahren Bestimmung findet. Der Weg des Philosophen im Höhlengleichnis zu den höchsten, reinen Ideen, v.a. deren Krönung, der Idee des Guten, wird als göttliche Schau bezeichnet (Rep.517d), die Idee des Guten selbst als Ursache alles Rechten und Schönen, aller Wahrheit und Einsicht (Rep.517b-c).

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Während also die Beschreibung der Götter oder des Göttlichen sehr vage bleibt und keinen konkreten Gehalt für eine persönliche Gottesvorstellung läßt, umfassen die Ideen und besonders die Idee des Guten alle für das Göttliche notwendigen Bestimmungsmerkmale wie Gerechtigkeit, Wahrheit, Unveränderlichkeit, Güte und Ursache allen Seins. Den Platz des traditionellen Göttlichen nehmen bei Piaton die Ideen ein und lassen einer darüber hinausgehenden Gottesvorstellung keinen eigentlichen Raum mehr: die Philosophie ersetzt somit jede Form von Religion 6 . Setzt man diesen Stellenwert mit der Tatsache in Beziehung, daß bestimmte Göttererzählungen nur eingeweihten, charakterlich gefestigten Personen vorbehalten sind (Rep.378a), so zeigt sich deutlich die Instrumentalisierung eines verbreiteten Götterglaubens für die Zwecke des philosophischen Staats: Den Mitgliedern der beiden unteren Stände, denen die Ideenschau mangels ausreichender intellektueller Fähigkeiten nicht möglich ist, wird eine staatliche Religion dargeboten, deren Zweck es ist, die Moral zum Wohl des Staats zu stützen. Diesem Zweck dient der Glaube an die Tugenden, an die göttlichen Vorbilder (die Philosophen), eine Gerechtigkeit im Jenseits und die Notwendigkeit von Gebeten und Opfern während der Geburt, letzteres eine Maßnahme, die die eugenischen Ziele fördert. Das rein sakrale Betätigungsfeld zeigt die tatsächliche Bedeutungslosigkeit der Religion und des Priesterstandes gegenüber den Philosophen, deren Ausbildung überhaupt keine Religion im eigentlichen Sinne (etwa die Unterweisung in den sakralen, angeblich so wesentlichen Gesetzen Apolls) enthält, da sie im Vergleich zur Ideenlehre unwesentlich ist. Bestätigt wird diese Rollenzuweisung an die Religion auch durch deren Bedeutung in den Nomoi, dem nur zweitbesten Staat. In Buch X der Nomoi werden göttliche Gesetze ausführlich abgehandelt, da die Moral im zweitbesten Staat nicht in der gleichen Weise durch die Philosophie abgestützt werden kann wie in der Politeia\ doch damit dient Religion nur als minderer Ersatz für die Philosophie. Orwell läßt - ähnlich wie Piaton - keine traditionelle Gottesvorstellung in Ozeanien mehr gelten, sondern letzte Rudimente einer christlichen Gottesvorstellung zensieren und verfolgen (nur nicht bei den proles , für die auch hierin weitgehende Freiheit herrscht, N E F 218). So dienen Kirchengebäude Olof Gigon / Laila Zimmermann, Piaton - Lexikon der Namen und Begriffe, Zürich 1975, s.v. Gottheit, Götter, 151; Graeser, Philosophie 158f. m.w.N.; Kelsen 190 ("Religion als wirksames Mittel staatlicher Politik"); G. Müller, Dialog ("Vernunftreligion Piatons", 7, "Religion der ideenschauenden Vernunft", 23); vgl. auch Popper 196f. Anders Hans Herter, Piatons Staatsideal in zweierlei Gestalt, in: ders., Kleine Schriften (hrsg. Emst Vogt), München 1975, 259-278 (v.a. 273-277); vgl. ferner Holl, Begründung 87-89 (Piatons Staat als fundamental religiös und u.a. auf diese Weise legitimiert).

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als Museen zu Propagandazwecken (NEF 241f.); der Poet Ampleforth fällt sofort der Säuberung zum Opfer und findet sich in den Gefängnissen des Ministry of Love wieder, als er für eine seiner Umdichtungen keinen anderen passenden Reim als das Wort "God" findet und trotz Bedenken diesen Begriff verwendet (NEF 358). Von Winston erwartet das System, er solle in den Folterkammern diverse, niemals begangene Verbrechen wie Morde und Hochverrat gestehen, wobei er auch zuzugeben hat, ein "religious believer" zu sein (NEF 368). Ferner erinnert die imaginäre Untergrundorganisation Goldsteins, "The Brotherhood" (NEF 304), in der Namensgebung an eine christliche Sekte oder die Urgemeinde zur Zeit der Christenverfolgung (so auch der Vergleich der Folter Winstons mit dem Martyrium, N E F 377f.), ihr Geheimbuch "the book " an die Bibel (NEF 309). Andererseits lassen sich zahlreiche typisch religiöse bzw. typisch christliche Merkmale v.a. im Zusammenhang mit der Inner Party ausmachen, die von Orwell satirisch auf die katholische Kirche gemünzt sind 7 . Alle drei Weltstaaten beruhen auf einer pyramidalen, hierarchischen Struktur, wie sie auch der katholischen Kirche entspricht, auf halbgöttlichen Führergestalten und einer Staatsphilosophie (NEF 327). Genau diese Struktur einer weltlichen Führung in religiösem Gewand findet sich schon bei Piatons Philosophenherrschern. I n Ozeanien wird Big Brother als weiser und ehrfurchtsgebietender Souverän ("wisdom and majesty", NEF 170) dargestellt, er erscheint - allgegenwärtig und allwissend - auf Postern, Markenartikeln und in der Fernsehpropaganda ("BIG B R O T H E R IS W A T C H I N G YOU", N E F 157). Durch eine geschickte Darbietung im Two Minutes Hate wird er zur Figur des Vaters (bzw. "großen Bruders"), zum Fokus der Liebe und der Hoffnung auf Rettung vor dem Feind, so daß manche Parteimitglieder ihn keineswegs zufällig wie einen Gott anbeten ( , u M y saviour!'...she was uttering a prayer", N E F 170). Er symbolisiert nicht zuletzt die Allgewalt der Partei und deren Stellung im Staat. Die Inner Party wird wie eine Priesterkaste geschildert ("the priests of power", N E F 387), die sich mit ihrer schwarzen Kleidung (NEF 165) schon äußerlich von der Masse (auch von den blauen Einheitsanzügen der Outer Party) abhebt und über umfassende Gewalt im Staat verfügt. O'Brien dient als Repräsentant dieser Kaste. Er strahlt einerseits krankhaften religiösen Vgl. Steinhoff 184-186; ausführlich Christopher Small, The road to Miniluv. George Orwell, the state, and god, Pittsburgh 1975, v.a. 192-215. Orwell war Atheist und gegenüber der katholischen Kirche und ihren hierarchischen, teils totalitären Wesenszügen (Inquisition, Index) kritisch eingestellt, so daß sich Nineteen Eighty-Four nicht nur als Satire auf totalitäre Staatssysteme, sondern auch auf totalitäre Tendenzen innerhalb der Kirche lesen läßt. Dennoch zeigt er am Beispiel der Verfolgten Winston und Ampleforth, daß eine persönliche Religiosität als Ausdruck gedanklicher Freiheit und möglicher Keim des Widerstands gegen das System zu respektieren ist.

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Fanatismus aus ("lunatic enthusiasm", NEF 379), will Winston zum wahren Glauben bekehren (NEF 379), nämlich dem an die Allmacht der Partei ("God is power", N E F 387), und wird teilweise von Winston angebetet (NEF 308); andererseits macht er deutlich, daß diese Religiosität nur als Fassade für die Machtphilosophie der Partei steht (NEF 387). Religiöse Züge nimmt auch die Einstellung der Partei zum Geschlechtsleben an (ihr "sexual puritanism", NEF 218), die durch das Erziehungssystem und das Ideal des Zölibats - sogar verbunden mit einem feierlichen Eid ("vow of celibacy", NEF 197) - verkörpert wird, sodann das Vorbild des (trotz Fanatismus) seine Triebe beherrschenden, asketischen Parteimitglieds ("a total abstainer and a non-smoker", N E F 197) und schließlich die Verfolgung und Läuterung aller Abweichler von der offiziellen Doktrin im Rahmen einer Inquisition (NEF 369). Diese Inquisition zeichnet sich durch Folter und ausführliche Geständnisse, die Reinwaschung der Betroffenen (NEF 379) und schließlich durch den Aufstieg zum wahren Wissen bzw. Glauben und die Vergebung der Sünden aus - wie bei Piatons Höhlengleichnis dargestellt im Rahmen einer Lichtmetaphorik (s.o.S.47-49; "everything forgiven, his soul white as snow", NEF 416). Bei Platon wie Orwell wird im Ergebnis die traditionelle Religion bekämpft und zensiert; als neue Religion bietet sich aus Sicht der Herrscher kein überzeugendes, eigenständiges religiöses Prinzip an, sondern allein die Philosophie bzw. Ideologie - wegen ihrer Funktionalität und Vernünftigkeit der Religion überlegen - dient zur Legitimation von Herrschaft (trotz des irrationalen Elements der Dialektik, s.o.S.62-64). Dennoch verzichten in beiden Fällen die Herrscher nicht auf die Instrumentalisierung eines neu geschaffenen religiösen Bewußtseins, weil dieses als Mittel dazu dient, diejenigen Staatsbürger emotional an bestimmte Staatsinstitutionen und die Herrschaftsschicht - der unbedingter Gehorsam zu leisten ist - zu binden, von denen ein perfekter Nachvollzug der Staatsdoktrin und die Befolgung von Weisungen aus eigener Einsicht nicht erwartet werden können. Dies erklärt allein das Überleben der Religion im Idealstaat oder perfekten Machtstaat als Form der Herrscherverehrung und damit als begrenzter, minderwertiger, aber nützlicher Ergänzung der Philosophie. g. Dichterkritik

und Zensur, Musik und Künste, Sprache

Besondere Aufmerksamkeit widmen beide Systeme der Literatur und deren minutiöser Kontrolle bzw. Zensur. Für Piaton ergibt sich die hohe Bedeutung einer sorgfältigen Literaturauswahl aus der Schlüsselrolle von Dichtung im Rahmen der Erziehung. Als wichtige Vorstufe für die Erziehung der Wächter und Philosophen übt die Dichtung einen wesentlichen Einfluß

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auf die Formung der Seele aus; alles kommt darauf an, Literatur auszuwählen, die die Seele positiv beeinflußt, damit die Erziehungsziele nicht gefährdet werden. Besonderes Augenmerk gilt es auf die Märchendichtung zu richten, mit der Kinder im frühen Alter konfrontiert werden, da sie dann besonders formbar sind (Rep.377a-c). Piatons Dichterkritik richtet sich gegen die konventionelle Darstellung der Götter und Heroen sowie des Todes, wie sie v.a. von Homer und Hesiod vorgenommen wird. Ziel der inhaltlichen Anforderungen ist es, den Mut, die Kampfeslust und die Achtung gegenüber Göttern und Heroen durch idealisierte Erzählungen zu stärken (s.o.S.74-76). Neben den inhaltlichen stellt Piaton auch formale Kriterien auf. Demnach läßt sich die Dichtung in die Formen der unmittelbaren Wiedergabe der Rede, nämlich Tragödie und Komödie, der mittelbaren, und zwar Lyrik in Form von Dithyramben, und der gemischten Wiedergabe, des Epos, einteilen. Während bei der unmittelbaren Wiedergabe besonders intensiv mit den Mitteln der Nachahmung gearbeitet wird, so daß der Eindruck entsteht, es agierten direkt die dargestellten Personen, begnügt sich die mittelbare Wiedergabe mit einer objektiveren Darstellung, einer Erzählung in der dritten Person, aus der Perspektive des Dichters (Rep.392c-394c). Aus dieser Einteilung ergibt sich bereits eine graduell abgestufte Beurteilung bestimmter Dichtung^gattungen, weil die Darstellungsweise unmittelbarer dichterischer Nachahmung von Piaton als schädlich zurückgewiesen wird. ο

Insbesondere aber wirkt sich die Nachahmung auf inhaltlicher Ebene auf sämtliche Dichtung aus: Ausgehend von einem breiten Begriff von Künsten, unter die auch die Fachwissenschaften fallen, unterscheidet Piaton gebrauchende, erzeugende und nachahmende Künste (Rep.601d). Gebrauchende Künste (wie die Steuermanns- oder Erziehungskunst) sind als Fachwissenschaften unfehlbar und stehen an der höchsten Stelle der Künste (Rep.601d®Die Verurteilung der Mimesis auf formaler Ebene führt zur Ablehnung der direkten und Bevorzugung der indirekten ("nichtmimetischen", Rep.393c) Rede und damit zu einem Vorteil der Lyrik gegenüber Tragödie und Komödie; insofern scheint die alleinige Aufnahme der Hymnen in den Staat (Rep.607a) nur eine Formfrage zu sein. Dennoch darf Piatons Einschub über die Form der Dichtung nicht darüber hinwegtäuschen, daß in Buch II-III und X primär inhaltlich-ethische y nicht etwa technisch-formale Kategorien ausschlaggebend sind; daher treffen die im folgenden von Piaton angeführten ontologischen und erkenntnistheoretischen Bedenken gegenüber der Mimesis generell sämtliche Dichtungsgattungen sowie die bildenden Künste (vgl. Rep.373b,599b-601b). Piaton operiert hier mit einem anderen als dem bloß formalen Mimesisbegriff, so daß auch Lyriker "nachahmende Dichter" in diesem inhaltlichen Sinne sind, die keineswegs von der Zensur ausgenommen bleiben, bevor ihre Werke (wie in Rep. 607a) akzeptiert werden; im Gegenzug kann (trotz Rep.607a) nach entsprechender Zensierung selbst Homer Eingang in die Idealpolis finden. Vgl. dazu unten S.81f. mit Anm.9; ferner zum Mimesisbegriff: Gerald F. Else, Plato and Aristotle on poetry, Chapel Hill/North Carolina 1986,44f.; Vretska 511-513 Anm.30.

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e). Während die erzeugenden Künste wie die Handwerkskunst sich zumindest noch direkt auf Gegenstände richten und daher eine vermittelnde Position einnehmen (Rep.601e), bewegen sich die Dichtung Homers oder die Malerei auf der untersten Ebene, derjenigen reiner Scheinbilder (Rep.598d599a,602a,605a). Den Hintergrund dieser niedrigen Stellung nachahmender Kunst bildet die Ontologie Piatons, nach der Ideen, Realdinge und deren Nachahmung in der Kunst zu unterscheiden sind, wobei die Ideen als Urbild allen Seins an höchster Stelle stehen. Die Handwerker erzeugen Realdinge nach dem Vorbild der Idee selbst, die Künstler in den Kunstwerken aber nur Abbilder der Realdinge, die somit nur Nachahmung sind und sich in größter Entfernung von den Ideen und der Wahrheit befinden (Rep.596a-601a). Dieser Beurteilung entspricht auch die Rangfolge der Dinge und Erkenntnisformen im Rahmen der Erkenntnistheorie, wie sie im Linien- und im Höhlengleichnis zu finden ist. M i t den vier Erscheinungsformen der Welt Abbilder-Dingwelt-mathematische Formen-Ideen - korrespondieren die vier Erkenntnisformen Vermuten-Meinen-Nachdenken-Erkennen (Rep.509d511e); verdeutlicht werden diese Formen am Beispiel des Aufstiegs aus der Höhle (Rep.514a-518b). Die mimetische Dichtung nun findet sich auf der untersten Ebene der Erkenntnis, dem bloßen Vermuten, im Höhlengleichnis beschrieben durch die Perspektive der Gefesselten, die lediglich Schatten von künstlich hergestellten Realdingen wahrnehmen können (Rep.514a515b). Damit liegt die bloße Nachahmung durch Worte drei Stufen und demzufolge maximal vom wahren Sein entfernt (Rep.599a). Piaton räumt der Dichtung diese Stellung ein, weil die Dichter nach seinen Grundsätzen der Arbeitsteilung und Spezialisierung keine Fachleute derjenigen Tätigkeiten sind, die sie beschreiben (z.B. Staatslenker, Handwerker oder Erzieher, Rep.599d-600e), und daher von ihnen beobachtete Lebenssachverhalte ohne Wissen der Wahrheit, ohne Fachkenntnisse, also nur oberflächlich als Scheindinge behandeln (Rep.600e-601a,602a). Dichter blenden lediglich durch die Form, bieten aber zumeist keine fundierten Inhalte (Rep.601b). Folglich wirkt sich insbesondere schlechte mimetische Dichtung negativ auf den Charakter, das Verhältnis der Seelenteile aus, nämlich bei der Tragödie dadurch, daß sie den triebhaften Seelenteil, Gefühle wie Mitleid oder Schmerz, besonders reizt, den vernünftigen Seelenteil dagegen nicht, ähnlich bei der Komödie, welche übertriebene Lachlust erzeugt (Rep.605c-606d). Der zu beherrschende unterste Seelenteil wird über Gebühr erregt statt durch die Vernunft gebändigt, wodurch auch gute Menschen geschädigt werden (Rep.605b-c).

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Seine K r i t i k verdeutlicht Piaton daran, daß nachahmende Künstler w i e D i c h t e r erst i m üppigen, ungesunden Staat - als Verfallserscheinung - auftreten (Rep.373b), nach d e m W i l l e n der Masse dichten (Rep.602b) u n d v o n T y r a n n e n w i e D e m o k r a t e n G e l d dafür erhalten, die jeweilige Staatsform zu preisen (Rep.568b-c). W e g e n der fehlenden fachlichen K o m p e t e n z b e i nachahmender D i c h t u n g u n d der für den Charakter verderblichen W i r k u n g m u ß i m Idealstaat auf den größten T e i l der D i c h t u n g verzichtet werden, der verbleibende Rest ist streng zu zensieren 9. Homer

w i r d als Musterbeispiel aller mimetischen D i c h -

t u n g u n d größter Schöpfer der Tragödie schärfstens kritisiert, ausgewiesen u n d zensiert (377d-391c,595b-c,600e,607a); nur w e i l er als L e i t b i l d u n d E r zieher Griechenlands (Rep.606e) allseits bekannt ist, w i l l auch der Idealstaat nicht v ö l l i g auf i h n verzichten. L e d i g l i c h die z u m offiziellen Erziehungsideal passenden Ä u ß e r u n g e n H o m e r s w i e diejenigen über gymnastische U n t e r weisungen für den Wächterstand (Rep.404b-c) oder die gottähnliche N a t u r der tugendhaftesten M e n s c h e n (Rep.501b) werden als staatskonform u n d förderlich akzeptiert. U n b e q u e m e D i c h t e r werden ausgewiesen (Rep.398a), T r a g ö d i e n u n d K o m ö d i e n weitgehend verbannt, so daß nur noch H y m n e n auf G ö t t e r u n d L o b 9

Im einzelnen lassen sich innerhalb der in der Bewertung stark umstrittenen platonischen Dichterkritik zwei Ebenen unterscheiden. Die eine wird in Buch II-III der Politeia betont und stellt die moralische Zensur der Dichtung in den Vordergrund, so daß in diesem Fall moralisch "gute" Dichtung im Staat verbleibt. Buch X dagegen scheint radikal jede mimetische Dichtung zu verbannen (z.B. Rep.607c). Zu beachten ist allerdings, daß Buch X von der Ebene der zuvor erörterten Ideenlehre aus jede Dichtung negativ beurteilt, da sie sich im Bereich der Mimesis bewegt und fern von der philosophischen Wahrheit liegt. Diese notwendige Abqualifizierung der Dichtung gegenüber der Philosophie schließt aber die positive Verwendung von nun zurechtgewiesener Dichtung im Staat nicht aus. Tatsächlich läßt sich auch Buch X entnehmen, daß es eine positive, dem Staat dienliche Form der Mimesis geben kann (Rep.598b: Gegenüber der bloßen Nachahmung von Scheinbildern kann es begrifflich auch eine höhere, diejenige der Realität geben; Rep.604e: Schwierigkeit - d.h. nicht etwa Unmöglichkeit - der anspruchsvolleren Nachahmung eines vernünftigen Charakters im Vergleich zu der eines ungebärdigen). Diese zweite, positiv eingeschätzte Mimesis steht weit unterhalb der philosophischen Erkenntnis, findet jedoch im Rahmen der staatlichen Erziehung ihren notwendigen, nützlichen (vgl. auch Rep.607e) Raum in der Politeia, in der sich ihr neuer Bildungsauftrag auf die vorphilosophischen, propädeutischen Erziehungsstufen (Buch II-III) erstreckt. Damit wird im Ergebnis die mimetische Dichtung nicht annulliert und des Staats völlig verwiesen, sondern auf der ihr gemäßen, niedrigen Bildungsstufe (zensiert) integriert. Vgl. dazu: Julius A. Elias, Plato's defence of poetry, London 1984, 230,238; Roddy F. Gerraughty, The role and treatment of poetry in Plato's Republic, Diss. University Park/The Pennsylvania State Univ. 1974, 636-638; Allan H. Gilbert, Did Plato banish the poets?, Medieval and Renaissance Studies 2 (1966) 35-56 (37); D. R Grey, Art in the Republic, The Journal of the Royal Institute of Philosophy 27 (1952) 291-310 (295-299,302); Helene Harth, Dichtung und Arete. Untersuchungen zur Bedeutung der musischen Erziehung bei Plato, o.O. 1967 (Diss. Frankfurt 1965), 108f.,136-141, 210f.; Maurer, Staat 278f.; Mayr 182-186,195f. Für eine Radikalzensur Piatons dagegen: G. Müller, Dichterkritik 285f.,293,300f. 6 Otto

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lieder auf gute Menschen in den Staat aufgenommen werden (Rep.607a). Nach dieser Zensur verbleibt eine unveränderliche, versteinerte Dichtung (Rep.424b-c), die ausschließlich dem Ziel dient, die Erziehungsideale der Liebe zum Schönen und - im Rahmen einer ausgewogenen musischen und gymnastischen Ausbildung - der Harmonie der Seele zu erreichen (Rep. 402d,411e-412a) sowie die eugenischen Hochzeiten zu begleiten (Rep.460a), wodurch sie auch den Zweck erfüllt, die Stabilität der Stände und letztlich des Staats zu bewahren. Durchaus vergleichbare Ziele und Grundsätze lassen sich ebenfalls bei Orwell finden. I n seinem Staat richten sich umfassende Aktivitäten auf die totale Zensur und Kontrolle sämtlicher literarischer Produkte und - weitergehend - aller sonstigen denkbaren Informationsträger. Auch hier fügen sich solche Maßnahmen in das offizielle Erziehungskonzept ein, das unter dem Grundsatz "IGNORANCE IS STRENGTH" steht und darauf hinausläuft, daß die Partei keine objektiven Wahrheiten anerkennen kann, sondern sich ihre Wahrheiten zur Geschichte und Gegenwart mittels doublethink und der Kontrolle über sämtliche Dokumente selber schafft, um als unfehlbar und allmächtig dazustehen. Federführende Kraft bei der Zensur und Dichterkritik ist das Ministry of Truth , in dessen Records Department (NEF 192) Winston und Ampleforth arbeiten und sich mit der Korrektur der Vergangenheit ("the alteration of the past", N E F 341) befassen. Falls Vorhersagen der Partei oder von Big Brother über zukünftige Kriegsoperationen oder wirtschaftliche Daten nicht eintreffen, statt der Erhöhung der Lebensmittelrationen eine Verknappung notwendig ist oder Parteimitglieder in Ungnade fallen (zu unpersons werden), verlangt das Unfehlbarkeitsdogma der Partei, daß alle derartigen Hinweise i.S. des gegenwärtigen, parteikonformen Informationsstands zu zensieren, d.h. zu löschen oder zu ändern sind (NEF 189-192). Wird also ein Parteimitglied verhaftet, so müssen sämtliche Hinweise darauf, daß diese Person jemals existierte, vernichtet werden; sie wird im wahrsten Sinne des Wortes zur unperson , da niemand ihre Verhaftung, nicht einmal ihre ehemalige Existenz beweisen kann. Andererseits können problemlos geschichtliche Größen wie Kriegsheroen geschaffen werden, die niemals existiert haben (z.B. Comrade Ogilvy durch Winston, N E F 196f.). Selbst gegenüber denjenigen Angestellten, die die Geschichtsfälschungen durchführen, gibt die Partei trotz der Offensichtlichkeit keine Fälschungstätigkeit zu, sondern spricht in den Arbeitsbefehlen nur von nötigen Korrekturen von Fehldrucken (NEF 191); zudem sind sämtliche schriftlichen Anweisungen nach Ausführung der Arbeit zu vergessen und durch Einwurf in Abfallschlitze {memory holes) zu vernichten (NEF 188f.). Die Fälschungstätigkeit kann also nicht schriftlich bewiesen werden, sondern nur durch die Zeu-

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genaussagen der Angestellten oder die Erinnerung der Leser an die tatsächliche Sachlage. Letzteres unterliegt aber wiederum der Kontrolle des Gedächtnisses durch die Technik von doublethink , bei deren erfolgreicher Anwendung alle der offiziellen Doktrin widersprechenden Vorgänge und Tatsachen völlig verdrängt und im Gedächtnis ausgelöscht werden (s.o.S.63). Wichtig ist die Totalität dieser Zensur, die nicht nur neben Zeitungen auch Filme, Flugblätter, Bücher, Gedichte, Theaterstücke, Fotos oder wissenschaftliche Abhandlungen, kurz jegliche Informationsträger umfaßt, sondern auch dafür sorgt, daß sämtliche Exemplare der Altauflagen eingezogen und durch korrigierte Neudrucke ersetzt werden (NEF 190f.). Diese Zerstörung wird derart gründlich durchgeführt, daß selbst in den Vierteln der weitgehend unbehelligten proles keine verschonten antiquarischen Buchexemplare mehr aufzufinden sind (NEF 240). Die Zensur der schon bestehenden Literatur und sonstiger Datenträger findet ihre Entsprechung im monopolisierten, laufenden Produktionsprozeß von sorgsam gefilterten Informationen durch das Ministry of Truth (NEF 193). A u f einer niedrigeren Ebene wird dieses Verfahren selbst auf die proles angewandt, denen eine Form von dem Bildungsstand der Masse entsprechender, billiger Unterhaltung geboten wird ('prolefeed", "rubbishy entertainment", NEF 423), bestehend aus Sport, Kriminalität, Sex und Astrologie (NEF 193). Für die Dichtung bedeutet diese umfassende Zensur, daß sämtliche Werke kunstvoll unter Beachtung der Reimform ständig umzuschreiben sind, eine Aufgabe des Dichters Ampleforth (NEF 192). In ferner Zukunft soll es überhaupt keine Literatur im eigentlichen Sinne mehr geben (NEF 390), da Klassiker wie Chaucer, Milton, Swift, Byron und v.a. Shakespeare aus Prestigegründen zwar weiterhin existieren, aber in transformierter Form, in Newspeak-Versionen, die die Originale und die darin verkörperten Ideen völlig entstellen und zerstören (NEF 202,427f.). Auch hierin wird der allumfassende Wahrheits-, Erziehungs- und Machtanspruch der Partei deutlich, denn dessen Folge ist nicht nur die Zensur aktueller Literatur, sondern auch die völlige Abschneidung der Bevölkerung von Idealen und Vergleichsmaßstäben der Vergangenheit, die die Stabilität des Systems in Frage stellen könnten. Musik und Künste werden in beiden Systemen analog zu den Grundsätzen der Literatur behandelt. Bei Piaton bildet die Musik i.e.S. einen Teilbereich der grundlegenden musischen Erziehung, die auch die Dichtung umfaßt. Die Musik selbst besteht aus Wort, Tonart bzw. Harmonie und Rhythmus (Rep.398d). Das Wort muß den inhaltlichen Anforderungen der Dichtung genügen. I m Bereich der Tonarten werden alle diejenigen ausgeschlossen, 6*

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die Trunkenheit, Weichheit oder Schlaffheit erzeugen; übrig bleiben lediglich die dorische und die phrygische Tonart, welche zur Klugheit, Tapferkeit, Besonnenheit und Unerschütterlichkeit führen (Rep.398e-399c). Auch der Rhythmus wird an diesen Anforderungen gemessen (Rep.399e-400d). Selbst die Musikinstrumente unterliegen einer strengen Kontrolle: So werden die vielsaitige Harfe, die Zimbel und die Flöte wegen ihrer verweichlichenden und verwirrenden Allharmonie abgelehnt, die apollinischen Instrumente Lyra, Kithara und Syrinx dagegen aufgenommen (Rep.399c-e,411a-b). Die Musik nimmt insgesamt bei Piaton einen deutlich höheren Stellenwert ein als die bloß nachahmende Dichtung. Richtig in der Erziehung verwendet, führt sie zum harmonischen, ausgewogenen Charakter, den sie sehr intensiv beeinflussen kann (Rep.401d-402a). Zudem tritt die Musik in der höheren Form der Harmonielehre, als der pythagoreischen Zahlenlehre verwandte Lehre der Tonverhältnisse, über allen Wissenschaften direkt unterhalb der Dialektik wieder auf (Rep.531a-e). Dennoch unterliegt die Musik im Idealstaat ebenso wie die Dichtung dem Dogma der Unveränderlichkeit (Rep.424c); sie wird auf Hymnen und Loblieder beschränkt, die die Tapferkeit im Krieg und die Verehrung der Heroen und Philosophen fördern sollen (Rep.468d,607a), und somit instrumentalisiert. Gleiches gilt für die Verwendung bei eugenischen Hochzeiten, die durch passende sakrale Lieder begleitet werden (Rep.460a). A n sonstigen Künsten i.e.S. - abzusehen ist hier beispielsweise von der rein technischen Handwerkskunst - bleibt noch die Malerei zu erwähnen, die als mimetische Kunstform unterhalb der Musik und genau auf dem Niveau der Dichtung steht. Auch die Maler verstehen nichts vom Seienden und der Wahrheit, sondern ahmen die Handwerkskunst lediglich nach (Rep.596e598d,600e-603a,605a), was Piaton am Beispiel des nur scheinbaren, bloß gemalten Stuhles deutlich macht (Rep.596e). Durch die perspektivische Darstellung betrügt der Maler die Seele und wendet sich an den unteren Seelenteil (Rep.602d,603a-b). In den Staat aufgenommen werden daher nur zensierte Maler, die sich nach wahren, idealen Vorbildern richten (vgl. Rep. 472d,484c). Der Orwellsche Staat bringt ebenfalls der traditionellen Musik Mißtrauen entgegen, weil künstlerische Kreativität als Gefahrenquelle angesehen wird. So ist das Chestnut Tree Café nicht nur Treffpunkt von abgeurteilten politischen Verbrechern, sondern auch von Musikern und Malern (NEF 204). Privates, spontanes Singen gilt (im Bereich der Partei) wegen seiner Individualität als schrullenhaft und gefährlich (NEF 278f.,348), so daß es nur in den Vierteln der als harmlos angesehenen proles zu finden ist, wie z.B. bei

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der für Winston zum Symbol der Hoffnung werdenden, singenden Waschfrau (NEF 346-348). Sämtliche Kunstformen - auch Bildhauerei und Schauspiel - unterliegen ganz der Kontrolle durch das Ministry of Truth , genau wie die Literatur. Für die proles werden im Music Department inhaltslose, sentimentale Lieder durch einen versificator mechanisch komponiert (NEF 193,275). Diese Lieder sollen zum gedankenlosen, zufriedenen Alltag der proles beitragen. Im übrigen wird Musik ausschließlich zur Propaganda eingesetzt, in Form von kriegerischer Marschmusik, Hymnen, Fanfaren (NEF 162,178,215,415) und Liedern wie dem eigens für die Hate Week komponierten und sehr populären, dumpfen, mit trommelartigem Rhythmus versehenen Hate Song, der überall zu hören ist (NEF 284). Aus den Televisoren, den telescreens , dringt ebenfalls ununterbrochen Propagandamusik, die nicht abgestellt werden kann und die Konzentration stört, beispielsweise eigene kreative Tätigkeit und Gedanken verhindert (NEF 162,244). Die Malerei hat keine eigenständige Bedeutung mehr, es sei denn in Form von Plakaten oder Fotos. Plakate zur Verehrung von Big Brother oder zur Kriegshetze in der Hate Week (Darstellung eines feindlichen Soldaten) werden allerdings überall für Propagandazwecke entworfen und verwendet (NEF 285). Alle ehemaligen Kunstformen fristen in Ozeanien also nur ein kümmerliches Dasein im Propagandaapparat; echte, freie, kreative Kunst stellt ein kritisches Potential dar und soll in Zukunft völlig abgeschafft werden ("There will be no art", N E F 390). Auch die Sprache selbst ist Gegenstand bewußter Beeinflussung in den Systemen. Bei Piaton wird der Idee von der Einheit des Staats, dem Organismusgedanken, dadurch Rechnung getragen, daß sich kein Klassendenken entwickeln darf, sondern ungeachtet der intellektuellen Unterschiede alle sich als "Bürger" im Staat anreden sollen (Rep.463a); immerhin sind sie laut Schilderung des Metallmythos derselben Erde entsprossen (Rep.414d-415a). Diese bewußte Etablierung einer exakten Terminologie zur Unterstützung der Staatsideologie, die die prinzipielle Gleichheit aller Bürger postuliert, findet weiterhin ihren Niederschlag darin, daß die Wächter vom dritten Stand "Helfer" und "Retter" genannt werden statt "Herrscher" oder "Herren" (Rep.463a-b). Der dritte Stand wird als "Lohngeber" und "Ernährer" bezeichnet statt - wie in anderen Staaten - "Sklaven", die Herrscher untereinander nennen sich "Mitwächter", nicht "Mitherrscher" (Rep.463b). Damit wird das symbiotische, arbeitsteilige und nicht das hierarchische, vertikale Element im Verhältnis der Klassen hervorgehoben; gleichzeitig werden Un-

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Zufriedenheiten des dritten Standes oder möglicher Hochmut der Wächter vermieden. Der Zusammenhalt der Frauen- und Kindergemeinschaft äußert sich darin, daß sich alle als potentielle Verwandte betrachten müssen und daher als "Schwester", "Vater" usw. anzusprechen haben (Rep.463c-d) 10 . Schließlich vermeidet Piaton die direkte Bezeichnung der Kindestötung; er spricht im Rahmen der eugenischen Maßnahmen euphemistisch nur davon, daß Kinder an einem unbekannten Ort zu verbergen sind oder im Staat keine Pflege finden (Rep.460c, 461c). Somit arbeitet Piaton in diesem bescheidenen Umfang aus erzieherischen Gründen bereits mit einer bewußten, im Staat einzuhaltenden Terminologie, wie sie bei Orwell z.B. in der Anrede aller Parteimitglieder als comrade (NEF 173,198) eine Parallele findet. Orwell differenziert allerdings die Möglichkeiten eines Systems, seine Bürger mittels gezielter Sprachpolitik zu beeinflussen, in Gestalt des Konzepts von Newspeak wesentlich stärker aus. In Ozeanien gestalten Philologen wie Syme minutiös die Sprachentwicklung und geben regelmäßig neue, bindende Wörterbücher heraus, die die gesamte Literaturproduktion und Propaganda beeinflussen, so daß allmählich das Sprachbewußtsein aller Bürger geändert wird 1 1 . Tragende Prinzipien von Newspeak, zusammengefaßt im Appendix (NEF 417-428), sind die Straffung, Logik und Effizienz der Sprache, die dadurch erreicht werden, daß das Dezimalsystem für Maße und Gewichte, ferner die kontinentale Zählweise der Uhrzeit eingeführt (NEF 157,232f.,297) und Unregelmäßigkeiten der Grammatik getilgt wurden. Ein weiterer Kernpunkt besteht in einer radikalen Sprachvereinfachung durch Neologismen wie ungood statt bad oder plusgood statt excellent (NEF 200,418-420). Durch die Verwendung solcher Suffixe und Affixe können viele Wortvarianten abgeschafft werden; das Vokabular reduziert sich drastisch. Zudem werden durch die Propaganda Slogans und Abkürzungen eingeschliffen, die komplexe Sachverhalte inadäquat verkürzen. Euphemismen wie joycamp für "Ar-

An dieser Stelle zeigen sich übrigens Unterschiede in der Terminologie der beiden oberen Stände und der dritten Klasse, in der Verwandtschaftsbezeichnungen noch für den Bereich der traditionellen Kleinfamilie gelten. Im Extremfall gibt es somit zwei Sprachen (Seth Bernardete, Socrates' second sailing. On Plato's Republic, Chicago 1987, 119). Dieses Phänomen läßt sich auch in Ozeanien finden, da die künstliche Parteisprache Newspeak die proles mit ihrem weitgehend unverfälschten Cockney-Akzent nur am Rande erfaßt (vgl. NEF 201f.,231236). n D a ß hierbei der proles der forcierten Sprachpolitik im Bereich der Parteimitglieder zunehmend hinterherhinken, führt (zumindest für eine Übergangszeit) zu zwei verschiedenen Sprachen im Staat und zu gravierenden - durchaus erwünschten und geplanten - Kommunikationsproblemen zwischen Parteimitgliedern und proles (vgl. NEF 201f.,231-236).

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beitslager" oder vapourize für "töten" verharmlosen negative Aspekte des Systems (NEF 423). Newspeak soll später aus drei Vokabulargruppen bestehen, dem Alltagsvokabular, dem politischen und dem wissenschaftlichen Vokabular, wobei alle Gruppen einer starken Vereinfachung der Ausdrucksmöglichkeiten und der totalen Durchsetzung mit politischer Ideologie unterliegen (NEF 418426). Dahinter steht die Erwartung, Menschen durch ihre sprachliche Erziehung weitgehend formen zu können. Die radikale Reduktion der Sprache soll dazu führen, daß ketzerische Gedanken nicht mehr möglich sind und jeder Kontakt zu vielleicht noch erhaltenen Dokumenten der Vergangenheit an unüberwindlichen Verständnisschwierigkeiten scheitert (NEF 426f.). Die Ideologisierung bewirkt eine Sinnentleertheit der Sprache, welche ohne die Notwendigkeit höherer Gedankenleistungen ("In fact there will be no thought", N E F 202) zu einem animalischen Gequake degeneriert ("duckspeak\ "to quack like a duck", N E F 203,425). Wenn nach einigen Generationen (im Jahr 2050) niemand mehr die Bedeutung von "Freiheit" versteht, wenn Widerstand und opponierendes Denken mangels Kommunikationsfähigkeiten strukturell unmöglich geworden sind, hat die "Revolution der Partei" das Ziel der vollkommenen Herrschaft erreicht; dann erst ist der totale Staat unverrückbar etabliert (NEF 201f., 417,426f.). Zusammenfassend müssen die Bereiche der Zensur von Literatur und Kunst sowie die Kontrolle der Sprache, die eng zusammengehören, bei Piaton wie Orwell als Herzstück der Erziehung angesehen werden. Dementsprechend vergleichbar und intensiv ausgestaltet sind auch die Konzepte, diese Gebiete zu beherrschen, zu stabilisieren und damit den Staat auf unabsehbare Zeit zu festigen. Orwell geht im Bereich der Sprachkontrolle zwar wesentlich weiter als Piaton, aber Ansätze einer gezielten Sprachpolitik finden sich auch in der Politeia. Λ. Täuschungen und Manipulationen Zum Wohl der Beherrschten bzw. zur Kontrolle des Staats werden Täuschungen und Manipulationen für unumgänglich gehalten. I n der Politeia findet eine umfassende, bewußte Manipulation in den Bereichen Dichtung, Musik, Sprache und Religion statt; diese Bereiche werden in Inhalt und Form zensiert und in den Dienst des Staats gestellt (s.o.S.74-76,81f.,83-86). Beispielsweise sind Helden nicht in ihrer normalen, menschlichen Todesfurcht darzustellen, sondern den Wächtern ist zur Stärkung der eigenen Tapferkeit das idealisierte Bild von unerschrockenen Kämpfern zu präsen-

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tieren (Rep.386a-387d). Bestimmte, als schädlich erachtete Göttererzählungen müssen - auch wenn sie wahr sein sollten - geheimgehalten bzw. einem möglichst kleinen Zuhörerkreis vorbehalten werden (Rep.378a). Neben diesen manipulativen erzieherischen Maßnahmen gibt es aber auch eine Steigerung, nämlich den Bereich der bewußten - und zwar offiziellen und legalen - Staatslüge. Prinzipiell gelten Lügen als Ausdruck der Unwissenheit, sie sind daher abzulehnen, wogegen die Wahrheit als höchstes Gut im Staate betrachtet wird (Rep.382a-b). Dennoch kann der Fall eintreten, daß Lügen gegenüber Feinden oder auch Bürgern zur Abwendung von Unheil nötig werden. Die sparsame Verwendung von Staatstäuschungen als Heilmittel darf - wie bei der Arznei durch den Arzt - nur durch Fachleute erfolgen (Rep.382c,389b-d), also durch die Herrscher im Staat, wogegen sonstige Lügner bestraft werden. Zwar hassen die Philosophen die Lügen (Rep.485c,490b-c), aber als Staatslenker müssen sie sie um des übergeordneten Nutzens willen einsetzen (Rep.389b-c,459c-d). Der erste Anwendungsfall einer Staatslüge ergibt sich daraus, daß die Wahrheit über Ereignisse der fernen Vorzeit nicht mehr erkennbar ist, so daß eine Annäherung an diese nur mittels erdichteter Schilderungen erfolgen kann (Rep.382d). In der Politeia besteht diese einzige, edle, notwendige Täuschung in einem "phönikischen Geschichtchen", dem Metallmythos, welcher vom gemeinsamen Ursprung der Staatsbürger und der Verteilung ihrer Begabungen, der Seelenmetalle, handelt (Rep.414b-415d). Ziel dieser Erzählung ist es, einerseits ein enges Zusammengehörigkeitsgefühl aller Bürger zu erzeugen, andererseits die Ungleichheit der Begabungen, die daraus resultierende Arbeitsteilung und die Bildung der drei Stände akzeptabel zu legitimieren. Der zweite Anwendungsfall der Staatslüge liegt im Bereich der staatlich bestimmten Hochzeiten. Diese dienen den Zielen der Eugenik: Es wird Wert darauf gelegt, daß die Stärksten und Besten möglichst oft zeugen, die Schwächsten dafür möglichst selten. Auch in diesem Bereich müssen die Herrscher zum Wohl des Staats Täuschungen als Heilmittel einsetzen, um Hader und Mißgunst unter den Bürgern zu vermeiden. Daher werden die Hochzeiten durch ein geschicktes, manipuliertes Losverfahren vermittelt, so daß die Schwächlinge nicht den Herrschern, sondern dem Zufall die Schuld zuschreiben (Rep.459c-460a). Drittens werden vom Staat nicht gewollte Kinder heimlich an einem unbekannten Ort ausgesetzt (Rep.460c), damit die Eltern sie nicht aufspüren können. Die letzteren beiden Maßnahmen - aus dem Themenbereich der Eugenik - dienen dazu, daß kein interner Zwist, Neid oder das Gefühl offener Be-

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nachteiligung aufkommt, sondern (wie beim Metallmythos) die Bürger zu einem stabilen, starken Staatsorganismus vereint werden. Bei Orwell besteht im Grunde der gesamte Staat aus einem komplexen Täuschungs- und Manipulationsmechanismus. A u f allen Ebenen der Erziehung, besonders in Freizeitorganisationen, wird die Bevölkerung seit dem Kindesalter mit Parteislogans indoktriniert, gegen Werte wie Freundschaft oder gegen den Geschlechtstrieb gewandt und - in günstigen massenpsychologischen Situationen wie der Hate Week oder dem Two Minutes Hate (NEF 166-170,284f.) - zum Haß und zur Brutalität erzogen (s.o.S.59-61). Massive Manipulationen, oft mittels der Dauerberieselung per Televisor, gehen v.a. vom Ministry of Truth aus, das die gesamte Literatur, die Musik und alle denkbaren Informationsträger in den Bereichen Vergangenheit und Gegenwart, sogar auf der Ebene der unwissend zu haltenden proles , kontrolliert bzw. zensiert (s.o.S.82f.,85). Die Ausmaße der Zensur sind derart gewaltig, daß beispielsweise nach einer gravierenden politischen Änderung der Feind hat gewechselt, das bisherige Feindbild ist vollständig zu korrigieren - das gesamte Ministerium eine Woche lang ausschließlich damit beschäftigt ist, Dokumente umzuschreiben (mit einem Arbeitsanfall von täglich 18 Stunden pro Angestellter, N E F 314). Wichtige Ansätze für Manipulationen bieten insbesondere die Religion und die Sprache, wobei v.a. das Konzept von Newspeak zur Zielvorstellung vom neuen, perfekt angepaßten Menschen führt (s.o.S.77f.,86f.). Über solche Manipulationen hinaus, derer sich die Bürger weitgehend bewußt sind, läßt sich auch ein Bereich eigentlicher Staatslügen von gesteigerter Qualität und Brisanz ausmachen. Sämtliche Anweisungen und Unterlagen, die die systematische Dokumentenfälschung betreffen, müssen in memory holes geworfen, also vernichtet werden, damit offiziell keine Beweise für die Zensurtätigkeit vorliegen, die zu politischem und sozialem Zündstoff werden könnten (NEF 188). Eine Form massiver, organisierter Selbsttäuschung liegt in der verinnerlichten Verdrängung von Widersprüchen durch doublethink ("a vast system of mental cheating", N E F 343, s.o.S.63). Viele Bürger glauben und feiern sofort die Nachricht von der Erhöhung der Schokoladenration auf 20 Gramm, obwohl erst am Tag zuvor deren Senkung von 30 auf 20 Gramm verkündet wurde (NEF 206f.). Ferner finden - wie bei Piaton - Lotteriespiele statt, und zwar für die proles , die viel Freizeit darauf verwenden, ein System hinter den Lotteriezahlen zu entdecken und den Hauptpreis zu gewinnen. Allerdings werden nur kleine Summen tatsächlich ausgezahlt, die Hauptgewinne gehen im Rahmen dieses Betrugssystems an nichtexistente Personen und damit an

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den Staat (NEF 230). Wüßten die proles davon, wäre ein Aufstand zu erwarten. Über die wahren Ziele der höchsten Parteifunktionäre, ihre Allgewalt auf ewig zu festigen und jede Menschlichkeit auszurotten (NEF 390), bewahrt die Partei offiziell Stillschweigen und vertritt den Anspruch des "new, happy life" (NEF 206), da die eigentlichen Ziele der Führungsschicht für die Mehrzahl der Bürger nicht akzeptabel wären und ein politisches Konfliktpotential bilden würden. Auch kann die Partei (noch) nicht offen zugeben, daß Kriege v.a. geführt werden, um eine wirtschaftliche Mangelsituation zwecks besserer Kontrolle der Bevölkerung künstlich zu erzeugen (NEF 321f.), daß die Widerstandsbewegung der Brotherhood überhaupt nicht existiert, die tödlichen Fliegerbomben, die "rocket bombs", von der eigenen Seite stammen, um Haß gegen den Feind zu schüren (vgl. N E F 285,329), und daß sämtliche Wirtschaftsdaten und Statistiken auf reiner Erfindung beruhen (NEF 191). Würde die Partei diese Täuschungen zugeben, würde sie sich und das ganze Erziehungssystem offenkundig ad absurdum führen; sie müßte auf Propaganda gleich völlig verzichten, die absolut unglaubwürdig wäre, auch könnte sie weder Opferbereitschaft noch Engagement und persönlichen Verzicht im Namen des Kriegs mehr einfordern und keine Kinder mehr zum Haß und zur Spionage erziehen; in der Konsequenz sähe sie sich mit Forderungen nach materiellen und politischen Veränderungen konfrontiert. I n beiden Systemen dienen die Täuschungen v.a. dazu, Konfliktpotential, das bei Bekanntwerden der zum Wohle des Systems ergriffenen Maßnahmen mit Sicherheit entstehen würde, gleich im Keim zu ersticken und die Stabilität des Ganzen zu erhalten. /. Überwachungsapparat und Säuberungen, Rechtswesen und Straftheorie Beide Systeme sind mit reichlichen Mitteln ausgestattet, Überwachungsund Machtdurchsetzungsaufgaben wahrzunehmen sowie als notwendig erachtete Strafen zu verhängen. Bei Piaton sind v.a. junge Leute, aber auch die Philosophen während sämtlicher Erziehungsstufen ständig zu beobachten und zu überwachen, um festzustellen, ob sich die erhofften Tugenden wirklich bei ihnen zeigen und entwickeln (Rep.412d-e). So werden junge Wächter bewußt in Versuchung bzw. Konfliktsituationen geführt. Anhand ihrer genau registrierten Reaktionen kann das Vorliegen eines besonnenen und tapferen Charakters überprüft und dann die Auslese vorgenommen werden (Rep.413c-414a). Darüber hinaus gilt aber für alle drei Stände, daß jeder Bürger den unersättlichen dritten Seelenteil bewacht, die Besonnenheit der

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eigenen Seele wahrt und damit seine innere Ordnung aufrechterhält (Rep. 442a-b) 12 . Als Garanten der inneren Sicherheit des gesamten Systems dienen die Wächter, die als immerwache Hunde 1 3 bezeichnet werden und als Helfer der Hirten nicht nur die Herde gegen äußere Feinde zu verteidigen, sondern auch die innere Ordnung der Herde zu bewahren haben (Rep.415e). Besonders deutlich wird diese auch nach innen gerichtete Sicherungsaufgabe dadurch, daß die Wächter sich einen strategisch günstigen Lagerplatz aussuchen sollen, von dem aus sie am besten diejenigen Leute im Inneren in Schach halten können, welche nicht den Gesetzen gehorchen (Rep.415d-e). Orwells Überwachungsapparat stellt sich als wesentlich weiter ausdifferenziertes, durch technische und psychologische Hilfsmittel bis zur Totalität gesteigertes Kontrollsystem dar. Durch ständige Indoktrinierungen und Erziehungsmaßnahmen beginnt die lückenlose Überwachung bereits (wie bei Piaton) bei der eigenen Person, die sich als ideal konditioniertes Parteimitglied selbst gedanklich zu kontrollieren und innere Disziplin zu entwickeln hat. Durch diese Präventivmethode, crimestop, werden ketzerische Gedanken (thoughtcrime, N E F 172) bereits im Keim unterdrückt (NEF 340). A u f einer zweiten Stufe erreicht die Partei durch ihr Erziehungssystem, daß niemand mehr seinen Freunden trauen kann und jedermann befürchten muß, selbst im Intimbereich der Familie ausspioniert und denunziert zu werden (s.o.S.59). Beispielsweise denunzieren Amateurspione wie die siebenjährigen Kinder von Mr. Parsons - erfolgreich zu Spies erzogen und sogar mit speziellen Horchgeräten ausgestattet - ihren eigenen Vater sowie einen verdächtig erscheinenden Fremden, den sie stundenlang verfolgen (NEF 205,210,360), oder zünden eine alte Marktfrau an, weil sie Wurst in ein Poster von Big Brother einwickelt (NEF 210). Die offizielle, staatliche Überwachung wird von der allgegenwärtigen Thought Police durchgeführt. Diese arbeitet zunächst mit technischen Hilfsmitteln wie Mikrophonen und den im Parteibereich überall angebrachten telescreens . Derartige Televisoren sind - außer bei Mitgliedern der Inner Party - nicht abschaltbar (NEF 302f.); sie senden und empfangen gleichzeitig (NEF 158,335). Dadurch wird fundamentale Unsicherheit erzeugt, weil Parteimitglieder damit rechnen müssen, jederzeit beobachtet und abgehört zu werden oder sich durch ihr Mienenspiel zu verraten ^facecrime NEF 210). ' V g . . dazu das Bild der dreigeteilten menschlichen Seele, in der der oberste, menschliche und der zweite, löwenhafte Teil den unersättlichen dritten Teil, ein vielköpfiges Untier, zu zügeln und zu unterwerfen haben (Rep.588c-590b). 13

Rep.404a. Vgl. die Wachhunde in Animal Farm, die von den herrschenden Schweinen gegen jede innere Opposition exzessiv eingesetzt werden (AF 47f.,72-74).

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Televisoren können sogar einen durch Aufregung beschleunigten Herzschlag aufnehmen (NEF 224) oder zur direkten Ansprache von Bürgern benutzt werden, wie z.B. bei Winston, der durch die Übungsleiterin aus dem Televisor zu intensiveren Sportübungen ermahnt wird (NEF 187). Die Geräte sind praktisch überall im Aufenthaltsbereich von Parteimitgliedern anzutreffen, sogar auf Toiletten, allerdings nur selten in den Vierteln der proles , die kaum der Überwachung bedürfen (NEF 218). Neben modernsten technischen Mitteln steht der dem Ministry of Love unterstellten Thought Police ein allgegenwärtiges Netz von Agenten zur Verfügung, das sie zur einzigen wirklich effizienten Organisation Ozeaniens macht (NEF 328). Während für die proles einige sporadische Kontrollen genügen, überwacht die Thought Police Parteimitglieder absolut lückenlos und mit wissenschaftlichem Interesse ("A Party member lives from birth to death under the eye of the Thought Police", NEF 339). So wird beispielsweise Winston, der bereits beim ersten Ausflug in das Viertel der proles ein Tagebuch bei Mr. Charrington - einem bestens als prole getarnten Agenten und Verkleidungskünstler der Thought Police (NEF 351) - kauft und damit einen klaren Hinweis auf ketzerische Gedanken liefert, sieben Jahre lang beobachtet und von O'Brien studiert, ohne daß die Thought Police eingreift (NEF 369,398). Dieses Überwachungssystem bewirkt, daß kein Privatleben mehr möglich ist (dies gilt weitgehend, mangels technischer Möglichkeiten allerdings eingeschränkt, auch für die Politeia), und weiterhin, daß enge zwischenmenschliche Verbindungen wegen des Argwohns nicht mehr Zustandekommen und die Bürger in ständiger Bemühung um Konformität mit staatlichen Wünschen leben ("private life came to an end", NEF 335). Menschen, die nicht in den Staat integriert werden können und daher eine Gefahr oder Last für ihn darstellen, finden sich in beiden Systemen; sie dürfen nicht aufgenommen oder müssen mittels Säuberungsmaßnahmen beseitigt werden. So werden in der Politeia unbequeme Dichter ausgewiesen (Rep.398a); auch ist der Staat von unpassenden Musikern und Instrumenten zu reinigen (s.o.S.81f.,84). Schwache, verkrüppelte oder illegitime Kinder werden getötet (s.o.S.70 mit Anm.5). Die langwierige Pflege schwerwiegend Erkrankter belastet den Staat zu sehr, so daß sie entweder schnell gesunden müssen oder dem Tod überlassen werden, aber nicht über längere Zeit dahinsiechen dürfen. Seelisch Behinderte oder unheilbar Erkrankte werden besser gleich dem Tod überlassen oder getötet (Rep.406d-e,409e-410a). Gerade diese Maßnahmen gehören zu den radikalsten Säuberungsvorschlägen in der Politeia.

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Eine andere A r t von Säuberungen wird bei der Staatsgründung vorgenommen. Bei der Übernahme des Staats müssen die Philosophen den Staat und die Sitten wie eine Tafel reinigen und dürfen nur gottgefällige Anlagen, nur reine Charaktere aufnehmen (Rep.501a-c). Darüber hinaus finden keine Älteren in den neuen Staat Eingang; nur Kinder bis zum zehnten Lebensjahr, die noch genügend durch Erziehung formbar sind, werden ausgelesen (Rep. 536d,540e-541a). Die von Orwell erwähnten Säuberungsmaßnahmen liegen gänzlich in der Hand der Thought Police und des Ministry of Love , die unbequeme Bürger, z.B. auch zu intelligente proles , jederzeit vaporisieren können (NEF 338340). Zudem müssen die wenigen Fremden, v.a. die Kriegsgefangenen, damit rechnen, als Spione bzw. Kriegsverbrecher gehängt oder in Arbeitslager gesteckt zu werden (NEF 176,256). Der Grund für die Vaporisierung von Parteimitgliedern liegt zumeist darin, daß sie thoughtcrime bzw. facecrime verüben oder durch zu große Intelligenz und Individualität auffallen, also gegen das Bild des perfekt angepaßten Idealbürgers verstoßen (NEF 202, 209). In regelmäßigen Abständen fegen besonders intensive Säuberungswellen über den Staat, so daß die Familien und der Bekanntenkreis praktisch eines jeden Parteimitglieds direkt betroffen sind. Beispielsweise wurden Winstons Eltern vaporisiert, und ihm sind weitere dreißig Betroffene persönlich bekannt, obwohl diese unpersons längst aus seinem Gedächtnis gestrichen sein sollten, so wie staatlicherseits sämtliche Hinweise auf sie völlig getilgt wurden (NEF 192,194f.). Eine wichtige Auswirkung dieser institutionalisierten Säuberungen liegt darin, daß kaum noch Mitglieder der älteren Generation existieren, die über ihre Erinnerungen an die Vergangenheit befragt werden könnten (NEF 231). V.a. innerhalb der Parteiführung wurden nach der Revolution seit den 60er Jahren alle ernsthaften Konkurrenten von Big Brother ausgeschaltet und in großangelegten, öffentlichen Schauprozessen abgeurteilt (NEF 221), so daß sich nunmehr Big Brother als alleinige und schon immer maßgebende Führungsfigur darstellen kann. Für den einzelnen Betroffenen, beispielsweise Winston oder Julia, reicht die Prozedur der Säuberungen von der Verhaftung über Folterungen bis zu chirurgischen Eingriffen sowie Gehirnwäschen mittels Elektroschocks, die die Erinnerung und Widerstandskraft löschen (NEF 380f.,410f.) und den "Patienten" reinigen bzw. "perfekt machen" (NEF 369). Selbst so behandelte, "geheilte" Parteimitglieder fallen früher oder später allerdings der Exekution zum Opfer (NEF 222).

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Damit dienen Säuberungen bei Piaton wie Orwell nicht nur der Disziplinierung der Bürger, sondern auch dazu, dem Ideal des staatskonformen, neuen Menschen näher zu kommen. Charakteristischerweise kennen beide Staaten kein Rechtswesen im klassischen Sinne, keine ernstzunehmende, faire Gerichtsbarkeit oder gar Grundrechte als Abwehrrechte gegenüber staatlichem Zugriff. In der Politeia wird von Richtern gesagt, daß sie eine gute Seele haben und alt sein müssen, da junge Leute durch die Berührung mit Unrecht verdorben werden (Rep. 408e-409d). Dabei läßt Piaton aber keinen Zweifel an seiner kritischen Haltung gegenüber dem ganzen Rechtswesen und daran, daß der Idealstaat weder der Richter noch der Gesetze bedarf: Gerichte sind Kennzeichen eines zügellosen und kranken - hier zeigen sich Parallelen zwischen Richtern und Ärzten - Staatswesens; es zeugt von schlechter Erziehung im Staat, wenn nach Richtern gerufen werden muß (Rep.405a-b). Kritik am Rechtswesen liegt auch in den Beobachtungen, daß sich stets Schlupflöcher im Verfahren und den Gesetzen finden lassen und letztlich alles von der Gnade eines verschlafenen Richters abhängt (Rep.405b-c). Ausführliche gesetzliche Regelungen benötigt der Idealstaat nicht, da bereits die Erziehung die geeigneten Verhaltensregeln sichert (Rep.425a-c). Alle Probleme des Zivilrechts, v.a. Marktangelegenheiten, Stadt- und Hafenrecht, daneben aber auch das Prozeßrecht, sind der Regelung unwürdig (Rep.425c-d) - das Recht ergibt sich im Idealstaat bereits aus inneren Lebensnormen. In schlechteren Staaten aber nützt es nichts, weil stets Verbesserungen und Neuregelungen nötig sind: eine vergebliche, endlose Mühe wie das Köpfen einer Hydra (Rep.425e,426e-427a). Letztlich sind auch das Straf- und Verwaltungsrecht keiner Regelung wert, so daß Gesetze nicht zugelassen werden, außer die höchsten Gesetze Apolls, rein sakrale Regelungen über Tempelbau, Opfer und Bestattungen (Rep.427b-c). Damit spricht sich Piaton praktisch für die Abschaffung des gesamten traditionellen Rechts- und Gesetzessystems aus. Dasselbe gilt im Grunde auch für Ozeanien. Orwell spricht von Prozessen nur als Schauprozessen, im Zusammenhang mit den "großen Säuberungen", und macht deutlich, daß es hier um rein theatralische Veranstaltungen mit unter Folter erpreßten Geständnissen geht, nicht um eine faire Rechtspflege (NEF 194f.,221-224). In Ozeanien gibt es keine offiziellen Gesetze oder formalen Verbote, nichts ist illegal (NEF 161,339f.); doch allen Parteimitgliedern ist klar, daß sie instinktiv richtig erfaßte Regeln bei Todesstrafe nicht überschreiten dürfen, v.a. jeder Häresie oder jeglichem thoughtcrime widerstehen müssen. Frei von diesen Regeln sind nur die proles , die alle auf ihren Bereich beschränkten Verbrechen unter sich ausmachen können (NEF 218).

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Dennoch existiert ein Strafvollzugswesen mit Gefängnissen und Arbeitslagern für politische und gewöhnliche Verbrecher sowie Kriegsgefangene (NEF 256,354f.), öffentlichen Hinrichtungen von Kriegsgefangenen und Parteiführern (NEF 176,223) sowie schließlich den Folterungen in den Kellern des Ministry of Love, die bis zur physischen und psychischen Zerstörung führen. In der Politeia wie auch in Nineteen Eighty-Four gibt es somit weder ein Rechtswesen noch Gesetze, aber Strafen, so daß Urteile im freien Ermessen der Herrscher liegen, also der Philosophen (Rep.433e) bzw. der Inner Party (repräsentiert durch O'Brien). Hinter der Strafprozedur in beiden Staaten steht die Erwartung, die Verbrecher durch Strafen heilen bzw. bessern zu können. Nach Piaton wird das Unrecht nur verschlimmert, wenn der Verbrecher straflos bleibt, da er dann nicht gebessert werden kann und in die Zügellosigkeit entgleitet (Rep.380b,445a). Die Heilung erfolgt dadurch, daß der dritte Seelenteil im Rahmen eines Erziehungsprozesses gezähmt wird und die höheren Seelenteile - vom Joch befreit - die Herrschaft über die Seele erlangen können (Rep.591b) 14 . Ebenso erheben die Herrscher Ozeaniens den Anspruch, die in den Folterkammern behandelten Abweichler zu erziehen und zu heilen (s.o.S.50), d.h. es geht nicht um die bloße Vernichtung von Staatsfeinden, sondern ihre - zur Not mit chirurgischen Mitteln erreichte - Umformung (NEF 377) zu angepaßten Gliedern der Gesellschaft ( Ί shall save you, I shall make you perfect", N E F 369). Zusammenfassend kann in beiden Staaten ein ausdifferenziertes Säuberungs- und Strafsystem einer praktisch inexistenten Gerichtsbarkeit bzw. fehlenden gesetzlichen Regelungen gegenübergestellt werden. Der Anspruch auf Totalität und Allmacht läßt sich selbst bis zur Behandlung von Abweichlern durch das Strafsystem verfolgen, auf die eine modifizierte Form der Erziehung angewandt wird, wenn sie nicht ohnehin sogleich als hoffnungslose Fälle hinzurichten sind.

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Näheres bei Elisabeth Hansot, Perfection and progress. Two modes of Utopian thought, Cambridge/Mass. 1974, 30f. mit Anm.13; Mary M. Mackenzie, Plato on punishment, Berkeley 1981,192-195,204.

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3. Regelungsbereiche a. Arbeit und Freizeit I n der Politeia wie in Nineteen Eighty-Four spielt die Arbeit eine zentrale Rolle für die Organisation des Staats und das Leben jedes Individuums, so daß genaue Regelungen dieses Bereichs nötig sind. Piaton rechtfertigt die Gliederung des Staats in drei Stände mit den Grundsätzen der Arbeitsteilung: Nur wer die beste Anlage für eine bestimmte Tätigkeit besitzt, wird diese qualitativ wie auch quantitativ hervorragend ausüben (Rep.370b-c). Da die Menschen nicht autark, sondern aufeinander angewiesen sind, ist es sinnvoll, daß sie sich arbeitsteilig organisieren, also ihre Bedürfnisse nicht jeweils individuell decken, sondern dies unter der Ausnutzung ihrer verschiedenen Naturanlagen und damit effizienter, mit weniger Zeitaufwand tun. Aus diesem Grundsatz und dem prinzipiellen Vorrang des Gemeinwohls vor individuellen Interessen entsteht die Notwendigkeit, den Staat nach Ständen zu organisieren und so den verschiedenen Seelenbegabungen gerecht zu werden. Jeder bringt nur dann in den Staat optimal seine Fähigkeiten ein, wenn er Gelegenheit erhält, sie in einem spezialisierten Beruf einzusetzen (Rep.397e). Daraus ergibt sich die Bestimmung der Gerechtigkeit, jeder müsse im Staat das Seine tun, seine Aufgabe erfüllen (Rep.433b). Ungerechtigkeit herrscht dagegen, wenn einzelne Bürger in anderen Ständen tätig werden, ohne es wert zu sein. Das Prinzip, die Bürger auf drei Stände nach dem ausschließlichen Kriterium der individuellen Arbeitsfähigkeit aufzuteilen, darf also nicht durchbrochen werden (Rep.434a-c). Aus der Arbeitsteilung folgt auch, daß unrichtig zugeordnete Individuen in den jeweils geeigneten Stand überstellt werden, so daß nicht die Geburt zum Kriterium der Standesangehörigkeit wird, sondern ausschließlich Leistung und Begabung (s.o.S.55f.). Demzufolge müssen auch Frauen bei gleicher Leistungsfähigkeit, die ihnen prinzipiell zugestanden wird, wie die Männer erzogen werden und im Berufsleben gleichrangige Positionen erhalten können (s.o.S.64). Der Grundsatz sinnvoller und effizienter Arbeitsteilung führt somit zur Gleichberechtigung der Frau. Die berufsqualifizierende Erziehung der beiden oberen Stände wird besonders in den Vordergrund gerückt und detailliert beschrieben, weil diese die Schlüsselpositionen im Staat einnehmen und daher ihre Erziehung genauestens kontrolliert werden muß. Diese Kontrolle des beruflichen Werdegangs mit ständigen Ausleseprozessen erstreckt sich insbesondere bei den Philosophen über das gesamte Leben, da sie erst ab dem 50. Lebensjahr zur höchsten Staatsleitung zugelassen werden (s.o.S.60).

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I m Verhältnis der drei Stände untereinander läßt sich zunächst eine prinzipielle Gleichberechtigung feststellen; diese beruht auf der Arbeitsteilung, der Spezialisierung und einem einheitlichen Arbeitsbegriff, nach dem die Tätigkeiten der Wächter und Philosophen nicht grundsätzlich von der handwerklichen Arbeit unterschieden werden. Der dritte Stand übernimmt die Aufgabe der materiellen Versorgung des Staats ("Lohngeber und Ernährer", Rep.463b), den Wächtern obliegt die Sicherung und den Philosophen die Staatsleitung - eine Tatsache, die letztere nötigt, aus den eigentlich bevorzugten Gefilden der Ideenschau zu den Pflichten der Praxis herabzusteigen. Kein Stand soll über einen anderen herrschen, sondern alle sollen einander als gleichberechtigte Funktionsglieder des Staatsganzen ansehen (s.o.S.85f.). Jenseits dieser Grundsätze verschweigt Piaton jedoch bei bestimmten Ständen - gemäß ihrer Bedeutung für den Staat - nicht gewisse Präferenzen, die sich zu einer axiologischen Anordnung verdichten. Darüber hinaus wird der Berufsstand der nachahmenden Künstler gleich des Landes verwiesen, und auch Richter und Ärzte gelten bloß als Zeichen eines Verfallsstaats. Ambivalenzen ergeben sich bei der Charakterisierung des dritten Standes. Zunächst bildet dieser die Keimzelle des Staats, und Piaton schildert mit einer gewissen Achtung die Bauern, welche die Nahrungsgrundlage der Gemeinschaft schaffen (Rep.369d-e), oder die Handwerker, welche höher als bloß nachahmende Künstler stehen und für langes Kränkeln keine Zeit haben, also ein gesunder Stand sind (Rep.406c-e). Dann jedoch erhalten die Bauern und Handwerker im Metallmythos bloß Eisen und Kupfer als Seelenanlagen (Rep.415a). I n der Folge werden sie - entgegen der Idee der prinzipiellen Gleichberechtigung - dadurch abqualifiziert, daß die Handwerksarbeit als niedrig und schändlich eingestuft wird, weil sie Körper und Seele schädigt (Rep.495d-e,590c). Zudem wird das Leben der Wächter als viel besser im Vergleich zu demjenigen der Bauern und Handwerker bezeichnet (Rep.466a-b), und feige Wächter sind hinab zum dritten Stand der insofern mit Feigheit assoziiert wird - zu versetzen (Rep.468a). Aus der Sicht des Intellektuellen und Philosophen Piaton kann diese Bewertung mit der Entfernung des dritten Standes von der Erkenntnis der Ideenwelt begründet werden. Ungeachtet dessen muß aber angesichts der zutiefst angestrebten Harmonie im Staat von einer Atmosphäre des gegenseitigen Respekts und der Anerkennung zwischen den Ständen ausgegangen werden. Auch das Arbeitssystem Ozeaniens beruht auf den Grundsätzen der Arbeitsteilung, der Leistung zum Wohl des Staatsganzen und der prinzipiellen Gleichberechtigung der Frau in Ausbildung und Beruf. Inoffiziell wird die

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Wirtschaft zwar ineffizient organisiert, damit kein Reichtum an die Bevölkerung verteilt werden muß und diese besser kontrolliert werden kann (NEF 320f.,328), aber im Grundsatz hat jeder Bürger in den Staat engagiert seine volle Arbeitskraft einzubringen. Die stark ausdifferenzierte Arbeitsteilung zeigt sich am Beispiel der hochspezialisierten Tätigkeiten von Parteimitgliedern im Apparat der Bürokratie, beispielsweise im Ministry of Truth mit seinen vielen Abteilungen und Unterabteilungen sowie seinen Spezialisten wie Winston, dem Reimfälscher Ampleforth oder dem Newspeak-Philologen Syme (NEF 188-194,199-202). Frauen sind prinzipiell gleichberechtigt und werden sogar aufgrund ihrer besonderen Widerstandsfähigkeit bevorzugt in der Abteilung Pomosec eingesetzt - allerdings erscheinen sie kaum in Führungspositionen (s.o.S.65f.). Es versteht sich, daß das Engagement und die Arbeitsergebnisse jedes einzelnen Parteimitglieds minutiös überwacht werden und für die weitere Planung seiner Karriere bzw. die Zuweisung von Verantwortung eine bedeutende Rolle spielen. Weniger stark kontrolliert werden die proles , welche die materiellen Grundlagen Ozeaniens schaffen - wie der dritte Stand in der Politeia - oder dienende Funktionen in den Ministerien ausüben (NEF 199), während die Parteimitglieder höherwertige, überwachende Verwaltungsaufgaben oder technische Dienste wahrnehmen. Der dritte Stand muß für das rein physische Überleben derart hart arbeiten, daß die meisten proles eine geminderte Lebenserwartung von 60 Jahren haben (NEF 217). Dennoch blicken die oberen Stände auf die proies mit offener Verachtung herab und setzen sie mit gedankenlosen Tieren gleich (NEF 218,339). Da die Parteimitglieder - wie auch die Angehörigen der Stände in der Politeia - ihren Fähigkeiten entsprechend eingesetzt werden, macht den meisten ihre Arbeit Freude und verschafft ihnen Befriedigung, beispielsweise dem Poeten Ampleforth, dem engagierten Philologen Syme und selbst Winston, der trotz der inneren Opposition gegen das System seine Arbeit als intellektuellen Ansporn liebt und gewisse Erfolge aufzuweisen hat (NEF 194197). Dabei muß Winston 60 Stunden pro Woche arbeiten - Julia sogar noch länger (NEF 267), - in Stoßzeiten wie anläßlich des Feindwechsels während der Hate Week über 90 Stunden, verbunden mit Übernachtungen auf den Bürofluren (NEF 314). Parteifanatiker widmen zusätzlich noch jede freie Minute dem Dienst am System (NEF 197). Insgesamt fällt eine positive Grundeinstellung auf, ein Arbeitsethos, wonach die Arbeit zum ausfüllenden, befriedigenden Faktor im Leben wird. Diese positive Einstellung läßt sich auch für die Politeia postulieren, da dort - wie in Ozeanien - alle Bürger ihren Neigungen entsprechende Tätigkeiten ausüben dürfen. Der Staat profitiert jeweils dadurch, daß die Bürger mehr

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leisten und zudem einen höchstmöglichen Grad an Zufriedenheit durch ihre Arbeit erreichen. Demgegenüber verwundert es nicht, daß Freiräume für Freizeit kaum existieren; sie würden im System nur stören und dem Individuum eine unerwünschte Privatsphäre schaffen. Daher verbringen die beiden oberen Stände in der Politeia ihre Zeit entweder bei der Arbeit oder in der Gemeinschaft, so z.B. bei gemeinsamen Mahlzeiten oder in den gemeinschaftlichen Wachhäusern (s.o.S.72). Eine individuelle Privatsphäre, in der sie vom Berufsleben getrennte Zeit mit der Familie verbringen könnten, gibt es nicht, ebensowenig wie die Familie selbst, die in der Frauen- und Kindergemeinschaft aufgeht (s.o.S.67). Alles Handeln wird unter das Postulat des Staatswohls gestellt, z.B. die Pflicht zur ständigen Bildung und Förderung der Seelentugenden, so daß für Freizeit i.S. von Müßiggang kein Raum bleiben kann. Selbst die Feiern und Feste anläßlich der eugenischen Hochzeiten werden staatlich verordnet und ausgerichtet (Rep.459e-460a). Auch bei Orwell verbleibt Platz für Freizeitgestaltung allenfalls im Bereich des dritten Standes. Dies relativiert sich allerdings dadurch, daß sämtliche Freizeitaktivitäten letztlich durch die Partei in eine bestimmte, harmlose Richtung gelenkt werden, wie die verdummenden, staatlich organisierten Spiele, Sport oder die Lotterie (NEF 193,423). Parteimitglieder beenden zwar nach der Arbeit ihren offiziellen Dienst, aber es wird von ihnen erwartet, daß sie jegliche Freizeit außerhalb der unumgänglichen Schlafenszeit den Parteiorganisationen widmen. Beispielsweise wird die allabendliche Anwesenheit bei Programmen des Community Centre prinzipiell als selbstverständlich vorausgesetzt, will man sich nicht des Individualismus verdächtig machen; weiterhin existieren Sportvereine, diverse Jugendorganisationen und Vorbereitungsaktivitäten für Spendenaktionen und Demonstrationen (NEF 175,226f.,268f.). Solche Parteimitglieder, die sich diesem exzessiven Aktivismus entziehen, riskieren ihr Leben, da sie ein ownlife, eine verbotene Sphäre des Individualismus für sich beanspruchen (NEF 226f.). Zusammenfassend läßt sich am Beispiel der Bereiche Arbeit und Freizeit recht deutlich der allumfassende Regelungsanspruch beider Systeme demonstrieren, sowie das Selbstverständnis des jeweiligen Staats als eines allen Individuen übergeordneten und sie total eingliedernden Organismus. b. Wirtschaft

und Wissenschaft

I n den beiden Staatsentwürfen sinkt der Bereich der Wirtschaft fast zur Bedeutungslosigkeit herab, und auf dem Gebiet der Wissenschaft dominiert eine statische Grundeinstellung, die freie Forschung verhindert. In der Poll·

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teia liegt die gesamte Wirtschaft in der Hand des dritten Standes; die relativ niedrige Stellung, die Piaton wirtschaftlichen Fragen einräumt, zeigt sich daran, daß Gesetze für diesen Bereich überflüssig und charaktervoller Männer unwürdig sind (Rep.425c-d). Die Funktion der Wirtschaft bleibt darauf beschränkt, den Lebensunterhalt des Staats zu sichern; keineswegs darf das Maß der Besonnenheit, das auch vom dritten Stand verlangt wird, i.S. eines Luxusstaats überschritten werden (wie beim üppigen Staat, der später gereinigt werden muß, Rep.372d-373e,399e). Aus diesem Grund muß eine gewisse Kontrolle des Erwerbsstandes und dessen wirtschaftlicher Betätigung durch die Wächter vorausgesetzt werden (vgl. Rep.415e). Ähnlich stellt Orwell die Lage der Wirtschaft dar. Während offiziell die Ziele der Dreijahrespläne übererfüllt werden, sind im Grunde sämtliche Wirtschaftsdaten reine Erfindung (NEF 189-191); de facto müssen einfachste Grundwaren wie Rasierklingen oder Schokolade rationiert werden und sind zeitweise nur auf dem Schwarzmarkt erhältlich (NEF 198). Zudem läßt die Qualität der wenigen Produkte stark zu wünschen übrig, beispielsweise die des Kantinenessens oder der Zigaretten (NEF 199,210). Diese Mangelsituation wird von der Parteiführung detailliert geplant, d.h. es wird bewußt ein möglichst ineffizientes - und in diesem Sinne genauestens kontrolliertes - Wirtschaftssystem eingerichtet (vgl. nur N E F 322), damit kein Wohlstand in breiteren Bevölkerungsschichten aufkommt ("Nothing is efficient in Oceania except the Thought Police", N E F 328). Dadurch wird eine Statik aufrechterhalten, innerhalb derer die Menschen in ihrer Armut stark vom Staat abhängig und mittels kleiner Privilegien leicht beeinflußbar sind (NEF 322). Ein willkommenes Mittel dazu, eine solche staatlich verordnete Askese zu erreichen, liegt in der beständigen Kriegführung. Durch diese kann ein großer Teil der menschlichen Arbeitsprodukte aufgezehrt und damit den Menschen die materielle Grundlage genommen werden, auf der ein gefährliches Bildungspotential heranwachsen könnte (NEF 319-321). I m Bereich der Wissenschaft setzt sich diese statische Grundhaltung insofern fort, als in der Politeia keine fremden Einflüsse oder Neuerungen in das staatlich kontrollierte Bildungs- und Wissenschaftssystem - v.a. bestehend aus den Ausbildungsfächern, von der Dichtung und Gymnastik über Mathematik, Astronomie und Musik bis zur Dialektik - eindringen dürfen (vgl. Rep.398a,424b-c). Zwar bilden Erziehung und Wissenschaften zentrale und hochgeschätzte Bereiche des Staats, aber da sie bereits in idealer Weise verfügbar und instrumentalisiert sind, können sie gegen jede Veränderung abgeschottet werden, d.h. freie Forschung wird unmöglich gemacht.

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Dieselbe Grundhaltung bestimmt Ozeanien, nur geht Orwell noch weiter. Dort wird die - v.a. naturwissenschaftliche - Forschung nur noch in unabdingbaren Bereichen, wie der Rüstung, unter staatlicher Kontrolle bestenfalls vorübergehend toleriert. I m Grunde aber soll die Wissenschaft nicht nur i.S. freier Forschung, sondern langfristig sogar völlig abgeschafft werden (NEF 323f.,327f.,390), da sie zu destabilisierenden Entwicklungen führen kann. Ebenso wie Piaton der empirischen Forschungsmethode eine Absage erteilt 1 5 , tut dies auch der Orwellsche Staat (NEF 320,323f.) und setzt stattdessen auf eine dialektische Denkform (s.o.S.63), durch die sich die Partei über die Naturgesetze erhaben fühlt und ihre Allmacht ausspielt ("We make the laws of Nature", NEF 387). I m Ergebnis zeigen auf den Gebieten Wirtschaft und Wissenschaft beide Staaten, daß sie in deren Eingrenzung, Kontrolle und Instrumentalisierung Möglichkeiten finden, die Statik des Systems nicht nur aufrechtzuerhalten, sondern sogar zu festigen. c. Außenbeziehungen, Krieg und Rassenideologie Die Beziehung der Staaten zur Außenwelt wird entscheidend vom eigenen Selbstverständnis und der Staatsgröße geprägt. Piaton beschreibt den Idealstaat als kleine, begrenzte Polis, die weder zuviel Land noch eine zu hohe Bevölkerungszahl umfassen soll. Zwar entsteht der Wächterstand aus der Landgier des üppigen Staats (Rep.373d-e), aber die ideale Polis darf nur so aufgebaut sein, wie die innere Einheit es noch zuläßt, also weder zu groß noch zu klein (Rep.423b-c). Als geeignetes Regulationsmittel dient die gesteuerte Familien- und Zeugungspolitik, durch die im Fall von Kriegen oder Krankheiten gezielt für vermehrten Nachwuchs gesorgt werden kann (Rep. 460a) 16 .

1 Annas, Republic 279; Ernst Cassirer, Der Mythus des Staates. Philosophische Grundlagen politischen Verhaltens, Zürich 1978, 92 m.w.N.; Ian M. Cçombie, An examination of Plato's doctrines, Bd.II, Plato on knowledge and reality, London 1971, 564f. Vgl. v.a. die Kritik an der empirisch messenden, daher für Platon defizitären Musikforschung der Pythagoreer (Rep. 531a-c); weiterhin die negative Bewertung der "Erfahrung" {εμπειρία) im Verhältnis zur "Fachwissenschaft" (τέχνη) in Gorg.463b,465a; vgl. ferner die einzigartige Stellung der Dialektik als höchster Wissenschaft bzw. Vollendung aller Wissenschaften (Rep.532a-b,534e), die mit reinem Denken fern jeder Empirie operiert. 16 Im Kritias, der in seinen Grundzügen den Organisationsprinzipien der Politeia entspricht (Criti.llOb-d), wird die ideale Einwohnerzahl bzw. Staatsgröße mit 20.000 Einwohnern angegeben (Criti.ll2d-e).

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C. III. Gemeinsame Strukturen

Die Welt von Nineteen Eighty-Four ist in drei ähnliche, totalitäre, einander ständig bekriegende Superstaaten aufgeteilt, nämlich Eurasien, Ostasien und Ozeanien. Letzteres umfaßt Amerika, Australien, Südafrika und die Provinz Airstrip One, das ehemalige Großbritannien, in deren Hauptstadt London der Roman spielt (NEF 159,316f.). Trotz der ungeheuren Größe und Bevölkerungszahl Ozeaniens (über 300 Millionen Einwohner, N E F 220, 337) wird das Land durch dezentrale, loyale Provinzverwaltungen regierbar gehalten und bildet eine ebenso stabile Einheit wie Piatons Polis. Die Polis versteht sich als abgeschlossenes Gebilde, von dem fremde Einflüsse und Neuerungen möglichst fernzuhalten sind, damit die besondere Erziehung und damit die innere Einheit, Ordnung und Harmonie nicht gefährdet werden (Rep.398a,424b-c). Was den Außenhandel und Kontakte zu anderen Staaten anbelangt, so läßt Piaton bei der Beschreibung des üppigen Staats seine Verachtung für Importgüter wie Myrrhe, Weihrauch und Elfenbein sowie für Gold klar erkennen (Rep.373a). Er akzeptiert allerdings Außenhandel und Seefahrt als notwendig (Rep.371a-d), da nur selten ein Platz für die Staatsgründung gefunden werden kann, der Importe völlig überflüssig macht (Rep.370e). Piatons eigentliches Ideal kommt aber anläßlich der Koloniegründung in den Nomoi zum Ausdruck, wo die Nähe zu Häfen, See, Schiffsbau und Gelderwerb durch Handel als Ursachen von Unheil für die Staatsgesinnung der Bürger und ihre Seelenverfassung gelten (Leg.704a-705b); auch im Kritias werden der Hafenlärm, das Geschrei der Händler und der Überfluß an Reichtum abwertend geschildert, als Mitursache für den Sittenverfall und den dramatischen Untergang des Seestaats Atlantis (Criti.ll7e i.V. mit Criti.l21a-b). Das wirkliche Ideal besteht also in einem autarken, von Auslandskontakten und fremden Sitten völlig abgeschnittenen Landstaat. Auch in Ozeanien herrscht das Dogma der Abgeschlossenheit und Isolation des Staats, bezeichnet als "kulturelle Integrität" (NEF 326). Wegen der eigenen Staatsgröße werden äußere Handelsbeziehungen ohnehin nicht benötigt. Kontakte zu Fremden werden durch das Verbot von Fremdsprachenkenntnissen stark erschwert (NEF 326) und finden praktisch nicht statt, außer in Form der Begegnung mit Spionen (NEF 205) oder zur Schau gestellten ausländischen Kriegsgefangenen (NEF 176,255). Diese rigide Isolationspolitik dient dem Zweck, jeden Vergleichsstandard durch die Begegnung mit Bürgern anderer Staatssysteme ebenso unmöglich zu machen wie den Vergleich mit der Vergangenheit (NEF 341). Viele Propagandalügen der Partei über den Feind könnten durch solche Kontakte aufgedeckt werden, was das System gefährden würde (NEF 326). -

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I n beiden Systemen nehmen Kriege mit äußeren Feinden eine staatsprägende Stellung ein. Piaton läßt Kriege aus der Landgier des üppigen Staats entstehen, bewertet sie aber nicht als gut oder schlecht (Rep.373d-e), sondern nimmt sie als durch die Realität gegebenes, unvermeidbares Faktum hin, auf das sich der Idealstaat einstellen muß. Aus dieser Tatsache, zusammen mit dem Grundsatz der Arbeitsteilung, entsteht die Notwendigkeit eines Standes von Wächtern, die mit immerwachen, starken und tapferen Jagdhunden verglichen werden und den Staat nach außen schützen und verteidigen (Rep.375a,404a-b,415e). Das umfangreiche Erziehungssystem der Politeia richtet sich zu einem bedeutenden Teil darauf, die Wächter zu Tapferkeit, Kraft und Wachsamkeit für den Kriegsfall anzuhalten. Dadurch und aufgrund seiner inneren Einheit wird der Staat trotz der begrenzten Größe wehrhaft und schlagkräftig; als armer, dem Luxus entsagender Staat bietet er zudem anderen kaum Anreize zum Angriff (Rep.422a-423b). U m die Kämpfer zum Äußersten anzuspornen, werden Frauen und Kinder mit ins Feld geführt, und siegreichen Helden winken Hymnen, Feste, Ehrungen sowie bevorzugte Vermählungen (Rep.466e-468e). Insgesamt befürwortet Piaton zwar keine Kriege, stützt aber seinen Ständeaufbau (Wächterstand), die Tugendlehre (Tapferkeit), das Erziehungssystem mitsamt der Dichterkritik und die Auswahl geeigneter Partner für eugenische Hochzeiten zu einem wesentlichen Teil auf die Notwendigkeit, äußere Bedrohungen erfolgreich abzuwehren. Auch in Ozeanien bestimmt der Krieg entscheidend das tägliche Leben. Allerdings geht Orwell wesentlich weiter als Piaton, da er die ununterbrochene Kriegführung als bewußtes Mittel zur Kontrolle der eigenen Bevölkerung versteht. Zunächst einmal können Kriege prinzipiell nicht mehr gewonnen werden, denn alle drei Supermächte sind für sich genommen zu stark und groß, um jemals von den anderen beiden erobert werden zu können (NEF 317), zudem wechseln die Fronten zwischen den sich gegenseitig mißtrauenden Alliierten regelmäßig (NEF 312f.,325f.). Alle drei Staaten verfügen über große Atomwaffenarsenale, deren Sprengkraft jede Zivilisation auf der Erde vernichten würde; daher darf keiner an den Rand einer entscheidenden Niederlage gedrängt werden (NEF 325). Hinzu kämen kulturelle Probleme bei der Eroberung völlig fremder Gebiete und deren Bevölkerung, die erst einmal unter größtem Aufwand an die ozeanischen Parteiprinzipien angepaßt oder getötet werden müßte (NEF 326). Aus diesem Grund richtet sich das Ziel der ständigen Kriegführung zwischen den drei Supermächten auf die Eroberung von nicht fest zugeordneten Gebieten um den Äquator wie Indien, Persien oder Teilen Afrikas; es

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handelt sich also um eng begrenzte Kriegsziele ("It is a warfare of limited aims between combatants who are unable to destroy one another", NEF 317). Diese Länder werden um ihrer Rohstoffe und Arbeitskräfte willen erobert, doch letztlich sind die Eroberungen gemessen an der wirtschaftlichen Größe der drei Mächte unbedeutend (NEF 318f.). Der wirkliche Grund für die ständige Kriegführung liegt darin, daß Kriegsmaterialien, d.h. die Produkte wirtschaftlicher Anstrengungen, und mit ihnen auch die Konsummöglichkeiten in den jeweiligen Ländern zerstört werden (NEF 319-322). Entgegen der täglichen Propaganda fordern die modernen Kriege kaum noch Opfer, sondern sind zu Materialschlachten weniger Spezialisten geworden (NEF 317,325). Durch sie wird der Lebensstandard gesenkt und die Kontrolle der eigenen Bevölkerung erleichtert (s.o.S.100). Neben dieser wirtschaftlichen Kontrolle dient der Krieg auch dazu, die Massen psychologisch zu motivieren und dem System gefügig zu machen. Die Kriegspropaganda ist allgegenwärtig: Kirchen dienen als Kriegsmuseen (NEF 241f.), Kriegsfilme und "Haßveranstaltungen" erzeugen eine Atmosphäre von Patriotismus, Fremdenhaß, Brutalität und Kriegshysterie (NEF 163,284f.,312,323), und Flugbomben auf die eigene Bevölkerung geben dem Ganzen den Anstrich von Realität (NEF 285). Die Rationierung von Gütern, besondere Arbeitsanstrengungen und sonstige Entbehrungen können mit der Versorgung der eigenen Armeen an der Front begründet, mißliebige Personen als Spione des Feindes verhaftet werden; Wissenschaftler des Ministry of Peace bemühen sich inständig um die Verbesserung der Militärtechnik (NEF 324,328); Kriegshelden werden überschwenglich als Idole der Partei geehrt (NEF 196f.). Sämtliche Disziplinierungsmaßnahmen und das gesamte Erziehungsprogramm, die Moral der Unmenschlichkeit und des Hasses, lassen sich durch die ständige Kriegführung am besten durchsetzen, und zwar mit dem Argument, daß deren offizielles Ziel, die Weltherrschaft Ozeaniens, die volle Einsatzbereitschaft aller Bürger erfordere. Kriege werden nach außen zur Farce und damit zur rein innenpolitischen Angelegenheit ("War...is now a purely internal affair", N E F 329); sie dienen als Machtinstrument der Herrscher, um die Statik des Staats zu bewahren und die innere Ordnung bzw. den inneren Frieden aufrechtzuerhalten (daher auch das Motto "WAR IS PEACE", N E F 329). M i t der Fremdenfeindlichkeit und der Kriegführung werden gewisse Ansätze einer Rassenideologie verbunden. Piaton unterscheidet zwischen Griechen, denen gegenüber der Krieg human zu führen ist und die nicht versklavt werden dürfen, und Barbaren (Rep.469b-470b). Griechen gelten als befreundet und vom gleichen Stamm, während die Barbaren von Natur aus fremd bzw. andersstämmig sind (Rep.470c). Hinter diesem panhellenischen

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Geist Piatons läßt sich möglicherweise eine prinzipielle Verachtung nichtgriechischer Völker entdecken 17 , welche eine ihnen gegenüber besonders rücksichtslose Kriegführung (Rep.471a-b) rechtfertigt. Viel weiter geht Orwell . Zwar herrschen innerhalb Ozeaniens mit seinen verschiedenen Rassen völlige Akzeptanz und Gleichberechtigung, aber bei der Darstellung des Feindes bemüht sich die Propaganda um das Klischee eines monströsen, brutal und gefühllos wirkenden asiatischen Soldaten ("expressionless Mongolian face", N E F 285). Diese Asiaten erscheinen entweder einzeln mit Maschinengewehren oder in der Gestalt endloser, homogener eurasischer Armeescharen (NEF 167,169,285). Dies erzeugt Haß und Angst in der Bevölkerung vor der "asiatischen Bedrohung" durch die "minderwertigen Barbaren". Alle genannten Maßnahmen dienen in beiden Staaten der Stabilität, nämlich einerseits der erfolgreichen Abschottung nach außen, andererseits der dadurch geförderten, ungestörten Erziehung und Kontrolle nach innen, wobei Orwell mit seiner Inszenierung von Kriegen und ihrer Instrumentalisierung für rein innenpolitische Zwecke über Piaton wesentlich hinausgeht. d. Vergangenheit und Zukunft Die Regelungsansprüche beider Systeme richten sich neben der Kontrolle der Gegenwart auch auf die von Vergangenheit und Zukunft. Der Metallmythos der Politeia stellt eine Geschichte vom Ursprung der Bürger dar, erdichtet, um die gegenwärtige Ordnung zu legitimieren und die Einheit des Staats zu stärken (s.o.S.88). Wenn auch zur Zeit niemand von diesem Mythos überzeugt werden kann, so soll er doch für zukünftige Generationen im Staat als Wahrheit gelten und für sie zutreffend die Entstehungsgeschichte des Idealstaats beschreiben (Rep.415c-d). Die Zukunft des Bürgers wird durch die Erziehung bestimmt; der einzelne kann nach der Schilderung des Er-Mythos v.a. im Jenseits von seinen Tugenden profitieren (s.o.S.75). Die Zukunft des Idealstaats selbst soll nicht nur durch die Erziehung, sondern v.a. durch die Maßnahmen der Eugenik gesichert und verbessert werden; in der menschlichen Fähigkeiten und damit möglichen Irrtümern unterworfenen Anwendung dieser eugenischen Techniken - symbolisiert durch die Hochzeitszahl - liegt aber gleichzeitig

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So Francisco L. Lisi, Einheit und Vielheit des platonischen Nomosbegriffes. Eine Untersuchung zur Beziehung von Philosophie und Politik bei Piaton, Königstein i.Ts. 1985 (Diss. Tübingen 1984), 330-332 (v.a. Anm.82 m.w.N.). Vgl. aber zurecht anders unten S.136 mit Anm. 86.

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der Keim für den notwendigen Staatsverfall, durch den der in die Zukunft reichende staatliche Planungsanspruch seine Grenzen findet (s.o.S.70). Stärker ausgeprägt, sogar unbegrenzt ist der Herrschaftsanspruch über die Vergangenheit und Zukunft in Ozeanien. Das Parteimotto "Who controls the past...controls the future: who controls the present controls the past" (NEF 186) verdeutlicht diesen Anspruch: Die Partei beherrscht durch ihr allumfassendes Manipulations- und Überwachungssystem die Gegenwart Ozeaniens und hat somit auch die Möglichkeit, die Geschichte umfassend zu fälschen, wodurch wiederum ihre Allmacht bis in alle Zukunft gefestigt wird ("The rule of the Party is for ever", NEF 385). Die zwar nicht faktische, aber in Ermangelung von Gegenbeweisen unumstößliche Schaffung einer neuen, den Bedürfnissen des Systems angepaßten Vergangenheit hegt in den Händen des Ministry of Truth und wird perfekt durchgeführt ("Day by day and almost minute by minute the past was brought up to date", NEF 190), da die Geschichtsfälschung alle denkbaren Dokumente umfaßt (s.o.S.82f.), auch Gegenstände wie Antiquitäten oder Gebäude (NEF 238,241). Historische Figuren werden unwiderlegbar nach freier Phantasie geschaffen und "vaporisierte" Parteimitglieder, unpersons , jeglicher geschichtlichen Existenz beraubt, da sämtliche Hinweise auf sie und die Fälschungstätigkeit vernichtet werden können (s.o.S.82f.). Ergänzt wird dieser Mechanismus durch die Auslöschung ganzer Generationen und ihrer Erinnerungen (NEF 231) sowie die Gedächtniskontrolle doublethink . Die umfassende Macht der Partei, das Geschichtsbild zu bestimmen, führt dazu, daß eine Rekonstruktion der Wahrheit unmöglich wird. Für die Partei existiert die Vergangenheit lediglich in Dokumenten und in den menschlichen Hirnen, und da sie beides vollständig kontrolliert - bzw. Rebellen wie Winston unschädlich macht -, übt sie eine totale Herrschaft über die Vergangenheit aus; sie kann sich ihre eigene Version davon schaffen (NEF 373f.). Durch dieses Fälschungssystem werden die Bürger jedes kritischen Potentials beraubt, das sich aus dem Vergleich mit Zuständen der Vergangenheit ergeben könnte. Die perfekte Kontrolle führt - i.V. mit der Erziehung bzw. Konditionierung der Jugend, mit Fortschritten der Überwachungstechnik und v.a. dem Konzept von Newspeak (s.o.S.86f.) - dazu, daß die Partei auch die Zukunft immer perfekter beherrschen wird, bis hin zur totalen, unwiderruflichen Verfestigung des Systems. Kontrollansprüche lassen sich für die Vergangenheit wie die Zukunft in beiden Staaten nachweisen, doch besonders bei Orwell ist die Vergangenheitskontrolle zu einem zentralen Faktor staatlicher Macht- und Erziehungspolitik ausgebaut, wodurch sich die Brisanz dieses Bereichs zeigt.

1. Wertesystem

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IV. Hauptunterschiede 1. Wertesystem Zwar streben die Systeme der Politeia wie auch Ozeaniens einen radikalen Wandel gegenüber der traditionellen Gesellschaft an und verwenden zur Errichtung und Stabilisierung der neuen Ordnung weitreichende, einander ähnliche Erziehungs- und Kontrollmethoden; dennoch lassen sich im Bereich der staatlichen Wertordnung und in der Konsequenz daraus auch in einzelnen Regelungsbereichen wesentliche Unterschiede feststellen. Die platonische Tugendlehre beruht auf den vier Kardinaltugenden Besonnenheit, Tapferkeit, Weisheit und Gerechtigkeit (Rep.427e), die nicht nur für den Bereich der Seelenteile und deren Verhältnis zueinander, sondern ebenso auf staatlicher Ebene gelten, nämlich für die Ordnung der drei Stände. Die Seele wie auch der Staat sollen sich dabei zu einer Einheit, zu einem Organismus als Ausdruck vollkommener Harmonie zusammenfügen (Rep. 411e-412a). Dazu gehört v.a., daß im Staat kein Stand die Herrschaft um persönlicher Vorteile willen erstrebt, sondern ausschließlich seine Pflichten erfüllt, um der Eudaimonia des Ganzen zu dienen (Rep.420b-d). Deshalb herrschen die Philosophen auch nur unfreiwillig, aus Pflicht und Dankbarkeit für die Erziehung, obwohl sie sich lieber philosophisch betätigen würden (Rep.519c-520e). Der Staatsbau steht auf den Fundamenten der von den Philosophen als vollkommene Wahrheit erkannten Ideenlehre, besonders dem höchsten Prinzip, der Idee des Guten (Rep.505a-b,517b-518d). Zwar erscheint diese oberste Idee zunächst nur als formales Prinzip, wird aber durch die Tugendlehre und die konkrete Staatsvorstellung Piatons - v.a. durch den Vergleich mit den Verfallsformen - durchaus inhaltlich gefüllt. I n Ozeanien dagegen bildet die offizielle Doktrin, der Staat erstrebe das Glück aller ("the new, happy life", N E F 206), eine bloß vorgeschobene Fassade, hinter der sich in Wirklichkeit der totale Machtanspruch der Herrscher, der Inner Party ("We are the priests of power", NEF 387), verbirgt. Im Unterschied zum platonischen Staat wird hier Macht nicht als Mittel verstanden, um die Harmonie und Stabilität, das Glück des Ganzen zu erreichen, sondern einzig und allein als Selbstzweck, zur Befriedigung der Herrscher ("The Party seeks power entirely for its own sake. We are not interested in the good of others; we are interested solely in power. Not wealth or luxury or long life or happiness: only power, pure power. ...Power is not a means, it is an end. ...The object of power is power. ...God is power", N E F 386f.).

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C. IV. Hauptunterschiede

Durch das Vorschieben höherer Motive und das umfassende Propagandasystem wird also lediglich das pure Machtstreben getarnt; dadurch unterscheidet sich Ozeanien wesentlich vom Staatsorganismus der Politeia, in dem Macht ausdrücklich nicht als Gut, sondern als Bürde gilt, die nur ungern übernommen wird und durch das Erziehungssystem vor Mißbrauch strengstens zu schützen ist (Rep.519c-520e). Damit läßt sich auch die ethisch-qualitative Herrschaftstechnik der platonischen Dialektik vom bloß funktionalen Orwellschen doublethink deutlich abgrenzen. Dieser wichtige Unterschied beider Systeme schlägt sich in vielen Regelungsbereichen des Staats nieder. U m die Stabilität besonders wirkungsvoll zu sichern, ist den Herrschern Ozeaniens jedes Mittel recht, eine Bindung an höhere moralische Prinzipien besteht nicht. Daher kultivieren sie den Haß in massenpsychologischen Veranstaltungen und in allen Erziehungsbereichen wie der Schule oder den Medien, und mit dem Haß auch Sadismus, Gewaltbereitschaft, Brutalität, Rücksichtslosigkeit, Furcht und Zwietracht innerhalb der Gesellschaft (NEF 163,166-170,326). Liebe, Fröhlichkeit, Vertrauen und Freundschaft in zwischenmenschlichen Beziehungen werden durch dieses System unmöglich gemacht ("The old civilizations...were founded on love or justice. Ours is founded upon hatred. ...There will be no love, except the love of Big Brother. ...If you want a picture of the future, imagine a boot stamping on a human face - for ever", NEF 389f.). Zweck dieser Kultivierung des Hasses ist es, sämtliche Emotionen der Bürger zu instrumentalisieren, nämlich die positiven auf die Partei zu lenken, ansonsten aber Mißtrauen gegenüber jedermann zu wecken; dadurch stärkt die Partei ihre Allmacht und verhindert persönliche Bindungen, die Ausgangspunkte für organisierten Widerstand werden könnten. Der Erfolg dieser Politik zeigt sich z.B. an der Zerstörung der Familie, nicht zuletzt hervorgerufen durch die Aufhetzung der Kinder zu Spies (s.o.S.59,67), sowie an der Verrohung der Parteimitglieder - im Gegensatz zu den meist menschlich gebliebenen proles (NEF 299) -, die erschreckende Ausmaße angenommen hat. Kleine Kinder und sogar der Philologe Syme bevorzugen es, öffentlichen Hinrichtungen persönlich beizuwohnen, statt sie über den Televisor zu verfolgen (NEF 176,198), während der Hate Week zeigen sich Schulkinder als die wildesten Fanatiker (NEF 313), und selbst Winston tritt gedankenlos einen von einer Bombe abgerissenen Handstumpf in die Gosse (NEF 229). Demgegenüber ist es das oberste Ziel der Politeia, nicht nur das Streben nach Luxus zu zügeln, sondern sämtliche Triebe, also auch den Haß, zu be-

1. Wertesystem

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herrschen 1 . Alles andere führt zur Destabilisierung der Seelenharmonie und damit zur Ungerechtigkeit. I m platonischen Staat würden durch eine Erziehung nach der Art Ozeaniens die Einheit der Stände und der gegenseitige, auf der Aufgabenteilung beruhende Respekt (s.o.S.85f.,97) vernichtet und damit die Harmonie zerstört, der Ungerechtigkeit Eingang verschafft. Genau dies geschieht auch in Ozeanien, das sich zumindest in die beiden völlig getrennten Bereiche der Partei und der als minderwertig verachteten proles , in Herrscher und Beherrschte aufspaltet. Das Streben nach absoluter Macht durch die Inner Party wirkt sich auch insofern auf die meisten - zunächst als "gemeinsame Strukturen" parallelisierte - Kontrollbereiche des Staats aus, als hier der Totalitätsanspruch eine andere Qualität als in der Politeia bekommt. So erreichen Propaganda und Täuschungen in Ozeanien ein allumfassendes Ausmaß, während sie in der Politeia nur ausnahmsweise zu verwenden sind, da die Herrscher die Wahrheit lieben (Rep.485c). Dasselbe gilt für die Säuberungswellen bei Orwell, die nicht mehr nur wenige Bürger erfassen, sondern Opfer in jeder Familie fordern (NEF 194f.). Der Krieg wird nur in Ozeanien bewußt zur innenpolitischen Kontrolle geführt und instrumentalisiert ("WAR IS PEACE", s.o.S. 104). Orwell geht auch insofern weiter als Piaton, als Literatur, Wissenschaft und Kunst nicht nur zensiert werden, sondern in Zukunft völlig verschwinden sollen (NEF 390). Sodann werden familiäre Gefühlsbindungen bei Piaton nicht völlig abgeschafft, sondern diese Gefühle nur zum Wohl der Gemeinschaft auf alle Mitbürger übertragen, die sich als "Großfamilie" betrachten sollen. Das neue Menschenbild zeichnet sich bei Piaton durch eine eugenisch beeinflußte, aber positive Entwicklung des Menschen und die Förderung seiner Fähigkeiten aus. Die Herrscher Ozeaniens dagegen wollen fundamental in die Gefühlswelt ("The sex instinct will be eradicated", N E F 389) und den menschlichen Intellekt eingreifen - sei es durch Hirnoperationen oder systematische Sprachverarmung ("to make articulate speech...without involving the higher brain centres at all", N E F 425) - und so den Typus eines animalischen, fanatischen, kämpferischen und perfekt angepaßten, homogenen Menschen schaffen (NEF 220). Dieser neue Mensch, der zudem systematisch von höherer Erziehung ferngehalten wird ("IGNORANCE IS

Z.B. soll der Trieb, sich Hingerichtete anschauen zu wollen, durch den mutvollen Seelenteil gezügelt werden (Rep.439d-440a). Piaton versucht also nicht - anders als das ozeanische System -, Triebe z.T. völlig auszurotten, sondern nur, sie in geordnete, kontrollierte Bahnen zu lenken. Das läßt sich auch daran zeigen, daß von der Zeugung ausgeschlossene alte Frauen und Männer weiterhin ihren Geschlechtstrieb befriedigen dürfen, wobei es nur nicht gestattet ist, dabei unabsichtlich gezeugte Kinder auszutragen (Rep.461b-c).

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C. IV. Hauptunterschiede

STRENGTH", N E F 159,315), bildet eine Degenerationsform und damit das Gegenteil dessen, was das Ideal der Politeia darstellt. Vielmehr ähneln die beschriebenen Aspekte des Orwellschen Staats der Darstellung der Tyrannis bei Piaton. Schon der Sophist Thrasymachos lobt das Recht des Stärkeren und beschreibt die größte Ungerechtigkeit als stärkste und größte Macht (Rep.344c). Der Grund für die Bestrafung des bereits zur Tyrannis und Despotie verfallenen 2 Königreichs von Atlantis durch Zeus liegt in der Ungerechtigkeit, Hybris und Machtbesessenheit dieses Seestaats (Criti.l21a-b i.V. mit Tim.24e). In der Verfallsschilderung der Politeia führt der machtbesessene Tyrann ständig Kriege, um durch Kriegssteuern sein Volk arm zu halten, so daß es im Kampf um die Alltagssorgen ihm nicht nachstellen kann (Rep.566e-567a). In seinem Wahnsinn und seiner Skrupellosigkeit (Rep.571c-d,573c; vgl. die Schilderung des folternden O'Brien: "lunatic enthusiasm", NEF 379) 3 befindet sich der Tyrann in ständiger Furcht (Rep.578e) und läßt nach erfolgreicher Machtübernahme zunächst seine Gegner verbannen oder hinrichten (Rep.565d-566a). Aber auch Freunde und Kritiker, tugendhafte Bürger und Mitglieder seiner Familie fallen der Säuberung zum Opfer (Rep.567b-c,569b). Daher lebt der Tyrann ohne jede Freundschaft in einem von Trieben beherrschten und zerrissenen Staat, der sich von Ozeanien allerdings durch den Mangel an Totalität und Effizienz unterscheidet. Insgesamt liegen die Hauptunterschiede zwischen beiden Systemen also v.a. im Bereich des höchsten Staatsziels, das bei Piaton in der Eudaimonia und der Förderung menschlicher Tugenden besteht (wofür die staatliche Macht nur als Mittel dient), bei Orwell dagegen in der selbstzweckhaften Philosophie der Macht, verbunden mit der Schaffung eines haßerfüllten, zum Tier degenerierten Menschen.

Vgl. Paul Friedländer, Piaton, Bd.I, Seinswahrheit und Lebenswirklichkeit, Berlin 1964, 216; Jann Holl, Die historischen Bedingungen der philosophischen Planstadtentwürfe in der frühen Neuzeit, in: Planstädte der Neuzeit vom 16. bis zum 18. Jahrhundert. "Klar und lichtvoll wie eine Regel", Ausstellung veranstaltet v. Bad. Landesmuseum Karlsruhe, 16.6.-14.10. 1990 (hrsg. Volker Himmelein), 14; Pierre Vidal-Naquet, Athènes et l'Atlantide. Structure et signification d'un mythe Platonicien, REG 77 (1964) 420-444 (427). 3 Der in Ozeanien propagierte Fanatismus fallt also auf die Inner Party Members zurück, die - im Gegensatz zu Piatons Philosophen - ihre Ziele mit geradezu krankhafter Begeisterung zu vertreten haben, allerdings letztlich immer unter der Kontrolle von doublethink und self-discipline êt s.o.S.52f.,77f.

2. Rolle des technischen Fortschritts

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2. Rolle des technischen Fortschritts Prinzipiell sollen in das Wissenschaftssystem beider Staaten keine bahnbrechenden Neuerungen eindringen, um die Statik der Systeme nicht zu gefährden (s.o.S.100). Daher verwundert es nicht, daß in der Politeia keine Anhaltspunkte für technische Neuerungen zu finden sind. Einzig in der hochkomplizierten Wissenschaft der Eugenik, die nur von den Philosophen beherrscht wird, ließe sich eine solche wissenschaftlich-technische Errungenschaft sehen. Piaton zeigt jedoch am Beispiel der Berechnung der Hochzeitszahl sogleich die Grenzen menschlicher Erkenntnis und dieser Technik (Rep.546a-547a). Anders stellt sich die Lage bei Orwell dar. Obwohl die Führungsschicht Ozeaniens prinzipiell die freie Forschung ablehnt (NEF 323f.,390), macht sie insofern wichtige Ausnahmen, als (momentan noch, N E F 327f.,390) technische Fortschritte in wenigen Kernbereichen unabdingbar sind, wie in der Rüstungsforschung und für Kontrollaufgaben der Thought Police (NEF 324), die sich auf die Gebiete der Überwachungstechnik und der Medizin erstrecken. Insgesamt kamen allerdings die empirische Forschung und Erfindungen in Ozeanien so weitgehend zum Stillstand, daß, außer in den wenigen erwähnten Gebieten, ein technischer Rückschritt von über 50 Jahren zu verzeichnen ist (NEF 320). Die intensive Rüstungsforschung soll zwar inoffiziell nie zur Vernichtung des Feindes führen, da diese überhaupt nicht erstrebt wird, geschweige denn möglich wäre (NEF 328f.), doch wird ein gewisses militärisches Niveau gewahrt. Neben der Verbesserung von Handgranaten (NEF 196) und Hubschraubern sind an Neuerungen v.a. ferngesteuerte Flugbomben und die "Schwimmenden Festungen" zu erwähnen, die die konventionellen Bomber und Kriegsschiffe ersetzt haben (NEF 325). Die Thought Police bedient sich erfolgreich der allgegenwärtigen, hochsensiblen, gleichzeitig sendenden und empfangenden Televisoren, der telescreens , welche nicht nur der ständigen Propaganda dienen, sondern auch eine Schlüsselrolle für die Überwachung einnehmen, weil durch sie jegliches Privatleben beendet wird (NEF 335), bis hin zur ständigen Kontrolle des Herzschlags (NEF 224). Hinzu kommen - auch in der offenen Landschaft versteckbare - Mikrophone (NEF 257). Daneben gibt es in den Büros der Parteiverwaltung zur Steigerung der Produktivität moderne Arbeitsmittel wie die Rohrpost oder Winstons speakwrite, ein Gerät, das akustische Eingaben in Texte umsetzen kann (NEF 188). I m medizinischen Bereich sind Zukunftspläne zu erwähnen, die zur künstlichen Befruchtung und zu neurologischen Eingriffen wie der Abschaffung

112

C. IV. Hauptunterschiede

des Geschlechtstriebs und des Orgasmus führen (NEF 213,389). A u f Dissidenten finden Foltermethoden wie Schocks auf einem Streckbrett (NEF 370) und "Heilbehandlungen" durch elektrische Gehirnstöße (NEF 380f.) oder chirurgische Eingriffe (bei Julia, N E F 410f.) Anwendung. I m Ergebnis nehmen - im Unterschied zum System der Politeia - gerade die technischen Mittel der Thought Police eine Schlüsselrolle für den totalitären Herrschaftsanspruch ein, einerseits in Form der allumfassenden Kontrolle durch Televisoren, andererseits in Gestalt der medizinisch-neurologischen Eingriffsmöglichkeiten, die selbst das letzte Stück innerer, gedanklicher Freiheit des Menschen ("Nothing was your own except the few cubic centimetres inside your skull", NEF 179, "They can't get inside you", NEF 300) in Frage stellen und folglich das traditionelle Menschenbild überhaupt. Das System droht, sich seinen eigenen, angepaßten Menschentypus nicht nur durch erzieherische, sondern auch medizinische Mittel zu schaffen und damit seine totale Herrschaft auf ewig zu verfestigen (NEF 389f.).

3. Staatsästhetik, Stellung zur Natur, Architektur I m Bereich der Staatsästhetik erhebt die Politeia Anspruch auf die Verkörperung eines schönen, harmonischen Staats, während das ozeanische System dem Schönheitsideal indifferent bis ablehnend gegenübersteht. Die zentrale Position des Schönen bei Piaton erklärt sich aus dem griechischen Harmonieideal, nach dem das Gute und das Schöne in bestmöglicher Weise vereint sein sollen 4 . A u f den Stufen der Ethik und der Erkenntnistheorie entspricht das Schöne der Wahrheit, der Gerechtigkeit und dem Guten (Rep.505d-506a), auch dem trefflichen Seelenadel nach der gelungenen musischen Erziehung (Rep. 401e); die höchste Stufe von Erziehung, Wissenschaft und Erkenntnis, nämlich die Schau der Idee des Guten, erweist sich als Schau des Schönen schlechthin (Rep.508e). Auch die Beschreibung des Jenseits im Er-Mythos enthält die Schilderung einer solchen überirdischen, hier kosmischen Schönheit (Rep.616b-c). Das Schöne wird daneben zuweilen in überwiegend ästhetischer Bedeutung verwendet, z.B. bei der Auslese der zu erziehenden Philosophen, welche nicht nur begabt und charaktervoll, sondern nach Möglichkeit auch die körperlich Schönsten sein sollen. Den schönsten Anblick bildet die Vereinigung von schönem Seelenadel und damit harmonierender äußerer Gestalt 4

Rep.402d,452e. Näheres bei Hermann Wankel, Kalos kai agathos, Diss. Würzburg 1961, 59f.,77-85.

3. Staatsästhetik, Stellung zur Natur, Architektur

113

(Rep.402d), wobei allerdings dem Seelenadel der eigentliche Vorzug gebührt. Aufgrund dieser zentralen Position des Schönen als des Gipfelpunkts der Erziehung läßt sich der platonische Staat als ein wahrhaft ästhetischer 5 auffassen. Dem steht ein ozeanisches System gegenüber, das zwar offiziell einen blonden, vitalen, muskulösen Menschentypus zum Ideal erhebt, aber tatsächlich genau das Gegenteil hervorbringt und dies auch will, einen angepaßten, gedrungenen, häßlichen Bürokraten (NEF 208). Frauen dürfen sich weder schminken noch attraktiv kleiden (NEF 212,279). Selbst die Herrscherfigur O'Brien wird als korpulente, bullenartige Person mit häßlichen, brutalen Gesichtszügen eingeführt (NEF 165), die ästhetischen Empfindungen im System keine Zukunftschancen einräumt ("There will be no distinction between beauty and ugliness", N E F 390). In diesen Zusammenhang gehört ebenfalls das ozeanische Fernziel der Abschaffung jeglicher Kunst ("There will be no art", N E F 390). Auch die äußere Welt Ozeaniens bietet wenig Schönes, sondern nur entweder glitzernde Stahl- und Betonkonstruktionen der Partei (NEF 159,220) oder den alltäglichen Verfall, den Staub und die Grautöne in den Durchschnittsstraßen Londons (NEF 158). Diese Situation paßt durchaus in die Parteidoktrin, den Menschen keine Bezugs- und Identifikationsmöglichkeiten im Staat zu geben, außer solchen gegenüber der Partei, deren Werbeposter die einzigen Farben im Straßenbild darstellen (NEF 158). Damit gehören ästhetisch schöne Gegenstände der Vergangenheit an, wie Winstons Antiquitäten, das kostbare Tagebuch und der kunstvoll gearbeitete Briefbeschwerer (NEF 161,238f.). Bezüglich des Verhältnisses zur Natur läßt sich bei Piaton sagen, daß er zwar durch die Erziehung eine rein naturhafte, animalische Triebhaftigkeit bändigt, aber insgesamt durchaus positiv der Natur gegenübersteht, da die ganze Erziehungstätigkeit auf die wahre, nämlich die Vernunftnatur des Menschen abzielt, ohne Triebe zu verbannen. Es geht Piaton nicht um eine Verteufelung der Triebwelt, sondern um den besonnenen Umgang mit ihr. Darum ist nicht der übertriebene Luxusstaat das Ziel, sondern der maßvolle, naturverbundene, gereinigte Staat. Auch im Bereich der Eugenik geht es nicht um eine Überlistung der Natur oder eine widernatürliche Veränderung der Menschen, sondern um die 5

Jaeger II, 339f.; Maurer, Staat 280-286; kritisch Popper 224-226 (Vorwurf des Ästhetizismus). Dieser Bewertung steht nicht etwa die platonische Dichterkritik entgegen, denn Dichtung wird zwar v.a. inhaltlich streng zensiert, verbleibt aber wegen des ästhetisch-erzieherischen Werts dauerhaft - im Gegensatz zum Fernziel in Ozeanien - im Staat (s.o.S.81f. mit Anm. 9). Ähnliches gilt für Malerei und Musik. 8 Otto

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C. IV. Hauptunterschiede

Fortbildung ihrer im Metallmythos von der Natur gegebenen Anlagen, eine Züchtung nach dem natürlichen Vorbild edler Tiere. Die Wertschätzung der Natur zeigt sich auch an der Einbeziehung der Planetenbahnen in die eugenischen Berechnungen (Rep.546a), der Eingliederung des Menschen in die kosmische Harmonie. Ganz anders verhält sich das System in Nineteen Eighty-Four zur Natur. Nicht nur die häßliche Architektur, die Schmutzigkeit und Farblosigkeit der Stadt, die anonyme, kalte, bürokratische Arbeitsatmosphäre, das schlechte Essen und die Zerstörung der menschlichen Beziehungen sind zutiefst widernatürlich ("the natural feeling had been driven out of them", N E F 215), sondern auch die Einstellung der Partei zum Geschlechtstrieb - der als unpassend und gefährlich abgeschafft werden soll - und zur eigenen Allmacht, die keine natürlichen Vorgaben respektiert ("We make the laws of Nature", N E F 387). Demgegenüber stehen die "animalischen" proles , die noch Menschlichkeit und Natürlichkeit bewahrt haben, und die Naturidylle, wie sie Winston zunächst nur als Golden Country erträumen, dann aber mit Julia erleben kann. Die bunte Sommerlandschaft mit ihren Blumen, Bächen, Bäumen und singenden Vögeln übt eine unwiderstehliche Faszination aus (NEF 257f.,262f.), die im schärfsten Gegensatz zur Schilderung Londons steht. Dabei paßt die allmähliche Entfremdung der Bürger von der Natur durchaus in die Parteidoktrin, da der Rückzug in die Naturschönheit eine systemwidrige Privatsphäre erschließt. Schließlich unterscheiden sich die architektonischen Ideale beider Staaten. I n der Politeia sagt Piaton nur, daß die Wächter sich den schönsten strategischen Platz im Staat aussuchen (Rep.415d-e), um auf dieser exponierten Stelle einfache, bescheidene Wachhäuser zu errichten (Rep.415e). I m hieran anknüpfenden Kritias siedelt er Stadt und Burg von Urathen auf der athenischen Hochebene an, läßt Tempel, Häuser und eine Ringmauer errichten und die Wächter separat im Stadtinneren, Handwerker und Bauern an den Hängen wohnen (Criti.llle-112d). Nur insofern ergibt sich in Ozeanien eine Parallele hierzu, als die proles in den verfallensten (NEF 227), die Mitglieder der Outer Party immer noch in sehr bescheidenen, schäbigen (NEF 157f.) und die Herrscher in recht gepflegten Wohnblocks hausen (NEF 301), so daß eine im Kritias (und der Politela) erkennbare Ständehierarchie 6 bei Orwell wiederkehrt, die sich in der bevorzugten Wohnsituation der oberen Stände ausdrückt. Der allgegenwärtige Verfall, Schmutz und Gestank Londons (NEF 220) findet jedoch im

Werter, Urathen 294f.; Holl, Planstadtentwürfe 13.

115

4. Geschichtsphilosophische Positionen

Idealstaat ebensowenig eine Entsprechung wie die alles überragende Architektur der vier Ministerien Ozeaniens. Diese hochmodernen, glitzernden, über 300 Meter hohen Stahl- und Betonkonstruktionen stehen im stärksten Kontrast zur übrigen Architektur und symbolisieren mit ihrer Pyramidenform die Hierarchie Ozeaniens sowie die Größe und Macht der Partei (NEF 159). Das fensterlose Kriegsministerium wirkt besonders furchterregend: Es ist mit Stacheldraht, Stahltüren und Maschinengewehrnestern versehen und wird von bedrohlichen Wachposten abgeschirmt (NEF 160). η

Ein größerer Gegensatz zur bescheidenen platonischen Idealpolis , die zudem nach den Nomoi zwecks Stärkung der Tapferkeit eigentlich nicht einmal über Mauern verfügen sollte (Leg.778d-779a), ist kaum denkbar. Dagegen läßt sich die Parteiarchitektur durchaus mit der barbarischen (Criti. 116d) Prunkentfaltung von Atlantis 8 vergleichen, das über einen prächtigen Tempel und einen königlichen Palast im zentralen Burgbereich sowie dreifache Wassergürtel und zwei burgartige, stark bewachte Landgürtel mit Mauern, Toren und Wehrtürmen verfügt (Criti.ll5c-117e). Diese Stadtanlage bildet das dem Verfall geweihte Gegenbild zum Idealstaat. Für die Zwecke der tyrannischen Partei Ozeaniens, ihre Allmacht zu demonstrieren, ist die einschüchternde Herrschaftsarchitektur der Ministerien allerdings hervorragend geeignet; sie spiegelt die gesellschaftlichen Verhältnisse adäquat wider. Zusammenfassend legt das System der Politeia großen Wert auf ästhetisch Schönes; es befindet sich im Einklang mit der Natur und ist bescheiden in der Architektonik, ganz im Gegensatz zu Ozeanien, wo stets die Allmacht des Staats demonstriert und jede Ablenkung davon ausgemerzt wird.

4. Geschichtsphilosophische Positionen Die geschichtsphilosophischen Ansätze beider Staatssysteme sind, sowohl was die Herleitung aus der Vergangenheit als auch die Zukunftserwartungen betrifft, grundverschieden. Beim Versuch der Rekonstruktion der Geschichtsphilosophie Piatons finden sich widersprüchliche Elemente. Die zunächst naheliegende Version besteht darin, die Ursprünge des Idealstaats in einer fernen, mythischen Vergangenheit anzusiedeln, wie es im Metallmythos zum Ausdruck kommt (Rep.382d,414c-415c) und durch den Timaios und Kritias bestätigt wird, in denen der Idealstaat - nun agierend in der ge-

7

Vgl. dazu Mumford 39^1.

®Lisi 337: die Atlanter und ihre Bauten als "Inbegriff des Barbarentums". 8*

116

C. IV. Hauptunterschiede

schichtlichen Wirklichkeit - in das 9000 Jahre zurückliegende Urathen verlagert wird (Tim.l7c-19c,20d-25d; Criti.l08e-110d). A u f diese vergangene Gründungsepoche folgt, nach einer Zeit steter Verbesserungen mittels der Eugenik (Rep.424a-b), der notwendige Verfall des Idealstaats. Dieser wird in der Politeia durch Fehlberechnungen der Hochzeitszahl ausgelöst, also letztlich durch menschliches Unvermögen und das kosmische Schicksal, welche dazu führen, daß Kinder zur Unzeit gezeugt werden (Rep.546a-547a), der Staat schlecht geleitet wird und dieser über die Verfallsformen Timokratie, Oligarchie und Demokratie bis zur größten Form von Ungerechtigkeit, der Tyrannis, her absteigt (Rep.547a-587e). Eine weitere Bestätigung für dieses pessimistische Weltbild bietet der Politikos, wonach das glücklichste Zeitalter die ferne Gründungszeit des Kronos darstellt, auf das dann aber, nachdem die Menschen sich selbst überlassen wurden, im Laufe der Generationen der Verfall notwendig folgt (Pol.272c274e). Dennoch spricht mehr für eine nicht völlig linear-pessimistische, sondern zyklische Weltsicht Piatons, gemäß der nach dem Verfall eine neue positive Zeitperiode zu erwarten ist. Der Kreislaufgedanke findet sich bereits in der Politeia (Rep.424a), sodann im Politikos (Pol.270a-b), weiterhin im Kritias und den Nornoi, nämlich in der Annahme regelmäßiger Naturkatastrophen wie Überschwemmungen, die Kulturen - so auch Urathen - stets nahezu auslöschen und dann einen Neubeginn ermöglichen (Criti.llla-c; Leg.676a677c; Tim.22d-23c; vgl. auch Pol.270c-d). Dieser Gedanke läßt sich u.U. ebenfalls auf das Ende des Staatenverfalls in der Politeia übertragen, als Antwort auf die Frage, was nach der keineswegs ewigen (vgl. Rep.546a) Tyrannis folgt; den Nomoi (Leg.709e-710e) kann dazu entnommen werden, daß ein junger, lernfähiger Tyrann die geeignetste Basis für einen Wechsel zum tugendhaften Staat bietet. In allen diesen Fällen aber folgt dem in ferner Vergangenheit liegenden Idealstaat der Politeia zunächst die Degeneration. Eine gewisse Ambivalenz ergibt sich daraus, daß die Politeia neben der unaufhaltsamen Verfallsgeschichte und dem im Rahmen eines Zyklus geschilderten Bild eines vergangenen Idealstaats auch Elemente einer Koloniegründungsgeschichte enthält. Nach der Entstehung des ersten Staatswesens und des üppigen Staats (Rep.369b-373e) wählen die Philosophen die geeignete Bevölkerungsbasis zur Gründung des Idealstaats aus (Rep.501a-c,540e541a). Eine Koloniegründung bildet auch die Basis für die staatsphilosophischen Erwägungen der Nomoi (Leg.702c). Eine solche Gründung erfolgt aber nicht im Rahmen eines Verfallsprozesses, sondern als - übrigens durchaus zum zyklischen Geschichtsbild passender - Wandel zu einer besseren Zukunft. Allerdings besteht auch nach dieser Version der Idealstaat auf-

4. Geschichtsphilosophische Positionen

117

grund menschlicher Fehler bei der Berechnung der Hochzeitszahl nicht ewig, d.h. er ist irgendwann einmal unweigerlich dem Verfall bestimmt. Da Piaton den Idealstaat als Paradigma bezeichnet (Rep.592b) und dieser somit Orientierungshilfen für Gegenwart und Zukunft geben soll, also nicht die Beschreibung eines lediglich historischen Ideals darstellt 9 , erscheint das der Politeia entnehmbare eher optimistische geschichtsphilosophische Konzept (der Koloniegründung) gegenüber dem einer fatalistischen Verfallsgeschichte - ob nun gradlinig oder im Rahmen eines absteigenden Zyklus - bedeutend plausibler (vgl. dazu genauer unten S.187-195). Zusammenfassend läßt sich in jedem Fall festhalten, daß - von der Basis des durch zukünftige Koloniegründung oder vergangene Urschöpfung (bzw. Erdgeburt: Criti.l09d; Pol.271a-b; Rep.414d-415d) entstandenen Idealstaats ausgehend - Piaton seinem Staatsgebilde zwar eine gewisse Stabilität zuschreibt, aber aufgrund der menschlichen Unzulänglichkeiten keine ewige Existenz, so daß es stets wieder zu einem Verfallsprozeß kommen muß. Er geht also von einer zyklischen Geschichtsentwicklung aus. Ganz anders stellt sich die Lage in Nineteen Eighty-Four dar. Nach einem vernichtenden Atomkrieg (NEF 184) setzte sich im Ozeanien der 50er und 60er Jahre der Sozialismus in Form von Ingsoc durch, und mit ihm soziale Umwälzungen wie die umfassende Verstaatlichung (NEF 335). Aus Sicht der Partei herrschten vor dieser glorreichen Revolution im Land überwiegend soziale Mißstände, Hunger, Elend und Ausbeutung durch die Kapitalisten (NEF 218f.). Demnach stellte die Machtergreifung durch die Partei bereits einen gewaltigen geschichtlichen Fortschritt dar, der durch große Säuberungswellen gesichert wurde und in den 60er Jahren zur Herrschaft von Big Brother führte (NEF 221). Dieser "Fortschritt" wird durch Statistiken, die die Zeit vor der Revolution mit der Gegenwart vergleichen (allerdings pure Propaganda darstellen), eindrucksvoll untermauert (NEF 220). In der Tat hat die Partei immerhin Klassenkämpfe unterbunden und damit ein neues geschichtliches Stadium der Stabilität erreicht, die sie durch ihren umfassenden Propaganda- und Machtapparat sowie die günstige außenpolitische Konstellation problemlos aufrechterhält (NEF 335f.). Diese aus geschichtsphilosophischer Sicht neue Qualität von Herrschaft und Stabilität verfestigt sich stets noch in einem Prozeß "beständiger Revolution" i.S. einer teleologischen Zukunftsentwicklung, die für das System - im ο Zumindest gilt dies für die Politeia, deren vier Verfallsformen des Staats statt historisch besser typologisch zu deuten sind (vgl. Annas, Republic 295-298; Wild 23; für die historische Auslegung: Popper 120-124). Eine eher historische Deutung paßt dagegen zum Kritias, der sich v.a. auf die Perserkriege und den Peloponnesischen Krieg beziehen läßt (Vidal-Naquet, Atlantide 427,442f.), allerdings auch Lehren für Gegenwart und Zukunft erteilt.

118

C. V. Ergebnis

Gegensatz zur Politeia - sehr optimistisch beurteilt werden kann. Das Ziel dieser noch andauernden Revolution liegt zunächst in der Schaffung einer idealen Sprache, Newspeak, die zum vollkommenen Instrument zur Beherrschung von Menschen ausgebaut wird (NEF 201f.). Hinzu kommen immer perfektere Überwachungs- und (medizinische) Operationstechniken, die i.V. mit ausgefeilten Erziehungsmethoden - die Partei unbesiegbar machen und damit auf ewig sichern (NEF 389f.), die Menschen hingegen zu angepaßten, des freien Denkens beraubten Marionetten degradieren ("There is no way in which the Party can be overthrown. The rule of the Party is for ever", N E F 385, "If you want a picture of the future, imagine a boot stamping on a human face - for ever", NEF 390). I m Gegensatz zur zyklischen Geschichtsauffassung Piatons, die nicht von der Möglichkeit immerwährender Herrschaft ausgeht, sondern den Verfall (und Neugründungen) als Notwendigkeit ansieht, liegt Nineteen Eighty-Four ein teleologisches Geschichtsmodell zugrunde, das für das bestehende System nicht nur die bisher höchste geschichtliche Entwicklungsstufe in Anspruch nimmt, sondern auch von der totalen Planbarkeit der zukünftigen Entwicklung ausgeht; am Ende dieses Prozesses steht der unübertreffbar totale, unveränderliche, entmenschlichte Machtstaat.

V. Ergebnis Insgesamt lassen sich beim Vergleich zwischen der Politeia und Nineteen Eighty-Four viele bis ins Detail gehende formale, sprachliche und inhaltliche Gemeinsamkeiten feststellen, so daß im von Orwell gezeichneten satirischen Zerrbild eines totalitären Staatsgebildes umfangreiche platonische Staatsund Denkstrukturen nachgewiesen werden können. Auch beim Vergleich mit dem zweitbesten Staat, den Nomoi, sind zahlreiche Parallelen zu finden, in einigen Bereichen wegen der detaillierteren Regelungen sogar mit noch größerer Ähnlichkeit zu Ozeanien, so z.B. bei der umfassenden staatlichen Regelung aller Tagesabläufe (Leg.807d-e) oder beim Kontroll- und Spitzelsystem der Bürger untereinander (Leg.745a). Diese gemeinsamen Strukturen kommen dadurch zustande, daß in beiden Fällen eine umfassende staatliche Ordnung mit allen verfügbaren Mitteln durchgesetzt und aufrechterhalten werden soll. Abgesehen von einigen irrationalen Elementen wie Piatons Mythen oder Orwells satirischer Überspitzung von doublethink bzw. des offenen, reinen Machtstrebens durch die

V. Ergebnis

119

Herrscher, handelt es sich in beiden Fällen um konsistente Systeme, die den Anspruch einer rein rationalen, potentiell auf das Wohl des Ganzen gerichteten Staatsorganisation geltend machen können - so wie es offiziell, den Slogans gemäß, in Ozeanien auch durchaus der Fall ist ("the new, happy life", N E F 206; vgl. auch die weiteren Erklärungsmuster: "the choice for mankind lay between freedom and happiness, and...happiness was better. ...all was justified by the ultimate purpose, NEF 385). Bei der Wahl der Mittel und der Intensität ihres Einsatzes geht dabei teils Piaton radikaler vor, so in den Bereichen Gleichheit der Frau, Abschaffung der Familie, Eugenik und Eigentumslosigkeit, teilweise wiederum Orwell, auf den Gebieten Zensur, Täuschungen, Sprachmanipulationen, Überwachung, Säuberungen, Kriegswesen, Rassenideologie und der Regelung von Vergangenheit und Zukunft. Der grundlegende Unterschied zwischen beiden Staaten ergibt sich daraus, daß den Herrschern Ozeaniens die gewonnene Macht inoffiziell gerade nicht als Mittel zur Erreichung des Staatswohls dient, sondern als Selbstzweck, zur Befriedigung der unersättlichen Machtgier. Dieser Unterschied führt zu einem qualitativ anderen Umgang mit den zunächst auch im positiven Sinne als funktional und notwendig begründbaren Machtinstrumenten des Systems und mit den Menschen. In Ozeanien werden Unwerte wie Haß und Gewalt kultiviert und damit die Idealvorstellungen der Menschlichkeit und der Eudaimonia fundamental verletzt. Diese normativen Charakterzüge Ozeaniens erinnern beim Vergleich mit Piaton kaum mehr an den Idealstaat, sondern vielmehr an die Schilderungen der Tyrannis und des barbarischen Atlantis. Das liegt darin, daß - im Gegensatz zur Politeia - Nineteen Eighty-Four und die Atlantiserzählung^4/Uzutopien schildern (hieraus erklärt sich auch die gegensätzliche Ästhetik bei Piaton und Orwell): Orwell will abschrecken und schockieren. Die technischen Möglichkeiten der Neuzeit führen dazu, daß eine totale Überwachung und Konditionierung des Menschen verwirklicht werden kann. Gerade diese Perspektive läßt geschichtsphilosophisch das Gespenst einer absolut der Natur entfremdeten und entmenschlichten Welt sowie eines verewigten, puren Machtsystems als bedrohlich nah erscheinen, in einer Dimension und Totalität, die Piaton noch völlig fern lag. Doch weder die historisch bedingten Differenzen noch die gegensätzliche Intention beider Autoren (mit den starken Übertreibungen Orwells bezüglich der unersättlichen Machtgier der Herrscher) können die Tatsache überlagern, daß es sich in beiden Entwürfen um wesensgleiche Systemstrukturen handelt, die eine gute Vergleichsbasis abgeben.

D. Auswertung I. Totalitarismusvorwurf gegenüber Platon 1. TotalitarismusbegrifT I m Rahmen der Totalitarismusdiskussion um Piaton fällt auf, daß der höchst komplexe und umstrittene Begriff des Totalitarismus zumeist recht unbefangen verwendet und nur selten hinterfragt oder definiert wird. Beispielsweise knüpft Popper bei seinen Angriffen gegen Piaton an "totalitäre Maßnahmen", "totalitäre Methoden" und eine "totalitäre Klassenherrschaft" 1 an, Vorwürfe, die sich im einzelnen durch Poppers Ausführungen zur Eugenik, zum Militarismus, Kollektivismus, Historizismus oder dem Rassendenken in der Politeia konkretisieren. Popper begründet die Identität des platonischen Staatsentwurfs mit totalitären Systemen v.a. damit, daß beide Konzepte "rein totalitär und antihumanitär" 2 , also moralisch verwerflich seien. Eine brauchbare Begriffsanalyse findet sich hingegen nicht. Eine solche Analyse wird auch von den Piatonikern nur selten vorgenommen. Meist gehen sie direkt von den Popperschen Vorwürfen und damit von einzelnen, als totalitär empfundenen staatlichen Maßnahmen aus 3 , oder von einer unscharfen, abstrakteren Vorstellung von Totalitarismus i.S. von antiindividualistischen, freiheitsbedrohenden Systemen4. Dabei findet lediglich Maurer zu einer abstrakten Definition des Totalitarismus ("1. die Forderung nach bedingungsloser Unterordnung des Individuums unter die Zwecke von Staat und Gesellschaft, 2. die staatliche bzw. gesellschaftliche Kontrolle des

Popper 22f.,132, vgl. auch 126f. Popper 128f. (129); ähnlich Graeser, Bemerkungen 500; Russell 13. 3 Z.B. v.Fritz 120; Gaiser, Piaton 1984,11,13; Gigon, Utopie 10,12. Klosko, (Theory 149f. mit Anm.7) verweist zumindest auf einige Stimmen der traditionellen Totalitarismusliteratur. Nur Levinson (499-504) sieht in der fehlenden begrifflichen Aufarbeitung ein wesentliches Defizit der Piatondiskussion und bietet einige Definitionsmöglichkeiten sowie eine Einführung in die Probleme des Totalitarismusbegriffs an, orientiert sich dann aber ohne greifbares Ergebnis bei seinen weiteren Ausführungen an den von ihm im folgenden als unhaltbar beurteilten Einzelvorwürfen der Antiplatoniker. 4

Erbse, Politeia 169,176; Jaufmann 54; Rohrmoser 152; Wild 21.

1. Totalitarismusbegriff

121

Privatlebens") 5 , verbaut sich aber eine vertiefte Auseinandersetzung schon dadurch, daß er "die Anwendung moderner Technik auf die Gesellschaft", also die technischen Möglichkeiten des 20. Jahrhunderts, als für den Totalitarismusbegriff konstitutiv ansieht, wodurch dessen Verwendbarkeit für Piaton von vornherein ausscheidet6. Dennoch ist eine genaue begriffliche Analyse im Rahmen der Totalitarismusdiskussion um Piaton unumgänglich, weil sonst eine inhaltliche Auseinandersetzung mit den jeweiligen Argumenten der Gegenseite bereits aufgrund der fehlenden gemeinsamen begrifflichen Basis verhindert wird. Schon darüber besteht z.B. Unklarheit, ob der Totalitarismus als spezifisch neuzeitliches Phänomen verstanden werden muß oder ob dieser Begriff auch prinzipiell auf die Antike Anwendung finden kann 7 . Ein weiteres Problem liegt in der Frage, ob der Totalitarismusvorwurf einfach mit dem Hinweis auf die guten Absichten Piatons aus dem Weg geräumt werden kann bzw; ob begrifflich ein antihumanitäres Element i.S. Poppers vorliegen muß, oder ob nicht bereits der Nachweis einer "totalen", nämlich allumfassenden gesellschaftlichen Ordnung die Bedingung des Totalitären erfüllen kann, auch wenn sie ohne Terrormethoden operiert und rein auf Konsens beruht 8 . In Anbetracht dieser Unklarheiten mitsamt ihren weitreichenden Konsequenzen soll im Rahmen der notwendigen Begriffsanalyse - angesichts des auch in der Politikwissenschaft herrschenden Streits - aus Praktikabilitätserwägungen insbesondere ein Definitionsansatz bevorzugt werden, der die Diskussion um den Totalitarismusvorwurf gegenüber Piaton nicht unnötig vorzeitig abschneidet. Ein solcher tendenziell relativ weiter Totalitarismusbegriff darf andererseits die Grenzen zu anderen Bezeichnungen für politische Systeme nicht verwischen. -

5

Maurer, Staat 304.

Maurer, Staat 305 Anm.39. ? Erbse, Gaiser, Gigon, Graeser, Jaufmann, Levinson und Popper gehen von der Möglichkeit einer solchen Anwendung aus. Dagegen versteht Maurer (Staat 305 Anm.39) trotz seiner potentiell durchaus zeitübergreifenden Definition den Totalitarismus als eine Erscheinung der Moderne; ähnlich Mayr 231 f. ®Die ethische Färbung des Totalitarismusbegriffs findet sich bei v.Fritz 121f.; Gaiser, Piaton 1984, 13; Jaufmann 54; Popper 128f.; letztlich auch bei Gigon, Utopie 13 ("Am Zweck entscheidet sich alles"). Vor der Untersuchung dieses Zwecks bezeichnet jedoch Gigon - hier von einem anderen Totalitarismusbegriff ausgehend - Piaton bereits wegen seiner rein organisatorischen Maßnahmen als totalitär ("Platon unleugbar totalitär", Gigon, Utopie 12, ähnlich 10). Auch die Definition Maurers (Staat 304) setzt eine Bewertung des Totalitarismus als inhuman nicht bereits begrifflich voraus, sondern zielt nur auf den allumfassenden Umfang der Eingliederung des Individuums und seines Privatlebens in die Gesellschaft. In einem ausdrücklich neutralen Sinne unbegrenzter, totaler Machtausübung: Meyerhoff 197.

122

D. I. Totalitarismusvorwurf gegenüber Platon

Gründliche Begriffsanalysen finden sich auf dem Gebiet der Politologie, wenn auch noch kein Konsens über eine einheitliche Definition gefunden werden konnte. Der Begriff des Totalitarismus läßt sich erstmals in den frühen 20er Jahren im faschistischen Italien, seit Beginn der 30er Jahre auch in Deutschland finden. Zudem wurde er bereits in den 20er Jahren auf die kommunistische Sowjetunion bezogen. Schon bald entwickelte sich die Totalitarismustheorie, derzufolge Strukturgleichheiten zwischen den totalitären Diktaturen des Faschismus bzw. Nationalsozialismus und des Kommunismus bestehen9. Umstritten ist angesichts dieser historischen Ableitung, ob der Begriff Totalitarismus auch auf andere Herrschaftsstrukturen als faschistische und kommunistische Diktaturen anwendbar ist und welche Merkmale im einzelnen als konstitutiv angesehen werden müssen, sowie ferner, ob sich die Definition eng an den historischen Beispielen oder vielmehr idealtypisch auszurichten hat. Nach einem politologischen Begriffslexikon dient der Begriff Totalitarismus "zur Charakterisierung der modernen Erscheinungsform monopolisierter und unumschränkter, alle Bereiche des politischen, gesellschaftlichen und kulturellen Lebens umfassender Herrschaftsausübung" I m Gegensatz zu einem solchen verallgemeinernden Ansatz, der das im Grunde wesentliche Element des Totalitarismus, nämlich den absolut umfassenden Herrschaftsanspruch, in den Vordergrund stellt, betonen andere Definitionen eher die konkret faßbaren Erscheinungsformen der faschistischen und kommunistischen Diktaturen. Dazu sollen beispielsweise die sechs Merkmale Massenpartei, allumfassende Ideologie, Terrorsystem, monopolisierte Massenkommunikation, Waffenmonopol und zentrale Wirtschaftslenkung gehör e n 1 1 ; von anderer Seite werden dagegen der Anspruch auf Weltherrschaft und die Erzeugung eines neuen Menschentypus als zentrale Gesichtspunkte totalitärer Herrschaft betont 1 2 .

9 Zur historischen Begriffsentwicklung und zur Totalitarismustheorie: Gregory Claeys, Der Begriff des Totalitarismus": Zur Realität des Großen Bruders, in: Bernd-Peter Lange / Anna M. Stuby (Hrsg.), "1984", Berlin 1984, 85-102 (85-88); Walter Schlangen, Die TotalitarismusTheorie: Entwicklung und Probleme, Stuttgart 1976,11-19,24-29 m.w.N. 10 Siegfried Jenker, Totalitarismus, in: Handlexikon zur Politikwissenschaft, hrsg. Wolfgang W. Mickel, München 1986,521-524 (521). n

Carl J. Friedrich / Zbigniew Brzezinski, Die allgemeinen Merkmale der totalitären Diktatur, in: Bruno Seidel / Siegfried Jenker (Hrsg.), Wege der Totalitarismusforschung, Darmstadt 1969, 600-617 (610f.). 12 Hannah Arendt, Ideologie und Terror: Eine neue Staatsform, in: Bruno Seidel (s.o.), 133167 (137); im übrigen stellt sie den totalitären Terror in den Mittelpunkt ihrer Überlegungen (142).

1. Totalitarismusbegriff

123

Gerade in der neueren Literatur werden solche Bestimmungsversuche als zu einseitig auf konkrete historische Beispiele ausgerichtet kritisiert, da die Politikwissenschaft den Anspruch erhebt, verallgemeinernd Herrschaftsmodelle herauszuarbeiten, die typologisch für die Systemanalyse verwendet werden können und nur dann eine sinnvolle Funktion erfüllen 13 . Soll das Wesen eines Herrschaftssystems begriffen werden, müssen diejenigen typischen Merkmale erfaßt werden, durch die es sich von anderen Systemen unterscheidet, und dieses kann am besten abstrakt geschehen. Beispielsweise läßt sich durch diesen Ansatz zeigen, daß Terror oder Waffenmonopole keineswegs typische Merkmale totalitärer Herrschaft sind, sondern ebenso in vielen anderen Herrschaftssystemen angetroffen werden können; weiterhin beruht totalitäre Herrschaft nicht denknotwendig auf dem System einer Einheitspartei, sondern es sind auch andere Formen der Elitenbildung und Kontrolle der Massen möglich 1 4 . Weitgehende Einigkeit besteht darin, daß der Totalitarismus einerseits wegen der umfassenden staatlichen Expansion als Gegensatz zum Liberalismus und zu pluralistischen Systemen aufzufassen ist, er andererseits aber auch von lediglich autoritären Systemen wie Diktatur; Despotie oder Tyrannis durch seine Intensität gesellschaftlicher Durchdringung unterschieden werden muß 1 5 . Schon Carl Schmitt erfaßt den Wesenskern des Totalitarismus, indem er bemerkt, ein derartig aufgebauter Staat sei der "potenziell jedes Gebiet ergreifende totale Staat der Identität von Staat und Gesellschaft" 16 . Dieser Durchdringungsanspruch wird weithin als entscheidendes Merkmal totalitärer Herrschaft angesehen und bestimmt viele Definitionen: "Die Tendenz, möglichst das ganze Leben einer Gemeinschaft zu durchdringen und zu formen, ist das Kennzeichen des totalitären Staates" 17 oder "Ein totalitäres Herrschaftssystem liegt...dann vor, wenn es auf der Grundlage einer Ideologie die totale Reglementierung des geistigen, politischen und sozialen Lebens beansprucht und sie mittels Gewalt tatsächlich durchsetzt" 18 . -

Marquardt 38f.; Reinhold Zippelius, Allgemeine Staatslehre, München 1991,11-16. Gregor M. Manousakis (Der Islam - eine totalitäre Gefahr?, in: Konrad Low (Hrsg.), Totalitarismus, Berlin 1988, 224-234) führt die methodologischen Differenzen auf den Konflikt v.a. deutscher Politikwissenschaftler zurück, einerseits Systemvergleiche durchführen zu wollen, andererseits Vergangenheitsbewältigung zu betreiben und daher den Totalitarismusbegriff an die konkrete Ausprägungsform des Nationalsozialismus zu binden; dagegen gibt er der Typologie und Systematik den Vorzug (224). 14

Marquardt 39. Zippelius, AStL 149,269f.

15

16

Carl Schmitt, Der Begriff des Politischen. Mit einer Rede über das Zeitalter der Neutralisierungen und Entpolitisierungen, München 1932,11. 17

Zippelius, AStL 269.

18

Manousakis 224.

124

D. I. Totalitarismusvorwurf gegenüber Platon

I n der folgenden Analyse soll neben der Definition Carl Schmitts von derjenigen Marquardts ausgegangen werden, der den totalitären Staat als "eine Kombination monistischer Herrschaftsstruktur; totalen Herrschaftsumfangs und totaler Herrschaftsausübung" 19 bezeichnet und den Totalitarismus damit nicht nur von demokratischen Systemen abgrenzt, sondern im totalen Herrschaftsumfang das wesentliche Unterscheidungskriterium zur bloß autoritären Diktatur sieht 2 0 ; die einzelnen Herrschaftsmittel sind demgegenüber variabel und treten - im Gegensatz zu ihrer Stellung in den konkreten Definitionsansätzen - als Unterscheidungskriterium in den Hintergrund 2 1 . Die von Marquardt hervorgehobenen allgemeinen drei Merkmale umfassen alle wesentlichen in der Literatur untersuchten Aspekte totalitärer Herrschaft und sollen im einzelnen präzisiert werden. Der Schlüsselbegriff des totalen Herrschaftswm/ö/i^y verweist auf den für totalitäre Systeme typischen Anspruch, alle Lebensbereiche der Gesellschaft umfassend zu kontrollieren und zu prägen. Als Grundlage und Legitimation dieses Anspruchs dient eine Ideologie, die als umfassende Welterklärung verstanden wird und zumeist eschatologische Wunschträume enthält 2 2 . Diese Staatsideologie kann plausibel machen, daß alle Kräfte der Gesellschaft in den Dienst des Systems zu stellen sind; nur durch deren totale Einbindung kann die zur Durchsetzung der hochgesteckten Ziele erforderliche Effizienz erreicht werden. Die Konsequenz dieses umfassenden Ordnungsdenkens besteht im übergreifenden gesellschaftlichen Konsens bzw. der vollständigen Identität von Staat und Gesellschaft 23. Dies führt zur umfassenden Durchorganisation aller Lebensbereiche, zur perfekten, bis in das Innerste der Bürger reichenden Herrschaft und damit zur Beseitigung jeder Privatsphäre, persönlicher Freiräume, Freiheitsrechte oder des Pluralismus; die Gesellschaft ersetzt das Individuum 2 4 . Eine zusätzliche wichtige Konsequenz der Ideologie des totalitären Herrschaftsumfangs liegt im Anspruch, das Individuum zum system-

19

Marquardt 40.

^Marquardt 41. 21

Daniel Suter, Rechtsauflösung durch Angst und Schrecken. Zur Dynamik des Terrors in totalitären Systemen, Diss. Zürich 1983, 34; Siegfried Mampel, Versuch eines Ansatzes für eine Theorie des Totalitarismus, in: Konrad Low (Hrsg.), Totalitarismus, Berlin 1988, 13-15; Marquardt 38^0. ^Carl J. Friedrich, Der einzigartige Charakter der totalitären Gesellschaft, in: Bruno Seidel / Siegfried Jenker (Hrsg.), Wege der Totalitarismusforschung, Darmstadt 1968,179-196 (185); Jenker 522f.; Marquardt 39,41; Talmon 228. ^Seeber, Totalitarismus 122. Hermann Lübbe, Totalitarismus. Anmerkungen zu George Orwells 1984, in: Horst Neumann / Heinz Scheer (Hrsg.), Plus Minus 1984. George Orwells Vision in heutiger Sicht, Freiburg 1983, 99-107 (99f.); Seeber, Totalitarismus 122; Zippelius, AStL 272f., ders., RPh 212; vgl. auch Ernst Forsthoff, Der totale Staat, Hamburg 1933,42,45. 24

125

1. Totalitarismusbegriff Λ4Γ

konformen, neuen Menschen verändern zu wollen , sei es durch Erziehung oder technische Hilfsmittel. Ein weiteres Kriterium Marquardts besteht in der totalen, umfassenden Herrschaftsausübung. Dazu gehören exzessive Mittel zur Durchsetzung des Herrschaftsanspruchs bzw. der Systemideologie. Generell rechtfertigt der höhere Zweck den Einsatz beliebiger Mittel, die prinzipiell unbegrenzt sind und in jeden Lebensbereich eingreifen können. Wenn die Mittel auch im einzelnen variabel sind (s.o.S.124 mit Anm.21), so fallen typischerweise institutionelle Strukturen und Regelungsmethoden darunter wie Geheimpolizei zur allumfassenden Überwachung und Kontrolle, Terror, Folter, Schauprozesse, umfassende Propaganda mittels der beherrschten Massenmedien, Geschichtsfälschung, Zensur und zentrale Wirtschaftslenkung. Hinzu treten ein umfassendes Erziehungskonzept, das beispielsweise auf die emotionale Instrumentalisierung der Bevölkerung zielt, und zur perfekten Kontrolle notwendige Technologien 26 . Der dritte Bereich, die monistische Herrschaftsrtrafcfar, betrifft die Staatsorganisation, die zumeist streng hierarchisch gegliedert und zentralisiert ist, z.B. in Form einer Einheitspartei oder eines Führerkultes. Machtkontrollen, Gewaltenteilung, Pluralismus und individuelle Freiheitsrechte werden durch diesen Monismus ausgeschlossen. Sind diese Grundmerkmale totalitärer Herrschaft noch weitgehend konsensfähig, so ist es doch stark umstritten, ob sich der Totalitarismus bei der Analyse von Herrschaftssystemen ganz allgemein verwenden läßt oder als typisches Phänomen der Moderne bzw. sogar nur des 20. Jahrhunderts aufgefaßt werden muß 2 7 , eine Frage, die für die Piatondiskussion begreiflicherweise eine wesentliche Rolle spielt. Bereits die historische Entwicklung des Begriffs Totalitarismus zeigt, daß ihm ursprünglich die Funktion vorbehalten war, die Phänomene Faschismus und Kommunismus und die daraus entstandenen Repressionssysteme der 20er bis 50er Jahre dieses Jahrhunderts in der Einmaligkeit ihrer Strukturen systemtheoretisch zu fassen; eine bloße Charakterisierung als Tyrannis, Despotie oder Diktatur wäre der im allumfassenden Reglementierungsan^Arendt 137; Friedrich / Bizezinski 601; Manfred Funke, Erfahrung und Aktualität des Totalitarismus - Zur deflatorischen Sicherung eines umstrittenen Begriffs modemer Herrschaftslehre, in: Konrad Low (Hrsg.), Totalitarismus, Berlin 1988,44-62 (50); Zippelius, AStL 139. Friedrich / Brzezinski 611; Hans-Joachim Lieber, Zur Theorie totalitärer Herrschaft, in: ders. (Hrsg.), Politische Theorien von der Antike bis zur Gegenwart, Bonn 1991, 881-932 (884); Mampel 15. 27

Teilweise wird das Merkmal der Modernität ausdrücklich in die Begriffsdefinition aufgenommen, vgl. Jenker 521; zum Streitstand Marquardt 5-11.

126

D. I. Totalitarismusvorwurf gegenüber Platon

spruch liegenden qualitativen Neuheit nicht gerecht geworden. Zudem enthalten gerade die klassischen, älteren Definitionen des Totalitarismus Merkmale wie Einparteiensystem, Massengesellschaft, Massenmedien, Presselenkung, moderne Bürokratie und Verwaltung, Geheimpolizei oder moderne Kontrolltechnologien; bei solchen Klassifizierungen wäre der Totalitarismus als Phänomen vor dem 19. Jahrhundert überhaupt nicht denkbar, sondern es gäbe zuvor allenfalls autoritäre Systeme 28 . Die Mehrheit der Politikwissenschaftler - die nur ausnahmsweise Piatons Politeia in ihre Erwägungen einbeziehen - und ein Teil der Stimmen aus der Platonliteratur verwenden einen solchen auf die Moderne begrenzten Totalitarismusbegriff 30 . Demgegenüber operieren die meisten Philosophen, Philologen und Historiker - Antiplatoniker wie auch Platoniker - im Rahmen der Totalitarismusdiskussion um Piaton durchaus mit diesem Begriff im Bereich der Antike^ 1, allerdings meist auf einer ungesicherten terminologischen Grundlage. Unterstützen läßt sich diese Position aber durch neuere Stimmen der Politologie gegen die historische Einzigartigkeit des Totalita32

nsmus . Ausgehend von einer abstrakten, typologischen Definition des Totalitarismus stellt sich nämlich die Frage, ob unter diesen typischerweise auf das 20. Jahrhundert anwendbaren und auch hier entstandenen Begriff nicht auch entsprechende, außerordentliche Phänomene der älteren Geschichte subsumiert werden können, deren bloße Bezeichnung als tyrannisch bzw. autoritär ihrem Wesensgehalt nicht gerecht würde. Demnach ließe sich der Totalitarismus als "uraltes historisches Phänomen" 33 bezeichnen, das alle Systeme und Staatsentwürfe charakterisiert, welche mit einem allumfassenden Reglementierungsanspruch, ferner mit einer monistischen Herrschaftsstruktur und den geeigneten exzessiven Durchsetzungsmitteln auftreten. Als historische Beispiele dienen Sparta, religiöse Herrschaftssysteme wie die katholische Kirche, der Puritanismus und der Islam, das Inkareich oder das Frankreich der Französischen Revolution (Gedanke der totalitären Demokratie), Friedrich / Brzezinski 600-604: die totalitäre Diktatur als historische Neuerung und Phänomen "sui generis " (600f.). Als Ausnahme: Friedrich / Brzezinski 602f. mit Anm.6,8f. 30

Z.B. Arendt 135; Karl D. Bracher, Die Aktualität des Totalitarismusbegriffs, in: Konrad Low (Hrsg.), Totalitarismus, Berlin 1988, 19-27 (20); Jenker 521; Marquardt lOf. m.w.N.; aus der Platonliteratur: Maurer, Staat 305 Anm.39; Mayr 231f. 31 S.o.S.121 Anm.7; weitere Beispiele: Bleicken 320,374; Russell 13; Marguerite Tête, Le totalitarisme de Platon, in: BAGB 4 (1954) 46-59 (58); Thomas L. Thorson, Einleitung, in: ders. (Hrsg.), Plato: Totalitarian or democrat? Essays selected and introduced by Th. L. Thorson, Englewood Cliffs 1963,1-12 (lf.,8f.). 32

Claeys 96f.; Manousakis 224; weitere Nachweise: Marquardt 5-9 (v.a. 7f.).

33

Manousakis 224.

1. Totalitarismusbegriff

127

als ideengeschichtliche Beispiele neben Piaton auch Bodin, Calvin, Hobbes oder Rousseau 34 . Unabhängig von der Bewertung dieser Einzelbeispiele scheint es in der Tat sinnvoll zu sein, das Phänomen des Totalitarismus nicht zeitlich zu begrenzen, wenn historische oder ideengeschichtliche Erscheinungsformen älterer Zeit seinem entscheidenden Wesensgehalt - der vollständigen Durchdringung der Gesellschaft nebst den notwendigen Durchsetzungsmitteln entsprechen und sich dadurch von anderen Systemformen wie der autoritären Diktatur qualitativ unterscheiden 35. Daß die als typisch für den Totalitarismus bezeichneten modernen Durchsetzungsstrukturen konstitutiv für solche Herrschaftssysteme sein sollen, überzeugt ohnehin nicht: Beispielsweise kann in der griechischen Polis die Herrschaft über "Massenmedien" entbehrlich bleiben und wegen der geringen Staatsgröße durch die entsprechende Rhetorik auf dem Marktplatz ersetzt werden, ebenso die moderne Technologie durch verstärkte pädagogische Bemühungen bzw. eugenische Auslesekonzepte. Hinzu kommt, daß auch in der Moderne der totale Staat niemals völlig lückenlos verwirklicht werden konnte und ohnehin vom idealtypischen Anspruch der vollständigen Durchdringung der Gesellschaft in der Realität Abstriche vorzunehmen sind 3 6 . Entscheidend ist dagegen v.a. die totalitäre Ideologie, der allumfassende Herrschaftsanspruch des Systems, der nicht ausschließlich an das 20. Jahrhundert gebunden werden kann. Gerade bei der Untersuchung älterer Denkmodelle wie der Politeia oder frühneuzeitlicher Utopieentwürfe, die niemals mit Realisierungsproblemen konfrontiert wurden, muß der Nachweis einer totalitären Denkungsart als prinzipiell möglich angesehen werden, und zwar nicht primär aus pragmatischen Gründen im Rahmen dieser Arbeit, sondern bereits aus der dem Totalitarismus-

34

Für Sparta: Manousakis 224f. Religiöse Herrschaftssysteme: Claeys 96; Manousakis 225228; Léon Poliakov, Les totalitarismes du XXe siècle. Un phénomène historique dépassé?, Paris 1987, 9; Anton Rauscher, Katholische Kirche und Totalitarismus, in: Konrad Low (Hrsg.), Totalitarismus, Berlin 1988, 200-212 (200-203). Inkareich: erwogen bei Marquardt 6. Totalitäre Demokratie: Bleicken 320,374; Szlezak, Abneigung 156; Talmon 34-45,225-231; Alexis C. de Tocqueville, Über die Demokratie in Amerika, 2.Teil, Stuttgart 1962, v.a. 340-345 (noch nach dem Begriff Totalitarismus suchend, 342). Zu den ideengeschichtlichen Beispielen und weiteren Ansätzen: Claeys 91-95 m.w.N.; Friedrich / Brzezinski 602f.; Marquardt 5-9; Zippelius, AStL 270. Zippelius, AStL 269f.; zumindest von seiner Definition her auch Marquardt 39-41, obwohl er sich für die Begrenzung auf die Moderne entscheidet (11). ^Claeys 97; zum Streit: Hans-Georg Herrnleben, Totalitäre Herrschaft. Faschismus, Nationalsozialismus, Stalinismus, Freiburg 1978, 20; mit dem Versuch, zwischen totaler und totalitärer Herrschaft zu unterscheiden: M. Funke 46.

128

D. I. Totalitarismusvorwurf gegenüber Platon

begriff immanenten Logik heraus. Der Umgang der Piaton- wie der Utopieliteratur mit dem Totalitarismusbegriff bestätigt dies weitgehend 37 . Ein weiterer wesentlicher Streitpunkt liegt in der Frage, ob der Totalitarismus zunächst rein staatsorganisatorisch bzw. wertneutral zu betrachten ist oder ob der Mißbrauch von Macht bzw. ein dezidiert antihumanitäres Element schon per definitionem in den Begriff hineingelesen werden muß. Während die Platonliteratur überwiegend zu einer solchen ethischen Färbung des Totalitarismusbegriffs tendiert (s.o.S.121 Anm.8), sind die Politologen in dieser Frage stark gespalten. Ältere Stimmen - unter dem unmittelbaren Eindruck der Schreckenssysteme des 20. Jahrhunderts - setzen Terror, unmenschliche Durchsetzungsmethoden und Machtmißbrauch in totalitären Systemen bereits begrifflich voraus 38 . Gerade neuere Ansätze stellen jedoch auf die Wese/wmerkmale des Totalitarismus, also den Anspruch auf gesellschaftliche Durchdringung und damit auf eine funktional-organisatorische Sichtweise ab 3 9 . I m Ergebnis muß dieser Meinung deshalb recht gegeben werden, weil die abstrakten Definitionen des Totalitarismus nicht auf eine ethische Bewertung abzielen, sondern zunächst nur auf die Erfassung einer gesellschaftlichen Organisationsform. Schließlich können umfangreiche Kontrollmechanismen mit den Staatszielen, z.B. dem Allgemeinwohl, gerechtfertigt werden und müssen ohnehin nicht den Umfang von Terrormaßnahmen erreichen 40 . I m übrigen kann auch ein nahezu gewaltloser Staat wie Huxleys Brave New World, der die perfekte Identität von Staat und Gesellschaft, den allumfassenden gesellschaftlichen Konsens, erreicht und jede Privatsphäre und Individualität ohne Machtmißbrauch "überwunden" hat, als voll und ganz totalitär - gerade nach dem Maßstab der oben genannten Definition Carl Schmitts - bezeichnet werden 4 1 . -

37

S.o.S.121 Anm.7, S.126 Anm.31; ferner Renford Bambrough, Plato's modern friends and enemies, Philosophy 37 (1962) 97-113 (111); für die Utopieliteratur z.B. Joachim Fest, Der zerstörte Traum: Vom Ende des utopischen Zeitalters, Berlin 1991,84; Seeber, Totalitarismus 122f. Zum Verhältnis der Begriffe Utopie und Totalitarismus s.u.S.151f. 38 Arendt 142; Friedrich / Brzezinski 611; Carlton J. Hayes, Der Totalitarismus als etwas Neues in der Geschichte der westlichen Kultur, in: Bruno Seidel / Siegfried Jenker (Hrsg.), Wege der Totalitarismusforschung, Darmstadt 1968, 86-100 ("Macht und Gewalt...um ihrer selbst willen", 98). ^Lübbe 102,105; Marquardt 39f.; Zippelius, AStL 269f. ^Marquardt 12f.,39. 41

Diese Interpretationsrichtung wird auch durch den größten Teil der Utopieliteratur bestätigt, in der die klassischen, auf vernünftigem, allumfassendem Konsens und totaler Stabilität beruhenden Utopieentwürfe als totalitär bezeichnet werden, z.B. Frank R. Pfetsch, Politische Utopie, oder Die Aktualität des Möglichkeitsdenkens, PZ 53 (1990) 3-13 (5); Seeber, Totalitarismus 122,125; Wallmann 96.

2. Position der Antiplatoniker

129

I m Ergebnis läßt sich sagen, daß in Anlehnung an Schmitt und Marquardt der Totalitarismus definiert werden kann als allumfassender staatlicher Herrschaftsanspruch, der auf der Grundlage einer legitimierenden Ideologie auf die Identität von Staat und Gesellschaft zielt und mit einer monistischen Herrschaftsstruktur sowie unbegrenzter Herrschaftsausübung verbunden ist. Diese Definition ist idealtypisch-abstrakt und relativ weit gehalten, da sie auch prinzipiell für Phänomene der Antike offensteht und nicht die Pervertierung von Macht bzw. den Terror voraussetzt. Dennoch bleibt sie nicht zu offen, sondern bietet eine gute Abgrenzung gegenüber bloß tyrannischen oder autoritären Systemen durch ihr Element des qualitativ anderen, allumfassenden Durchdringungsanspruchs. Für die Piatondiskussion hat die weite Definition den Vorteil, daß der Totalitarismusstreit nicht bereits durch den Verweis auf den guten Willen Piatons bzw. die Unanwendbarkeit des Totalitarismusbegriffs auf die Antike, d.h. ohne wirkliche Sachargumente oder nur aufgrund eines fehlenden begrifflichen Konsenses vorzeitig abgebrochen werden muß. Zudem wird diese weite Definition auch dem Wesenskern des Totalitarismus und seinem Erkenntniswert bei grundlegenden Systemvergleichen eher gerecht. I m Verhältnis zu den beiden Legitimationsmodellen von Herrschaft zeigt sich eine Affinität des Totalitarismus zum Harmoniemodell einer geschlossenen, organischen und unitarischen Gesellschaft; damit steht der Totalitarismus auch der überwiegenden Anzahl an Utopieentwürfen nahe, die zum Harmoniemodell tendieren.

2. Position der Antiplatoniker Vorwürfe gegenüber Piaton reichen teilweise bis in die Antike zurück, so der von Aristoteles formulierte Einwand, Piatons Staat sei, v.a. wegen seiner Güter-, Frauen- und Kindergemeinschaft, praxisfern und bloße ideale Spekulation, die mit ihrem Dogma der notwendigen Einheit des Staats das Glück der einzelnen Bürger und die Wirklichkeit verfehle 42 . In der Moderne tritt der Vorwurf hinzu, Piaton vertrete als reaktionärer Aristokrat Klassenprivilegien, doch erst seit dem 19. Jahrhundert lassen sich Stimmen nachweisen, die Piaton des diktatorischen Antiindividualismus bezichtigen. Hieran anknüpfend wurde unter dem Eindruck der totalitären Systeme des Natio-

Aristoteles, Pol.l261al0-1264b25; vgl. Ada B. Hentschke, Politik und Philosophie bei Piaton und Aristoteles. Die Stellung der "Nomoi" im Platonischen Gesamtwerk und die politische Theorie des Aristoteles, Frankfurt 1971 (Diss. Frankfurt 1968), 414-416; Maurer, Staat 148151,159-161. 9 Otto

130

D. I. Totalitarismusvorwurf gegenüber Platon

nalsozialismus und Stalinismus der Totalitarismusvorwurf gegenüber Piaton diskutiert, wobei seitens der Antiplatoniker v.a. Crossman, Popper und Russell hervorzuheben sind 4 3 . Popper und Russell argumentieren dabei recht radikal, während Crossman teilweise vorsichtiger wertet. Insbesondere durch Poppers Werk wurde eine lebhafte Kontroverse ausgelöst, in deren Zusammenhang sich zahlreiche weitere platonkritische Stimmen zu Wort meldeten 44 . I m folgenden soll schwerpunktmäßig die Position Poppers erläutert werden, weil sie trotz diverser Mängel den weitgehendsten und systematischsten Angriff auf Piaton darstellt und praktisch alle Argumente der anderen Antiplatoniker mit umfaßt. Zusammenfassend wird die Politeia von Popper wörtlich - also nicht als Utopie - verstanden, als detailliertes politisches Programm, das Piaton auf Sizilien praktisch umsetzen wollte 4 5 . Piaton erscheint als reaktionärer Aristokrat, der sein rückwärts gewandtes Geschichtsbild, seine Ideale einer untergegangenen Adelsordnung v.a. an Sparta orientiert, einer strikten Klassengesellschaft mit repressiven Zügen und Methoden. Weiterhin werden die Demokratiefeindschaft Piatons betont und seine Neigung zu einem organischen, stabilen, abgeschütteten und antiindividualistischen Ordnungsstaat. Aus dieser Sicht erweisen sich die Dialektik, der Metallmythos und die Ideenlehre als bloße antirationale Ideologie, als Propaganda, instrumentalisiert zur Machtbefriedigung eines totalitären Staats. I m einzelnen legt sich Popper zunächst methodisch darauf fest, Piaton nach Möglichkeit buchstäblich zu lesen, d.h. wörtlich aufzufassen; nur im Fall klarer Widersprüche ist eine darüber hinausgehende Deutung zulässig, die einer widerspruchsfreien Systematik gerecht wird 4 6 . Diese methodische Festlegung entspricht auch der Tendenz der anderen Antiplatoniker, insbe-

43

Vgl. Zusammenfassung bei Gigon, Utopie 8; Literaturnachweise bei Mayr S.If. (Einl.).

S.o.S.19 Anm.4; ferner Richard Robinson, Dr. Popper's defence of democracy, in: ders., Essays in Greek philosophy, Oxford 1969, 74-99 (81,98f.); Tête 58f.; Demetrius Tsakonas, Platon und der Sozialismus: Beitrag zur Geschichte der sozialen Theorien mit Bezug auf die Gegenwart, Bonn o.J. (ca. 1959), 24f.,48-51; Elisabeth C. Welskopf, Zur Entstehung der Utopie bei Piaton, WZ Berlin 12 (1963) 229-235 (233f.). Zur zentralen Rolle Poppers in der Diskussion: Bambrough 98; Szlezak, Abneigung 156. 45

Allerdings wird bei Popper und Russell die Grenze, die zwischen Utopie und politischem Programm zur Erfassung des wesentlichen Gehalts des Utopiebegriffs zu ziehen ist, dadurch verwischt, daß die Politeia - trotz der Interpretation als eines politischen Programms - gleichzeitig als Utopie bezeichnet wird (Popper 213; Russell 13f.); vgl. dagegen Dahrendorf 242f.; Graeser, Bemerkungen 494f.; differenzierend zwischen dem bloßen Traum der abstrakten Utopie - dazu gehört auch die Politeia - und der aufs Reale gerichteten, programmatischen konkreten Utopie (Marxismus): Bloch 165f.,562,674f. Zur gesamten Problematik s.u.S.139-141, 144f.,153f. Popper 295f. Anm.ll, 333 Anm.45.

2. Position der Antiplatoniker

131

sondere die Einzelmechanismen in Buch V der Politeia als programmatisch zu verstehen 47 . Zunächst geht Popper bei seiner Deutung von der Biographie Piatons aus, nämlich von dessen aristokratischer Abstammung und den negativen Erfahrungen mit der Unsicherheit seiner Zeit, v.a. mit der Demokratie und den Sophisten 48 . Aus Einzelinstituten der Politeia wie den Kindestötungen, dem Kommunismus oder dem Vorhandensein einer Herrscherelite lassen sich Parallelen zum spartanischen Staat ziehen, der die reaktionäre, von Piaton hochgeschätzte alte Aristokratengesellschaft im Gegensatz zur athenischen Demokratie verkörpert 49 und den Peloponnesischen Krieg erfolgreich beenden konnte. Unterstützt wird die Vorliebe Piatons für Sparta nach Popper dadurch, daß Piaton, bedingt durch die Vorstellung einer Verfallsgeschichte, seine Staatsideale im Goldenen Zeitalter vergangener Epochen sieht, denen der Verfall der Gegenwart gegenübersteht. Ausgehend vom zyklischen Geschichtsmodell des Politikos bzw. vom zyklisch deutbaren Verfall des Idealstaats ab Buch V I I I der Politeia meint Popper ferner, daß Piaton Hoffnungen auf die Wiederkehr dieser vergangenen Zeit hegt und hervorragenden Menschen einen gewissen Einfluß auf die Wendung der Geschichte zum Ideal einräumt 5 0 . Demnach vertritt Piaton einen "Historizismus" 51 - den Glauben an die Planung der Geschichte nach festen Gesetzen -, der zur "Rückkehr zur Natur" 5 2 führt und damit zum alten, spartanisch-kretischen Ideal einer versteinerten, stabilen Adelsgesellschaft . Hinzu kommt nach Popper auf psychologischer Ebene eine allmähliche Abkehr Piatons von den Grundsätzen seines Lehrers Sokrates, der von Popper als großer Vertreter von Individualismus, Humanität und Moral angesehen wird 5 4 . Der sokratische Einfluß zeigt sich demnach v.a. in den humanitär geprägten Frühdialogen und der individualistischen Definition der Gerechtigkeit im Gorgias, verschwindet aber zunehmend im platonischen Werk

47

Graeser, Bemerkungen 494,496; Holl, Begründung 80f.; Kelsen 124-127; Russell 13.

48

Popper 43f.; ebenso Crossman 91-98,111-114; Russell 12.

49

Popper 71,77-82; vgl. Bloch 562-564; Crossman 114-117; Mumford 33.

^Popper 44-47,278-281 Anm.6. 51 Popper 22,47f.; ähnlich Crossman 291; aber ablehnend Robinson 82. 52

Popper 265; ablehnend Robinson 82.

Popper 77f. Zum Ideal der statischen, alten Klassengesellschaft auch Crossman 289-292; Mumford 43f. 54

Popper 155,179f., ("vielleicht der größte Apostel einer individualistischen Ethik, der je gelebt hat", 180); vgl. Crossman 89f.,304f.,308; Kelsen 119; Mumford 35. 91

132

D. I. Totalitarismusvorwurf gegenüber Platon

und hinterläßt in der Politeia, in der die Gerechtigkeit nur noch kollektivistisch definiert wird, bloß schwache Spuren 55 . Dieser Mangel an Humanität und Individualismus wird am Beispiel der Politeia demonstriert, die nach Popper ganz dem Vorbild Spartas, nämlich einem Sklaven- und "Kastenstaat", nachempfunden ist; der versteinerte Adelsstaat präsentiert sich demnach als Klassengesellschaft, in der die Sklaven und der dritte Stand von den beiden oberen Ständen verachtet und besonders vom zweiten Stand - den "Wachhunden" - wie Vieh kontrolliert werden 5 6 . Die Erziehung ist ein Privileg der Herrscher, während der dritte Stand bewußt in Unwissenheit gehalten wird und nur für die materiellen Bedürfnisse der Herrscher zu sorgen hat 5 7 ; weiterhin fühlen sich diese aufgrund ihres elitären Bewußtseins allen anderen - Ständen wie Völkern - rassisch überlese gen . Weitere Parallelen zu Sparta sieht Popper in Herrschaftsmitteln wie der Abschottung nach außen und dem Ideal der Autarkie, der Fremdenfeindschaft, dem Militarismus nebst Regelung aller Lebensbereiche, der Zensur, der staatlichen Propaganda, der Lügen und repressiven Maßnahmen wie der "Säuberung" bzw. Tötung unerwünschter Staatsbürger 59 . Die elitäre Kaste wird radikal von jedem Wandel, jeder Durchmischung der Klassen freigehalten, d.h. es erfolgt eine strikte Trennung nach Ständen im Staat, da nur so exklusive Privilegien, die Macht und Reinheit der "Herrenrasse" gesichert werden können 6 0 . Die ideologische Grundlage dieses Kastenstaats stellt für Popper die Lüge des Metallmythos dar, nach der die Klassenunterschiede auf natürlichen Gegebenheiten, nämlich verschiedenen menschlichen Fähigkeiten beruhen. Piaton betont demzufolge die natürliche Ungleichheit der Stände, um die Herrenklasse vom niederen Volk zu trennen und ihre Machtprivilegien zu sichern; im Ergebnis führt dieses zum gespaltenen Staat 61 . Zudem läßt sich dieser Staat nach Popper als organisch und antiindividualistisch bezeichnen: Das Glück des einzelnen liegt im Wohl der Gemein-

55

Popper 150; zustimmend Robinson 83f. Popper 78f.,82,; Mumford 43; Welskopf 233f. ^Popper 78f.,84; auch Tsakonas 24f. Popper 79-84,207-209 (zur "Rassenlehre in Sparta": 311 Anm.43). ^Popper 84,87f.,126f.,147f.; vgl. Russell 13. ^Popper 81-84,194f.,303 Anm.31. Zu den (angeblich) statischen, fixierten Ständen auch Holl, Begründung 84f., ders., Planstadtentwürfe 14. 61 Popper 83f.,87,127; ebenso Bloch 565; Kelsen 180-182; Russell 13; Welskopf 231f.; Winspear 269-271.

2. Position der Antiplatoniker

133

schaft und in der statischen Harmonie des Ganzen . Damit bietet der platonische Idealstaat ein Musterbeispiel für eine statische, ''geschlossene Gesellschaftund setzt sich mit seinem Fehlen von Freiheit und Gleichheit - "legitimiert" durch die vom ideologischen Metallmythos zum Ausdruck gebrachte natürliche Ungleichheit - in völligen Gegensatz zur attischen Demokratie bzw. Poppers Vorstellung einer demokratischen, "offenen Gesellschaft" überhaupt 63 . Die Feindschaft Piatons gegenüber dem demokratischen Athen und seine Vorliebe für Sparta sieht Popper durch das sizilische Experiment bestätigt, durch das auf der Basis eines lernfähigen Tyrannen ein Staat nach dem Vorbild der Politeia programmatisch verwirklicht werden sollte 6 4 . Popper glaubt in diesem Zusammenhang bei Piaton Machtgier und eine Neigung zur Königsherrschaft erkennen zu können 6 5 . Der Metallmythos, die Definition der Gerechtigkeit und sogar die Idee des Guten sind demnach dogmatische Zwänge und letztlich leerer Formalismus bzw. Propagandainstrumente zur Machterhaltung 66 , ebenso wie die exklusive, Piaton und seiner Philosophie vorbehaltene Zahlenwissenschaft der Eugenik oder die Erkenntniswissenschaft der Dialektik, welche zur bloßen, im Grunde irrationafn len Intuition der herrschenden Philosophen wird . Nach Popper kämpft Piaton letztlich gegen Vernunft, Wahrheit und Gedankenfreiheit mittels ideologischer Lügen und purer Gewalt, so daß er selbst zum - eigentlich von ihm angeprangerten - Tyrannen wird 6 8 . Popper 115-120,137,327 Anm.35; auch Graeser, Philosophie 180-183; Russell 13; Tête 58f.; Tsakonas 49f.; White 59f.; Winspear 270f. ^Popper 118-120,233-235; vgl. Dahrendorf 242-246,312f. (Konsens- und Konfliktgesellschaft); Graeser, Philosophie 190; Robinson 81. ^Popper 189f.; ebenso Crossman 125f.,263-273; Dahrendorf 249; Kelsen 115-117,129-132. ^Popper 185,209-213; ähnlich Kelsen 117f.,123f.,129. Popper 134f.,168,184f.; als Schlüsselstelle: "Aber über diese rein formale Information hinaus wird uns nichts über die Idee des Guten mitgeteilt. Piatons Idee des Guten spielt nirgends eine unmittelbare ethische oder politische Rolle...Dieser leere Formalismus...1' (200). Vgl. Crossman 293; Holl, Begründung 87; Kelsen 197f.; Russell: This system derives its persuasive force from the marriage of aristocratic prejudice and 'divine philosophy'; without the latter, its repulsiveness would be obvious" (13f.), "Plato...by concealing his thought in metaphysical mists he gave it an impersonal and disinterested appearance which deceived the world for ages" (14); Graeser (Bemerkungen 500) spricht von einem "totalitären Diktat der Metaphysik", vgl. auch 493,497. 67

Popper 184-187.,209f. (auch der Staat selbst beruht damit nicht mehr auf rationaler Betrachtung, sondern "magischen Ideen" und "Tabus", 232f.); ähnlich Holl, Planstadtentwürfe 13; Kelsen 124f.; Winspear 295f. Popper 265-268; mit gleicher Tendenz: Holl ("Diktatur des Philosophenkönigs", Begründung 112, vgl. auch 87); Kelsen 117-120; bei Crossman immerhin noch als "benevolent dictatorship" (117) bzw. "dictatorship of the good" (293), also die Philosophen als zwar absolute, aber wohlwollende Diktatoren.

134

D. I. Totalitarismusvorwurf gegenüber Platon

I m Ergebnis bezeichnet Popper den platonischen Idealstaat wegen seiner umfassenden repressiven Maßnahmen und seiner immoralischen Zwecken dienenden, fundamentalen Täuschungsideologie als statisch, organisch, kollektivistisch, antihumanitär und antiindividualistisch 69 . Alle Lebensbereiche, selbst die Religion, werden instrumentalisiert und im Interesse des Staatsorganismus und der Herrscher kontrolliert 7 0 . Diese umfangreiche Instrumentalisierung, die einzelnen inhumanen Methoden und das Fehlen der ethischen Grundlage bzw. die bloße Machtideologie erfüllen Poppers Vorstellung eines totalitären Staats 71 . Hinzu kommen die Vorwürfe des reinen Staatsästhetizismus y d.h. der Komposition eines Staats um der Schönheit willen - ohne Rücksicht auf die Folgen - zur Befriedigung des Künstlertriebs 72 , sowie des rein metaphysischutopischen Experimentierens in großangelegten Sozialplanungen ohne Rücksicht auf die Folgen für die Menschen 3 . Schließlich zieht Popper deutliche Parallelen zwischen der platonischen Politeia und dem Marxismus sowie den konkreten Erscheinungsformen totalitärer Systeme des 20. Jahrhunderts, d.h. er sieht Piaton als Vorläufer von Faschismus, Nationalsozialismus und Stalinismus 74 .

3. Einwände der Platoniker Der Vorwurf des Totalitarismus und hierbei insbesondere das Werk Poppers lösten in der Literatur lebhafte Kontroversen aus, die bis heute andauern und zu einer im Vergleich zum 19. Jahrhundert völlig neuen Diskussionsebene bei der Beschäftigung mit Piaton geführt haben 75 . Doch müssen sich die Antiplatoniker den Vorwurf gefallen lassen, oftmals einseitige, tendenziöse und durch Vorurteile bestimmte Interpretationen durchzuführen,

^Popper 118-120,126-129,137; ebenso Graeser, Bemerkungen 500. 70

Popper 127,196f.; auch Kelsen 190-193.

71

Popper 22f.,126-132; ähnlich Graeser, Bemerkungen 500; Russell 13; Tête 58f.

72

Popper 224-226.

^Popper 213,218-227; vgl. Holl ("alle Skrupel um der Einheitlichkeit des Systems willen beiseite gelassen", Begründung 108); Russell 13; Tête 58f.; White 60. 74 Popper 25-27,84,127-129,222f.; ebenso Dahrendorf 242-245; Russell 13; Tsakonas 61 (Bedeutung Piatons für den Marxismus); differenzierend Crossman 239f.,252-262. 75 Zum Diskussionsstand Bambrough 98f.,104-107; Gaiser, Piaton 1984, llf., 16; Graeser, Bemerkungen 493-495; Maurer, Staat 2-5,22f.,302-313 (u.a. kritisch zur traditionellen "selbstzweckhaften historischen und philologischen Erforschung Piatons", 4); Mayr S.I-IV (Einl.); Meyerhoff 196. Die Relevanz und Aktualität der Kontroverse läßt sich bis in Parlamentsdebatten hinein verfolgen; vgl. dazu Alexander Demandt, Der Idealstaat. Die politischen Theorien der Antike, Köln 1993, 88f.

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latoniker

135

emotional beeinflußt durch die konkreten Erfahrungen mit totalitären Systemen der Gegenwart 76 . Methodisch zeigt sich die Gefahr, daß, ausgehend von den Ausprägungen des Totalitarismus im 20. Jahrhundert und gewissen Analogien zu Passagen der Politeia, ungeachtet jeglicher historischer Differenz die "passende" Systemideologie in Piatons Werk gesucht bzw. eine solche hineingelesen w i r d 7 7 . Insbesondere können Popper zahlreiche methodische Mängel nachgewiesen werden, z.B. die Auswahl einseitiger und verkürzter Textpassagen, Fehlübersetzungen, Übertreibungen, das Mißverstehen platonischer Ironie und insgesamt fehlende Objektivität , und zwar in einem solchen Ausmaß, daß dies für wesentliche Argumentationsgänge und Vorwürfe gegen Piaton nicht folgenlos bleibt (so für die Unterstellung von Rassismus und Militarismus). Doch Übertreibungen sind auch auf Seiten engagierter Verteidiger Piatons festzustellen, die Piaton z.T. zum geistigen Vater der Demokratie und der Menschenrechte hochstilisieren 79 . Die wichtigsten Einwände gegen die Antiplatoniker knüpfen zunächst an die wörtliche Lesart platonischer Dialoge an, die durch Piatons Thesen zur Schriftkritik und seine oft verwendete spielerische Ironie fragwürdig w i r d 8 0 . Das vermeintlich vergangenheitsgewandte Geschichtsbild Piatons, das zur Stützung der These vom versteinerten, reaktionären Staat herangezogen wird, läßt sich angesichts der recht ambivalenten geschichtsphilosophischen Mythen Piatons und seiner Aussagen zur Koloniegründung eines neuen Staats nicht problemlos aufrechterhalten; demgegenüber wird die These vom dynamischen Erneuerer und zukunftsgewandten Planer Piaton vertreten 8 1 . Auch die von Popper stark betonte platonische Idealisierung Spartas bleibt nicht unrelativiert, da in der Politeia die spartanische Timokratie als Verfallsstaat kritisiert (Rep.547a-550b) und die Politeia selbst als ethischer Neu76 Dazu Gadamer, Utopien 435,445; Gaiser, Piaton 1984, 12; Mayr S.III (Einl.); G. Müller, Dialog 7,27; Unger 653f.; de Vries 9,63. Zumeist wird von den Antiplatonikern die emotionale Beteiligung und Abneigung gegen Piaton und die Politeia ganz offen eingeräumt: "The more I read it, the more I hate it" (Crossman 292); "perhaps the most astonishing example of literary snobbery in all history" (Russell 13).

^Vgl. die diesbezügliche Kritik bei Levinson S.VII (Einl.); Maurer, Staat 318; Szlezak, Abneigung 156; Wild 28. 78 J. Elias 108-110,166-168; Unger 651-654; de Vries 62f; Wild 26f.; selbst Robinson 75-78; der Kritik zustimmend: Gadamer, Utopien 435. ^Ζ,Β. Wild 38,46; vgl. die Kritik bei Mayr S.IV (Einl.). on

Friedländer III, 93,127f.,360; Gadamer, Utopien 440,446f.,453; Maurer, Staat 2; de Vries 24,35; ebenfalls Robinson 78. 81 Erbse, Politeia 185f.; Rohrmoser 113f.; de Vries 24; Wild 33,58; insbesondere gegen Poppers These von der "Rückkehr zur Natur": Flashar, Staat 27; auch Robinson 82.

136

D. I. Totalitarismusvorwurf gegenüber Platon tyy

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entwurf Sparta gegenübergestellt wird . A u f der anderen Seite läßt sich die Demokratiekritik Piatons angesichts der Auswüchse in Athen verständlich machen; zudem ist bei der Übertragbarkeit dieser Kritik auf heutige Demokratien angesichts der Systemdifferenzen zwischen Moderne und Antike (z.B. Repräsentativsystem) Vorsicht geboten, so daß der Vorwurf der Demokratiefeindschaft Piatons bezüglich moderner Demokratien in dieser pauschalen Form keine Stütze findet 8 3 . Ebenso gilt es, bei der Bewertung von Sklaverei und Kindestötungen - gängigen Phänomenen der Antike - die Differenz zur Moderne zu beachten 84 . Poppers These der fixierten Klassen- und Kastengesellschaft läßt sich bereits durch diejenigen Textbeispiele der Politeia in Frage stellen, die die Flexibilität und den Wechsel zwischen den Ständen nach dem Kriterium der Qualifikation ausdrücklich zulassen (Rep.415b-c,423c-d); desgleichen betrachten sich alle Bürger als Brüder (Rep.415a) im Staat, so daß demzufolge kein abwertendes Klassendenken oder gar eine Unterdrückung des dritten Standes vorzufinden sind 8 5 . Als besonders absurd werden von Piatonikern Poppers Aussagen zum vermeintlichen Militarismus und Rassismus in der Politeia angesehen, da sich Piaton klar gegen Krieg ausspricht und aus den Standesunterschieden oder dem Gegensatz Griechen-Barbaren kaum ein wirkliches Rassendenken abzuleiten ist 8 6 . I m Zusammenhang mit dem sizilischen Experiment werden betont: die Hilflosigkeit des bloßen Zuschauers Piaton, ferner die widrigen Ausgangsbedingungen für einen Idealstaat in Syrakus sowie die fehlende Absicht, die Politeia programmatisch dort umzusetzen, und schließlich das prinzipielle Problem, aus Piatons praktischer Betätigung Rückschlüsse auf seine Theorie herleiten zu wollen 7 . Die Realisations - bzw. Utopiediskussion der Politeia entzündet sich angesichts widersprüchlicher Textstellen, die zumindest die wörtliche Auslegung der Antiplatoniker höchst fragwürdig erscheinen lassen; die mit der Hochzeitszahl verbundene Problematik spricht für einen gewissen Realitätssinn

82 Flashar, Formen 12f., ders., Staat 35; Jaufmann 49; Klosko, Theory 150; Levinson 355,510518; Plenio 164; Wild 42f. ö

Erbse, Politeia 187; Jaufmann 55; Wild 40-43,46-48,58f.

W

Erbse, Politeia 183 Anm.9; Gaiser, Piaton 1984,12; Levinson 194-197. ^Barrow 145-150; Erbse, Politeia 174,184f.; Field, Philosophie 72,81f.; Jaufmann 52f.; Mayr 43f.; John Plamenatz, The open society and its enemies, BJS 3 (1952) 264-273 (266); Plenio 164; de Vries 14f. Harrow 4,7; J. Elias 165-167; Gauss 211; Levinson 230-232; Maurer, Staat 303f.; Meyerhoff 193f.; Plenio 161f. Anm.25; Wild 14-19,25-30,57f. ^v.Fritz 115; Gadamer, Utopien 444; Maurer, Staat 300; Unger 652; de Vries 61.

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137

latoniker

Piatons gegenüber seinem Ideal, das nur als Paradigma (Rep.592b) gelten soll 8 8 . Wesentliche Differenzen zwischen beiden Lagern treten schließlich im Bereich der platonischen Metaphysik auf sowie in der Frage nach dem ethischen Anspruch Piatons bzw. seiner angeblichen Machtgier. Die Platoniker lassen einen so weitgehenden Gegensatz zwischen Sokrates und Piaton, wie ihn z.B. Popper konstruiert, nicht gelten, sondern heben Gemeinsamkeiten hervor und betrachten daher die ethischen Forderungen der früheren Dialoge und der Politeia als echtes platonisches Anliegen 8 . Die Aussagen Piatons zur ethisch-metaphysischen Fundierung der Philosophenherrschaft werden somit als Schlüsselstellen der Politeia verstanden, die die Vorwürfe der 90

Machtgier und des leeren metaphysischen Formalismus widerlegen . Der Idealstaat erscheint angesichts der Harmonie und freiwilligen Einordnung der Bürger nicht als freiheitsloser Zwangsstaat, sondern beruht auf einem allumfassenden Konsens (vgl. Rep.431d-432a). Auch das vermeintliche Fehlen des Individualismus ergibt sich nach Meinung einiger Interpreten nur aus einer unzulässigen Überbewertung der Mechanismen und Institutionen, wodurch das übergeordnete, ethische Ziel unbeachtet bleibt 9 1 . Differenziert man zwischen den verschiedenen Verteidigern Piatons, so lassen sich zum Totalitarismusvorwurf mehrere Positionen herausstellen, in denen unterschiedliche Verteidigungsstrategien verfolgt werden. Die beiden extremen, wegen ihrer Einseitigkeit kaum überzeugenden Gegenpole werden von nur wenigen Interpreten vertreten: einerseits die wörtliche Auffassung der Politeia, nach der alle Einzelmechanismen als positive, keineswegs totalitäre oder repressive, sondern einer guten Herrschaft dienende, sinnvolle Mittel verstanden werden, andererseits die Betrachtung der Politeia als Satire oder Paradoxon, das ohnehin jeder praktischen Relevanz oder Realisierungsabsicht, damit auch dem Vorwurf des Totalitarismus entrückt ist 9 2 . Dazwischen verbleiben zwei weitere Interpretationsansätze. Die erste Richtung, vertreten von der größeren Anzahl an Piatonikern, die mit dem Wert der ethisch fundierten Metaphysik Piatons argumentieren und demgegenüber die einzelnen, durchaus als problematisch angesehenen Institutionen als se^rbse, Politeia 188; Field, Philosophie 67f.; Gadamer, Utopien 452^54; Maurer, Staat 295f.; de Vries 6. ®v.Fritz 12-14; Levinson 630-645; Rohrmoser 110-117; de Vries 34f.; Wild 36-39; ähnlich Gadamer, Utopien 445; vgl. auch Friedländer 1,181. 90

Erbse, Politeia 181f., 188-191; Gigon, Utopie 12f.; Jaufmann 48f.,54; Maurer, Staat 219225,317; de Vries 62; auch Robinson 90f. 91 Erbse, Politeia 180-182,189f.; Jaufmann 54; Mayr 138. 92

Vgl . die Literatur oben S.19 Anm.5f.

138

D. I. Totalitarismusvorwurf gegenüber Platon ni

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β

kundär auffassen , kann gegen den Totalitarismusvorwurf nur die Unanwendbarkeit dieses Begriffs auf die Antike oder auf ethisch fundierte Herrschaftssysteme ins Feld führen. Nach dem in dieser Arbeit vertretenen Begriff des Totalitarismus (s.o.S.129) wird durch solche Einwände aber der Totalitarismusvorwurf überhaupt nicht berührt. Anders ist dies nur bei der zweiten Interpretationsrichtung, nach der die Politeia als Utopie zu verstehen ist, also die in ihr geschilderten, konkreten Institutionen nicht wörtlich oder programmatisch aufgefaßt werden 9 4 . Da Piatons wirkliche politische Vorstellungen demnach nicht unbedingt in der Einrichtung des Idealstaats liegen, sondern zunächst einmal gesondert herausgearbeitet werden müssen und dann keineswegs notwendig den konkreten Institutionen der Politeia entsprechen, entfällt in diesem Fall möglicherweise die Grundlage für den Vorwurf des Totalitarismus. Insgesamt lassen sich die gegensätzlichen Positionen der Platoniker wie auch der Antiplatoniker jeweils nicht ohne weiteres von der Hand weisen. Auch wenn den Antiplatonikern zahlreiche methodische und inhaltliche Mängel nachgewiesen werden können, so zeigen sich doch anhand der von ihnen aufgeworfenen Argumente gewisse Defizite der platonfreundlichen Interpretation, die es genauer zu untersuchen gilt. V.a. tauchen bei Piaton zahlreiche einander zunächst widersprechende Textstellen auf, die verschiedenen Wertungen gegenüber offen sind und der Einordnung in sein Gesamtsystem bedürfen. In der nun folgenden Untersuchung soll dem Popperschen Anspruch einer rationalen, systematischen und i.S. des zu deutenden Philosophen widerspruchsfreien Interpretation entsprochen werden 95 . Erst einmal werden die Argumente der Platoniker mit Blick auf die Widerlegung der Antiplatoniker systematisiert; ein besonderer Schwerpunkt liegt dann aber im Ausbau des Utopieansatzes, der - im Gegensatz zur Interpretationslinie, die lediglich die ethische Stoßrichtung der platonischen Metaphysik betont - eine vielversprechende Basis fir eine wirklich überzeugende Widerlegung des Totalitarisrnusvorwurfs bietet. Zunächst aber gilt es, für das zentrale Utopieargument ein begriffliches Fundament zu schaffen, in dessen Rahmen die wesentlichen Abgrenzungs- und Anwendungskriterien entwickelt werden, welche überhaupt erst die sinnvolle Verwendbarkeit dieses Begriffs gewährleisten.

' V g l . die Literatur oben S.20 Anm.7 (erster Absatz), S.21 Anm.9. 'Vgl. die Literatur oben S.21 Anm.10. Von einem anderen, sehr weiten und im Rahmen dieser Diskussion wenig hilfreichen Utopiebegriff gehen Popper und Russell aus, da sie Utopie und politisches Programm nicht als Gegensätze verstehen (s.o.S.130 Anm.45). 95 Popper 333 Anm.45.

1. Begriffsbestimmung und Erläuterung

139

II. Utopiebegriff 1. Begriffsbestimmung und Erläuterung Ähnlich wie der Totalitarismusbegriff stellt sich auch der Utopiebegriff als äußerst komplexer und umstrittener, zudem aber auch oft vager, konturloser Untersuchungsgegenstand dar. Dies liegt nicht nur an der Tatsache, daß durch den Alltagsgebrauch eine starke Begriffsdehnung erfolgte, sondern auch daran, daß sich der Utopiebegriff wie vielleicht kein anderer zu einem interdisziplinären Phänomen entwickelt hat, das heute Philosophie, Politologie, Soziologie, Geschichtswissenschaft, Literaturwissenschaft und diverse Philologien beschäftigt 1 und damit aus sehr unterschiedlichen Blickwinkeln diskutiert wird. Innerhalb der Diskussion zwischen Piatonikern und Antiplatonikern nimmt der Utopiebegriff eine zentrale Bedeutung ein; v.a. seitens einiger Platoniker wird er als Gegensatz zu politischen Programmen mit Verwirklichungsanspruch interpretiert und damit zur Abwehr des Vorwurfs von Dogmatik und Totalitarismus bei Piaton verwendet. Die Antiplatoniker akzeptieren im Kern diesen Gegensatz, da sie alle Piaton konkrete politische Absichten vorwerfen; einige operieren jedoch mit einem Utopiebegriff, der verschwimmend mit politischer Programmatik gleichgesetzt wird und der damit die begriffliche Klarheit der Diskussionsfronten aufweicht. A u f beiden Diskussionsseiten wird der eigentlich zentrale Utopiebegriff zumeist äußerst stiefmütterlich behandelt, nämlich plakativ und pauschal verwendet 3 , so daß ein Hinzuziehen der speziellen Utopieliteratur als Grundlage der Begriffsanalyse unumgänglich ist. U m eine mögliche Einordnung der Politeia in die Literaturgattung der Utopie vornehmen zu können, müssen neben einer praktikablen Bestimmung des Begriffs Utopie v.a. Fragen zu Form und Inhalt, zur Antiutopie, zur Abgrenzung von anderen literarischen Formen, besonders dem rein philosophischen Diskurs, zum Verhältnis zur Realität bzw. der Ideenverwirkli-

*Zum wissenschaftlichen Spektrum beispielhaft die drei Bände von Voßkamps Utopieforschung; umfassende Literaturhinweise v.a. bei Fohrmann sowie bei Heubrock 684f. 2

Eine solche Vermengung ohne näheres Eingehen auf den Utopiebegriff erfolgt bei Russell 13f. und Popper 213f. (vgl. Popper 213: "Piatons Programm...*//? Methode des Planens im großen Stil, die utopische Sozialtechnik, die utopische Technik des Umbaus der Gesellsch nung"'). Begrifflich auf einer gemeinsamen Basis mit den Diskussionsgegnern bewegen sich dagegen z.B. Dahrendorf 242f.; Graeser, Bemerkungen 494f. Symptomatisch für die weit überwiegende unreflektierte oder zumindest oberflächliche Begriffsverwendung z.B. Erbse, Politeia 169; Hentschke lllf.; Jaeger II, 320; Russell 13. Eine positive Ausnahme bildet v.a. Flashar, Formen 5-7. Zum Kommunikationsproblem zwischen Piatonforschung und Utopieforschung: Kytzler, Unorte 20f.

140

D. II. Utopiebegriff

chung durch politische Programme und zur Anwendbarkeit des Begriffs auf die Antike geklärt werden. Beim Blick in Lexika wird die Anwendungsbreite des Utopiebegriffs deutlich, die von der Bezeichnung als "Schwärmerei, Hirngespinst" bis zur "Schilderung eines erdachten (erhofften oder befürchteten) Gesellschaftszustandes" reicht 4 . Seit der Schaffung des Begriffs Utopie durch Morus haben sich als Gebrauchsebenen v.a. der Alltag, die Verwendung als politischer Kampfbegriff und die Wissenschaft herausgebildet, wobei die Bedeutungsfacetten von starker Abwertung bis zur Glorifizierung reichen und die Verwendung im 19. Jahrhundert weiter und diffuser war als im 20. Jahrhundert, in dem sich zumindest die Wissenschaft stärker um eine begriffliche Eingrenzung bemühte 5 . I m Alltag wird der Begriff Utopie zumeist pejorativ gebraucht; utopisch meint "abwegig" oder "unrealisierbar, weltfremd", ein Utopist ist ein "weltfremder Schwärmer"; zudem verliert der Begriff in Anwendung auf vielerlei mißliebige oder phantastische Ideen jegliche Konturen. I m politischen Gebrauch drücken Utopien einerseits Hoffnungen und Wünsche zur Veränderung aus, andererseits werden utopische Ideen aus der Sicht liberaler (vgl. Popper) und konservativer Ideologiekritik als abwegig oder politisch gefährlich abgewertet 6 . Ursprünglich, nach Engels' Schrift Die Entwicklung des Sozialismus von der Utopie zur Wissenschaft, wurden auch aus marxistischer Sicht Utopien abwertend, als unwissenschaftliche Vorform bzw. "unreife Theorien" und "reine Phantasterei" 7 angesehen, doch erfährt gegenwärtig der Begriff seitens der modernen Linken eine Aufwertung 8 . I n der wissenschaftlichen Diskussion des 20. Jahrhunderts zeichnen sich v.a. Karl Mannheim und Ernst Bloch aus, die sich beide darum bemühen,

4

17

Angeführte Definition: Duden, Bd. 1, Mannheim 1973, s.v. Utopie; Der neue Brockhaus, Lexikon in fünf Bänden, Bd.5, Wiesbaden 1980, s.v. Utopie. Diverse weitere Definitionsversuche aufgelistet bei Heubrock 679. 5 Heubrock 678f.; zur historischen Entwicklung: Erzgräber, Utopie 14-17; Lucian Hölscher, Der Begriff der Utopie als historische Kategorie, in: Wilhelm Voßkamp (Hrsg.), Utopieforschung. Interdisziplinäre Studien zur neuzeitlichen Utopie, Bd.l, Frankfurt 1985,402-418. ^ u m Alltagsgebrauch und der Verwendung i.S. eines politischen Kampfbegriffs: Heubrock 678-681; Ulrich Hommes, Utopie, in: Handbuch der philosophischen Grundbegriffe, hrsg. Hermann Krings u.a., München 1973, 1571-1577 (1573f.); Wilhelm Kamiah, Utopie, Eschatologie, Geschichtsteleologie. Kritische Untersuchungen zum Ursprung und zum futurischen Denken der Neuzeit, Mannheim 1969, 15; Leszek Kolakowski, Ende der Utopie? Von der Gefahr und der Notwendigkeit politischer Hoffnungen, in: Josef Krainer / Wolfgang Manti u.a. (Hrsg.), Nachdenken über Politik. Jenseits des Alltags und diesseits der Utopie, Graz 1985, 251-265 (252); Arnhelm Neusüss, Politische Utopien, in: Handlexikon zur Politikwissenschaft, hrsg. Wolfgang W. Mickel, München 1986, 415-420 (417f.); Philosophisches Wörterbuch, hrsg. Georgi Schischkoff, Stuttgart 1982, s.v. Utopie; Soeffner 12f. 7

Engels, Von der Utopie zur Wissenschaft, MEW XIX, 193f.,200f. (194).

®Zu den neueren politischen Positionen: Heubrock 681-683; Pfetsch llf.; Soeffner 12-14.

1. Begriffsbestimmung und Erläuterung

141

den konturlos gewordenen Utopiebegriff wieder wissenschaftlich sinnvoller Verwendung zuzuführen. Mannheim versucht dies in Abgrenzung vom Ideologiebegriff und begrenzt Utopien auf "alle jene seinstranszendentalen Vorstellungen...die irgendwann transformierend auf das historisch-gesellschaftliche Sein wirkten"; dabei bezeichnet er als Utopien "Wunschträume" bzw. jedes "Bewußtsein, das sich mit dem es umgebenden 'Sein' nicht in Deckung befindet" 9 . Diese Bezeichnung wird aber überwiegend als viel zu weit empfunden, da Utopien demnach sämtliche (auch eschatologisch-chiliastische) Hoffnungen, Ideale und Phantasien umfassen würden. Die Begrenzung auf Ideen, die konkrete Auswirkungen auf die Wirklichkeit haben, engt wiederum das Phänomen des Utopischen unangemessen ein 1 0 . Bloch unterscheidet zwischen der "Hoffnungs-Ahnung" des "Phantasiestaats" der abstrakten Utopie und der konkreten (v.a. der marxistischen) Utopie, die durch aktive "Weltverbesserung" das bloß abstrakte Utopisieren zu überwinden vermag 11 . Während auch hier - wie bei Mannheim - das Hoffnungsdenken, der Bereich der Phantasien und Tagträume zu konturlos bleibt, erscheint das Primat der konkreten revolutionären Realisierbarkeit 17

der wahren, vollwertigen konkreten Utopie als zu eng . Für die Untersuchung literarischer Texte erweisen sich die Ansätze Mannheims und Blochs v.a. deshalb als ungeeignet, weil als zentral empfundene Texte wie z.B. Morus' Utopia mangels konkreter Realitätswirksamkeit herausfallen würden, auf der anderen Seite diverse Ideevorstellungen zugelassen werden müßten, die den Rahmen einer literarischen Gattung Utopie sprengen würden. Die moderne Forschung beschränkt sich daher auf den Begriff der literarischen Utopie 13.

9

Karl Mannheim, Ideologie und Utopie, Frankfurt 41965,169,179.

10 Kritik bei: Gniig 12; Kamiah 14; Hans J. Krysmanski, Die utopische Methode. Eine literatur- und wissenssoziologische Untersuchung deutscher utopischer Romane des 20. Jahrhunderts, Köln 1963 (Diss. Münster 1963), 14-18,124; Neusüss, Utopien 418; Richard Saage, Das Ende der politischen Utopie?, Frankfurt 1990, 14, ders., Politische Utopien der Neuzeit, Darmstadt 1991, 2f.; Marianne Zumschlinge, Euhemeros. Staatstheoretische und staatsutopische Motive, Diss. Bonn 1976,194 mit Anm.l. n

Bloch 166,675,680 (zur abstrakten und konkreten Utopie v.a. 163-166).

12

Kritik bei: Klaus L. Berghahn / Hans U. Seeber, Einleitung, in: dies. (Hrsg.), Literarische Utopien von Morus bis zur Gegenwart, Königstein i.Ts. 1983, 7-23 (19f.); Hölscher 413f.; Kamiah 13f.; Kolakowski, Utopie 251; Krysmanski 14-18,127; Hans-Joachim Lieber, Zu Ernst Blochs "Das Prinzip Hoffnung" (1960), in: Werner Süß (Hrsg.), Übergänge, Zeitgeschichte zwischen Utopie und Machbarkeit. Beiträge zur Philosophie, Gesellschaft und Politik, FS Hellmuth G. Bütow, Berlin 1989,57-70 (57); Neusüss, Utopien 418; Saage, Ende 14. 13 Berghahn / Seeber 19; Jenkis 5; Schepelmann 8-11; zum methodischen Ansatz genauer Seeber, Wandlungen 3-5.

142

D. II. Utopiebegriff

Zur Wesensbestimmung des Utopiebegriffs als einer Genrebezeichnung ist am besten vom klassischen, 1516 veröffentlichten Werk Utopia von Thomas Morus auszugehen, der den Begriff Utopie begründet hat. Utopia ist ein von Morus geschaffenes Kunstwort aus den griechischen Elementen ob und τόπος , gleichbedeutend mit "Nicht-Ort" oder "Nirgendwo". Morus verwendet diesen Begriff als Titel seines Werks, ferner als Namen der im Zentrum der Schrift stehenden Insel sowie des dortigen Staatsgründers, des sagenhaften Königs Utopos. Bereits der Titel "De optimo reip. statu, deque nova insula Utopia, libellus vere aureus, nec minus salutaris quam festivus" 14 wie auch das - möglicherweise von Petrus Aegidius in die Edition gefügte - Wortspiel "Utopia...optimisque legibus Eutopia merito sum vocanda nomine" 1 5 , in denen sich das englische Homonym Eutopia als in Utopia mitschwingende Bedeutung offenbart, verdeutlichen jedoch, daß es Morus nicht um ein bloßes Nirgendwo, sondern ein inhaltlich gefülltes, nämlich vollkommenes ("optimo"), ideales Staatswesen geht 1 6 . Damit ist der inhaltliche Kent dieses für die folgende Utopietradition wesensbestimmenden, idealtypischen Werks erfaßt und der Ausgangspunkt jeder Definition der literarischen Utopie festgelegt: das Bild eines idealen, perfekten und harmonischen Gemeinwesens, die Fiktion einer glücklicheren, besseren Welt 17. Daraus lassen sich für die Forschung brauchbare Definitionen entwickeln wie "EINE U T O P I E IST D I E L I T E R A R I S C H E F I K T I O N E I N E R H Y P O T H E T I S C H E N GESELLSCHAFT" 1 8 oder "Eine Utopie ist die literarische Fiktion optimaler, ein glückliches Leben ermöglichender Institutionen eines Gemeinwesens, die faktisch bestehenden Mißständen kritisch gegenübergestellt werden" . Doch selbst im Bereich der literarischen Utopien ergeben sich weitreichende Probleme aus der Notwendigkeit, sinnvolle Abgrenzungen zu anderen Literaturarten wie Märchen, Idylle oder Reiseroman zu finden, v.a. aber den Rahmen an Texten festzulegen, die noch als Utopien betrachtet werden 14

Morus (1517) 11; ähnlich die lateinische editio princeps (1516), 1. Abgedruckt in der Einleitung der kritischen Ausgabe von Victor Michels / Theodor Ziegler. Thomas Morus, Utopia (lat. editio princeps 1516), Berlin 1895, S.III-LXX (XLII). 15

16

Erzgräber, Utopie 13f.,35; Flashar, Formen 5; Kamiah 16f.; Schepelmann 8f.; Konrad Tuzinski, Das Individuum in der englischen devolutionistischen Utopie, Tübingen 1965 (Diss. Mainz 1964), 1-3. 17 Erzgräber, Utopie 13; Gnüg 10; George Kateb, Utopias and Utopianism, in: The encyclopedia of philosophy, hrsg. Paul Edwards, New York 1967, Bd.7-8, 212-215 (213); Kolakowski, Utopie 258f.; Tuzinski 3; Wallmann 91,96; Zippelius, AStL 7. 18

Schepelmann 10.

19

Kamlah 17.

143

1. Begriffsbestimmung und Erläuterung

können. D i e Reichweite an M ö g l i c h k e i t e n zeigt sich an den Beispielen v o n Bliesener, der allein Piatons Politeia

u n d M o r u s ' Utopia

als U t o p i e n gelten

lassen w i l l , u n d W i n t e r , der eine unübersehbar reichhaltige Palette an "utopischen" T e x t e n i n seine S a m m l u n g a u f n i m m t 2 0 . Angesichts dieser F ü l l e von Ansätzen u n d Texten w i r d deutlich, daß die Aufgabe, eine bindende Definition rarischen U t o p i e als unlösbar

zu finden, selbst auf d e m Gebiet der lite-

angesehen werden m u ß . Methodisch

bleibt al-

so n u r die M ö g l i c h k e i t , innerhalb einer eingegrenzten Aufgabenstellung brauchbaren

Ansatz

einen

zu wählen, der sich an konkrete Textbeispiele anlehnt,

ihre Abgrenzbarkeit gegenüber entfernteren L i t e r a t u r f o r m e n gewährleistet u n d dennoch als zentral erachtete Texte e i n b e z i e h t 2 1 . I n der vorliegenden A r b e i t soll von einigen für die U n t e r s u c h u n g wesentlichen U t o p i e t e x t e n ausgegangen 2 2 u n d dabei wegen des auf die platonische Politeia

gerichteten Forschungsinteresses ein R a h m e n gesetzt werden, der

zumindest die M ö g l i c h k e i t offenläßt, die Politeia

als U t o p i e anzusehen bzw.

sie nicht gleich von vornherein definitorisch auszuschließen (z.B. d u r c h die Beschränkung des Utopiebegriffs auf die Neuzeit oder auf die F o r m einer Reise- oder Romanerzählung). I m folgenden erfolgt i n weitgehender A n l e h n u n g an Kamiah onsversuch,

ein Definiti-

der erläutert u n d dann durch weitere, b e i U t o p i e n typischerwei-

Erich Bliesener, Zum Begriff der Utopie, Diss. Frankfurt 1950, 152; Michael Winter, Compendium Utopiarum, Typologie und Bibliographie literarischer Utopien, Teil 1, Von der Antike bis zur Frühaufklärung, Stuttgart 1978, v.a. Zusammenfassung und Tabellen 202-206: Dort reicht das literarische Genre vom Verfassungs- und Architektenentwurf über Fürstenspiegel und Robinsonade bis zur arkadischen Schilderung, die literarische Präsentationsform vom Programmentwurf über Predigt und Brief bis zum Roman und der Komödie. 21

Zu dieser Diagnose und Methodik: Gnüg 9f.; Jenkis 2-4,64f.; Kamiah 16-18; Schepelmann 8f.; Marie Simon, Hellenistische Märchenutopien, WZ Berlin 12 (1963) 237-243 (238); Soeffner 4f.,19f. ^ g l . ähnlich Saage, Neuzeit 6-8. Die mit Blick auf Piaton und Orwell für den hier vorzunehmenden Vergleich und die Analyse wichtigsten Werke der Gattung Utopie sind: aus der Antike v.a. Aristophanes, Vögel (414 v.Chr.), Ekklesiazusen (392 v.Chr.); Piaton, Kritias (um 350 v.Chr.); sodann die drei Renaissanceutopien Thomas Morus, Utopia (1516/17); Tommaso Campanella, Sonnenstaat (1602-1623); Francis Bacon, Neu-Atlantis (1624); ferner Jonathan Swift, Gulliver's Travels (1726); Edward Bellamy, Looking Backward: 2000-1887 (1888); William Morris, News from Nowhere (1890); Herbert G. Wells (oftmals antiutopisch), The Time Machine (1895), When the Sleeper Wakes (1899), A Modem Utopia (1905); außerdem die zentralen Antiutopien neben Orwell, nämlich Jewgenij Samjatin, Wir (1920); Aldous Huxley, Brave New World (1932); als postmaterielle Utopie Ernest Callenbach, Ecotopia (1975). Auffällig ist insgesamt das unregelmäßige zeitliche Auftreten literarischer Utopien, das auf verschieden günstige Rahmenbedingungen für deren Entstehung (v.a. Krisen- und Umbruchzeiten) schließen läßt (vgl. Herzog 12-15; Ludwig Stein, Zur Sozialphilosophie der Staatsromane, AGPh 9 (1896) 458-485 (459-464); Winter 227f.). So liegen die brauchbarsten, wichtigsten Klassiker im Kern in den Epochen 420-300 v.Chr., 1510-1650 n.Chr., 1710-1730,1880-1950. ^Kamlah 17 (s.o.S.142); in Anlehnung daran ähnlich Flashar, Formen 5.

144

D. II. Utopiebegriff

se auftretende Merkmale, Formen und Inhalte ergänzt wird. Gerade solche Zusatzbestimmungen und Abgrenzungsversuche lassen immer wieder auch Ausnahmen und Grenzfälle selbst unter den wenigen, im Rahmen dieser Arbeit als zentral erachteten Literaturbeispielen erkennen, so daß diese Bestimmungen zwar für Utopien Wesentliches erfassen, aber stets nur idealtypisch und nicht dogrnatisch zu verstehen sind. Die literarische Utopie soll somit definiert werden als fiktionaler, ohne Anspruch auf Verwirklichung rational konstruierter Entwurf eines idealen, harmonischen Gemeinwesens, das als kritisches Gegenbild zur Gegenwart konzipiert und in feme Zeiten oder Räume verlegt ist. "Fiktional" meint, daß im Gegensatz zu einem politischen Programm oder einer rein sachlich-theoretischen Erörterung in Utopien künstlerische, ästhetische Erzählstrategien verfolgt werden 24 . Fiktionale Elemente sind beispielsweise die Schilderung einer Handlung (zumindest einer Rahmenhandlung) mit der Beschreibung von Charakteren (z.B. Dialogpartnern wie bei Morus), durch die eine lebendige, plastische Gestaltung erreicht w i r d 2 5 . Verstärkt wird diese Wirkung durch oft in Utopien verwendete Stilmittel wie Kontraste, Paradoxa, Metaphern (v.a. Licht-Dunkel-Metaphorik und Organismusvergleich), politische Anspielungen sowie ironische und satirische Elemente . Wahrheitsbeteuerungen sollen zur Glaubwürdigkeit des Erzählten beitragen 27 , sich durch ihre Übertreibung und Fiktionssignale aber gleichzeitig als ästhetisches Spiel entlarven 28 . Solche versteckten Hinweise auf die wahre Absicht des Autors wie auch die Übertreibungen, die phantastischen Einschübe und Motive machen den intellektuellen Reiz und die Einprägsamkeit von Utopien aus und ermöglichen nicht zuletzt ihre große, suggestive Breitenwirkung. "Ohne Anspruch auf Verwirklichung" ist ein Merkmal, das an dieses spielerische, schon bei Morus stark ausgeprägte ästhetische Element anknüpft. 24

Gnüg 10,18. Zur literarischen Utopie als Kunstleistung: Wolfgang Braungart, Die Kunst der Utopie. Vom Späthumanismus zur frühen Aufklärung, Stuttgart 1989 (Diss. Braunschweig 1986), 10; Schepelmann 11. ^ g l . Gnüg 10f.,17f. Erzgräber, Utopie 30f.; Seeber, Wandlungen 8-11. 27

Dazu Zumschlinge 208.

28

Gnüg 27f.; Neusüss, Utopien 416; Seeber, Wandlungen 50f. Am Beispiel von Morus, der auch hierin die Folie der meisten weiteren Utopien der Neuzeit bildet, läßt sich diese Erzählstrategie gut zeigen: Einerseits wird die Fahrt des Erzählers Hythlodeus nach Utopia durch die genaue Beschreibung dieses erfahrenen Seemanns und den Hinweis, er sei mit Amerigo Vespucci gereist, plausibel gemacht (Morus (1517) 18), doch der humanistisch gebildete Leser sieht die bloße Fiktion, den Schein der Authentizität, bereits am Namen Hythlodeus (von νΰλος = Unsinn und όάιος = erfahren), der "im Erzählen von Unsinn Erfahrener" bedeutet (Erzgräber, Utopie 29; vgl. auch Seeber, Wandlungen 52f.).

1. Begriffsbestimmung und Erläuterung

145

Morus schildert die Utopia zwar als ewigen und höchst glücklichen Idealstaat, relativiert dieses Bild aber am Ende der Erzählung durch die deutliche Skepsis des Zuhörers Morus gegenüber Hythlodeus . Nicht nur diese oft in Utopien feststellbare Skepsis und Ambivalenz spricht gegen einen an sie anknüpfenden Verwirklichungsanspruch, sondern auch die phantastische, übertreibende Darstellungsweise, die von der Realität fortführt. Zwar bleiben die geschilderten, überschwenglichen Idealvorstellungen nicht prinzipiell für Menschen unerreichbar, sondern zumeist im Bereich des hypothetisch Möglichendoch zeigt gerade die Idealität, daß diese Entwürfe nicht auf die konkrete Totalverwirklichung zielen, sondern auf Möglichkeitsvorstel· lungen und regulative Prinzipien jenseits greifbarer Reformen 3 . Je konkret reformbezogener eine Utopie ausgerichtet ist, desto unfreier wird sie in ihrem Gestaltungsraum, die zeitlose Überzeugungskraft und damit der typische utopische Gehalt schwinden 32 . Hier liegt ein wichtiges Unterscheidungskriterium der Gattung Utopie in der Abgrenzung zu politischen Programmen und auch rein philosophischen Diskursen. "Rational" kennzeichnet den Utopien stets immanenten Vernunftanspruch, die Planung einer durchdachten, intellektuell ansprechenden Alternative zur Gegenwart 33 . Dadurch, daß die Utopie den rational planenden Menschen ins Zentrum stellt, rückt sie in die Tradition der Aufklärung und läßt sich gut gegenüber Textarten wie dem zauberhaft-phantastischen Mär-

29 Morus (1517) 109: "Deshalb freue ich mich, daß wenigstens den Utopiern diese Staatsform, die ich gern allen Menschen gönnte, zuteil geworden ist. Jene haben sich von solchen Grundsätzen leiten lassen, daß sie ihrem Staat nicht nur die glücklichsten, sondern auch solche Grundlagen gaben, die nach menschlicher Voraussicht von ewiger Dauer sein werden" (Hythlodeus), im Gegensatz zur Reaktion der persona Morus: "Mir kam nun...manches in den Sinn, was mir an den Sitten und Gesetzen dieses Volkes überaus unsinnig erschienen war" (109), "Inzwischen kann ich zwar nicht allem zustimmen, was er gesagt hat, obwohl er unstreitig sonst ein ebenso gebildeter wie welterfahrener Mann ist, jedoch gestehe ich gern, daß es im Staate der Utopier sehr vieles gibt, was ich an unseren Staaten eher wünschen möchte als erhoffen kann" (110). 30 Hans-Joachim Mähl, Die Republik des Diogenes. Utopische Fiktion und Fiktionsironie am Beispiel Wielands, in: Wilhelm Voßkamp (Hrsg.), Utopieforschung. Interdisziplinäre Studien zur neuzeitlichen Utopie, Bd.3, Frankfurt 1985,50-85 (68-70); vgl. auch Kolakowski, Utopie 252; Ferdinand Seibt, Utopie als Funktion abendländischen Denkens, in: Wilhelm Voßkamp (s.o.), Bd.l, 254-279 (272); Soeffner 122-126. 31 Hommes 1572; Mähl 70; Seibt 272 ("das scheinbar Mögliche", "Spiel mit Möglichkeiten"). 32

Erzgräber, Utopie 16; Krysmanski 118-121. Als Beispiele vgl. die Entwürfe von Bellamy und Callenbach. 33 Saage, Neuzeit 2f.; Seeber, Wandlungen 29; Servier 339; Wilhelm Voßkamp, Thomas Morus' Utopia : Zur Konstituierung eines gattungsgeschichtlichen Prototyps, in: ders. (Hrsg.), Utopieforschung. Interdisziplinäre Studien zur neuzeitlichen Utopie, Bd.2, Frankfurt 1985, 183-196 (191); Zumschlinge 189,206. 10 Otto

146

D. II. Utpiebgriff

chen oder Vorstellungen v o n der vorzivilisatorischen Idylle bzw. d e m G o l d e nen Zeitalter abgrenzen34. "Entwurf

eines idealen, harmonischen

Gemeinwesens"

hinter den U t o p i e n die Idee einer perfekten, welche den Kemgedanken

des Utopischen

glücklichen

verweist darauf, daß Gesellschaft

steht,

ausmacht. D a b e i geht es u m den

gesamten E n t w u r f einer komplexen Gesellschaft, i m Gegensatz zur auf Bacons Neu-Atlantis

( i n der F o r t e n t w i c k l u n g des "Hauses Salomons") zurück-

gehenden Spezialgattung des p r i m ä r technisch ausgerichteten Science-fiction35. E i n Sonderproblem

stellt i n diesem Z u s a m m e n h a n g die G r u p p e der seit

Samjatin (daneben v.a. b e i H u x l e y u n d O r w e l l ) i n besonderer R e i n f o r m ausgeprägten Antiutopien

dar, w e i l diese ein satirisches Negativideal, n ä m l i c h

das warnende Schreckensbild einer degenerierten Gesellschaft d a r s t e l l e n 3 6 . A u f A n t i u t o p i e n findet das D e f i n i t i o n s m e r k m a l der idealen Gesellschaft ebenfalls - n u r m i t negativem Vorzeichen - A n w e n d u n g , da diese E n t w ü r f e ansonsten alle inhaltlichen u n d formalen M e r k m a l e v o n klassischen U t o p i e n aufweisen, v.a. den der U t o p i e ohnehin inhärenten Wesenszug der satirischen Ü b e r s p i t z u n g u n d A m b i v a l e n z aufnehmen. Sie müssen somit der Gatt u n g der literarischen U t o p i e ebenfalls zugerechnet w e r d e n 3 7 .

34

Saage, Neuzeit 3 (diese Aussage gilt - mit Saage - auch für vergleichbare Vorstellungen wie Mythen, Fiktionen vom Paradies, religiöse Heilserwartungen und Traumassoziationen); vgl. ferner Herzog 5; Kolakowski, Utopie 252; Soeffner 41f.; Zumschlinge 188f. ^Hans-Jürgen Augspurger, Die Anfänge der Utopie in Frankreich und ihre Grundlagen in der Antike, Bamberg 1975 (Diss. Freiburg 1973), 20f.; Jenkis 61,185; Saage, Neuzeit 4 (mit Saage muß in der Darstellung eines komplexen Gemeinwesens, mithin in der politischen Qualität der Utopie auch die entscheidende Abgrenzung zu den Literaturgattungen der Robinsonade, des Bildungsromans und der Schäferidylle gesehen werden); weiterhin mit Abgrenzungskriterien zu den Gattungen Märchen, Fürstenspiegel, Reiseroman und Robinsonade: Augspurger 42-48; Jenkis 4-7. ^Schepelmann 11. Weniger ausgeprägte, etwas ambivalentere Antiutopien finden sich bereits vorher Aristophanes' Ekklesiazusen, Piatons Kritias, Wells' The Tinte Machine und When the Sleeper Wakes ; auch dort überwiegt schon auf der fiktionalen, utopischen Ebene das Negative (im Kritias nur bezüglich Atlantis). Vgl. dazu Hans Freyer, Die politische Insel. Eine Geschichte der Utopien von Piaton bis zur Gegenwart, Leipzig 1936, 76 (Kritias); Gnüg 152 (zu Wells); Bernhard Kytzler, Utopisches Denken und Handeln in der klassischen Antike, in: Rudolf Villgradter / Friedrich Krey (Hrsg.), Der utopische Roman, Darmstadt 1973,45-68 (57f., Ekklesiazusen). ^Insbesondere nehmen die Antiutopien nur eine ohnehin schon in vielen klassischen Utopien (v.a. bei Morus und Swift; vgl. Seeber, Wandlungen 11) angelegte Ambivalenz und Skepsis auf und bauen damit einen typischen, nämlich den satirischen Pol utopischen Denkens aus (Seeber, Wandlungen 11-13). Angesichts der vielfältigen Berührungslinien und Übergangsformen läßt sich ein klares Schwarz-Weiß-Bild Utopie-Antiutopie ohnehin nicht zeichnen, sondern es geht um verschiedene Ausprägungen und Akzentuierungen desselben Phänomens, der Utopie (Schepelmann 11; Seeber, Bemerkungen 169f.; genauer s.o.S.15 Anm.5).

147

1. Begriffsbestimmung und Erläuterung

"Kritisches Gegenbild zur Gegenwart" bedeutet, daß Utopien stets einen negativen Spiegel gegenüber den Zuständen ihrer Gegenwart bilden und aus einer distanzierten, kritischen Motivation heraus geschrieben wurden. Charakteristischerweise bewegt sich die fiktionale Darstellung selten nur auf der Ebene der weitgehend positiven utopischen Gesellschaft, sondern i.d.R. wird auf einer zweiten Ebene dem Idealbild kritisch-distanziert die Schildeoo

.

.

.

.

·

rung der Gegenwart entgegengestellt (beispielsweise bei Morus die gesellschaftlichen Zustände in England vor dem eigentlichen Bericht vom idealen utopischen Staat). Dabei werden Techniken der Satire verwendet, die zumeist massiv den kritisierten Gegenwartszustand treffen, oft aber auch in die utopische Darstellung selbst einfließen. Den Literaturformen Utopie wie Satire ist der didaktische, belehrende Impetus gemeinsam. Der wesentliche Unterschied zwischen der klassischen Satire und der traditionellen Utopie liegt darin, daß die Satire v.a. eine verzerrende Skizze, ein Negativum ist, während Utopien zwar oft mit satirischen Techniken arbeiten, aber eine echte Alternative oder zumindest das Denken neuer Möglichkeiten als Gegenbild bieten. Doch in vielen Fällen kann aufgrund der gegenseitigen Verschränkung beider Formen nur noch von "satirischer Utopie" bzw. "utopischer Satire" gesprochen werden 3 9 . "Ferne Zeiten und Räume" schließlich sind in fast allen Utopien anzutreffende Präsentationsformen, die auf die Idealität und die Funktion als Gegenbild zur Gegenwart, oftmals auch auf die Unerreichbarkeit hinweisen. Arbeiten die drei Renaissanceutopien noch mit fernen, unentdeckten Inseln ohne die Einbeziehung einer zeitlichen Ebene, verlagert sich die notwendige utopische Distanz - wegen der zunehmenden geographischen Erkundung und Transparenz der Welt - seit Mercier (Louis-Sébastien Mercier, Das Jahr 2440, von 1770/71) stärker auf die Zeit, die Zeitutopien werden gegenüber den Raumutopien dominant 4 0 . Meist wird die Distanz durch eine

Ketsch 5. ^Schepelmann hält v.a. Swifts Gulliver's Travels für den "Prototyp der satirischen Utopie" (19) mit starkem Einfluß auf Huxley und Orwell. Seeber (Wandlungen 10-14) bezeichnet die Werke von Morus und Swift als "utopische Satiren" (11), Antiutopien dagegen als "dystopische Satiren" (12) i.S. eines Spezialfalls der Satire, sieht aber alle im Rahmen der Gattung Utopie. Dennoch bleibt festzuhalten, daß es eine Reinform von Satire gibt, die nicht als Utopie zu bezeichnen ist (z.B. bei Horaz), während manche "positiven" Utopien gänzlich ohne die Mittel der Satire arbeiten (Bacon, Campanella; vgl. Seeber, Wandlungen 12), wogegen auf der anderen Seite Antiutopien geradezu notwendig Satiren sind und überwiegend auf der Ebene des verzerrend Negatorischen stehenbleiben (vgl. Soeffner 63f.). 40

Soeffner 67f.; Reinhart Koselleck, Die Verzeitlichung der Utopie, in: Wilhelm Voßkamp (Hrsg.), Utopieforschung. Interdisziplinäre Studien zur neuzeitlichen Utopie, Bd.3, Frankfurt 1985,1-14 (1-5); Raymond Trousson, Utopie, Geschichte, Fortschritt: Das Jahr 2440, in: Wilhelm Voßkamp (s.o.), Bd.3,15-23 (19-23). Allerdings muß dabei beachtet werden, daß bereits 10*

148

D. II. Utopiebegriff

Raum- oder Zeitreise überbrückt, die jeweils plausibel beschrieben u n d sogar aufwendig wissenschaftlich untermauert w i r d 4 1 . Charakteristisch sind dabei Wahrheitsbeteuerungen, die als Lügen- bzw. Fiktionssignale bewußt ironisch verwendet w e r d e n - b e i M o r u s erfolgt die A u f l ö s u n g der I r o n i e über den N a m e n des "Lügners" Hythlodeus (s.o.S.144 A n m . 2 8 ) - u n d d a m i t eigentlich auf die Ferne des b l o ß fiktionalen utopischen O r t s hinweisen. G e n a u diese W i r k u n g der Ferne w i r d auch dadurch unterstützt, daß b e i der Betrachtung des Verhältnisses zwischen den beiden Darstellungsebenen i n U t o p i e n , n ä m l i c h der idealen Gesellschaft u n d der kritisierten zeitgenössischen Gegenwart, stets Brüche

oder Sprünge zu verzeichnen sind. Diese

B r ü c h e bestehen einerseits i m Sonder- u n d Ausnahmecharakter der Reise d u r c h R a u m oder Z e i t , andererseits i n der meist zwar vorhandenen, aber n u r lücken- bzw. schemenhaften Ausgestaltung des historischen Übergangs bzw. Umschlagens v o n der Normalgesellschaft z u m utopischen Staat, der dadurch u m so m e h r i n die Idealität entrückt w i r d 4 2 .

2. Weitere zentrale Wesensmerkmale Weitere, jenseits einer greifbaren D e f i n i t i o n typischerweise b e i U t o p i e n auftretende M e r k m a l e sind der innovative A n s p r u c h , die interpretatorische

in Piatons Atlantissage neben dem Aspekt der Raumutopie (sagenhafter Kontinent bzw. Insel Atlantis) entscheidend deijenige der Zeitutopie (Verlagerung in die nahezu unbekannte, mythische Vergangenheit vor 9000 Jahren) zum Tragen kommt, nicht erst seit Mercier (so aber Gnüg: "Die Ortsutopie weicht hier zum ersten Mal der Zeitutopie n (zu Mercier), 103). Vgl. auch zur historischen Entwicklung, allerdings mit einer zu schematischen, undifferenzierten Trennung zwischen Raum-Utopien und Zeit-Chiliasmen: Alfred Dören, Wunschräume und Wunschzeiten, Vorträge Bibl. Warburg 1924/5, Berlin 1927, 158-205 (v.a. 165 Anm.ll (treffend zur Atlantissage), 172-176,184,202-204). 41

So bei Morus die plausibel klingende Reisebeschreibung bzw. die Bezeugung der Authentizität und Vertrauenswürdigkeit des Erzählers (Morus (1517) 14f.,18f.); ähnlich in Piatons Atlantiserzählung die verläßlichen ägyptischen Quellen und die vertrauenswürdige Person des Solon (Tim.20d-23e; Criti.l08d); Bellamy läßt seinen Protagonisten die Zeit von 113 Jahren mittels eines Tiefschlafes überbrücken, der durch das wissenschaftlich-medizinische Phänomen des "tierischen Magnetismus" erklärt wird (17-28, v.a. 27). Vgl. auch Augspurger 46 (utopische Reise als bloßer Rahmen zur Erhöhung der Glaubwürdigkeit, im Gegensatz zur Gattung des Reiseromans, der den inhaltlichen Schwerpunkt auf die Reisehandlung legt); weitere Reise- und Überbrückungsmittel bei Pfetsch 5. 42 Vgl. Dahrendorf 243, am Beispiel von Orwells Nineteen Eighty-Four, in dem der Übergang bzw. die Mutation zwischen den Staaten von 1948 und 1984 nur bruchstückhaft, durch nebelhafte Erinnerungen Winstons gezeichnet wird. Ähnlich die knappe Gründungsgeschichte Utopias durch König Utopos bei Morus (1517) 48f., der eigenartig sprunghafte und plötzliche Übergang vom Kapitalismus zum Sozialismus der Nationalistenpartei bei Bellamy (202-204, 225-231) oder der Beginn der stabilen, kontrollierten Brave New World durch Konsens nach einem vernichtenden, neunjährigen Krieg (Huxley 183). Vgl. auch Freyer 33; Pfetsch 4; Heinrich Simon, Arabische Utopien im Mittelalter, WZ Berlin 12 (1963) 245-252 (245).

2. Weitere zentrale Wesensmerkmale

149

Offenheit sowie bestimmte formale und inhaltliche Besonderheiten. Aus der Motivation heraus, kritisch gegenüber der zeitgenössischen Gegenwart das hypothetisch Mögliche zu entwerfen, spielen Utopien neue Denkansätze im Extrem durch, ohne die Fesseln der Realität. Sie stellen innovatives Denken bzw. ideenreiche Denkerweiterungen dar, die nicht nur den Zeitgenossen vielfältige Anregungen bieten können 4 3 , und spiegeln eine grundlegende, zeitübergreifende Eigenschaft menschlichen Denkens wider 4 4 . Damit verbunden ist der Charakterzug der Offenheit gegenüber Interpretationen, der ganz besonders bei Utopien wie der von Morus und Swift wegen ihrer satirischen, ironischen und spielerisch-künstlerischen Gestaltungsart auftritt 4 5 . Nicht zuletzt begünstigt durch die häufige Formen- und Stilvielfalt innerhalb der Werke, kann somit die Vielschichtigkeit, Offenheit und Ambivalenz (oft verbunden mit immanenter Skepsis gegenüber dem Utopischen und damit paradoxen Tendenzen zur kritischen Selbstaufhebung 46 ) als typisches Kennzeichen und Interpretationsproblem von Utopien bezeichnet werden 4 7 . Diese vielfältige Deutbarkeit trägt sicherlich zur zeitlosen Attraktivität, Aktualität und Bekanntheit vieler Utopien bei. Dennoch ist der Weg zu einer Annäherung an die ursprüngliche Intention des Autors nicht verstellt, sondern kann mit Hilfe hermeneutisch-historischer Methoden aufgeschlüsselt werden. Beim Versuch einer "authentischen" Interpretation von Utopien ist es daher entscheidend, daß das Umfeld des Autors, der Erwartungshorizont seiner Zeit und die Bildung bzw. die Erfahrungen des ursprünglichen Publikums als Maßstab zugrundegelegt werden (wie z.B. der humanistische 43

Mähl 70; Pfetsch 6,12.

44

Augspurger 22.

. nur die Vielfalt an Interpretationsansätzen zu Morus bei: Jenny Kreyssig, Die Utopia des Thomas Morus. Studien zur Rezeptionsgeschichte und zum Bedeutungskontext, Diss. München 1988, 8-62,209; ferner. Dietmar Herz, Zwei Wahrheiten. Zur Interpretation von Thomas Moms' Utopia, Der Staat 32 (1993) 1-28 (2f.); Jenkis 107-110. Zur ironisch-mehrdeutigen Gestaltungsweise v.a. bei Morus: Erzgräber, Utopie 26-30; Neusüss, Utopien 416; Hans U. Seeber, Thomas Morus' Utopia (1516) und Edward Bellamys Looking Backward (1888): Ein funktionsgeschichtlicher Vergleich, in: Wilhelm Voßkamp (Hrsg.), Utopieforschung. Interdisziplinäre Studien zur neuzeitlichen Utopie, Bd.3, Frankfurt 1985, 357-377 (359f.), ders., Wandlungen 11; Voßkamp 192. 46

Schmitz 24-26,30-32 (am Beispiel von Morus' Hythlodeus und Swifts Houyhnhnms in Gulliver's Travels); Seeber, Wandlungen 11; Soeffner 12. 47

Schmitz 26; vgl. Herzog 2f. Dieses Phänomen läßt sich selbst bei den wenigen relativ "geschlossen" konzipierten Utopieentwürfen nachweisen. Z.B. konzipierte Bellamy sein Looking Backward unmißverständlich konkret-politisch und als geschichtliche Verheißung (Schepelmann 68f.), die in Amerika Fuß fassen sollte; dennoch konnte sein nicht als Parteiprogramm, sondern fiktional-utopisch entworfener, positiver Wohlfahrtsstaat von Rezipienten nach dem 2. Weltkrieg bei fehlender Berücksichtigung der Intention des Autors als antiutopisches Negativideal aufgefaßt werden (Seeber, Bemerkungen 170).

150

D. II. Utopiebegriff

Bildungshintergrund bei Morus zur Entschlüsselung von bereits in Personennamen satirisch verborgenen Hinweisen oder von politischen und religiösen Anspielungen) 48 . Formale und stilistische Besonderheiten von Utopien ergeben sich zunächst einmal aus dem oft anzutreffenden satirischen Einschlag und dem spielerisch-ästhetischen Grundelement dieses Genres (mitsamt rhetorischen Mitteln, ironischen und satirischen Passagen, Tiermetaphorik u.a 4 9 ) . Dabei läßt sich die Literaturgattung Utopie nicht an einer bestimmten literarischen Form festmachen, sondern erstreckt sich von der Komödie über den Dialog und den Roman bis zum Tagebuch, wobei allerdings gerade bei neueren Utopien die Romanform mit ihrer stark fiktionalen Ausgestaltung und ausgeprägten Handlungselementen häufig Verwendung findet 50. Zudem besteht ein übergreifendes, typisches Merkmal utopischer Texte darin, daß sie nicht in einer einheitlichen Form durchgestaltet sind, sondern Brüche aujweisen bzw. mehrere Darstellungstechniken kombinieren. Schon bei Morus finden sich die Elemente Dialog, ernsthafter philosophischer Diskurs, imaginative Erzählung (mit dem oft in Utopien wiederkehrenden Motiv der fiktionalen, phantastischen Reise) und Satire, eingebunden in eine Rahmenhandlung sowie einen fiktiven Briefwechsel und synthetisiert im eigenen Gattungsgenre Utopie 51. Die Durchbrechung der einheitlichen Darstellungsform in nahezu allen Utopien ergibt sich aus der allgemein zugrundeliegenden Schwierigkeit, daß Utopien einerseits einen mehr oder weniger systematischen, konsistenten Gesellschaftsentwurf anbieten, andererseits aber mit einer spielerisch-ästhetischen Einkleidung operieren, einem fiktionalen Rahmen; letztlich enthalten sie stets einen Kompromiß, der darin besteht, daß Passagen erzählender, dynamischer Handlung und statisch wirkender Beschreibung wechseln 52 . Norbert Elias, Thomas Morus' Staatskritik. Mit Überlegungen zur Bestimmung des Begriffs Utopie, in: Wilhelm Voßkamp (Hrsg.), Utopieforschung. Interdisziplinäre Studien zur neuzeitlichen Utopie, Bd.2, Frankfurt 1985, 101-150 (105f.); Erzgräber, Utopie 16f.,26-29; Flashar, Staat 24f. (am Beispiel von Piaton); Neusüss, Utopien 416; Seeber, Vergleich 358-360; Voßkamp 185-192. 49

Am Beispiel von Morus: Erzgräber, Utopie 30f.; Seeber, Wandlungen 10f.,37,73-78.

^Seeber, Wandlungen 23,38f.,263; vgl. z.B. die drei Renaissanceutopien mit den Antiutopien Orwells und Huxleys oder dem Tagebuchstil Callenbachs. Zur Formenvielfalt des Genres auch: Winter 205. 51 Erzgräber, Utopie 26; Herzog 3; Neusüss, Utopien 417; Soeffner 35; Seeber, Wandlungen 23,31-35; Voßkamp 188. 52

Erzgräber, Utopie 17; Gnüg 17f.; Seeber, Wandlungen 31-34 ("ein zentrales ästhetisches Dilemma der Gattung", 31). Besonders deutlich wird die Technik, systematisch abzuhandelnde Themen an eingeschobene, auflockernde Situationen in Form von Dialogen, Beschreibungen oder Lehrgesprächen anzuknüpfen, bei Bellamy und (Kallenbach. Selbst ein so breit angelegter Handlungsroman wie Orwells Nineteen Eighty-Four wird durch die langen, diskursiven Passagen des Goldstein-Buchs formal gebrochen.

2. Weitere zentrale Wesensmerkmale

151

Die inhaltliche Besonderheit der Utopien liegt in der bei idealtypischer Betrachtung weitestgehenden thematischen Übereinstimmung. Zentrales Thema ist die Zeichnung eines komplexen Gemeinwesens, und zwar nicht nur staatsphilosophisch-abstrakt, sondern auch fiktional-konkret bis hin zur detaillierten Schilderung der Lebensweise (Kleidung, Nahrung) der Utopier. Typischerweise werden die Notwendigkeit einer sorgsamen, vernunftorientierten Erziehung, einer neuen Wertordnung und einer erlesenen politischen wie geistigen Führung, sowie die Gebiete neue Sozialordnung, Gleichheit der Geschlechter, Abschaffung des Privateigentums, Wirtschaftsorganisation und wirtschaftliche Autarkie, Arbeitsverteilung, Rechtswesen, Beziehungen zur Außenwelt, Kriegswesen und Religion thematisiert, ferner die Frage des Übergangs von der konventionellen zur utopischen Gesellschaft 53 . Vorwiegend an einer radikal neuen und im weitesten Sinne sozialistischen Staatskonzeption orientiert, gehen die meisten Entwürfe von einer kollektiven Glücksvorstellung aus, von einer gesamtgesellschaftlichen, perfekten sowie notwendig statischen Einheit und Harmonie als anzustrebendem Ziel. Damit bilden sie zentrale Beispiele für das Harmoniemodell der Organisation und Legitimation von Herrschaft (s.o.S.28-30). Neben antiindividualistischen Tendenzen fließt i.d.R. die Vorstellung von der Schaffung eines neuen Menschen in Utopien ein, so daß sich i.V. mit der Konfliktlosigkeit und gesamtgesellschaftlichen Harmonie die Frage stellt, ob Utopien - mit Popper - generell als totalitär bezeichnet werden müssen 54 . Tatsächlich deutet der in den meisten Utopien zu findende umfassende Herrschaftsanspruch, verknüpft mit einer legitimierenden, neuen Staatsideologie, auf die Richtigkeit dieser These hin. Allerdings besteht eine Schwierigkeit darin, daß dabei die oft immanente utopische Ambivalenz mißachtet wird, nämlich der Widerstand vieler utopischer Konzepte gegen eine wörtliche oder gar programmatische Auslegung 55 . Zudem gibt es durchaus individualistisch und freiheitlich ausgerichtete Utopien, in denen der Staat zudem nur eine untergeordnete Rolle spielt 5 6 . I m Ergebnis besteht also zwischen Utopie und Totalitarismus kein notwendiger Zusammenhang1sondern es müssen die Intention des Autors und die Konzeption der Am Beispiel von Piaton und den drei Renaissanceutopisten: Klaus J. Heinisch, Zum Verständnis der Werke, in: Der utopische Staat. Morus: Utopia, Campanella: Sonnenstaat, Bacon: Neu-Atlantis, übers, u. hrsg. Klaus J. Heinisch, Hamburg 1960, 216-265 (235-261); weiterhin Seeber, Vergleich 361-364 (zu Morus und Bellamy), ders., Wandlungen 222 (zu Orwell). ^Popper 213 i.V. mit 228-230; ähnlich Fest 84. ^Krysmanski 142-144 (kritisch gegen Popper). «Dies ist z.B. der Fall bei Morris und (Kallenbach; vgl. auch Seeber, Totalitarismus 123. 57

Krysmanski 143f.; Seeber, Totalitarismus 123; selbst Dahrendorfs Ausführungen zur Gefahr harmonischen utopischen Denkens gelten nur für viele Entwürfe, nicht aber für alle (244).

152

D. II. Utopiebegriff

Utopie jeweils im einzelnen beachtet werden. Dennoch läßt sich festhalten, daß die Staatskonzeptionen innerhalb vieler utopischer Entwürfe typischerweise antiindividualistische, allumfassende Herrschafts- und Gesellschaftssysteme bilden, so daß zumindest im Regelfall - bezogen auf die innere Struktur der weitaus meisten Utopien - von einem "totalitären Potential der Utopie' 158 gesprochen werden kann. Besonders wichtige, nicht zuletzt für die Beurteilung der Politeia zentrale Probleme sind ferner die der Abgrenzung der Utopien von rein philosophischen Diskursen und politischen Programmen. Utopien wie staatsphilosophische Diskurse können beide in sehr unterschiedlichen literarischen Formen auftreten, beide erreichen argumentativ nie völlige Stringenz und Rationalität, und beide können aufgrund ihrer Inhalte systematisch dem Gebiet der Staatsphilosophie zugerechnet werden (s.o.S.14f. Anm.4). Als zwei verschiedenen Äußerungsformen der Staatsphilosophie lassen sich aber dem Diskurs und der Utopie Merkmale zuordnen, durch die sie sich regelmäßig unterscheiden. Rein staatsphilosophische Diskurse sind abstrakte, theoretische Abhandlungen, die systematisch und stringent argumentieren, inhaltlich überzeugen wollen und auf das praktisch Mögliche bzw. die politische Wirklichkeit zielen 59 . Utopien dagegen sind schon thematisch stärker eingeengt, da sie ein ideales, harmonisches Gemeinwesen und zudem kontrastierend eine zweite, kritisierte Form der Gesellschaft darstellen, den Idealstaat weit konkreter und zumeist detaillierter als abstrakte Diskurse beschreiben und mit einer raum-zeitlichen Trennung arbeiten. Formal weisen sie stets den Doppelcharakter der anschaulichen, fiktionalen und der diskursiven Darstellung auf und sind daher stark künstlerisch überformt; sie arbeiten eher mit Appellen an Gefühle als mit systematischen, exakten Begründungen. Utopien enthalten oft satirische Elemente und zielen mit ihrer Ambivalenz auf bloßes Möglichkeitsdenken, nicht direkt auf Realisation bzw. die politische Wirklichkeit 60. Piatons Politeia prägt mit ihrer Dialogform, die mit fiktionalen Elementen einen eher rein rationalen, philosophischen Diskurs umhüllt, in mancher Beziehung die Darstellungsweise bei Morus und Campanella, bei denen

Seeber, Totalitarismus 125f. (125); ähnlich Dahrendorf 242-246; Kolakowski, Utopie 261f., 265; Pfetsch 5. Hommes (1576) setzt den totalitären Charakter an der Stelle an, wo Utopien zu Unrecht ernst genommen, also in die Praxis umgesetzt werden sollen. ^Seeber, Wandlungen 22; H. Simon 245. ^Zur Abgrenzung: Gnüg 10f.; Seeber, Wandlungen 23; vgl. auch Gadamer, Dialektik 226f. Anm.9; ferner folgende Differenzierung bei Heinisch (263): "so könnte man die geistige Grundlage der Theorie als kritischen Realismus, die der Utopie als sozialen Idealismus bezeichnen".

2. Weitere zentrale Wesensmerkmale

153

ebenfalls überwiegend konstruktiv-systematisch argumentiert wird 6 1 . I n diesen frühen Utopien findet sich die später dominierende Romanform mit ausführlichen Handlungselementen noch nicht. Doch trotz der in der Politeia vorherrschenden systematischen Argumentationsform lassen sich Brüche und satirische Elemente nachweisen, ferner die für Utopien typischen Inhalte und die künstlerisch-fiktionale Einkleidung (s.o.S.36-51), so daß die Politeia bestenfalls als Grenzfall zwischen rein abstrakt konstruiertem, philosophischem Diskurs und künstlerischer Utopie erscheinen kann, aber v.a. im Vergleich mit den Renaissanceutopien - stärker zur Utopie tendiert 6 2 . Die Abgrenzung der Utopien von politischen Programmen führt weiter zum Problem des Verhältnisses von Utopie und Realisation sowie der wörtlichen Auslegung utopischer Konzepte. Wie bei der Abgrenzung zum rein philosophischen Diskurs spielt das bloße Möglichkeitsdenken der Utopien im Gegensatz zum Willen zur Gestaltung der konkreten politischen Wirklichkeit -, das durch die fiktionale und spielerisch-ästhetische Präsentation sowie die dadurch bedingte Ambivalenz vieler Utopien ausgedrückt wird, auch hier eine wesentliche Rolle. Von politischen Programmen heben sich Utopien (wie von reinen Diskursen) durch ihre spezifischen inhaltlichen und formalen Besonderheiten - z.B. Reise durch Zeit und Raum oder Handlungselemente - ab, teilen jedoch mit ihnen die appellative, rhetorische, auf breitere Wirkung angelegte Aufmachung. Der Hauptunterschied liegt darin, daß politische Programme keine Fiktion, sondern konkrete politische Handlungsanweisungen ßr die Praxis darstellen 63; mit diesem programmatischen Element stehen sie wiederum den - systematisch-argumentativ anspruchsvolleren - rein philosophischen Diskursen sehr nahe, die ebenfalls auf die politische Wirklichkeit zielen. Bei der generellen Frage nach dem Verhältnis von Utopie und Realisation schließt bereits die oben vorgenommene Definition der literarischen Utopie (s.o.S.144) den Anspruch auf Verwirklichung aus. Damit werden die für das Phänomen der literarischen Utopie als teilweise ungeeignet empfundenen Definitionsansätze von Bloch und Mannheim zurückgewiesen (s.o.S.140f.). 61

Erzgräber, Utopie 26,69; Herzog 9; Kamiah 18; Seeber, Wandlungen 39,47,57-60. Bei Campanella verkümmert der Rahmen des Dialogs - viel weitergehend als bei Piaton - zur bloßen Einkleidung der Schilderung des Sonnenstaats; die Fiktion ist auf eine Reiseerzählung von wenigen Sätzen begrenzt (117). ^Als Grenzfälle seitens rein staatsphilosophischer Diskurse lassen sich wegen ihrer Bildhaftigkeit - dann aber doch überwiegend theoretisch-konstruktiven Ausrichtung - Hobbes' Leviathan, Rousseaus Contrat social und Fichtes Der Geschlossne Handelsstaat anführen (Heinisch 217). Für Kateb (Utopias 213) ist die Politeia so komplex gestaltet, daß sie in beide Kategorien passen kann. ö

Gnüg 10; vgl. auch Seeber, Wandlungen 27f.,31; Zippelius, AStL 7.

154

D. II. Utopiebegriff

Utopien richten sich im Kern auf den Entwurf der idealen, harmonischen, perfekten Gesellschaft in toto und sind bereits dadurch prinzipiell von der Faktizität jeder konkret-politischen Verwirklichung oder wörtlichen Lesbarkeit entfernt 64. Stattdessen zielen sie als Denkmodelle mit ihrer oft phantastischen Ausgestaltung auf neues Möglichkeitsdenken t kritische Distanz und regulative Prinzipien, so daß ihr utopisches Wesen, nicht zuletzt die Interpretationsfreiheit und Zeitlosigkeit, durch politische Handlungszwänge unangemessen eingeengt würde . Ein Sonderproblem der Neuzeit bildet der sich v.a. seit dem 18. Jahrhundert verstärkt entwickelnde wissenschaftlich-technische Fortschritt. Während die Renaissanceutopien schon in der konzeptionellen Anlage noch völlig fern von jeder Realisationsmöglichkeit standen, schien später aufgrund der Neuerungen im technischen sowie wirtschaftlichen Bereich die Idealgesellschaft auf einer neuen materiellen Basis erreichbar zu sein. Besonders die spätere tatsächliche Verwirklichung einiger in älteren Utopien konzipierten technischen Errungenschaften und die neuen geschichtsphilosophischen Konzepte trugen zu dieser Meinung b e i 6 6 und führten nicht zuletzt zum System des wissenschaftlichen Sozialismus, der mit dem Anspruch auf Wissenschaftlichkeit und notwendige geschichtliche Entwicklung auftrat, sich damit aber bereits von den literarischen Utopien distanzierte 6 . Doch jenseits der technischen und wirtschaftlichen Fragen bleibt zu beachten, daß auch moderne Utopien mit ihrem Idealanspruch auf perfekte Harmonie, absolute Gerechtigkeit oder den vollkommenen Menschen bereits als prinzipiell unverwirklichbar angelegt sind 6 8 und auf die utopische Ambivalenz sowie ihre Funktion als Regulativ verweisen. Diese prinzipielle Schran^Ähnlich im Kern die Mehrheit der Utopieforschung: Flashar, Formen 5f.; Freyer 32f.; Hommes 1576; Kateb, Utopias 214; Leszek Kolakowski, Der Sinn des Begriffes "Link^", in: Arnhelm Neusüss (Hrsg.), Utopie. Begriff und Phänomen des Utopischen, Neuwied 1986, 425-445 (428f.); Kiysmanski 142; Pfetsch 4f.,12f.; Saage, Utopia 201-204; H. Simon 245; Soeffner 290,325f.; Welskopf 235; Zumschlinge 218. Eine historische Entwicklung zur Utopie als Programm sehen allerdings: N. Elias 144-149; Erzgräber, Utopie 13f.; Kamiah 18f. Abweichend, d.h. auch im Bereich der literarischen Utopie für den konkreten Verwirklichungsanspruch plädieren dagegen (neben Bloch, Popper, Russell): Horst Braunert, Utopia. Antworten griechischen Denkens auf die Herausforderung durch soziale Verhältnisse, Kiel 1969, 6f. (in Anlehnung an Bloch und Mannheim); Gnüg 8-11 (MRealisierungstendenzN, 9,11); Jost Hermand, Orte, irgendwo: Formen utopischen Denkens, Königstein i.Ts. 1981, 7f.; Salin 47. ^Krysmanski 115-121; Pfetsch 12f. Augspurger 17f.; N. Elias 144-146; Erzgräber, Utopie 14; Flashar, Formen 7; Hans Jonas, Das Prinzip Verantwortung. Versuch einer Ethik für die technologische Zivilisation, Frankfurt 71987,45f. Ä

67

Engels, Von der Utopie zur Wissenschaft, MEW XIX, 193f.,200f.; vgl. Erzgräber, Utopie

14f. ^ g l . Zumschlinge 215f.

2. Weitere zentrale Wesensmerkmale

155

ke jeder Realisierung wird allerdings von den Antiutopisten des 20. Jahrhunderts radikal satirisch in Frage gestellt, da in ihren Negativutopien ein als durch technischen Fortschritt erreichbar dargestellter, völlig manipulierter und dirigierter Menschentypus die Voraussetzung der "perfekten Gesellschaft" (z.B. bei Huxley) bildet, die unter dieser Prämisse möglich wird. Während also im Prinzip Utopien ohne Rücksicht auf Realisation und ohne konkrete Verwirklichungsabsicht konzipiert werden, gibt es auch Grenzfälle, in denen sich die Utopie als verbindlich gedachtes Ideal erweist, das vom Autor programmatisch gemeint war und umgesetzt werden sollte. Das extremste Beispiel dafür bildet Bellamy mit seinem Looking Backward von 1888. Dieser schon fast unutopisch eindeutige Entwurf wurde ursprünglich als politisches Reformprogramm vor dem Hintergrund einer Wirtschaftsrezession und sozialer Unruhen in den USA konzipiert, aber in die literarische Form einer Utopie gebracht, die enorme Breitenwirkung entfaltete. Neben Bellamyclubs entstanden die Nationalistenbewegung und die People's Party, die von 1888 bis 1896 parlamentarische Reformprogramme und Gesetze verabschiedete sowie mehrere Gouverneure und einen Präsidentschaftskandidaten stellte, und zwar unter aktiver politischer Beteiligung Bellamys 69 . Unter dem Eindruck von Looking Backward wurde sogar der erfolglose Versuch einer sozialistischen Staatsgründung im Westen der USA unternommen 7 0 . Dennoch behandelt Looking Backward klassische utopische Themen wie Verstaatlichung der Produktionsmittel, Abschaffung des Geldes, völlige Gleichberechtigung, Eugenik, Abschaffung des Rechtswesens und absolute Gerechtigkeit, die in die perfekte gesellschaftliche Eudaimonia und Harmonie führen. Die utopische Gesellschaft wird nur durch eine Zeitreise erreicht, und die historische Evolution vom Kapitalismus zum Sozialismus Bellamys bleibt schemenhaft und unklar. Damit bildet Looking Backward trotz der Ausnahmesituation seiner Entstehung, die es in die Nähe politischer Programme stellt, eine klassische Utopie, nämlich ein fiktional als Gegenbild zur Gegenwart konzipiertes, aber letztlich unerreichbares Bild einer idealen Gesellschaft, das durchaus mehrdimensional interpretiert werden kann 7 1 . Das Beispiel Bellamys zeigt, daß es bei der Klassifizierung von Utopien in Ausnahmefällen nicht einmal notwendig auf die Intention des Autors zur

^Franz X. Riederer, Edward Bellamy's utopischer Sozialismus und sein Einfluß auf das sozialistische Denken in Deutschland, Diss. München 1962,16-26. ^Arthur Lipow, Authoritarian socialism in America. The national movement, Berkeley 1982,88. 71

pie.

Vgl. Seeber, Bemerkungen 170: zur Rezeption von Looking Backward als einer ^«//uto-

156

D. II. Utopiebegriff 7"?

Realisation ankommen muß , wenn der Text objektiv nicht als Programm konzipiert wurde und den typischen inhaltlichen und formalen Anforderungen der Gattung Utopie entspricht. Aus demselben Grund können auch tatsächliche Experimente zur Einrichtung von Staaten nach utopischen Entwürfen kaum als Beleg für eine Verwirklichungstendenz von Utopien herangezogen werden; zudem sind derartige Versuche (letztlich notwendig) in der Praxis stets gescheitert 73 . Für Piatons Politeia bedeutet diese Analyse im Ergebnis, daß es wesentlich auf die Intention des Autors, v.a. aber die Aussagen und Inhalte des Textes zur Realisierung bzw. wörtlichen Lesart (als eines praktischen Programms) ankommt. A m Verhältnis von Autor und Text zur Realisierungsfrage entscheidet sich die Einordnung der Politeia in das Genre Utopie oder programmatisch orientierter rein philosophischer Diskurs.

3. Anwendbarkeit auf die Antike, besonders auf Piaton Für die Anwendbarkeit auf Piaton muß schließlich noch geklärt werden, ob und inwiefern das Gattungsphänomen Utopie überhaupt auf die Antike bezogen werden kann, obwohl der Gattungsbegriff erst von Morus geschaffen wurde. Gerade angesichts der Bedeutung, die dem Utopiebegriff für die Totalitarismusdebatte in der Piatonforschung zukommt 7 4 , ist es erstaunlich, wie pauschal dieser Begriff zumeist von beiden Seiten verwendet w i r d 7 5 ; Defizite zeigen sich auch in der Utopieforschung, die zwar Piaton meist als Schöpfer der ersten Utopie überhaupt ansieht, aber ihn und generell die Antike stark vernachlässigt 6 . Immerhin wird oftmals zumindest zwischen der platonischen Politeia und dem Kritias unterschieden, wobei überwiegend die Poll· 72 Pfetsch 4; ebenso Welskopf 234f. (allerdings am Beispiel Piatons, der ihrer Meinung nach ein politisches Programm wollte, aber eine Utopie schuf).

'Vgl. zu derartigen Versuchen (u.a. Jesuitenstaat in Paraguay, Sozialexperimente Owens, Fouriers und Cabets in den USA): Freyer 158-166; Jenkis 294-391 (v.a. 318f.,384-391), 510f.; Pfetsch 4; Egon Schwarz, Aus Wirklichkeit gerechte Träume: Utopische Kommunen in den Vereinigten Staaten von Amerika, in: Wilhelm Voßkamp (Hrsg.), Utopieforschung. Interdisziplinäre Studien zur neuzeitlichen Utopie, Bd.3, Frankfurt 1985, 411-431 (416-419); Servier 188-191. Die Gründe des Scheiterns liegen im Machtmißbrauch durch die Eliten bzw. der Unvollkommenheit des Menschen (Freyer 163f.; Jenkis 319,338,390,449f.; vgl. auch Zumschlinge 215f.), aber auch in der notwendigen Pervertierung der auf perfekte Ganzheit und einen absoluten Neuanfang angelegten Utopie im Verlauf von nur schrittweisen Reformen (Freyer 32f.; H. Simon 245). 74 Vgl. nur oben S.138f. 75 76

S. o.S.139 mit Anm.2f.

Zur unbefriedigenden Forschungslage in beiden Fachgebieten: Kytzler, Unorte 20f. m.w.N. Vgl. zu den brauchbarsten Beiträgen oben S.23 Anm.14.

157

3. Anwendbarkeit auf die Antike, besonders auf Piaton teia als wichtigste, frühste

oder vollkommenste

Utopie der Antike

w i r d , teils j e d o c h wegen der fiktionalen E i n k l e i d u n g auch der

bezeichnet

Kritias

77

.

Dieses Beispiel zeigt, daß i n der Forschung allgemein das P h ä n o m e n einer Literaturgattung Morus

Utopie weit vor der Entstehung

des Gattungsbegriffs

bei

angesetzt w i r d 7 8 . I n der T a t ist es nicht einzusehen, w a r u m der w i e

oben definierte B e g r i f f der literarischen

Utopie nicht Anwendung

auf die An-

tike finden soll, w e n n die i n Frage k o m m e n d e n Texte alle notwendigen M e r k m a l e aufweisen. Teilweise konstatierte Unterschiede zwischen antiken u n d neuzeitlichen U t o p i e n , z.B. die generelle Voraussetzung einer statischen Ständehierarchie, der Sklaverei oder die V e r w e n d u n g eines pejorativen A r b e i t s b e g r i f f s 7 9 , lassen - soweit sie überhaupt zutreffen - die A n w e n d b a r k e i t des Utopiebegriffs auf die A n t i k e jedenfalls unberührt. I m übrigen können i n m e h r e r e n griechischen U t o p i e n T e r m i n i ausgemacht werden, die geradezu als U m s c h r e i b u n g des Begriffs Utopie zu verstehen sind (z.B. "nirgends auf der E r d e " ) u n d zeigen, daß das Phänomen utopischen Denkens u n d Konstruierens von Idealstaaten sehr w o h l bereits i n der A n t i k e verbreitet w a r 8 0 . -

71 Politeia: Bloch 554,562; Brockhaus V, s.v. Utopie; Dahrendorf 242,245 Anm.2; Flashar, Formen 13; Freyer 39; Herzog 9; Heubrock 679; Kamiah 18; Kateb, Utopias 213-215; Kytzler, Unorte 18f.,29; Reimar Müller, Sozialutopisches Denken in der griechischen Antike, Berlin 1983, 15f.; Neusüss, Utopien 417; Pfetsch 3; Saage, Utopia 185,206f.; Schischkoff s.v. Utopie; Thomas A. Szlezâk, Einleitung, in: Piaton, Der Staat, übers. Rudolf Rufener, München 1991, 5-10 (5); Zumschlinge 189. Timaios/Kritias: Augspurger 49f.,97 ("Prototyp der Utopie", 49); Reinhold Bichler, Zur historischen Beurteilung der griechischen Staatsutopie, GB 11 (1984) 179-206 (185), ders., Utopie und gesellschaftlicher Wandel. Eine Studie am Beispiel der griechisch-hellenistischen Welt, in: Karl Acham (Hrsg.), Gesellschaftliche Prozesse. Beiträge zur historischen Soziologie und Gesellschaftsanalyse, Graz 21986, 15-27 (17); Burchard Brentjes, Atlantis. Geschichte einer Utopie, Köln 1993,176f.; Dören 165f. mit Anm.ll; Seeber, Wandlungen 4M3. 78 Demandt 174f.; Herzog 2-4 (gegen einen Gattungsprototyp "Morus" überhaupt, Ansatz stattdessen bei Aristophanes' Ekklesiazusen); Heubrock 679; Mumford 31 (Beginn der Gattung bei Hippodamos); Winter 1,207 (Beginn bei der idealisierten Verfassung des Lykurg). Prinzipiell problematisiert wird die Anwendung des Utopiebegriffs auf die Antike von Zumschlinge (182-190; sie entscheidet sich für die Politeia als Prototyp der antiken Staatsutopie, 189).

79

Vgl. Braunert, Utopia 16; Moses I. Finley, Utopianism ancient and modern, in: ders., The use and abuse of history, London 1975,178-192 (185-189); Kytzler, Denken 64-68, ders., Unorte 80 21f.; Saage, Utopia 195. Aus den Vögeln des Aristophanes: Gründung einer Stadt "nirgends auf der Erde" (