Das umstrittene Erbe von 1989: Zur Gegenwart eines Gesellschaftszusammenbruchs [1 ed.] 9783412523848, 9783412523831


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Das umstrittene Erbe von 1989: Zur Gegenwart eines Gesellschaftszusammenbruchs [1 ed.]
 9783412523848, 9783412523831

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ALEXANDER LEISTNER MONIKA WOHLRAB-SAHR (HG.)

DAS UMSTRITTENE ERBE VON 1989 ZUR GEGENWART EINES GESELLSCHAFTSZUSAMMENBRUCHS



Open-Access-Publikation im Sinne der Lizenz CC-BY-NC 4.0



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Alexander Leistner, Monika Wohlrab-Sahr (Hg.)

Das umstrittene Erbe von 1989 Zur Gegenwart eines Gesellschaftszusammenbruchs

Böhlau Verlag Wien Köln

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Der Sammelband ist eine Veröffentlichung des vom BMBF geförderten Forschungsverbundes „Das umstrittene Erbe von 1989. Aneignungen zwischen Politisierung, Popularisierung und historisch-politischer Geschichtsvermittlung“ der Universitäten Leipzig und Freiburg.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://dnb.de abrufbar. © 2022 Böhlau, Lindenstraße 14, D-50674 Köln, ein Imprint der Brill-Gruppe (Koninklijke Brill NV, Leiden, Niederlande; Brill USA Inc., Boston MA, USA; Brill Asia Pte Ltd, Singapore; Brill Deutschland GmbH, Paderborn, Deutschland; Brill Österreich GmbH, Wien, Österreich) Koninklijke Brill NV umfasst die Imprints Brill, Brill Nijhoff, Brill Hotei, Brill Schöningh, Brill Fink, Brill mentis, Vandenhoeck & Ruprecht, Böhlau, Verlag Antike und V&R unipress. Umschlagabbildung: Thomas Victor/Agentur Focus: Demonstration der rechten Bürgerbewegung „Pro Chemnitz“ nach dem Tod eines 35-Jährigen, 27.08.2018 Korrektorat: Anja Borkam, Jena Umschlaggestaltung: Michael Haderer, Wien Satz: Bettina Waringer, Wien Vandenhoeck & Ruprecht Verlage | www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com ISBN Print: ISBN 978-3-412-52383-1(Print) ISBN OA: ISBN 978-3-412-52384-8 (PDF) Dieses Werk ist lizenziert unter einer Creative Commons Namensnennung Nicht kommerziell 4.0 International Lizenz (BY-NC 4.0)

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Inhalt I. Das umstrittene Erbe von 1989 – Hinführungen. . . . . . . . . . . . . .

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Bis hierher und wie weiter? Zur Vergangenheit und Zukunft der asymmetrisch verflochtenen Transformation (Ost-)Deutschlands Alexander Leistner. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Expertokratisch-rationale und empörungsgesteuert-autoritäre Entpolitisierung als Zeitgeist Szenen aus einem Transformationsprozess Karl-Siegbert Rehberg. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 62 II. Take the Streets. Repräsentationen, Wiedergänger und Resonanzen einer Revolution. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 87

Unscharfe Kontraste Die filmischen Repräsentationen der Leipziger Montagsdemonstrationen im Kontext der DDR-Erinnerungskultur Andreas Kötzing. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 89 Das ’89-Narrativ im Spannungsfeld von Protest und politischer Indienstnahme David Begrich. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 110 Von der Zuschauertribüne aus Barbara Thériault. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 121 „Es war DDR live“ Zum Phänomen der retrospektiven Identifikation im Kontext des Nationalpopulismus Armin Steil. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 125 Vom Alltag aus Barbara Thériault. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 141

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Inhalt

„Wir ’89er“ Geschichtspolitische Aneignungen der Erinnerung und alltagsweltliche Resonanzen Greta Hartmann. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 145 „Denk an die Aufzeichnung!“ Alexander Leistner. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 166 III. Die Suche nach den anderen Erzählungen. Vielstimmigkeit im Erinnern an 1989. . . . . . . . . . . . . . . . . . . 171

„Alles ist noch nicht so, wie wir uns das vorstellen“ Krisendeutungen und Gesellschaftskritik in der späten DDR und der ostdeutschen Umbruchsgesellschaft Carsta Langner. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 173 Was tun, wenn man nicht zum ‚Volk‘ gehört ’89 und die An-/Abwesenheit von Vertragsarbeiter*innen Claudia Pawlowitsch & Nick Wetschel. . . . . . . . . . . . . . . . . . . 195 Brüche, S-Bahn-Surfen, Neuanfänge Populäre Repräsentationen von ,’89/’90‘ Jonas Brückner. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 215 IV. Darum Geschichte! Erinnerungen und Vergessenes, blinde Flecken und Grautöne. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 241

Wozu Geschichte? Ein Essay über die Zukunft der Vergangenheit und ihre Debatten Ilko-Sascha Kowalczuk. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 243 Das Narrativ der Demütigung und die Gefühle der Ostdeutschen Ute Frevert. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 257 Mittendrin Eine westdeutsche Historikerin in Leipzig 1990–1993 Dorothee Wierling. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 279

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Inhalt

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Unbesorgtes Eigentum Vom bemerkenswerten Vergessenwerden des Volkseigentums während der friedlichen Revolution Dominik Intelmann. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 291 „Ich komm’ aus Karl-Marx-Stadt / Bin ein Verlierer, Baby / Origina(l)Ostler“. Der Osten als Ort pluraler Beheimatung in der Populären Musik seit 2000 Anna Lux. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 310 V. Let’s talk about ’89 – Geschichte vermitteln. . . . . . . . . . . . . . . 331

Historisch-politische Bildung zu 1989 Spannungen in einem voraussetzungsvollen Feld Christina Schwarz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 333 Geschichte und Moral Paradoxien pädagogischer Geschichtsvermittlung Verena Haug im Gespräch mit Alexander Leistner . . . . . . . . . . . . . 356 VI. Nachwort. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 365

„Schon ’89 auf der Straße“ Von der Erfahrung demokratischer Selbstermächtigung zum Totem antiinstitutionellen Straßenprotests Monika Wohlrab-Sahr. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 367 Autor*innenverzeichnis. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 375

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I. Das umstrittene Erbe von 1989 – Hinführungen Pam Dorr ist aus Kalifornien und glaubt, sie weiß alles besser. Sie glaubt, sie kann hier aufkreuzen und auf alles, was sie sieht, eine Antwort geben. Typisch kalifornisch eben. Aber wir sind hier in Alabama, Paul. Nicht in Kalifornien. (Paul Theroux, „Tief im Süden“, 2015)

In New York gehe ich die Fifth Avenue entlang und esse unbefangen eine Banane. Und danach merke ich: Das war eben ein kleiner Moment, den andere Freiheit nennen. In New York stehe ich nachts auf einem Dach und starre nervös und ahnungslos auf eine Skyline, die ich aus Filmen und von Postkarten kenne. Und danach merke ich: Das war eben ein kleiner Moment, den andere Zukunft nennen. In New York denke ich an meinen Bruder und vermisse ihn weniger als sonst. Und danach merke ich: Das könnte gut so sein. (Olivia Wenzel, „1000 Serpentinen Angst“, 2020)

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Bis hierher und wie weiter? Zur Vergangenheit und Zukunft der asymmetrisch verflochtenen Transformation (Ost-)Deutschlands1 Alexander Leistner

1. Leipzig-Szenen

Im Mai 1991 fand in Leipzig – einem zentralen Schauplatz der Friedlichen Revolution – ein mit 600 Teilnehmenden aus Ost und West gut besuchter Soziologentag statt, den die noch im Februar 1990 gegründete Gesellschaft für Soziologie in der DDR (GfS) ausgerichtet hatte. Das Thema der Tagung war „Soziologie in Deutschland und die Transformation großer gesellschaftlicher Systeme“. Es referierten einige westdeutsche Größen des Faches und die vielen eher unbekannten Soziolog*innen aus der untergegangenen DDR. Der damalige Vorsitzende der westdeutschen Deutschen Gesellschaft für Soziologie (DGS) Bernhard Schäfers erinnert die Stimmung auf der Veranstaltung, die er mit einem Grußwort miteröffnete, ambivalent. Während die einen gerade bangen mussten, aus dem wissenschaftlichen Arbeitsmarkt herausbegutachtet zu werden, waren die Plenarbeiträge der westdeutschen Kollegen „in ihrer theoretischen Orientierung abgehoben, unterkühlt, einige auch anmaßend belehrend“;2 eine professionelle Abgeklärtheit mithin, die durchaus im Widerspruch stand zum Titel der Veranstaltung und der Tatsache, dass da gerade in Echtzeit ein großes gesellschaftliches System zusammengebrochen und untergegangen war – wie der Ostberliner Soziologe Frank Ettrich (damals Anfang 30) in seinem Plenarvortrag bemerkte: Während in der Vergangenheit weitaus geringer dimensionierte gesellschaftliche Krisen als die gegenwärtig in Osteuropa intensiven Theoriedebatten für das Fach auszulösen vermochten, fühlen sich heute die wenigsten Soziologen in ihrem normalwissenschaftlichen Alltag beeinträchtigt. […] Erklärungsbedarf und Erklärungsmacht scheinen im 1

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Die Formulierung geht auf den Begriff der „asymmetrisch verflochtenen Parallelgeschichte“ des Zeithistorikers Christoph Kleßmann (1993) zurück, der betonte, dass die Geschichte der beiden Nachkriegsgesellschaften in Ost und West nicht als normativ aufgeladene Kontrast-, sondern aus facettenreiche Beziehungsgeschichte zu erzählen sei. Schäfers 2016, S. 27.

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westlichen Wissenschaftsbetrieb in einem umgekehrten Verhältnis zueinander zu stehen. Das Problem besteht weniger darin, daß man das Gefühl hat, nicht erklären zu können, als vielmehr darin, daß man stillschweigend in der Annahme übereinzustimmen scheint, nichts erklären zu müssen. So sehr der rasante Implosionsprozeß der DDR viele Soziologen politisch oder persönlich berührt hat, so wenig tangierte er ihre unmittelbaren Forschungsinteressen.3

Was Ettrich beschreibt, sind nicht nur Erfahrungsdifferenzen mit und in dem Zusammenbruch, sondern auch eine Asymmetrie in der Wahrnehmung seiner Wucht und Dimension; Unterschiede in der Dringlichkeit der Frage, was da gerade passiert ist, was daraus noch werden wird und vor allem, was diese für das Fach und seine Theorien bedeuteten. Natürlich sollte der Umbruch in Ostdeutschland die Forschungslandschaft tangieren – durch die drittmittelmobilisierende Sogwirkung des Transformationsthemas entstanden über einen längeren Zeitraum institutionelle Strukturen, Förderschwerpunkte und Sonderforschungsbereiche einer spezialisierten Ostdeutschlandforschung.4 Dabei dominierte in den ersten Jahren vor allem aber ein Integrationsparadigma.5 Zugespitzt war hier eine Perspektive der Angleichungs- und Abstandsvermessung bestimmend; mithin also Fragen nach dem „Ankommen“ der neuen Bundesländer in der westdeutschen Gesellschaft, nach dem Grad der „nachholenden Modernisierung“ und nach dem (einseitigen) „Zusammenwachsen“ der beiden Gesellschaften: nach Demokratieakzeptanz und der Entwicklung bzw. Angleichung von Lebensverhältnissen. Die von Ettrich beschriebene Wahrnehmungsasymmetrie changierte zwischen professioneller Routine auf der einen und vielschichtigen Krisenerfahrungen auf der anderen Seite. Das Krisenhafte bestand für die ostdeutsche Gesellschaft darin, dass seit dem Herbst 1989 mehr untergegangen war als nur ein Gesellschaftssystem. Es war auch der Untergang eines Teils der persönlichen Lebenswelt – ein Verlust dessen, was nach Alfred Schütz fraglos gegeben, vertraut und selbstverständlich ist –, und es war ein Untergang von sich rasch aufbauenden Erwartungshorizonten und politischen, ökonomischen, privaten Zukünften. Dies berührte nicht nur Alltagsroutinen und Sozialbeziehungen, sondern auch die Erfahrung von Zeit, die sich damals extrem dynamisiert hatte. Ereignisse schienen sich zu überschlagen. Das Kurzfristige löste das Lang- und Mittelfristige, das Plötzliche das Erwartbare ab. Erfahrungsräume und Erwartungshorizonte wurden innerhalb kurzer Zeit zerstört 3 4 5

Ettrich 1992, S. 124. Vgl. Kollmorgen 2009, 2020. Zur Unterscheidung vgl. Leistner 2020.

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und entstanden neu. Dabei waren das Ehemalige und das Künftige eng miteinander verschränkt. Der Erfahrungsraum prägte den Erwartungshorizont, der wiederum den zukünftigen Erfahrungsraum mitbestimmte.6

Folgt man Ettrichs nüchterner Feststellung, dann war diese Erfahrung nun exklusiv (ostdeutsch) und vermochte das sozialwissenschaftliche Tagesgeschäft des (westdeutsch geprägten) Fachs nur wenig zu beeinflussen. Fast 30 Jahre später, im November 2019, dem Jubiläumsjahr des Systemzusammensturzes, fand wiederum in Leipzig eine Tagung zum Thema „Erbe ’89. Politisierung der Erinnerung – Deutungsversuche und Erklärungsansätze“ statt, die den Auftakt des an den Universitäten Leipzig und Freiburg angesiedelten, vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) finanzierten Forschungsverbundes „Das umstrittene Erbe von 1989“ bildete.7 Der vorliegende Band versammelt ausgewählte Beiträge der Tagung, die gezielt um zusätzliche perspektivierende Texte ergänzt wurden.8 Die Resonanz auf die Tagung war mit 160 Teilnehmenden immens, die medialen Resonanzen etwa im Deutschlandfunk oder in Form eines einstündigen Radiofeatures überraschend. Auch 2019 dürften dabei spezifische Zeiterfahrungen eine Rolle gespielt haben. Schob sich 1991 die Ungewissheit der Zukunft in die Gegenwart des Soziologentages, so war es wohl 2019 vor allem die (beunruhigende) Gegenwart des Vergangenen. Das lag zunächst am Thema der Tagung selbst, die 1989 nicht als abgeschlossenes historisches Ereignis zum Gegenstand hatte, sondern die tiefe Prägekraft eines charismatischen Ereignisses9 auf Gegenwartsdeutungen und politische Orientierungen. Über den Begriff der Politisierung zielte die Tagung auf gegenwärtige Aneignungen von 1989 und versammelte Beiträge vorrangig von Historiker*innen und Soziolog*innen. In der Ankündigung der Veranstaltung bedurfte es denn auch keiner umständlichen Relevanzbehaup6 7

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Lux/Leistner 2021, S. 100 und grundsätzlich vgl. Koselleck 1989. Der Forschungsverbund untersucht in drei Teilprojekten die politischen Nachwirkungen von 1989, die außerschulisch politisch-historische Bildung zu DDR und 1989 und die immense Bandbreite populärkultureller Repräsentationen von friedlicher Revolution und Nachwendezeit. Für wichtige Anmerkungen und Anregungen zu diesem Text danke ich Greta Hartmann, Carsta Langner, Anna Lux, Edda Rohrbach, Christina Schwarz, Monika Wohlrab-Sahr und Eva Zimmermann. Für die Unterstützung bei der Fertigstellung des Sammelbandes danken wir Anna Kraft, Natalie Schmidt – für alle Vorarbeiten Tina Flux – und nicht zuletzt Svenja Kempf vom Böhlau Verlag für die enge Zusammenarbeit. Im Begriff „Charisma“ verdichten sich die Außeralltäglichkeit des Ereignisses, die euphorischen Erfahrungen der Beteiligten, die nachträgliche symbolische Aufladung als historischer Schlüsselmoment (und Wendepunkt) sowie die Zuschreibung besonderer Qualitäten (wie etwa der entwaffnend friedliche Charakter der Proteste). Vgl. dazu Weber 1980, S. 654ff.

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tung, um auf Interesse und Aufmerksamkeit zu stoßen. Im Unterschied zu anderen Jahren war das Jubiläumsjahr 2019 insgesamt vielstimmiger, kontroverser, nachdenklicher, auch aufgewühlter. 1989 wurde nicht mehr nur als Erfolgsgeschichte erzählt. Es artikulierte sich gleichermaßen etwas, das ich Torpedo-Gedächtnis10 nenne und das auf die wirtschaftlichen, sozialen und biographischen Verwerfungen der 1990er Jahre abzielt. Die Geschichte der Treuhand wurde neu entdeckt, als Gegenstand einer Historisierung,11 als Anlass für selbstkritische Rückblicke oder pauschale Dämonisierungen.12 Es entstanden Initiativen wie Aufbruch Ost, die eine kritische Aufarbeitung der 1990er Jahre anmahnten. Es wurde wieder viel über „ostdeutsche Identität“ gesprochen, simplifizierende Deutungsversuche standen im Raum, die ostdeutsche Diskriminierungserfahrungen mit denen von Migrant*innen verglichen. Angestoßen von dem Journalisten Christian Bangel erzählten unter dem Stichwort „Baseballschlägerjahre“ Zeitzeug*innen, wie es war, in den 1990er Jahren als Jugendliche unter den Bedingungen einer rechtsextremen Dominanzkultur aufgewachsen zu sein. Aber auch das Fehlen migrantischer Perspektiven der ehemaligen Vertragsarbeiter*innen auf 1989 wurde sichtbar.13 Diese sehr breiten öffentlichen Debatten stehen dabei für ein Reflexivwerden der historischen Ereignisse in ihren Folgewirkungen in den neuen Bundesländern sowie in deren Gegenwartsbedeutung. Man könnte von einer nachholenden Aufmerksamkeitstransformation sprechen, einer nachträglichen oder verspäteten Irritation von Wahrnehmungsroutinen. Diese „neue“ und nunmehr gesamtdeutsche Aufmerksamkeit für die Entwicklungen im Osten Deutschlands stand vor allem aber wohl auch unter dem Eindruck der erheblichen Erfolge der AfD in den ostdeutschen Landtagswahlkämpfen 2019, die unter dem Motto „Wende vollenden“ und „DDR 2.0“ geführt wurden. Das öffentliche Reflexivwerden unverstandener Entwicklungen der Gegenwart wurde somit durch die erfolgreiche Aneignung der Vergangenheit von 1989 doch wesentlich forciert, vor allem – und weit über das organisierte Parteienspektrum hinaus – durch die extreme Rechte in Deutschland. Aus den – längst geschichtspolitisch als inventarisiert geltenden – historischen Kulissen wurden und werden Drohkulissen gezimmert und ein Narrativ des Systemumsturzes etabliert, das zentral mit Motiven der Revolution von 1989 spielt.14 Exemplarisch zeigt dies etwa der Gesprächsband von Björn Höcke 10 Die Formulierung ist einer Liedzeile entlehnt, in der Gerhard Gundermann über die Zukunft als eine abgeschossene Kugel schreibt, die die einen wie ein Torpedo trifft und andere wie ein Kuss. Sinnbildlich steht das für das breite Spektrum von Zeiterfahrungen in den frühen 1990er Jahren; vgl. ausführlicher Lux/Leistner 2021. 11 Böick 2018. 12 Milev 2020. 13 Vgl. Poutrus 2019. 14 Vgl. Hartmann/Leistner 2019; Leistner/Lux 2021 sowie Begrich in diesem Band.

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„Nie zweimal in denselben Fluß“, wo es heißt: „Ein paar Korrekturen und Reförmchen werden nicht ausreichen. Aber die deutsche Unbedingtheit wird der Garant dafür sein, daß wir die Sache gründlich und grundsätzlich anpacken werden. Wenn einmal die Wendezeit gekommen ist, dann machen wir Deutschen keine halben Sachen“.15 In diesen Szenarien spielen Ostdeutschland und dessen ländlichen und kleinstädtischen Regionen als Sehnsuchtsort der extremen Rechten eine wichtige Rolle: „Ich [Höcke] erwähnte vorhin den möglichen Rückzug auf Länderebene, wo besonders im Osten noch großes Potential vorhanden ist. […] Und eines Tages kann diese Auffangstellung eine Ausfallstellung werden, von der eine Rückeroberung ihren Ausgang nimmt“.16 Angesichts solcher Entwicklungen helfen einfache Erklärungsmuster nicht weiter, etwa dass die aktuellen Rechtsverschiebungen Ausdruck einer Protestwahl von Bevölkerungsgruppen seien, die nach der Wiedervereinigung wirtschaftlich unter die Räder gekommen und/oder kulturell deklassiert worden seien.17 Dass dies alles viel komplizierter ist, dürfte kaum überraschen und wurde auch beim Auftakt unserer Tagung sichtbar. Sie begann mit einer öffentlichen Abendvorführung des Dokumentarfilms „Letztes Jahr Titanic“, den der Filmemacher Andreas Voigt zwischen Dezember 1989 und Dezember 1990 in Leipzig gedreht hatte. Es ist ein atmosphärisches Zeitdokument, das unter anderem die sich ausdifferenzierenden Zeitstrukturen und Zeiterfahrungen in diesen Monaten sichtbar macht. Eine Gleichzeitigkeit von Beschleunigungserfahrung und Ungewissheitssteigerung: Ereignisse überstürzen sich, Arbeiter*innen bangen um ihre Arbeitsplätze oder planen ihre Übersiedlung in die Bundesrepublik. In einer Sequenz filmt Voigt den letzten Abend in einer Kneipe unmittelbar gegenüber einer großen Leipziger Gießerei, bevor diese (vor dem Kombinat) schließt; eine Szene, die Einblicke erlaubt in die Wurzeln (und Resonanzen) der von Höcke und vielen anderen bespielten 15 Hennig/Höcke 2019, S. 257. 16 Ebd., S. 253. 17 Aktuelle Studien zu den rechtspopulistischen Mobilisierungserfolgen variieren darin, ob nun vor allem sozioökonomische Faktoren (Abstiegsängste und -erfahrungen) ausschlaggebend seien oder Wahrnehmungen eines kulturellen Abgehängtseins und politischer Entfremdung (Lengfeld 2017; Rippl/Seipel 2018; Manow 2019). In beiden Interpretationslinien werden bei den markanten Ost-West-Unterschieden die besonderen Erfahrungen der Transformationszeit in Rechnung gestellt und Wahlneigungen als Selbstaufwertung oder als Protest interpretiert (Mau 2019; Pollack 2020). Pollack wirft dabei die interessante Frage auf, inwiefern es sich in Ostdeutschland um verfestigte und kaum zu beeinflussende Ressentimentmilieus handelt (ebd., S. 211). Der starke Fokus auf Ost-West-Differenzen in verschiedenen Studien wird aber zunehmend kritisiert, weil die Vergleiche großer räumlicher Einheiten einer simplifizierenden Territorialisierung Vorschub leisteten und beispielsweise Nord-Süd-Unterschiede oder innerstädtische Friktionen überdeckten (vgl. Mullis 2021).

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kombattanten Opfernarrative über den „Osten“. Die Stammgäste, die sich hier vor der Schicht zum ersten und nach der Arbeit zum letzten Bier treffen, trinken heute an diesem Ort ihr allerletztes. Eine längere Einstellung zeigt eine Gruppe mosambikanischer Vertragsarbeiter, die spontan im Gastraum musizieren. Das geht eine Weile so, bis sich am Tresen die Gäste erst lautstark, dann heftig beschweren – warum die Kamera gerade DIE so lange filmen müsse und dass DIE bevorzugt würden und WIR immer zu kurz kämen. DIE, das waren die Kollegen aus dem Betrieb gegenüber. Als das geschah, war es noch eine Weile hin bis zur Wiedervereinigung und zu jenem Transformationsschock, der als Ursache gilt für das in Ostdeutschland ausgeprägte Gefühl, „Bürger zweiter Klasse“ zu sein. Diese kleine Filmsequenz zeigt, dass 1989 vor allem als Chiffre und nicht als singuläres Ereignis in den Blick zu nehmen ist. Die Jahreszahl markiert einen historischen Wendepunkt in einer langen Ereignisgeschichte, die sich nicht auf einen historischen Schlüsselmoment reduzieren lässt. Es geht vielmehr um Entwicklungen mit einer – wie das Beispiel zeigt – viel längeren Vorgeschichte, die spezifisch mit den Jahren nach der Wiedervereinigung verknüpft ist; jene Zeit, die in der Literatur etwas technisch als „Transformationsprozess“ beschrieben worden ist; ein Prozess, der in Anlehnung an Max Weber treffender als Um- und Zusammenbruch der alten Lebensordnungen mit weitreichenden Folgen für die Prägung der in sie „hineingestellten“ Menschen zu beschreiben wäre – im positiven wie im negativen Sinne.18 Prägungen, die offenbar – auch das zeigte die Tagung – 30 Jahre später noch einen Unterschied machen. Oder wieder. Es gab Momente des Befremdens in den Diskussionen der Vorträge, etwa wenn westdeutsche Hegemonien bezweifelt wurden oder der Verdacht entstand, sie würden relativiert. Und es gab gleicherma18 Das Motiv des in (konkurrierende) Lebensordnungen hineingestellten Menschen durchzieht Webers gesamtes Werk (vgl. Hennis 1984). Prominent und empirisch ausgearbeitet findet es sich in seiner – zu Unrecht werkgeschichtlich als zweitrangig geltenden – Studie zur „Lage der Landarbeiter im ostelbischen Deutschland“ (Weber 1984); eine detailverliebte und voluminöse Arbeit zu den Formen und Folgen weitreichender Umbruchsprozesse, die u.a. durch eine massive Landflucht aus dem östlichen Deutschland in den industrialisierten Westen hervorgerufen wurden. Die ländlichen Arbeitsverhältnisse untersucht Weber dabei als komplexe, Sozialbeziehungen realisierende Lebensordnung, als ein Zusammenspiel von unterschiedlichsten Dienst- und Abhängigkeitsverhältnissen, sich wandelnden Produktionsweisen und Konsumgewohnheiten, von Lebenshaltungen und individuellen Aufstiegsbegehren. Mit dem Wandel der Arbeitsverhältnisse im ländlichen Osten veränderten sich somit (dramatisch) die Fundamente der sozialen Organisation in den östlichen Provinzen überhaupt. In dieser Studie verknüpft er Strukturaspekte mit dem Einfluss von Kultur als eigenständigem Wirkungsfaktor auf sozialen Wandel – und so verstaubt dieses Werk Webers sein mag, es sensibilisiert für die Fallhöhe gesellschaftlicher Umbruchsprozesse, die ja – wie im Fall Ostdeutschland – mehr waren als bloß ein Institutionen- und Elitentransfer.

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ßen auch Versuche, Unvertrautes in ostdeutschen Erfahrungsräumen verständlich zu machen; Debatten insgesamt, die dabei von einem großen Ernst geprägt waren und zum Teil sehr persönlich wurden: „Auch überraschte die oft subjektive Argumentation der Vortragenden sowie des Publikums, die nicht selten den eigenen Erfahrungshorizont heranzogen, um dann ihre Argumente zu stützen“.19 Das Besondere der Tagung bestand somit in der Offenheit der Fragen an einen historischen Prozess (1989 und die Wiedervereinigung), der lange als ausgeforscht und abgeschlossen gegolten hat, sowie in der Qualität wissenschaftlicher Begegnungen, bei denen biographische Prägungen (wieder) eine Rolle spielten; mithin eine (Re-)Emotionalisierung wissenschaftlicher Debatten, die selbst erklärungsbedürftig ist. Beides – die (nachholende) Offenheit wissenschaftlichen Fragens und die Qualität wissenschaftlicher Begegnungen – soll im Folgenden vertiefender, fachgeschichtlich eingebettet werden. Und weil das Gros der Beitragenden aus Historiker*innen und Soziolog*innen bestand, werde ich mich auf diese beiden Disziplinen konzentrieren. 2. Wie weiter? Zur Geschichte zweier disziplinärer Schwellenereignisse

Im Folgenden geht es um den „Vereinigungs-Historikertag“ des Verbandes der Historiker Deutschlands (VHD), der vom 26. bis 29. September 1990 in Bochum stattfand, sowie um den eingangs schon erwähnten Soziologentag der ostdeutschen Gesellschaft für Soziologie im Mai 1991 in Leipzig. Beide thematisiere ich als je spezifische, aber für die folgenden Entwicklungen der beide Fächer wegweisende, sich spezifisch wiederholende, sich wandelnde Schwellenereignisse. Was ist mit dem Begriff gemeint? Der Begriff der Schwelle hat eine räumliche, eine soziale und eine zeitliche Dimension. Frühe Überlegungen dazu finden sich in einem Zeitungsfeuilleton20 des Soziologen Georg Simmel mit dem Titel „Brücke und Tür“21 in der Berliner Tageszeitung Der Tag. Moderne illustrierte Zeitung. Es sind zunächst 19 Tröger/Gordeeva 2019. 20 Georg Simmel, aber vor allem auch Siegfried Kraucauer haben in ihrer Zeit eine Vielzahl von Feuilletons veröffentlicht und dieses als genuin soziologisches Genre etabliert. Die kanadische Soziologin Barbara Thériault hat dieses Genre nicht nur wiederentdeckt und -belebt, sondern auch pointiert beschrieben und fachgeschichtlich eingeordnet: „In der Kombination von Soziologie, Literatur und Reportage stehen diese Hybridform und die Zeitungen, in denen sie veröffentlicht wurde, für eine der Geburtsstätten der Soziologie. Ihre Wiederentdeckung bietet, so argumentiere ich, ein großes Potential für das soziologische Denken und Schreiben heute“ (Thériault 2017, S. 1). 21 Simmel 1909.

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Überlegungen über das Verbindende und Trennende von baulichen Elementen.22 „Während in der Korrelation von Getrenntheit und Vereinigung die Brücke den Akzent auf die letztere fallen lässt, und den Abstand ihrer Fußpunkte, den sie anschaulich und messbar macht, zugleich überwindet, stellt die Tür in entschiedenerer Weise dar, wie das Trennen und das Verbinden nur die zwei Seiten eben desselben Aktes sind“.23 Damit ist zunächst die räumliche Dimension bestimmt: die Brücke, die einen Fluss überwindet und die Tür, die zwischen einem Drinnen und Draußen trennt. Monika Wohlrab-Sahr hat diesen Gedanken aufgegriffen und in ihrem Plädoyer für Schwellenanalysen sozialer Grenzziehungen die soziale Dimension des Baulichen und also auch von Schwellen konturiert.24 Dabei geht es ihr zunächst um Grenzziehungen zwischen Privatem und Öffentlichem, die nicht zuletzt beim Überschreiten von Türschwellen interaktiv ausgehandelt werden. Es ist ein Übergang von Formalität und Informalität, Vertrautem und Unvertrautem. Die wechselseitigen Erwartungen an solche Begegnungen sind dabei „für beide Seiten nicht sofort antizipierbar, sondern [müssen] – zum Teil schon im Eingangsbereich der Wohnung – ausgelotet werden. Insofern stellt sich sowohl für den Gastgeber wie auch für den Gast das Handlungsproblem der Bestimmung der angemessenen Balance […]. Eine Schwellensituation par excellence“.25 Dass auch die erwähnten Fachkongresse zu solchen Schwellensituationen wurden, lag an der Existenz eines dritten, von Simmel (historisch naheliegend) nicht eigens akzentuierten baulichen Elements – der Mauer. Im Fall der Grenze zwischen DDR und Bundesrepublik verhinderte oder erschwerte sie über viele Jahrzehnte soziale Begegnungen und sie war auch mit Blick auf die Wissenschaftsdisziplinen eine Grenze zwischen Vertrautem und Unvertrautem. Ein wissenschaftlicher Austausch fand vor 1989 nur punktuell statt und zudem scharf reglementiert, überwacht und handverlesen von den Torwächtern der SED-Diktatur.26 Ansonsten herrschte viel Unwissen übereinander und wohl auch Misstrauen. Waren die DDR-Historiogra22 Damit bleibt der Begriff näher an der Analyse sozialer Begegnungen und einer metaphorischen Konkretion als etwa die abstraktere geschichts- und zeittheoretische Rede Kosellecks von Schwellen, Sattel- oder Schwellenzeit. 23 Simmel 1909, S. 2. 24 Verbunden auch mit „kulturvergleichenden“ Überlegungen zur Praxis des Schuhausziehens oder Anlassens bei Privatbesuchen in ost- und westdeutschen Wohnungen. 25 Wohlrab-Sahr 2011, S. 45. 26 Eine – durchaus ungewöhnliche – Ausnahme bildete die Forschungsgenehmigung für Lutz Niethammer für Interviews mit Arbeiter*innen in der DDR in den 1980er Jahren (siehe den Beitrag von Dorothee Wierling in diesem Band). Dem waren auch einige Treffen und Verständigungsversuche zwischen Zeithistorikern aus beiden Staaten vorausgegangen. Zu punktuellen Kontakten und wechselseitigen, mal mehr oder weniger ausgeprägten Resonanzen der deutschdeutschen Geschichtsschreibung vgl. Maubach/Morina 2016.

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phie oder die DDR-Soziologie überhaupt ernstzunehmende Wissenschaften oder vor allem ideologisierte Legitimationsinstrumente – gebundene oder beherrschte Wissenschaften?27 Diese Situation prägte auch die folgenden Konfrontationen mit den Biographien der Ostkolleg*innen und dem komplexen Innenleben der Ostdisziplinen, für das der Kompass fehlte. Der sollte aber nötig werden, weil die Vertreter*innen der Westfächer bald in die machtvolle Situation kamen, die bestehenden Strukturen in der DDR zu evaluieren und die Fächer neu aufzubauen. Exemplarisch lässt sich das an der Vereinigung (oder Überlagerung) der Geschichtswissenschaften zeigen: „Es folgte eine unsichere Positionssuche, die von den ersten Erkundungen bis zur letzten Institutsabwicklung von fachlichen, personellen, politischen und emotionalen Herausforderungen geprägt war. Offen ging es um die Frage, was gute Geschichtswissenschaft war, ist und sein soll und wie sie sich, wenn überhaupt, zu Forscherbiographien und zur menschlichen Moral zu verhalten hat. Selten zuvor wurde bei laufendem Betrieb so klar, dass die Praxis der professionellen Geschichtsschreibung auf einem Set von Regeln basiert, die bemerkenswert ungeschrieben und dynamisch sind“.28 Spielregeln – so ließe sich mit Bourdieu ergänzen – die über die Grenzen des wissenschaftlichen Feldes bestimmen und damit auch Grenzziehungen an der Schwelle von Zugehörigkeit und Nichtzugehörigkeit markieren.29 Im Folgenden diskutiere ich die beiden Verbandstagungen aus zwei Perspektiven als Schwellenereignis. In seiner sozialen Dimension ist der Historikertag ein exemplarisches Ereignis in einer komplexen Begegnungsgeschichte zwischen Ost und West. In seiner zeitlichen Dimension wiederum zeigt der Soziologentag, welche Fragen im Umbruch an die Zukunft gestellt (oder nicht gestellt wurden). Diese Unterscheidung von Dimensionen ist eine analytische, die nicht unterschlagen soll, dass einerseits natürlich auch die Historiker*innen Fragen an die Zukunft hatten (zeitlich) und andererseits die Soziolog*innen eine Fachgeschichte komplizierter Begegnungen (sozial). 2.1 „Identitäten in der Geschichte“ – 38. Historikertag, 26.–29. September 1990 in Bochum

Eine solche Begegnung auf großer Bühne war für den Historikertag in Bochum 1990 geplant. Das Setting war durch die Form eines öffentlichen Podiums zur „Lage der Geschichtswissenschaft in der DDR“ in Richtung Formalität verein27 Sabrow 1998; Lepsius 1991. 28 Thijs 2016, S. 390. 29 Bourdieu 2018.

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deutigt. Auch die Rollen zwischen Gastgebenden und Gästen, einer Gruppe von Osthistorikern30, waren definiert. Für diesen Abend zumindest waren Statusunterschiede insofern relativiert, als man sich als Kollegen begegnete. Allerdings war die Gruppe der Gäste weniger homogen als angenommen und Einzelne auch weniger bereit, sich dem geplanten Charakter der Veranstaltung anzupassen. Dies hatte eine Vorgeschichte, in der sich die DDR-Geschichtswissenschaft von der DDRSoziologie unterschied. Schon im Januar 1990 hatte sich in der DDR mit einem Paukenschlag ein Unabhängiger Historikerverband (UHV) gegründet – Anlass war ein Aufruf jüngerer Historiker*innen um Armin Mitter und Stefan Wolle, den diese in der Akademie der Wissenschaft aushängten. Dabei war es weniger bloß ein Aufruf als eine Abrechnung mit den machtvollen und etablierten DDR-Historikern: „Jahrzehntelang erstickte ein ungenießbarer Brei aus Lügen und Halbwahrheiten jede freie geistige Regung. Scholastische Albernheiten und abgestandene Gemeinplätze wurden als ‚einzig wissenschaftliche Weltanschauung‘ ausgegeben. Pseudowissenschaftler schwangen sich auf den Richterstuhl marxistischer Allwissenheit und diffamierten in dümmlicher Arroganz ganze Epochen der modernen Geistesgeschichte“.31 Sie sprachen von einer moralischen Degeneration vieler DDR-Historiker*innen und davon, dass die richtige Gesinnung und das richtige Parteibuch die Spielregeln des Wissenschaftsfeldes in der DDR bestimmt hätten. Die Gründungsmitglieder des UHV waren noch relativ jung und teilweise schon im Studium relegiert, suspendiert und in die Produktion geschickt worden. Wolle hatte zwischenzeitlich als Hilfsarbeiter gearbeitet, Rainer Eckert als Arbeiter im VEB Wasserbau, Ilko-Sascha Kowalczuk hatte erst gar nicht studieren gedurft und arbeitete als Pförtner. Die jungen „Unabhängigen“ hatten reichlich und biographisch einschneidende Erfahrungen in der DDR und mit deren Historiker*innen gemacht und waren entschlossen, mit den Verstrickungen der Wissenschaft in der SED-Diktatur aufzuräumen.32 Und sie wollten zugleich Zeitgeschichte im Zeitalter der Diktaturen neu denken – als „radikal aufklärerisch, emanzipatorisch, freiheitlich und, wo es sein muß, auch subversiv und rebellisch“.33

30 Die ostdeutschen Professoren Manfred Kossok, Jan Peters, Erich Donnert, der unverdächtige Hartmut Zwahr, den Dorothee Wierling in ihrem Beitrag auch erwähnt, und auf westdeutscher Seite Jürgen Kocka, Karl Otmar von Aretin und Christian Maier. 31 Zit. nach Thijs 2016, S. 401. 32 Kowalczuk ordnet das rückblickend auch selbstkritisch so ein: „Spätere Generationen, glaubte ich, würden uns fragen, warum wir so weich und nachgiebig gewesen seien. Es dauerte eine Weile, bis sich meine über viele Jahre hinweg angestaute Wut und der dadurch aufgestaute moralische Rigorismus abkühlten“ (Kowalczuk 2019, S. 15). 33 Wolle 1998, S. 25.

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Zu den Besonderheiten des Bochumer Historikertages gehörte nun, dass neben den (vermeintlichen) Repräsentanten der alten Ordnung – ihrerseits relativ unverdächtige, selbstkritisch auftretende DDR-Professoren – mit Armin Mitter auch ein Vertreter des UHV auf dem Podium saß. Und der hielt wenig von einer vorschnellen Ost-West-Verbrüderung und sprengte die Runde mit polemischen Angriffen auf die SED-Historiker*innen, wobei die anwesenden Ostkollegen dabei die falschen Ansprechpartner*innen waren. Gerade sie waren ja nun nicht typisch für eine dienstbare Geschichtswissenschaft, die auf Weisung der Partei die Geschichte umgeschrieben hatte. Aber über das Bild des DDR-Faches entschied auch, wem man auf der Schwelle begegnete: den wenigen unbelasteten Koryphäen, den Ordinarien, den Vertreter*innen aus randständigen Spezialgebieten. Mitters Kritik war daher grundsätzlicher: Die SED-Professor*innen seien demokratieunfähig und „müssen weg“. Die Publikumsreaktionen schwankten zwischen Zustimmung, Befremden und wachsendem Entsetzen. Was als taktvolle Annäherung geplant war, entpuppte sich als fachinterner Konflikt zwischen den Ostvertretern auf großer Bühne. Dabei spielten auch Stilfragen eine gewisse Rolle. Die Vorwürfe der Unabhängigen waren in Bezug auf die Podiumsteilnehmer sicher nicht besonders differenziert, aber darum ging es auch nicht. Sie wurden formuliert in einer Zeit, zu der sich immer noch erhebliche Archivbestände in den Händen ehemaliger SED-Funktionäre befanden und die Apologet*innen der Diktatur von der zweiten Reihe aus Einfluss ausübten. Die Stimmung kippte endgültig, als Mitter eindringlich davor warnte „jetzt zweitklassige Leute aus der Bundesrepublik in die DDR zu bekommen, etwa den gesamten Mittelbau, der hier nun ganz benachteiligt ist“.34 Die Sorge vor Benachteiligungen war nicht unberechtigt – im anschließenden Prozess des Neuaufbaus der Geschichtswissenschaften nach der Wiedervereinigung hatte kaum ein Ostdeutscher eine Chance, wobei die Neuberufungen durchaus namhaft waren (etwa mit Heinrich August Winkler an der Humboldt-Universität oder der Leitung des neugegründeten Forschungsschwerpunkts Zeithistorische Studien durch Jürgen Kocka). Auch die Vielzahl von Berufungsverfahren lassen sich als Schwellensituationen interpretieren, als Praktiken „des Einlassens und Verschließens, des Hineinnehmens und Außenvorlassens“,35 als Grenzziehungen entlang von Spielregeln eines Wissenschaftssystems, auf das die Ostdeutschen keinen Einfluss nehmen konnten und das ihnen nicht vertraut war. Ein Großteil fiel aus dem System und dies aus unterschiedlichsten Gründen: entweder weil sie weder eindrucksvolle Publikationslisten vorlegen noch Auslandserfahrungen vorweisen 34 Zit. nach Thijs 2016, S. 430. 35 Wohlrab-Sahr 2011, S. 38.

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konnten; oder weil sie eindrucksvolle Auslandserfahrungen und Publikationslisten hatten, aber im „falschen“ Ausland und zu fragwürdig gewordenen Inhalten, und schließlich weil (kapitalbewehrte) Habitusdifferenzen eine gewisse Rolle spielten.36 Auch, aber nicht nur in solchen Habitusdifferenzen lag vermutlich das Irritationspotenzial von Mitters Auftritt und die fortan distanzierte Haltung westdeutscher Fachvertreter*innen ausgerechnet gegenüber den Unabhängigen. „So galten Wolle und Mitter bald auch im Westen als unangepasst und undiszipliniert, moralisch überheblich und unberechenbar“.37 Derlei rigider Moralismus, die Selbstinszenierung als Außenseiter und die schroffe Einteilung in „unabhängig – angepasst“ mag bedrohliche Erinnerungen an die fachpolitischen Polarisierungen der westdeutschen Geschichtswissenschaft in den zurückliegenden Jahrzehnten geweckt haben. In den Konflikten wurde ein Wissenschaftshabitus normalisiert, dem die existenzielle Dimension der Auseinandersetzungen um das DDR-Erbe fremd blieb – Stilfragen wurden entscheidend und prägend für die Schärfe nachfolgender Auseinandersetzungen. Das Unverständnis für das Auftreten der Unabhängigen rührte auch daher, dass an der Schwelle zwischen Vertrautem und Unvertrautem über die Verhältnisse in der DDR weitgehende Unkenntnis herrschte; eine Unkenntnis, die sich erstaunlich lange hält. In einer Podiumsdiskussion des VHD 30 Jahre nach dem Bochumer Historikertag mit damals Beteiligten kam immer noch die Frage aus der Zunft, warum es eigentlich vor 1989 keine Opposition in der DDR-Geschichtswissenschaft gegeben habe. Die Antwort lässt sich leicht an den Biographien der Unabhängigen ablesen (und weniger leicht in einem Graubereich von Wissenschaftsbiographien). Im Fall der Ersteren: Entweder flog man von der Universität oder durfte gar nicht erst studieren. Wohl gab es Reformer*innen in der SED oder auch konspirative oppositionelle Zirkel im Dunstkreis der Akademie der Wissenschaften, aber die existierten nicht lang. Wer sich dort engagierte, wie etwa Thomas Klein (in den 1990er Jahren Historiker am Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam), wurde in Hohenschönhausen und Bautzen inhaftiert und arbeitete nach einem Berufsverbot als Preisbearbeiter in einem Möbelkombinat. Neben Unkenntnis spielten bei den Grenzziehungen besagte Habitusdifferenzen eine große Rolle, die darüber entschieden, wer zur Community gehörte und wer nicht. Die unangepassten, idealistisch überschießenden Antworten der Unabhängigen auf die Frage „Wie weiter mit der Zeitgeschichte?“ beantwortete diese prompt: so jedenfalls nicht, nicht so moralisch anmaßend. Es hat eine gewisse Tragik, dass keiner der Gründungsmitglieder des UHV sich im institutionellen Statusgefüge 36 Vgl. Pasternack 2020, S. 140f. 37 Thijs 2016, S. 432.

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des Wissenschaftssystems etablieren konnte und Zugänge verwehrt und verstellt blieben. Das maximal Erreichbare waren Projektstellen oder eine außerplanmäßige Professur. Mehr oder weniger freiwillig gerieten (publizistisch) etablierte Außenseiter wie Stefan Wolle oder Ilko-Sascha Kowalczuk in die Rolle von Public Historians. Aus dieser Rolle heraus ist auch der Essay von Kowalczuk in diesem Band geschrieben – ein Text also mit einer komplexen Vorgeschichte. Durch Unwissen über diese Komplexität entstanden Verständigungsschwierigkeiten, die Ost-West-Begegnungen prägten und die eigentümlich fortwirken. Dorothee Wierling beschreibt das eindrücklich in ihrem Rückblick auf ihre Zeit als Historikerin in Leipzig. Sie erwähnt die „Leidenschaft der Leute, wenn ihnen ihr Leben von mir ‚erklärt‘ wurde, die atmosphärische Dichte der Konferenzen über DDR-Geschichte, wo akademische Distanz unmöglich war, weil es – tatsächlich – Identitäten betraf“; Debatten, in denen es immer um mehr ging als um „akademische Debattenspiele“. Sie beschreibt eine Emotionalität, die heute wieder zu beobachten ist, nur geht es dann seltener um die Erfahrungen in der DDR. Der Gegenstand der Auseinandersetzungen hat sich zeitlich nach hinten verschoben. Heute gibt es Schwellen zwischen Vertrautem und Unvertrauten, zwischen Unkenntnis und Erfahrung über die ostdeutsche Zusammenbruchsgesellschaft der 1990er Jahre. Aber auch thematisch war die westdeutsche Geschichtswissenschaft durch die Ereignisse und diese Begegnungen (zunächst) herausgefordert. Selbstverständlichkeiten standen zur Debatte, die eines deutschen Sonderwegs oder das (umstrittene) postnationale Selbstverständnis der BRD. Die Sorge ging um vor der Nachfolgegesellschaft der DDR, die „deutscher geblieben ist als die Bundesrepublik“.38 Tendenziell hatten die Ereignisse das Potenzial, Meistererzählungen des Faches zu irritieren, die von der „Ankunft im Westen“,39 der „geglückten Demokratie“40 oder der „deutschen Affäre“41 als Erfüllungsgeschichte der Demokratie. Soweit ich das als Soziologe überblicken kann, sind demokratiegeschichtliche Arbeiten etwa, die den Systembruch von 1989 systematisch in die Reflexion einbeziehen, immer noch rar und die Interpretation der Rolle des Kaiserreiches wesentlich umstrittener als diese Leerstelle. Exemplarisch dazu fragte Paul Nolte vor Jahren: „Was aber bleibt, jenseits von Glättung oder Romantisierung, als Erbe und Fortwirkung der demokratischen Revolution von 1989? Darüber ist das letzte Wort noch längst nicht gesprochen. Und wenn die westdeutsche Demokratie nicht 1949 schon fer38 39 40 41

Kocka 1992, S. 103. Winkler 2000. Wolfrum 2006. Richter 2020.

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tig gebacken war, dann die ostdeutsche auch nicht am 3. Oktober 1990. Gibt es ein ostdeutsches Pendant zum westdeutschen Lernprozess der langen 1960er Jahre?“42 2.2 „Soziologie in Deutschland und die Transformation großer gesellschaftlicher Systeme“ – Soziologentag, 24.–26. Mai 1991 in Leipzig

Neben der räumlichen und sozialen hat der Begriff Schwellenereignisse schließlich eine zeitliche Dimension. Beide Großtagungen fanden an der Schwelle zwischen Vergangenheit und Zukunft statt. Dieses Gefühl teilten beide Disziplinen, die der Untergang der DDR völlig unvorbereitet traf, den sie weder erwartet noch vorhergesehen hatten.43 Das lag zum einen daran, dass die Fächer sich mit der Zweistaatlichkeit weitgehend abgefunden und sie in ihre jeweiligen „Meistererzählungen“ integriert hatten,44 und zum anderen daran, weil die DDR selten oder nur randständig überhaupt Gegenstand von Forschungen war. Innerhalb der Westsoziologie hatte sich im Grunde keine eigenständige Analyse der gesellschaftlichen Entwicklung in der DDR etabliert – wie der DGS-Vorsitzende Schäfers auf seinem Eröffnungsbeitrag des Leipziger Soziologentages bemerkte: „[D]ie Soziologie bzw. wir Soziologen in den westlichen Bundesländern hatten gegenüber der DDR ein wenig die Sprache verloren bzw. sie nie recht gefunden“.45 Der Soziologentag fand ein Jahr später als der Bochumer Historikertag statt, im nun wiedervereinigten Deutschland; und anders als bei den Historiker*innen sehr viel geräuschloser, weil sich zum Ende der DDR keine fachinterne Opposition gebildet hatte.46 Damit wechselt auch die Einordnung der Tagung, handelte das 42 Nolte 2013, S. 284. 43 Derart staunte etwa der Direktor des Deutschen Historischen Instituts in Rom: „Die Erfahrung der eigenen Gegenwart gab das Empfinden, nicht einfach Geschehen, sondern Geschichte zu erleben. Solch faszinierender Erfahrung kann sich am wenigsten der Historiker entziehen: Ihm ist, als beobachte er Geschichte im Entstehen“ (Esch 1992, S. 17). 44 An dieser Situation ändert sich wenig oder nur langsam etwas. Allzu oft schrumpft die DDR noch auf Fußnotengröße zusammen, wenn bundesdeutsche Geschichte oder die jeweiligen Fachgeschichten dargestellt werden. 45 Schäfers 1992, S. 61. 46 Was die ersten Begegnungen nicht weniger unangenehm machte. So erinnert Detlef Pollack den Frankfurter DGS-Kongress 1990: „Auf dem ersten Soziologiekongress nach der Wende wurde in einer eigens anberaumten Sektion mit den Vertretern der DDR-Soziologie ein regelrechtes Scherbengericht abgehalten. Die Ostdeutschen, die da auf dem Podium saßen, hatten keine Chance, sich gegenüber den kritischen Fragen ihrer westlichen Kolleginnen und Kollegen zu behaupten. […] Ich saß im Publikum und hatte vor mir einen Schreibblock mit dem

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Bochumer Beispiel von der sozialen Dimension von Begegnungen, so steht Leipzig für die inhaltlichen Deutungsdifferenzen. Aber auch in Leipzig ging es zunächst um ein Vertrautmachen und um Fragen wechselseitiger Anerkennung; auch dies eine (soziale) Schwellensituation, weil die Aufnahme ostdeutscher Kollege*innen in die Verbandsstrukturen der DGS und wechselseitige Vorbehalte Thema waren: Für die Qualität wissenschaftlicher Arbeit kann nicht zum Maßstab gemacht werden, ob jemand Marx oder Parsons zitiert, sondern nur, ob begrifflich und analytisch einwandfrei argumentiert wird. […] Ich rufe also dazu auf, die Berührungsängste auch theoretischer Art abzubauen, keine Denkverdikte zu verhängen und eine Soziologie zu treiben, die intellektuell anspruchsvoll und neugierig ist, sozial engagiert und gleichwohl nicht apologetisch und denunziatorisch.47

Im Vordergrund des Kongresses stand aber die Herausforderung des Systemzusammenbruchs. In der Frage „Wie weiter?“ schwang mit, nunmehr eine (theoretische) Sprache zu finden für die kommenden Entwicklungen. Die Antworten konnten kaum unterschiedlicher ausfallen. Gerade hatte Siegfried Lamnek für den Berufsverband Deutscher Soziologen über die Berufsperspektiven der Ostsoziolog*innen gesprochen und prognostizierte, dass „nur ein verschwindend geringer Teil“48 überhaupt im universitären Bereich weiterbeschäftigt werden dürfe, da referierte der Heidelberger Max-WeberForscher Wolfgang Schluchter. Es folgte eine detaillierte Werkexegese Webers zur „Entstehung der bürgerlichen Lebensführung“, zum Verhältnis von ideellen und materiellen Interessen und zu den religiösen Hintergründen der Entstehung von Erwerbs- und Konsumorientierungen; mithin ein von den aktuellen Entwicklungen weit abgehobenes Thema,49 das westliche Beobachter der Tagung als Versuch Logo der Karl Marx Universität Leipzig liegen. Mein Nachbar konnte es nicht unterlassen, mich zu fragen, ob ich der Meinung sei, mit Marx zukünftig noch sehr weit zu kommen“ (Pollack 2020, S. 168). 47 Schäfers 1992, S. 63. 48 Lamnek 1992, S. 68. 49 Die Abgeklärtheit der Themenwahl Schluchters soll rückblickend nicht als Desinteresse an den Fragen und Sorgen der DDR-Kolleg*innen interpretiert werden, gehörte er doch 1991 zum Gründungsdirektor für das Fach Soziologie an der Universität Leipzig und publizierte engagiert zu Fragen der Wiedervereinigung und Transformation in Ostdeutschland. In diesen Arbeiten taucht auch Webers Begriffsunterscheidung von Ideen, Interessen und Institutionen wieder auf, etwa wenn er beschreibt, dass die Übertragung der institutionellen Ordnung der Demokratie in Ostdeutschland auf die ihr adäquaten Mentalitäten warten ließ und lässt – und (als Vergleich) die Stabilisierung der demokratischen Ordnung in der Nachkriegs-BRD dies-

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interpretierten, „den Übergang in die Normalität in den neuen Bundesländern und wohl auch in der Profession zumindest implizit zu betonen“.50 Dann sprach Hans Joas über „Perspektiven einer nicht-funktionalistischen Gesellschaftstheorie“. Ausganspunkt seiner Überlegungen war die problematische Lage der soziologischen Theorie, in der er sich dem Auditorium als Wegweiser anbot. Der Übergang „vom Post-Stalinismus zu Kapitalismus und Demokratie“ sei keine von der soziologischen Theorie traditionell behandelte Frage, weshalb er dafür plädierte, „den Reichtum ihrer eigenen Denktradition unter dem Gesichtspunkt der zeitgenössischen Probleme neu durchzuarbeiten“.51 Diese Einladung zur Auseinandersetzung mit den Theorietraditionen des Faches bekam zu Beginn des Vortrags allerdings einen Dämpfer. Gleichsam zur Begrüßung unterstellte er den DDR-Kolleg*innen (aus seiner Sicht) fehlgeleitete Orientierungsbedürfnisse, so dass diese im Licht seiner Ausführungen fast wie desorientierte Aussteiger*innen aus einer Sekte wirkten: Es ist deshalb kein Wunder, daß mancher seine Haut durch die spektakuläre Absage an alle Theorie zugunsten anspruchsloser Empirie zu retten versucht.52 Andere begannen nach der Wende, sich stark an etablierten westlichen Theorien zu orientieren, daß man glaubte, sie redeten in fremden Zungen: Habermasisch und Luhmannesisch waren plötzlich rapide sich ausbreitende Idiome. Was die soziologische Theorie betrifft, stießen die Kollegen zum Zeitpunkt der Wende auf eine keineswegs unproblematische fachliche Lage im Westen. Das Bedürfnis nach einem umfassenden theoretischen Orientierungsschema als Alternative zum historischen und dialektischen Materialismus ließ sich in der Soziologie nirgendwo befriedigen.53

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bezüglich das Ergebnis einer „zufälligen Verkettung von Umständen und keiner wie immer gearteten historischen Notwendigkeit“ war (Schluchter 2008, S. 77f., vgl. auch Schluchter 1996). Backert et al. 1994, S. 158. Joas 1992, S. 96. Mit dieser Kritik spielt Joas wohl auf einen soziologiegeschichtlichen Topos an, der die Neuorientierung der bundesdeutschen Nachkriegssoziologie als eine Phase theoretischer Selbstbescheidung nach dem Nationalsozialismus deutet; einer Phase, die geprägt war von einem starken Empirismus und einer asketischen „Emanzipation von theoretischen Ambitionen“ (Gehlen 2004, S. 607). Joas lässt offen, worauf seine Einschätzungen und impliziten Analogiebildungen empirisch gründen. Die Leipziger Vorträge der Ost-Kollegen*innen gaben dies jedenfalls nicht her. Der wesentliche Unterschied zur westdeutschen Nachkriegssoziologie dürfte aber vor allem sein, dass mit dem Neuaufbau der Soziologie in den neuen Bundesländern die DDR-Soziologie personell und institutionell bis auf wenige Ausnahmen faktisch aufhörte zu existieren und eine Neuorientierung gar nicht mehr zur Debatte stand. Joas 1992, S. 95.

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Letztlich verfolgte Joas im Fortgang die eigenen Theorieinteressen: eine umfassende Kritik am Funktionalismus und ein Plädoyer für Theorien der Kreation kultureller Gehalte und sozialer Gebilde im Handeln, das Jahre später in seine „Theorie kreativen Handelns“ münden sollte. Die Gegenwart des Systemzusammenbruchs erhielt bei ihm eher den Status exemplarischer Empirie, die seine Kritik an bestimmten Theorien bekräftigte und die eigenen theoretischen Ambitionen plausibilisierte. Damit ist nichts über die Überzeugungskraft seines Theorieangebotes gesagt, sondern zunächst nur, dass es nicht besonders einladend vorgetragen wurde und eher bestätigte, was Frank Ettrich den westdeutschen Kollegen attestiert hatte – dass sie unbeeindruckt schienen von den gesellschaftlichen Entwicklungen. Das unterschied sich scharf von den Plenarvorträgen der ostdeutschen Kollegen, die weder ihnen fremde Theoriedialekte bemühten noch anspruchslose Empirie präsentierten. Sie blickten neugieriger, aber auch besorgter auf die Entwicklungen. An der Schwelle zwischen Gegenwart und Zukunft stellten sie eher Fragen, als dass sie schon fertige Antworten hatten. In ihren Überlegungen dokumentieren sich Suchbewegungen und eine Offenheit für das Andere, Unabsehbare, Neue des laufenden gesellschaftlichen Großexperimentes, für das sie zwar mögliche Szenarien entwickelten, aber noch keinen Begriff hatten. Die wenigsten der Szenarien waren dabei besonders optimistisch. Zunächst sprach Hansgünter Meyer, der damalige Vorsitzende der Gesellschaft für Soziologie in Ostdeutschland. Er gehörte zu den älteren und in der DDR etablierten Soziologen. Interessiert an Fragen der Kybernetik hatte er – westliche Autor*innen wie Renate Mayntz oder Ralf Dahrendorf rezipierend – mit seiner Habilitation versucht, eine systemtheoretische Organisationssoziologie zu begründen. Die Druckfassung war 1971 verboten und die Auflage geschreddert worden.54 Er hatte als Professor an der Akademie der Wissenschaften der DDR gearbeitet, war 1974 aus politischen Gründen gemaßregelt und versetzt worden und war nach der Wiedervereinigung Mitarbeiter am Wissenschaftszentrum Berlin (WZB). Sein Vortrag beginnt mit einer allgemeinen Kritik an teleologischen Theorien sozialen Wandels und speziell der Modernisierungstheorie und der Annahme, dass die Gegenwart der westlichen Moderne die nähere Zukunft aller sei. Stattdessen sensibilisierte er für eine nach vorn offene Entwicklung, bei der „künftige Zustände nicht

54 Dies stand auch im Kontext eines Kurswechsels innerhalb des SED-Politbüros. Unter dem Eindruck des Prager Frühlings 1968 und der beginnenden Streiks in Polen wuchs der Widerstand gegen die Reformpolitik Walter Ulbrichts und die Annäherung an die sozialliberale Regierung Willy Brandts. Die Dogmatiker um Erich Honecker forcierten den Sturz Ulbrichs im Mai 1971 (vgl. Ettrich 1997) und beendeten Reformen (und Forschungen) in Richtung eines Mehr an gesellschaftlicher Selbstorganisation.

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einfach durch frühere determiniert sind“.55 Nötig seien zudem grundsätzliche Klärungen bei der Beschreibung des Problems, das vorschnell und unhinterfragt als Transformation hin zu Demokratie und Marktwirtschaft beschrieben werde. Das sei schon deshalb problematisch, weil das zu Transformierende zusammengebrochen sei und die gegebenen gesellschaftlichen Verhältnisse nicht umgewandelt, sondern beendet und stattdessen neu konstituiert würden. Überhaupt sei fraglich, ob der Begriff Transformation treffend sei, unterstelle er doch Transformierbarkeit und vereindeutige das kontingente Zusammenspiel unterschiedlicher Entwicklungen: „Das historisch Dramatische, eine Kette von Zusammenbrüchen, Deformationen, Deklassifizierungen, mindestens mittelfristige Mißbildungen usw. und das in seinen Wirkungen und Folgen Unabsehbare, wird verharmlosend als ein linearer und finalistischer Regenerierungsprozess interpretiert“.56 Damit – so seine Befürchtung – verstelle man sich den Blick für mögliche andere Szenarien. Wie bei den anderen Ostsoziologen geht es dabei nie nur um die ehemalige DDR, sondern um Entwicklungen in den ostmitteleuropäischen Ländern. Und er fragt, woher die Gewissheit komme, dass dort nicht eine Vielfalt von Gesellschaftsformen entstehe, die sich von der westlichen Moderne unterschieden.57 „In besonders ungünstigen Verläufen, deren Szenarien wissenschaftlich-schonungslos projiziert werden sollten, kann im Osten ein der westlichen Moderne sehr unähnlicher Gesellschaftstyp mit ungewissen historischen Perspektiven entstehen“.58 Meyer plädiert gewissermaßen für eine Forschung zu Ostdeutschland und Ostmitteleuropa als Schwellenanalyse, die Lesarten – oder in seinen Worten Szenarien – über unterschiedliche, nicht absehbare Entwicklungspfade in der Zukunft entwirft und die soziologischen Deutungen nicht schon auf eine bloße Vermessung nachholender Modernisierung vereindeutigt. Nach ihm sprach Wolfgang Engler. Seit Ende der 1980er Jahre lehrte der Soziologe in einer institutionell eher machtfernen Randstellung an der Hochschule für Schauspielkunst Ernst Busch Theorie. In seinem Vortrag „Die Logik der Dezivilisation – Eine Standortbestimmung des Staatssozialismus“ geht es um eine zivilisati-

55 Meyer 1992, S. 40. 56 Ebd., S. 48. 57 Diese Gewissheiten werden durch die Entwicklungen in Russland, in Polen oder etwa Ungarn und zuletzt eindrücklich in dem Buch „Das Licht, das erlosch“ von Ivan Krastev und Stephen Holmes (Krastev/Holmes 2019) schon länger empirisch irritiert. Die Entwicklungen dort werden gesellschaftsdiagnostisch häufig vor allem als Abweichung von der westlichen Moderne thematisiert, was sich in Begriffsbildungen wie „illiberale“ oder „gelenkte Demokratie“ ausdrückt. 58 Meyer 1992, S. 51.

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onstheoretische Platzierung des sozialistischen Gesellschaftstyps;59 mithin also um eine Präzisierung des Ausgangspunktes der laufenden Wandlungsprozesse. In diesem Sinne waren die DDR-Soziolog*innen Insider*innen des Forschungsfeldes,60 weil ihnen der Charakter, der Ausgangszustand der Gesellschaft vertraut war, die sich nun rasant wandelte. Englers Kernthese ist, dass infolge des Übergangs „von einem fremdzwang- zu einem selbststeuerungsdominierten Zivilisationsmuster“ eine zivilisatorische Lücke in den ehemals sozialistischen Gesellschaften existiere.61 Er prognostiziert, dass es zweier oder dreier Generationen bedürfe, ehe sich die Kluft zwischen veränderten Handlungsstrukturen und trägen Handlungsdispositionen schließen könne. Denn wenn der strukturellen Wende keine habituelle folgt, wenn der Umbau der Persönlichkeitsstrukturen mißlingt, dann stehen die neugeschaffenen Institutionen und Verkehrsformen gleichsam nackt da. Gehäuse ohne Geist, Rituale ohne Leben.62

Diese Herausforderung würde noch verkompliziert, weil es für die politische Ausdifferenzierung über den rasch eingeführten Parlamentarismus durch das Fehlen politischer Milieus nur eine geringe gesellschaftliche Entsprechung gebe und dies anfällig mache für die Mobilisierung von Ressentiments und „nationalistischer Wir-Ideale und Wir-Gefühle“.63 Mit seinem Vortrag „Von der Erfolgswissenschaft zur Krisenwissenschaft. Die gesellschaftlichen Transformationsprozesse in Osteuropa und Ostdeutschland als Herausforderung der deutschen Soziologie“ knüpfte der 33 Jahre junge Soziologe Frank Ettrich – das Missverhältnis von Krise und Routine einleitend problematisierend – an den Kern der Fachidentität an: eine Disziplin zu sein, deren Entstehung wesentlich mit den Deutungsnöten angesichts revolutionärer Wandlungsprozesse (Industrialisierung) zusammenfällt. Auch er kritisiert die moder59 Der Soziologe Detlef Pollack, der auf dem Kongress selbst zwei Vorträge zu Sozialstruktur und Mentalität in Ostdeutschland und zur Rolle der evangelischen Kirche hielt, erinnert Englers Vortrag in seinem aktuellen Buch „Das unzufriedene Volk“. Er stellt seine Erlebnisse als Zuhörender in den Kontext einer Veränderungserfahrung als „Ostdeutscher“. Begegnungen an der Schwelle zwischen Vertrautem und Unvertrautem waren selten unproblematisch, auch nicht auf dieser Tagung. „Als Wolfgang Engler […] in Leipzig einen Vortrag hielt und sich dabei der Formulierung bediente, ‚ihre Hoffnungen waren nichts weniger als grenzenlos‘, zischelte es hinter mir: ‚typisch ostdeutsch‘. Man wurde unweigerlich auf die andere Seite gebracht“ (Pollack 2020, S. 168). 60 Zu dieser Unterscheidung vgl. Collins 2003, S. 271. 61 Engler 1992, S. 117. 62 Ebd., S. 120. 63 Ebd., S. 113.

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nisierungstheoretischen Annahmen von Transformationsprozessen, gehe es doch weniger um die Wiederherstellung einer alten Ordnung als um die Verwirklichung eines neuen gesellschaftlichen Ordnungsmusters mit ungewissem Ausgang. Man müsse sich für Phänomene der Regression, Stagnation und Gegenreaktion offenhalten. Wie vor ihm Meyer plädiert er für vergleichende Analysen, um die spezifischen Probleme des Wandels osteuropäischer Gesellschaften und speziell den Sonderfall der Wiedervereinigung herauszuarbeiten. Für eine Heuristik der anstehenden Entwicklungen holt er historisch weit aus und wählt als Fallbeispiel die politische, ökonomische, soziale und kulturelle Reintegration von zwei konträren Typen von Teilgesellschaften – die „Reconstruction“ der USA nach dem Bürgerkrieg 1861–1865; der Prozess also der „Wiedervereinigung“ des militärisch unterlegenen Südens in die Union, das Zusammengehen von zwei Teilgesellschaften ohne ökonomische, rechtliche oder ideologische Gemeinsamkeiten. Die auf den Bürgerkrieg folgende Gründerphase des nordamerikanischen Kapitalismus führte zu einer ökonomischen Abkopplung des Südens. Die Zerstörungen des Krieges und die unterschiedlichen Mentalitäten blockierten eine Modernisierung des Südens, die – so der Mainstream der Literatur – erst durch den Aufstieg einer neuen Mittelklasse forciert worden sei. Gegen diese Theorie der Verdrängung von Klassen und Schichten haben vergleichende Studien gezeigt, dass eine Teilgesellschaft eigener Prägung entstanden sei, also etwas Drittes zwischen Norden und Süden; ein industrieller Paternalismus ehemaliger industriell gewandelter Plantagenbesitzer, die von einer wesentlich rassistisch segmentierten Arbeiterschaft profitierten. Gegen dominierende Annahmen der Modernisierungstheorie, dass erst Kapitalinvestitionen, bessere Infrastruktur und Bildung Modernisierung und Industrialisierung begünstigten, lenkte Ettrich die Aufmerksamkeit auf solche Symbiosen und die dauerhaften Nachwirkungen spezifischer Ausbeutungs- und Herrschaftsstrukturen. Ihm ging es dabei nicht um eine denunziatorische Analogiebildung zwischen Realsozialismus und Sklavenhaltersystem. Die Um- und Zusammenbrüche und die Tatsache, dass im Wandel vom einen zum anderen etwas Drittes entsteht, machen ungelöste Herausforderungen sichtbar: „Reconstruction“ läßt sich nicht lediglich als durch zwei Jahreszahlen abgegrenzte Periode in der Geschichte des Landes begreifen, sie wurde in der Folgezeit mehr und mehr zum Synonym dafür, daß es der dauerhaften (Neu-)Mobilisierung der demokratischen Potentiale des Gemeinwesens bedarf, um den durch die singulären historischen Ereignisse eher gestellten als gelösten Herausforderungen in einem langwierigen Prozeß der demokratischen Selbstkorrektur gerecht zu werden.64 64 Ettrich 1992, S. 142.

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Diese Offenheit der Fragen und Forschungsperspektiven an der Schwelle zwischen Gegenwart und Zukunft sind auch nach 30 Jahren noch spannend zu lesen. Sie haben vor allem heuristischen Wert, weil sie durch Lesarten- und Analogiebildungen von Zukunftsszenarien das Potenzial hatten, mögliche Herausforderungen sichtbar machen zu können; und dies nicht unbedingt im Sinne kontrafaktischer Szenarien, was anders hätte kommen können, wenn Entscheidungen und Ereignisse anders verlaufen wären. Es geht vielmehr um eine Offenheit, die damit rechnet, dass im Übergang des Alten in ein Neues etwas Drittes entsteht – „eine eigentümlich verfasste Teilgesellschaft“.65 In diesem Sinne lesen sich Ettrichs Ausführungen zur Reconstruction auch als eine Analogie: dass die Wiedervereinigung mit dem Transfer von öffentlichen Mitteln, Institutionen und Infrastrukturen nicht abgeschlossen sei, sondern dabei überhaupt Herausforderungen entstünden, die einer demokratischen Selbstkorrektur bedürften. Dafür hatten die Insider*innen aus der DDR ein feines Gespür, aber deren Offenheit wurde durch machtvolle Schließungsprozesse von Forschungsperspektiven im Paradigma der wesentlich modernisierungstheoretisch dominierten Transformationsforschung rasch überholt. Mit der DDR-Soziologie verschwanden diese eigenständigen Positionen und auch die Offenheit. Diese wurde, wie das Fach überhaupt, überlagert von einer Transformationsforschung als Abstandsvermessung einseitiger Anpassungsprozesse, der Frage also, wie viele Unterschiede noch existierten und wie lange noch, wie viel Mauer in den Köpfen bestehe.66 Diese Perspektive hatte etwas Selbstberuhigendes, weil sie den Transformationspfad Ostdeutschlands als „Aufholen“ und „Ankommen“ simplifizieren konnte und alles Querliegende und Abweichende als ein störendes Noch-nicht. Damit blieb aber auch die Frage nach einer spezifischen Teilgesellschaftlichkeit der neuen Bundesländer ungeklärt.67 Warum konnten sich ursprüngliche Offenheit und Sensibilität nicht durchsetzen? Zum einen greift hier wohl etwas, das Randall Collins68 das „Gesetz der kleinen Zahl“ genannt hat. Wissenschaft konzeptualisiert er dabei als einen Aufmerk65 Kollmorgen 2009, S. 166. 66 Im Falle Wolfgang Englers verlagerten sich die eigenständigen Gesellschaftsbeobachtungen Ostdeutschlands in das Feld intellektueller Interventionen in Form von Sachbüchern. 67 Diese Frage kann man ergebnisoffen stellen, ohne damit schon „den Osten“ zu homogenisieren und zu essenzialisieren. Und man kann – was selten geschah – fragen, was für eine Gesellschaft die bundesdeutsche zum Zeitpunkt der Wiedervereinigung eigentlich war: „Ich gewann den Eindruck, dass es sich bei der westdeutschen Gesellschaft um eine engherzige Aufsteigergesellschaft handelte, die ihren wundergleichen wirtschaftlichen Aufschwung noch nicht verkraftet hatte“ (Pollack 2020, S. 169). Zu dieser Frage als einem Problem der soziologischen Theorie vgl. auch Matthäus 2021. 68 Collins 2003.

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samkeitsraum, der – wie auch die Anzahl wichtiger inhaltlicher Positionen und Parteien – begrenzt ist. Die intellektuelle Aufmerksamkeit sei dabei auf wenige (drei bis fünf ) konkurrierende Positionen beschränkt, auf die Bezug genommen wird, und diese Positionen und Aufmerksamkeitszentren waren schon verteilt69 – zumal den Ostsoziolog*innen die materielle Basis fehlte, um sich im Aufmerksamkeitsraum der deutschen Soziologie zu etablieren: eine institutionelle Einbindung, intellektuelle Netzwerkstrukturen und nicht zuletzt symbolisches Kapital. Zudem wurde ihr Insiderstatus als informelle Qualifikation70 und Ressource gerade nicht anerkannt, sondern vielmehr delegitimiert. Auf der Schwelle des Übergangs zwischen beiden Wissenschaftssystemen wurde biographische Betroffenheit nahezu zum Ausschlusskriterium – und dies dürfte für die Soziologie wie auch die Geschichtswissenschaft gleichermaßen gelten. Aus den Insidern wurden Outsider. Hansvolker Ziegler, in den 1990er Jahren auf unterschiedlichen Hierarchiestufen des Bundesforschungsministeriums für die Förderung der Sozialwissenschaften zuständig, hat über diese Prozesse rückblickend berichtet. Die westdeutschen Entscheider – allen voran die von Max Kaase geleitete Arbeitsgruppe des Wissenschaftsrates zur zukünftigen Entwicklung der Soziologie und der Politischen Wissenschaft an ostdeutschen Universitäten – waren sich einig, dass man den Neuaufbau der Hochschule und die Erforschung der Wandlungsprozesse auf keinen Fall den davon Betroffenen überlassen dürfe. Kaase spitzte dies in einem Grußwort des Wissenschaftsrates bei der Eröffnungskonferenz der Kommission für die Erforschung des sozialen und politischen Wandels in den neuen Bundesländern (KSPW) prägnant zu: „Zu vermeiden ist um jeden Preis, dass daraus eine 69 Zudem war auch die Theorielandschaft der bundesrepublikanischen Soziologie in dieser Zeit im Umbruch. Die Dominanz der beiden Großtheorien von Luhmann und Habermas verblasste und eine (begrenzte) Zahl neuer Theorien bestimmte die Debatten- und Forschungslandschaft (der Pragmantismus, die erklärende Soziologie, die Arbeiten Ulrich Becks oder Pierre Bourdieus, der Neo-Institutionalismus) – und beschränkte zugleich den Aufmerksamkeitsraum. Allein der Umbruch in den neuen Ländern bescherte der Modernisierungstheorie eine kurzzeitige Renaissance. Vgl. Moebius 2021. 70 Dieser Begriff ist auf den ersten Blick unüblich und die theoretische Herleitung ungewöhnlich. Er ist angelehnt an Max Webers religionssoziologische Überlegungen zur sozialen Binnenstruktur von Religionen, für die die „Verschiedenheit der religiösen Qualifikationen der Menschen“ (Weber 1980, S. 327) typisch sei. Bei Weber ist der Begriff „Qualifikation“ somit eine Zuschreibungs- und Unterscheidungskategorie innerhalb eines sozialen Feldes, wo nach bestimmten, je nach Religion verschiedenen Kriterien definiert wird, welche Merkmale Individuen für einen bestimmten Status „qualifizieren“ (jenseits von formalen Berufsrollen wie Priester). Solche Zuschreibungen lassen sich (im Unterschied zu einem formalen Status) nicht einfach erwerben, sie begründen aber innerhalb des Relevanzsystems des Feldes einen Unterschied und legitimieren oder – wie in diesem Fall – delegitimieren einen bestimmten Status.

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Betroffenheitsforschung der Betroffenen entsteht“.71 Fragen von Herkunft und subjektive Erfahrungen für die Forschung zu DDR und Ostdeutschland spielen auch heute wieder – wenn auch anders gelagert – eine Rolle. Hier schließt sich der Kreis zum Bochumer Historikertag – beide Ereignisse stehen für Begegnungen auf der Schwelle –, wo in der sozialen Dimension Ein- und Ausschlüsse von Wissenschaftler*innen produziert und in der zeitlichen Dimension Perspektiven von Unabsehbarkeit und Zukunftsoffenheit zugunsten von Beruhigungsgewissheiten vereindeutigt wurden. 3. Bis hierher – Dimensionen von Politisierung in der ostdeutschen Zusammenbruchgesellschaft

Beides – die schwierigen Begegnungen und die fehlende Deutungsoffenheit – blieb nicht ohne Folgen. Möglicherweise verhinderten sie, dass früher sichtbar wurde, was auf der Tagung und mit zeitlicher Verzögerung unter dem Stichwort der „Politisierung der Erinnerung“ verhandelt wurde.72 Was meint „Politisierung der Erinnerung“? Der Begriff Politisierung ist voraussetzungsreich – oder wie der Begriff des Politischen überhaupt besonders vage. Zunächst unterstellt er als Prozessbegriff eine Veränderung, ist verknüpft mit Trendannahmen eines „Mehr“. Er bezeichnet die Markierung von Sachverhalten als Objekte des Politischen und damit als Gegenstand öffentlicher Kontroversen. Das ist – in einem weiten Sinne – nicht zwingend beschränkt auf institutionalisierte Aushandlungsarenen. Dabei spielen Fremd- wie Selbstzuschreibungen gleichermaßen eine Rolle. Noch die harmlosesten Menschenansammlungen von Jugendlichen auf der Straße konnten und wurden von den Sicherheitsorganen in der DDR als „staatsfeindliche Zusammenrottung“ interpretiert und behandelt, so wie private Diskussionsrunden eines Freundeskreises am Küchentisch über die Reformfähigkeit des Sozialismus als höchst politischer Akt interpretiert werden konnten. Im Fall der (kollektiven) Erinnerung an 1989 mutet die Begriffsbildung einer „Politisierung der Erinnerung“ vielleicht zunächst redundant an, weil dies immer auch Teil von Geschichtspolitik ist – also per se politisch. Im Prozess der Erinnerung wird ein historisches Geschehen aus dem kontingenten Ereignisstrom herausgelöst und perspektivisch zur verständlichen, abgeschlossenen Geschichte mit Anfang und Ende angeord-

71 Zit. nach Ziegler 2005, S. 8. 72 Dieses Kapitel enthält Beobachtungen und erste Zwischenbefunde aus unserem Forschungsverbund „Das umstrittene Erbe von 1989“.

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net, eingebunden in übergeordnete Prozesse und sinnhaft aufgeladen.73 Oft wird das Geschehen dabei heroisiert, szenenhaft verdichtet und mythisch imprägniert.74 Dem gehen Kontroversen, Konflikte und machtvolle Setzungen voraus. Die Bezeichnung von 1989 als „Friedliche Revolution“ und die Verdrängung des Begriffs „Wende“ waren lange umstritten und konflikthaft. Die Bezeichnung war heiß umkämpft, dann selbstverständlich und neuerdings wird wieder unbefangen und unbedacht beides verwendet. Im öffentlichen Erinnern, in Geschichtspolitik und der Jubiläumskultur, in Schulbüchern und Gedenkstätten gilt wiederum als gesetzt, 1989 als etwas Abgeschlossenes zu erzählen, mit dem Auftakt der Oktoberdemonstrationen, dem Höhepunkt des Mauerfalls und der Wiedervereinigung als Endpunkt einer Erfolgsgeschichte, in der die Erinnerung an die DDR als Diktatur, aus der man sich befreite, tief eingelassen ist: 1989 als geglückte Selbstbefreiung eines eingesperrten Volkes.75 An dieser Erfolgsgeschichte mögen sich private Erinnerungen an die höchstpersönlichen Erfahrungen mit der Deindustrialisierung nach 1990 brechen, sie können aber latent bleiben als Erfahrungsdifferenz, ohne dass daraus ein manifester, sichtbarer Konflikt wird. Subjektives Erinnern kann aber auch eine politische Dimension bekommen, etwa wenn es darum geht, die DDR-Radsportlegende Täve Schur in die „Hall of Fame“ des Sports aufzunehmen, obwohl er doch immer wieder öffentlich die Existenz eines Staatsdopings in der DDR bestritten und als PDS-Bundestagsabgeordneter gegen das DopingopferHilfe-Gesetz gestimmt hatte. Um den Begriff der Politisierung auf der Ebene von Erinnerungskultur und Geschichtspolitik nicht redundant zu duplizieren – denn was wäre dann eine Politisierung der Geschichtspolitik –, soll er konkretisiert werden in der idealtypischen Unterscheidung von konservatorischen und aktualisierenden Bezugnahmen auf 1989. Konservatorisch meint das lange dominante Narrativ von 1989 als abgeschlossene Erfolgsgeschichte. In ihm wurden zugleich unterschiedliche Aspekte des Politischen der Revolution und der unterschiedlichen Formen der gesellschaftlichen Selbstorganisation neu arrangiert, auf- und abgewertet. Die Erinnerung an die (uneingelösten) Reformforderungen von großen Teilen der Opposition und an die Verhandlungsdemokratie der Runden Tische ist marginalisiert gegenüber dem charismatischen Ereignis der Volksversammlungsdemokratie auf den Straßen des Revolutionsherbstes. Die Erinnerung an den Aufbau der parlamentarischen Demokratie mit der Wiedervereinigung ist retrospektiv überlagert vom wirtschaftlichen 73 Vgl. Rüth 2012. 74 Vgl. Bergem 2014. 75 Zur monumentalischen Erinnerungsgestalt von 1989 und ihren Folgen für nationalpopulistische Mobilisierungen und pädagogische Konsensfiktionen vgl. die Beiträge von Armin Steil und Verena Haug in diesem Band.

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und sozialen Zusammenbruch der 1990er Jahre. In dieser Spielart konservatorischer Bezugnahme bekam 1989 seine lange Zeit dominante „monumentalische Erinnerungsgestalt“.76 Unintendiert enthält diese Erinnerungsgestalt selbst Konstruktionen und Idealisierungen des Politischen – in Form simplifizierender Dichotomien von Recht – Unrecht, Oben – Unten, Volk – herrschende Elite. 3.1 1989 als „Widerstandsnarrativ“

Dagegen artikulierten sich früh aktualisierende Bezugnahmen – die appellativen Erinnerungen an uneingelöste politische Forderungen aus der Zeit von 1989, Parallelisierungen zwischen den historischen Ereignissen und gegenwärtigen gesellschaftlichen Zuständen und schließlich Vereinnahmungen für politische Zwecke etwa in den Wahlkämpfen der AfD. Gemeinsam ist diesen – die Protestgeschichte Ostdeutschlands seit der Wiedervereinigung prägenden – Strategien die Intention einer politischen Mobilisierung.77 Solche Aktualisierungen haben sich unserer Beobachtung nach in den letzten Jahren intensiviert und konturiert in einem – sich gegen die politischen Gegenwartsverhältnisse artikulierenden – Widerstandsnarrativ, das die Wahrnehmung bündelt, einer politischen Elite ausgeliefert zu sein, von ihr beherrscht zu werden, eine Elite, die (mit welchen Mitteln auch immer) zu stürzen sei. Die erinnerungskulturellen Deutungskämpfe um das Erbe von 1989 haben sich auf dieses Narrativ hin zugespitzt und sind spätestens mit dem Aufkommen von PEGIDA sichtbar geworden. Den vorläufigen Höhepunkt bildeten dabei die zahlreichen Analogiebildungen zwischen den Coronavirus-Schutzmaßnahmen und der SED-Diktatur in den Protesten seit 2020 und der nicht mehr nur symbolische Versuch der Querdenken-Bewegung im November 2020, unter dem Motto „Geschichte wiederholen“ über den historisch aufgeladenen Leipziger Innenstadtring zu ziehen.78 Dieses Widerstandsnarrativ hat sich stark von den Akteuren und programmatischen Bezügen auf die DDR-Opposition gelöst und benutzt vor allem die dichotomen Strukturelemente des dominanten Revolutionsnarrativs (Umsturz auf der Straße, Recht – Unrecht, Volk – Elite, Unten – Oben). In diesem ‚ideologisch dünnen‘ Narrativ werden unterschiedlichste und ursprünglich separierte politische Konfliktfelder (Migrationspolitik, Pandemieschutz, Elitenkritik usw.) zu Gegenständen einer gemeinsamen Aufmerksamkeit. Semantisch hat das Widerstandsnarrativ eine Nadelöhrfunktion, denn hinter dem Narrativ 76 Vgl. Steil in diesem Band. 77 Hartmann/Leistner 2019; Leistner/Lux 2021. 78 Vgl. Stach/Hartmann 2020; Leistner/Stach 2021.

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können sich ganz unterschiedliche Gruppen, Intentionen, politische Motivlagen zusammenfinden, die über ein neuentstehendes „Klassifikationsschema“79 des Politischen (lose) integriert sind.80 Die Intensivierung gesellschaftlicher Konflikte, die damit einhergeht, ist aber nicht einfach nur als Politisierung zu deuten. Es ist vielmehr ein Sichtbarwerden von latenten Konflikten von persistenten Differenzen und Divergenzen in der ostdeutschen Gesellschaft, die lange Zeit und wohl auch aufgrund der genannten Verengungen sozialwissenschaftlicher Forschung unverstanden blieben. 3.2 Von den Montagsdemonstrationen und Hooligans – Straßenpolitische Dimension

Die Frage von Sichtbarkeit und Latenz wird deutlicher mit Blick auf die unterschiedlichen Dimensionen des Widerstandsnarrativs. Es hat in besonderem Maße eine straßenpolitische Dimension. Im ostdeutschen Widerstandsnarrativ ist die Straße als politische Arena eigener Qualität symbolisch besonders aufgeladen. Dies ist in der monumentalen Erinnerungsgestalt an 1989 wesentlich angelegt. Zwar gab es in den letzten Jahrzehnten immer auch Forschungen zu Straßenprotesten in Ostdeutschland – ohne dabei aber die besondere Qualität und Zentralität des Politischen sichtbar zu machen. Das liegt unter anderem auch daran, dass die vermessende Analyse der Angleichung von Differenzen der politischen Kultur in den alten und neuen Bundesländern das Politische auf Einstellungen zur Institutionenordnung verengt. Das unterschlägt aber die besondere Bedeutung der Straße als politische Arena, die die kollektive Artikulation von Interessen außerhalb eines vorgesehenen Instanzenweges und mit körperlichen Mitteln ermöglicht. Bedeutsam sind Unmittelbarkeit und Körperlichkeit; sind Eigen-Sinn und die

79 Vgl. Pettenkofer 2014, S. 9. 80 Damit stellt sich auch die Frage, ob hier neue politische Milieus entstehen, mit geteilten Deutungsmustern, die sich in den Krisen und Folgekrisen der letzten Jahre (Kritik an der Migrationspolitik und der Pandemiepolitik) stabilisieren und reproduzieren. Für Ostdeutschland wurde die Existenz solcher verdichteter Großformationen im Sinne „sozialmoralischer Milieus“ (Lepsius 1966) in der Literatur bestritten, was auch daran liegt, dass der Begriff voraussetzungsreich angelegt ist und von der Existenz verbandlicher Großorganisationen, einer konfessionellen Prägekraft und Nähe in der kulturellen Orientierung und wirtschaftlichen Lage ausgeht, deren Existenz in den fünf neuen Bundesländern nicht vorauszusetzen ist. Damit ist aber noch nichts gesagt über die Existenz gesellschaftlicher Gruppen, die über ähnliche Weltsichten und politische Deutungsschemata integriert sind (vgl. den Begriff des „kulturellen Milieus“ aus der Soziologie sozialer Probleme, Nedelmann 1986).

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Eigenmacht alltäglicher Konflikte um gesellschaftliche Ordnungsvorstellungen.81 PEGIDA, seine Ableger und die vielen nachfolgenden Demonstrationen der extremen Rechten schließen dabei dezidiert an die geschichtspolitisch aufgewertete Form der (Volks-)Versammlungsdemokratie an. Dies korrespondiert mit der in Ostdeutschland stärker ausgeprägten „Neigung, mit ‚der Politik‘ unmittelbar (‚immediat‘) zu kommunizieren, verbunden mit der Erwartung, eigene Anliegen direkt und ungefiltert durchzusetzen“.82 Dies ist eine spannende Perspektive, wenn man sie verlängert und auf 1989 und die ostdeutsche Protestgeschichte bezieht. Vor 1989 war jede größere Menschenansammlung, die keine Warteschlange vor einem HO-Geschäft (Handelsorganisation) war, in einer gerade auch auf der Straße repressiv durchgesetzten Herrschaftsordnung höchst suspekt. Und das große Selbstermächtigungserlebnis – und dessen charismatische Qualität – war es dann im Herbst 1989, sich dieser Arena zu bemächtigen, daraus Mut zu schöpfen, zu merken: Wir sind viele, und dies mit Forderungen zu füllen und darüber den Systemsturz (mit-)bewirkt zu haben. Die frühen 1990er Jahre wiederum waren in Ostdeutschland geprägt von der Schwäche und dem Vakuum ordnungsdurchsetzender Instanzen auf der Straße, was wesentlich rechtsextreme Landnahme und deren alltagsweltlichen Dominanzen begünstigt hat – bis in noch so kleine Alltagsbegegnungen und Mikrosituationen hinein.83 Dabei spielten Bezugnahmen auf 1989 zunächst eine untergeordnete Rolle gegenüber wettkämpfenden, mann-männlichen Identitätsangeboten. Bereits Anfang der 2000er Jahre wurde dies sichtbar in den subkulturellen Rangordnungskämpfen ostdeutscher Hooligans. Selbstbewusst nahmen sie auf 1989 und eine ‚ostdeutsche Identität‘ Bezug, indem sie eine gewaltförmige Überlegenheit gegenüber ‚dem Westen‘ behaupteten. Politisch relevant wurde dies nicht zuletzt dadurch, dass Teile dieser subkulturellen Ermannungsbewegung (als Ordner*innen und/oder Organisator*innen) in der ab 2014 entstehenden PEGIDA-Bewegung und ihren lokal verzweigten Ablegern aufgingen. Mit ihren Gewaltkompetenzen wurden sie zum Bestandteil der straßenpolitischen Drohkulisse während der Montagsspaziergänge in Dresden und dabei auch der zunächst offenkundige Widerspruch zwischen gewaltgeprägter Subkultur und der Friedlichen Revolution zu einem paradoxen Nebeneinander aufgelöst. Das Deutungsmuster einer ostdeutschen „Avantgarde des Widerstands“ wandte sich gegen Eliten, verband sich symbolisch mit den Protestformen des Revolutionsherbstes und wurde so politisch mobilisiert. Das Beispiel der Hooligan81 Lindenberger 1995. 82 Holtmann 2019, S. 67. 83 Diese (Gewalt-)Erfahrungen – gerade von Jugendlichen – sind in den letzten Jahren ein starkes Motiv in populärkulturellen Repräsentationen geworden (vgl. den Beitrag von Brückner in diesem Band).

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szene zeigt, wie situativ auf den regelmäßigen Straßendemonstrationen zwischen zuvor separierten Bevölkerungsgruppen und politischen Milieus Wahrnehmungen von Gemeinsamkeit hergestellt wurden, die sich zunehmend stabilisierten und zu unerwarteten Allianzen führten. Interessanterweise wurde dabei auch die von Wolfgang Engler prognostizierte „zivilisatorische Lücke“, in diesem Fall die Anwendung politischer Gewalt, in diesen Mobilisierungsprozessen positiv aufgewertet, etwa wenn Tatjana Festerling aus dem Organisationsteam von PEGIDA 2015 stolz berichtete, dass es in „Dresden weniger Berührungsängste gibt, wie hier jetzt zum Beispiel im Westen, zu den bösen Hooligans, hier hat man ja eigentlich immer Vorurteile“.84 Damit richtet sie sich gegen eine Werteordnung, in der den Menschen ein „moralisierend-ideologischer Anstand“ aufgezwungen werde, eine Gewalthemmung, die wehrlos mache und die in Ostdeutschland viel weniger ausgeprägt sei. Diese unterschiedlichen Entwicklungsstränge kulminierten in der schon erwähnten Querdenken-Großdemonstration 2020 in Leipzig, auf der zehntausende Demonstrierende unter dem Motto „Geschichte wiederholen“ über den Leipziger Ring zogen, nachdem ihnen militante Rechtsextreme und Hooligans den Weg durch Polizeiketten freigeprügelt hatten.85 Das zeigt: Die Allianzen zwischen unterschiedlichen politischen Milieus und die herausgehobene Bedeutung militanter, gewaltausübender Gruppen sind schon länger etabliert; und das Selbstbewusstsein der Menschenmenge, dass ihnen trotz tausendfachen Verstoßes gegen die Versammlungsauflagen nichts passieren würde, hat seine Vorgeschichte in der langen Geschichte straßenpolitischer Dominanz der extremen Rechten in Ostdeutschland. 3.3 Innen und Außen – symbolische Dimension

Aktualisierende Bezüge auf 1989 haben zudem eine symbolische Dimension und sind verbunden mit spezifischen Kollektivkonstruktionen, die durch starke Innen-Außen-, Oben-Unten-, Wir-Die-Dualismen strukturiert sind. Das geht über „ostdeutsch“ als etablierte Differenzkategorie hinaus – auch in den Debatten um ostdeutsche Identität ging und geht es um Imagined Communitys und letztlich um eine komplexitätsreduzierende Chiffre für beobachtbare Differenzen wie Einkommensunterschiede, regionale Disparitäten, Chancenungleichheiten, Peripherisierungsprozesse. Das Widerstandsnarrativ schließt an solche etablierten Diffe84 Zit. nach Erhard et al. 2019, S. 57f. 85 Vgl. Stach/Hartmann 2020.

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renzkategorien von ost-/westdeutsch an – ist aber sehr viel expliziter verknüpft mit konkurrierenden Vorstellungen legitimer Kollektivität und politischer Ordnung und hat Elemente eines exzeptionalistischen Identitätsangebots.86 Im Sommer 2018 verfassten etwa Unternehmer*innen und Vereinsfunk­ tionär*innen aus Bautzen und Umgebung die „Oberlausitzer Erklärung der Bürgerinitiative ‚Die ’89er‘“. In der Erklärung wandten sie sich scharf gegen die kritische Berichterstattung über rechtsextreme Vorfälle in ihrer Region: Wir fordern das Ende der negativen Darstellung unserer Heimat Oberlausitz. […] Eine neue Art der Denunziation und Verleumdung ist dafür mitverantwortlich. Menschen aus der bürgerlichen Mitte unsere Gesellschaft werden von einer kleinen Clique angegriffen, diffamiert und verleumdet, weil sie die Zustände in unserem Lande hinterfragen und kritisieren. […] Es darf nicht sein, dass Menschen aufgrund ihrer politischen Überzeugung diskriminiert werden und zu deren gesellschaftlichem Ausschluss aufgerufen wird. Wohin dies führt, musste unser Volk bereits zweimal leidvoll erfahren. Wir sehen unsere Pflicht darin, dieser Entwicklung entgegenzutreten, um der seit 1989 überwunden geglaubten Ideologisierung Einhalt zu gebieten.87

Einer lokalistischen Logik folgend wird hier unterschieden zwischen einem „Innen“ – der althergebrachten Ordnung des Zusammenlebens unter den Alteingesessenen – und einem „Außen“ – „Ortsfremden“, die rechtsextreme Vorfälle thematisieren: Politiker*innen, etablierte Medien, zugezogene Westdeutsche. Deren kritische Thematisierung rechtsextremer Entwicklungen wird mit den Repressionen der SED-Diktatur gleichgesetzt und die eigene Haltung zur Kollektivzuschreibung „die ’89er“ zugespitzt. Diese Kollektivkonstruktion delegitimiert die anderen Konfliktbeteiligten (Außen), normalisiert die politischen Entwicklungen (Rechtsextremismus) in der lokalen Gemeinschaft („bürgerliche Mitte“) und privilegiert die eigene Sprecherposition (historisch abgeleitete Pflicht). In der Konstruktion der „’89er“ als exklusiver Erfahrungsgemeinschaft vollzieht sich eine Immunisierung gegen Kritik von „außen“ und von „oben“, die im Grunde einer Gesprächsverweigerung und einer Abschottung gegenüber einer kritischen Öffentlichkeit gleichkommt. Das Widerstandsnarrativ ist somit Bestandteil eines größeren gesellschaftlichen Konflikts um legitime Kollektivität (plural oder ethnisch homogen) und konkur86 Vgl. Leistner/Böcker 2021. 87 Oberlausitzer Erklärung der Bürgerinitiative »die ’89er«. Für den Erhalt der Meinungsfreiheit. Online verfügbar unter https://www.denkste-mit.de/images/download/oberlausitzer-erklarung_korrektur.pdf. Gesehen am 15.01.2021.

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rierende Vorstellungen politischer Ordnung (Modi der Interessensvertretung). Das Narrativ ist auch verknüpft mit individuellen Weltsichten und allgemeinen Ordnungsprinzipien, die konkurrierende Vorstellungen von Gemeinwohl strukturieren – sogenannten Rechtfertigungsordnungen.88 Sie erfüllen eine Vergemeinschaftungs- und Legitimationsfunktion und sind häufig eingelassen in die Refugien der „weitgehend homogenen Lebenswelten periphererer Sozialräume (ländliche Räume, Klein- und Mittelstädte)“.89 Von diesen sozialen Welten der ‚kleinen Leute‘ ausgehend, sind für das Narrativ weitreichende Generalisierungen typisch. Die Erfahrungswelten in bestimmten ostdeutschen Regionen werden zu einem ethnisch und interessenshomogenen Gesellschaftsbild generalisiert. Die Kritik an Deindustrialisierung, Peripherisierung, Migrationspolitik oder öffentlicher Berichterstattung wird zu einem Konflikt zwischen ‚Ost‘ und ‚West‘, ‚Unten‘ und ‚Oben‘ (politisch, nicht ökonomisch) verallgemeinert. Auffällig ist, dass dabei eine Umkehr der Statushierarchie vollzogen wird. Ostdeutsche Lebenswelten werden als eine Sphäre der ‚wirklichen Welt‘ idealisiert, die Politiker*innen, Westdeutschen oder Medienvertreter*innen verschlossen bleibe und aus der Selbstbewusstsein, ein Erkenntnisvorsprung und eine historisch aufgeladene Legitimität bezogen werden. Vor diesem Hintergrund erscheint die Weltsicht innerhalb des Widerstandsnarrativs identisch mit und verräumlicht in Ostdeutschland. ‚Der Osten‘ erscheint als deckungsgleich mit der sozialen Welt der ‚kleinen Leute‘, die gegen die vermeintliche Herrschaft von Eliten aufbegehren. Die mehrsinnigen impliziten oder expliziten Idealisierungen, dass man ‚hier‘ solidarischer, ethnisch homogener, historisch ‚erfahrener‘, revolutionärer und näher an den Realitäten des ‚wirklichen Lebens‘ sei, stehen dabei in Kontrast zu Opfernarrativen (der Selbstwahrnehmung als ‚Bürger zweiter Klasse‘ sowie der Fremdzuschreibung als wirtschaftlich abgehängt und politisch reaktionär), mit denen Debatten um eine vermeintliche ostdeutsche Identität häufig grundiert sind. Teil des Konfliktes um die symbolische Ordnung der Gesellschaft sind zudem holistische Ordnungskonstruktionen, die der Vielstimmigkeit einer vermeintlichen ‚Parteiendiktatur‘ ein Kollektivsubjekt entgegenstellen im Sinne einer homogenen Ganzheit ohne Binnendifferenzierungen, die den allgemeinen Willen repräsentieren.90 Politisierung ließe sich somit verstehen als konflikthaftes Sichtbarwerden dieser stärker weltbildhaften Kollektivkonstruktion, die eine – selbstbewusst auftretende – Variante kollektiver Identitätsangebote entlang der Differenz ost-/westdeutsch darstellt.

88 Boltanski/Thévenot 2007. 89 Steil/Palloks 2020, S. 322. 90 Vgl. den Beitrag von Greta Hartmann in diesem Band.

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3.4 Latente Konflikte

Warum ist das aber so spät erst sichtbar geworden? Seit der Wiedervereinigung entstanden mit großem Aufwand und sehr regelmäßig vorrangig quantifizierende Studien zu politischen Einstellungen und zur politischen Kultur in Ost und West. Auch hier dominierten aber die Annahmen und Perspektivverengungen eines Integrationsparadigmas, das vor allem Angleichungen vermaß und gleichzeitig persistente Differenzen beschrieb und diese häufig als ein Übergangsphänomen interpretierte. Unterschiede im Wahlverhalten zwischen Ost und West wurden und werden dann regelmäßig als Ausdruck von Unzufriedenheit und als Nachwirkung des sozialen und wirtschaftlichen Umbruchs in den 1990er Jahren gedeutet.91 Im Kern bestätigt die fast unüberschaubare Zahl an Studien den Befund der (Fort-)Existenz zweier „politischer Kulturen“ in Ost- und Westdeutschland. Diese Studien zeigten gewisse Diskrepanzen zwischen der Unterstützung der (abstrakten) Idee Demokratie bzw. demokratischen Prinzipien und im Gegenzug eine ausgeprägte Kritik an politischen Realitäten und den Repräsentanten und Institutionen der repräsentativen Demokratie.92 Häufig wurden die Fragen zu den Einstellungen zur parlamentarischen Demokratie kombiniert mit der Abfrage von Einstellungen zur DDR. Im Grunde war dies eine Operationalisierung von Annahmen der Transformationsforschung, die Ost-West-Vergleiche mit Vorhernachher-Vergleichen kombinierte und auch fragte, ob sich die Bindung an das untergegangene politische System abschwäche und die an das neue System wachse bzw. sich angleiche. Schon auf dem Soziologentag 1991 in Leipzig formulierte der westdeutsche Sozialstrukturforscher Peter A. Berger methodische Einwände gegen solche Vorher-nachher-Vergleiche: „In historischen Umbruchssituationen läuft auch die Soziologie Gefahr, die Konstanz ihrer Begrifflichkeit mit der Konstanz ihres Gegenstands zu verwechseln“.93 Bezogen auf die Sozialstrukturanalyse mahnte er, dass westliche Fremdklassifikationen nicht einfach auf die ostdeutsche Gesellschaft übertragbar seien, weil sie unsichtbar machten, was die Nennung einer bestimmten sozialen Lage beispielsweise in einer Fragebogenerhebung für die Befragten eigentlich bedeute (etwa der Status als Angestellter), weil die Positionsstruktur der untergangenen Gesellschaft und deren Selbstverortung weder vergleich- noch einfach übertragbar seien. Das war implizit ein Plädoyer für eine qualitative, sinnverstehende und rekonstruktive Erforschung der Wandlungsprozesse, die die Bedeutung von bestimmten Selbstverortungen rekonstruiert und 91 Vgl. die Meta-Datenanalysen in Holtmann 2019. 92 Vgl. Gabriel 2002. 93 Berger 1992, S. 189.

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nicht schon vorab festlegt.94 Die Gefahren einer solchen methodologischen Selffulfilling Prophecy gerade in den Studien zur politischen Kultur in Ost und West sind offenkundig. Hier entstand seit 1990 eine Vielzahl von Arbeiten, die direkt nach den Demokratievorstellungen in den neuen Ländern fragten und deduktiv demokratietheoretische Modelle anwendeten, vor deren Hintergrund quantitative Einstellungsuntersuchungen reinterpretiert und unter Umständen missinterpretiert wurden. Der Begriff der Demokratie ist aber historisch außerordentlich unterschiedlich semantisiert worden95 und ein polysemer Begriff, der verschiedene, perspektivenund aneignungsabhängige Bedeutungen hat. Die empirischen Befunde zur Zustimmung zur (abstrakten) Idee der Demokratie ist nur dann nicht abstrakt, wenn man auch fragt: Zustimmung zu welcher Demokratie? Zunächst forderten nicht zuletzt die heterogenen Erfahrungen in der Zeit des Systemumsturzes 1989/1990 zu solchen Fragen heraus. Was geschah in diesen Wochen und Monaten der demokratischen Selbstorganisation und was bedeutete dies für die Bilder, die über Politik und Demokratie entstanden? Ist der Sturz politischer Repräsentanten und Machthaber, legitimiert durch die „Eigenvollmacht“ des auf der Straße angeblich versammelten und repräsentierten Volkswillens, der eigentliche Kern von Demokratie: unvermittelt, direkt, wirksam? Oder sind es die Formen basisdemokratischer Selbstorganisation in den verschiedenen Institutionen und Bereichen der untergehenden DDR-Gesellschaft? Die lokalen und zentralen Runden Tische oder die Dialogveranstaltungen mit SED-Vertretern in Kirchen oder Theatersälen? Und wie werden diese erinnert: als moderierte, misstrauische Begegnung mit den Mächtigen, auf der eingeübt wurde, einander als Gegner*innen, aber nicht als Feind zu begegnen? Oder werden sie erinnert als Tribunal, bei dem Anwesende beim Anblick der angesichts des Volkszornes immer blasser werdenden SEDFunktionäre einander zuraunten: „Na ob die heute noch heimkommen?“ Und wie schrieb sich die erfahrungsgesättigte Machtscheu vieler Oppositioneller fort, die Parteien mieden, weil sie Korruption fürchteten? In welche Bilder von Demokratie übersetzte sich das rauschhafte Entmachtungserlebnis auf der Straße, das Ideal von Authentizität und von Basisdemokratie, die melancholisch-einseitige Erinnerung, dass die DDR-Gesellschaft eine war, in der alle an einem Strang zogen? Diese Fragen danach, wie die heterogenen historischen Erfahrungen Bilder von Politik prägen, lassen sich auch in die andere Richtung stellen. Wie prägen und verändern gegenwärtige Erfahrungen und gegenwärtige Bilder von Politik die Erinnerung an die damaligen Ereignisse? Das Spektrum unterschiedlicher Erinne94 Vgl. Schmidt-Lux et al. 2016, S. 126–130. 95 Für die Weimarer Republik vgl. Lobenstein-Reichmann 2014.

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rungen an ein einziges und wegweisendes lokales Ereignis lässt sich gut abbilden über das Spektrum von Interviewausschnitten aus Gruppendiskussionen, die wir im Rahmen unseres Forschungsprojektes „Das umstrittene Erbe von 1989“ in einer ostdeutschen Mittelstadt führten und in denen von allen Interviewten auf eine große Demonstration im Herbst 1989 Bezug genommen wurde. Da sind zum einen die schon erwähnten Erinnerungen an den Volkszorn gegenüber den SED-Funktionären aus Stadt und Kreis, die sich rechtfertigen mussten, dass sie lokale Interessen nicht vertreten hatten – ein Anspruch, den die Interviewten in ihrer Kritik an aktuellen politischen Eliten verlängerten, die den Volkswillen nicht repräsentierten. Da ist die Gruppe ehemaliger Oppositioneller (auf der Demonstration anwesend), die 1989 Wahlbeobachtungen organisierten und heute finden, dass Demokratie mühsam erkämpft worden und deshalb verteidigenswert sei; die erinnern, wie stark die Demonstration auf der Kippe stand (vor allem auch von Seiten der Demonstrierenden), in Gewalt umzuschlagen: „Also klar, demokratisch war’s nicht. Wir wollten ja alle dann eigentlich schon das Rathaus stürmen.“96 Da ist der ehemalige hauptamtliche Mitarbeiter der SED-Kreisleitung, der einen langen Weg hinter sich hat von der Ablehnung der Wiedervereinigung über das Werben für Demokratie unter ehemaligen SED-Mitgliedern, die es noch in den 1990er Jahren bereuten, 1989 nicht zu den Waffen gegriffen zu haben, bis hin zu seinem aktuellen Engagement am lokalen Runden Tisch für Demokratie, die er durch Rechtsextreme bedroht sieht. Die Demonstration erinnert er (am Rande beobachtend) als Bedrohung: „[D]a kamen welche in die Nähe und haben gesagt: Dort stehen sie. Die müssen wir aufhängen“.97 Da ist der lokale AfD-Landtagsabgeordnete (nicht auf der Demonstration anwesend), der ebenfalls die Gewaltbereitschaft der Demonstranten erinnert. Er spricht respektvoll von der „ersten Reihe“ der Demonstrierenden: Arbeiter aus den Betrieben und „stämmige Bierauslieferer“ und sagt dann in meine Richtung: „[B]ei Revolutionen stehen nie die Akademiker in der ersten Reihe“.98 Da sind jene, die zu den späteren Demonstrationen stießen, als sie nicht mehr gefährlich waren, und jene, die sich zurückzogen, als rechte Parolen zu dominieren begannen und Vertragsarbeiter*innen rassistisch beschimpft worden: „[D]a wollte ich nicht mehr dazu gehören“.99 So unterschiedlich wie der erinnernde Zugriff auf die Ereignisse ist in der untersuchten Kleinstadt auch der symbolische Bezug auf das vor einigen Jahren dort errichtete „Wendedenkmal“. Es ist Anlaufpunkt für die offiziellen Erinnerungsveranstaltungen von 96 97 98 99

GD 1, Z. 1693–1694. GD 1, Z. 1013–1014. Gesprächsprotokoll, Z. 128–129. GD 1, Z. 2491.

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Stadt oder Kirchgemeinde oder für Kunstaktionen des Runden Tisches für Demokratie zum Jahrestag des Grundgesetzes. Es ist der Ort, an dem eine lokale, sich in der Tradition von 1989 sehende Bürgerinitiative der ehemaligen Bürgerrechtlerin Vera Lengsfeld für ihren Widerstand in der DDR und heute einen Preis verliehen hat – begründet vor allem wegen Letzterem: „[S]eit einigen Jahren kritisiert Vera Lengsfeld öffentlich die Politik der Bundeskanzlerin und setzt sich im Rahmen ihrer Tätigkeit als freischaffende Autorin für Meinungs- und Pressefreiheit ein und warnt vor einer Unterwanderung des Rechtsstaates und nimmt dafür auch persönliche Nachteile und Anfeindungen in Kauf“. Das Denkmal ist der Ort, wo eine rechtsextreme Kleinstpartei seit Monaten jeden Montag Versammlungen durchführt, und der zentrale Anlaufpunkt für die Proteste von Gegner*innen der Coronavirus-Maßnahmen. Innerhalb dieses innerostdeutschen Konfliktes um die Hegemonie von Ordnungsvorstellungen ist der Optimismus ungleich verteilt. Die kollektive Erfahrung des Zusammenbruchs eines politischen Systems 1989 hat für die einen etwas Ermutigendes – für all jene, die an besagtem Denkmal heute für einen neuerlichen Systemumsturz mobilisieren. Für die anderen, die kleine Schar der Gegendemonstrierenden hat sie – auch wenn einige der Befragten aktiv an der Friedlichen Revolution mitwirkten – etwas Beunruhigendes: „Die Gesellschaft ist nicht stabil. Und da haben wir nicht das Grundvertrauen, was zum Beispiel im Westen das Grundvertrauen ist“.100 3.5 Eigensinnige Demokratieverständnisse als etwas Drittes

Mit diesen Fragen und Beobachtungen im Hinterkopf lohnt ein erneuter Blick auf die Differenzbefunde ausgewählter Studien. Auffällig sind dabei markante Unterschiede in der Bedeutung, die Formen einer „umfassenden und direkten Bürgerbeteiligung“ von den Befragten beigemessen werden (von 56 Prozent der Westdeutschen versus 72 Prozent der Ostdeutschen favorisiert). Interpretiert wurden diese Befunde als qua politischer Sozialisation ausgeprägte, sich aber wohl abschwächende Orientierung vieler Ostdeutscher am normativen Demokratiemodell des „demokratischen Sozialismus“101 und also als Fortleben einer „DDR-spezifischen politischen Kultur“.102 Diese wissenschaftlichen Deutungen verstellten aber zum Teil den Blick darauf, dass sich in den Befunden eigensinnige Aneignungen und Vorstellungen von demokratischen Entscheidungsfindungsprozessen im 100 GD 1, Z. 494f. 101 Vgl. Fuchs 1997, S. 97. 102 Westle 2004, S. 266.

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Osten Deutschlands ausdrücken (können); dass im Übergang von dem einen in das andere etwas Drittes entstehen kann. Unterschiede in den Demokratievorstellungen waren vordergründig sichtbar, ohne dass sie hinreichend verstanden und durchdrungen wurden. In diesem Sinne wirkte das Aufkommen von PEGIDA und seinen Ablegern katalysatorisch, indem bisher latente eigensinnige Demokratievorstellungen eine bewegungsförmige Gestalt bekamen. Und der Verdacht liegt nahe, dass sich diese aus einem mythologisierenden Bezug auf 1989 speisen. So überraschen die regionalen Kontinuitäten der Mobilisierungen in den Protesten gegen die Migrationspolitik der Bundesregierung seit 2015: „Auffällig ist dabei eine räumliche Kongruenz mit denjenigen Städten, in denen auch bei der Wende 1989/90 der Schwerpunkt, insbesondere der frühen sozialen Bewegung, lag (Plauen, Leipzig und Dresden)“.103 Der Dresdner Politikwissenschaftler Hans Vorländer deutet dies als Nachwirkungen des ostdeutschen Transformationsprozesses und präzisiert (wertend), dass 1989 ein vulgärdemokratisches Verständnis politischer Entscheidungsprozesse entstanden sei. Dieses leugne „die Komplexität, Zeitintensität und Kompromissbedürftigkeit politischer Meinungsbildungs- und Entscheidungsprozesse und sieht die Remedur im plebiszitären Stil der Unmittelbarkeit, der Durchsetzung des ‚unverfälschten‘ Volkswillens“.104 Diese räumlichen Kongruenzen zwischen den Protestmobilisierungen ähneln den Mobilisierungen bei den Wahlen, wo Zusammenhänge durchschimmern zwischen dem persistenten Nord-Süd-Gefälle etwa bei den Rechtsverschiebungen der letzten Landtagswahlen in den ostdeutschen Bundesländern und den Wahlergebnissen zur ersten frei gewählten Volkskammer, die den Weg in die Deutsche Einheit beschleunigten. Damit sind keine historischen Kausalitäten unterstellt, aber doch mindestens Fragen nach den langen Linien und Prägungen regionaler politischer Kulturen; etwa die Frage, was es bedeutet, dass in bestimmten Regionen Brandenburgs die Menschen überhaupt erst mit der Wiedervereinigung Erfahrungen von Demokratie machen konnten, wo Generationen vorher mehr oder weniger nahtlos die durch Familiensolidarität und Klientelverhältnisse geprägte Wahlkultur und die politische Dominanz ostelbischer Junker (in deren Gebiet es selbst in der Weimarer Republik keine kommunalen Interessenvertretungen gab), den Nationalsozialismus und anschließend die SED-Diktatur erlebten. Die Frage nach dem Dritten geht aber über unterschiedliche Spielarten von Demokratieferne, -distanz oder -kritik hinaus. Denn die genannten Entwicklungen verweisen auf ein untergründiges Erbe von 1989: die Beobachtung, dass es in Ostdeutschland alltagsweltlich konkurrierende Vorstellungen von Demokratie gibt, die auf die Erfahrungen in der 103 Berger et al. 2016, S. 129. 104 Vorländer 2016, S. 108.

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DDR und auf die Ereignisse von 1989 bezogen sind. Aus der methodologischen Perspektive begrifflicher Polysemie ist das nichts exklusiv „Ostdeutsches“ – individuelle Ausdeutungen des Politischen dürften überall variantenreich von lehrbuchhafter Institutionen- und Verfahrenskunde abweichen. Spezifisch ist wohl aber der symbolische Referenzpunkt auf 1989, der nicht zwingend, aber naheliegend Deutungsangebote bietet. Das mag sich in diffusen Vorstellungen von der politischen Organisation des Zusammenlebens ausdrücken oder aber in ausgefeilten holistischen Konstruktionen politischer Ordnung als etwas Drittes zwischen SEDDiktatur und bundesrepublikanischer Demokratie. Ein letztes Beispiel für solche auf 1989 bezogenen holistischen Ordnungskonstruktionen liefert ein ehemaliger durch Untergrundveröffentlichungen zur Umweltsituation in der DDR bekannt gewordener Bürgerrechtler. Schon in seiner Amtszeit als Landesbeauftragter für die Stasi-Unterlagen präsentierte er im Jahr 2011 bemerkenswerte Ausdeutungen dessen, was man auch unter dem „Dritten Weg“ verstehen kann. Im Revolutionsherbst war dies gemeinhin die Chiffre für eine Reform und eine Demokratisierung der DDR als Alternative zwischen SEDDiktatur und westlichem Kapitalismus.105 Diese für Teile der ehemaligen DDROpposition dezidiert „linke“ Selbstverortung deutet er um. Irrtümlich werde das Nachdenken über einen „Dritten Weg“ rückblickend als „prosozialistisch“ diffamiert, weil es eigentlich um Alternativen zwischen Demokratie und Diktatur gegangen sei. Seine nachträgliche Neuakzentuierung ist eine folgenreiche Semantisierung. „Dritter Weg“ meint bei ihm – in einem sehr gegenwärtigen Sinne – aus dem Dualismus von Demokratie und Diktatur auszubrechen und in Richtung einer politischen Ordnung zu denken, die berücksichtigt, „dass die Allgemeininteressen etwas völlig anderes sind als die Summe der Einzelinteressen“.106 In einem aktuellen Artikel bezeichnet er dann die öffentliche Kritik an der Querdenken-Bewegung und vor allem an der zunehmenden Dominanz extrem rechter und verschwörungsideologischer Strömungen als eine – mit dem Nationalsozialismus vergleichbare – „eliminatorische Praxis“; als Störung eines gesellschaftlichen Gleichgewichtes, für das man im Herbst 1989 auf die Straßen gegangen sei. Nun bekommt der 89er-Ruf „Wir sind das Volk“ eine neue Aktualisierung. Es ist Zeit, daran zu erinnern, dass wir „ein Volk“ in dem Sinne sind, was die Soziologen „Sozialkörper“ nennen: Ein Organismus, dessen Organe gerade deswegen zusammenwirken, weil sie verschieden sind. 1990 hatten wir ein Demokratieverständnis, das davon aus-

105 Vgl. Geisel 2005. 106 Beleites 2011, S. 75.

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ging, dass zu einer demokratischen Gesellschaft immer auch die jeweils anderen mit dazugehören.107

Mit dem Bild von der Gesellschaft als Organismus sind denn auch folgenreiche semantische Weichenstellungen vollzogen für die Gegenwartskritik. Neben der besagten „eliminatorischen Praxis“ seien vor allem das „leistungslose Einkommen und Spekulationsgeschäfte ein strukturelles Parasitentum […], das das Funktionieren der Gesellschaft als Gesamtorganismus untergräbt“ – so geschrieben 2013 von dem besagten Bürgerrechtler in einer Publikation einer Landeszentrale für Politische Bildung. Politisierung meint in diesem Sinne mehr als nur das Sichtbarwerden von Konflikten um lange dominierende Deutungen von 1989 oder um das Erbe von 1989; der Begriff zielt auf eine noch unverstandene Tiefendimension: dass in diesen Konflikten konkurrierende Vorstellungen von Demokratie und Kollektivität sichtbar werden, sich konturieren, sich gegeneinander positionieren. Dies wirft die alten Fragen des Soziologentages von 1991 neu auf: Was geriet in der Konzentration auf die Erforschung von Prozessen des Auf- und Nachholens aus dem Blick? Was holt uns gegenwärtig an Entwicklungen ein und inwiefern werden dabei auch Konturen einer „eigentümlichen Teilgesellschaftlichkeit“108 sichtbar? 4. Wie weiter? Leitbegriffe eines Paradigmenwechsels

Die Tagung und die hier versammelten Beiträge zu den Umbrüchen von 1989/1990 fallen selbst in eine Zeit von Umbrüchen sowohl in der Gesellschaft als auch in den mit den Wandlungsprozessen Ostdeutschlands befassten Disziplinen. Der vorliegende Band trifft auf eine sich wandelnde Forschungs- und Debattenlandschaft zu DDR und ostdeutscher Transformationsgesellschaft. Inhaltlich, aber auch methodisch steht über den Entwicklungen die offene Frage des „Wie weiter?“. Das meint zum einen eine gewisse Unabsehbarkeit der gegenwärtigen gesellschaftlichen Veränderungsprozesse und zum anderen auch die Forschung zu diesen Entwicklungen selbst. Zur besseren Einordnung der Beiträge folgen daher einige idealtypisch zugespitzte Beobachtungen zur Forschungslandschaft, die ich sehr holzschnittartig entlang von drei zeitlich versetzt präsent werdenden Paradigmen unterscheiden. Sensibilisiert durch die Offenheit von Forschungsperspektiven, die Anfang der 1990er Jahre innerhalb der Soziologie aufblitzte, plädiere ich 107 Beleites 2021, S. 8. 108 Kollmorgen 2009, S. 166.

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für einen Paradigmenwechsel, wie er sich in den Geschichtswissenschaften schon abzuzeichnen beginnt. Dafür werden Leitbegriffe unterschieden, die solche Perspektiverweiterungen anleiten können. Implizit oder explizit sind die versammelten Beiträge Teil dieser Veränderungen innerhalb ihrer Disziplinen wie innerhalb der öffentlichen Debatten um „(Ost)Deutschlands Weg in die Zukunft seit 1989“.109 Die Erforschung der Entwicklungen vor und nach 1989/1990 war und ist wesentlich verknüpft mit dominanten Geschichtsbildern und Narrativen. Das Diktaturparadigma dominierte lange Zeit die zeitgeschichtliche Forschung, mit pfadabhängigen Weichenstellungen hinsichtlich disziplinärer Verortungen: DDR-Forschung wurde zunächst betrieben als Oppositions-, Herrschafts-, (vergleichende) Diktaturgeschichte bzw. als Totalitarismusforschung. Kultur- und alltagsgeschichtliche Zugänge blieben zunächst umstritten, mehr noch erfahrungsgeschichtliche Zugänge. Es konkurrierten dabei in der Geschichtswissenschaft eher strukturorientierte Perspektiven auf das Herrschaftssystem der DDR mit erfahrungsorientierten Perspektiven auf alltägliche Lebenswelten. In diesem Debattenkontext steht der Beitrag des Historikers Ilko-Sascha Kowalczuk – einer der erwähnten ehemaligen „Unabhängigen“. Im Hintergrund seines Textes schwelen noch erkennbar die 2019 scharf ausgetragenen – in der Rigorosität die erwähnten Muster der Konfliktkommunikation der frühen 1990er wiederholenden – öffentlichen Auseinandersetzungen mit dem Soziologen Detlef Pollack um die legitimen Erben der Friedlichen Revolution. Waren es die Oppositionellen oder vor allem die Bevölkerung mit ihren machtvollen Massenprotesten (Pollack), die ausschlaggebend eine systemsprengende Macht entfalteten?110 Ausgehend von dieser Kontroverse skizziert Kowalczuk Herausforderungen und Schieflagen einer Zeitgeschichtsschreibung, die öffentlich intervenieren und sich zunehmend öffnen 109 So auch der Titel der zweibändigen von Ilko-Sascha Kowalczuk u.a. für die Bundeszentrale für politische Bildung herausgegeben Bestandsaufnahme der Entwicklungen der letzten 30 Jahre (Kowalczuk et al. 2021a; 2021b). 110 Pollacks aktuelles, die umstrittenen Thesen vertiefendes Buch „Das unzufriedene Volk“ (2020) entfaltet die Frage nach den legitimen Erben vor dem Hintergrund aktueller Politisierungsprozesse. Er argumentiert vorwiegend auf der Ebene von Kollektivkonstruktionen – das Zerr- und Selbstbild des unter die Räder gekommenen „Jammerossis“ sei besonders anfällig für rechtspopulistische Mobilisierungen. Dem setzt er eine eigene Kollektivkonstruktion entgegen. Er kritisiert, dass sich die ostdeutsche Bevölkerung selbst unterschätze. Statt zu jammern berge die Erinnerung an 1989 auch einen Revolutionsstolz und die Einsicht, dass die ostdeutsche Bevölkerung ein starker politischer Akteur gewesen sei. Seine darauf bezogene Argumentation, die Rolle der oppositionellen Akteure ab- und die der Bevölkerung aufzuwerten, hatte scharfe Reaktionen hervorgerufen. Dokumentiert auf der Webseite der Robert-HavemannGesellschaft. Online verfügbar unter https://www.havemann-gesellschaft.de/themen-dossiers/ streit-um-die-revolution-von-1989/. Gesehen am 18.06.2021.

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müsse für die Historisierung auch der Umbrüche nach 1989/1990. In Forschung und Vergangenheitsaufarbeitung fand das Diktaturparadigma eine gewisse Entsprechung in der Dominanz des Revolutionsgedächtnisses. Das meint jene Erinnerungsgestalt an 1989/1990, die auf den Charakter der DDR als Diktatur hin vereindeutigt ist, die ihr nahezu zwangsläufiges Ende in der erfolgreichen Wiedervereinigung findet. Eine Reihe von Beiträgen beschäftigt sich mit der Präsenz und dem Wandel dieser Dominanz in den Bereichen von Politik, Vermittlungsarbeit und Populärkultur. In Arenen des Politischen wird das Revolutionsnarrativ aufgegriffen und transformiert innerhalb der extremen Rechten (siehe die Beiträge von Greta Hartmann und Armin Steil). In der politisch-historischen Bildung ist es nach wie vor dominierender Zielhorizont historischer Vermittlung, der aber doppelt herausgefordert wird: zum einen von der Pluralität lebensweltlichen Erinnerns an die Zeit vor und nach 1989 und zum anderen von starken moralischen Aufladungen, die mit der pädagogischen Auseinandersetzung (zwangsläufig) einhergehen (siehe die Beiträge von Christina Schwarz und Verena Haug). Dem Feld der Vermittlungsarbeit zu 1989 kommt dabei eine paradoxale Scharnierfunktion zu. Denn einerseits scheint es in der jüngeren Vergangenheit maßgeblich die monumentalische Erinnerungsgestalt der Friedlichen Revolution mitgeformt und andererseits in der Fixierung auf das charismatische Moment von Systemsturz und Entmachtung das schon erwähnte Widerstandsnarrativ – unbeabsichtigt – mitbegünstigt zu haben. Andererseits deuten sich in diesem Feld professionelle Generationenumbrüche und Professionalisierungsprozesse an, die zu einer reflexiven Erneuerung des Handlungsfeldes führen können. Innerhalb der Populärkultur wiederum – in Roman, Film und Musik – sind solche Vereindeutigungen einer Vielzahl von Ambivalenzerzählungen gewichen, die das Bild auf die Zeit seit 1989 kubistisch gebrochen perspektivieren (siehe die Beiträge von Andreas Kötzing, Anna Lux und Jonas Brückner). In Spielfilmen, Romanen, Comics oder Rap-Musik als Erinnerungsmedien und Orten der Auseinandersetzung mit geschichtskulturellen und -politischen Deutungen und Narrativen werden Vor- und Nachgeschichte des Umbruchs ebenso einbezogen wie die Heterogenität von Erfahrungen, abhängig von Alter, sozialer und regionaler Herkunft, Geschlecht, Erfahrungen im Transformationsprozess. Überhaupt zeigt ein Großteil der Beiträge auch, wie stark die Bezüge auf 1989 von den Erfahrungen und Entwicklungen der Zeit nach 1989/1990 mitbestimmt sind. Die Erforschung dieser Phase war lange Zeit vorwiegend auf sozialwissenschaftliche Studien beschränkt. In diesen dominierten das schon erwähnte Integrationsparadigma und die Perspektive der „nachholenden Modernisierung“. Beide Perspektiven – Integrations- und das Diktaturparadigma – erzeugten Leerstellen: in der ersten Variante war Forschung zum Teil verknüpft mit einer Nivellierung

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subjektiver, eigensinniger Erinnerungen an die DDR. In der zweiten war sie verbunden mit einer Nivellierung der Wucht des Transformationsprozesses: der rasanten Deindustrialisierung und den damit einhergehenden biographischen Umbrüchen und Entsicherungen. Ein Mangel besteht zudem an zäsurübergreifenden Ansätzen, die beide Perspektiven zeitlich und disziplinär verbinden – die historische DDR-Forschung mit der sozialwissenschaftlichen Transformationsforschung. In diese Richtung plädiert Carsta Langner in ihrem Beitrag, der im Sinne einer „langen Geschichte der Wende“111 nach Kontinuität und Wandel von Mentalitäten und Krisendeutungen in der DDR und Ostdeutschland fragt. Gegen das Diktatur- und Integrationsparadigma hat sich immer schon und zuletzt vehementer ein Repräsentanzparadigma formiert. Kritisiert werden hegemoniale Deutungen („westdeutscher Blick“) und die Unsichtbarkeit der Transformationsfolgen, die zuweilen als „Kolonialisierung“ skandalisiert wird. Etwas zugespitzt formuliert geht es in diesem recht jungen Diskurs um Repräsentation (gegen die Dominanz westdeutscher Eliten und Perspektiven), um Sichtbarkeit (ostdeutscher Abwertungserfahrungen) und um Identität. In diesen Diskursen tauchen unter umgekehrten Vorzeichen auch Fragen von Herkunft wieder auf; sei es in den politischen Forderungen nach einer Ostquote oder in der Kritik, dass es nicht länger Westdeutschen überlassen werde dürfe, über Entwicklungen in Ostdeutschland zu urteilen (und zu forschen). Häufig handelt es sich um die Wiederkehr simplifizierender Ost-West-Differenzen, die historische Zerrbilder produziert und den Erfahrungsraum der ostdeutschen Nachwendegesellschaft zu einem kollektiven Erleiden homogenisiert. Damit entstehen kniffelige Diskurskonstellationen – gerade auch für Wissenschaftler*innen ostdeutscher Herkunft, die sich an der Schwelle zwischen gesamtdeutschen und innerostdeutschen Debatten bewegen. Auf der einen Seite besteht (immer noch) ein ausgeprägtes und immer noch maßstabsetzendes Nichtwissen über die DDR und die existenzielle und langhaltende Wucht ihres Zusammenbruchs, und auf der anderen Seite gibt es dagegen oder zunehmend viel Nichtwissenwollen über die eigene Verantwortung im Transformationsprozess und über die Vielfalt ostdeutscher Erfahrungen, die sich nicht auf einen Opferstatus reduzieren lassen. Was es bedeutet(e), sich auf der Schwelle zwischen der Welt des Ostens und des Westens zu bewegen – darüber gibt der Beitrag von Dorothee Wierling eindrücklich Auskunft. Es handelt sich dabei um die biographischen Erfahrungen einer der bekanntesten Vertreterinnen des erfahrungsgeschichtlichen Ansatzes – und sie schreibt darüber, wie es war, „mittendrin“ zu sein: als westdeutsche Historikerin in Leipzig, als die DDR zusammenbrach und das Wissenschaftssystem (und alles andere) neu aufgebaut wurden. 111 Brückweh et al. 2020.

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Eine pointierte Einordnung und Kritik des Repräsentanzparadigmas formuliert die Historikerin Ute Frevert. In ihrem Beitrag beobachtet sie eine Konjunktur von Begriffen wie „Anschluss“, „Landnahme“, „Kolonialisierung“ und „Exil“ in Ostdeutschland, die spezifisch mit einem identitätsstiftenden Narrativ der Demütigung verbunden sei. Dies verdecke zum einen die eigene Verantwortung in der Zeit vor und nach 1989 und bilde zudem einen Resonanzboden für rechtspopulistische Mobilisierungen, der in den neuen Bundesländern besonders groß sei. Gerade für die Frage nach den Ursachen für diese Mobilisierungserfolge liefert der vorliegende Band eine Vielzahl differenzierender Erklärungen; und damit zugleich auch Fingerzeige, worin denn das Eigentümliche der ostdeutschen Teilgesellschaftlichkeit bestehen könnte. Strukturell charakterisiert Karl-Siegbert Rehberg die neuen Bundesländer als „überlagerte Gesellschaft“, die ressentimentgeladene Unterlegenheitsgefühle bestärkt habe. In der Verschränkung von fortdauernden kulturellen Prägungen – wie der Distanz gegenüber politischen Eliten und der expertokratischen Entpolitisierung des Politischen in den letzten Jahren – sieht er einen besonderen Resonanzraum für rechtspopulistische Mobilisierungen. Gegen den simplifizierenden Zusammenhang zwischen enttäuschten Erwartungen und politischen Radikalisierungen plädiert Langner dafür, aktuelle gesellschaftliche Krisenwahrnehmungen vor dem Horizont von Krisendeutungen und Erwartungen an gesellschaftliche Veränderungen in der späten DDR zu interpretieren. Damit nimmt sie Mentalitäten in den Blick, aber auch institutionell geprägte Eigenheiten der politischen Kultur; so etwa in der Frage, inwieweit eigensinnige Demokratievorstellungen heute auch genährt wurden durch die Eingabepraxis in der DDR, die ein Staatsverständnis der Unmittelbarkeit von Effekten eines individualisierten und individualisierenden Beschwerdewesens begünstigte. Die Beiträge umkreisen damit grundlegendere Fragen nach der Konzeptualisierung politischer Kultur – dabei ist in vielen Studien häufig unklar, in welchem Verhältnis Struktur und Kultur (meist im Sinne von Mentalität) stehen oder präziser gesagt, inwiefern sich Strukturbruch bzw. -wandel und Mentalitäten112 wechselseitig beeinflussen. Konsens herrscht in der recht allgemeinen Beobachtung, dass in den neuen Bundesländern eine Kluft zwischen beidem bestehe.113 Ein Konzept, das präzisere Hinweise auf das Verhältnis von Struktur und Kultur liefert, ist das

112 Dabei steht die Häufigkeit der Verwendung des Mentalitätsbegriffs in der Literatur in einem gewissen Missverhältnis zu dessen recht dürrer konzeptioneller Ausarbeitung. 113 „Auch noch dreißig Jahre nach der Wende fehlt es der ostdeutschen Gesellschaft letztlich an einem robusten sozialmoralischen und sozialstrukturellen Unterbau, der Toleranz und ein emphatisches Demokratieverständnis tragen könnte“ (Mau 2019, S. 248).

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der „Weltsicht“.114 Armin Steil zeigt in seinem Beitrag, wie in und durch einen lokalen Konflikt (um einen Moscheebau) sich eine lokalistische Weltsicht zu einer Weltsicht des Ethnonationalismus hin wandelt. Dabei spielten schon vergleichsweise früh der Bezug auf 1989 und die Formel „Wir sind das Volk“ eine Rolle, den Steil im Konzept der retrospektiven Identifikation bündelt. Welche Resonanzen und welche Funktion solche Deutungsmuster der retrospektiven Identifikation für alltagsweltliche Politikverständnisse haben, macht der Beitrag von Greta Hartmann deutlich. Mit dem Konzept der Weltsichten kann Steil (exemplarisch) zeigen, wie die Entstehung und der Wandel kultureller Orientierungen und geteilter Deutungsmuster verknüpft sind mit der spezifischen Konfliktstruktur der Gesellschaft. Mit den genannten Beiträgen rücken innerostdeutsche Konflikte stärker in den Blick gegenüber Ungleichheitsverhältnissen einer überschichteten115 oder überlagerten (Rehberg) Teilgesellschaft. Während diese makrostrukturellen Asymmetrien implizit Ost-West-Verhältnisse beschreiben, richtet die Konfliktperspektive den Blick stärker auf innerostdeutsche Auseinandersetzungen um die Hegemonie von Ordnungsvorstellungen. Eindrücklich macht dies der Beitrag des Soziologen David Begrich sichtbar. Der Konflikt um die Aneignung von 1989 durch verschiedene politische Strömungen erscheint bei ihm als offen und ungewiss. Die Resonanzen und Erfolge der extremen Rechten, die Ostdeutschland zu ihrem Sehnsuchtsort gemacht haben, erklärt er mit den (unverstandenen) Besonderheiten des ostdeutschen Erfahrungsraumes: eine mehrdimensionale Distanz zur politischen Kultur der Bundesrepublik, die sich eher verstärkt hat, und eine tiefe Skepsis gegen die Stabilitätsversprechen des Westens; eine Skepsis, die sich zunehmend in ein Selbstbewusstsein verkehrt, dass, wer einmal ein politisches System gestürzt hat, dies auch wieder tun kann. Zugespitzt könnte man sagen: Die ostdeutsche Gesellschaft ist nicht nur sozialstrukturell frakturiert, sondern in starkem Maße kulturell fraktioniert. Diese Fraktionierungen werden in den politischen Arenen von Straßen und Parlamenten konflikthaft ausgetragen, sie polarisieren und führen in den Krisen- und darauf

114 Ein anderes, zwischen Soziologie und Geschichtswissenschaft vermittelndes Konzept ist das Begriffspaar von Erfahrung und Erwartung (Koselleck 1989). Es ermöglicht, die Transformationsgeschichte der ostdeutschen Zusammenbruchsgesellschaft zu historisieren und ‚Zusammenbruch‘ als Bruch auch in der Zeiterfahrung von Menschen zu konkretisieren. Die Geschichte der ostdeutschen Zusammenbruchsgesellschaft erscheint dann (auch) als lange Geschichte verlorener Hoffnungen und heterogener Enttäuschungsaufschichtungen (vgl. dazu Lux/Leistner 2021). 115 Mau 2019.

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aufbauenden Folgenkrisen116 zu immer weitreichenderen Generalisierungs- und Radikalisierungsstufen in den Deutungen der Gegenwart. Kulturelle Fraktionierungen zeigen sich aber auch – und ganz anders – in der Populärkultur, als fein und feinst ausschattierte Ambivalenzerzählungen über etwas, das man kaum als „den Osten“ bezeichnen kann. „Der Osten“ ist eine handlungsleitende Konstruktionsleistung, die sozialwissenschaftliche Annahme der zügigen Transformierbarkeit der DDR-Gesellschaft ist eine andere. Die Auseinandersetzung mit solchen Konstruktionen spielten wie gezeigt auch schon beim Leipziger Soziologentag eine Rolle. Dabei sind Mythen eine Sonderform handlungslegitimierender Konstruktionen, die formelhaft den Prozess der Wiedervereinigung bis heute begleiteten. „Chaos“ war 1990 die Chiffre für einen allein durch einen unverzüglichen Beitritt der fünf neu gegründeten Bundesländer zur Bundesrepublik abzuwendenden Massenexodus und Zusammenbruch der staatlichen Strukturen. „Kolonialisierung“ wiederum avancierte rasch (und als Stichwort schon 1991 auf dem Leipziger Kongress fallend) zur nachträglichen Mythologisierung der wirtschaftlichen Transformation, der Rolle der Treuhand etwa oder der Dominanz westdeutscher Eliten117 – eine problematische Analogiebildung, die unsichtbar macht, wie prekär und gefährlich die Umbruchszeit gerade für ehemalige Vertragsarbeiter*innen war und wie wenig sie Teil der kollektiven Erinnerung an 1989 sind (dazu der Beitrag von Claudia Pawlowitsch und Nick Wetschel). Eine andere Sonderform neben Mythen sind sogenannte Konsensfiktionen. Der Soziologe Alois Hahn118 hat diesen Begriff im Rahmen der Gruppen- bzw. Paar-

116 Im Begriffspaar Krise und Folgekrise drückt sich aus, dass Krisenerfahrungen und Krisendeutungen kumulieren können. In einem solchen Falle werden sie kulturell nicht als Singularität gerahmt, sondern als miteinander zusammenhängende Sequenzialität aufeinander folgender und sinnhaft aufeinander bezogener Ereignisse. Aus einer solchen Rahmung erscheinen der Transformationsschock in Ostdeutschland, die einschneidenden Arbeitsmarktreformen, die Finanzkrise von 2008/2009, die Migrationsbewegungen 2015 und die Coronavirus-Pandemie nicht als zufällige Abfolge unterschiedlicher Krisen, sondern können gedeutet werden als strukturell vergleichbare Erfahrung, dass einem ein vermeintlich von Eliten forcierter radikal erfahrener Wandel widerfährt. So interpretiert Oliver Kuhn die Finanzkrise als eine Krise des Alltagswissens, die initial zu einer Verbreitung von Verschwörungstheorien beigetragen habe (vgl. Kuhn 2014). Im Sinne des Begriffs der Folgekrise wurden damals abweichende Deutungsmuster etabliert und popularisiert, die generalisierend und radikalisierend eingingen in die Deutungen der nachfolgenden Krisen 2015 und 2020. 117 Vgl. Wiesenthal 2019. 118 Hahn 1983.

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soziologie entwickelt.119 Paarbeziehungen würden sich wesentlich über Konsensfiktionen stabilisieren, Konstruktionen also in Bezug auf Gemeinsames, Selbstverständliches, Unhinterfragtes, vorgeblich geteilt Erinnertes. Dabei ist das (vor-) letzte Stichwort benannt, das dem sich vollziehenden und an- und ausstehenden Paradigmenwechsel der Forschungen zu Ostdeutschland Kontur geben soll. Behandeln die Beiträge doch Entwicklungen, die Selbstverständliches, Unterstelltes, Vorausgesetztes infrage stellen und mit Konsensfiktionen brechen: dass politische Systeme stabil verfasst und von unabsehbarer Dauer sind und die disruptiven biographischen Erfahrungen ein subjektives Schicksal, das das Kollektive nicht berührt (David Begrich). Und dass dieses politische System – die wiedervereinigte BRD – nach der Überwindung von gleich zwei Diktaturen geläutert ist und demokratisch und dass die Demokratie, wenn überhaupt, nur vom Rande her bedroht wird (Verena Haug). Dass es vor allem die Treuhand war, die das Volkseigentum der alten DDR vernichtete und nicht gleichermaßen ein widerstandsloses Sichenteignen-Lassen, weil das Volk vergaß, was ihm einst gehörte (Dominik Intelmann). Dass man kollektives Erinnern einer gefährlichen Trivialisierung preisgibt, wenn es Teil der Populärkultur wird (Jonas Brückner, Andreas Kötzing, Anna Lux). Der vorliegende Band fächert die unter dem Stichwort „Politisierung“ behandelten Entwicklungen vielschichtig und mal pointiert, mal vorsichtig auf. Dabei geht es nicht darum, die an vielen Stellen noch teils unverstandenen und teils wenig sicht119 Der Begriff überzeugt fachlich und nicht etwa, weil er aus der Paarsoziologie kommt. Das sei eigens erwähnt, gerade weil das Bild der Heirat für die Wiedervereinigung von Ost- und Westdeutschland vielstrapaziert und steter Begleiter der Jahrestage ist. War es eine Liebesheirat, eine arrangierte Ehe, fragt die SuperIllu-Kolumnistin und DDR-Sängerin Kirsten Kühnert im Jahr 2015. Deutschland feierte „Silberhochzeit“ und Kühnert attestierte den beiden ungleichen Partnern, dass die einen „sich damals vor der ersten Berührung scheuten“, während die anderen „gleich ihr Herz verschenkten“. Der Weg zur paartherapeutischen Politikberatung ist dann nicht mehr weit und den entsprechenden Ratschlag überlässt Kühnert ihrem Ex-Partner, dem DDR-Moderator Wolfgang Lippert: „Wir haben vergessen zu schmusen, bevor wir uns vereinigt haben.“ So gut, so abstrakt. Die Rückblicke an den Jahrestagen 2019/2020 sind da weniger versöhnlich. Lieferte Ilko-Sascha Kowalczuk 2009 noch eine umfangreiche wie detaillierte Studie zur Revolution von 1989 (Kowalczuk 2009), folgte zehn Jahre später dann eine kritische Abrechnung mit der Wiedervereinigung, die er als „keine Ehe unter Gleichen“ charakterisiert (Kowalczuk 2019). So schräg und simplifizierend die Rede von der Wiedervereinigung als Ehe auch sein mag, sie irritierte früh qua Regierungshandeln fixierte Konsensfiktionen, dass die deutsche Einheit ein Erfolgs- und Endpunkt einer Emanzipationsgeschichte gewesen sei – mithin die schon erwähnte Liebesheirat. Gleichzeitig hat sich die Metapher erkennbar abgeschliffen, sie wurde in den letzten Jahren kaum noch und seltener auch als Krisendiagnose verwendet – distanzierter, wenngleich nicht minder emotional ist von „Kolonialisierung“ oder „Übernahme“ die Rede.

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baren Entwicklungen auf einen Begriff zu bringen oder auf eine Erzählung hin zu reduzieren. Vielmehr kann man von den Fachkongressen an der Schwelle in eine ungewisse Zukunft wiederentdecken, wie offen und tastend Fragen an die Zukunft wie an die Vergangenheit gestellt werden können. In der Geschichtswissenschaft hat eine solche Neuorientierung schon begonnen – etwa unter dem Stichwort „Differenzierung ist die neue Meistererzählung“.120 Für die Soziologie ließe sich formulieren: Eine methodisch kontrollierte Verkomplizierung der Forschungen zu Ostdeutschland und ein Bruch mit etablierten Deutungsgewissenheiten stehen an. Ein erster Schritt dahin ist die empirische Neugier, die Barbara Thériault mit ihrer Wiederentdeckung der Gattung des soziologischen Feuilletons exemplarisch vorführt. Angesprochen ist damit eine methodische Haltung. Gesellschaft aus dem Alltag heraus zu beobachten, ausschnittweise, von unten, nicht wertend, sich von soziologischen Schreib- und Denkkonventionen frei machend, den eigenen Blick weitend. Am Beispiel der Feuilletons geht es dabei um die Analyse von Fragmenten einer Wirklichkeit, die nur unzureichend entlang der Differenz Ost und West beschrieben und verstanden ist. Ein anderer, wichtiger Schritt ist die Wiederentdeckung dessen, was der amerikanische Soziologe Charles Wright Mills „Sociological Imagination“121 nannte; eine Vorstellungskraft, die – und das ließe sich fachgeschichtlich von den Denkbewegungen auf dem Soziologentag in Leipzig lernen – nach der Eigenart der asymmetrisch wiedervereinigten Gesellschaft Deutschlands und ihrer Teilgesellschaften, ihrer Lage und ihrem historischen Idiom fragt. 5. Literatur Backert, Wolfram, Ditmar Brock und Götz Lechner (1994): Soziologie in der Wende. In: Soziologische Revue 17 (2), S. 156–163. Beleites, Michael (2011): Die Zukunftsfragen nicht aus dem Blick verlieren. In: Horch und Guck 71 (1), S. 70–75. Beleites, Michael (2013): Wir haben gelernt. Vortrag auf der Tagung „Sachsen 2030 – Quo vadis? Wir machen uns Sorgen“, Manuskript. Beleites, Michael (2021): Schluss mit der Kontaktschuld. In: Sächsische Zeitung vom 04.02.2021. Bergem, Wolfgang (2014): Narrative Formen in Geschichtspolitik und Erinnerungskultur. 120 Brückweh et al. 2020, S. 293. Historiographische Perspektivverschiebungen verbinden sich zudem mit dem „Jahrbuch Deutsche Einheit“ oder unserem BMBF-Schwesterverbund „Diktaturerfahrung und Transformation. Biographische Verarbeitungen und gesellschaftliche Repräsentationen in Ostdeutschland seit den 1970er Jahren“ der Universitäten Erfurt und Jena. 121 Mills 1973.

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Expertokratisch-rationale und empörungsgesteuert-autoritäre Entpolitisierung als Zeitgeist Szenen aus einem Transformationsprozess1 Karl-Siegbert Rehberg

In der Diktatur gaben wir uns der Vorstellung hin, daß selbst die Farben der Blätter an den Bäumen eine andere sein würde, sollte diese Regierung einst nicht mehr existieren. (György Konrád)

1. Das Erbe der Friedlichen Revolution als Modell für den Kampf gegen autoritäre Herrschaft?

Die Frage nach dem „Erbe“ der Friedlichen Revolution fordert Antworten heraus, die zuerst mit dem unerwarteten Zusammenbruch der sowjetischen Hegemonie in vielen Ländern Europas, sodann mehr noch mit dem „Wunder“ der deutschen Wiedervereinigung verbunden sind. Unvergesslich bleibt, dass beharrliche Kritik und Formen des gewaltfreien Widerstandes schließlich zu der – außer mit militärischen Mitteln nicht mehr zu vermeidenden – Auflösung dieser autoritären Ordnung geführt haben. Das war eine Ereigniskette, die auch für andere bedrückende Formen der Herrschaft zum Muster werden könnte – allerdings nie ohne gewisse neue Möglichkeiten eröffnende Rahmenbedingungen. Ein solches „Erbe“ würde nicht nur innerdeutsche Deutungen betreffen, sondern könnte sich als lehrreich auch für andere Fälle geteilter Nationen erweisen, besonders in Korea, wo es im südlichen Staat ein großes Interesse an den Umbrü1

Sehr großen Dank sage ich für die Mitarbeit an meinem Vortragsmanuskript Martin Siebert und für die Unterstützung bei der hier vorliegenden Ausarbeitung Carolin Thiele und Bettina Haßkamp-Böhmer sowie Alexander Leistner und Monika Wohlrab-Sahr für ihre sorgfältigen Korrekturen. Zum Motto: György Konrad 1992, S. 151.

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Expertokratisch-rationale und empörungsgesteuert-autoritäre Entpolitisierung

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chen in Deutschland als einem ebenfalls lange geteilten Land gibt. Dort erörtert man, was zu lernen sei von dieser, für alle, die es miterlebt haben, kaum fassbaren Implosion des Staatssozialismus. Dabei sind die Voraussetzungen für eine Vereinigung mit Nordkorea in allem anders als im geteilten Deutschland. In keiner Weise gibt es dort die relative Durchlässigkeit der Grenze, Kontaktmöglichkeiten für Familien in den beiden Staaten und vor allem nicht – was weltgeschichtlich ohnehin einmalig war – eine durch das Fernsehen (selbst im Dresdner „Tal der Ahnungslosen“) ermöglichte Dauerpräsenz des westdeutschen politischen, sportlichen, Konsum-, Kultur- und Unterhaltungslebens. Zwar gab es auch zwischen den beiden Koreas immer wieder rituelle Versuche einer Annäherung zwischen Nord und Süd, aber auf beiden Seiten auch Hardliner, die kleine Schritte der Annäherung zu verhindern wussten. Jedoch kann durch einen stetigen „Wandel durch Annäherung“ (wie der Leitbegriff der politischen Strategie von Willy Brandt und Egon Bahr lautete), also durch oftmals nur schwer erkaufte minimale Formen der Verbindung, eine Vereinigung der getrennten Länder allein nicht erzwungen werden. Wenn es aber in der jeweiligen Großmachtkonstellation zu einer Veränderung der geopolitischen Interessen oder zu einem politischen Systemwechsel käme, welche die Chance für eine, wie auch immer ausgestaltete, Wiedervereinigung auch dieser beiden ostasiatischen Staaten denkbar machte, dann würden all diese kleinen Schritte und Beziehungsformen (auch des kulturellen Austausches), wie begrenzt sie auch sein mögen, ein Fundament für eine nationale Vereinigung sein können.2 Auch daran zu erinnern, gehört zum Erbe der Friedlichen Revolution. Wenn es also ein „Erbe“ des Freiheitskampfes in allen Ostblockländern gegeben hat, so ist dies doch auch ein Beispiel dafür, dass autoritäre Regime letztlich schwach sind (man denke auch an das Ende der faschistischen Herrschaftsformen in Spanien und Portugal oder an die versuchte und teilweise gelungene Selbstbefreiung der Ukraine) – aber man kennt nicht die Stunde des Untergangs der repressiven Mächte. 2. Wiedervereinigung als Auslöschung einer verwirklichten politischen Utopie?

Was als „Erbe“ bezeichnet wird – darunter auch gesellschaftliche Rahmenbedingungen des Lebens, die sich aufgelöst haben, ohne dass deren Berechtigung sämtlich infrage zu stellen wäre – bezieht sich vor allem auf das, worauf die „gelernten“ DDR-Bürgerinnen und -Bürger stolz sein mögen und woran man nach der 2

Vgl. Rehberg 1996.

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Wiedervereinigung teilweise hätte anknüpfen können. Und zum verdrängten Erbe mag auch gehören, dass – allerdings durch einen zeitlich sehr begrenzten Möglichkeitshorizont mitbestimmt – alle 1990 in der DDR diskutierten Reformansätze, wie sie an den Runden Tischen angedacht wurden, schnell hinfällig wurden. Die Revolution fraß in diesem Fall nicht ihre Kinder, aber die jungen Bürgerbewegungen wurden doch schnell an die Seite gerückt. Anlässlich jeweiliger Jubiläums- und Gedächtnisfeiern zum Zusammenbruch des Staatssozialismus, in Erinnerung an die Selbstbefreiung der DDR-Bevölkerung, an die Öffnung, am Ende sogar den Fall der Mauer (der in vielen Sprachen zum Synonym für die Implosion des gesamten Sowjetsystems und seiner Hegemonie geworden ist), in Rückbesinnung auf den Runden Tisch, die ersten freien Volkskammerwahlen und schließlich die Wiedervereinigung Deutschlands häufen sich die Retrospektiven. Immer noch lässt nicht gleichgültig, was man wieder und wieder sieht: Das sind vor allem die Bilder von jenem entscheidenden 9. Oktober 1989 in Leipzig, aber auch von den Protesten anlässlich des 40. Jahrestages der DDR samt dem peinlich danebengehenden Empfang Michail Sergejewitsch Gorbatschows durch die gerontokratische Staatsspitze in Ost-Berlin. Das alles bewirkte das schließliche Ende der zwanghaften DDR-Selbstabschließung. Immer neu prägt sich die Flucht von ca. 25.000 DDR-Bürgerinnen und -Bürgern ein, die nach der regierungsamtlichen Durchlöcherung der ungarisch-österreichischen Grenze im September 1989 in die BRD kamen. Berührend bleiben die Botschaftsbesetzungen, vor allem die folgenreichste in Prag, und am Ende sogar das nun selbst zum (allerdings einsamen) Botschaftsflüchtling gewordene Ehepaar Honecker in der Vertretung Chiles in Moskau. Wenn man in den gegenseitigen Stereotypisierungen gerne davon spricht, dass die neuen Bundesländer eine Gesellschaft „ohne 1968“ seien, so muss man mit demselben Recht feststellen, dass die „alte Bundesrepublik“ eine Gesellschaft ohne ein „1989“ war – es allerdings auch nicht benötigte. Man sieht, wie das Sinnmaterial unterschiedlichste Formen des Gedächtnisses speist – des persönlichen und familialen, des kulturell beglaubigten und stilisierten Erinnerns und aller möglichen Formen eines Wissens, das auch trivialisiert werden kann. Dabei spielen auch konkrete eigene Erlebnisse eine wichtige Rolle, die mit der Familie, aber auch mit Gruppen, die ein ähnliches Schicksal hatten, geteilt wurden und die an der Verfestigung von Bejahungen, Umdeutungen oder auch Enttäuschungen mitwirken. Manches „Erbe“ wird erst jetzt empfunden und generell gilt hier auch, was den Zeit-Journalisten Christoph Dieckmann3 annehmen ließ, dass es sich im Osten um Menschen handele, „die lieber posthum ihren schmuddeligen Staat verklären, als dass sie ihr Leben wie Knüppelholz der Ge3

Dieckmann 1993, S. 130.

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schichte verfeuern“ – wobei Ersteres kaum zu beobachten ist, denn nur wenige wollen den „Spitzbart“ (Walter Ulbricht) oder „Erich“ (Honecker) wiederhaben, anders als das in der lange noch nachklingenden Strophe zum Ausdruck kam: „Wir wollen unsern alten Kaiser Wilhelm wiederhaben“, oder dem Gerede darüber, dass „Adolf“ (Hitler) von allen Verbrechen nichts gewusst habe oder dass man damals (als ganz Europa und besonders auch das eigene Land radikal zerstört wurden) als Frau wenigstens unbesorgt alleine in den Wald habe gehen können (wieso eigentlich?). Aber die Rechtfertigung der eigenen Biographie ist in solchen radikalen Veränderungen des Lebens stets zu beobachten. Aus alledem bildet sich wieder eine weitere Schicht des Gedächtnisses, die mit den offiziellen Bildern von einem „Erbe“ der Vergangenheit durchaus nicht übereinstimmen muss. Zum Erbe könnte durchaus auch Belastendes gehören wie etwa eine lange Eingewöhnung diktatorischer bzw. autoritärer Rahmenbedingungen des Lebens von 1933 bis 1989. Der von den Nazis ins dänische Exil gezwungene, hellsichtige Soziologe Theodor Geiger4 hat in den 1930er Jahren treffend formuliert, Ideologie sei nur „ein Kleid, das man schnell wechseln könne, Mentalität hingegen ist eine Haut“. 3. „Wende“ und Transformationsprozess in Ostdeutschland – Erlebnisse und retrospektive Deutungen

Wenn man über das „Erbe“ der Friedlichen Revolution nachdenkt, ist unübersehbar, welch tiefe Ergriffenheit die Prozesse der zunehmenden oppositionellen Aktivitäten im Jahre 1989 sowohl bei den Beteiligten in der DDR als auch den Beobachtern und Beobachterinnen in der Bundesrepublik hervorgerufen haben. Etwas Unvorhersehbares war geschehen, denn die allermeisten derer, die – mit abnehmender Tendenz – eine Wiedervereinigung der beiden deutschen Staaten als wünschenswert empfanden, waren sich halbbewusst doch im Klaren darüber, dass sich das in der Spanne ihrer Lebenszeit nicht würde ereignen können. Die Auflösungserscheinungen im Bereich der sowjetischen Hegemonie, besonders durch die Gründung und die vielfachen Aktivitäten von Solidarność in Polen und zuvor schon durch die Reaktion auf die Erstickung des „Prager Frühlings“ durch die Truppen des Warschauer Paktes5 schufen eine historische Möglichkeit für einen 4 5

Geiger 1967, S. 77f. Es handelte sich fast ausschließlich um einen Einsatz der Sowjetarmee, zumal die im Erzgebirge schon zusammengezogenen Einheiten der Nationalen Volksarmee der DDR im letzten Augenblick nicht beteiligt wurden, weil man in der kommunistischen Führung wohl doch

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fundamentalen Protest gegen die autoritäre Hegemonie, welcher dann zu einer wirklichen Revolution führte.6 Das Prager Ereignis im Jahr 1968 bedeutete für viele Menschen auch in der DDR das Ende der Hoffnung auf eine demokratische Reformierbarkeit des Staatssozialismus. Was alle im Oktober 1989 dann erlebten, war die staunenswerte Beschleunigung von Geschichte – Tag für Tag. Man denke an Helmut Kohls am 28. November 1989 im Deutschen Bundestag vorgestelltes „Zehn-Punkte-Programm zur Überwindung der Teilung Deutschlands und Europas“, das schon unmittelbar danach durch die Ereignisse überholt wurde. Vor allem war es die unerwartbare Öffnung der Mauer, die Undenkbares möglich machte. So gab es im deutschen Vereinigungsprozess einen Beginn mit Euphorie und emotionaler Erschütterung (viele erinnerten sich auch 30 Jahre danach noch an diesen emotionalen Ausnahmezustand, über den im Jahre 2006 46 Prozent der Westdeutschen und 55 Prozent der Ostdeutschen bekundet hatten, dass ihnen damals die Tränen gekommen seien.7 So konnte der Regierende Bürgermeister von Berlin, Walter Momper, bei der Kundgebung zum Fall der Mauer am 10. November 1989 die Deutschen das „glücklichste Volk der Welt“ nennen. Bald folgte ein „Katzenjammer“, folgten Verdrossenheit, Ungeduld und Kleinmut. Zuvor jedoch hatte es von dem Augenblick an, als die Volkskammer der DDR erstmalig demokratisch und frei gewählt worden war, ein Mitgerissensein durch eine sich überstürzende Geschichte gegeben – bis zum Ende der DDR. Das staatssozialistische System, aber auch alle prinzipiellen Reformversuche gingen im Strom der Dynamik der politischen Ereignisse unter. Dies ist ein Grund dafür, warum die im Grundgesetz nach Artikel 146 vorgesehene Schaffung einer neuen Verfassung für das wiedervereinte Deutschland nicht realisiert wurde und es eben nur zum „Beitritt“ der DDR zum Geltungsbereich des Grundgesetzes nach Artikel 23 kam, der ursprünglich für die Angliederung des Saarlandes geschaffen worden war. Der Phase, in der für die DDR-Bürgerinnen und -Bürger die gewohnten östlichen Konsumgüter plötzlich als unzumutbar erschienen, und auf den von vielen erhofften Umtausch des wertlos erscheinenden Ostgeldes gegen die harte D-Mark folgten Entzauberungen und erste Schocks darüber, dass ein „goldener Westen“ mit der Vertreibung der eigenen Regierung nicht schon gewonnen war.

6 7

eingesehen hatte, dass ein erneuter Einzug bewaffneter deutscher Truppen in Prag ein wenig wünschenswertes Bild in der Welt geschaffen hätte. Tilly 1993, S. 336ff.; Fischer 2019. Vgl. Noelle/Petersen 2006.

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4. Ein Gesellschaftszusammenbruch – „Wende“ als Chance und Zumutung

Vor 30 Jahren erlebten die Bürgerinnen und Bürger der DDR und mit ihnen die Menschen auch in der Bundesrepublik und der ganzen Welt mit der Öffnung der Mauer (die international zum Namen für die Ereignisse im Oktober 1989 wurde) die ersehnte Befreiung aus dem autoritären und vor allem stagnierenden Staatssozialismus. Neben neuen Formen der Freiheit brachen auch Wahlmöglichkeiten, damit aber auch Wahlzwänge lawinenartig über die Ostdeutschen herein.8 Neuorientierungen und Neuanpassungen waren in fast allen Lebensbereichen notwendig, etwa an jetzt sich durchsetzende andersartige kulturelle Codes, habituelle Formen der Alltagskommunikation oder Rollenerwartungen – überall Eingriffe und Veränderungen. Die strukturellen Wandlungen, besonders im ökonomischen Sektor, waren auch in ihren psychologischen Auswirkungen so drastisch, weil die DDR – mehr als andere „klassische“ Industriegesellschaften – nicht nur eine „Arbeitsgesellschaft“ oder eine, die Produktionssphäre zum Ideal erhebende „arbeiterliche“ Gesellschaft9 war, sondern auch eine ‚Arbeitsplatzgesellschaft‘,10 das heißt eine Form der Sozialität, in der politische Aktivitäten, die Freizeitgestaltung, Ferien, Sport, kulturelle Ereignisse und das soziale Leben viel stärker mit dem Arbeitsplatz verknüpft waren als in den kapitalistischen Gesellschaften.11 Deshalb betraf die Arbeitslosigkeit in gesteigertem Maße alle Sphären des Lebens unmittelbar. Am wichtigsten war nach 1989 die – wesentlich durch die marode industrielle Infrastruktur, aber auch durch die Privatisierungsprozesse der Treuhand verursachte – massive Deindustrialisierung ganzer Regionen, verbunden mit Massenentlassungen, welche nicht annähernd durch die Neugründung oder Neuansiedlung moderner Unternehmen ausgeglichen werden konnte. Das führte zu einer drastischen Vernichtung von Arbeitsplätzen und einer tiefgreifenden Umstrukturierung der Arbeitsbedingungen in kürzester Zeit. Bedenkt man, dass die finanziellen und administrativen Transferleistungen aus Westdeutschland in die Neuen Bundesländer viel besser funktionierten als die private Marktökonomie, so müssen die geradezu umgekehrten Bewertungen in Ostdeutschland auf den ersten Blick überraschen. „Die Ostdeutschen schätzen die Marktwirtschaft und können sich für die Bonner Demokratie nicht erwärmen“, 8 9 10 11

Vgl. Rehberg 2006a. Engler 1999, 2005. Rehberg 2015, S. 55f. Rehberg 2016b; Hofmann/Rink 2015.

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bemerkte Wolfgang Zapf.12 Der Grund für diese paradoxe Deutung liegt darin, dass die bessere Versorgung und der höhere Konsumstandard, dass effektivere Dienstleistungen und höhere Einkommen von den Ostdeutschen anfangs häufig positiv „dem Wirtschaftssystem“ zugerechnet wurden, während Staat und Politik für die hohen Arbeitslosenzahlen verantwortlich sein sollten. Gleichwohl gilt bis heute weitgehend die strukturelle Differenzformel: Produktion im Westen, Konsum im Osten – Namen dafür sind: Ostdeutschland als „verlängerte Werkbank“ andernorts angesiedelter Unternehmen oder ein „deutscher Mezzogiorno“. Diese grotesk erscheinen könnende Gleichsetzung bezog sich in einer Konferenz des Center of European Studies at Harvard University nicht etwa auf Strukturähnlichkeiten zwischen Sachsen als einer der frühesten Industrieregionen der Welt und dem noch immer feudal-agrarisch strukturierten Süditalien, sondern allein darauf, dass die ostdeutsche Wirtschaft – darin dem italienischen Fall ähnlich – noch auf lange Zeit von staatlicher Bezuschussung abhängig sein werde.13 1989 gab es zuerst eine Phase mit dem deutlichen Willen zum Beitritt zur Bundesrepublik Deutschland (teilweise beeinflusst durch die ersehnte Deutsche Mark – ohne dies gleich als „DM-Nationalismus“ abtun zu müssen)14. Aber bald schon wurde das zu einem Akt westlicher Annexion uminterpretiert: Das wenigstens glaubten 53 Prozent der Ostdeutschen schon im Oktober 1991 und 1990 waren es 46 Prozent gewesen. Interessant übrigens und langfristige Kränkungsgefühle erzeugend war es, dass nur 10 Prozent der Ostdeutschen sich selbst als aktive Teilnehmerinnen oder Teilnehmer im Vereinigungsprozess sahen, während 35 Prozent sich eher als „Beobachter“ fühlten, 19,5 Prozent als von diesem Prozess ausgeschlossen und 22,8 Prozent sogar als dessen „Opfer“.15 Derlei Wahrnehmungen bestätigten sich vor allem auch durch den erwähnten weitgehenden Elitenwechsel, ohne dass damit die Gesamtheit der personalen Veränderungen hinreichend bezeichnet wäre, denn es handelte sich um den Transfer westdeutscher Funktionsgruppen auf unterschiedlichsten Ebenen der Gesellschaft.16 Heute hat man den Eindruck, dass sich der Zusammenbruch der DDR, die Öffnung der Mauer, die Euphorie des Beginns und manche „Entzauberung“ erst vor ganz kurzer Zeit ereignet hätten. Das gilt vielleicht generell für die erlebte Nähe von Befreiendem und Bedrückendem. Und denkt man an die alte Bundesrepublik, so war es dort der wirtschaftliche Aufschwung seit Mitte der 1950er Jahre, der manches aus der Vergangenheit schneller vergessen ließ. Jemand hat treffend 12 13 14 15 16

Zapf 1996, S. 324. Vgl. Hank 1998. Vgl. Habermas 1990. Bisky 2005, S. 118. Rehberg 2017.

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gesagt, den Westdeutschen sei es im Wirtschaftswunder schließlich so gut gegangen, dass sie sogar Demokratinnen und Demokraten hätten werden können.17 Die Schwierigkeiten, die mit einer solch radikalen Umorientierung in kürzester Zeit verbunden waren, erwiesen sich auch für diejenigen als problematisch, welche dazu beitrugen oder die sich wünschten, dass das DDR-Experiment „am lebenden Menschen“ – wie Wolf Biermann18 das ausgedrückt hat – beendet werde. Mir scheint zweifelsfrei, dass die meisten Ostdeutschen auf Reformen gehofft hatten, die – selbst wenn sie radikal gewesen wären – doch ihre Unabhängigkeit und ihren Lebensstil nicht so tiefgreifend negiert hätten. Das mag sogar für jene Minderheit gelten, die an eine Wiedervereinigung Deutschlands geglaubt hatte, aber gleichwohl nicht darauf vorbereitet war, ihre eingewöhnte Lebensführung aufgeben zu müssen. Viele wollten die Vorteile von Freiheit, Konsumsystem und Partizipationschancen des „Westens“ mit der im Sozialismus gewährten (Schein-)Sicherheit verbinden. Nach der „Wende“ – die sich nun ganz anders vollzog, als sich das Egon Krenz, der das Wort in Umlauf brachte, mit seinen auf die SED gestützten Veränderungsplänen vorgestellt hatte – gab es zuerst viel Optimismus bei den Ostdeutschen, der auf einem „doppelten“ Horizont beruhte:19 Man war bereit, ein hohes Maß an kurzfristiger Belastung zu akzeptieren, weil man glaubte, dass es wenigstens mittelfristig zu einer deutlichen Verbesserung des Lebens komme (heute geben übrigens mehr als zwei Drittel der Bürgerinnen und Bürger in den neuen Ländern an, dass sich ihre persönliche Lage gegenüber der Zeit vor 1990 verbessert habe). Damit sank im Jahr 2016 laut dem Sozioökonomischem Panel des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW) der Anteil derer, die sich im Osten Sorgen um die allgemeine wirtschaftliche Entwicklung machten, von 49 Prozent auf 17 Pro17 Bei meinem Vortrag in Leipzig, der diesem Aufsatz zugrunde liegt, empörte sich eine von mir hochgeschätzte Teilnehmerin darüber, dass einer derart profanen Entwicklung die Demokratisierung Deutschlands zugerechnet werde, während es doch gerade ihre (’68er?) Generation gewesen sei, welche die Vertiefung der demokratischen Prinzipien und eine Liberalisierung bewirkt habe. Aber mit Verlaub: Die Demokratie wurde nach der Selbstzerstörung des HitlerRegimes und der Befreiung durch die Truppen der Alliierten von den westlichen Militärregierungen vorgeschrieben und dann im Parlamentarischen Rat wiederbelebt. Bei allem Respekt vor der Studentenrevolte, welche eine gesellschaftliche Öffnung gewiss beeinflusst hat, in vielem aber auch nur ein Resonanzphänomen auf bereits sich vollziehende gesellschaftliche Veränderungen war, wurden entscheidende Schritte zur Demokratisierung in der oft nur als „restaurativ“ beurteilten Adenauer-Ära realisiert, während ein Liberalisierung- und Modernisierungsschub durchaus mit „1968“ (Rehberg 2018, 2019b) und dann der SPD-FDP-Regierung unter Willy Brandt verbunden war. 18 Biermann 1991, S. 90. 19 Klages 1991, S. 17.

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zent. Auch Karl-Heinz Reuband fand in seinen Befragungen der Dresdner Pegidisten keine zugespitzte Unzufriedenheit mit der eigenen wirtschaftlichen Lage und folgerte daraus, dass durch den Vereinigungsprozess erzeugte „Entfremdungen“ für die Unterstützung der Rechtspopulisten kaum ausschlaggebend sein könnten. Das unterschätzt allerdings, dass viele sich unabhängig von der eigenen wirtschaftlichen Lage als ‚Sinnverlierer‘ fühlen. Unzufriedenheit ist in den neuen Ländern auch spürbar, wenn es um politische Fragen geht. So fühlen sich laut einer für die Bundesregierung durchgeführten Umfrage 57 Prozent der Ostdeutschen als „Bürger zweiter Klasse“. Die Wiedervereinigung halten nur rund 38 Prozent der Befragten im Osten für gelungen. Bei Menschen unter 40 sind es sogar nur rund 20 Prozent. Und besorgniserregend sind aus östlicher Sicht mangelnde Zustimmungswerte für die Demokratie: Knapp die Hälfte der Menschen im Osten ist eher unzufrieden mit deren Funktionsweise. Das zeigt sich auch an den Wahlergebnissen, neuerdings besonders durch die Stimmabgaben für die AfD.20 Ähnlich ging es der „Demokratie als bester Staatsform“, ein Ausdruck, der 1997 nur noch von 27 Prozent bejaht wurde;21 2014 verbesserte sich dieser Wert allerdings wieder auf 40 Prozent gegenüber 74 Prozent der Westdeutschen.22 Tiefgreifender waren die Wandlungen der Selbsteinschätzung der Menschen in den Neuen Bundesländern. 1997 meinten mehr als 70 Prozent der Befragten, sie seien „Deutsche zweiter Klasse“, so dass nur noch 32 Prozent der Vereinigungslosung („Wir sind ein Volk“) zuzustimmen vermochten.23 Herausragende Topoi des „Wende“-Schocks waren „Beschleunigung“ und „Gemeinschaftsverlust“. Das Erleben von Beschleunigung, welche Georg Simmel,24 etwa in seinem 1903 bei der Dresdner Gehe-Stiftung gehaltenen Vortrag „Die Großstädte und das Geistesleben“, als herausragendes Merkmal der Moderne beschrieben hatte,25 wurde nun oftmals als schmerzhaft empfunden. Beide Phänomene, Gemeinschaftsverlust und Beschleunigungsschock, korrespondierten mit dem Erlebnis der Auflösung eingewöhnter Bindungen. An deren Stelle traten vermehrt das nun geforderte erfolgsorientiert-individualistische Konkurrenzhandeln, häufiger jedoch eine den eigenen Alltag verlangsamende Isoliertheit, vor allem die

20 21 22 23 24 25

Bundesregierung 2019. Vgl. Köcher 2001. Köcher 2014, S. 12. Gensicke 1998, S. 11–13. Simmel 1903. Rehberg 2019a.

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Vereinsamung durch Arbeitslosigkeit, ja sogar schon durch deren Wahrscheinlichkeit; selbst dann, wenn man noch Arbeit hatte.26 5. Die verwandelten „Brüder und Schwestern“

Bald schon folgten gegenseitige Klischees wie „Westler sind angeberisch, um Selbstdarstellung bemüht, besserwisserisch und materialistisch, Ostler sind faul, unselbständig, undankbar und zu langsam“. Schon im Herbst 1992 erschienen die Westdeutschen als „arrogant, überheblich und angeberisch“, als „oberflächlich und gestylt“, als „ichbezogen, egoistisch, selbstsüchtig und gefühlskalt“.27 Zugleich fanden sich Ostdeutsche als „naiv, gutgläubig und harmlos“, als „vertrauensselig, schüchtern“ und sogar als „hilflos und primitiv“ oder „verbissen, geduckt und unsicher“, als Menschen also, „die mit gesenktem Kopf gehen“.28 Die Schriftstellerin Monika Maron sprach von „peinlicher Beflissenheit“, von „Dumpfheit und Duldsamkeit“, von „Duckmäuserei und feigem Ordnungssinn“.29 Die am Gelde orientierten und immer taktisch denken könnenden Wessis wurden auch verdächtigt, selbst bei der Ausgabe des (im Rückblick durchaus) demütigenden „Begrüßungsgeldes“ an den eigenen Nutzen gedacht zu haben, denn sie seien „gerissen und kapitalistisch geschult“ genug, eben ein „anderer Menschenschlag“, eine „andere Rasse“. So war es klar, dass dieses Geschenk kalkuliert gewesen sei: „Die Ostdeutschen rennen da in die Banken und stehen dort Schlange, wo das Begrüßungsgeld ausgezahlt wird, und der Wessi lächelt ihn mit ’nem huldvollen Lächeln an und denkt sich so im Stillen: das Geld, das ich dir gebe, kriege ich hinterher doppelt und dreifach zurück“.30 Es gab nun Gelegenheit, „Wessis“ (ursprünglich eine Bezeichnung, welche die West-Berliner den aus der Bundesrepublik Gekommenen verpasst hatten),31 also die einstmals bewunderten Westdeutschen kennenzulernen und dabei nicht nur die nettesten. „Die Spitzen- und Leihbeamten auf der mittleren Ebene, die Liquidatoren, Sanierer, Privatisierer, Investoren und Kapitaleigner, Chefs in Produktion, Handel und Versicherung, die Instrukteure, Ausbilder und Evaluatoren, die Im-

26 27 28 29 30 31

Rehberg 2006a, S. 219ff. Becker et al. 1992, S. 33. Ebd., S. 30. Zit. in: Ahbe 2004, S. 17. Becker et al. 1992, S. 35. Ahbe 2004, S. 12.

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mobilienbesitzer und Vermieter“ erzeugten neue Bilder von den Menschen aus dem freien Westen.32 Und auch westdeutsche Stimmen über die einstigen „Brüder und Schwestern“ waren bemerkenswert: Friedrich Merz wollte als damaliger CDU-Fraktionsvorsitzender nach den Wahlerfolgen der PDS dem „trotzig-pubertären Lümmelvolk im Osten das Taschengeld entziehen“,33 und Bayerns Ministerpräsident Edmund Stoiber machte im Bundestagswahlkampf 2005 Stimmung gegen die „Frustrierten“ aus dem Osten, die nicht noch einmal über das Schicksal Deutschlands bestimmen dürften. Es war dies auch die Zeit, in der Jörg Schönbohm, CDU-Innenminister des Landes Brandenburg, den entsetzlichen Fall der neunfachen Tötung ihrer neugeborenen Kinder durch ihre Mutter der „erzwungenen Proletarisierung“ ihrer DDR-Sozialisation andichtete.34 6. PEGIDA als Resonanzraum für „Wende-Verlierer“

Die Deutungen der Vergangenheit, dabei auch einer in der älteren Generation der „gelernten DDR-Bürger“ verbreiteten Verbitterung fanden in Dresden eine besondere Verstärkung, weil dort seit 2014 sich die anfangs sprunghaft zunehmende und zeitweise relativ stabile Form des Protestes durch die PEGIDA-„Spaziergänger“35 weltweit auf sich aufmerksam machte. Oft als bloß regional-lokales Ereignis gedeutet, das heißt als ostdeutsche oder vielleicht nur sächsische, jedenfalls immer mit Dresden verbundene Pathologie, als unbegreifliche Explosion der Ablehnung der bundesrepublikanisch-parlamentarischen Ordnung, die erst vor einem Vierteljahrhundert auf der Grundlage des (wohl nicht ganz ohne Außendruck) von der frei gewählten Volkskammer beschlossenen Beitritts eingeführt worden war. So wurden die Masse der unter dem zusammengebastelten (den Programmformeln des Osloer Massenmörders Anders Breivik ähnelnden)36 Label Patriotische 32 33 34 35

Ebd., S. 13. Zit. in: Lehnartz 2002. Zit. in: Schröder 2005. Girotondi wurde 2001 auch in Rom zum Namen für nicht genehmigte Protesttreffen gegen die Regierung von Silvio Berlusconi. Zuvor hatte es in der westdeutschen Studentenbewegung am 17.12.1966 aus Protest gegen das gewalttätige Vorgehen der Polizei während einer VietnamDemonstration am 10. Dezember 1966 eine „Spaziergang-Demonstration“ mit ca. 200 Teilnehmenden gegeben, 85 Personen wurden festgenommen (vgl. Frei 1968, S. 110). Und man muss neuerdings in Belarus ähnliche, allerdings gefährlichere Versuche zur Ermöglichung des Protestes gegen die jüngsten Wahlfälschungen beobachten. 36 Breivik 2011.

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Europäer gegen die Islamisierung des Abendlandes (PEGIDA)37 in Dresden – und bald schon (jedoch außer in Leipzig nirgends in vergleichbarer Größe) an anderen Orten bis nach Wien, Edinburgh und sogar Sidney – an jedem Montag zusammenströmenden Menschen eine Überraschung und führten zu einem internationalen Pressehype. Dabei wurde in der medialen Verbreitung der Ereignisse zu selten unterschieden zwischen Dresden als Bühne und Dresden als Quelle, denn die überwiegende Zahl der Teilnehmenden kam aus den umliegenden Landregionen in die Elbmetropole.38 Diese städtische Szenerie war gut gewählt. Die stets umjubelte, vor allem von Gastrednerinnen und -rednern aus anderen Städten und seltener auch anderen Ländern verwendete Begrüßungsformel „Guten Abend Dresden“ drückte fast immer auch eine Symbiose zwischen der – wie man hier gerne hört – schönen „Barockstadt“ und deren Verteidigerinnen und Verteidigern vor aller Überfremdung „von unten“ aus. Allerdings erlitt Dresden dadurch einen schweren Imageschaden. Wenn man bei PEGIDA vor allem Mitlaufende aus der „Mitte der Gesellschaft“ zu entdecken glaubte, so hätte das auch nichts Beruhigendes: Wie die Erfahrungen des 20. Jahrhunderts leidvoll gezeigt haben (und wie es sich im Aufstieg rechtspopulistischer Strömungen und Parteien in anderen Ländern heute auch wiederum bestätigt), ist gerade die ‚Mitte‘ oftmals nicht nur verschärften Krisenerfahrungen ausgesetzt, sondern entwickelt aus der unbewältigten Spannung zwischen Aufstiegsambitionen und Abstiegsängsten eine besonders aggressive Bejahung ordnungsversprechender, also oft rechtskonservativer oder sogar faschistischer (in Deutschland, diesem Lande der Sozialpolitik eben: national-sozialistischer) Krisenszenarien und Heilsversprechen.39 Gibt es nun einen Zusammenhang im Übergang von der sozialistisch-autoritären in die kapitalistisch-demokratische Gesellschaft? Von Anfang an konnte man beobachten, dass die Resonanz- und Verstärkungsgruppen der PEGIDA-Auftritte sich vor allem aus Menschen rekrutieren, die sich im Prozess der Wiedervereinigung bis heute als Verlierer fühlen und glauben, nun endlich eine Plattform gefunden zu haben, um ihr Schicksal zeigen und ihre Enttäuschungen artikulieren zu können. Hier fand man – heute nur noch in einer Restgruppe – „gemein37 Es ist übrigens durchaus charakteristisch, dass ein weitgehend stolz-atheistisches Publikum ausgerechnet das christliche, also römische, seit der Reformation römisch-katholische und auf die deutsche Geschichte des 20. Jahrhunderts bezogen: das Adenauer-Abendland mit seiner Süd- und Westorientierung verteidigen will; vgl. zum Begriff in seinen historischen Varianten und Instrumentalisierungen vor allem Faber (1979). 38 Patzelt/Klose 2016, S. 157; Reuband 2015, S. 136; Rehberg 2016, S. 38f. Reuband (2015, S. 316) verweist auch auf die Annahme Hans Vorländers, der eine Teilnahme von 40 Prozent in Dresden Wohnender veranschlagte, Dieter Rucht 44 Prozent und Franz Walter nur 38 Prozent. 39 Geiger 1967; Lepsius 1966.

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schaftliche“ Bestätigungen für ressentimentale Deutungen der Lage, werden vereinfachende Muster zum Verständnis komplizierter und ambivalenter Verhältnisse geboten. 7. Rechtspopulistische Protestbewegungen als Wiedergänger der Friedlichen Revolution?

Man kann sich fragen, ob sich in den rechtspopulistischen Auftritten und Wahlerfolgen der Aufstand des „Volkes“ von 1989 nun in neuem Gewande zeigt. Das hatte übrigens der in Leipzig lehrende Soziologe Karl-Dieter Opp40 beim Soziologiekongress in Halle 1995 prognostiziert, dass nämlich die befreienden Erfahrungen von 1989 ein Potenzial bilden würden für spätere Proteste gegen die dann existierenden Verhältnisse. Ich hatte ihm damals sofort widersprochen, weil die Sondersituation der Auflösung des sozialistischen Lagers sich nicht wiederholen und die ordnungsfixierte Sozialisation vieler ostdeutscher Menschen das eher unwahrscheinlich machen würde. Darin habe ich mich eindeutig getäuscht, nämlich fälschlicherweise nur an linke Proteste denkend, während man nun sehen kann, dass der Widerstand gegen die demokratischen Institutionen wieder einmal von rechts mobilisiert wird. Das wird sichtbar in Formulierungen wie: „Damals, im Herbst 1990, waren wir auf der Straße und müssen es heute wieder sein“, zuweilen durch den Satz ergänzt: „Und heute ist es schlimmer als damals“. Solche Verbindungen werden gestützt durch die Tatsache, dass sowohl aus der in Dresden während der Massendemonstration am 8. Oktober 1998 spontan gebildeten Gruppe der 20 als auch der sich einen Tag später formiert habenden Gruppe der Leipziger 6 je ein damaliges Mitglied nun bei PEGIDA aktiv ist. Auch gab sich die AfD in den jüngsten Wahlkämpfen in Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen als diejenige Partei aus, welche „die Wende vollendet“. Viel wird darüber diskutiert, wie aus dieser Selbstbestimmung des für die DDRBürger wiedergewonnenen Volksbegriffes die Formel „Wir sind ein Volk“ wurde. Mag sein, dass diese Forderung vorbereitet wurde in den Arbeitskreisen „Gerechtigkeit“ und „Menschenrechte“, die der Pfarrer der Leipziger Lukaskirche und erster Koordinator der Friedensgebete in der Nikolaikirche, Christoph Wonneberger, leitete. In deren Aufruf zur Gewaltfreiheit, der sich auf etwa 25.000 Flugblättern auch an die Einsatzkräfte richtete, hieß es nämlich: „Wir sind ein Volk! Gewalt unter uns hinterläßt ewig blutende Wunden!“ Daraus wurde dann bald der Ruf nach einer schnellen Vereinigung der beiden deutschen Staaten, zum Beispiel „Keine 40 Opp 1996, S. 610–615.

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Experimente mehr. Wiedervereinigung jetzt“ oder „Wiedervereinigung Deutschlands, JA. Wir das Volk sind bereit für den Volksentscheid!“. Aber auch das Gegenteil wurde sichtbar: „Wir lassen uns nicht verKOHLen“, „Heim ins Reich – Nein Danke“ oder „Vom Stalinregen in die großdeutsche Traufe?“. Exkurs: Die sich von den realen Verhältnissen immer mehr abschottende Spitze der DDR-Oberen wirkt vor dem Hintergrund der Verfassungsprinzipien des Arbeiter-und-Bauern-Staates besonders brisant: In der Revision der DDR-Verfassung im Jahre 1974 (Abschnitt I: Grundlagen der sozialistischen Gesellschafts- und Staatsordnung, Kapitel 1: Politische Grundlagen, Artikel 1) war ein einschränkendes Verhältnis zwischen Staat und „Volk“ festgeschrieben worden. Danach sollte nicht mehr das gesamte Staatsvolk die Basis der „demokratischen Republik“ sein, denn seit damals hieß es: „Die Deutsche Demokratische Republik ist ein sozialistischer Staat der Arbeiter und Bauern. Sie ist die politische Organisation der Werktätigen in Stadt und Land unter der Führung der Arbeiterklasse und ihrer marxistisch-leninistischen Partei.“ So ging die Macht also nicht mehr vom „Volk“ aus, sondern wurde nur noch „von den Werktätigen […] ausgeübt“, wobei – wie „humanistisch“-tröstend versichert wurde – „der Mensch im Mittelpunkt“ stehe (Artikel 1, Absatz 2). Bereits 1964 hatte man diese sozialistische Leitidee im Klartext in dem offiziellen „Philosophischen Wörterbuch“ der DDR erläutert gefunden.41 Das „Volk“ wurde ideologisch korrekt durch „jene Klassen und sozialen Schichten der Gesellschaft“ ersetzt, „die daran interessiert und objektiv dazu fähig sind, den gesellschaftlichen Fortschritt zu verwirklichen. Die anderen Klassen oder Schichten […], deren Interessen gegen den historischen Fortschritt gerichtet sind, gehören in diesem Sinne nicht zum Volk, sondern zur Kategorie der Volksfeinde.“ Erst nach dem Sieg der sozialistischen Produktionsverhältnisse könne das Volk identisch mit der Bevölkerung werden. 8. Sonderfall Zwillingsgesellschaft und „Überlagerung“

Radikale Niederlagen in Kriegen und Gesellschaftszusammenbrüchen nach Revolutionen hat es in der Geschichte häufig schon gegeben. Oft war das mit hoffnungsvollen und gleichwohl schmerzhaften Prozessen der Erneuerung verbunden, oft auch mit Säuberungen. Jedenfalls verschieben sich viele Positionen in 41 Klaus/Buhr 1964, S. 1269.

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der Gesellschaft, samt der zugehörigen Karrieremuster. Auch für die Zeit nach der Niederlage Hitler-Deutschlands im Jahre 1945 galt, dass es unhaltbar gewordene Repräsentanten der alten Ordnung und stellvertretende Sündenböcke gab. Im Ganzen jedoch erwies sich die Kontinuität des Personals als entscheidend (wie ­ SDAP das für die westdeutsche Entwicklung nach 1945 für viele Mitglieder der N selbstverständlich war, galt mit Einschränkungen und mit einem Tabu belegt auch für die Sowjetische Besatzungszone und DDR). Nun vollzog sich in allen anderen staatssozialistischen Ländern, was in solchen Änderungszwängen Systemumbrüchen zumeist beobachtbar ist. Anders war das im deutschen Vereinigungsprozess: Nach dem Ende des SED-Regimes gab es diese andere deutsche „Zwillingsgesellschaft“, wodurch die Rekrutierung von Menschen und Wissen, von Normen und Weltdeutungen aus dem westlichen Teil bruchlos möglich war. Dabei war zu bemerken, dass Besatzungsregimes anders funktionieren, als dies in diesem Falle zu beobachten war: Bei aller Bestimmungsvollmacht von Siegern werden die gesellschaftlichen Positionen (etwa in politischen Institutionen, Zeitungen, Wirtschaftsunternehmen, Kultureinrichtungen und Universitäten, in Verwaltungen und Schulen) nicht von diesen selbst besetzt, während es in den Neuen Bundesländern zur Übernahme von Normen, Verwaltungsvorschriften, Planungsprozessen, des Wirtschaftssystems, ebenso aber auch des Führungspersonals auf verschiedenen Ebenen aus der alten Bundesrepublik kam. Dafür kann man auf einen Begriff von Ludwig Gumplowicz42 zurückgreifen, der die Geburt der Herrschaft aus der „Überlagerung“ bäuerlich-sesshafter Gruppen durch (Hirten-)Nomaden herleitete. Die Übertragung dieses Konzeptes auf den Transformationsprozess nach 1990 erlaubt es, die Unterschiede der gesellschaftlichen Umgestaltung in Ostdeutschland auf der einen und in Russland und den anderen Ländern des einstmaligen Ostblocks auf der anderen Seite schärfer zu beleuchten. Einen nicht derart umfassenden Vergleichsfall findet man allenfalls in den besiegten Sezessionsstaaten nach dem Ende des Amerikanischen Bürgerkrieges.43 Der deutsch-deutsche Transfer materieller und personeller Ressourcen hatte erhebliche Vorteile, nicht nur im Bereich der enormen Finanzmittel des Bundes sowie der EU und der schnellen Wiederherstellung oder des Ausbaus der Infrastrukturen. Deshalb fiel die Erneuerung leichter als in den anderen einstmaligen ‚Bruderstaaten‘ des sozialistischen Lagers. Aber dies war eben auch mit einem kränkenden Unterlegenheitsgefühl verbunden – wenn die Akteure der ‚Überlagerung‘ nun auch nicht mehr als Reitergruppen, sondern mit der Lufthansa kamen.

42 Gumplowicz 1905. 43 Ettrich 1992.

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Zuweilen wird dieser Prozess auch „Kolonialisierung“ genannt. Das mag den Gefühlen vieler Menschen in Ostdeutschland entsprechen, ist meines Erachtens aber unpräzise, weil die enormen kulturellen Differenzen als Basis des rassistischen Kolonialismus im deutsch-deutschen Fall nicht vorliegen. Aber für Unterlegenheitsgefühle gibt es viele Belege: Im Oktober 1991 sprachen 53 Prozent ostdeutscher Befragter davon, dass eine Kolonisierung des Ostens stattfinde (ein Jahr zuvor waren es erst 46 Prozent gewesen); nur 10 Prozent empfanden sich als aktiv an der Vereinigung beteiligt, 35 Prozent als Beobachter, 19,5 Prozent als „ausgeschlossen“ und 22,8 Prozent sogar als „ausgeliefert“. Übrigens gab es, schon im Jahr der Wiedervereinigung beginnend, eine scharfe öffentliche Kontroverse, in der mit herabsetzenden Formeln ausgerechnet ein Bereich des Lebens in der DDR, auf den viele dort besonders stolz waren, diffamiert wurde. Man denke etwa an die Selbstzuschreibung der DDR als „Leseland“ oder „Graphikland“ und überhaupt an die Bedeutung, welche die bildenden Künste sowohl für die Herrschenden als auch für große Teile der Bevölkerung hatten. Somit wurden auch die Künstlerinnen und Künstler in besonderer Weise geschätzt. Deshalb wirkte der deutsch-deutsche Bilderstreit, den Georg Baselitz44 mit beleidigenden Formeln bereits 1990 eingeläutet hatte und der seinen Höhepunkt in der 1999 in der Europäischen Kulturhauptstadt Weimar gezeigten Ausstellung „Aufstieg und Fall der Moderne“ fand, so kränkend auf viele Menschen, nicht nur im Kunstsystem. Die Behauptung, Kunst könne in der Diktatur überhaupt nicht existieren, führte zu offen ausgetragenen Konflikten. Hauptakteure der Zuspitzung waren auf der einen Seite Museumsleute aus Westdeutschland, die in wichtigen Funktionen in den Neuen Bundesländern oftmals ahnungslos waren über die Kunstentwicklung in der DDR, und zum anderen manche Künstlerinnen und Künstler, die sich im untergegangenen Staate in bewundernswerter Weise mutig und kreativ gegen obrigkeitliche Zwänge behauptet hatten, nun jedoch auch meinten, man solle den damals nichtoppositionellen Kunstschaffenden den Ehrentitel „Künstler“ aberkennen. Besonders waren es diejenigen, die – wie man sieht, nicht ohne Schmerzen – die DDR verlassen und oftmals große Karrieren im Westen gemacht hatten, welche diesen Konflikt befeuerten. So sagte etwa Gerhard Richter45 über die groben Worte von Baselitz, dass dieser Recht habe – er selbst hätte es allenfalls höflicher gesagt. Ich sehe in dieser Schlüsselkontroverse einen Stellvertreterdiskurs, in dem sich Schwierigkeiten im Prozess der deutschen Wiedervereinigung spiegelten.46 44 Hecht/Welti 1990. 45 Richter 1990. 46 Rehberg/Kaiser 2013.

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Was nun die politischen Friktionen betrifft, hatten viele Bürgerinnen und Bürger der DDR ihre Gesellschaftsform zwar nicht grundsätzlich infrage gestellt, aber doch eine Halbdistanz zu ihrem Staat entwickelt, der allzu viele Versprechen nicht einzuhalten vermochte und die Kritik daran durch eine autoritäre Politik und Stasi-Überwachung zum Schweigen zu bringen suchte. Anders als viele Westdeutsche glaubten, war die DDR – trotz ihres chronischen Legitimationsdefizits – nicht ohne innere Unterstützung durch viele ihrer Bürgerinnen und Bürger. Dieser Distanzgestus (wie er in vielen Gesellschaften zu finden ist) wurde nach der Vereinigung auf das neue, parlamentarische System sehr oft übertragen – wenn auch aus gänzlich anderen Gründen. Dabei scheinen Zwänge und Drucksituationen der Vergangenheit vergessen zu sein. Nicht zu unterschätzen ist die Unterminierung der DDR durch die Regierenden selbst. Zu beobachten war eine Vermehrung von Handlungsmöglichkeiten im letzten Jahrzehnt der DDR, die oft als „Liberalisierung“ gedeutet wird. Aber um eine programmatische Öffnung und Pluralisierung handelte es sich gerade nicht, vielmehr um den fortschreitenden Verlust der Kontrolle der Herrschenden über das „Volk“. Das führte zu einer verschärften Überwachung, vor allem durch die vielen Informellen Mitarbeiter (IM) und die Ausweitung der Aktivitäten des Ministeriums für Staatssicherheit auf der einen Seite und das, was ich „Konsensdiktatur“47 nenne, nämlich die zunehmenden Aushandlungen der Funktionäre selbst noch mit Abweichlern, die aber immer vor einem unbestimmten Drohhintergrund stattfanden auf der anderen Seite. Ein gutes Beispiel dafür sind die bildenden Künste in der DDR, die dort eine wichtigere Funktion hatten als in den pluralistischen Gesellschaften. Unübersehbar wurden in den letzten zwei Jahrzehnten des „besseren Deutschland“ die stalinistischen Restriktionen, zum Beispiel des durch russische Kulturfunktionäre 1948 ausgelösten und lange lähmend wirkenden „Formalismusstreits“, überwunden und unterschiedliche Stile und künstlerische Aussagen zugelassen, ohne dass dies auf einer erwünschten Vielfalt von Positionen beruht hätte. 9. Politisierung damals – Entpolitisierung heute?

Es mag zumindest merkwürdig erscheinen, in einem Tagungsband, der sich mit der „Politisierung der Erinnerung“ befasst, von „Entpolitisierung“ zu sprechen. Das hängt mit meiner These zusammen, dass Prozesse der Zerstörung von Politik (auch eine Merkwürdigkeit, wie ich zugebe) ein Nährboden sind für Politikver47 Rehberg 1998, S. 196–200.

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drossenheit und alle möglichen Varianten bis hin zur rechtspopulistischen Politikerverachtung, die einhergeht mit der Ablehnung demokratischer Verfahren. In alledem zeigen sich die Transformationen des Politischen, besonders mit Blick auf die transnationale Struktur der Europäischen Union, aber auch auf die globalisierte und vom ideologischen, neoliberalen „Globalismus“48 beherrschte Welt. Bei den rechtspopulistischen Demonstrationen und Parteibildungen, die seit den 1990er Jahren in Europa an Resonanz gewonnen haben, sind es zumeist innergesellschaftliche Spannungen, welche auf eine transnationale Ebene verlagert werden. In jüngster Zeit sind es die Angst vor Flüchtlings- und Migrationsströmen im 21. Jahrhundert oder seit 2020 die Coronavirus-Pandemie, welche verbindende und zugleich doch auch spaltende Schreckensszenarien möglich machen. Einige Charakteristika der rechtspopulistischen Auftritte lassen an Friedrich Nietzsches,49 der es wohl wissen musste, „Psychologie des Ressentiments“ denken. Dessen klarsichtig-boshafte Beschreibungen einer „Vergiftung an Leib und Seele“ durch eine unterdrückte und deshalb „imaginäre Rache“ legte den Zusammenhang von Verbitterung und latenter Gewaltsamkeit frei. Auch in der bald schon widerlegten These von einem, dem Zusammenbruch der sowjetischen Hegemonie und der zweigeteilten Welt folgenden „Ende der Geschichte“ hatte Francis Fukuyama50 die ambivalenten Folgen einer Sehnsucht nach Anerkennung im Falle ihrer Verweigerung als „Aufstieg und Fall von Thymos“ beschrieben. Daran anknüpfend leitete Peter Sloterdijk51 in breiter Auswalzung dieses Themas unterschiedliche Trägergruppen einer Zornbereitschaft ab, nämlich einerseits die ,verlorenen Verlierer‘ der Abgehängten, andererseits die „vormaligen Revolutionäre, Reformer, Weltveränderer und Klassenerlöser“. In welcher Weise negativ-aufgeheizte Gefühlslagen miterzeugt werden durch Faktenverachtung und unhaltbare Vereinfachungen und sogar Lügen, wurde während der Amtsperiode des US-Präsidenten Donald Trump mit Erschrecken ins Bewusstsein gehoben und weltweit zum Topos der Fake News. Übertreibungsformeln und durch Bedrohungsdramatisierungen geschürte Suggestionen, welche „unhaltbare Zustände“ (gerade auch in den „reichen Gesellschaften“) behaupten, produzieren unterschiedliche Formen einer Antipolitik, wie sie sich in den gegen Establishmentgruppen gerichteten Wahlergebnissen in den letzten 20 Jahren zunehmend zeigen. Ganz anders klang es, als Ulrich Beck52 im Gleichklang mit Anthony Giddens und ermutigt durch soziale Bewegungen nach „1968“ noch op48 49 50 51 52

Beck 1997, S. 24ff. Nietzsche 1980, S. 270. Fukuyama 1992, S. 307–320. Sloterdijk 2006, S. 283. Beck 1993, S. 154–203.

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timistisch von einer Epoche der „reflexiven Moderne“ mit einer, die etablierten Machtpositionen produktiv unterlaufenden oder zumindest ergänzen sollenden „Subpolitik“ sprach. Gleichwohl gibt es als Reaktion auf die aggressive Politikzerstörung auch Formen einer neuen Politisierung, man denke etwa an Fridays for Future. Andererseits ist durchaus auch eine durch Versachlichung erzeugte Schwächung des Politischen zu bemerken, nämlich durch eine Herrschaft der „Sachzwänge“. Es war der konservative Denker Arnold Gehlen,53 der das mit deutlicher Verachtung für den Politikalltag der aus seiner Sicht machtlosen Bundesrepublik formuliert hat. Und sein Schüler Helmut Schelsky prognostizierte in den 1960er Jahren die daraus sich ergebende Unabwendbarkeit eines „technischen Staates“ als zentraler Organisation von Expertenentscheidungen.54 Keineswegs durch Revolution, vielmehr durch diese Versachlichung von Politik werde die Herrschaft von Menschen über Menschen aufgehoben. Dabei sah er, dass diese expertokratischen und „technischen“ Entscheidungsfindungen, „ohne antidemokratisch zu sein, der Demokratie ihre Substanz“ doch entziehen könnten und das „Volk im Sinne des Ursprungs der politischen Herrschaftsgewalt“ durchaus „zu einem Objekt der Staatstechniken“ werden könne. Somit war die Gefahr einer „Entpolitisierung“ und „Entdemokratisierung“ längst schon aktuell.55 In den 1970er Jahren galt dieser „technokratische Konservatismus“ als ausgesprochen „reaktionär“,56 während man heute in allen Parteien die Bestärkung dieses Prinzips findet. Die Bundeskanzlerin Angela Merkel als sozusagen unpolitisch erscheinende „Notarin“ der Notwendigkeiten wird dafür geliebt, dass sie die Bevölkerung nicht mit zu viel Politik belästigt. Bedrohungsszenarien und -gefühle existieren parallel zu einer soziologisch meisterhaft von Niklas Luhmann, aber auch in Spielarten der Postmoderne begründeten neuen Form der Superstabilität mittels einer durchdringenden Beweglichkeit aller Zustände. Gleichwohl können die in den Differenzierungsdynamiken moderner Gesellschaften begründeten Vervielfältigungen sozialer Prozesse und die Vorstellung einer systemgarantierten Normalität mit dem Gefühl einer beunruhigenden Unordnung verbunden sein (zum Beispiel mit der ‚Normalität von Krisen‘ im Kapitalismus). Dabei kann die durch den Massenkonsum gestützte Loyalität – wie man in der Sekuritätslage der Bundesrepublik erschreckt wahrnimmt – auch erodieren und zu einer Unzufriedenheit führen, welche die Legitimation der bestehenden Ordnung überhaupt infrage stellt. Es sind solche Ambivalenzen 53 54 55 56

Gehlen 1978, S. 271; 2004, S. 438. Schelsky 1965. Vgl. Schelsky 1965, S. 459f. Kühnl 1972; Lenk 1989.

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und Unheilsbefürchtungen aber nicht einfach linear zu denken, vielmehr sind sie durch verschiedene Widersprüche gekennzeichnet. So gibt es die starke Integration durch Konsum ebenso wie Gefährdungen der Ordnung durch jene, die von ihm sich zunehmend ausgeschlossen finden. Anders als Wilhelm Heitmeyer57 meine ich nicht, dass der Begriff Rechtspopulismus das Phänomen verharmlost, denn es handelt sich zuerst einmal nur um die Gemeinsamkeit in Zielsetzung und Ausdrucksform ähnlicher Protestformen. Allerdings hat dieser Analytiker „gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit“ aufschlussreiche Charakterisierungen entwickelt. In dieser Stellungnahme hat er allerdings sehr Recht darin, dass die Haupttendenz des derzeitigen Aufstandes gegen die pluralistische Gesellschaft in einem „autoritären Nationalradikalismus“ liege, verbunden mit einer „Demokratieentleerung“. An populistischen Bewegungen lässt sich zeigen, dass der emotional steigerbare Legitimationsentzug für die „Obenstehenden“ eng verbunden sein kann mit einer aggressiven Abwehr gefürchteter „Eindringlinge von unten“, also mit einer Stigmatisierung gerade jener Gruppen, deren Existenz noch bedrohter erscheint als die eigene. Nicht zuletzt erinnert (von Manipulationen nicht frei) die erschreckt wahrgenommene „Volkes Stimme“ auch an jene formelhaft längst bis in die Lokalpresse verbreitete Einsicht, dass als Ergebnis der neoliberalen Expansion nach innen in vielen Gesellschaften eine zunehmende soziale Polarisierung stattgefunden hat, jenes inzwischen bis in die Lokalzeitungen vorgedrungene „Auseinandergehen der Schere“.58 Während in allen kapitalistischen Ländern Privatisierungen öffentlicher Einrichtungen betrieben wurden, hatte man es in Ostdeutschland mit einer doppelten Privatisierung zu tun, nämlich der eben benannten sowie einer Privatisierung der gesamten Gesellschaft. Der schon in der DDR mutig auftretende Schriftsteller Volker Braun59 fasste die „Wende“-Erfahrungen vieler einstigen Bürgerinnen und Bürger des sozialistischen Staates in einer treffenden Gedichtzeile zusammen: „Ich bin noch hier, mein Land ging in den Westen.“

57 Heitmeyer 2018. 58 Das kann selbst der löblicherweise von der rot-grünen Koalition beschlossene und dem Bundestag regelmäßig vorzulegende „Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung“ nicht ganz leugnen, obwohl darin inzwischen der Begriff „Armut“ durch „Armutsrisiko“ ersetzt wurde und „Reichtum“ mehr verdeckt als benannt wird (Rehberg 2011, S. 15; 2006b). 59 Braun 1992, S. 141.

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10. „Volksherrschaft“ als Alternative des Parlamentarismus

Nicht ganz vergessen sollten wir die unrühmliche ‚Tradition‘ einer Verachtung der Volksvertretungen, wie sie seit Otto von Bismarck und Kaiser Wilhelm II. bis hin zu Hitler und in etwas eleganteren Formulierungen von Carl Schmitt60 lanciert wurden. Letzterer betonte den auf Jean-Jacques Rousseau zurückgreifenden „Gegensatz von Parlamentarismus und Demokratie“. Zumeist wurde dabei das Parlament als „Schwatzbude“ diffamiert, übrigens – wenn auch ohne diese simplifizierende, aber wirksame Verächtlichmachung – gab es ähnliche Kritiken in den Zeiten der Studentenrevolte durchaus auch auf der linken Seite.61 Und heute erscheinen den sich betrogen Fühlenden die Politiker wiederum nicht mehr als Repräsentanten des „Souveräns“, eben des Volkes (hier eher als ethnos denn als demos gedacht),62 vielmehr als dessen „Angestellte“, die man nicht nur für „abgehoben“, sondern etwa bei den Dresdner Spaziergängern – entgegen allen Tatsachen – vor allem für „faul“ hält, weshalb man sie „auf Trab bringen“ müsse. Bei allen Schwierigkeiten und Querelen kann aber doch festgehalten werden, dass der Vereinigungsprozess sich ohne unüberwindliche Konflikte vollzogen hat. Gleichwohl kann man mit Blick auf die Wiedervereinigung daraus die Lehre ziehen, dass der Niedergang eines Systems und dessen revolutionäre Überwindung für sich genommen ein neues System noch nicht zu legitimieren vermag. Aber nicht zu vergessen: Die meisten einstigen DDR-Bürgerinnen und -Bürger zeigen sich in Umfragen im Ganzen zufrieden mit vielen Verbesserungen (etwa der baulichen Rettung der Städte). Jedoch etwa 30 Prozent sehen sich als daran nicht Beteiligte und etwa 15 Prozent sogar als Opfer. Das sind vor allem jene, die – gemessen an den alten Bundesländern – immer noch mit geringeren Löhnen und vor allem kleinen Renten auskommen müssen. Inzwischen beginnen auch die „West“-Deutschen langsam einzusehen, dass ein Gesellschaftszusammenbruch nie ohne Schmerzen vollzogen wird, dass es also nach dieser „unerhörten Begebenheit“63 auch vielfältige Enttäuschungen gibt. Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier64 jedenfalls hat öffentlich darüber nachgedacht, dass „viele Ostdeutsche sich bis heute nicht gehört“ fänden, nachdem sie nach dem Mauerfall viele „Härten des Umbruchs“ zu bewältigen gehabt hätten. Es sei höchste Zeit, sich damit zu beschäftigen. 60 61 62 63 64

Schmitt 2017, S. 5–23. Agnoli/Brückner 1986; Kennedy 1968; Becker 1994. Vgl. Strohschneider 2016. Lepenies 1992. Steinmeier 2019.

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und ein „Geistergespräch“ zwischen Theodor W. Adorno und Arnold Gehlen. In: Andreas Beitin und Eckhart Gillen (Hrsg.): Flashes of the Future. Die Kunst der 68er oder Die Macht der Ohnmächtigen [Katalog der gleichnamigen Ausstellung im Aachener Ludwig Forum für Internationale Kunst 2018]. Bonn: Bundeszentrale für politische Bildung, S. 52–57. Rehberg, Karl-Siegbert (2019a): Großstadt als Ort der „Blasiertheit“? Beobachtungen von Georg Simmel, In: Volker Hesse und Wolfgang Starke (Hrsg.): Die im Licht steh‘n: Fotografische Porträts Dresdner Bürger des 19. Jahrhunderts [Katalog zur gleichnamigen Ausstellung im Stadtmuseum Dresden]. Kromsdorf: Jonas, S. 165–172. Rehberg, Karl-Siegbert (2019b): „1968“ und die externalisierte Revolution. In: Nicole Burzan (Hrsg.): Komplexe Dynamiken globaler und regionale Entwicklungen. Verhandlungen des 39. Kongresses der Deutschen Gesellschaft für Soziologie in Göttingen 24.–28. September 2018. Rehberg, Karl-Siegbert und Paul Kaiser (Hrsg.) (2013): Bilderstreit und Gesellschaftsumbruch. Die Debatten um die Kunst aus der DDR im Prozess der deutschen Wiedervereinigung. Berlin, Kassel: Siebenhaar. Reuband, Karl-Heinz (2015): Wer demonstriert in Dresden für Pegida? Ergebnisse empirischer Studien, methodische Grundlagen und offene Fragen. In: MIP (21), S. 133–143. Richter, Gerhard (1990): Leserbrief in: art. Das Kunstmagazin 12 (7), S. 6. Scheler, Max (1915): Das Ressentiment im Aufbau der Moralen. In: ders.: Abhandlungen und Aufsätze. Bd. 1. Leipzig: Duncker & Humblot, S. 39–274. Schelsky, Helmut (1965): Der Mensch in der wissenschaftlichen Zivilisation [zuerst 1961]. In: ders.: Auf der Suche nach Wirklichkeit. Gesammelte Aufsätze. Düsseldorf, Köln: Diederichs, S. 439–480. Schmitt, Carl (2017): Die geistesgeschichtliche Lage des heutigen Parlamentarismus [zuerst 1923]. 10. Auflage. Berlin: Duncker & Humblot. Schröder, Richard (2004): „Was ist mit dem Osten los?“. In: FAZ v. 25.8.2005. Sloterdijk, Peter (2006): Zorn und Zeit. Politisch-psychologischer Versuch. Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Steinmeier, Frank-Walter (2019): „Viele Ostdeutsche fühlen sich bis heute nicht gehört“. In: Zeit Online v. 16.9.2019. Strohschneider, Peter (2016): Binnenspannungen und Zentrifugalkräfte in Europa. Anmerkungen zu Gesellschaft, Staat und Wissenschaft im Zeichen von Brexit, Technokratie und Populismus [Rede des Präsidenten der Deutschen Forschungsgemeinschaft auf deren Jahresversammlung am 05.07.2016 in Mainz], Videoaufzeichnung in: DFG bewegt. Mediathek der Deutschen Forschungsgemeinschaft [05.07.2016]. Tilly, Charles (1993): Die europäischen Revolutionen. München: Beck. Zapf, Wolfgang (1994): Einige Materialien zu Gesellschaft und Demokratie im vereinten Deutschland. In: Hansgert Peisert und Wolfgang Zapf (Hrsg.): Gesellschaft, Demokratie und Lebenschancen. Festschrift für Ralf Dahrendorf. Stuttgart: DVA, S. 291–312.

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II. Take the Streets. Repräsentationen, Wiedergänger und Resonanzen einer Revolution Wir brauchen eine andere Politik, also brauchen wir eine andere Regierung. Wer sie will, muss aus der Zuschauerdemokratie heraustreten. Wir brauchen eine außerparlamentarische Bewegung. Sie muß auf die Opposition in den Parlamenten überspringen. Die Erfahrung von 1968 und der Geist von 1989 sind für 1998 aufgerufen, den Machtwechsel herbeizuführen. Resignation löst kein Problem. Sie richtet nur Schaden an. (Erfurter Erklärung – Bis hierher und nicht weiter. Verantwortung für die soziale Demokratie, 1997)

Wenn die Protestbewegung gegen Hartz IV im Osten auch nicht gewonnen werden kann, so kann sie doch im Osten verloren gehen. Denn in der atomisierten sozialen und politischen Landschaft der fünf neuen Länder sind neofaschistische Gruppen längst zivilgesellschaftlich verankert. In einzelnen Orten haben Neonazis die Proteste übernehmen können und am Ende blieb den gutwilligen Veranstaltern nur die Resignation, um ihnen die öffentliche Bühne zu entziehen, zum Beispiel in Freital bei Dresden. (telegraph – ostdeutsche Zeitschrift, 2004)

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Unscharfe Kontraste Die filmischen Repräsentationen der Leipziger Montagsdemonstrationen im Kontext der DDR-Erinnerungskultur Andreas Kötzing

1. Einleitung

Die Leipziger Montagsdemonstrationen spielen im Verlauf der Friedlichen Revolution von 1989/1990 eine zentrale Rolle. Im Zusammenspiel mit vielen anderen Akteuren und Ereignissen – insbesondere der Ausreisebewegung über Ungarn – waren die wöchentlichen Zusammenkünfte im Anschluss an das Friedensgebet in der Nikolaikirche einer der wichtigsten Katalysatoren für das öffentliche Aufbegehren unterschiedlicher oppositioneller Gruppen in der DDR.1 Dass die Teilnehmer der Demonstrationen keine homogene Gruppe bildeten, ist hinlänglich bekannt. Sie kamen aus allen Altersgruppen und unterschiedlichen sozialen Milieus. Ausreisewillige, die jede Hoffnung auf Veränderungen im eigenen Land verloren hatten, trafen auf Personen, die ganz bewusst in der DDR bleiben wollten, um vor Ort Reformen zu erzwingen. Menschen, die selbst von Repressionen betroffen waren und die Staatsmacht bewusst herausforderten, demonstrierten neben Umweltaktivsten, Wehrdienstverweigerern oder christlichen Oppositionsgruppen, die sich gemeinsam für einen friedlichen Protest einsetzten. Unter den Demonstrierenden gab es mehr oder wenig stark organisierte Basisgruppen, aber nicht zuletzt auch „normale“ Leipzigerinnen und Leipziger, die spontan für mehr Meinungs- und Reisefreiheit auf die Straße gingen. Einig waren sich die Teilnehmer der Montagsdemonstrationen vor allem in ihrem gemeinsamen Gegner: der SED-Führung, deren Machtmonopol gebrochen werden sollte. Die divergierenden Interessen unter den Teilnehmer der Leipziger Montagsdemonstrationen zu betonen, mag im ersten Moment banal erscheinen. Doch im 1

Ich beziehe mich im Folgenden vor allem auf die zielgerichteten Montagsdemonstrationen ab dem 4. September 1989, die in Leipzig aber bereits eine lange Vorgeschichte hatten (vgl. Kowalczuk 2015, S. 309–313).

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Abstand von inzwischen mehr als 30 Jahren drohen die unterschiedlichen Motive, die zum Entstehen der Oppositionsbewegung in der DDR beitrugen, leicht in Vergessenheit zu geraten. Dies betrifft nicht primär den wissenschaftlichen Diskurs, im Gegenteil: Wohl kaum ein Thema der DDR-Geschichte kann als so gut erforscht gelten wie die Opposition in der DDR – viele Detailstudien haben dabei explizit unterschiedliche Motive hervorgehoben und auf deren längerfristige Ursachen verwiesen.2 Ausschlaggebend für die zunehmend diffuse Wahrnehmung speziell der Montagsdemonstrationen in Leipzig sind die politische und mediale Erinnerung an den Herbst 1989 in der DDR und die damit einhergehende Vereinfachung der historischen Umstände, die zum Zusammenbruch des SED-Regimes führten. In den Festreden und -schriften zum 30. Jubiläum des Mauerfalls wurde häufig eine vermeintlich einheitliche „Bürgerrechtsbewegung“ in der DDR als Urheber der Friedlichen Revolution herausgestellt, die mit ihrem Engagement den Weg zur Deutschen Einheit geebnet habe – eine Interpretation, die bereits der damalige Bundespräsident Richard von Weizsäcker bei seiner Rede am 7. Oktober 1990, nur wenige Tage nach der Wiedervereinigung, in der Leipziger Nikolaikirche anstellte.3 Die Öffnung der Mauer am 9. November 1989 in Berlin und der bereits elf Monate später erfolgte Beitritt der DDR zum Geltungsbereich des Grundgesetzes am 3. Oktober 1990 überstrahlte hier bereits die Erinnerung an die Anfänge der Montagsdemonstrationen, die wesentlich vielschichtiger waren. Nicht selten herrscht heute der Eindruck vor, die Demokratiebewegung in Leipzig und in anderen Städten der DDR hätte von Anfang an die nationale Einheit zum Ziel gehabt. Diese unterkomplexe Erinnerung an die verschiedenen Protestbewegungen in der DDR ebnet die zum Teil markanten Differenzen (und Streitigkeiten) innerhalb der ostdeutschen Opposition ein.4 Sie verkürzt außerdem die historische Bedeutung der Ereignisse von 1989, weil bestimmte Positionen, die keineswegs unerheblich für den gesellschaftlichen Aufbruch waren, in der öffentlichen Erinnerungskultur an den Rand gedrängt werden. Dazu gehören unter anderem jene Gruppen, die zwar für ein Ende der Alleinherrschaft der SED eintraten, sich aber

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Noch immer substanziell für den Überblick über die Vielfalt der oppositionellen Gruppen in der DDR ist die Studie Neubert 2000, hier speziell zu den Ursprüngen und zum Verlauf der Montagsdemonstrationen (S. 825–873). Siehe auch die Beiträge in Ansorg et al. (2005). Vgl. Jessen 2009, S. 472. Die Vielschichtigkeit unterstreicht u.a. Apelt (2009). Der Streit darüber, welche Teile der Opposition ausschlaggebend für die Revolution waren – die Ausreisewilligen oder die Anhänger der Bürgerrechtsgruppen, die im Land für Veränderungen kämpften –, wurde 2019 noch einmal durch eine im Feuilleton der FAZ ausgetragenen Kontroverse entfacht (vgl. dazu Großbölting 2020).

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für demokratische und selbstbestimmte Reformen aussprachen, ohne damit eine Übernahme des westlichen Gesellschaftssystems anzustreben.5 Die filmischen Inszenierungen der Montagsdemonstrationen – so meine These – haben an der defizitären und einseitigen Form der kulturellen Erinnerung einen maßgeblichen Anteil.6 Die mediale Darstellung des Herbstes 1989 beschränkt sich in der Regel auf den Fall der Mauer und die spätere Wiedervereinigung. Die politischen Auseinandersetzungen im Vorfeld werden hingegen nur selten thematisiert. Vielmehr erscheinen die Montagsdemonstrationen häufig als eine Art Vorgeschichte der Wiedervereinigung, obwohl dies lange Zeit nicht das erklärte Ziel vieler Demonstranten war. Und je länger die Ereignisse zurückliegen – so scheint es –, desto unschärfer werden die Kontraste in den filmischen Inszenierungen. Dies soll im Folgenden anhand verschiedener Beispiele genauer dargestellt werden. Ein Schwerpunkt liegt dabei auf der Wirkmacht der filmischen Quellen, die während der Montagsdemonstrationen entstanden sind und auf ihrer Bedeutung für die Inszenierung in einzelnen Spielfilmen. 2. Wirkmacht dokumentarischer TV-Bilder

Die filmischen Inszenierungen der Leipziger Montagsdemonstrationen begannen im Moment ihrer Entstehung. Eine zentrale Rolle spielten dabei dokumentarische Aufnahmen, die vor Ort in Leipzig entstanden und anschließend in westlichen Nachrichtensendungen ausgestrahlt wurden.7 Bereits bei der ersten Demonstration nach der Sommerpause am 4. September 1989 war – wohl keineswegs zufällig – ein westdeutsches Kamerateam vor Ort. Am Tag zuvor war in der Stadt die Herbstmesse eröffnet worden, zu der traditionell viele ausländische Journalisten in Leipzig anwesend waren. Horst Hano, Korrespondent der ARD, der im Sommer 1989 die Berichterstattung aus der DDR übernommen hatte, berichtete für die Tagesschau von der Nikolaikirche.8 Der Beitrag, der am gleichen Abend als Aufmacher in der 20-Uhr-Ausgabe zu sehen war, informierte über den zunächst 5 6

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Geisel 2005. Zu den unterschiedlichen theoretischen Ansätzen, Filme als Teil der Erinnerungskultur zu begreifen, vgl. Erll/Wodianka 2008, S. 1–20. Zum Verhältnis von Geschichte und Film sowie zur individuellen Rezeption durch die Zuschauer vgl. Moller 2018, S. 19–68. Vertiefend zur Gestaltung von historischen Narrativen in Spiel- und Dokumentarfilmen vgl. die methodischen Ansätze von Rothöhler 2011; Ebbrecht-Hartmann 2011 und Czekaj 2015. Vgl. insgesamt zur Rolle der Fernsehberichterstattung im Herbst 1989 Großmann 2015. Der Bericht ist online verfügbar unter https://www.tagesschau.de/multimedia/video/video­30913.html. Gesehen am 10.11.2020.

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friedlichen Verlauf der Demonstration mit ca. 1000 bis 2000 Teilnehmenden. Zu Beginn des Beitrages sind Menschen zu sehen, die die Kirche verlassen und sich auf dem Vorplatz versammeln. Ihnen stehen Einsatzkräfte der Volkspolizei (VP) gegenüber, deren Präsenz besonders bedrohlich wirkt: Zunächst sind nur die Stiefel in Großaufnahme zu sehen. Erst dann weitet sich das Bild der Kamera und die Polizeikräfte werden vollständig sichtbar. Anschließend wird eine kleine Gruppe jüngerer Männer gezeigt, die von Hano als „Zivilfahnder des Staatssicherheitsdienstes“ bezeichnet werden. Erst der Kommentar macht die konkrete Gefahrensituation transparent, da die Männer optisch von den übrigen Demonstranten kaum zu unterscheiden sind. Anschließend fängt die Kamera aus nächster Nähe ein selbstgemaltes Transparent ein, das von zwei Frauen getragen wird: „Für ein offnes Land mit freien Menschen“.9 Wenige Sekunden später wird es von den Einsatzkräften des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS) gewaltsam heruntergerissen. Es kommt zu einem Handgemenge, bei dem die Kamera mitten im Geschehen ist. Anschließend ertönen die ersten gemeinsamen Rufe der Demonstranten: „Wir wollen raus, wir wollen raus!“ Weitere Banner werden gewaltsam entfernt, die Demonstration scheint außer Kontrolle zu geraten. Hano kommentiert die beklemmenden Bilder aus dem Off eher zurückhaltend und nüchtern: „Etwa 1000 Demonstranten – zur Hälfte Ausreisewillige, zur Hälfte oppositionelle Gruppen, die bleiben wollen, aber für Reformen im Land auf die Straße gehen und dafür hohe Geldstrafen und neuerdings auch Freiheitsstrafen riskieren.“ Wenngleich der Beitrag in der Tagesschau nur ca. 90 Sekunden dauerte, war die Wirkung immens, zumal dies nicht der einzige Bericht im westdeutschen Fernsehen über die Demonstration war.10 Darauf reagierten wiederum einzelne DDR-Medien, wie z.B. die Junge Welt am 6. September 1989, mit einem ideologisch aufgeladenen Kommentar, der die Demonstranten in Leipzig zu Kriminellen erklärte und ein Loblied auf die Schutz- und Sicherheitsorgane in der DDR anstimmte. Doch der Versuch, die Demonstration zu einer inszenierten Provokation westlicher Medien abzustempeln und die Teilnehmer pauschal zu kriminalisieren, dürfte nur wenige Leser überzeugt haben. Wie sehr sich die SED-Staatsführung durch die westlichen TV-Bilder bloßgestellt fühlte, kann man nicht zuletzt daran erkennen, dass aus Leipzig fortan keine Korrespondenten mehr berichten durften. Ähnlich symbolträchtige Aufnahmen sollten bei den kommenden Demonstrationen auf jeden Fall 9

Gesine Oltmanns und Katrin Hattenhauer hatten das Transparent angefertigt. Sie gehörten zu einem Kreis von jungen Leipzigerinnen und Leipzigern, die maßgeblich an der Entstehung der Oppositionsbewegung beteiligt waren. Vgl. ausführlich die Schilderung aus Sicht der Zeitzeugen in Wensierski 2017, S. 386–389. 10 Neben der Tagesschau berichtete auch das ZDF von der Demonstration (vgl. Zander 2019).

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verhindert werden.11 An den vier darauffolgenden Montagen konnten ARD und ZDF daher nicht mehr direkt aus der Stadt berichten. Bis Anfang Oktober 1989 stieg die Zahl der Demonstrantinnen, die sich Montag für Montag in der Leipziger Innenstadt versammelten, sprunghaft an. Zum Teil kam es dabei zu heftigen Auseinandersetzungen mit der Polizei, die die Demonstrationen gewaltsam zu unterbinden versuchte.12 Mehrere Hundert Menschen kamen zwischenzeitlich in Haft. Die Proteste verliefen nicht immer zielgerichtet und waren zum Teil unübersichtlich, auch unter den kirchlichen Vertretern in Leipzig gab es Streit, da einzelne Kirchenfunktionäre eine Instrumentalisierung für politische Zwecke befürchteten und sich von den Demonstrationen distanzierten. Das dokumentarische Filmmaterial, das von diesen Montagsdemonstrationen überliefert ist, stammt überwiegend aus Überwachungskameras der Staatssicherheit und von der Volkspolizei selbst. Öffentlich bekannt wurden die Filmaufnahmen, in denen die Polizeigewalt festgehalten ist, daher erst deutlich später.13 In den westlichen Nachrichtensendungen waren in diesen Wochen zwar Fotos aus Leipzig zu sehen. Auch einzelne Telefoninterviews, zum Beispiel mit RolfMichael Turek, dem Pfarrer der Leipziger Markusgemeinde (am 26. September im heute journal) waren möglich. Neue Filmaufnahmen konnten die westdeutschen Fernsehsender aber erst von der Montagsdemonstration am 9. Oktober 1989 präsentieren. Die Großdemonstration mit über 70.000 Teilnehmern gilt als eines der Schlüsselereignisse der Friedlichen Revolution, da sie – anders als von vielen Beobachtern befürchtet – nicht mit Waffengewalt aufgelöst wurde und die Demonstranten ungehindert über den gesamten Innenstadtring ziehen konnten.14 Andere wichtige Ereignisse aus diesen Tagen, wie zum Beispiel eine Demonstration in Plauen zwei Tage zuvor, bei der die Staatsmacht bereits auf ähnliche Weise vor einer großen Menschenmenge kapitulieren musste, sind heute weitgehend aus der öffentlichen Erinnerung verschwunden.15 Die entscheidende Leipziger Montagsdemonstration ist deutlich präsenter geblieben, weil am 9. Oktober eindringliche Filmaufnahmen entstanden, die durch die Ausstrahlung in den westlichen Nachrichtensendungen eine große Wirkmacht entfalten konnten. Gedreht wurden sie von Siegbert Schefke und Aram Radomski, zwei oppositionellen Journalisten aus 11 Vgl. Großmann 2015, S. 160–162. 12 Vgl. Bahrmann/Links 2009. 13 Zu sehen sind die Aufnahmen u.a. im Doku-Drama „Das Wunder von Leipzig“ von Sebastian Dehnhardt und Matthias Schmidt aus dem Jahr 2008. Darin werden historische Aufnahmen mit Zeitzeugeninterviews und nachgestellten Szenen vermengt, leider ohne genaue Kennzeichnung der jeweiligen Archivbilder. 14 Kowalczuk 2015, S. 403–406; Jankowski 2009. 15 Vgl. Kowalczuk 2015, S. 397–401.

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der DDR, die den Demonstrationszug heimlich mit einer Videokamera filmten und das Material anschließend an einen westlichen Journalisten übergaben, der die Aufnahmen nach West-Berlin schmuggelte.16 Am darauffolgenden Abend waren die Bilder in einem ca. zweiminütigen Zusammenschnitt im ARD-Politmagazin Report und anschließend noch einmal kurz in einem Beitrag in den Tagesthemen zu sehen.17 Wenngleich unter den widrigen Umständen – Schefke und Radomski hielten sich auf dem Turm einer Leipziger Kirche versteckt – nur sehr verschwommene Aufnahmen möglich waren, hatte das Bildmaterial trotzdem eine große Bedeutung. Es verdeutlichte das gesamte Ausmaß der Montagsdemonstrationen und ihren friedlichen Verlauf. Die Bilder hatten eine mobilisierende Wirkung auf die Demokratiebewegung in der DDR, da auch für die ostdeutschen Zuschauer der westdeutschen Nachrichtensendungen sichtbar wurde, dass es sich bei den Demonstrierenden in Leipzig keineswegs um Rowdys und Kriminelle handelte – wie in den DDR-Medien kolportiert wurde. Dass die Großdemonstration insgesamt friedlich verlaufen war, einzelne SED-Vertreter aus der Leipziger Bezirksleitung am Abend ihre Gesprächsbereitschaft mit der Opposition signalisiert hatten und sogar die Leipziger Volkszeitung erstmals davon Abstand nahm, die Demonstranten pauschal zu verunglimpfen, erfuhr man im ARD-Report und im Bericht der Tagesthemen. Sowohl die Berichte westdeutscher Kamerateams vom 4. September 1989 als auch die heimlich gedrehten Aufnahmen von Schefke und Radomski am 9. Oktober wurden seitdem vielfach medial aufgegriffen. Kaum eine Dokumentation über den „Herbst ’89“ kommt ohne diese bedeutenden Bildquellen aus. Neben anderen markanten Filmaufnahmen – wie zum Beispiel der Rede von Hans-Dietrich Genscher auf dem Balkon der Prager Botschaft am 30. September 1989 oder Günter Schabowskis denkwürdiger Auftritt auf der Pressekonferenz am 9. November 1989 16 Schefke 2019, S. 89–101. 17 Ihre ungekürzten Originalaufnahmen haben Schefke und Radomski frei ins Netz gestellt: https://www.youtube.com/watch?v=1-cG_vhFciU. Gesehen am 18.06.2021. Im Beitrag von Horst Hano, der am 10. Oktober 1989 in den Tagesthemen ausgestrahlt wurde, waren 16 Sekunden aus dem Material von Schefke und Radomski eingeblendet. Hano sprach dabei von „ausländischen Teams“, denen es gelungen sei, die Aufnahmen zu machen, um die eigentlichen Urheber in der DDR vor einer möglichen Verfolgung zu schützen. Vgl. den vollständigen Beitrag unter: https://www.chronik-der-mauer.de/system/files/videos/converted/171946/171946_ mp4_high.mp4. Gesehen am 12.11.2020. In der Tagesschau waren bereits um 20 Uhr Bilder aus Leipzig zu sehen gewesen. Diese stammten jedoch nicht aus dem Material von Schefke und Radomski, sondern von einem britischen BBC-Team, dem es gelungen war, trotz Aufenthaltsverbot nach Leipzig zu reisen. Vgl. den BBC-Beitrag unter https://www.bbc.com/news/ av/world-europe-50003311. Gesehen am 16.11.2020.

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in Ost-Berlin, die den Fall der Mauer einleitete – gehören sie zum visuellen Gedächtnis der Friedlichen Revolution.18 Im Hinblick auf die weitere filmische Repräsentation der Montagsdemonstrationen fällt an den Bildern indes auf, dass zum damaligen Zeitpunkt nur selten individuelle Eindrücke und Motive von Anhängern und Anhängerinnen der Oppositionsbewegung im Bild festgehalten werden konnten.19 Interviews mit Demonstrierenden gab es zu diesem Zeitpunkt nicht, das änderte sich jedoch in den kommenden Wochen. 3. Differenzierte Stimmen und Bilder

Ab dem 16. Oktober 1989 waren mehrere Kamerateams aus dem DEFA-Dokumentarfilmstudio unter anderem in Leipzig vor Ort, um bei den Demonstrationen zu filmen. Offizielle Drehgenehmigungen, die zuvor nicht erteilt worden waren, mussten von den Regisseurinnen und Regisseuren mehr oder weniger gegen den Widerstand der Studioleitung erzwungen werden.20 Mit „Leipzig im Herbst“ von Gerd Kroske, Andreas Voigt (Regie) und Sebastian Richter (Kamera) entstand binnen weniger Wochen eine ca. einstündige Dokumentation, die einen unmittelbaren Eindruck vom Demonstrationsgeschehen vermittelte und einzelne Protagonisten zu Wort kommen ließ. Der Wunsch nach Veränderung steht in den Gesprächen deutlich im Vordergrund, allerdings werden auch widersprüchliche Intentionen erkennbar. In der Eröffnungssequenz von „Leipzig im Herbst“ betont zum Beispiel ein Demonstrant seinen Wunsch nach einem neuen Reisegesetz. Neben vielen Dingen, die sich seiner Meinung nach ändern müssten, hebt er vor allem die „Einengung der Person“ hervor, die abgeschafft werden solle. Daraufhin unterbricht ihn ein anderer Demonstrant. Die Reisefreiheit sei doch nur ein „sekundäres“ Ziel. Es gehe ihm nicht darum, „mehr Bananen“ oder ein „Tagesvisum nach Hamburg“ zu bekommen, sondern um die allgemeine Gängelung der Menschen im Land. Auch andere Interviewte betonen das Anliegen, eine Demokratisierung in der DDR erreichen zu wollen. Im Verlauf des Films kommen viele weitere Stimmen zu Wort, unter anderem Vertreter der Stadtverwaltung, Angestellte der Straßenreinigung, Beschäftigte aus einer Eisengießerei, Mitarbeiterinnen und Unterstützer des Neuen Forums und 18 Hoffmann 2009. 19 Dazu zählt beispielsweise ein Beitrag des Politmagazins Kontraste vom 12.09.1989 über „Frust und Verfall“ in Leipzig. Die Kameraaufnahmen und Interviews mit Mitgliedern der Oppositionsbewegung, die noch vor der ersten Montagsdemonstration entstanden, stammten ebenfalls von Schefke und Radomski. 20 Vgl. Hecht 2000, S. 238.

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kirchliche Amtsträger, die an der Entstehung der Montagsdemonstrationen beteiligt waren. Die Vielzahl der Meinungen verdichtet sich zu einem gesellschaftlichen Bild, in dem neben dem unbedingten Willen zur Veränderung vor allem die gefährlichen Umstände der Demonstrationen hervortreten. Im Film werden dazu Fotos von Demonstrationen vor dem 9. Oktober eingeblendet, auf denen zu sehen ist, wie mit Wasserwerfern und Schlagstöcken gegen Demonstranten vorgegangen wurde. Einzelne Zeitzeugen berichten vor der Kamera, wie sie brutal verhaftet und stundenlang interniert wurden. Der Film unterstreicht damit, dass die Revolution frühestens nach dem Durchbruch vom 9. Oktober tatsächlich friedlich verlief. Mit Jochen Pommert (ZK-Sekretär für Agitation und Propaganda in der SEDBezirksleitung Leipzig) und dem Theologen und CDU-Politiker Peter Zimmermann berichten in „Leipzig im Herbst“ außerdem zwei Beteiligte über das Zustandekommen jener schriftlichen Erklärung, die am Abend des 9. Oktober im Anschluss an das Friedensgebet in verschiedenen Kirchen verlesen und anschließend über den Leipziger Stadtfunk in der gesamten Innenstadt verbreitet wurde. Der Aufruf der Leipziger Sechs forderte Besonnenheit und einen gewaltfreien Dialog zwischen Demonstranten und Staatsvertretern. Er trug neben anderen Initiativen zu Gewaltfreiheit wesentlich dazu bei, dass die Situation an diesem Abend nicht eskalierte, weil die Leipziger SED-Führung damit ihre Bereitschaft zu Gesprächen angedeutet hatte.21 „Leipzig im Herbst“ besticht noch heute durch seine Differenziertheit, da er auch das Bild einer „gewaltbereiten Staatsmacht“ hinterfragt und deutlich macht, dass sich hinter den Schutzschilden und Helmen der Polizei unterschiedliche Menschen verbargen, die einer extremen Drucksituation ausgesetzt waren. Dazu tragen vor allem drei längere Interviewsequenzen mit jungen Wehrpflichtigen einer VP-Bereitschaft bei, die bei den Montagsdemonstrationen zum Einsatz gekommen waren. Sie wirken vor der Kamera innerlich zerrissen und zugleich hilflos angesichts der Befehlsgewalt ihrer Vorgesetzten. Einige der Wehrpflichtigen waren in den Wochen zuvor Zeugen von brutaler Gewalt gegenüber einzelnen Demonstranten geworden, was maßgeblich zu ihrer politischen Distanzierung beitrug. Ihre offen kommunizierten Skrupel und Zweifel am Sinn staatlicher Gewalt gegenüber friedlichen Demonstranten unterstreichen, wie sehr das politische Machtgefüge zu dieser Zeit bereits ins Wanken geraten war. Die loyale Haltung der Sicherheitsorgane zur SED-Führung, die nach außen hin immer wieder in den DDR-Medien behauptet wurde, war längst brüchig geworden. Nicht wenige Polizeikräfte, die 21 Die Erklärung kam auf Initiative des Gewandhauskapellmeisters Kurt Masur zustande. Neben Masur, Pommert und Zimmermann waren der Kabarettist Bernd-Lutz Lange sowie die beiden SED-Funktionäre Roland Wötzel und Kurt Meyer beteiligt (vgl. Jankowski 2009, S. 94f.).

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dazu eingesetzt wurden, die Demonstrationen zu unterbinden, hätten vielleicht lieber auf der anderen Seite gestanden und mitdemonstriert. Neben „Leipzig im Herbst“ entstanden zu dieser Zeit weitere Dokumentarfilme, die den Verlauf der Montagsdemonstrationen aus nächster Nähe begleiteten. Dazu zählt „Aufbruch Leipzig – Oktober ’89“ von Georg Kilian. Der Film geht kaum auf die eigentlichen Demonstrationen ein und lässt stattdessen verschiedene Leipziger Persönlichkeiten zu Wort kommen, die in Interviews über die Situation in der Stadt berichten. Im Mittelpunkt steht auch hier das Anliegen, Reformen zu erzwingen. Die Hoffnung auf einen friedlichen Wandel ist groß. Zwischen den Zeilen wird jedoch spürbar, dass es erste Versuche gab, die Demonstrationen zu vereinnahmen, insbesondere von SED-Funktionären, die den Reformprozess im Land gestalten wollten, ohne die bestehenden Machtstrukturen grundlegend zu verändern. Das sollte sich schon bald als Chimäre erweisen. Spätestens mit dem Fall der Mauer am 9. November 1989 in Berlin war der Zusammenbruch des SED-Regimes nicht mehr aufzuhalten. Die Montagsdemonstrationen in Leipzig wurden auch nach dem Mauerfall weiter fortgesetzt. Nachdem die Gefahr einer gewaltsamen Niederschlagung der Demokratiebewegung gebannt schien, stiegen die Teilnehmerzahlen auf mehrere Hunderttausend an. Sowohl die Zusammensetzung der Demonstranten als auch die zentralen Forderungen wandelten sich dabei binnen weniger Wochen. Spätestens nach Helmut Kohls vielbeachteter Rede vor der Ruine der Dresdner Frauenkirche am 19. Dezember 1989, als der damalige Bundeskanzler öffentlich über das Ziel einer möglichen Wiedervereinigung sprach, gewann auch in Leipzig die „Deutsche Frage“ an Bedeutung. Das Streben nach nationaler Einheit, das bei den Montagsdemonstrationen bis dahin keine große Rolle gespielt hatte, kristallisierte sich nun schnell als zentrales Motiv auf den Montagsdemonstrationen heraus. Auch dieser Prozess – die „nationale Wende“ innerhalb der Friedlichen Revolution22 – wurde filmisch aus nächster Nähe festgehalten, unter anderem von Andreas Voigt, der seine Beobachtungen in der Stadt fortsetzte. Aus „Leipzig im Herbst“ ging eine mehrteilige Filmreihe hervor, in deren Zentrum verschiedene Personen stehen, die Voigt über einen längeren Zeitraum begleitet hat.23 In „Letztes Jahr Titanic“ (1991) wird auch der Wandel der Montagsdemonstrationen reflektiert. Gleich zu Beginn des Films sieht man einen Zug, der in den Leipziger Hauptbahnhof einfährt. Aus dem Off sind Sprechchöre zu hören: Von „Wir blei22 Vgl. Ohse 2009. 23 Voigts filmische Beobachtung in Leipzig hatten bereits 1987 mit „Alfred“ begonnen. Nach „Leipzig im Herbst“ folgten „Letztes Jahr Titanic“ (1991), „Glaube Liebe Hoffnung“ (1994), „Große weite Welt“ (1997) und zuletzt „Alles andere zeigt die Zeit“ (2015). Vgl. Lemke 2019.

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ben hier“ und „Wir sind das Volk“ führt der Weg über „Freie Wahlen“ und „Gorbi, Gorbi“-Rufe hin zu „Deutschland, einig Vaterland!“ und jubilierenden „Helmut, Helmut“-Sprechchören, ehe der Zug zum Stehen kommt. Die Bilder, die im Anschluss daran von den Straßen Leipzigs zu sehen sind, erinnern nur noch wegen der räumlichen Umgebung an die Aufnahmen vom September und Oktober 1989. Die Stadt ist die gleiche, aber die Welt hat sich verändert. In harmonischer Stimmung feiern die Menschen, fröhlich und ausgelassen. Von den Gefahren und Widerständen, denen die Demonstranten noch wenige Woche zuvor ausgesetzt waren, ist nichts mehr zu spüren. Die Revolution ist zum Karnevalsumzug geworden, so scheint es.24 Die Aufnahmen von einer Wahlkampfkundgebung auf dem Augustusplatz unterstreichen den politischen Stimmungswandel. Ein Redner, der nicht namentlich genannt wird und auch nicht im Bild zu sehen ist, mahnt zur Vorsicht. Bundesrepublik und DDR müssten sich schrittweise annähern, aber man dürfe das Denken nicht nur den Menschen im Westen überlassen. Als er zu einer Kritik an der Wiedervereinigungspolitik der CDU ansetzt, wird er ausgebuht und von der Bühne gepfiffen. „Du bist wohl von der Stasi!“, schallt es ihm entgegen. Ähnlich wirkt die Stimmung auch in Gerd Kroskes Film „Kehraus“ über eine Gruppe Leipziger Straßenkehrer, die der Regisseur bereits bei den Dreharbeiten zu „Leipzig im Herbst“ kennengelernt hatte. Der Film – der erste Teil einer Trilogie – entstand im Frühjahr 1990, als die Montagsdemonstrationen bereits von den Forderungen nach einer schnellen Einführung der D-Mark und baldiger Wiedervereinigung dominiert wurden. Die triste Lebenssituation der drei Straßenkehrer Stefan, Gabi und Henry konterkariert die Euphorie der damaligen Aufbruchsstimmung. Sie kehren den Dreck weg, wenn die Demonstrationen zu Ende und alle Menschen nach Hause gegangen sind. Helmut Kohls verheißungsvolle Versprechungen bei einem Wahlkampfauftritt am 14. März 1990, die im Film zu hören sind, begeistern die Massen und wecken große Hoffnungen. Dass sich diese für Stefan, Gabi und Henry ebenso wie für viele andere Menschen nicht über Nacht erfüllen würden, unterstreicht „Kehraus“, indem er die Sorgen und Zweifel der Protagonisten angesichts einer ungewissen Zukunft ernst nimmt.25

24 Im Film sind tatsächlich viele Demonstranten mit Karnevalskostümen zu sehen. 25 Agde 2009.

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4. Strategien der Fiktionalisierung

Die dargestellten dokumentarischen Aufnahmen von den Montagsdemonstrationen spielen für später entstandene Spielfilme, die sich mit der Friedlichen Revolution beschäftigen, eine große Rolle. Sie stellen eine Art Bilderfundus dar, auf den Spielfilme in unterschiedlichem Maße zurückgreifen, um dramaturgisch zugespitzte Geschichten zu erzählen und diese möglichst authentisch erscheinen zu lassen. Dazu zählen einerseits Nachinszenierungen von historisch dokumentierten Fotos oder Filmaufnahmen und andererseits direkte Einbindungen von dokumentarischem Material in die Spielfilmhandlung selbst. Beide Möglichkeiten werden häufig auch miteinander kombiniert. Ein frühes Beispiel für diese Form der Fiktionalisierung ist Frank Beyers TVFilm „Nikolaikirche“ von 1995,26 der auf dem gleichnamigen Roman von Erich Loest basiert und sich speziell mit dem Verlauf der Friedlichen Revolution in Leipzig beschäftigt. Im Mittelpunkt der Handlung steht eine Familiengeschichte, in der sich die Konflikte im Umfeld der Oppositionsbewegung ebenso spiegeln wie die erstarrten Machtverhältnisse in SED und MfS. Die Montagsdemonstrationen dienen dabei als Kulminationspunkt der Handlung, die sich bis zum 9. Oktober 1989 erstreckt. Im Vergleich zu jüngeren Filmen über die Friedliche Revolution fällt auf, dass „Nikolaikirche“ um eine differenzierte Schilderung der damaligen Situation bemüht ist, auch bei der fiktionalen Darstellung der Demonstrationen selbst. Diese betrifft vor allem die konkreten zeithistorischen Umstände, unter anderem die gewaltsamen Übergriffe durch die Polizei vor dem 9. Oktober, die Anwesenheit westlicher Kamerateams, die unterschiedlichen Motive der Teilnehmerinnen, Forderungen und Parolen, auch die Streitigkeiten mit den kirchlichen Vertretern greift der Film auf. Eine große emotionale Kraft geht von den nachinszenierten Demonstrationen allerdings nicht aus, was vor allem an der vergleichsweise kleinen Zahl der beteiligten Statisten liegt. Bei der ersten Demonstration, die der Film ins Bild rückt, sind vor der Nikolaikirche nur wenige Menschen zu sehen, die anschließend von der Polizei verhaftet werden.27 Und bei der minutiösen Schilderung der Ereignisse vom Abend des 9. Oktober verzichtet der Film 26 Von „Nikolaikirche“ existieren zwei unterschiedlich lange Fassungen. Die TV-Fassung, die in zwei Teilen ausgestrahlt wurde, ist 180 Minuten lang. Im Kino lief eine deutlich gekürzte Version (131 Minuten). 27 In der Szene werden die Ereignisse verschiedener Montagsdemonstrationen zu einer einzigen Kundgebung gebündelt. Ob Beyer aus finanziellen Gründen keine größere Inszenierung drehen konnte oder ob er bewusst darauf verzichtete, weil er davon ausging, dass die Bilder allen Zuschauern noch sehr präsent waren, ist unklar. Vgl. die Autobiographie von Beyer 2001, S. 361–365.

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fast ganz auf eine Nachinszenierung der Demonstration, stattdessen wird gezielt authentisches Bildmaterial in die Spielfilmhandlung eingebunden. Dazu gehören Fotos, die an dem Abend gemacht wurden, und die Originalfilmaufnahmen der Überwachungskameras, die im Film auf den Monitoren der Staatssicherheit zu sehen sind und mehrfach eingeblendet werden. Unterlegt sind die Szenen mit Originalsprechchören von der Demonstration. Diese Art der Einbindung von dokumentarischem Bild- und Tonmaterial zählt seitdem zu den beliebtesten Stilmitteln, um speziell die Montagsdemonstrationen, aber auch generell Ereignisse der Friedlichen Revolution in eine Spielfilmhandlung einzubinden. Häufig sind Ausschnitte aus den originalen Nachrichtensendungen auf einem Fernsehgerät zu sehen, die von den Protagonisten des Films zur Kenntnis genommen werden. Die Originalaufnahmen erfüllen dabei unterschiedliche Funktionen. Sie sollen in erster Linie Authentizität suggerieren, auch wenn sie meist aus dem Kontext ihrer Entstehung herausgelöst werden. Die verwendeten Bilder sind so stark im öffentlichen Bewusstsein präsent, dass ihre Kenntnis beim Publikum vorausgesetzt wird. Sie stellen einen historischen Bezugsrahmen her, weil (zumindest für die älteren Zuschauer) automatisch Assoziationen und Erinnerungen an die damalige Zeit hervorgerufen werden. Dies gilt vor allem für die Bilder von der Maueröffnung, die in ihrer ikonischen Wirkung andere Ereignisse der Friedlichen Revolution noch einmal deutlich überstrahlen. Die Bilder können – abhängig vom jeweiligen Kontext der Spielfilmhandlung – unterschiedliche Reaktionen auslösen, je nachdem, welcher Protagonist sie gerade sieht. Die Mitarbeiter der Staatssicherheit, die sich am Ende von „Nikolaikirche“ in der „Runden Ecke“ verschanzen, blicken zum Beispiel völlig entgeistert auf die Überwachungsmonitore, auf denen sich der Demonstrationszug – scheinbar unaufhaltsam – um den Innenstadtring bewegt. Aus ihrer Perspektive repräsentieren die Bilder den endgültigen Zerfall ihrer Macht. Umgekehrt können ähnliche Bilder oder Töne als Zeichen für einen individuellen Aufbruch stehen, wenn sie im Film aus der Perspektive der „einfachen Bevölkerung“ oder von Oppositionellen wahrgenommen werden. Beispiele dafür gibt es viele, unter anderem in „Kruso“, einer Romanverfilmung von Thomas Stuber aus dem Jahr 2018 über eine Gruppe von Andersdenkenden und Aussteigern auf der Insel Hiddensee. Hier wird ein Radio, auf dem Nachrichten des Deutschlandfunks über die Ereignisse im „Herbst 89“ zu hören sind, zu einem Katalysator der Entwicklung. Das Spektrum der filmischen Inszenierungen der Friedlichen Revolution, in denen die Leipziger Montagsdemonstrationen eine signifikante Rolle spielen, ist unabhängig von diesen ästhetischen Darstellungsmitteln sehr groß. Anders als der Film „Nikolaikirche“, der sich ausschließlich auf Leipzig konzentriert und die dortige Entwicklung zum entscheidenden Moment der Friedlichen Revolution stili-

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siert, spielen in vielen Filmen die Demonstrationen meist nur eine untergeordnete Rolle auf dem Weg zum Fall der Mauer, der demgegenüber deutlich häufiger im Mittelpunkt steht. Die Filme reichen von emotional aufgeladenen Liebesdramen wie dem zweiteiligen Sat.1-Eventmovie „Wir sind das Volk – Liebe kennt keine Grenzen“ aus dem Jahr 2008 bis hin zur klamaukigen Honecker-Verwechslungskomödie „Vorwärts immer!“ aus dem Jahre 2017. Darin hebt ein Doppelgänger des SED-Vorsitzenden am 9. Oktober 1989 in letzter Sekunde den Schießbefehl bei der Leipziger Montagsdemonstration auf, um seine Tochter zu retten. Die Filme beziehen sich zwar (mehr oder weniger direkt) auf historische Ereignisse und greifen dabei Fakten auf – wie zum Beispiel die heimlich gedrehten Filmaufnahmen von Siegbert Schefke und Aram Radomski, die am 9. Oktober in Leipzig entstanden sind und dann westlichen Fernsehteams zugespielt wurden. Sowohl in „Wir sind das Volk“ als auch in „Vorwärts immer!“ werden die Umstände der Filmaufnahmen thematisiert, zum Teil allerdings mit gravierenden Veränderungen, damit sich die Aktion in die jeweilige Dramaturgie des Films einfügt. In „Vorwärts immer!“ dienen sie als Aufhänger für den Vater-Tochter-Konflikt und eine Dreiecksliebesgeschichte, die sich am Abend der entscheidenden Montagsdemonstration zuspitzt. Im ständigen Wechsel von Slapstickkomödie und ernsthafter Erzählung bleiben die zeithistorischen Umstände aber nur erzählerisches Beiwerk ohne nennenswerte Bedeutung. In „Wir sind das Volk“ spielt der politische Kontext der Demonstration eine größere Rolle, aber auch hier überwiegen die dramaturgischen Zuspitzungen: Zwei Freunde, die heimlich nach Leipzig reisen, um dort zu drehen, werden von der Staatssicherheit verfolgt, weil sie so offen vom Dach eines Hochhauses filmen, dass sie von der Straße aus gleich von mehreren Leuten erkannt werden. Neben der geglückten Flucht erinnert auch die anschließende Übergabe des Videos an einen ausländischen Kontaktmann eher an einen Abenteuerfilm. Dass Spielfilme zeithistorische Umstände verfremden, um mit konventionellen Erzählmitteln das Unterhaltungsbedürfnis des Publikums zu bedienen, ist kein alleiniges Phänomen der DDR-Geschichtsdarstellung oder speziell der filmischen Inszenierung der Friedlichen Revolution. Gerade im TV-Bereich finden diese Erzählungen eine breite Resonanz, so dass sich bestimmte Darstellungsmittel (wie die Farbgebung, Charakterzeichnungen, Figurenkonstellationen oder Ausstattungsdetails) auf frappierende Art und Weise ähneln und dadurch zu Klischees erstarren, die nur selten hinterfragt werden. Dazu zählt beispielsweise die Omnipräsenz und vermeintliche Allmacht der Staatssicherheit, die den Unrechtscharakter des SEDRegimes visualisiert. Mitunter lassen sich dabei sogar bewusste Überschneidungen zwischen der Inszenierung von NS- und DDR-Geschichte beobachten, unter anderem durch die Art und Weise, wie Stasi- und Gestapo-Mitarbeiter dargestellt

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werden. Die bundesrepublikanische Filmwirklichkeit steht dagegen häufig als Chiffre für „Freiheit“ und „Demokratie“, meist ohne die konkreten Lebensumstände im Westen zu hinterfragen.28 Das ist möglichweise auch ein Grund dafür, warum filmische Inszenierungen der Friedlichen Revolution häufig mit dem Fall der Mauer oder der Wiedervereinigung enden, während die Zeit danach eher selten zum Gegenstand von Spielfilmen wird, wenngleich dort viele spannende und konfliktreiche Geschichten zu erzählen wären.29 5. Wirkmacht des Diktaturgedächtnisses

Die inhaltlichen Verknüpfungen zwischen dem Beginn der Friedlichen Revolution im Rahmen der Montagsdemonstrationen und der Wiedervereinigung, die viele Spielfilme herstellen, ebnen die widersprüchlichen Entwicklungen des Herbstes 1989 zwangsläufig ein. Demokratisierungsbestrebungen innerhalb der DDR, radikale Reformvorstellungen oder Gedanken über einen „Dritten Weg“ zwischen dem gescheiterten Staatssozialismus im Osten und dem marktwirtschaftlichen System im Westen spielen in filmischen Inszenierungen der Zeit von 1989/1990 eher eine Nebenrolle, so zum Beispiel in der vierten Staffel der populären ARDFernsehserie „Weißensee“, die unter anderem die ersten freien Volkskammerwahlen vom 18. März 1990 aufgreift und zeigt, wie überfordert manche Anhänger der Oppositionsbewegung im Wahlkampf agierten. Die Gründe dafür hinterfragt die Serie jedoch nicht und bleibt damit nur an der Oberfläche der historischen Entwicklung. Treuhand-Verstrickungen, alte SED-Seilschaften und Geschäfte mit gefälschten Stasi-Akten scheinen als Themen wesentlich einträglicher zu sein, um das Publikum zu erreichen.30 Dramaturgische Vereinfachungen wie in „Weißensee“ oder anderen Filmen über die Wendezeit lassen sich jedoch nicht ausschließlich mit dem Unterhaltungsbedürfnis oder etablierten Genrekonventionen erklären. Sie spiegeln indirekt auch die Prämissen der öffentlichen Erinnerung an die DDR-Vergangenheit wider. In seiner Analyse der DDR-Erinnerungslandschaften hat Martin Sabrow bereits vor über zehn Jahren darauf hingewiesen, dass im Diskurs um die „richtige“ Erinnerung an die DDR-Vergangenheit mehrere Gedächtnisformen miteinander konkurrierten und dabei eine klare Dominanz des „Diktaturgedächtnisses“ gegenüber anderen Erinnerungslandschaften wie dem „Arrangement“- oder dem 28 Steinle 2009. 29 Kötzing 2019. 30 Kötzing 2018.

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„Fortschrittsgedächtnis“ zu beobachten sei.31 Das Arrangementgedächtnis räumt der Erinnerung an den Alltag in der DDR einen großen Stellenwert ein und lässt Platz für eigenständige, biographisch mitunter auch widersprüchliche Entwicklungen, ohne dabei die Folgen des SED-Herrschaftssystems auszublenden. Das Fortschrittsgedächtnis hebt hingegen eher auf den utopischen Charakter einer sozialistischen Gesellschaftsordnung als legitime Alternative zum westlich-kapitalistischen System ab. Erinnerungen an soziale Errungenschaften stehen dabei häufig im Vordergrund oder auch egalitäre Prinzipien im Bildungs- und Wirtschaftssystem, in dem nicht die Profitmaximierung Einzelner, sondern die Interessen aller Menschen im Vordergrund stehen sollten. Beide Erinnerungslandschaften werden überlagert vom hegemonialen Diskurs des Diktaturgedächtnisses, das vor allem den repressiven Charakter des SED-Regimes in den Mittelpunkt rückt – ebenso wie die Überwindung der Diktatur durch die Friedliche Revolution. Die Fokussierung auf den Macht- und Repressionsapparat überdecke in der Erinnerung andersgelagerte Alltagserfahrungen, die nur einen Platz fänden, wenn sie von politischer Unfreiheit, Unterdrückung und Überwachung durch die Staatssicherheit berichteten, da das Diktaturgedächtnis primär auf einen „Täter-Opfer-Gegensatz“ ausgerichtet sei, so Sabrow. Wenngleich es in jüngster Zeit durchaus filmische Versuche gegeben hat, die einen differenzierteren Blick auf die DDR-Vergangenheit werfen, fällt auf, dass der Großteil der historischen Spielfilme über die Zeit von 1989/1990 nach wie vor primär das Diktaturgedächtnis anspricht.32 Dadurch werden bestimmte inhaltliche Schwerpunkte gesetzt, die letztlich auch zu einer vereinfachenden Sicht auf die Friedliche Revolution beitragen können. Ein prägnantes Beispiel hierfür ist der animierte Kinderfilm „Fritzi – Eine Wendewundergeschichte“ von 2019, der auf dem Buch „Fritzi war dabei“ basiert.33 Film und Buch erzählen die Geschichte der Friedlichen Revolution aus der Perspektive der etwa zehnjährigen Fritzi, die in Leipzig aufwächst und im Herbst 1989 unfreiwillig in die Wirren des gesellschaftlichen Umbruchs gerät. Ausgelöst wird Fritzis Interesse an den Demonstrationen in der Stadt und den politischen Hintergründen durch die Tatsache, dass ihre beste Freundin Sophie in den Sommerferien mit ihrer Familie über Ungarn und Österreich in die Bundesrepublik geflüchtet ist. Ihre Eltern geraten in Streit darüber, ob sie einen ähnlichen Schritt wagen sollen. Während die Mutter mit den Oppositionellen sympathisiert, zögert der Vater, weil er die Situation für zu gefähr31 Vgl. Sabrow 2009, S. 18–22. 32 Ein Beispiel für eine andere Perspektive ist Andreas Dresens Film „Gundermann“ von 2018 über den Liedermacher Gerhard Gundermann und dessen widersprüchliche Biographie; vgl. Kötzing 2020. 33 Schott 2019.

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lich hält. Fritzi ergreift schließlich selbst die Initiative, auch wenn sie in der Schule deswegen große Schwierigkeiten bekommt. Zwischenzeitlich droht ihr sogar ein Schulverweis, weil sie bei einer Montagsdemonstration zufällig von westdeutschen Kamerateams gefilmt wird und abends in den Nachrichten zu sehen ist. Nicht nur in dieser Szene greift der Film auf die erwähnten Authentizitätsstrategien zurück, indem Originalbildmaterial in die Handlung eingeflochten wird. Auch an anderen Stellen sind Archivbilder (vor allem auf dem Fernseher der Familie) zu sehen oder werden im Film direkt nachempfunden. Anders als das Buch konzentriert sich der Film jedoch nicht nur auf die Ereignisse in Leipzig, sondern erweitert die Handlung um einige markante Erzählstränge, die über die Anfänge der Demokratiebewegung hinausreichen. So kommt Fritzi im Film während einer Klassenfahrt in die Nähe der innerdeutschen Grenze und wird fast von Grenzbeamten erschossen. Auch das Ende des Films wurde deutlich erweitert: Nach der entscheidenden Demonstration vom 9. Oktober, an der Fritzi teilnimmt und miterlebt, wie der friedliche Zug um den Innenstadtring gelingt, ohne dass die Polizei eingreift, springt die Handlung weiter zur Nacht des Mauerfalls. Fritzi fährt mit ihrer Familie an die Grenze und wirkt selbst daran mit, dass die Schlagbäume geöffnet werden – sie und ihre Freundin Sophie, die bereits auf der anderen Seite wartet, sind am Ende wieder vereint. „Fritzi“ gelingt ein erstaunlich präziser Einblick in die Zeit der Friedlichen Revolution, insbesondere für Kinder und Jugendliche, die sich bislang noch nicht eingängiger mit den Ereignissen beschäftigt haben. Widersprüchliche Gefühle und Angst vor möglichen Konsequenzen verdichtet der Film innerhalb von Fritzis Familiensituation, ohne dabei die konkreten Gefahren der Demonstrationen zu verharmlosen – Fritzis Vater wird bei einer Demonstration festgenommen und für einige Tage inhaftiert. Vor allem unterstreicht der Film die Wichtigkeit zivilgesellschaftlichen Engagements für Kinder und Jugendliche, deren Stimme genauso wichtig sein kann wie die von Erwachsenen. Problematisch erscheint hingegen, dass der Film darüber hinaus andere Aspekte in die Handlung integriert, um den repressiven Charakter der SED-Diktatur für die kindlichen Zuschauer besser erfahrbar zu machen. Der Schießbefehl an der innerdeutschen Grenze, der bereits zu Beginn des Films erstmals thematisiert wird, oder der Ausschluss von unangepassten Kindern aus dem Bildungssystem werden miterzählt, können in der Kürze der Filmhandlung allerdings kaum vertieft werden. Der Film verfestigt dadurch wirkmächtige Narrative über die DDR-Vergangenheit, die eng mit den Erinnerungsmustern des Diktaturgedächtnisses verbunden sind und stärker hinterfragt werden müssten, darunter auch die scheinbare Allmächtigkeit der Stasi. Selbst als Fritzi sich in einem Reisebüro nur nach Ungarn erkundigt, ruft die Mitarbeiterin danach sofort beim MfS an. Bereits bei ihrem nächsten Besuch im Reisebüro wird

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Fritzi von einem Stasi-Mitarbeiter – charakteristisch mit Schlapphut, Schnurbart und Brille – überwacht und anschließend von ihm verfolgt. Der gleiche Stasi-Mitarbeiter taucht auch an anderen Stellen des Films immer wieder in unmittelbarer Nähe von Fritzi auf, als Zeichen der Omnipräsenz der Staatssicherheit. Auch die Erweiterung der Handlung mit der spannend in Szene gesetzten Grenzöffnung knüpft unmittelbar an das Diktaturgedächtnis an, hier in Form des Zusammenbruchs der Machtverhältnisse als Folge der Friedlichen Revolution. Die Szene, in der Sophie und Fritzi einander wieder in die Arme schließen können, weckt Assoziationen zur Wiedervereinigung, wenngleich diese im Film nicht mehr direkt erzählt wird. Primär im Diktaturgedächtnis verankert ist auch der im Frühjahr 2021 erschienene TV-Film „Die unheimliche Leichtigkeit der Revolution“, der sich lose am gleichnamigen Sachbuch von Peter Wensierski orientiert. Im Mittelpunkt der fiktionalen Geschichte steht eine oppositionelle Umweltgruppe in Leipzig, die im Schutz der Kirche agiert und auf akute Umweltverschmutzungen in der Stadt aufmerksam machen will. Franka, ein junges Mädchen aus einem eher regimetreuen Elternhaus, verliebt sich in den Krankenpfleger Stefan, der sie mit der Umweltgruppe in Kontakt bringt. Sie begeistert sich schnell für die Arbeit und beteiligt sich an Flugblattaktionen und öffentlichen Kundgebungen, darunter auch am ersten „Pleiße-Gedenkumzug“ im Juni 1988. Die Staatssicherheit beobachtet die Jugendlichen dabei auf Schritt und Tritt. Die Fokussierung des Films auf den Umweltprotest und die Zeit vor Beginn der eigentlichen Montagsdemonstrationen ist vielversprechend, weil sich dadurch die Chance eröffnet, das Entstehen der Oppositionsbewegung und die damit einhergehenden Konflikte innerhalb der einzelnen Gruppen und mit der Kirchenleitung näher zu beleuchten. Der Film bleibt dabei jedoch oberflächlich und inszeniert den Jugendprotest als bewusst ungezwungenen, freigeistigen Widerstand im Stil der ’68er-Bewegung oder zeitgenössischer Fridays-for-Future-Proteste. Die Auseinandersetzungen mit der Staatssicherheit wirken meist plakativ und klischeehaft, etwa wenn Stefan nach einer Verhaftung von einem MfS-Offizier im Verhör gezwungen wird, sich selbst eine Geruchsprobe mit einem Stofftuch abzunehmen.34 Im Hinblick speziell auf die Montagsdemonstrationen setzt der Film keine neuen Akzente. Die Handlung erstreckt sich zwar bis zum 4. September 1989, die erste Demonstration wird dabei jedoch abermals mittels der dokumentarischen TVAufnahmen der westdeutschen Kamerateams in den Film integriert.

34 Vgl. Kötzing 2021.

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6. Fazit

Die filmischen Inszenierungen der Montagsdemonstrationen lassen im Hinblick auf die kulturelle Erinnerung an die Friedliche Revolution unterschiedliche Rückschlüsse zu. In der Zusammenschau der Filme wird zunächst deutlich, welch große Bedeutung den dokumentarischen TV-Aufnahmen und frühen Dokumentarfilmen innewohnt, die im unmittelbaren Umfeld der Demonstrationen entstanden. Als Bildspeicher sind sie für die mediale Erinnerung unersetzlich, da sie einen direkten Zugang zu den zeitgenössischen Umständen ermöglichen. Aus den filmischen (und fotografischen) Motiven speisen sich wiederum die späteren fiktionalen Erzählungen über die Friedliche Revolution, unter anderem in Form konkreter Nachinszenierung oder durch die Einbindung des Archivmaterials in die Filme selbst, wobei der historische Kontext für die dramaturgische Zuspitzung meist erheblich simplifiziert wird. In den frühen Dokumentarfilmen wie „Leipzig im Herbst“ oder „Letztes Jahr Titanic“ sticht hervor, dass die Wiedervereinigung zunächst nicht als der entscheidende Antriebsmotor der Demokratiebewegung auszumachen ist. Erst nach dem Fall der Mauer bzw. den öffentlichen Bekenntnissen westdeutscher Politiker zur „nationalen Einheit“ ist in den filmischen Quellen ein Umschwung auszumachen. Die intentionale Verknüpfung von Montagsdemonstrationen und Wiedervereinigung, die sich später in vielen Spielfilmhandlungen manifestiert, täuscht über die tatsächlichen Widersprüche innerhalb der Friedlichen Revolution hinweg. Wenn die Demonstrationen in Leipzig lediglich als „Vorgeschichte“ des Mauerfalls erscheinen, aus dem wiederum – scheinbar alternativlos – die Wiedervereinigung folgt, wird die historische Entwicklung zwangsläufig verkürzt. Kontrastreiche Prozesse – wie die Entwicklung von „Wir sind das Volk“ zu „Wir sind ein Volk“ oder die Differenzen zwischen Ausreisewilligen und Demonstranten, die bewusst im Land bleiben wollten, um Veränderungen anzuregen – bleiben in Spielfilmen in der Regel unscharf oder werden ganz eingeebnet. Unterm Strich verbleiben daher in den filmischen Repräsentationen über die Friedliche Revolution und speziell über die Montagsdemonstrationen diverse Leerstellen, die noch zu füllen sind. Wichtig wären vor allem filmische Projekte mit einem größeren Kontext, um die häufige Fokussierung auf Leipzig und die Montagsdemonstrationen bzw. auf Berlin und den Fall der Mauer durch Eindrücke aus anderen Städten und Regionen der DDR zu erweitern. Die Arte-Dokumentation „Palast der Gespenster“ (2019) hat zum Beispiel zum ersten Mal die bereits erwähnte Demonstration in Plauen am 7. Oktober 1989 thematisiert und vorhandenes Originalfilmmaterial von diesem Abend stärker sichtbar gemacht. Wichtig erscheint außerdem, dass in Spielfilmen über die Friedliche Revolution

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die Narrative des Diktaturgedächtnisses stärker hinterfragt werden, indem zum Beispiel längerfristige Geschichten über den Umbruch von 1989/1990 hinaus erzählt werden, in denen es nicht nur um den Zusammenbruch der SED-Diktatur geht, sondern auch um die Frage, welche Bedeutung dies für einzelne Menschen hatte. 7. Literatur Agde, Günter (2009): Demo-Müll oder sanfte Ausdauer mit Ironie: die drei LeipzigFilme von Gerd Kroske. In: Tobias Ebbrecht, Hilde Hoffmann und Jörg Schweinitz (Hrsg.): DDR – erinnern, vergessen. Das visuelle Gedächtnis des Dokumentarfilms. Marburg: Schüren Verlag, S. 92–106. Ansorg, Leonore et. al. (Hrsg.) (2005): „Das Land ist still – noch!“ Herrschaftswandel und politische Gegnerschaft in der DDR (1971–1989). Köln, Weimar, Wien: Böhlau. Apelt, Andreas H. (2009): Die Opposition in der DDR und die deutsche Frage 1989/90. Berlin: Ch. Links. Bahrmann, Hannes und Christoph Links (2009): Die Chronik der Wende. Berlin: Ch. Links. Beyer, Frank (2001): Wenn der Wind sich dreht. Meine Filme, mein Leben. München: Econ Verlag. Czekaj, Sonja (2015): Deutsche Geschichtsbilder – Filme reflektieren Geschichte. Modellierungen historischer (Dis-)Kontinuität in selbstreflexiven Non-Fiction Filmen. Marburg: Schüren Verlag. Ebbrecht-Hartmann, Tobias (2011): Geschichtsbilder im medialen Gedächtnis. Filmische Narrationen des Holocaust. Bielefeld: transcript. Erll, Astrid und Stephanie Wodianka (2008): Phänomenologie und Methodologie des „Erinnerungsfilms“. In: dies. (Hrsg.): Film und kulturelle Erinnerung. Plurimediale Konstellationen. Berlin: De Gruyter. Geisel, Christoph (2005): Auf der Suche nach einem dritten Weg. Das politische Selbstverständnis der DDR-Opposition in den 80er Jahren. Berlin: Ch. Links. Großbölting, Thomas (2020): Wem gehört die Friedliche Revolution? Die Pollack-Kowalczuk-Kontroverse von 2019 als Lehrstück von Wissenschaftskommunikation. In: Deutschland Archiv, 14.07.2020. Online verfügbar unter www.bpb.de/312786. Gesehen am 20.11.2020. Großmann, Thomas (2015): Fernsehen, Revolution und das Ende der DDR. Göttingen: Wallstein. Hecht, Heidemarie (2000): Der letzte Akt. 1989–1992. In: Günter Jordan und Ralf Schenk (Hrsg.): Schwarzweiß und Farbe. DEFA-Dokumentarfilme 1946–1992. Berlin: Jovis, S. 235–269. Hoffmann, Hilde (2009): Dokumentarische Gedächtnisräume 1989–90. In: Tobias Eb-

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Das ’89-Narrativ im Spannungsfeld von Protest und politischer Indienstnahme David Begrich

Von wem stammt das nachstehende Zitat? Die Straße ist die Tribüne des Volkes – überall dort, wo es von den anderen Tribünen ausgeschlossen wird.1

Im Folgenden wird der Frage nachgegangen, ob es in Ostdeutschland eine zeitgeschichtlich bedingte, spezifische Form des Protestes gibt. Hierzu stelle ich meine Beobachtungen und Überlegungen zum Umgang mit dem Herbst ’89 im Spannungsfeld von Protest und politischer Indienstnahme vor. Der Streit um die Aneignung des Umbruchs in der DDR und ihre politische Indienstnahme, etwa durch die AfD im politischen Meinungskampf des Jahres 2019, und die offensive Bezugnahme der Querdenken-Bewegung auf das ’89-Narrativ wirft die Frage auf, worin dessen politische Wirkungsmacht besteht. 1. Dass ’89-Narrativ als Erlebnisnarrativ

Gibt es in Ostdeutschland Protest auf der Straße, so ist von den Teilnehmenden häufig der Satz zu hören: „Ich bin schon damals auf der Straße gewesen. Heute stehe ich wieder hier.“ Mit „damals“ ist das Jahr 1989 gemeint. Seit den 1990er Jahren beriefen sich die Protestierenden in Ostdeutschland auf den Herbst 1989, insbesondere auf den Straßenprotest der Montagsdemonstrationen. Dies zeigt, Protest und außerparlamentarisches politisches Engagement in Ostdeutschland sucht und findet seine Legitimation in den Erfahrungen des Umbruchs von 1989 in der DDR. Politisches Sprechen und Handeln außerhalb von verfassten Institutionen der Demokratie nimmt wiederkehrend Bezug auf 1989, um mit der Autorität des historischen Ereignisses das eigene, gegenwärtige Handeln zu beglaubigen. 1

Im mündlichen Vortrag wurden dem Auditorium drei Antwortalternativen vorgeschlagen: a) Björn Höcke, b) Bertolt Brecht (aus dem Libretto: „Das Verhör des Lukullus“) oder c) Steffie Spira.

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Das ’89-Narrativ im Spannungsfeld von Protest und politischer Indienstnahme

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Im politischen Raum debattiert wurde die offenkundige Existenz eines spezifisch ostdeutschen Protestnarrativs im Zuge des Aufkommens von PEGIDA 2014, da deren Protagonist*innen von Beginn an Anleihen bei den Protestrhetoriken des Herbstes 1989 nahmen. Sogleich begann ein Streit darüber, ob PEGIDA berechtigt sei, diese Tradition zu beanspruchen. Einige ehemalige Bürgerrechtler*innen und Politiker*innen jenseits der AfD widersprachen ob dieser Instrumentalisierung empört. Andere hingegen wollen Parallelen zwischen dem geistigen Klima in der Endphase der DDR und der Ära Merkel, insbesondere der Durchsetzung der Flüchtlingspolitik ausgemacht haben. Der Vorgang, Protest unter Verweis auf den Herbst 1989 zu legitimieren, ist nicht auf PEGIDA beschränkt. Das Motiv findet sich in den Protesten gegen die Maßnahmen der Treuhand-Anstalt, bei den Protesten der Kalikumpel in Bischofferode gegen die Schließung ihrer Grube und vor allem in den Protesten gegen die Hartz-IV-Reformen im Jahr 2004: „Weg mit Hartz-IV, das Volk sind wir“. Dieser Slogan macht deutlich: Für das Verständnis ostdeutscher Protestnarrative bedarf eines analytischen Zugriffs, der sich der zeitgeschichtlichen Kontexte des Umbruchs in der DDR und der Jahre der Transformation bewusst ist. Darüber hinaus ist zu fragen, welche kollektiven ostdeutschen Erfahrungen von 1989 angerufen werden, wenn es heute, im politischen System der Bundesrepublik Deutschland, um die Begründung von Protest geht. Liegt dem in Ostdeutschland verbreiteten Verständnis von Protest und dessen beabsichtigter Wirkung nicht ein grundsätzliches Missverständnis über die Macht- und Herrschaftsarchitektur der repräsentativen Demokratie zugrunde? Ob PEGIDA oder Proteste gegen die Treuhand-Politik – das ostdeutsche Verständnis von Protest ließe sich auf die Formel bringen: „Wir hier unten gehen so lange auf die Straße, bis die da oben machen, was wir hier unten wollen.“ Der darin zum Ausdruck kommende antiinstitutionelle Impuls lässt sich aus der Erfahrung mit dem erklären, was in der DDR die Obrigkeit war. 2. Die Unmittelbarkeit des Politischen – Historische Erfahrungen

Da die DDR keine Verwaltungsgerichtsbarkeit kannte, unterlagen Entscheidungen aus Politik und Verwaltung keinem juristisch normierten Korrektiv. Es hing vom ideologisch bedingten Handlungs- und Entscheidungsspielraum der dort handelnden Akteure ab, ob und unter welchen Voraussetzungen einmal getroffene Entscheidungen verändert wurden. Der Herrschaftsapparat der DDR wies in seiner Verquickung von Partei und Staat für die Bürger*innen den Charakter einer Blackbox auf, dessen Entscheidungsmechanismen nicht durchschaubar waren.

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Den Bürger*innen stand allein das Mittel der „Eingabe“, einer Mischung aus Beschwerde und Petition, zur Verfügung, um Maßnahmen und Entscheidungen in ihrem Sinne zu beeinflussen.2 Offener Protest und die kontroverse Thematisierung gesellschaftlicher Konflikte waren in der DDR weit im Vorfeld staatlicher Repression tabuisiert. Die Unfähigkeit des DDR-Staates, Protest gleich welcher Form auszuhalten und als legitime Interessenartikulation zu verstehen, führte dazu, dass jedes normabweichende Verhalten in der Gefahr stand, als Protest angesehen, politisiert und kriminalisiert zu werden. Die Folge war, dass die DDR in Gestalt ihres Geheimdienstes MfS überall politische „Staatsfeinde“ witterte, selbst dort, wo keine waren. Derart symbolisch aufgeladen und politisiert, erschienen Formen jugendlicher Lebensäußerungen, nichtkonforme Kunst und Satire als Staatsfeindschaft, was für die Betroffenen unter Umständen harte Repressionen zur Folge hatte. Zwar erweiterte sich die ideologische Toleranzfähigkeit der DDR phasenweise. Doch in welcher gesellschaftlichen Sphäre auch immer exemplarisch auf die Probe gestellt, verengte sich diese alsbald wieder, wenn der SED-Staat einen Kontrollverlust auch nur fürchtete. Nicht zufällig begann der Umbruch in der DDR mit dem Bruch des Tabus von offenem Protest, der sich auf der Straße durchsetzte und seine Wirkungsmacht bewies. Das sich aus dieser historischen Erfahrung speisende Verständnis von Protest und Politik enthält das Moment eines grundsätzlichen Misstrauens gegenüber als hermetisch wahrgenommenen staatlichen Institutionen und ihren Repräsentanten, welches in grobkörnige Elitenkritik umschlagen kann, wie sich bei PEGIDA oder Querdenken zeigt. Anders ausgedrückt: Wer Protest in erster Linie als Konfrontation mit einem als abgeschottet verstandenen politischen „Oben“ des Staates wahrnimmt, wem zudem als Instrument zur Artikulation und Durchsetzung seiner Interessen scheinbar nur der Straßenprotest zu Gebote steht, wird rasch an die Grenzen der heutigen Wirkungsmacht von Straßenprotest stoßen. Denn die Protestgeschichte Westdeutschlands zeigt: Im politischen System der Bundesrepublik ist die Wirkung von Straßenprotesten begrenzt, wo sie nicht durch andere Mittel politischer Interessendurchsetzung ergänzt werden. Dass derartige Mittel wie aktive Bürgerbeteiligung, Parteien, aber auch mediale Diskurse von ostdeutschen Protestakteuren bestenfalls nicht gesehen, im schlechtesten Fall verachtet werden, verweist auf die zumindest gefühlte Unterrepräsentation ostdeutscher Interessen in den Arenen der Öffentlichkeit der Bundesrepublik. Die skizzierte Selbstermächtigungserzählung von der „Macht der Straße“ im Herbst 1989 vollzieht eine Verschiebung der Protesterfahrung am Ende der DDR in die politische Kultur der heutigen Bundesrepublik. 2

Vgl. Merkel/Mühlberg 1998.

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Wie dies geschieht, lässt sich am Beispiel der Hartz-IV-Proteste des Jahres 2004 illustrieren. Hierzu lohnt es, den Initiator der Demonstrationen, Andreas Ehrhold, in den Blick zu nehmen. Der damals arbeitslose Facharbeiter schob die Protestwelle gegen Hartz IV im August 2004 dadurch an, dass er in der Innenstadt von Magdeburg kleine Zettel aushing, die zum Protest gegen die Hartz-IV-Reformen aufriefen. Ehrhold war politisch nicht organisiert, weder in der Gewerkschaft noch in einer Partei. Das Anschwellen des Protestes gegen Hartz IV vollzog sich ohne Beteiligung der Großorganisationen der alten Bundesrepublik. Keine Partei, keine Gewerkschaft hatte zu Beginn der Demonstrationen einen Fuß in der Tür dieser Bewegung. Die Mobilisierung zu den Hartz-IV-Protesten verlief zunächst über die ostdeutsche Flüsterpropaganda; ohne Echo in jenen Resonanzräumen einer medialen Öffentlichkeit, die nach westdeutschen Regeln funktioniert und in denen sich westdeutsche Protestkultur vollzieht: in den Netzwerken der etablierten Zivilgesellschaft aus Aktivist*innen und Nichtregierungsorganisationen (NGOs) und deren Medien. Den Genannten begegneten die Protestierenden mit Misstrauen. Ihnen wurde am Rande der Demonstrationen bedeutet, sie sollten sich als „westdeutsch“ wahrgenommene Akteure heraushalten. In der ersten Woche kamen ca. 150 Menschen. In der zweiten Woche einige Hundert mehr. In den Wochen darauf entwickelte sich dieser Protest ostdeutschlandweit zu einer der reichweitestärksten, zugleich aber auch erfolglosesten Bewegungen nach der Wiedervereinigung. Das Ziel, die Hartz-IV-Reformen zu verhindern, wurde nicht erreicht. Verbittert mussten die ostdeutschen Protestierenden feststellen, dass sich entgegen ihren Erwartungen im Horizont ihres Protestverständnisses der damalige Arbeitsminister Wolfgang Clement vom Widerspruch auf der Straße nicht beeindrucken oder umstimmen ließ. In Magdeburg bot die evangelische Kirche an, als Moderator und Dialogplattform zu agieren. Doch aus Sicht der Protestierenden ging das Angebot nicht über das eines politisch folgenlosen Bürgerdialogs hinaus. Anders als in der Umbruchzeit der DDR ist die Kirche in der Bundesrepublik kein Ort und keine Instanz zur Aushandlung gesellschaftlicher Konflikte oder der Entscheidung von Machtfragen. Der Soziologe Roland Roth hat mit Blick auf die Hartz-IV-Demonstrationen die These vertreten, dass diese deshalb so groß ausgefallen seien, weil es die Generation der Hauptakteure des Protests des Herbsts 1989 gewesen sei, die anlässlich der Hartz-IV-Proteste die Einlösung des westdeutschen Versprechens auf Wohlstand aus der Zeit der Wiedervereinigung noch einmal eingeklagt habe.3 Es war diese Generation, deren Vertreter*innen im Sommer 1989 zunächst scharenweise das Land DDR über Ungarn, Prag und Polen verließen und danach ab Oktober 3

Roth 2005.

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1989 den Protest auf die Straßen von Leipzig, Plauen und Schwerin trugen. Indem diese Akteure zum Protestformat Montagsdemo griffen, folgten sie ihrer protestbiographischen Prägung. Protest in einer pluralistischen Gesellschaft sortiert sich entlang von Partikularinteressen wie der Frauenbewegung, der Umwelt- oder Antiatombewegung. Bei Protesten in Ostdeutschland hingegen ist augenfällig, dass die Akteure ihre jeweiligen Partikularinteressen in das Gewand nicht nur einer Mehrheit, sondern das des gesamten „Volkes“ kleiden möchten. Im Lichte des von PEGIDA vertretenen ethnischen Begriffs von Volk ist hier zu fragen: Wer ist das Volk in der politischen Wahrnehmung ostdeutschen Protestes? 3. Mehrdimensionale Demokratiedistanz

Die Losung der Hartz-IV-Proteste im Jahr 2004 lautete: „Das Volk sind wir, weg mit Hartz-IV“. Protest wird hier im Namen einer politischen Majorität artikuliert. Zugleich wird „das Volk“ als Adressat in Dienst genommen, um gegen ‚die da oben‘ zu mobilisieren. Um wen es sich bei „denen da oben“ handelt, ist nicht genau bestimmt. Im Namen des „Volkes“ zu sprechen, impliziert, dass „das Volk“ als kollektives „unten“ verstanden wird, welches den Zumutungen einer Obrigkeit trotzt. Es gehört zur Geschichte politischer Kommunikation in Ostdeutschland, dass das Wort Volk seit der Gründung der DDR eine zentraler Begriff der offiziellen Propaganda war, der einem allerorten begegnete. Die Standardformeln der Propaganda der 1970er/1980er Jahre in der DDR lauteten: „Alles zum Wohle des Volkes“, „Alles mit dem Volk, alles durch das Volk, alles für das Volk“. Das Volk blieb bis zum Ende der DDR eine zentrale Vokabel für die Chimäre gesellschaftlicher Partizipation im realen Sozialismus. Unter „Volk“ wollte die marxistisch-leninistische Ideologie die Ausübung der Herrschaft im Land durch die gesellschaftliche Mehrheit im Interesse dieser Mehrheit verstanden wissen. In der ostdeutschen Protestgeschichte wurde dies bereits 1953 im Kontext des Aufstandes am 17. Juni unter Bezug auf Walter Ulbricht beantwortet mit: „Weg mit Spitzbart und Brille. Das ist des Volkes Wille.“ Damit in Zusammenhang steht die Weitergabe einer grundsätzlich skeptischen Sichtweise auf die Verfasstheit und Lebensdauer politischer Systeme. Die Prämisse der DDR, in ihr verwirklichten sich „alle fortschrittlichen Traditionen des deutschen Volkes“ zum Sozialismus im „ersten Arbeiter- und Bauernstaat auf deutschem Boden“ war eine historische Meistererzählung, die in der ideologiegesättigten Rhetorik der DDR allgegenwärtig war. Im Jahr 1989 wurde diese Meis-

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tererzählung scharf mit der biographischen Erfahrung des sich binnen Monaten vollziehenden Zusammenbruchs der DDR kontrastiert: Ein politisches System, welches sich geschichtsphilosophisch als wissenschaftlich determiniert stilisierte, brach binnen Wochen zusammen. Dies verstärkte die zuvor in der Bevölkerung vorhandene Skepsis gegenüber universellen Stabilitäts- und Fortschrittserzählungen, die mit dem Alltag der DDR nicht hatten Schritt halten können. Diese Erfahrung einer Fallhöhe zwischen der Legitimationserzählung und dem Alltag eines politischen Systems wird auf das Nachfolgende, die bundesrepublikanische Demokratie, übertragen. Hier tritt eine Ost-West-Differenz im Erleben von Zeitgeschichte zutage. Die biographische Erfahrung von Instabilität der Lebensumstände wird in Ostdeutschland auf das Verständnis der Stabilität politischer Systeme übertragen. So entsteht eine Sichtweise, welche die lineare Normalitätserzählung der alten Bundesrepublik mit der Erfahrung völlig anderer, disruptiver zeitgeschichtlicher Erfahrungen konfrontiert. Einer Mehrheit der westdeutsch sozialisierten Bürger*innen mag die von ihnen überblickte Geschichte der Bundesrepublik als ungebrochene Abfolge des Gleichschritts von Freiheit, Wohlstand und Stabilität erscheinen. Diese westdeutsche Erzählung von Normalität kollidiert mit den Erfahrungen von eineinhalb Generationen Ostdeutscher, die in ihrer Biographie und in ihrem zeitgeschichtlichen Bewusstsein eine Erfahrung von Aufbruch, Umbruch und Verunsicherung integrieren müssen. So ist zu erklären, dass die Bereitschaft zur Identifikation mit der Bundesrepublik in Ostdeutschland durch vielfältige Momente kultureller Entfremdung und Repräsentationsdefizite überlagert und gebrochen ist. Diese mehrdimensionale Distanz vieler Ostdeutscher zu allem, was die politische Kultur der Bundesrepublik ausmacht, befördert, was sich in sozialwissenschaftlichen Studien als „Demokratieferne“ manifestiert und seinen Ausdruck in Wahlenthaltung findet. Die Repräsentationslücke des ostdeutschen kulturellen und kommunikativen Gedächtnisses ist vielfach beschrieben worden, jedoch nach wie vor im vereinigten Deutschland nicht aufgehoben. Wer einem ostdeutschen kulturellen Koordinatensystem rhetorische und inhaltliche Referenz zu erweisen vermag, findet Gehör. Wer diesen Umstand sodann politisch auszunutzen vermag, trifft in Ostdeutschland auf emotionale, kulturelle und politische Resonanz. Da das vormalige Monopol der PDS bzw. Linkspartei auf ostdeutsche Identitätsdebatten seit etwa einem Jahrzehnt gebrochen ist und sich die ostdeutschen biographischen Perspektiven diversifiziert haben, ist das Feld offener denn je zuvor und kann durch andere politische Akteure besetzt werden. Die extreme Rechte hat die skizzierte Repräsentationslücke ostdeutscher Erfahrung in der westdeutsch

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geprägten Bundesrepublik frühzeitig in ihrem Sinne aufgegriffen. Seit Ende der 1990er Jahre hat sie zunächst in Gestalt der NPD und nun in jener der AfD die Deutung im Angebot, die Ostdeutschen wiesen durch ihre Prägungen in der DDR eine Kompetenz auf, die den Westdeutschen als Folge des westlichen Konsums abhandengekommen sei; nämlich die Fähigkeit, die von rechts konstatierte fortwährende Manipulation des Volkes durch Politik, Eliten und Presse in der Bundesrepublik zu durchschauen. Die Ostdeutschen seien, bedingt durch ihre Erfahrungen mit der Propaganda der DDR und deren Manipulationspraxis, in der Lage, im heutigen politischen System hinter die Kulissen zu schauen, und die ‚Wahrheit‘ zu erkennen. Eine weitere Quelle der Sympathie der extremen Rechten für das Erbe der DDR speist sich aus der Auffassung, auf dem Gebiet der DDR habe sich das „Deutsche“ in Gesellschaft und Kultur im Gegensatz zur kulturell amerikanisierten Gesellschaft Westdeutschlands im Wesentlichen erhalten. Als Indikatoren für diese Diagnose gelten nicht nur der in Ostdeutschland nach wie vor geringe Anteil von Migrant*innen an der Bevölkerung. Die Vorstellung von der in Ostdeutschland so hoch im Kurs stehenden Homogenität der Gesellschaft ruht auf zwei Achsen: jener der sozialen Gerechtigkeit und Gleichheit und jener der kulturellen und ethnischen Homogenität. Dieser wird höhere Bedeutung zugeschrieben als im Westen. Dies geht einher mit einer sozialwissenschaftlich messbaren erhöhten Ablehnung ethnischer Diversität.4 Die extreme Rechte nimmt die kollektiven Erfahrung der Ostdeutschen von der Vergänglichkeit eines politischen Systems politisch auf. In den Landtagswahlkämpfen 2019 in Brandenburg und Sachsen mobilisierte die AfD mit dem Slogan: „Vollende die Wende“ und „Wende 2.0“. In Ansprachen rief Björn Höcke, der westdeutsch sozialisierte Politiker, seiner ostdeutschen Zuhörerschaft auf den Marktplätzen die Enge des geistigen Klimas in der DDR in Erinnerung. Als Politiker höre er zunehmend die Auffassung ostdeutscher Bürger, das gegenwärtige Meinungsklima in der Bundesrepublik trage Züge des Klimas in der DDR. In seiner Rede auf dem Kyffhäuser-Treffen des völkischen „Flügels“ sagte Höcke 2019: „Es fühlt sich schon wieder so an wie in der DDR“, und man müsse als Eltern wieder darauf achtgeben, „dass sich die Kleinen in der Schule nicht verplappern“.5 Damit spielt Höcke auf die Trennung der privaten und öffentlichen Sprechräume in der DDR an. Offene Meinungsäußerungen zu politischen Belangen erfolgten nur im privaten Kreis. In der Öffentlichkeit passte sich eine Mehrheit den ideologischen Sprachschablonen an oder schwieg. Kinder wurden dazu erzogen, die Sphären pri4 5

Für einen Überblick vgl. Mau 2019. Zit. nach Hartmann/Leistner 2019, S. 23f.

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vaten und öffentlichen Sprechens tunlichst nicht zu verwechseln und sich in der Schule mit kritischen Äußerungen zurückzuhalten. Höcke präsentiert sich hier als Politiker, der um die ostdeutsche Erfahrung der Spaltung privater und öffentlicher Sprechräume weiß und sie deshalb politisch anprangert. Auf diese Weise setzt sich ausgerechnet der aus dem Westen importierte Politiker Björn Höcke als authentischer Sachwalter ostdeutscher zeitgeschichtlicher Erfahrungen und des von ihnen beeinflussten kritischen Blicks auf die gesellschaftlichen Umstände heute politisch in Szene. 4. Symbolische Aneignung des Herbstes 1989

Die seit Sommer 2020 auftretende Querdenken-Bewegung, die sich gegen die Maßnahmen von Bund und Ländern zur Eindämmung der Coronavirus-Pandemie wendet, setzt in ihren Statements das ’89-Narrativ offensiv ein. „Beenden wir es jetzt. Friedlich und entschlossen“, heißt es auf Plakaten, in deren Hintergrund ein Foto von der Leipziger Montagsdemonstration 1989 auf dem Innenstadtring zu sehen ist. Für den 7. November 2020 hatte Querdenken nicht ohne Grund nach Leipzig mobilisiert. Dort bewegten sich die Querdenken-Demonstrant*innen in der historischen Kulisse des städtischen Raumes zwischen Augustusplatz, Nikolaikirche und Innenstadtring auf jener Route, auf der die Montagsdemonstrationen 1989 stattgefunden hatten und von der zahlreiche, inzwischen medial kanonisierte Bilder entstanden waren. Querdenken zielte mit der Demonstration in der Leipziger Innenstadt auf ein politisch motiviertes Reenactment des Herbstes 1989, um zwei Botschaften zu senden. So sah sich Querdenken als Protestbewegung in der Tradition dissidenter Bewegungen in der DDR, die mutig und unter Inkaufnahme persönlicher Nachteile Wahrheiten gegen einen übermächtigen Staat aussprächen. Die Kritik an den mit den Auflagen zur Eindämmung der Coronavirus-Pandemie einhergehenden Grundrechtsbeschränkungen fügte Querdenken zeitgeschichtlich assoziierend zusammen mit dem Ende der Herrschaft Erich Honeckers. Durch die Rhetorik von der „Merkel-Diktatur“ oder „Corona-Diktatur“, die es in Leipzig zu beenden gelte, erhebt sich Querdenken selbst in den Stand eines Protestakteurs, der nichts weniger vorhat, als eine Diktatur zu beseitigen. Die Bilder der um den Leipziger Innenstadtring ziehenden Querdenken-Demonstration verfehlte ihre politisch-mediale Wirkung nicht und löste eine Debatte um die Aneignung der Symbolik des Herbstes 1989 durch Querdenken aus.6

6

Vgl. Stach/Hartmann 2020.

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Sowohl für PEGIDA als auch für Querdenken lassen sich inhaltliche Radikalisierungsverläufe beschreiben, innerhalb derer diktaturvergleiche bzw. Parallelisierungen zwischen der Endphase der DDR und dem damaligen Protestgeschehen mit heutigen Mobilisierungen zum rhetorischen Repertoire gehören. PEGIDA und Querdenken nehmen thematisch einen kurzen Weg von der Artikulation des Protestes gegen wahrgenommene politische Missstände hin zu einer fundamentalen Systemkritik, die einer evolutionär-partizipativen Veränderung der Gesellschaft im Namen des Volkes eine Absage erteilte und stattdessen dem Sturz wahlweise der „Corona-“ oder „Merkel-Diktatur“ das Wort redete. Damit einher gehen nicht selten Projektionen oder Sympathieerklärungen für antiliberale und autoritäre Konzepte von Gesellschaft und Kultur, wenn sie zum eigenen Weltbild passen. Beide, PEGIDA und Querdenken, sprechen in ihrer Protestrhetorik im Namen des Volkes gegen eine als verkommen und abgehoben apostrophierte politische Elite. 5. Die ostdeutsche Medienerfahrung und ihre politische Deutung heute

Diese Elitenkritik geht Hand in Hand mit der Diskreditierung der Presse. Der Begriff der „Lügenpresse“ ist mit dem Aufstieg von PEGIDA zum Kampfbegriff der extremen Rechten und ihres Umfeldes geworden, mit dem die Berichterstattung der öffentlich-rechtlichen Medien und etablierter Zeitungen diskreditiert wird. Die damit einhergehende Zunahme auch tätlicher Angriffe auf Journalist*innen ist vielfach dokumentiert. Es zeichnet sich eine polarisierte Fragmentierung der Öffentlichkeiten ab, wie sie in den USA die Ära Trump entscheidend prägte. Für den gegenwärtig fortschreitenden Prozess der Fragmentierung und Polarisierung medialer Öffentlichkeiten gibt es ein zeitgeschichtlich grundiertes ostdeutsches Interpretationsmuster. Wo, wie von PEGIDA, AfD oder Querdenken, die Berichterstattung von ARD und ZDF als Propagandafernsehen und in der Nachfolge der DDR-Nachrichtensendung aktuelle Kamera oder der Agitation des Schwarzen Kanals stehend denunziert wird, liegt die Konsequenz nahe, es werde dort systematisch gelogen. Diese Lügen seien von „oben“, von der Regierung angewiesen und wie zu Zeiten der DDR in die Redaktionen durchgestellt. Dagegen helfe, so die Deutung, nur jene Kunst des „Zwischen-den-Zeilen-Lesens“, wie sie in der DDR zur Medienkompetenz mündiger Bürger*innen gehörte. Nur auf diese Weise sei es möglich, die politischen Realitäten zu erschließen. An die Stelle des Westfernsehens, mit dem die Berichterstattung der DDR-Medien verglichen wurde, tritt nach Auffassung mancher Anhänger*innen von PEGIDA der russische Sender RT (Russia Today), dem sich Wahrheiten entnehmen ließen, die die

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etablierten Medien der Bundesrepublik systematisch verschwiegen. Ergänzt wird dies durch die zahllosen Informationsangebote rechter und verschwörungsideologischer Webportale, die ihrer Form nach semiseriöse Nachrichten produzieren, die über soziale Netzwerke aber eine hohe Reichweite erlangen. Die Auffassung, ein Urteil zur tatsächlichen politischen Lage in Deutschland könne man sich nicht mehr über die etablierten Medien bilden, hat zuletzt prominent der ehemalige Präsident des Bundesamtes für Verfassungsschutz Hans-Georg Maaßen vertreten. Mit Blick auf die Deutschlandberichterstattung der Neuen Zürcher Zeitung (NZZ) ließ Maaßen wissen, diese nehme heute jene Rolle ein, die zu Zeiten der deutschen Teilung das Westfernsehen innegehabt habe. Dort, also in der NZZ, erfahre man, was in deutschen Medien systematisch verschwiegen und beschönigt werde: das wahre Ausmaß der Kriminalität von Migranten*innen etwa. Die ostdeutsche Medienerfahrung in der DDR ist mithin zur Deutungsvorlage derer geworden, die westlich-liberale Politik und Medien in einer selbstverschuldeten Legitimations- und Glaubwürdigkeitskrise sehen. 6. Fazit

Die anhaltende Repräsentationslücke ostdeutscher Erfahrungen in der politischen Kultur der Bundesrepublik hat Auswirkungen auf das Demokratie- und Protestverständnis in Ostdeutschland. Dieses unterscheidet sich hinsichtlich des Erfahrungs- und Erwartungshorizontes des Protestes von denen westdeutscher neuer Sozialer Bewegungen und deren Protestgeschichte. Die Abwesenheit ostdeutscher zeitgeschichtlicher Ereignisse, Personen und kultureller Kontexte im öffentlichen Bewusstsein der westdeutsch dominierten Gesellschaft gibt den Raum frei für vielfältige, durchaus auch rechte und rechtsextreme An- und Enteignungen ostdeutscher Protestgeschichte. Wer die zum Teil erfolgreiche Instrumentalisierung ostdeutscher Erinnerungslandschaften und Protestkulturen durch diverse politische Strömungen im Namen der historischen Autonomie des Umbruchs 1989 in der DDR und seiner moralischen Werte beklagt, möge sich vor Augen führen, dass die ostdeutsche Zeitgeschichte unterhalb der Wahrnehmung der Instanzen westdeutscher Selbstverständlichkeit ein Ort von Hegemoniekämpfen um die Frage der Herkunft und Zukunft der Demokratie in Ostdeutschland ist. Deren Zukunft zu gestalten bedeutet, ihre spezifischen Erfahrungen einzubeziehen und als der westdeutschen Geschichte gleichrangig zu behandeln. Geschieht dies nicht, setzt sich diese Spaltung nicht nur im Geschichtsbewusstsein, sondern auch in der politischen Alltagskultur und ihrer Kommunikation fort.

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Der eingangs zitierte Satz stammt übrigens von der Schauspielerin Steffie Spira, die ihn auf der berühmt gewordenen ersten legalen Demonstration am 4. November 1989 auf dem Berliner Alexanderplatz sprach. Ihre Rede gehört zum Erbe ostdeutscher Protestgeschichte. 7. Literatur Hartmann, Greta und Alexander Leistner (2019): Umkämpftes Erbe. Zur Aktualität von „1989“ als Widerstandserzählung. In: Aus Politik und Zeitgeschichte 69 (35–37), S. 18–24. Merkel, Ina und Felix Mühlberg (1998): Eingaben und Öffentlichkeit. In: Ina Merkel (Hrsg.): „Wir sind doch nicht die Mecker-Ecke der Nation“. Briefe an das DDRFernsehen. Köln, Weimar, Wien: Böhlau, S. 9–32. Roth, Roland (2005): Warum Sachsen-Anhalt zu einem Zentrum der Anti-Hartz-Proteste wurde. In: Hella Baumeister, Ulrich Gransee und Klaus-Dieter Zimmermann (Hrsg.): Die Hartz-„Reformen“. Die Folgen von Hartz I–IV für ArbeitnehmerInnen. Hamburg: VSA, S. 145–156. Stach, Sabine und Greta Hartmann (2020): Friedliche Revolution 2.0? Zur performativen Aneignung von 1989 durch „Querdenken“ am 7. November 2020 in Leipzig. In: Zeitgeschichte-online, November 2020. Online verfügbar unter https://zeitgeschichteonline.de/geschichtskultur/friedliche-revolution-20. Gesehen am 14.05.2021.

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Von der Zuschauertribüne aus Barbara Thériault

„Wenn du Weihnachten zu uns kommen willst, solltest du nicht mit deinem Vater über Politik reden“, das sagte mir meine Mutter kurz vor den Feiertagen am Telefon. In diesem Jahr war ich nicht in Kanada, sondern in Deutschland. Rückblickend auf das Jahr in Erfurt droht mir hier das Gleiche. Zeit also, um sich auf die „schönsten Tage“ des Jahres und auf bestimmte unerwünschte Ansichten weltanschaulich vorzubereiten. Ich besinne mich auf zwei Situationen und die Reaktionen, die sie hervorriefen. An einem nassen Dienstagabend im Januar eines Wahljahres nehme ich die Straßenbahn gen Süden, zum Thüringer Landtag. Dort gibt es eine öffentliche Anhörung zur „Regelung religiöser und kultureller Konflikte und Gefahren bei ­Sakralbauten“. Ich staune über die Polizeipräsenz, gebe meinen Namen an, bevor ich Mantel und Tasche in der Garderobe abgebe. Es ist spät, also eile ich zur Zuschauertribüne. Es ist so voll, dass ich auf den Treppen zwischen zwei Sitzreihen Platz nehme. Von der Tribüne aus kann ich sehen, was im Plenarsaal vor sich geht: Einzelne Abgeordnete sind mit ihren Handys und Tablets beschäftigt. Die Fülle oben kontrastiert mit der Leere unten. Der Mann, verantwortlich für die öffentliche Anhörung, sitzt schon. Neben ihm ein anderer Mann und eine Frau. Er ist der Einwohner des Erfurter Ortsteils Marbach, der im Rahmen einer Petition über 5300 Unterschriften gesammelt hat, um das Baurecht zu ändern und den Bau einer Moschee zu verhindern. Einige Monate zuvor hatte die Landesentwicklungsgesellschaft Thüringen einer kleinen muslimischen Gemeinde ein Grundstück verkauft. Eine Moschee, samt Minarett und Kuppel, sollte im Ort gebaut werden. „Hm, hm.“ Der Präsident des Petitionsausschusses bittet um Aufmerksamkeit und fordert den Antragsteller auf, sein Anliegen vorzutragen. Nachdem er sich bei seinen Unterzeichnern bedankt hat, fängt der Redner an, Argumente gegen den Moscheebau aufzulisten. „Zu prüfen wäre …“, „Es ist unklar, ob …“, „Intransparent ist, ob …“ Es ist von vielen Details die Rede, irgendetwas mit der Einfahrt einer nahe gelegenen Feuerwehr, von Parkplätzen, Lärm …

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Mit Zitaten aus zahlreichen Quellen – der Presse, dem Grundgesetz, den EURichtlinien zum Thema Diskriminierung – will der Redner sichtlich zeigen, dass er kundig ist. Diese Gemeinde sei erzkonservativ, eine Minderheit, eine Sekte, von anderen Muslimen nicht anerkannt. Er sieht Konflikte zwischen ihnen und anderen muslimischen Gruppen, weist auf angelesene Ansichten zu Frauen und Homosexuellen hin. „Mit den Anschlägen auf Moscheen in der ganzen Welt, die alten Menschen in Marbach haben Angst“, braust er auf. Der Redner ist auffällig darum bemüht, das „Wir“ zu betonen: „unsere Feuerwehr“, „unsere Senioren“, „unsere Frauen“, „unsere Schwulen“. Während ich mich frage, ob die Schwulen sich tatsächlich von ihm vertreten fühlen, geschieht etwas: Die Stimme des Redners wird lauter, aufgeregter. Er hat das gefunden, was ein bekannter Soziologe eine „Sache“ nannte. Die Sache atmet nicht durch ihn aus, es scheint eher umgekehrt: Die Sache erweckt ihn zum Leben, er hat eine Mission, und das verleiht ihm und seinem Leben einen Sinn. Das Publikum um mich herum auf der Tribüne, Männer in karierten Hemden und Frauen mit kurzen Frisuren, saugt begierig seine Worte auf. Ich sitze wohl inmitten von Befürwortern, denn es wird geflüstert: „ja“, „ja“, „genau“. Keiner denkt daran, seine Nachrichten auf dem Smartphone zu prüfen. Unten spricht der Redner mit Leidenschaft weiter. Es ist, als ob er seinen Text vergessen hätte. Nun ergeht er sich in einer Tirade gegen die Grünen. Die meisten Abgeordneten sind weiterhin mit ihren Handys und Tablets beschäftigt; sie lassen sich mit der Außenwelt verbinden und scheinen gegen seine Argumente immun zu sein. „Herr X“, der Präsident unterbricht den Redner und ruft ihn zur Ordnung auf. Er habe seine Redezeit längst überzogen und solle beim Thema bleiben, der Genehmigung von Sakralbauten. „Es macht uns Angst“, sagt er etwas pathetisch. „Man macht sich verdächtig, wenn man bestimmte Fragen stellt, und die Marbacher fühlen sich von der Politik verlassen“, fügt er hinzu. Er nimmt einen tiefen Atemzug und will noch etwas sagen, aber der Präsident bittet ihn erneut, zum Schluss zu kommen. Er schlägt dann vor – und es kommt einem ganz unvermittelt vor – was er als einen „fairen Mittelweg“ erachtet: eine Moschee ohne Minarett und Kuppel. Der andere Mann ist an der Reihe, der Anwalt, der bei der Petition mitgewirkt hat. Seine Notizzettel lesend, gibt er ein Beispiel aus Westdeutschland, behauptet, dass die erwähnte muslimische Gemeinde eine Sekte sei, spricht über Sicherheit und die Angst vor religiösen und ethnischen Konflikten, Mangel an Akzeptanz … Als er fragt: „Wo sollen die normalen Muslime eine Moschee bauen?“, verwundert das inzwischen nur noch mäßig. Er erwähnt auch Goethe und Schiller, aber keiner hört mehr zu.

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Von der Zuschauertribüne aus

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Der dritte Redner ist eine Rednerin. Sie beginnt mit einer Aussage zu potenziellen religiösen Konflikten, der Sorge um Religionsfreiheit und die Lage der Konvertiten im Mittelosten. Gerade als sie anfangen will, theologisch zu argumentieren, unterbricht sie der Präsident: „Frau Y, die Zeit ist um.“ Die zwei ersten Redner hatten zu viel Zeit in Anspruch genommen. Offenkundig gilt der Schutz „unserer Frauen“ nicht ihrer Redezeit. Nun kommt der Regierungsexperte. Seine Antwort ist bündig: Die Rechtslage sei eindeutig, die Religionsfreiheit werde im Grundgesetz gewährleistet, es solle keine Diskriminierung geben, baurechtlich gebe es keinen Grund gegen den Moscheebau. In etwa vier Minuten hat der Experte die Argumente des Antragstellers zurückgewiesen. Die Zügigkeit und Sachlichkeit der Antwort war, wenn man will, indirekt proportional zur Länge und Emotionalität der Belange der Anzuhörenden. Draußen regnet es immer noch. In der Straßenbahn versuche ich, mit der brutalen Wirkung der knappen Regierungsantwort während der Anhörung klarzukommen. Dem Antragsteller wurde erlaubt, sein Anliegen vorzutragen, aber eine Diskussion zu den geäußerten Ängsten und Emotionen wurde nicht zugelassen; eine öffentliche Anhörung sei kein geeigneter Ort dafür. Dieser Eindruck sollte aber nicht vergessen lassen, was geschehen war. Der Hauptredner hatte etwas gewonnen: Sein Selbstwertgefühl wurde sicher gestärkt und ein möglicher Geltungsdrang befriedigt. Auch in dem Fall, dass seine Petition nichts ändert – und die Moschee gebaut wird –, hat er seinen Moment gehabt. Ich steige aus. Ich bin mit einer Bekannten verabredet. Nach der Ankunft von Geflüchteten im Jahr 2015 hatten auch wir eine Auseinandersetzung. Wir beruhigten uns, aber wir sind fortan beide vorsichtig geworden. Über die Petition unterhielten wir uns nicht. Ich werde Zeugin einer ähnlichen Reaktion, diesmal bei einem Abendvortrag eines Politikers an einer katholischen Akademie im März desselben Jahres. Der Politiker ist ein ehemaliger Abgeordneter und Präsident des Bundestages. Er liest eine formsichere Rede, macht rhetorische Pausen, bewegt übereinstimmend seine Hände und seinen Körper. Er hält eine Rede, die typisch ist für linksliberale Haltungen der alten Bundesrepublik, mit Verfassungspatriotismus im Vordergrund, plus – in diesem Fall – der friedlichen Revolution. Er spricht über Konflikte als Integrationsmotoren, die Bedeutung, sich Debatten zu stellen, andere sowie die eigene Position zu kennen und anzuerkennen, über Deutschland als Einwanderungsland und das Dilemma der Demokratie. Im Zuge dessen lässt er Namen fallen – Böckenförde, Habermas, Rosa – und Begriffe wie Globalisierung,

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Digitalisierung, Beschleunigung. Obwohl es nicht das Thema des Abends ist, erwähnt der Redner mehrmals den Islam. Als ich erfahre, dass der Vortragstext schon in einer großen Tageszeitung erschienen ist, bin ich etwas enttäuscht; es gibt mir aber die Gelegenheit, mich umzuschauen. Das Publikum ist mittleren bis höheren Alters, gebildet, katholisch. Es ist aufmerksam, aber müde. Die Freundin, die ich begleite, hat ebenfalls Mühe, die Augen offenzuhalten. Der Vortrag ist vorbei, und die Diskussion beginnt. Das Publikum stellt ein paar höfliche Fragen. Dann passiert es: Ein Mann steht auf, sagt etwas wie „Man sollte doch reden können“, „Das wird man doch noch sagen dürfen“, und weist auf einen polemischen Buchautor hin. Die Veranstalter fallen ihm gleich ins Wort: „Solche Argumente will man hier nicht hören.“ Bevor er eine Frage stellen kann, wird er abgespeist. Wie an dem Januarabend im Landtag wiederholt sich eine eigensinnige Reaktion auf einen Teil des Publikums und dessen Gefühle. Wenn die Sicherheitskräfte vor Ort gewesen wären, wäre der Mann wohl entfernt worden. Für den Redner und das gleichgesinnte Publikum brauchte man nicht mit den „Man-sollte-doch“Männern zu räsonieren. Es ist spät. Die Diskussion ist nicht zu Ende, aber der Politiker muss schnell zum Bahnhof. Meine Freundin ist nicht die Einzige, die gegen die Müdigkeit kämpft. Über den Abend werden wir nicht reden. Heute nicht. Wenn ich auf das Jahr zurückblicke, wird eines klar: Irgendwie war es nie der richtige Ort oder Moment, über eine Moschee, den Islam oder das Kopftuch zu reden; weder bei öffentlichen noch bei privaten Veranstaltungen. In Kanada übrigens auch nicht – die Einführung eines Punktesystems bei der Einwanderung löst wohl nicht alle Probleme … Auch ich wollte es oft nicht. Als ich doch darüber reden wollte, musste ich fürchten, eine Forschungspartnerschaft oder eine Freundschaft aufs Spiel zu setzen; manchmal waren auch meine Gesprächspartner schlicht zu müde oder hatten einfach keine Lust. Und was ist mit Weihnachten, wenn die große Politik auf den engen Raum der Familie trifft? Meiner Mutter zum Trotz könnte ich eine Erklärung wagen, wonach mein Vater verunsichert gegenüber dem ist, was ihm unbekannt ist. Er würde es heftig bestreiten und auf einen persönlichen Konflikt zurückführen. Dieses Jahr aber nicht.

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„Es war DDR live“ Zum Phänomen der retrospektiven Identifikation im Kontext des Nationalpopulismus Armin Steil

In einer berühmten Passage seiner Frankreichschriften macht Marx auf ein eigenartiges Verhaltensmuster revolutionärer Bewegungen aufmerksam: „Die Tradition aller toten Geschlechter lastet wie ein Alp auf dem Gehirne der Lebenden. Und wenn sie eben damit beschäftigt scheinen, sich und die Dinge umzuwälzen, noch nicht Dagewesenes zu schaffen, gerade in solchen Epochen revolutionärer Krise beschwören sie ängstlich die Geister der Vergangenheit zu ihrem Dienste herauf, entlehnen ihnen Namen, Schlachtparole, Kostüm, um in dieser altehrwürdigen Verkleidung und mit dieser erborgten Sprache die neue Weltgeschichtsszene aufzuführen. So maskierte sich Luther als Apostel Paulus, die Revolution von 1789– 1814 drapierte sich abwechselnd als römische Republik und als römisches Kaisertum, und die Revolution von 1848 wußte nichts Besseres zu tun, als hier 1789, dort die revolutionäre Überlieferung von 1793–1795 zu parodieren.“1 Was Marx an den Revolutionen der Neuzeit beobachtet hatte, zeigt sich auch an diversen sozialen Bewegungen der Gegenwart. So phantasierte sich die Studentenbewegung der späten 1960er Jahre in die Welt antikolonialer Befreiungsbewegungen und die kommunistische Organisationswelt der 1920er Jahre hinein. Analoges gilt auch für die radikale Rechte, die sich als Wiedergänger von Nationalsozialismus, Faschismus oder Konservativer Revolution inszeniert. Die sozialen Bewegungen der 2000er Jahre erkennen in der Herbstrevolution des Jahres 1989 ihr identifikatorisches Signalereignis. „Wir sind das Volk“ ist zur Leitparole diverser und sehr unterschiedlicher Protestbewegungen geworden: der „Montagsdemonstrationen“ gegen die Hartz-IV-Reformen (2004 und Folgejahre), der von einem buntscheckigen Querfront-Bündnis um 2014 veranstalteten „Mahnwachen für den Frieden“ oder der ins Rechtsextreme driftenden PEGIDADemonstrationen (und ihrer diversen Ablegern an anderen Orten) seit 2014.2 1 2

MEW 8, 115. Das jüngste, ins Zynische abgeglittene Beispiel sind die Querdenker-Demonstrationen gegen die Politik der Pandemiebekämpfung, wo häufig Embleme zu sehen sind, welche die Selbsti-

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Soziale Bewegungen entwickeln eine Neigung zur Selbstmythologisierung durch retrospektive Identifikation. Ein literarisches Vorbild für dieses Phänomen findet sich in Kleists „Michael Kohlhaas“, dessen Held, als sein Kampf um Gerechtigkeit ins Maßlose ausartet, sich zum „Statthalter Michaels, des Erzengels“ und seinen Widersacher zum „allgemeinen Feind aller Christen“ deklariert.3 Wie erklärt sich dieses Phänomen? Und welche Funktion erfüllt die retrospektive Identifikation für soziale Protestbewegungen? – Diese Fragen wären in größerem Rahmen vergleichend zu untersuchen. Ich beleuchte sie exemplarisch an der Geschichte eines Konfliktfalls, der in den Jahren 2006 bis 2008 bereits den Aufstieg eines „rechten“ – das heißt ethnonationalen – Populismus ankündigte.4 Hier entwickelte sich eine zunächst lokale, dann aber auch überregional ausstrahlende Protestbewegung gegen ein Moscheeprojekt in einem kleinen Ortsteil am Rande Berlins, die bald nicht nur ihren lokalen Aktionsrahmen sprengte, sondern sich im Verlauf des Streits einen erweiterten Zielhorizont erschloss, indem sie den Streit um ein Bauprojekt in einen Kampf gegen den „weltweiten Islam“ übersetzte. Einige Jahre später (2010) entstand aus ihrem Aktivistenkern heraus die erste nationalpopulistische Partei Deutschlands (Die Freiheit), die aber erfolglos blieb. Im Zuge dieses Protests wurde – soweit ich das erkennen kann zum ersten Mal – die urdemokratische Schlachtparole des Herbstes ’89 „Wir sind das Volk“ mit den Narrativen des Nationalpopulismus überschrieben. Die Renaissance dieses Slogans geschah eher zufällig und ungeplant, ohne dass im Rückblick irgendeine organisatorische Steuerung zu erkennen wäre. Darin brach sich damals die Wut einer erregten Menge Bahn, die letztlich nur einer organisatorischen Panne geschuldet war. Nachdem die Ankündigung eines Bauprojektes der Ahmadiyya-Gemeinde große Aufregung hervorgerufen hatte, wurde eine

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dentifikation mit den jüdischen Opfern des Nationalsozialismus zum Ausdruck bringen. Kleist 1808/1994, S. 41 und 36. Ich verdanke den Hinweis einer Studie von Luc Boltanski, die im Folgenden noch aufgegriffen und vorgestellt wird (Boltanski 1990). Ich greife hier auf die Ergebnisse einer Fallstudie zurück, die ich – gemeinsam mit Kerstin Palloks – in einem Forschungsprojekt am Institut für interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung der Universität Bielefeld durchgeführt habe (vgl. Steil/Palloks 2020, S. 29–125). Sie basiert auf Dokumentenanalysen der Konfliktkommunikation in Politik und Medien und fünf Interviews mit beteiligten Personen. Die in dem vorliegenden Beitrag als „Interview“ gekennzeichneten Aussagen stammen aus eigenen Interviews mit zwei Aktivistinnen der Protestinitiative, der Sprecherin einer Initiative für religiöse Toleranz und einer Expertin, die als Moderatorin einer Diskussionsveranstaltung tätig war. Die als „Chronik“ gekennzeichneten Zitate stammen aus der Ereignischronik der Bürgerinitiative, die das Moscheeprojekt bekämpfte. Sie ist nicht mehr im Netz verfügbar und wurde uns von einem ihrer Mitglieder freundlicherweise zur Verfügung gestellt.

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Bürgerversammlung einberufen, um den allgemeinen Unmut zu beschwichtigen. Doch kam es dann zu einem katastrophalen Planungsfehler. Mit 500 bis 600 Teilnehmenden hatte man gerechnet, doch ca. 1700 Menschen begehrten schließlich Einlass, so dass der überfüllte Saal geschlossen werden musste. Mehr als 1000 Personen standen draußen vor verschlossenen Türen. Ihr Unmut steigerte sich zu massivem Zorn; die Ausgeschlossenen begannen, den Slogan zu skandieren, der schließlich auch von einem Teil der im Saale Anwesenden aufgenommen wurde: „Wir sind das Volk!“ Schließlich kam es zu tumultartigen Szenen im Saal, als die Polizei erklärte, dass die Veranstaltung beendet und der Saal „geordnet“ zu verlassen sei. Nach Stunden des Wartens, nachdem der Protest draußen abgeebbt war, wurden die Vertreter der Moscheegemeinde unter Polizeischutz aus dem Gebäude geleitet. Ihr Imam erinnert sich später: „Das war in meinem 66-jährigen Leben das erste Mal in Deutschland, wo ich mich unsicher fühlte. […] Natürlich werden wir in Pakistan verfolgt. Aber dass ich so einen Moment in Deutschland erleben würde, war für mich unvorstellbar.“5 Niemand hatte dies geplant, niemand so gewollt; keiner weiß, wer zuerst den Ruf angestimmt hatte. Der Vorgang ist wohl nur so zu erklären: Was im kollektiven Gedächtnis als Erinnerung an eine Erfahrung politischer Selbstermächtigung gespeichert war, war in diesem Augenblick gleichsam zur Hand, um den kollektiven Affekten eine Sprache zu verleihen. Im Fortgang des Konfliktes, der über zwei Jahre andauerte und weit über die lokalen Grenzen hinaus Resonanz erfuhr, entwickelte der Slogan sich zur Identitätsformel einer Protestbewegung, die sich immer stärker politisierte. Auf zahlreichen Demonstrationen wurde er immer wieder skandiert, um den Souveränitätsanspruch der lokalen Gemeinschaft zum Ausdruck zu bringen. Zunächst nur gegen die lokalen Entscheidungsträger von Politik und Verwaltung gerichtet, erweiterte sich der Adressatenkreis des Protestes später, als sich die Niederlage abzeichnete, auf die politische Elite des nationalen Gemeinwesens. Gleichzeitig radikalisierte sich die Tonlage des Protestes zur aggressiven Fundamentalkritik an „sogenannten Volksvertreter[n]“, die sich zu „Steigbügelhaltern“ einer „Kalifatsmoschee“ machen würden, „anstatt hier bei uns, bei ihrem Volk zu stehen, da, wo sie hingehören“.6 Dies gipfelte in der Gleichsetzung der politischen Verhältnisse mit denen einer Diktatur. So klagte zum Beispiel ein Redner bei einer Demonstration eine Politik an, „welche uns, die Wähler, in althergebrachter Weise ignoriert, diffamiert und selbstherrlich […] Vernunft, Ehr-

5 Interview. 6 Zitat aus der Rede des Sprechers der Bürgerinitiative bei einer Kundgebung anlässlich der Einweihung der Moschee. Der Text ist auf einer eigenen Tonaufnahme dokumentiert.

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lichkeit und Rechtsstaatlichkeit zugunsten eines diktatorischen Machtanspruchs aufgegeben hat“.7 Auch im Rückblick, als die Aufregung des Kampfgeschehens längst abgeklungen ist, verstehen die Akteure den Konflikt noch als Wiederholung einer Urerfahrung: „Es war DDR live“, ein „Déjà-vu“, sagt eine Protestaktivistin Jahre später im Interview. Dafür tragen sie vielfältige Belege zusammen: so etwa, dass der Bezirksbürgermeister als SED-Mitglied in leitender Position eines großen Industriebetriebs tätig gewesen sei oder dass die Moderatorin einer Diskussionsveranstaltung als „Inoffizielle Mitarbeiterin“ für die Staatssicherheit gearbeitet habe. „Das ist DDR. Die ziehen sich ein anderes Mäntelchen an, machen sich einen anderen Aufdruck drauf, die Menschen ändern sich nicht.“8 Auch ihre Sicht auf die muslimischen Bauherren speist sich aus der Erinnerung an ideologische Indoktrinationserfahrungen: „Die vereinnahmen die Kinder, und die Kinder denken, die Eltern lügen. […] Und dann haben wir wieder DDR: ‚Warum der Sozialismus siegt‘.“9 Als Wiederkehr der Vergangenheit erfahren sie nicht zuletzt auch die kritisch-ablehnende, als diffamierend und stigmatisierend erlebte Berichterstattung der Presse, „die einfach schon die Person durch bestimmte Nebensätze und Beschreibungen diskreditiert. […] So wie früher: ‚Warum wird der Sozialismus siegen‘.“10 Besonders eine Fernsehreportage des Regionalsenders ruft helle Empörung hervor: Sie verbreite, so die Chronik der Protestinitiative, ein propagandistisch-verzerrtes und verleumderisches Bild des Ortsteils: „Das ist der Tag, an dem die Menschen in H. begreifen, dass es nicht um Wahrheit geht, sondern nur gesendet wird, was die Obrigen dulden – also genau wie zu DDR-Zeiten.“11 Was anfangs eine spontane, situativ bedingte Ausdruckshandlung kollektiver Affekte war, hat sich im Fortgang des Streits zu einem generalisierten Deutungsmuster verfestigt, das gegen alle argumentativen Einwände abgeschottet ist. Dass die Genehmigung des Bauprojektes geltendem Recht entsprach, dass die muslimische Gemeinde sich auf Grundrechte berufen konnte, dass die politischen Entschlüsse durch demokratisch gewählte Amtsträger erfolgte, dass keiner der Protestierenden politischer Verfolgung oder Gewalt ausgesetzt war, dass frei demonstriert werden durfte und der Sprecher ihrer Bürgerinitiative wiederholt in öffentlich-rechtlichen Medien auftreten konnte – all diese Argumente verblassen vor der Evidenz einer Wiederholungserfahrung, die das Konfliktgeschehen in Analogie zu den Repres7 Zit. nach der Chronik. 8 Interview. 9 Ebd. Für die Nachgeborenen: Die Sprecherin spielt hier auf eine Propagandaformel an, die in den Schulen der DDR als bekenntnispflichtiges Aufsatzthema gängig war. 10 Ebd. 11 Chronik.

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sionserfahrungen des DDR-Regimes und des Aufstandes dagegen begreift. Die damalige Kräftekonstellation aber hatte sich umgekehrt: Während man im Herbst ’89 mit dem Ruf „Wir sind das Volk“ den Sturz eines verhassten Regimes einzuleiten vermochte, erfuhr man im Moscheekonflikt eine völlige Niederlage. Während man sich damals als handlungsmächtiges Subjekt erkannt hatte, erlebte man nun die Ohnmacht der ‚kleinen Leute‘ gegenüber ‚den Herrschenden‘. „Wir hatten nie eine Chance“, resümiert eine Aktivistin im Rückblick. Die politische Kritik am Rechtspopulismus hat diese Gleichsetzung von Demokratie und Diktatur immer wieder als propagandistischen Schachzug entlarven wollen. Ideologiekritik dieser Art verbleibt jedoch in den Grenzen einer Manipulationstheorie, die die eigentliche Frage nicht zu beantworten vermag: Warum wird dieses Deutungsmuster geglaubt? Worauf begründet sich seine Evidenz? – Blicken wir auf den Konflikt und seine Besonderheiten zurück. 1. Ein eskalierender Konflikt

Der Streit beginnt so wie an vielen anderen Orten auch: Plötzlich verbreitet und verdichtet sich das Gerücht, dass eine muslimische Organisation namens Ahmadiyya Muslim Jamaat eine Moschee im Ort errichten wolle. Es ruft helle Aufregung hervor. Niemand kennt diese kleine Gemeinschaft, die ihren Gebetsraum bis dahin in einem Einfamilienhaus in einem westlichen Bezirk der Stadt hatte. Niemand hat zuvor die lokale Anwohnerschaft über den Grundstückskauf und das Bauprojekt informiert. Und alle fragen sich: Wer sind diese Muslime, die im Internet und diversen Publikationen (darunter auch eine des evangelischen Sektenbeauftragten) als obskure „Sekte“ präsentiert werden? Eine Anwohnerin erinnert sich: „Dann ging die Gerüchteküche quasi los: […] ‚Die wollen hier missionieren und in großem Stil Gebäude bauen, […] das Geld kommt von irgendwelchen reichen Hinterwelt- oder Hintermännern, alles ganz dubios, ganz mafiös‘ – so wurde das beschrieben“.12 Bei einer hoffnungslos überfüllten Sitzung des Bauausschusses stellt die Architektin, ein Mitglied der Gemeinde, die Pläne für eine Moschee im klassischen Baustil vor. Es kommt zu heftigen Protesten. Die Bürgerversammlung, die einige Wochen später anberaumt wird, soll den Streit befrieden, stattdessen lässt sie ihn eskalieren. Längst schon sind die Einwohner dieses kleinen Ortsteils nicht mehr unter sich. Rechtsextreme und „Islamhasser aus ganz Berlin“13 sind im Publikum und setzen sich eindrücklich in Szene. Auch 12 Interview. 13 Interview Expertin.

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die lokalen und überregionalen Medien, die man eingeladen hat, sind zahlreich vertreten; alle großen Zeitungen sowie zwei Kamerateams der Rundfunkanstalten berichten später in Wort und Bild von dem politischen Desaster, zu dem die Veranstaltung gerät. Trotz des verheerenden Bildes, das die Medienberichte zeichnen, geht der Protest weiter. Die Anwohner gründen eine Bürgerinitiative. Sie reicht zwei „Bürgerbegehren“ ein, die von Politik und Verwaltung aber als Verletzung der Religionsfreiheit gewertet und abgelehnt werden. Sie ruft zu Demonstrationen auf, die gut besucht werden, führt Unterschriftenaktionen durch, die weit über den Ortsteil hinaus Widerhall finden, und propagiert ihr Anliegen in Presse, Rundfunk und Fernsehtalkshows. Ihr gelingt es sogar, Unterstützung durch Teile der Berliner CDU zu gewinnen. Gleichzeitig jedoch trifft sie auf den dezidierten Widerspruch weiter Kreise der großstädtischen Metropole: von Seiten des Senats und der im Abgeordnetenhaus vertretenen Parteien (abgesehen von einem Teil der in dieser Frage gespaltenen CDU), von antirassistischen Initiativen und Antifa-Gruppen, Medien, einem Islamwissenschaftler und der Leiterin des Verfassungsschutzes. Die Kritik von außen reproduziert sich schließlich auch in der Anwohnerschaft des Ortsteils, wo sich einige Monate nach dem Ausbruch des Konfliktes eine „Toleranzinitiative“ gründet, die zwar nicht das Bauprojekt am Standort befürworten, aber für religiöse Toleranz werben will. Was als Befriedung des Streits gedacht war, führt zur Spaltung der Anwohnerschaft. Der Konflikt bildet eine binäre Struktur aus: Man kennt nur noch „Moscheegegner“ und „Moscheebefürworter“, so dass die zahlreichen Moderationsversuche, die den Streit befrieden sollen, scheitern. Ein knappes Jahr nach dem Ausbruch des Konfliktes ist die Niederlage des Protestes besiegelt. Nun wird der Grundstein der Moschee gelegt und der Bau beginnt. Die absehbare Niederlage aber schwächt die Protestenergien keineswegs, sie steigert die Erbitterung noch und verschiebt den Streit auf die Ebene symbolischen Handelns. Die Sprache des Protestes radikalisiert sich. Die lokale Bewegung adaptiert die Deutungsmuster einer publizistischen „Islamkritik“, einer äußerst buntscheckigen Szene, in der sich ethnonationale Streiter fürs „christliche Abendland“ mit „säkularen Humanisten“ und christlichen Fundamentalisten treffen. Der Kampf, so heißt es nun, richte sich nicht mehr nur gegen diese „Sekte“, sondern gegen den Islam „weltweit“, ein „mittelalterliches System, das weder hier nach Europa noch sonstwo anders hingehört“.14

14 Rede Sprecher BI.

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Spätestens zu diesem Zeitpunkt hat der Protest eine thematische Generalisierung erfahren.15 Während sein ursprüngliches Ziel auf die Standortfrage begrenzt war, schreibt man ihm nun universale Bedeutung zu. Der lokale Territorialstreit um den Standort einer Moschee verwandelt sich in einen Kampf um die Fundamentalregeln der politisch-kulturellen Ordnung: die Rechte religiöser Minderheiten und die Grenzen der Religionsfreiheit,16 das Verhältnis von Politik und Religion sowie die Legitimitätsregeln einer demokratischen Ordnung. Der Streit erreicht die Dimension eines normativen Ordnungskonfliktes, eines Streits um die Fundamentalregeln der politischen Ordnung, der freilich nicht nur – und nicht einmal vorrangig – die muslimische Glaubensgemeinschaft ins Visier nimmt, sondern auch die politische Elite und die Machtverhältnisse zwischen den „sogenannten Volksvertretern“ und ihrem „Volk“.17 So ist es nur folgerichtig, dass ein Teil der Aktiven nach der Niederlage den Kampf mit einer Parteigründung fortsetzen will, die sich dem Kampf gegen die „Islamisierung“ Deutschlands und den „weltweiten“ Islam verschreibt. Jene Parole, die am Anfang nur die Ausdrucksgestalt kollektiven Zorns war, hat sich am Ende dieses Konfliktprozesses zur dichotomisch-polarisierenden Leitformel einer Weltsicht politischer Entfremdung verfestigt: „wir, das Volk“, gegen „sie“, das Bündnis einer volksvergessenen und -verräterischen Elite mit dem kulturell fremden Islam. Zugleich hat sich das Selbstbild der Protestwelt gewandelt. Ihr aktiver Kern imaginiert sich nun als Avantgarde des Kollektivsubjektes „Volk“. Dabei verschiebt sich der Akzent dieses Begriffs unter der Hand von einem „demotischen“ zu einem primär „ethnischen“ Verständnis. Das zeigt eine tiefgreifende Metamorphose der Weltsicht dieser Protestbewegung an: Ein ursprünglich lokalistisch-kommunitäres Zugehörigkeitskonzept mit xenophoben Zügen hat sich zu 15 Dass dieser generalisierte Deutungsrahmen als Ergebnis eines Entwicklungsprozesses zu begreifen ist, hebt eine Anwohnerin (im Interview) hervor, die sich anfangs dem Protest angeschlossen hatte, später aber zu den Gründungsmitgliedern der Toleranzinitiative gehörte: „Am Anfang war es nur das Stören an diesem Gebäude, und mittlerweile ist es das Stören an der ganzen Weltreligion Islam.“ Der Sprecher der Protestinitiative datiert diesen Schritt (im Interview) auf den Zeitpunkt, an welchem die Niederlage des ursprünglichen Ziels unabweisbar war. 16 Die Legitimationsstrategie des Moscheeprotests stellt nun vor allem jene Merkmale der Moscheegemeinde heraus, die im Widerspruch zu den liberalen Grundwerten des Verfassungsstaats stehen: so vor allem ein Artikel auf der Webseite des Dachverbandes der Gemeinde, wo der Verzehr von Schweinefleisch als Ursache von Homosexualität (in der kritischen Berichterstattung zusammengefasst unter dem Titel: „Schweinefleisch macht schwul) ausgegeben wird, sowie eine Passage aus einem Buch ihres Pressesprechers, die dem Ehemann ein Züchtigungsrecht gegenüber seiner Frau zuspricht. 17 Vgl. Rede des BI-Sprechers.

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einem Ethnonationalismus gewandelt, der sich auf das Axiom des „Kampfes der Kulturen“ beruft. Und die heterophoben Angstphantasmen, die das Eindringen des Fremden in den lokalen Binnenraum ausgelöst hat, haben sich zu einem kompakten Feindbild verfestigt, das die kulturelle Differenz zum Islam als Zeichen einer kategorialen Wesensdifferenz interpretiert. So nimmt die lokale Konfrontation mit einer kleinen muslimischen Gemeinschaft die Dimension eines weltgeschichtlichen Entscheidungskampfes an.18 Diese Speerspitze des „Volkes“ ist am Ende dieses Konfliktgeschehens freilich auf ein überschaubares Maß geschrumpft. Auf ihrer Kundgebung gegen die Einweihung der Moschee nach zwei Jahren vergeblichen Kampfes versammeln sich nur noch ein paar Hundert Menschen an einer verkehrsdurchfluteten Straßenkreuzung gegenüber der Moschee. Während sich die politische Prominenz in der festlich beleuchteten Moschee zum Festakt sammelt, bejubelt der kleine Kreis der Unentwegten im spätherbstlichen Nieselregen die kämpferische Rede ihres Sprechers und lässt auch die weitschweifig ausufernde Ansprache einer prominenten Islamkritikerin geduldig über sich ergehen. Der Kampf gegen die Moschee sei zwar einstweilen verloren, doch der eigentliche und ungleich bedeutendere Kampf gegen die „Islamisierung“ der Republik habe nun erst wirklich begonnen. Den Außenstehenden jedoch springt die skurrile Größendiskrepanz zwischen dem kleinen Häuflein der Unentwegten und ihrem Subjektimago „Volk“ ins Auge. Den Akteuren selbst aber bleibt sie verborgen, bis sie drei Jahre später ihrer schmerzhaft gewahr werden, als die von ihnen gegründete Partei bei der Wahl zum Abgeordnetenhaus (trotz prominenter Unterstützung durch den niederländischen Rechtspopulisten Geert Wilders) gerade einmal 1 Prozent der Stimmen erreicht – ein Ergebnis, das ihren Untergang19 einige Jahre später schon ankündigt.

18 Dieser Ethnonationalismus greift freilich nur vordergründig auf universalistische Argumente zurück, indem er den Islam vom Standpunkt der Menschenrechte her angreift. Dieser Universalismus bleibt jedoch instrumentell beschränkt, denn seine Normgehalte werden lediglich als Waffe genutzt, um die kategoriale Andersartigkeit der Muslime unter Beweis zu stellen. Die Sinnstrukturen der Weltsichten, denen die verschiedenen Konfliktparteien in Auseinandersetzungen um den Islam folgen, werden im wissenssoziologischen Teil unserer Studie analysiert (s. Steil/Palloks 2020, S. 178–301). 19 Ihr Scheitern nach erheblichen inneren Streitigkeiten wird freilich erst ratifiziert, als sich mit der AfD ein ungleich erfolgreicheres Parteiprojekt etabliert hat, wo die nationalpopulistische „Islamkritik“ gegenwärtig jedoch mehr und mehr von einem völkischen Nationalismus in der Tradition des deutschen Rechtsradikalismus überlagert wird.

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2. Vom Konflikt zum Bezichtigungskrieg

Überblickt man die politische Landschaft solcher Konflikte um Moscheeprojekte seit den 1990er Jahren, bildet dieser Fall mit der öffentlichen Resonanz, die er erfuhr, eher die Ausnahme. Tiefe, Intensität und Reichweite dieses Falls waren bislang ebenso selten zu beobachten wie die skizzierte Entgrenzungs- und Generalisierungsdynamik.20 Wie also erklärt sich diese ungewöhnliche Verlaufskurve des Streits? Erstens ist die sozialräumliche Konstellation dieses Falls zu bedenken, wo gewissermaßen Zentrum und Peripherie einer großstädtischen Metropole aufeinanderprallen. So entsteht der Protest in einem Ortsteil mit weitgehend dörflichem Charakter. Er liegt am Rande der großstädtischen Metropole; ein großer Bevölkerungsteil ist dort seit Generationen ansässig; Menschen mit Migrationsgeschichte leben hier nur wenige und Personen muslimischen Glaubens überhaupt keine. Der Skandal um die gescheiterte Bürgerversammlung bringt diese quasi dörfliche Gemeinschaft nun in Widerspruch mit zahlreichen Gruppen und Persönlichkeiten aus Zivilgesellschaft, Politik und Medien des großstädtischen Zentrums. So sprengt der Streit von Anfang an bereits seinen lokalen Rahmen. Zugleich prallen soziale Welten von denkbar verschiedenen habituellen Dispositionen aufeinander: einerseits eine lokalistisch-traditionalistisch gesinnte Einwohnerschaft, die will, dass ‚die Kirche im Dorf bleibt‘, andererseits ein buntes Konglomerat von Gruppen und Persönlichkeiten, die für ‚kulturelle Vielfalt‘, ‚Bereicherung‘ und religiöse Toleranz kämpfen. Im Unverständnis gegenüber einer sozialen Welt, die sich als „Dörfli“ bekennt, vereinen sich so verschiedene Milieus wie die einer kosmopolitisch-urbanen Stadtpolitik, eines polyglotten Journalismus, des moralpolitischen 20 Der Fall steht insofern beispielhaft für die politische Kräftekonstellation der Jahre 2001 bis 2015, die am Phänomen der Moscheebaukonflikte zu beobachten ist. In diesem Zeitraum nahm sowohl die Zahl als auch die Intensität und Reichweite solcher Konflikte enorm zu. Gleichzeitig war auch ein Wandel der Konflikt-Issues zu beobachten. Während solche Konflikte in den 1990er Jahren noch als Streit um die Rangordnung im lokalen Gemeinwesen verhandelt worden waren (so Hüttermann 2006), traten nach 2001 politische Ordnungsfragen in den Vordergrund, die sich an der kulturellen Differenz zum Islam und der Erfahrung religiöser Fremdheit entzündeten. Aber die nationalpopulistische Überschreibung solcher Proteste, wie sie im hier skizzierten Fall zu beobachten ist, blieb in diesem Zeitraum noch die Ausnahme. Erst ab 2015, als sich dieses Konfliktfeld mit den Folgewirkungen der Finanzkrise und der gemeinhin als „Flüchtlingskrise“ titulierten Einwanderungswelle überlagerte, konnte der Nationalpopulismus solchen Auftrieb gewinnen, dass er sich als politische Partei etablieren und stabilisieren konnte. Inwieweit und in welcher Weise das Auftreten eines Akteurs mit beträchtlicher Organisationsmacht wiederum lokale Konfliktkonstellationen verändert, wäre zu untersuchen.

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Engagements in Kirchen und antirassistischen Initiativen sowie des antikapitalistischen Kampfes. Zweitens treibt das Agieren der lokalen Politik die Eskalationsdynamik des Protestes noch an: Von der Wucht der Proteste überrascht, ziehen sich die politisch Verantwortlichen auf die Legitimität des Verfahrens zurück. Alternativlos, da rechtlich und verfahrensmäßig zwingend, sei die Genehmigung des Bauvorhabens gewesen. Ohnmächtig sei die Politik gewesen, ihre Hände durchs Recht gebunden.21 Bei der Legitimation „durch Verfahren“22 bleibt man jedoch nicht stehen. Die Rechtfertigung einer rechtlich gebundenen Verwaltungsentscheidung setzt sich vielmehr umstandslos fort in die kategorische Delegitimierung jeglichen Protests gegen diese. Wer anderes wolle und behaupte, „wer politische Entscheidungsspielräume suggeriert“, so heißt es in einem „Bürgerbrief“ der bezirkspolitisch Verantwortlichen, stelle „Rechtsstaatlichkeit in Frage“ und gebe „verfassungsmäßige Grundrechte auf“. Daher ist es nur konsequent, dass die Bezirkspolitik zwar allen „besorgten Bürgern“ als individuellen Personen ein Gesprächsangebot unterbreitet, ihrer Organisation als Bürgerinitiative aber die Anerkennung als Gesprächspartnerin verweigert. Sie setzt auf eine Strategie der Depolitisierung, auf welche die Protestierenden ihrerseits jedoch fast zwangsläufig mit der Politisierung des Protestes antworten müssen. Da die Bezirkspolitik die universalen Normen der Grundrechte und der Rechtsstaatlichkeit ins Feld führt, sind sie ihrerseits zur Generalisierung ihrer Ziele gezwungen. Wollen sie nämlich in den territorial entgrenzten Legitimationskämpfen, die der Konflikt ausgelöst hat, bestehen, müssen sie unter Beweis stellen, dass es um ‚mehr‘ als die bloße Standortfrage gehe, das heißt, dass Interessen von allgemeiner, wenn nicht gar universaler Bedeutung – das Schicksal der Menschheit – auf dem Spiel stünden. Entscheidend für seine Eskalationsdynamik jedoch ist die frühe und ungewöhnlich starke Medialisierung des Konfliktes. Die Tumulte bei der gescheiterten Bürgerversammlung finden vor den Augen der überregionalen Medien – darunter den Kameras zweier Rundfunkanstalten – statt. Und das Medienecho des Protestes ist verheerend. Der Spiegel spricht von einer „Radau-Veranstaltung“ von „erregte[n]

21 Juristisch ist diese Argumentation zweifellos zutreffend. An anderen Orten erkannten Politik und Verwaltung aber durchaus politische Gestaltungsräume innerhalb des Entscheidungsverfahrens: z.B. frühzeitige Information der Anwohnerschaft, Mitsprache bei der Bauplanung oder die Einsetzung von Moderations- und Vermittlungsgremien. Wie durch die Arbeit eines Runden Tisches die Befriedung eines solchen Konflikts gelingen konnte, untersucht eine zweite Fallstudie: Steil/Palloks 2020, S. 126–177. 22 Luhmann 1969.

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Bürger[n]“,23 die FAZ berichtet von „Zetersoli“24 unter der Überschrift: „Da rast der Saal“. Ein kollektiver Ausbruch atavistischer Instinkte – so lautet der Tenor der Medienberichte. Ein Bild, welches das Tumultuarische und Chaotische des Geschehens, obgleich journalistisch zugespitzt, sicherlich nicht ganz unzutreffend charakterisiert. Nachvollziehbar ist auch die Kritik an aggressiven und xenophoben Verlautbarungen, die aus der erregten Menge heraus zu hören waren. Doch einzelne Medienbeiträge gehen so weit, den Protest insgesamt auf die Formel rassistischer Gewalt25 oder des offenen Rechtsextremismus zu bringen. So heißt es in einer Bildreportage des regionalen Fernsehsenders: „Die NPD spricht aus, was die bürgerliche Mitte nicht zu sagen wagt. […] Im Ziel sind sich NPD und Bürgerinitiative einig.“ Symptomatisch ist insbesondere, in welchem Maß der journalistische Blick von Distinktionsaffekten ästhetischer Natur okkupiert ist. Fast mehr noch als das moralische Empfinden scheint sich das großstädtische Modebewusstsein von den Geschehnissen gekränkt zu fühlen. Viele Berichte zeichnen ein Panoptikum des ästhetischen Grauens: Menschen in „Jogginghosen“, „Damen im Gesteppten“ mit „Gräfin-Dönhoff-Lookalike“ (FAZ), „pinke[n] Steppjacken“, „beige[n] Blousons“ und „Hauspantoffeln“ (Jungle World). Draußen auf den Straßen gewahre man nichts anderes als „gammelige Garagen aus Blech“, Reste von Industrieruinen und verkommene Häuser (Spiegel), „triste Fassaden und DDRRuinen“ (RBB). Kurz: „Einen Platz an der Sonne verheißt nur die Werbung.“26 In der medialen Berichterstattung verdichten sich politische Kritik, moralische Urteile und ästhetische Distinktion zu „kategorialen Unterscheidungen“, die „über Personen und Gruppen ‚qualitative‘ Urteile der Andersartigkeit [fällen]“.27 Die soziale Welt des Protestes wird im Stigma eines Menschenschlags repräsentiert, 23 24 25 26

Der Spiegel vom 14.04.2006. FAZ vom 01.04.2006. Jungle World vom 05.04.2006: „Hoyerswerda in Pankow“. Ebd. Der „Mann in Jogginghose“ und die „triste Ruinenlandschaft“ – das sind die Leitmotive, welche die Berichterstattung über den Konflikt auch in seinem weiteren Verlauf noch als wiederkehrende Stereotype begleiten. Mehr noch als die politische Kritik erregt diese ästhetische Disqualifizierung ihres Ortsteils den erbitterten Zorn der Einwohnerschaft – darunter auch mancher, die für religiöse Toleranz eintreten. So kommentiert die Sprecherin der „Toleranzinitiative“: „Da wurde H. als so ein Ghetto von Asozialen hingestellt“ (Interview). Einige wenige Medien jedoch schlagen einen anderen Ton ein und untersuchen die Gründe für den Protest und seine Eskalation (so vor allem ein Artikel im Berliner Tagesspiegel). Später, nach den Homophobievorwürfen gegen einen Artikel der (bundesweiten) Ahmadiyya-Gemeinschaft (verkürzt wiedergegeben unter dem Titel „Schweinefleisch macht schwul“) ändert sich das Bild insofern, als man nun auch das Befremdliche des religiös Fremden, die konservativen Züge des Ahmadiyya-Islams, zur Kenntnis nimmt. 27 Neckel/Sutterlüty 2008, S. 19.

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der politisch (verfassungs-)feindlich, moralisch verwerflich und zugleich ästhetisch hässlich ist. Das vertieft den Konflikt noch. Denn stigmatisierende Zuschreibungen attackierten, so Goffman, das „Image“ der damit Bezeichneten, ihr „in Termini sozial anerkannter Eigenschaften umschriebenes Selbstbild.“28 Das hat zur Folge, dass der Streit eine neue Dimension erreicht: die eines Kampfes um die Wiederherstellung bürgerlicher Respektabilität. Diese Konstellation lässt den Konflikt in einen Krieg wechselseitiger Bezichtigungen driften. Beide Seiten überhäufen sich mit Vorwürfen, Anschuldigungen, Schmähungen. Man deckt vermeintliche Lügen auf, klagt über Verleumdungen, entlarvt einander, weist die Vorwürfe der Gegenseite entrüstet zurück, droht mit (oder stellt) Strafanzeigen. Auf den Vorwurf der Verfassungsfeindlichkeit reagiert die Protestwelt mit dem Vorwurf des Verrats, auf die Rassismusbeschuldigungen mit Enthüllungen über die gefährlichen Seiten der muslimischen „Sekte“, schließlich des weltweiten Islams. Die Anschuldigung der Kollaboration mit „Nazis“ beantwortet man mit Komplottphantasmen.29 Mehrere Male gerät der Konflikt an die Schwelle zu (klandestiner) Gewalt, die wiederum zu wechselseitigen Anklagen führt. 3. Selbstlegitimation durch Selbstvergrößerung

In den Bezichtigungsschlachten, die diesen Konflikt prägen, vollzieht der Protest eine Metamorphose, die einen Vorgang politischer Entfremdung spiegelt. Sie verändert das Bild des religiös Fremden von der obskuren „Sekte“ zur zivilisatorischen Bedrohung durch den weltweiten Islam. Sie erweitert die Zielperspektive: von der Verhinderung des konkreten Standorts zum Kampf gegen Islamisierung. Und sie vergrößert die eigene Rolle: Aus Verteidigern des „Dörflis“ wird die Avantgarde des „Volkes“; ein Prozess der Generalisierung, der mit einer doppelten Vergrößerungsoperation verbunden ist, der Vergrößerung des Gegners und des eigenen Selbst. Dieser Mechanismus der Selbstvergrößerung erklärt sich aus den Rechtfertigungszwängen eines Konflikttyps, den der französische Soziologe Luc Boltanski 28 Goffman 1986, S. 10. 29 So erscheint im Januar 2007 auf der Internetseite der Bürgerinitiative eine Bildcollage, die sich an eine berühmte Fotomontage John Heartfields anlehnt. Sie zeigt Hitler, in dessen nach oben gebeugte Hand ein karikierter Repräsentant „des Großkapitals“ Geldscheine regnen lässt. In der Version der Bürgerinitiative sieht man eine Luftaufnahme des Bauplatzes und die Umrisse eines hölzernen Pferdes zusammen mit den Porträts von Bezirkspolitikern und des Kalifen der Ahmadiyya-Gemeinschaft. Die Collage ist mit der Schlagzeile überschrieben: „Hinter uns stehen Millionen“.

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am Phänomen der öffentlichen Bezichtigung analysiert hat.30 Bezichtigungsakte zwingen, wie jede andere Form des Konfliktes, die streitenden Parteien zur Rechtfertigung ihrer Motive, Interessen und Ziele durch verallgemeinerbare Geltungsgründe sowie zur Plausibilisierung ihrer Problem- und Situationsdeutungen. Entscheidendes Gewicht in den Rechtfertigungskämpfen um „justesse“ und „justice“, um Wahrheit und Gerechtigkeit kommt daher den Generalisierungskompetenzen der jeweiligen Kontrahenten zu. Denn: „Der Zugang zum Allgemeinen ist auch ein Privileg, vielleicht das größte“.31 Auch Bezichtigungskriege sind Kämpfe ums Allgemeine. Sie zeichnen sich jedoch durch eine Asymmetrie zwischen den Kontrahenten aus. Das heißt, sie operieren mit dem Rollenschema eines Tribunals: Ein Ankläger beschuldigt einen Angeklagten eines bestimmten Vergehens; Opfer und Täter werden identifiziert. Die Bezichtigten sehen sich mit einer Schuldzuschreibung konfrontiert, die vor den Augen eines „Dritten“, der öffentlichen Meinung, exekutiert wird. Für die Angeklagten geht es daher um mehr als eine sachliche Frage, es geht um die Integrität ihrer Person, die persönliche Ehre. „In diesem Sinne ist die öffentliche Bezichtigung, wie Bayle sagt, ein ‚bürgerlicher Mord‘“.32 Wenn diese Asymmetrie mit einem deutlichen Ungleichgewicht der Kräfteverhältnisse zusammenfällt, wenn also ein eklatantes Gefälle der jeweiligen Deutungsund Generalisierungskompetenzen gegeben ist, kommt es bei der schwächeren Partei nun zur imaginären Selbstvergrößerung, die die eigene Unterlegenheit kompensieren soll: einerseits durch Identifikation des eigenen Selbst mit Gestalten, in denen sich historische Größe verkörpert, andererseits durch die komplementäre Repräsentation des Kontrahenten in Inkarnationen des Schlechten, Bösen, Verworfenen. Eben dies geschah in unserem Fall von dem Zeitpunkt an, als sich die Niederlage des Protestes abzeichnete. Einer Übermacht von Akteuren mit überlegener Deutungsmacht gegenüberstehend, die dem eigenen Anliegen jede Legitimität absprachen, unter dem Einfluss der von eigenen Mobilisierungserfolgen erzeugten Selbsttäuschungseffekte und im Rückgriff auf das Erinnerungsreservoir des kollektiven Gedächtnisses kam es zu der imaginären Selbstvergrößerung zur Avantgarde des „Volkes“, mit der sich der Protest gleichsam seine eigene Realität erschuf. 33 30 31 32 33

Boltanski 1990. Ebd., S. 356. Ebd., S. 257. Die Forschung zu sozialen Bewegungen, insbesondere der zu Rechtspopulismus und Rechtsextremismus, erklärt Entwicklungen dieser Art gern als Folge politischer Einflussnahme organisierter Kräfte. Diese sind – auch in unserem Fall – nicht zu bestreiten. Die Fixierung auf diesen Aspekt verstellt jedoch den Blick auf die Interessen und Bedürfnisse, die die Rezeption externer

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Was lag denn auch näher als die Analogie zu jenen Kämpfen des Herbstes ’89, um dem aktuellen Streit eine größere Dimension zuzuschreiben? War doch die Erinnerung an jene Erfahrung plötzlicher Machtsteigerung ins zuvor Unvorstellbare noch lebendig genug. War nicht auch damals der Gegner scheinbar hoffnungslos überlegen? Und war nicht aus einem kleinen Häufchen Widerständiger schließlich eine gewaltige Kollektivmacht, eine wirkliche Bewegung „des Volkes“ entstanden, die ein diktatorisches Regime hinwegzufegen vermochte? Das Gedächtnis gehorcht der Logik von Analogieschlüssen. Es sondiert aktuelle Erfahrungen nach dem Kriterium der Wiedererkennung, eines Déjà-vu. So gründet sich die Plausibilität der Selbstvergrößerung auf die Evidenz einer Wiederholungserfahrung, die, so irreal sie auch Außenstehenden erscheinen mag, sich in den Augen derer, die erbittert in den Konflikt verstrickt sind, durchaus bewährt. In unserem Fall erfüllte sie zwei Funktionen. Zum einen stellte sie in den Rechtfertigungskämpfen mit Kontrahenten, die sich auf universale Werte beriefen, eine Parität der strittigen Wertgrößen her, indem sie einem lokal begrenzten und normativ partikularen Anliegen einen ‚höheren‘ Sinn verlieh. Es durfte nicht mehr bloß um die Moschee am Ort gehen, auch nicht mehr nur um die Intransparenz einer lokalpolitischen Entscheidung, sondern um das grundsätzliche Verhältnis von Herrschenden und Beherrschten, von denen ‚da oben‘ und ihrem ‚Volk‘ – um ein Fundamentalproblem der politischen Ordnung also. Zum anderen wirkte die retrospektive Selbstimagination als argumentative Waffe gegen stigmatisierende Zuschreibungen des Gegners, insbesondere in den medialen Repräsentationen des Geschehens. Angesichts einer Kritik, durch die man die bürgerliche Respektabilität infrage gestellt sah, versprach die retrospektive Selbstimagination die Restitution der persönlichen Dignität. 4. Deeskalation und Entmythologisierung

Sobald soziale Bewegungen einer solchen Drift ins Imaginäre folgen, ist ein Point of no Return erreicht, an welchem der politische Entfremdungsvorgang unumkehrbar wird. Von nun an verkapseln sie sich in einer hermetischen Realität, die von den Interventionen Außenstehender kaum noch berührt wird. Sind solche Deutungsangebote leitet. Zugleich verkennt sie den kreativen Charakter sozialer Bewegungen. Ihre schöpferischen Deutungsakte sind freilich nicht als „creatio ex nihilo“ zu verstehen, sondern als ein Bastelwerk, das zeitgenössisch oder historisch vorhandene Deutungsangebote nach Maßgabe eigener Interessen und gegebener Rechtfertigungszwänge zu einer Synthese verarbeitet, die Tradiertes und Innovatives, Entlehntes und Schöpferisches verbindet.

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Entwicklungen aufzuhalten? Und in welcher Weise kann das geschehen? Was also ist aus dem Fall zu lernen? Zum einen wären die Bedingungskonstellationen zu reflektieren, welche die Eskalationsdynamik sozialer Konflikte begünstigen. Dabei weist unser Fall auf zwei grundsätzliche Probleme hin. Erstens macht er auf die paradoxen Effekte einer Politik aufmerksam, die sich nur noch als Verwaltung grundrechtlich verbriefter Rechtsansprüche begreift. Indem die politischen Entscheidungsträger die Legitimität des Protestes in Abrede stellen, begünstigen sie gegen ihren Willen eben die Politisierung des Streits, die sie verhindern wollen. Zweitens weist der Fall auf die problematischen Folgewirkungen einer Politik hin, die sich auf das Mittel der moralischen Bezichtigung verengt. Indem sie den politischen Gegner als Schuldigen vorführt, dem die persönliche Achtung zu versagen ist, evoziert sie dessen Gegenbeschuldigungen, die das Achtungsgefälle wieder ausgleichen. So kann die politische Kommunikation in einen Bezichtigungskrieg treiben, aus dem ohne Gesichtsverlust kein Ausweg mehr zu finden ist. Will man solche Eskalationen vermeiden, wäre die Gleichsetzung von Politik und Verwaltung daher ebenso aufzugeben wie ihre Auflösung in Moral. Erst dann lassen sich die Gestaltungspotenziale politischen Handelns erschließen. Das praktische Ziel einer deeskalierenden Politik wäre die Durchsetzung eines Interaktionsdispositivs der Aushandlung, das es ermöglicht, dass sich die Kontrahenten des Streits als Verhandlungspartner anerkennen. Ihre ideelle Voraussetzung wäre die Anerkennung legitimer Interessen der Konfliktparteien.34 Zum anderen wäre auch jene Form des historischen Erinnerns zu prüfen, welche dem Selbstvergrößerungswunsch den Stoff vorgibt, aus dem er seine Narrative schöpft – die Gedächtnisgestalt, die der Herbst ’89 in der offiziösen Erinnerungskultur und ihren medialen Spiegelungen angenommen hat. Sie ist weitgehend dominiert von einer Erzählweise, die Nietzsche als „monumentalische“ charakterisiert hat, eine Geschichtsschreibung, die „dem Tätigen und Mächtigen [gehört], dem, der einen großen Kampf kämpft, der Vorbilder, Lehrer, Tröster braucht“.35 Geschichtsschreibung dieser Art führt uns positive Helden, Schurken und Verräter vor Augen und reduziert die Komplexität historischer Prozesse auf den Kampf

34 Inwieweit das am Ende gelingt, hängt freilich auch von Umständen ab, die nur teilweise zu gewährleisten sind: der Verhandlungsbereitschaft der gegnerischen Parteien, dem mäßigenden Einfluss allseits anerkannter Persönlichkeiten und nicht zuletzt der Wahl geeigneter Aushandlungsarenen, die der Eskalationsdrift des Streits Grenzen setzt. Das Problem diverser Aushandlungsarenen und ihres Einflusses auf den Konfliktverlauf wird erörtert in: Steil/Palloks 2020, S. 315–321. 35 Nietzsche 1874/1976, S. 219.

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des Guten gegen das Böse. Und sie „täuscht durch Analogien“,36 so dass sie zu retrospektiver Identifikation geradezu einlädt. So kann diese „monumentalische“ Gestalt historischen Erinnerns vor allem dann, „wenn sich ihrer die Ohnmächtigen und Untätigen bemächtigen“,37 die Versuchung begünstigen, sich als Helden einer Geschichte, die sich wiederholt, zu imaginieren. Zwar kann man, mit Marx, darauf hinweisen, dass solche Wiederholungen immer zur Farce geraten müssen, einer unfreiwilligen Parodie ihres Vorbilds. Aber so berechtigt solche Kritik auch ist, kann sie alleine doch nicht verhindern, dass Stücke dieser Art immer wieder neu aufgeführt werden. So wäre auch darüber nachzudenken, wie sich von „charismatischen“ Ereignissen erzählen lässt, ohne die Erzählweisen des monumentalischen Erinnerns fortzuschreiben. 5. Literatur Boltanski, Luc (1990): L’amour et la justice comme compétences. Trois essais de l’action. Paris: Éditions Métaliés. Goffman, Erving (1986): Interaktionsrituale. Über Verhalten in direkter Kommunikation. Frankfurt am Main: Suhrkamp. Hüttermann, Jörg (2006): Das Minarett. Zur politischen Kultur des Konflikts um islamische Symbole. Weinheim, München: Juventa. Kleist, Heinrich von (1984): Michael Kohlhaas, in: Sämtliche Werke und Briefe [1808], Band 2. 2. Auflage., München: Deutscher Taschenbuchverlag, S. 9–103. Luhmann, Niklas (1969): Legitimation durch Verfahren. Frankfurt am Main: Suhrkamp. Marx, Karl (1975): Der Achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte [1852], in Marx/EngelsWerke (MEW), BD. 8. 5. Auflage., Berlin/DDR: Dietz Verlag, S. 111–207. Neckel, Sighart und Ferdinand Sutterlüty (2008): Negative Klassifikationen und die symbolische Ordnung sozialer Ungleichheit. In: Sighard Neckel und Hans-Georg Soeffner (Hrsg.): Mittendrin im Abseits. Ethnische Gruppenbeziehungen im lokalen Kontext. Wiesbaden: VS Verlag, S. 15–25. Nietzsche, Friedrich (1976): Vom Nutzen und Nachteil der Historie [1874], in: Werke I, herausgegeben von Karl Schlechta. 6. Auflage., Frankfurt am Main, Berlin, Wien: Ullstein-Verlag, S. 209–286. Steil, Armin und Kerstin Palloks (2020): Religiöse Fremdheit im lokalen Konflikt. Moscheebaukonflikte zwischen moral panic und Islamfeindschaft, Weinheim-Basel: Beltz/Juventa.

36 Ebd., S. 223. 37 Ebd.

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Vom Alltag aus Barbara Thériault

Ich saß an der Theke in einer Bar in der Neubausiedlung im Norden Erfurts und trank dünnen Kaffee. Die Uhr zeigte 11 an. Im Radio wurde „Zombie“ von The Cranberries gespielt. In dem verrauchten Raum gab es einen Spiegel, Bilder an der Wand, Tische und einen Spielautomaten, der gerade repariert wurde. Der Tag meines Besuches war beliebig. Es ist aber egal, denn hier sitzt vermutlich jeden Wochentag das gleiche Publikum. Zu meiner Linken tranken zwei Männer Bier, Korn und bunten Schnaps aus Fläschchen, knabberten dazu Salzstangen und rauchten zusammen mit der Wirtin. Am Stammtisch hatte eine Gesellschaft ehemaliger Volkspolizisten Platz genommen. Sie schlürfte Tee. Dem Anschein nach waren die Männer verabredet. Als sie kamen, klopften sie auf den Tisch, grüßten allerseits und sagten zusammenhangslos etwas über schwarze Menschen, Angela Merkel, die DDR oder: „In 40 Jahren wird es keine Deutschen mehr geben.“ Dann plauderten sie los. Es ging über zu anderen Themen, zum Beispiel zu den Enkelkindern. Ich war nicht das erste Mal Zeugin eines solchen Moments. Rechtslastige Sprüche, Durcheinander. Beliebige Szenen in Bars, Saunas oder am Strand, die zwar nicht Gegenstand meiner Arbeit waren, aber durchaus am Rand meiner Beobachtungen auftauchten. Meist habe ich sie als Elemente von Stimmungen – also nicht systematisch – in meinen soziologischen Feuilletons verarbeitet.1 Diese Momente sind unterhalb von institutionalisierten Formen anzusiedeln: keine Demonstrationen, Parolen von PEGIDA oder ritualisierte Gespräche, die von der Politik, von Zeitungen, der Public Sociology angeregt werden, sondern es sind Alltagsgespräche.2 Sie waren jedoch mit diesen institutionalisierten Formen verbunden. Und in der Reihenfolge der Äußerungen hallte ihre Medienpräsenz nach: die Lügenpresse, die Geflüchteten und deren Integration, der Wolf, die Corona-Maßnahmen … 1

2

Die Beobachtungen, auf denen dieser Text basiert, sind im Rahmen einer Studie über den Erfurter Alltag entstanden, deren Ergebnisse ich als soziologische Feuilletons im Stil Siegfried Kracauers – zuerst für die lokale Presse, dann für ein Buch – geschrieben habe (siehe Thériault 2020). Siehe Rehberg 2016.

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Auffallend war, wie zusammenhangslos und banal diese Interaktionen waren. Im Unterschied zu anderen Kontexten, wo ich solche Kommentare gehört hatte, wie bei der Anhörung zum Bau einer Moschee oder diversen Vorträgen, wurden keine emotionalen Appelle oder Ängste geäußert. Vielmehr schien das Gesagte eine Einladung zum Gespräch. Es ging vor allem, so scheint es mir zumindest, um Geselligkeit. Mit Geselligkeit meine ich, dem Soziologen Georg Simmel folgend, eine Form des Miteinanders, „die Spielform der Vergesellschaftung“, die „keinen sachlichen Zweck hat“. Die Geselligkeit ist, wie er sie am Anfang des 20. Jahrhunderts definiert, eine Form. Sie ist leicht, entspricht nicht der Wirklichkeit und droht zu verschwinden, sobald ihr Rahmen zu politisch oder persönlich wird.3 Die Geselligkeit als Form ist oberflächlich, hat „das Reden zum Selbstzweck“. Sie ist eine Art Enklave im Ernst des Lebens, ein Spiel. Sie ist meist flüchtig, kurzlebig, fragil, denn der Alltag und seine Verpflichtungen drängen sich auf. Streitet man, wird man ernst, sachlich oder gar zu persönlich, wird das Gespräch – so Simmels Beobachtung – nicht mehr gesellig: „Sowohl in dem Augenblick, in dem diese ihr Zusammensein auf einen objektiven Inhalt und Zweck stellen, wie in dem anderen, wo das absolut Personale und Subjektive des Einzelnen rückhaltlos in die Erscheinung tritt, ist die Geselligkeit nicht mehr das zentrale und formende, sondern höchstens noch das formalistische und äußerlich vermittelnde Prinzip.“4 Obwohl als Form gedacht, deren Inhalt vielfältig sein kann, ist die Geselligkeit bei Simmel dem Takt, mit dem Salon als Kulisse des Geschehens, großteils verhaftet. Auch wenn diese bürgerliche Erscheinung zwar weiterhin existiert, findet man die Geselligkeit auch woanders: in bestimmten Cafés, Bars, Saunas, Stränden – Orte, an denen Alkohol und Zigaretten oft eine Rolle spielen. Kommen wir zu der Szene in der Erfurter Bar zurück und zu ihren Folgen. Das Gespräch, das auf die Ankunft der Volkspolizisten folgte, war sprunghaft, ja zusammenhangslos, ohne dass es als komisch zu empfinden gewesen wäre. Die Spieldimension der Geselligkeit erklärt in Teilen die Zusammenhangslosigkeit der Gespräche, dass ihr „Gegenstand leicht und rasch“ gewechselt werden konnte. Möglich, dass das oft erwähnte Paradox, nachdem Menschen – seien sie Redner im Landtag oder PEGIDA-Demonstranten – sich über die Verhältnisse in der Welt beklagen und dabei gleichzeitig ihre eigene Situation als positiv einschätzen,5 3 4 5

Simmel 1999. Ebd., S. 110. Vgl. Rehberg 2016, S. 29–30.

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ein Reflex aus einem „ur“-geselligen Moment ist: Man schafft ein „Unter-uns“, eine unsichtbare, kleine Gesellschaft, in der man meckern und sich dabei gut fühlen kann. Dabei spielt die Räumlichkeit – und die Materialität – eine Rolle. Die Bar im Norden ist für die ehemaligen Volkspolizisten und das gewohnte Publikum eine Zuflucht, ein Asyl, ein geborgener und geschützter Bereich, wo man unter sich ist. Jeder könnte hingehen, ist aber nicht unbedingt dazu geneigt. Begibt sich doch eine Fremde hin, gerät die Geselligkeit in Gefahr: Weil sie so sprunghaft und zusammenhangslos ist, ist sie anfällig für Kritik, die stets und leicht auf die Inkohärenz des Gesprächs hinweisen kann. Das ist Simmel nicht entgangen: Die Geselligkeit setzt, erklärt er, die Zugehörigkeit zu einer geschlossenen Gesellschaft voraus. „So zeigt dies Prinzip die demokratische Struktur aller Geselligkeit, die freilich jede Gesellschaftsschicht nur in sich selbst realisieren kann, und die eine Geselligkeit unter Angehörigen ganz verschiedener sozialer Klassen so oft zu etwas Widerspruchsvollem und Peinlichem macht.“6 Die Bar hatte ich nicht in der Rolle einer Kritikerin besucht, sondern in derjenigen einer möglichst unauffälligen Beobachterin. Als Frau, die nicht zum Stammpublikum des Ortes gehörte, hätte meine Anwesenheit in der Bar irritieren können. Schnell fungierten tatsächlich die zwei Männer zu meiner Linken als Grenzbeamte und die Theke als Grenzpunkt: Was ich hier mache? Wer ich sei? Sie haben mich beobachtet: Ich würde so viel schreiben, dafür so wenig trinken, bloß Kaffee. Meinen neuen Mantel und mein Kleid – ich war auf dem Weg zu einer Verabredung – hatten sie schon gemustert. Nach einer Weile schaltete sich die Wirtin ein und bestimmte, dass mir Asylrecht gewährt werden sollte. Sie kenne mich, ich sei vor ein paar Monaten schon einmal in der Bar gewesen und auch in der Disco nebenan. Als ich mir einen zweiten Kaffee bestellte und erzählte, dass ich von der Uni sei, kommentierte einer der beiden Männer daraufhin: „Ach, und ich dachte, sie wären von der Versicherung.“ Ähnlich wie andere verlief der beschriebene Moment der Geselligkeit in der Bar im Alltag nebenbei, nicht polternd, jedoch auch nicht harmlos. Obwohl die Geselligkeit nicht der Wirklichkeit entspricht, sind ihre Konsequenzen real; so wie wenn bestimmte Kommentare Fremden gegenüber als nicht mehr beschämend gelten oder wenn Letztere die geborgene Situation in „Oasen“ verlassen und in der Öffentlichkeit „salonfähig“ werden. In privaten Situationen habe ich oft gegen rechtslastige Sprüche interveniert, ich war sozusagen geselligkeitszerstörend. Manchmal war ich auch ratlos. Beim 6

Simmel 1999, S. 110–111.

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Schreiben habe ich mich oft gefragt, ob ihre Verarbeitung als Stimmung in meinen Texten, ironische Anspielungen und spitze Bemerkungen im Stil des soziologischen Feuilletons genügten. Oft wurde von mir mehr erwartet. Dass die Geselligkeit fragil ist und zu verschwinden droht, hängt auch an ihren Orten. Das zeigt übrigens die eingangs erwähnte Situation, deren Ausgang nicht ganz absehbar war. Die Bar im Norden gibt es inzwischen nicht mehr. Sie wurde zugemacht, und der Platz, am dem sie stand, wurde saniert, revitalisiert. Ich fragte mich gelegentlich, was aus den Leuten geworden war. Die Wirtin, die mir Asyl gewährt hatte, habe ich später gesehen. Sie arbeitete auf der Terrasse eines Restaurants im gleichen Stadtviertel. Sie sah deutlich besser aus: Die frische Luft und die dort herrschende Atmosphäre bekamen ihr wohl gut. Literatur Rehberg, Karl-Siegbert (2016): Dresden-Szenen. Eine einleitende Situationsbeschreibung. In: ders., Franziska Kunz und Tino Schlinzig (Hrsg.): PEGIDA. Rechtspopulismus zwischen Fremdenangst und „Wende“-Enttäuschung. Analysen im Überblick. Bielefeld: transcript, S. 15–50. Simmel, Georg (1999): Die Geselligkeit (Beispiel der Reinen oder Formalen Soziologie) [1917/1911]. In: ders.: Der Krieg und die geistigen Entscheidungen; Grundfragen der Soziologie; Vom Wesen des historischen Verstehens; Der Konflikt der modernen Kultur; Lebensanschauung; GSG, Band 19. Hrsg. von G. Fitzi und O. Rammstedt. Frankfurt am Main: Suhrkamp, S. 103–121. Thériault, Barbara (2020): Die Bodenständigen. Erkundungen aus der nüchternen Mitte der Gesellschaft. Leipzig: edition überland.

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„Wir ’89er“ Geschichtspolitische Aneignungen der Erinnerung und alltagsweltliche Resonanzen Greta Hartmann

Die Proteste in der DDR im Jahr 1989, die deren Ende einläuteten, jährten sich im Oktober 2019 zum 30. Mal. Der Herbst 1989 mit seinen Massendemonstrationen ist besonders im Osten Deutschlands Bestandteil kollektiver Erinnerung. Die mit den Demonstrationen verbundene Eigendynamik des politischen Umbruchs und die Erfahrung der Aktionsmacht massenhaften Straßenprotestes machten die tiefe Prägekraft der damaligen Ereignisse aus. Bei der Vielzahl an Montagsdemonstrationen, die in großen und kleinen Städten stattfanden, sowie dem mit dem Ende der DDR einhergehenden tiefgreifenden gesellschaftlichen Wandel, der von vielen ersehnt und der gleichzeitig für viele auch enorme Unsicherheiten mit sich brachte, gab es keine ehemaligen DDR-Bürger*innen, die nicht auf der einen oder anderen Seite in diese Ereignisse verstrickt gewesen wären, in den Familien und Freundeskreisen darüber diskutiert hätten oder sie in der eigenen Biographie zu spüren bekommen hätten. „Die Bilanz der Einheit ist nicht nur durchwachsen, sie ist auch durch und durch widersprüchlich“, schreibt Steffen Mau,1 und diese Beobachtung lässt sich auch auf die Art und Weise übertragen, wie heute an die Ereignisse des Jahres 1989 erinnert wird und wie sie in eine „lange Geschichte der ‚Wende‘“2 eingeordnet werden. Der Historiker Martin Sabrow3 etwa identifiziert als geschichtspolitisch dominante Erinnerung an 1989 das „Revolutionsgedächtnis“. Die Erinnerung an die „friedliche Revolution“ ist zum Schlüsselbegriff staatlicher Geschichtspolitik geworden und wird in der Regel linear als Widerstand gegen den Unrechtsstaat erzählt, der in der Erfolgsgeschichte der Wiedervereinigung mündet. Die Revolutionserinnerung schließt nicht nur die in offiziellen Gedenkveranstaltungen stets reproduzierte „friedliche Revolution“ mit ein, sondern auch die „verratene Revolution“ als Erinnerung einiger enttäuschter Bürgerrechtler*innen. Neben der ge1 2 3

Mau 2019. Brückweh et al. 2020. Sabrow 2009.

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schichtspolitisch relativ dominanten Revolutionserinnerung macht Sabrow noch weitere Erinnerungsstränge aus: etwa die „Wendeerinnerung“, die die Ereignisse als „passiv erfahrenen, tiefgreifenden, zugleich verstörenden und die Zukunft öffnenden Umbruch“4 deutet, oder die „Anschlusserinnerung“, in der das Ende der DDR als kolonialen Anschluss an den Westen interpretiert wird. Ralph Jessen fügt dieser Erinnerungstypologie den Strang der populistischen „Volks“-Erinnerung hinzu,5 die er in den Bezügen rechter Proteste unter anderem von PEGIDA ausmacht. Die unterschiedlichen Erinnerungen an ’89 stehen aber nicht einfach nebeneinander. Sie widersprechen sich, fordern sich gegenseitig heraus und stellen einander infrage. In dem vorliegenden Beitrag geht es darum, welche Rolle die Erinnerungen an 1989 30 Jahre später spielen und wer aus welcher Position heraus erinnert, also in welchem sozialen Kontext diese Erinnerung heute stattfindet. Dabei vertrete ich die These, dass sich über die Jahrzehnte eine staatlich gestützte ‚offizielle‘ Erinnerung an 1989 etabliert hat, die in den letzten Jahren zunehmend – vor allem von der extremen Rechten – herausgefordert wird. Im Anschluss daran skizziere ich anhand des empirischen Materials einer Gruppendiskussion, die mit einer politischen Initiative in Sachsen geführt wurde, ob und wie die Bezüge zu 1989 sowie die unter anderem von der AfD propagierte Erzählung der DDR 2.0 lebensweltlich angeeignet werden. Bei den Teilnehmenden der exemplarisch herangezogenen Gruppendiskussion handelt es sich um Personen, die in der DDR gelebt und die Ereignisse von 1989 persönlich miterlebt haben und sich in ihrem politischen Engagement in der Gegenwart explizit darauf berufen. Anhand der Gruppendiskussion diskutiere ich die Frage, ob die extrem rechten Aneignungen von 1989 Resonanzen hervorrufen und mit Alltagstheorien und eigenen Erfahrungen verknüpft werden und welche Funktionen die Bezugnahmen für die Interviewten haben. 1. Erinnerungspolitiken

Um über die Erinnerung in Bezug auf den Herbst 1989 zu sprechen, ist es zunächst wichtig nachzuvollziehen, dass sich die Ereignisse damals geradezu überschlugen.6 In wenigen Monaten erweiterte sich die zunächst schmale Mobilisierungsbasis der Oppositionellen in der DDR, bis letztendlich bei den Massendemonstrationen im Herbst Hunderttausende auf den Straßen einem waffenstrotzenden Sicher4 5 6

Jessen 2019, S. 55. Jessen 2019. Für eine ausführlichere Darstellung siehe Hartmann/Leistner 2019.

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heitsapparat gegenüberstanden. Die Ungewissheit über den (relativ) friedlichen Verlauf der weiteren Ereignisse mündete schließlich in die Phase des politischen Transformationsprozesses und seine Verhandlungen an den Runden Tischen. Die Wiedervereinigung und vorgezogenen Wahlen im März 1990 läuteten die Implementierung von Institutionen und Verfahren repräsentativer Demokratie ein, in deren Verlauf die Oppositionellen, die einst den Weg bereitet hatten, marginalisiert wurden. Anfang der 1990er Jahre folgte die Zeit der Treuhand, der Betriebsschließungen, der Massenarbeitslosigkeit und biographischer Brüche und Entwertungen, aber auch der Existenzgründungen, Autokäufe und erster Reisen ins westliche Ausland. Die Geschwindigkeit, mit der sich diese Vielzahl an Protest- und Umbruchserfahrungen vollzog, und die Ambivalenz der Ereignisse ließen kaum Raum für Reflexivität – ein Prozess, der erst später mit etwas Distanz zu den Ereignissen einsetzte. Erinnerung und Gedächtnis sind seit den 1990er Jahren zentrale Begriffe in der Kulturwissenschaft.7 Michael Kohlstruck8 unterscheidet zwischen diesen beiden Begriffen und verfolgt ein handlungstheoretisches Verständnis von Erinnern. Das soziale Gedächtnis ist für ihn in Anlehnung an Alois Hahn9 erst einmal eine Potenz, also die Möglichkeit, sich zu erinnern, während Erinnerung einen aktiven Prozess bedeutet, in dem Aufmerksamkeit auf bestimmte Ereignisse gelegt wird. Erinnerung muss also erst aktiv hergestellt werden. Sozial- und kulturwissenschaftliche Forschung zu Gedächtnis, Erinnern und Vergessen haben zudem gezeigt, dass Individuen, soziale Gruppen, Organisationen und soziale Systeme unterschiedliche Gedächtnisse „haben“.10 Kurz gesagt macht es also einen Unterschied für die Erfahrungen von ’89, ob die sich erinnernde Person als Vertragsarbeiterin in der DDR gelebt hat, Teil der politischen Elite war oder im Neuen Forum aktiv. Und auch innerhalb dieser Gruppen kann es unterschiedliche Deutungen der Erinnerung und des Erbes von ’89 geben, wie etwa Konflikte um das Erbe von 1989 unter ehemaligen Oppositionellen zeigen. Ein Beispiel hierfür ist die Bewertung der Montagsdemonstrationen gegen Hartz IV ab dem Jahr 2004, die von ehemaligen Oppositionellen wie Wolf Biermann oder Joachim Gauck ob ihrer Namensgebung als geschichtsvergessen kritisiert wurden, woraufhin 60 Oppositionelle sich in einer Erklärung mit dem Anliegen identifizierten und so den Begriff der Montagsdemonstrationen für die Versammlungen legitimierten.

7 8 9 10

Vgl. Assmann 2018; Patzel-Mattern 2002, S. 9ff. Kohlstruck 2004, S. 175. Hahn 2000. Haag et al. 2017, S. 3.

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Unter den verschiedenen Akteuren, die sich auf ’89 beziehen, werden konfliktreiche Aushandlungsprozesse geführt. Vorgänge des Erinnerns und Vergessens sind dabei auch immer Verhandlungen von Macht bzw. finden im Rahmen gesellschaftlicher Machtbeziehungen statt.11 Kohlstruck entscheidet sich deshalb für den Begriff der Erinnerungspolitik, der den Blick auf die Ziele und Fiktionen erinnerungspolitischen Handelns lenkt. Meine These ist, dass es in der Erinnerung an ’89 lange Zeit eine hegemoniale, gewissermaßen ‚offizielle‘ Erinnerungskultur gab, die zur Zeit von unterschiedlichen Akteuren herausgefordert wird. Das, was ich als ‚offizielle‘ Erinnerungskultur beschreiben möchte, lässt sich zugespitzt in dem Narrativ, ’89 sei die Selbstbefreiung eines gefangenen „Volkes“, zusammenfassen.12 In dieser Erzählung wird ’89 als abgeschlossenes Ereignis betrachtet, so dass die Wiedervereinigung das Ende der Geschichte der „friedlichen Revolution“ darstellt. Dies zeigt sich beispielsweise auch in der Anlage der Jubiläumsveranstaltungen der Kommission „30 Jahre Friedliche Revolution und Deutsche Einheit“, die vom Bundesministerium des Inneren durchgeführt wurden. Darin werden – neben weiteren (Dialog-)Veranstaltungsformaten – sieben „Meilensteine“ benannt, denen im Jubiläumsjahr gedacht werden sollte.13 Darunter finden sich historische Ereignisse wie die Montagsdemonstration am 9. Oktober 1989 in Leipzig mit 70.000 Menschen, der Mauerfall, aber auch eher weniger charismatische Ereignisse, wie die Wirtschafts-, Währungs- und Sozialunion oder der Tag des 2+4-Vertrages. Die chronologische Abfolge der aufgelisteten „Meilensteine“ endet mit der Erinnerung an die Wiedervereinigung, die am 3. Oktober 1990 vertraglich vollzogen wurde. Das ‚offizielle‘ Bild vom Ende der DDR ist geprägt von medialen Inszenierungen der Wiedervereinigung, die immer wieder ganz bestimmte Bild- und Erzählsequenzen zu den jeweiligen historischen Ereignissen aufgreifen.14 Der Fokus der Erinnerung liegt stark auf den Großstädten (vor allem Leipzig und Berlin), ist von bestimmten Sprecher*innenpositionen, wie etwa den Erinnerungen bekannter Politiker*innen, geprägt und gießt die Ereignisse in eine stringente Erzählung. Den Widersprüchlichkeiten und der Ambivalenz der damaligen Ereignisse wird dabei kein Platz in der Erinnerung eingeräumt und ’89 wird als abgeschlossene und damit auch auserzählte Geschichte begriffen. Ein zentrales Ziel politischer Akteure, erinnerungspolitisch zu handeln, besteht in einer legitimatorischen Funktion: „Dies kann die Legitimität von kollektiver 11 12 13 14

Ebd., S. 5; Kohlstruck 2004, S. 188. Hartmann/Leistner 2019, S. 19; Wagner 2013, S. 162. BMI 2019. Wehr 2017, S. 39.

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Identität, die Legitimität einer neuen Ordnung oder die Legitimität von politischen Akteuren innerhalb pluraler Gesellschaften sein.“15 In Bezug auf ’89 lassen sich alle diese Legitimierungsformen finden. Die hegemoniale Erinnerung an ’89 setzt als Endpunkt der Erinnerung die Wiedervereinigung und bezieht sich damit als kollektive Identität vor allem auf eine nationale, gesamtdeutsche Identität. Gleichzeitig wird über die Erinnerung an ’89, auch einer – zumindest für die Bewohner*innen der ehemaligen DDR – neuen gesellschaftlichen Ordnung Legitimität verschafft: die der Marktwirtschaft und der repräsentativen Demokratie. Dies geschieht vor allem über den Kontrast zur DDR als Diktatur. Auch innerhalb der bestehenden pluralen Ordnung berufen sich unterschiedliche politische Akteure auf ’89. Das institutionenzentrierte und staatstragende Erinnerungsnarrativ wird dabei besonders von der CDU und SPD, die sich als Volksparteien verstehen verwandt, die seit 1990 in unterschiedlichen Konstellationen die Regierung stellten. Die Erinnerung an den Herbst 1989 wird häufig mit einem belehrenden Hinweis auf die vermeintlich richtigen Ziele der Revolution verknüpft, weshalb Martin Sabrow16 ihr einen „volkspädagogischen Charakter“ zuschreibt. Doch diese belehrende Art des Erinnerns scheint zunehmend auf taube Ohren oder sogar offenen Widerspruch zu stoßen. 1.1 Herausforderung staatlicher Erinnerungspolitiken zu ’89

Diskussionen darüber, wer sich legitimerweise auf das Erbe von ’89 beziehen kann und wie die Geschehnisse und ihre historische Bedeutung zu verstehen seien, setzten bereits früh ein, eigentlich schon seit den 1990er Jahren. Die Akteure der Diskussionen darum, was von 1989 bleibe, waren zunächst verschiedene Fraktionen ehemaliger Bürgerrechtler*innen und Oppositioneller. Auch hier wurden dem konservatorischen Bezug auf ’89, der die Wiedervereinigung als Ende dieser Geschichte sieht, bereits aktualisierende Bezugnahmen entgegengesetzt. Die „friedliche Revolution“ wurde als unabgeschlossene Geschichte steckengebliebener Reformimpulse betrachtet.17 Die Erzählung, die Ereignisse ’89 seien abgeschlossen und das Ziel sei mit der Wiedervereinigung erfüllt, wurde zudem über die letzten Jahrzehnte auch immer wieder bei Protesten auf der Straße infrage gestellt. Indem sich Protestbewegungen Demonstrationsformen und Parolen aneigneten, stellten sie sich bewusst in die 15 Kohlstruck 2004, S. 173; Westle 1989, S. 51ff. 16 Sabrow 2009. 17 Vgl. Hartmann/Leistner 2019, S. 20.

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Tradition der Montagsdemonstrationen und aktualisierten diese. So wird auch der Name des Neuen Forums heute wieder benutzt – zum Beispiel in Wurzen von bekannten Neonazis und rechten Kampfsportlern, die unter dem Namen Neues Forum Wurzen in den Stadtrat einzogen. Die Verknüpfung mit aktuellen Anliegen fordert nicht nur die Abgeschlossenheit der dominierenden Narrative heraus, sondern provoziert auch Diskussionen darüber, worin das Erbe besteht und wer sich über den Bezug zu ’89 Legitimität verschaffen darf. Ein Bezug auf die Montagsdemonstrationen lässt sich beispielsweise auch in Sozialprotesten ausmachen. Anfang der 1990er Jahre gab es bereits zahlreiche Proteste gegen die wirtschaftlichen und sozialen Verwerfungen, vor allem mit Fokus auf das Wirken der Treuhand.18 Auch diese orientierten sich häufig an der Protestform der Montagsdemonstrationen. 2004 knüpften weitere Sozialproteste mit den Montagsdemonstrationen gegen Hartz IV an das ’89er Erbe an.19 Auch der Bezug der Anti-Hartz-IV-Montagsdemonstrationen war unter ehemaligen Oppositionellen umstritten. Es gab, wie bereits erwähnt, vehemente Verfechter*innen, die die Proteste in der Tradition von ’89 sahen, aber auch Kritiker*innen. Doch seit – oder auch schon bei20 – den Demonstrationen gegen Hartz IV hat sich die Bezugnahme auf die Montagsdemonstrationen eindeutig nach rechts verschoben. Auch Armin Steil21 stellt heraus, dass bereits Mitte der 2000er im Rahmen eines lokalen, überregional weniger bekannten Konflikts um einen Moscheebau am Stadtrand von Berlin die 1989er-Formel „Wir sind das Volk“ mit den Narrativen des Nationalpopulismus überschrieben worden sei. Ein Wendepunkt in der öffentlichen Wahrnehmung stellen seit 2015 die Aufrufe von PEGIDA zu Montagsdemonstrationen in Dresden dar, wo nun Zehntausende unter der Parole „Wir sind das Volk!“ gegen eine vermeintliche Islamisierung und die Aufnahme von Geflüchteten auf die Straße gingen. Extrem rechte Bewegungen und Parteien treten zunehmend dominant als diskursmächtige Akteure in den geschichtspolitischen Debatten um ’89 auf, weshalb sich die Frage stellt, inwiefern ihre Aneignungen lebensweltliche Entsprechungen finden. Besondere Zuspitzungen in der Debatte gab es 2019 mit dem Zusammenfallen des 30-jährigen Jubiläums von 1989 mit Landtagswahlen in drei ostdeutschen Bundesländern. Die AfD stellte ihre Wahlkampagne unter den Slogan „Wende_2.0“. Indem sie ihre Wähler*innen als „Bürgerrechtler“ anredete, die im 18 Vgl. Böick 2012. 19 Rink 2017, S. 286ff. 20 Schon während der Proteste gegen Hartz IV versuchten extrem rechte Gruppierungen sich auf den Großdemonstrationen sichtbar zu platzieren. Die NPD machte Hartz IV zu ihrem Wahlkampfthema und gerade in einigen Klein- und Mittelstädten gelang es Rechten sich als Teil der Proteste zu etablieren (vgl. Philipps/Rink 2007, S. 57). 21 Siehe seinen Beitrag in diesem Band.

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Zuge der Landtagswahl die „friedliche Revolution mit dem Stimmzettel“ vollzögen und damit die „Wende vollenden“ sollten, wurden Begriffe und Parolen von ’89 auf die heutige Zeit übertragen. Damit findet auch eine Parallelisierung der sozialen Verhältnisse mit dem Ende der DDR und den heutigen Verhältnissen in der Bundesrepublik statt. Dies zeigt sich beispielsweise sehr deutlich in einem Zitat des Fraktionsvorsitzenden der AfD Alexander Gauland: „Wie damals liebe Freunde gehen heute unbotmäßige Bürger auf die Straße, um ihre Rechte einzufordern. Wieder werden diese Bürgerrechtler von Schlägern verfolgt, von den Medien diffamiert und in ihren Betrieben denunziert. Wieder ist Sachsen das Herz des Widerstandes.“22 Damit vertritt die Partei ein Widerstandsnarrativ, das davon lebt, dass die heutigen Verhältnisse analog zur DDR als Unrecht dargestellt werden und somit trotz Gegenwehr eines diffus bleibenden Establishments von „den Bürgern“ bekämpft werden sollten. Dabei werden explizit verschiedene Repressionserfahrungen, die Bürgerrechtler*innen 1989 machten, auf die heutige Zeit übertragen und somit diejenigen, die sich trotz Anfeindungen (im Sinne der AfD) äußern oder auf die Straße gehen, glorifiziert. Auch die Aussage, dass Sachsen wieder das Herz des Widerstandes sei, spielt auf die ’89er Proteste an, die besonders im Süden der ehemaligen DDR eine hohe Intensität hatten, und lädt somit auch ein regionales Kollektiv positiv auf und versucht an reale Widerstandserfahrungen anzuknüpfen. Die Formulierung erweckt außerdem den Eindruck des Ostens als Avantgarde, als Vorreiter für weitergehende Veränderungen – wie auch ein Kampagnenslogan der AfD im Landtagswahlkampf „Der Osten steht auf“. 1.2 Geschichtspolitischer Rechtsruck?

30 Jahre nach der Wiedervereinigung lässt sich in der Auseinandersetzung um ’89 also eine Entwicklung verzeichnen, die sich zunehmend als geschichtspolitischer Rechtsruck deuten lässt.23 Die extrem rechten Bezugnahmen scheinen für viele Beobachter*innen und ehemalige Oppositionelle einen klaren Missbrauch des Erbes von ’89 darzustellen und geradezu absurd zu sein, wenn etwa der damals in der BRD lebende Björn Höcke voller Überzeugung verlauten lässt, „es fühlt sich schon wieder an wie in der DDR […] und dafür haben wir nicht die friedliche Revolution gemacht“. Dennoch stellt sich die Frage, ob die Aneignungen der 89er 22 Gauland im AfD Kompakt TV 30.06.2018, eigene Transkription. Online verfügbar unter https://www.youtube.com/watch?v=f8_2-pC3P1o. Gesehen am 21.06.2021 (Tagesschau-Beitrag „Wende 2.0: Wie die AfD im Osten Wahlkampf macht“ vom 04.08.2019). 23 Hartmann/Leistner 2019, S. 18.

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Proteste und die damit verbundene Forderung, es brauche eine Wende 2.0, anschlussfähig an das Alltagsbewusstsein und an die Erfahrungen derjenigen sind, die diese tatsächlich miterlebt hatten. Kohlstrucks Verständnis von Erinnerungspolitik folgend, gilt es, Geschichtsbilder im Kontext gegenwärtigen politischen Handelns zu betrachten.24 Die AfD betreibt Erinnerungspolitik, indem sie strategisch mit Geschichtsdeutungen zur Legitimierung ihrer aktuellen politischen Projekte operiert. Die populistische Verwendung des Slogans „Wir sind das Volk“ und der Bezug zur friedlichen Revolution könnten der AfD also zur Legitimierung ihrer eigenen Darstellung als „bürgerliche“ Volksvertreter*innen dienen, aber gleichzeitig dem Insinuieren einer revolutionären Kraft, die das System stürzen will. Auch ’89 wurde die Parole benutzt, um deutlich zu machen, dass die breite Bevölkerung auf der Straße sei und hinter den Anliegen einer grundlegenden Veränderung stehe. Gleichzeitig erinnert sie an das revolutionäre Moment, die dynamische Situation 1989 und die Möglichkeit, ein politisches System (auch) mit Straßenprotesten zu Fall zu bringen. Mit dem Bezug auf ’89 wird so eine Deutungsoffenheit geschaffen, die begünstigt, dass sich unterschiedliche Gruppen mit verschiedenen Motiven angesprochen fühlen können: auf der einen Seite diejenigen, die sich als bürgerlich begreifen und sich innerhalb des Systems besser vertreten wissen wollen, auf der anderen Seite diejenigen, die dieses System an sich bekämpfen wollen. Das Bürgerliche und das Revolutionäre schließen sich in dem Bezug auf 1989 also nicht aus, sondern können gerade in dieser Verbindung an das in der staatlichen Erinnerungspolitik gepflegte Narrativ der „friedlichen Revolution“ anknüpfen. Doch warum kommt es 30 Jahre nach ’89 zu einer geschichtspolitischen Aufladung der Erinnerung an ’89? Einerseits können der zeitliche Abstand und das Sicheinmischen jüngerer Generationen in den Erinnerungsdiskurs ein Grund sein. Bei der Betrachtung von Erinnerung in ihrem sozialen Kontext unter Berücksichtigung gesellschaftlicher Macht könnte auch eine Rolle spielen, dass sich auch gesamtgesellschaftliche Machtverhältnisse mittlerweile anders darstellen als noch vor zehn Jahren. So schreibt etwa Oliver Nachtwey vom „Niedergang der Volksparteien“25 und einer Destabilisierung des deutschen Parteiensystems insgesamt in den letzten Jahren. Andere Autoren prognostizieren sogar eine Krise der politischen Repräsentation insgesamt.26 Da die „offizielle“ Erinnerungspolitik in Bezug auf die „friedliche Revolution“ eng mit der Legitimation des politischen Systems nach dem Zusammenbruch der DDR verknüpft ist, kann auch ein Brü24 Kohlstruck 2004, S. 176. 25 Nachtwey 2019. 26 Vgl. Linden/Thaa 2011; Michelsen/Walter 2017.

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chigwerden dieser Legitimation wieder Räume öffnen, die Abgeschlossenheit der Geschichte von 1989 infrage zu stellen und andere Erinnerungsangebote zu formulieren. Letztendlich stellt sich jedoch die Frage, ob die rechtspopulistischen Vereinnahmungen der ’89er Proteste und ihr Bezug zur Wende 2.0 lediglich die Wahlkampfstrategie einiger Parteifunktionären ist oder ob sich diese Aktualisierung der ’89er Proteste auch in alltagsweltlichen Politikverständnissen27 zeigt und dort Resonanz findet. 2. Aktualisierung der Erinnerung an 1989: Der Fall einer politischen Initiative in Sachsen

Einblicke darin, wie die ’89er Erzählung rechtspopulistischer (oder rechtsradikaler) Parteifunktionär*innen alltagstheoretisch unterfüttert wird, liefert eine im Rahmen des laufenden Forschungsprojektes „Erbe 89“ durchgeführte Gruppendiskussion. Im August 2019 trafen wir uns hierfür in einer mittelgroßen sächsischen Stadt mit Angehörigen einer politischen Initiative. Es beteiligten sich ungefähr zehn Personen an der Diskussion, die sich regelmäßig über politische Inhalte austauschen und gelegentlich Veranstaltungen organisieren oder gemeinsam an (Diskussions-) Veranstaltungen teilnehmen. Die Interviewten waren (fast) ausschließlich Männer über 50 Jahre, die den Herbst 1989 in ihrer Stadt bewusst miterlebt, aber zu dieser Zeit (noch) nicht gemeinsam als politische Gruppe agiert hatten. Trotz dieser fehlenden geteilten Erfahrung bezeichnen sich die Interviewten selbst als „’89er“, die sich in der Gegenwart erneut gegen vermeintliches Unrecht zusammenschließen. Anhand des empirischen Materials der Gruppendiskussion rekonstruiere ich einen Fall aktualisierender Bezugnahmen auf 1989. Dabei geht es vor allem darum, welche Deutungen von der späten DDR und den Protesten des Herbstes 1989 für das Politikbild der Interviewten in der Gegenwart aufgerufen werden.

27 Der Begriff des Politikverständnisses ist ein Arbeitsbegriff, der im Rahmen der empirischen Forschung weiter präzisiert werden soll. Eine forschungsleitende These dabei ist, dass sich in Ostdeutschland – geprägt von den Erfahrungen des politischen Umbruchs – verschiedene, teils konkurrierende Verständnisse von Politik und Demokratie herausgebildet hätten. Im Rahmen der empirischen Forschung geht es also darum, typische alltagsweltliche Politikverständnisse zu rekonstruieren und ihren Bezug zu 1989 und zu aktuellen politischen Ereignissen herauszustellen.

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2.1 Das Selbstverständnis als „’89er“

Bereits zu Beginn der Diskussion sprechen die Teilnehmenden von sich als „’89er“. In dieser Bezeichnung steckt eine starke Identifikation. Die Jahreszahl ist Kristallisationspunkt, der in eine Selbstbeschreibung umgemünzt wird. Das Selbstverständnis als „’89er“ ist allerdings nicht an Bürgerrechte oder oppositionelle Gruppen in der DDR wie das Neue Forum geknüpft, sondern losgelöst vom konkreten historischen Engagement. Es klingt vielmehr nach einer Generationenbeschreibung, die an die Bezeichnung der ’68er-Generation erinnert: eine Generation, die sich ebenfalls über eine Protestbewegung konstituiert. Einer der Interviewten bringt die Bezeichnung als „’89er“ mit der Gründung der Initiative vor etwa zehn Jahren zusammen: Angelehnt an die Geschichte der DDR haben wir ja 40 Jahre gewartet, bis es so weit kam zu diesem Wechsel. […] Und da haben wir gesagt, wir als ’89er, sage ich jetzt mal so, [haben] auch eine bestimmte Verpflichtung.28

Die Identifikation als „’89er“ führt also zu einer selbstauferlegten Verantwortung und Verpflichtung zur politischen Aktivität, also selber Akteur gesellschaftlichen Wandels zu werden. Der Begriff des Wechsels kommt in der Vielfalt der im öffentlichen Diskurs verwendeten Begriffe für die Ereignisse 1989, wie „Revolution“ oder „Wende“, nicht vor. „Wechsel“ klingt weniger nach einer radikalen Veränderung des politischen Systems, sondern vielmehr nach einem Austausch von Köpfen, bei dem der Rest, also das „System“, unverändert bleibt. Wenn die Ereignisse 1989 lediglich als „Wechsel“ gedeutet werden, kann dies bereits ein Grund für die Enttäuschungserfahrung sein, dass die Interviewten auch in der Gegenwart diktatorische Tendenzen ausmachen. Die tatsächliche Rolle der Sprecher im Zuge der Protestereignisse des Herbstes 1989 bleibt unklar. Formulierungen wie die des „Wechsels“, oder dass es die Zeit „dieser Wende“ gab, lassen die Ereignisse eher als etwas, das einem widerfährt erscheinen, als dass die Interviewten sich selbst als aktive Gestalter der Ereignisse sehen. Trotzdem wird der Herbst 1989 teilweise lebhaft als eindringliche Erfahrung geschildert, etwa wenn es um die gefühlte Bedrohung des Hubschraubers, der damals über der Stadt kreiste, geht, die sich bis heute körperlich (in Gänsehaut) niederschlägt, oder um die blauen Finger nach 28 Die verwendeten Zitate wurden für diesen Aufsatz bereinigt, indem Füllwörter oder Wortabbrüche entfernt wurden. Auslassungen sind mit […] markiert, Unterstreichungen bedeuten eine besondere Betonung des Wortes oder der Worte beim Sprechen. Nonverbale Kommunikationssignale werden in zwei Klammern eingefügt, z.B. ((nickt energisch)).

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der Bedienung des Ormig-Matrizendruckers. Obwohl die Interviewten 1989 nicht gemeinsam als Oppositionsgruppe tätig waren, wird die Gründung der Initiative als eine Art Reaktivierung bei personeller Kontinuität verstanden. Als Motivation für die Gruppengründung wird eine Unzufriedenheit mit „dieser Politik, die in der deutschen Bundesrepublik mehr und mehr um sich gegriffen hat“ in Verbindung gesetzt. Die Interviewten haben sich also schon vor PEGIDA und AfD als Initiative gegründet und verstehen sich auch selbst als Pioniere, die Wandlungsprozesse in der Politik erkennen. Die von ihnen als verfehlt angesehenen Entwicklungen sorgen dafür, dass sie der Meinung sind: „Leute, wir müssen wieder aktiv werden!“ Das „wieder“ ist dabei eindeutig auf ’89 bezogen. Worin das „aktiv werden“ jedoch besteht, bleibt im Dunkeln. Wichtig scheint vor allem das Selbstbild als Widerständler, was ebenfalls eine Aktualisierung der zugeschriebenen Rolle von damals darstellt. In der aktuellen Positionierung der Gruppe wird vor allem ein Konflikt zwischen „Befürwortern“ und „Gegnern“ aktueller Politik aufgemacht. B2: Und wie schon gesagt, mein Thema ist ja die Demokratie, Demokratie leben. Und das hat sich nun jetzt so sehr als schwierig erwiesen. Sie wissen ja, dass dieses Land mindestens zweigeteilt ist in Befürworter und Gegner. Wir gehören eher zu den, [ich] möchte nicht sagen, Gegnern, das ist falsch … B5: … Kritiker … B1: … Opposition … B5: … Kritiker … B1: … Kritiker … B2: … wir sind, wir sind eine APO hier in Stadt X. Und wir […] ((klopft im Rhythmus der Worte auf den Tisch)) begleiten eben diese politischen Schritte äußerst kritisch. Und da halten wir auch nicht hinterm Berg.

Zunächst führt einer der Sprecher ein, dass „Demokratie“ sein Thema sei. Er macht sich also Gedanken um einen allgemein positiv besetzten Begriff, aber vor allem um dessen Umsetzung, die Art und Weise, wie Demokratie gelebt werde. Er führt schließlich eine dichotome Unterscheidung an: Es gebe nur „Befürworter“ und „Gegner“. In der Aushandlung der Gruppe wird die Bezeichnung „Gegner“ schließlich zu „Kritiker“ abgeschwächt. Daran schließt das eigene Selbstverständnis an: Sie verstehen sich als „kritische Begleitung“ von Politik. Eine weitere Parallele zur ’68er-Bewegung findet sich in der Selbstbezeichnung als „APO“, also als Außerparlamentarische Opposition. Der Interviewte eignet sich damit Begriffe der linken Studentenbewegung an und bezieht sie auf die eigene Verortung in der ebenfalls nicht von Parteien getragenen Bürgerbewegung 1989.

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Die Kontinuität, sich heute wie 1989 im außerparlamentarischen „Widerstand“ zu verorten, wird auch an einer Stelle der Gruppendiskussion deutlich, in der es um ehemalige Oppositionelle geht, die zu den Grünen gingen. Diese Entwicklung wird als doppelter Verrat beschrieben. Einerseits seien sie „nicht mehr bei uns“ und hätten damit aus Sicht des Interviewten den Kern der Widerständigen verlassen. Auf der anderen Seite wird sich darüber beschwert, dass die Grünen mittlerweile das Bündnis 90 weglassen würden, also der ostdeutsche Teil der Grünen keine Erwähnung mehr finde. Na ja, und das war eben das, weshalb wir uns dann vor zehn Jahren wieder gefunden haben. Da sind natürlich einige von den früher Aktiven […] nicht mehr bei uns. Die sind zu Parteien gegangen. Das heißt, ein Großteil von den Neuen-Forum-Leuten sind in den Grünen aufgegangen – vor der Frage standen wir damals: „Geht ihr mit zu den Grünen als Bündnis 90/Die Grünen?“ Jetzt heißt es ja nur noch „Die Grünen“. Das „Bündnis 90“ ist ja schon weggelassen worden. Und die Mehrheit hat sich eigentlich dafür entschieden, dass sie da nicht mitmachen. So lange, wie das Neue Forum formal bestanden hat – das ging ja praktisch nur bis zu den Wahlen, vor allen Dingen in den Kommunalwahlen im Mai 90 –, waren wir praktisch weg vom Fenster.

In der Beschwerde über das Weglassen des „Bündnis 90“ deutet sich eine weitere – mit dem Verständnis als ’89er verbundene – kollektive Identität an: die der „Ostdeutschen“. Das Kollektiv der Ostdeutschen wird im weiteren Verlauf der Gruppendiskussion besonders über eine gemeinsamen Verlustgeschichte konstruiert, wenn es etwa heißt: „[D]as Wirken der Treuhand hat uns ja das Genick gebrochen“. Das gemeinsam erfahrene Unrecht wird in seiner Dimension im Laufe der Diskussion immer weiter emotionalisiert und skandalisiert und in seiner Beschreibung an einen Kolonialisierungsdiskurs angeknüpft, der die Ostdeutschen zum Opfer „des Westens“ werden lässt. Das Wirken der Treuhand sei, so ein Teilnehmer der Gruppendiskussion, „in dem Bewusstsein der DDR-Bevölkerung […] [der] größte Raubzug der Geschichte der Menschheit“, woraufhin ein weiterer Teilnehmer den Duktus aufnimmt und von einer „Ausplünderung durch Besatzer“ spricht. Es wird also reflektiert, dass es eine Außen- und eine Innensicht (die der DDR-Bevölkerung) auf die Ereignisse gebe. Dabei wird jedoch ein kollektives Bewusstsein der DDR-Bevölkerung konstatiert, das in der Bewertung der Ereignisse und der gemeinsamen Erfahrung als einheitlich und homogen angenommen wird. Auch wenn die Einteilungen in „Wessi“ und „Ossi“ oberflächlich zurückgewiesen wird, werden diese Grenzziehungen doch reproduziert. Die Verantwortung dafür wird jedoch einseitig dem Westen, denen „von drüben“, zugeschrieben. So bemerkt einer der Interviewten beispielsweise, wie sehr er sich darüber aufrege,

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dass nach wie vor „Schrankendenken“ herrsche, was er vor allem Westdeutschen zuschreibt, die „den“ Ostdeutschen im Kontext hoher AfD-Wahlergebnisse Undankbarkeit vorwerfen würden. Diese zugeschriebene Rollenkonstellation wird schließlich aufgebrochen und identifikatorisch umgekehrt: Das, was von außen als Undankbarkeit gerahmt wird, sei eigentlich die Aufgabe (der Ostdeutschen) als historisch informierte ‚Wächter‘: „Weil wir hatten das schon mal, die Diktatur, wie wir es jetzt eigentlich wieder haben“. Das Wissen über das Leben in einem autoritären Staat wird als Erfahrungsgefälle gegenüber Westdeutschen konstruiert, das Ostdeutsche besonders qualifiziere, gegenwärtige Entwicklungen zu problematisieren. B: Gerade die Treuhand […], das ist eine Katastrophe gewesen. Sie haben das als marktwirtschaftlichen Übergang bezeichnet, aber es war eine große Schweinerei. Und selbst das begreifen jetzt ein paar vernünftige Politiker drüben, aber vielleicht auch aus Angst vor den nächsten Wahlen. Denn jetzt merken sie, dass der Osten tatsächlich aufmuckt und vielleicht sogar die AfD hier in Sachsen wählt als stärkste Partei.

Die Treuhand wird als Ausgangspunkt genommen, um eine Enttäuschungsgeschichte zu erzählen, die bis heute andauert. Die Politiker „drüben“ werden in einer verräumlichten, exkludierenden Fremdheitskonstruktion nicht zum ostdeutschen Kollektiv gezählt. Es handelt sich also nicht um die „eigenen“ Politiker, sondern um die von „drüben“. Das „Aufmucken“ des Ostens liegt sprachlich nah an dem AfD-Slogan „Der Osten steht auf“ und unterstreicht damit die rebellische Selbstidentifikation als Protestavantgarde. Der AfD kommt in dieser Erzählung eine instrumentelle Funktionszuschreibung zu. Es wird unterstellt, die AfD forciere überfällige Veränderungsprozesse, indem ihr potenzieller Wahlerfolg als Drohkulisse wirke. Sie wird dabei aber mit „dem Osten“ als Kollektivsubjekt verknüpft, was insofern einen verzerrten Repräsentationsanspruch darstellt, als er all jene Ostdeutschen exkludiert, die sich nicht hinter die Politik der AfD stellen oder sich sogar aktiv gegen sie positionieren. Solche Unterstellungen von Homogenität finden sich auch an anderen Stellen, wenn es etwa pauschal heißt, dass etwas „die Bürger“ aufrege. Die eigene Verortung als „Kritiker“ wird jedoch über das Verbundensein mit der historischen Verantwortung der Ostdeutschen als Kollektiv auch noch weiter heruntergebrochen auf eine räumlich noch klarer abgesteckte Population: die Sachsen. Kritik ist nicht erwünscht. Und Kritik, die meinetwegen tatsächlich die, das Versagen der, der Politiker geißelt, ist automatisch rechts. Wir Sachsen haben ein braunes Gen –

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so was Idiotisches. Und wir Sachsen warn schon immer kritisch. Und wir werden es auch bleiben. Deswegen gibts uns.

Damit wird eine Aufladung vorgenommen, die sich aus der vermeintlich historischen Rolle „der Sachsen“ speist. Ein „braunes Gen“ der Sachsen wird zurückgewiesen und die Bezeichnung von anderen als rechts lediglich als Versuch, unliebsame Kritik abzuwenden, gesehen. Ein weiterer Sprecher zitiert die Theorie eines Mitarbeiters des WDR, den er einmal kennengelernt habe: Der vom WDR hat das auf einen Nenner gebracht. Er hat gesagt: „Bei uns wählen sie jetzt alle rot, weil sie früher braun gewählt haben. Und bei euch hamse früher rot gewählt und jetzt wählen sie alle braun, weil sie die Schnauze alle voll haben.“ So, und wir werden einfach von den Politikern überhaupt nicht mehr gehört. Die machen ihren Stiefel so, wie sie denken. Du kannst an Landrat schreiben, du kannst dich beschweren. Die sind alle König und Fürst im eignen Reich. Antworten gibts nicht mehr. Es gibt nur noch Diktatur.

Damit werden extrem rechte Einstellungen normalisiert und kulturalisierend auf Tradition und Herkunft bezogen. Klare NS-Bezüge werden bagatellisiert, indem aus dem „braun“ der Erzählung des WDR-Mitarbeiters in der Selbstbeschreibung der Sachsen ein „kritisch“ wird. Was andere „braun“ nennen, wird von der Initiative also als „kritisch“ bezeichnet. Die „Kritik“ wird dabei jedoch nicht inhaltlich bestimmt, sondern lediglich über eine historische Bestimmung und ein Feindbild. Das „braun wählen“ wird quasi als Gesetzmäßigkeit präsentiert, die von politischen Haltungen losgelöst als reiner Protest gegen die vermeintlich herrschende Meinung inszeniert wird. Die Essenzialisierung von rechtem Protest findet sich auch in der liebevollen Beschreibung der Bevölkerung der eigenen Region als „heimatverbundenes zänkisches Bergvolk“. In der Selbstbeschreibung als zänkisches Bergvolk manifestiert sich die Wahrnehmung, abgeschottet zu sein, und gleichzeitig eine positiv aufgeladene dickköpfige Widerständigkeit, sich nichts gefallen zu lassen und eigensinnig und autonom zu handeln. Die Interviewten sehen sich als Ostdeutsche also aufgrund ihrer Erfahrungen mit dem Leben in der DDR, wie auch mit der Treuhand und aufgrund ihrer Identifikation als „’89er“, die besonders sensibel für gesellschaftliche Veränderungen seien und in einer besonderen Verantwortung stünden, nunmehr selbst auf der Seite der „Opposition“ gegen die aus ihrer Sicht verfehlte Politik in der Gegenwart vorzugehen.

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2.2 Dichotome Gegenüberstellungen

Das Gesellschaftsbild der Interviewten konstituiert sich im Zuge der Diskussion immer wieder in Abgrenzung zu anderen. Dabei werden Dichotomien konstruiert, wobei sich die Mitglieder der politischen Initiative stets auf der einen Seite im Antagonismus zu einer anderen Seite sehen. Teilweise werden hierbei die aktuellen gesellschaftlichen Verhältnisse mit den gesellschaftlichen Verhältnissen am Ende der DDR – und damit auch ihre Antagonismen – parallelisiert; so etwa in der Gegenüberstellung von Elite und Volk, die laut Priester ein unverwechselbares Kernelement einer populistischen Weltsicht darstellt.29 Die Gegenüberstellung der politischen Elite und des Volkes im Zuge der Proteste im Herbst 1989 wird besonders anhand einer Veranstaltung im Oktober 1989 erzählt, in der Lokalpolitiker sich auf der Bühne in einer einem Tribunal ähnlichen Situation vor dem „Volk“ verantworten mussten. Das Publikum wirkte in diesem Setting vor allem in der Masse als Drohkulisse. So ging laut einem der Interviewten ein Raunen durch die Menge und es wurde die Frage gestellt, „ob die heute noch heimkommen“. In der Beschreibung dieser Situation wird jedoch weniger das politische System kritisiert als vielmehr die vermeintlich unfähigen Politiker*innen, die die Interessen des „Volkes“ nur ungenügend vertreten würden. Die Unfähigkeit oder der Unwille von Politiker*innen, sich dem Willen der Bevölkerung anzunehmen, wird auch in der Gegenwart bemängelt: Was uns an der Politik – an der offiziellen Politik – so stört, ist jedes Mal, vor Wahlen – wie jetzt – sagen die Politiker, die in der Regierung sind: „Wir haben verstanden. Wir müssen euch, wir müssen die Bevölkerung mitnehmen.“ Das haben sie nie gemacht. Warum jetzt plötzlich? Warum haben sie jetzt was verstanden? Kritik ist nicht erwünscht.

Regierende Politiker*innen sollten laut dem Interviewten die Anliegen der Bevölkerung verstehen und umsetzen, was sie derzeit nicht einlösen würden. Das Versprechen, ihren Politikstil zu ändern, würden sie jedoch nur aus wahltaktischen Gründen geben und dieses letzten Endes auch nicht einlösen. Die Gegenüberstellung von Politik auf der einen und „offizieller Politik“ auf der anderen Seite suggeriert, es gebe eine Fassadenpolitik, die offiziell stattfinde, und im Kontrast dazu eine andere unverdorbene Politik. Das Gefühl, von den Herrschenden betrogen worden zu sein, drückt sich auch in zahlreichen Erzählungen über das Machtstreben und die Korruptheit der po29 Priester 2019, S. 12f.

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litischen Eliten aus. Auch hierfür werden Erzählungen aus verschiedenen Zeiten herangezogen, die unabhängig von den gesellschaftlichen Umständen dieselbe Geschichte des Verrats der Politiker*innen am „Volk“ erzählen. Für die DDRZeit wird etwa ein Beispiel genannt, bei dem absichtlich in einem Betrieb der Einsatz einer Chemikalie erhöht wurde, um die Produktion zu steigern und damit Exporte zu ermöglichen und Devisen zu erzielen. In diesem Zusammenhang seien Arbeiter der Fabrik verletzt worden. In dieser Deutung besteht der Verrat der Politiker*innen am Volk also in einem mutwilligen Schaden an den einfachen Arbeiter*innen, um die Produktion für die Planwirtschaft zu erhöhen und damit die eigene Machtstellung zu sichern. In einer weiteren Verratserzählung geht es um einen westdeutschen Politiker in der Transformationszeit Anfang der 1990er Jahre. Dieser habe sich selbst bereichert und ein „großes Anwesen hier für einen Appel und ein Ei“ gekauft hat. Die Betonung, dass das Anwesen über Überwachungskameras verfüge, verbildlicht die Distanz des Politikers zum „Volk“, insofern er es aktiv von sich fern halte, sich abgrenze und sich auf seinem Anwesen abschotte. Er wird als „Gangster“ und „Verbrecher“ bezeichnet. Auch wenn den Interviewten der Name des Politikers nicht mehr einfällt, wird erwähnt, dass er ein SPD-Politiker sei. Kritik an der SPD als Partei, die sich selbst auf die Fahnen geschrieben hat, für das Soziale einzustehen, findet sich auch in weiteren Passagen der Gruppendiskussion. Die vermeintliche Entlarvung des SPD-Politikers als moralloser Verbrecher macht somit die besondere Enttäuschung von der SPD und damit die besondere Fallhöhe der SPD deutlich. Der genannte Politiker habe auch den Einigungsvertrag mit unterschrieben, der in diesem Zusammenhang als zwielichtiger Hinterzimmerdeal unter Männern dargestellt wird. Neben dem Vorwurf der aktiven und bewussten Selbstbereicherung von Politiker*innen wird wiederum an anderen Stellen der Gruppendiskussion Politiker*innen ihre Handlungsfähigkeit abgesprochen. Dabei wird in einer inkonsistenten (Alltags-)Theorie Kapitalismuskritik mit Elitenkritik verknüpft. So wird Helmut Kohl zum „Handlanger der Monopole und Konzerne“, und es wird konstatiert, dass „eigentlich das Kapital die Politik“ regiere. Die Erzählung von der Abhängigkeit der Politik wird auch weiter zugespitzt in internationale Abhängigkeiten, etwa von den USA, die in die Frage mündet, ob Deutschland eigentlich noch „souverän“ sei. Hier ist die Grenze hin zu Verschwörungserzählungen letzten Endes fließend, die besonders von einem Teilnehmenden eingebracht werden, der sich die Frage stellt, „wer die Geschicke der Welt auf seine Weise lösen“ wolle. Hier wird das Weltgeschehen personalisiert und das verschwörerische Narrativ von Deutschland als Spielball fremder Mächte befeuert. Wer diese Mächten sein könnten, bleibt im Ungefähren und Vagen. Neben der beschriebenen Dichotomie zwischen einem als interessenshomogen angenommenen Volkes einerseits und den politischen Eliten andererseits, die als

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klassisches Element eines populistischen Weltbilds gilt, finden sich weitere Abgrenzungen und dichotome Einteilungen; so etwa die bereits erwähnte Einteilung in Beführworter*innen und Kritiker*innen der aktuellen Politik, diejenige zwischen Ostund Westdeutschen, aber auch die zwischen Großstädten und der eigenen Verortung als Provinz. Auch hier wird eine Parallele zur DDR gezogen, indem betont wird, dass das, was im industriellen Süden der DDR gefertigt worden sei, alles der DDR-Hauptstadt Berlin zugute gekommen sei („Der Groll auf Berlin war riesengroß“). Diese dichotomen Einteilungen der Gesellschaft führen zu einer klaren Selbstverortung. Die Interviewten rechnen sich einem autarken, widerständigen Bergvolk mit seinem kritischen Geist zu, das fernab der Großstädte lebe und dennoch den Mächtigen Angst einjage. 2.3 „DDR 2.0“

Worin die Verfehlungen aktueller Politik bestehen, darüber sind sich die Interviewten nicht immer einig. Das derzeitige politische System wird mit vielfältigen Bezeichnungen belegt: allgemein mit „Diktatur“ oder „Lobbykratie“, spezifischer wird es als „Parteiendiktatur“ oder gar als „Diktatur des Kapitals“ bezeichnet. Die Einschätzung der derzeitigen politischen Verhältnisse der gegenwärtigen Gesellschaft basiert auf Parallelisierungen zur DDR. Weil wir hatten das schon mal, die Diktatur, wie wirs jetzt eigentlich wieder haben. Das ist nichts anderes, […] „DDR 2.0“, könnten wir jetzt wieder sagen. Da hat sich ja nichts geändert. Die Meinungsfreiheit wird abgeschafft, die Pressen sind gleichgeschaltet. […] Und das ist das, was aber die Bürger wieder aufregt, wenn ich wieder genau denselben Scheiß […] [,] wie das früher war, wo man nichts sagen durfte.

Ein besonderer Indikator für die Deutung, sich in der Gegenwart wieder in einer Diktatur zu befinden, ist die Abschaffung der Meinungsfreiheit; ein Deutungsmuster, das ebenfalls neurechten Diskursen entlehnt ist. Die Gegenwartsdiagnosen der Interviewten sind dabei keineswegs widerspruchsfrei. Einerseits wird konstatiert, es habe sich nichts geändert, auf der anderen Seite werde die Meinungsfreiheit abgeschafft. Dies lässt offen, wann schließlich in der Entwicklung des Niedergangs liberaler demokratischer Gesellschaften der positive Bezugspunkt für die Interviewten liegt, an dem die Meinungsfreiheit (noch) realisiert gewesen sein soll. Neben der vermeintlichen Einschränkung der Meinungsfreiheit, die mit dem Gefühl von Überwachung und Einschränkungen zum Ende der DDR gleichgesetzt wird, werden auch auf anderen Ebenen Parallelen gezogen: etwa in

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der scheinbaren Bedeutungslosigkeit von Wahlen, bei denen schon vorher alles feststehe. Auch in der Beschreibung der vermeintlichen „Parteiendiktatur“ heute finden sich Formulierungen wie „[d]enn hier bestimmt die Partei“, die sich eher nach einer Beschreibung des Einparteiensystems der DDR anhören als nach dem Wettstreit politischer Parteien in einem demokratischen System. Parteienkonkurrenz wird zwar zugestanden, aber als machtzentrierte Pseudokonkurrenz gedeutet, die zu einer Egalisierung und Angleichung der Inhalte führe. In den Parallelen, die zwischen dem Ende der DDR und heute gezogen werden, drücken sich ein tiefes Misstrauen und eine Distanz gegenüber den Regierenden aus sowie gegenüber den machthabenden, als selbstbezogen charakterisierten Parteien. Wahlen scheinen in den Augen der Interviewten keine Interventionsinstanz darzustellen, da politisch Verantwortliche ohnehin nur nach ihren eigenen Interessen handelten. Ein Kern der Erzählung der „DDR 2.0“ besteht also in einer damals wie heute verspürten Ohnmacht, also dem Eindruck, selber keinen Einfluss auf gesellschaftliche und politische Entscheidungen nehmen zu können. 3. Fazit

Der Bezug auf die Protestereignisse von 1989 ist für die politische Initiative aus Sachsen besonders identitätsstiftend. Die Identifikation mit ’89 scheint dabei losgelöst von der tatsächlichen Rolle der Akteure im damaligen Protestgeschehen. Sie gründet vielmehr in der Aktualisierung des ’89er Protestes in der Parallelisierung der eigenen Verortung im „Widerstand“ gegen die herrschenden Verhältnisse zu stehen – zum Ende der DDR und heute. Aus der historischen Erfahrung des Straßenprotestes und des folgenden gesellschaftlichen Umbruchs wird eine besondere Sensibilität und Aufmerksamkeit gegenüber gesellschaftlichen Wandlungsprozessen abgeleitet. Die Notwendigkeit und Legitimität dafür, sich gegen „das System“ als Ganzes zur Wehr zu setzen, wird über die Parallelisierung zwischen heutigen gesellschaftlichen Verhältnisse und denen in der Endphase der DDR legitimiert. Die Interviewten sehen sich dabei als Teil verschiedener kollektiver Identitäten, auf die sie sich im Laufe der Diskussion beziehen. Sie verstehen sich als Teil des „Volkes“, das als homogene Interessensgemeinschaft angenommen wird. Davon werden die politischen Eliten abgegrenzt, die scheinbar andere Interessen verfolgen und diese gegen das „Volk“ in Stellung bringen würden. Sie heben ihre besondere Erfahrung als ehemalige DDR-Bürger hervor und grenzen sich damit von denen „drüben“, also den Westdeutschen, ab. Sie laden die eigene Verortung in der Provinz positiv auf und behaupten so eine historisch gewachsene Authentizität, Autarkie und einen Eigensinn, aus dem eine historische Mission zur Kritik an

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den ‚Mächtigen‘ erwächst. Dabei werden das vermeintlich Eigene, das „Volk“, die regionale Identität sowie die Transformationserfahrung der 1990er Jahre homogenisiert. In der Darstellung der Ostdeutschen als Protestavantgarde werden extrem rechte Einstellungen entstigmatisiert und normalisiert. In den Deutungen der Interviewpartner finden sich also Denkfiguren des oben skizzierten AfD-Wahlkampfes während der Landtagswahlen in Sachsen 2019 wieder. Die Erzählung der DDR 2.0 wird dabei mit einer eigensinnigen Aneignung des ’89er Protestes unterfüttert. Das Politikverständnis der Interviewten ist dabei teilweise inkonsistent und nicht immer widerspruchsfrei. Dabei entsteht der Eindruck, dass sich die von uns interviewte Gruppe vor allem über geteilte Enttäuschungserfahrungen vergemeinschaftet, die jedoch häufig abstrakt bleiben und wenig anhand der eigenen Biographie dargestellt werden, sondern vielmehr in einem Gefühl eines gesamtgesellschaftlichen Verfalls aufgerufen werden. Exemplarisch zeigen sich in dem empirischen Material der Gruppendiskussion mit der politischen Initiative aus Sachsen also verschiedene Funktionen des Bezugs auf 1989: Er dient erstens der Selbstlegitimation der Gruppe, ist zweitens leitend für Kollektivkonstruktionen, denen sich die Befragten zurechnen oder in deren Namen sie sprechen. Drittens dient er dazu, dichotome gesellschaftliche Einteilungen zu fundieren, die ebenfalls in Kontinuität zu Verhältnissen vor 1989 gesetzt werden. Viertens liefert der Bezug auf ’89 die Grundlage für düstere Gesellschaftsprognosen und die Kritik des heutigen politischen Geschehens. Und er lässt fünftens schließlich in seiner Vagheit offen, ob damit der Anspruch auf Repräsentanz im System oder auf die Überwindung dieses Systems verbunden ist. 30 Jahre nach 1989 werden dominante Erinnerungspolitiken, die eng mit der Legitimation des derzeitigen politischen Systems verbunden sind, symbolträchtig und mit großer Resonanz infrage gestellt. Dies geschieht, wie die Gruppendiskussionen mit der interviewten politischen Initiative zeigt, nicht nur durch Parteifunktionäre der AfD. Die bislang dominierende Erinnerung an die „friedliche Revolution“ als abgeschlossenes Ereignis und Erfolgsgeschichte lässt nur einen eingeschränkten Blick auf die Bandbreite möglicher Erinnerung zu. In den rechtspopulistischen Aneignungen von 1989 wird diese Erzählung nicht bestritten, sondern aktualisiert und damit ihre Einmaligkeit negiert. 4. Literatur Assmann, Jan (2018): Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen. 8. Auflage. München: Beck.

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Brückweh, Kerstin, Clemens Villinger und Kathrin Zöller (Hrsg.) (2020): Die lange Geschichte der „Wende“. Geschichtswissenschaft im Dialog. Berlin: Ch. Links Verlag. Böick, Marcus (2012): „Aufstand im Osten“? Sozialer und betrieblicher Protest gegen Treuhandanstalt und Wirtschaftsumbau in den frühen 1990er Jahren. In: Dieter von Bingen, Maria Jarosz und Peter Loe (Hrsg.): Legitimation und Protest. Gesellschaftliche Unruhe in Polen, Ostdeutschland und anderen Transformationsländern nach 1989. Wiesbaden: Harrassowitz. S. 167–185. Böick, Markus (2018): Die Treuhand. Idee – Praxis – Erfahrung. Göttingen: Wallstein Verlag. Bundesministerium des Inneren, für Bau und Heimat (2019): Kommission „30 Jahre Friedliche Revolution und Deutsche Einheit“ stellt Jubiläumskonzept vor. Online verfügbar unter https://www.bmi.bund.de/SharedDocs/pressemitteilungen/DE/2019/09/ jubilaeumskonzept-30ja-deu-einheit.html. Gesehen am 14.10.2020. Haag, Hanna, Pamela Heß und Nina Leonhard (2017) (Hrsg.): Volkseigenes Erinnern. Die DDR im sozialen Gedächtnis. Wiesbaden: Springer VS.  Hahn, Alois (2000): Inszenierung der Erinnerung. In: Paragrana 9 (2), S. 21–42. Hartmann, Greta und Alexander Leistner (2019): Umkämpftes Erbe. Zur Aktualität von „1989“ als Widerstandserzählung. In: Aus Politik und Zeitgeschichte 69 (35–37), S. 18–24. Jessen, Ralph (2019): Immer wieder Montags. Warum wir über eine populistische „Volks“-Erinnerung reden müssen. In: INDES. Zeitschrift für Politik und Gesellschaft 8 (1), S. 55–60. Kohlstruck, Michael (2004): Erinnerungspolitik: Kollektive Identität, Neue Ordnung, Diskurshegemonie. In: Birgit Schwelling (Hrsg.): Politikwissenschaft als Kulturwissenschaft. Theorien, Methoden, Problemstellungen. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften, S. 173–193. Linden, Markus und Winfried Thaa (Hrsg.) (2011): Krise und Reform politischer Repräsentation. Baden-Baden: Nomos. Mau, Steffen (2019): Lütten Klein. Leben in der ostdeutschen Transformationsgesellschaft. Frankfurt am Main: Suhrkamp. Michelsen, Danny und Franz Walter (2017): Unpolitische Demokratie. Zur Krise der Repräsentation. 2. Auflage. Frankfurt am Main: Suhrkamp. Nachtwey, Oliver (2019): System ohne Stabilität: Der Niedergang der Volksparteien. In: Blätter für deutsche und internationale Politik 65 (2), S. 95–102. Patzel-Mattern, Katja (2002): Geschichte im Zeichen der Erinnerung. Subjektivität und kulturwissenschaftliche Theoriebildung. Stuttgart: Franz Steiner. Philipps, Axel und Dieter Rink (2007): Mobilisierungsframes auf den Anti-Hartz-IVDemonstrationen 2004. In: Forschungsjournal neue soziale Bewegungen 20 (1), S. 52–60. Priester, Karin (2019): Umrisse des populistischen Narrativs als Identitätspolitik. Narrative des Populismus. In: Michael Müller und Jørn Precht (Hrsg.): Narrative des Populismus. Erzählmuster und Strukturen populistischer Politik. Wiesbaden: Springer VS, S. 11–26. Rink, Dieter (2017): Die Montagsdemonstration als Protestparadigma. Ihre Entwicklung

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„Wir ’89er“

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von 1991 bis 2016 untersucht am Beispiel der Leipziger Protestzyklen. Leviathan 45 (Sonderband 33), S. 282–305. Sabrow, Martin (2009): Die DDR erinnern. In: Martin Sabrow (Hrsg.): Erinnerungsorte der DDR. München: Beck, S. 11–27. Wehr, Laura (2017): „Die Leute, die so eine DDR-Nostalgie haben, denen wünsche ich, dass es einen Knall gibt und es ist wieder wie’s war, mit allem Furchtbaren.“ Die DDR im familialen Gedächtnis von Übersiedler-Familien. In: Hanna Haag, Pamela Heß und Nina Leonhard (Hrsg.): Volkseigenes Erinnern. Die DDR im sozialen Gedächtnis. Wiesbaden: Springer VS, S. 39–60. Westle, Bettina (1989): Politische Legitimität. Theorien, Konzepte, Befunde. Baden Baden: Nomos.

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„Denk an die Aufzeichnung!“ Alexander Leistner

Der Chorprobenraum im Kulturzentrum, das Besprechungszimmer im Pfarrhaus – wir sind seit Monaten in einer alten Textilarbeiterstadt im Süden der ehemaligen DDR unterwegs, um Gruppendiskussionen für unser Forschungsprojekt „Erbe ´89“ zu führen. Einmal, im Jahr 2019, geht es zur Abwechslung in das Hinterzimmer einer Kneipe. Der Laden verspricht Essen von Hausmannskost bis XXL in bester Lage gleich am historischen Marktplatz. Er wirbt mit einem „hellen und modernen Gastraum“, einer „gemütliche Außenterrasse“ und einem „Freizeitraum“ mit Billardtisch und Fernseher. Was interessant ist, weil man sich fragt, was in den übrigen Räumen passiert – wenn nicht ebenfalls Freizeit. Also außer an diesem Tag, wo wir beruflich dort sind. Ich bin mit meiner Kollegin und den Interviewpartner*innen vor der Kneipe verabredet. Dort treffen diese sich regelmäßig in einem Hinterzimmer. Politisch engagierte Menschen, größtenteils Rentner, größtenteils Männer, einige im Herbst 1989 oppositionell aktiv. Vor ein paar Jahren haben sie sich unter dem Namen einer oppositionellen Initiative von damals neu zusammengefunden. Wir werden vor der Tür von einer kleinen Abordnung in Empfang genommen. Ein promovierter Arzt und ein Ingenieur. Alles hat einen sehr offiziellen Charakter, und ihnen scheint wichtig, mich den ganzen Abend über mit meinem Doktorgrad anzusprechen. Sie fühlen sich deutlich geschmeichelt von unserem wissenschaftlichen Interesse und sind zahlreich erschienen: elf Männer und eine Frau. Sie haben viel zu erzählen, über damals und mehr noch über die politischen Verhältnisse heute. Der pensionierte Arzt war 1989 Sprecher des Neuen Forums in der Stadt, ein anderer hat durch illegale Flugblätter eine der ersten großen Demonstrationen der DDR im Revolutionsherbst wortwörtlich angezettelt. Eine Schiebetür trennt das Hinterzimmer vom Gastraum. Separiert, aber zugleich offiziös. Auf einem großen Tisch liegt Material ihrer aktuellen Initiative aus. Ein Papier, aus dem hervorgeht, dass eine landesweit bekannte ehemalige Bürgerrechtlerin, die sich seit einigen Jahren im Milieu der Neuen Rechten engagiert, durch die Gruppe mit einem Preis geehrt werden soll; zudem Infobroschüren zu den Gefahren der 5G-Mobilfunktechnologie. Man ist nah dran an den Themen, die auf Facebook und YouTube gerade Konjunktur haben. Bevor wir in das Interview starten, wol-

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„Denk an die Aufzeichnung!“

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len wir unsere Informationsblätter verteilen – die Einwilligungsformulare und das umfangreiche Datenschutzkonzept unseres Projektes. Die Runde lehnt ab, kommentiert das belustigt als neueste Bürokratiezumutung und sekundiert, man habe ja nix zu verbergen. Zwei Aufnahmegeräte liegen nun angeschaltet auf dem Tisch verteilt, und dieses unschätzbare Hilfsmittel empirischer Forschung wird im Gesprächsverlauf zu einem rege kommentierten und symbolisch aufgeladenen technischen Artefakt, das für unsere Forschung steht und für manches anderes mehr. Dass wir mit zwei Geräten arbeiten, hat mit der Größe der Runde zu tun, aber auch mit meiner notorischen Angst, eines könnte trotz geladener Batterien doch ausfallen. Die Aufnahme beginnt mit der Eingangsfrage zur Geschichte der Gruppe und den Erfahrungen in zwei politischen Systemen. Schon rauscht schwungvoll die Schiebetür auf und die Kellnerin verteilt Bier an die Runde und Cola an uns. Das dauert ein bisschen, bis sich die Bedienung durchfragt und alles am rechten Platz ist und der informelle Sprecher der Runde kommentiert: „Ist alles aufgenommen, ja?“, was mit Lachen quittiert wird. Normalerweise vergessen Interviewte recht schnell, dass ein Aufnahmegerät auf dem Tisch liegt. Es ist als Artefakt Teil einer definierten Situation, die sich von Alltagsgesprächen unterscheidet, auch weil man als Forscher selbst so zurückhaltend kommuniziert. Mir ist das manchmal selbst ganz unangenehm, wenn neben Schweigen, Zuhörgesten und Mitschreiben die einzige Aktivität ist, ab und an auf das Display nach dem Batteriestand zu schauen – aber selten stört dies das Gegenüber. An diesem Abend rufen die Anwesenden das Gerät selbst immer wieder in Erinnerung. Es wird zum Objekt ihrer Witze und Sprüche, aber auch zur Projektionsfläche für Erinnerungen an geheimdienstliche Überwachung. Die folgenden drei Stunden werden lebendig, was den Mitarbeiter des mit der Abschrift des Mitschnitts beauftragten Schreibbüros später fast in den Wahnsinn treiben wird. Die Runde ist aufgeschlossen und diskussionsfreudig, das Sprechen gelöst, und das mit jeder Bierrunde mehr. Man redet viel, viel durcheinander und meinungsstark über ein immenses Spektrum an Themen: die Zeit von 1989, die Notwendigkeit, erneut aufzustehen, über die Demokratie als Diktatur, über Julien Assange, geheime Truppenbewegungen der NATO, Bildungspolitik, Ökonomie, die Kreisgebietsreform, über die Treuhand und Wessis, über die Antifa und aus dem Westen importierte Rechtsextreme in der Stadt, viel über Kränkungen und Enttäuschungen, wobei das oft abstrakt bleibt und wenig rückgebunden an eigene Erfahrungen. Am plastischsten vielleicht die, als wichtiger Ort der Friedlichen Revolution nicht anerkannt und gewürdigt zu sein. Der Ingenieur und der Arzt bleiben dabei in einer herausgehobenen Rolle. Sie verteilen und kommentieren Redebeiträge der anderen, uns gegenüber sind sie höflich und erinnern die kom-

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munikativ davon galoppierende Runde immer mal an „die Gäste aus Leipzig“. Die Offenheit der Methode mit nur einem Eingangsimpuls und ansonsten schweigend an der Cola nippenden Wissenschaftler*innen irritiert immer mal (und geradezu lehrbuchhaft). Wieder der Verweis auf das Aufnahmegerät: „Die schneiden sich ja raus, was sie brauchen. ((lacht))“. Das ist ohne Vorwurf oder Misstrauen gesagt, ich höre es als Vertrauensvorschuss, dass wir schon wissen werden, was wir wie tun. Wie wir das konkret machen, bleibt ihnen aber fremd: „Ich kann mir gar nicht vorstellen, dass Sie aus diesem ganzen Geplärre eine wissenschaftliche Arbeit zusammenstellen. Vollkommen unbegreiflich“, meint er später, die Eigendynamik und die Geselligkeit der Diskussionen seiner Initiative ironisch kommentierend. Wir sagen nicht viel, sondern ermuntern, über die Dinge zu sprechen, die ihnen wichtig sind. Unser Schweigen bestärkt einerseits die Unbefangenheit des Redens, zugleich nuancieren sich darüber mit der Zeit sehr fein die Zuschreibungen gegenüber uns als Forscher*innen und unseren Motiven. „Sie wollten uns ja plappern lassen. Sie wollten ja aus uns Zeug rauslocken, was wir eigentlich gar nicht sagen wollten.“ Was er plappern nennt, erscheint als sich wechselseitig überbietende Zeitdiagnosen und gegenseitige Bestätigung des eigenen Expertentums. Es gibt wenig Dissens untereinander, viele Deutungen politischer Entwicklungen bleiben inkonsistent nebeneinander stehen. Vorher Gesagtes dient häufig eher als Stichwort für assoziative Anschlussdeutungen. Einig ist sich die Runde in der Analogie zwischen der DDR und heute, in der rückblickenden Identifikation mit dem Aufbegehren gegen die Diktatur. Das verleiht dem Gesagten Größe und Legitimität und verbindet die biographisch sehr heterogene Runde: den Aktivisten des Neuen Forums mit dem Mitglied der SED oder einer staatstreuen Blockpartei, selbst 1989 nicht auf der Demonstration anwesend. Verbindend sind zudem die eingeübten Sprachspiele, der sich steigernden Erfindungsreichtum, einen Namen zu finden, für eine „Demokratie, die sich Demokratie nennt“: Autokratie, Diktatur oder Parteiendiktatur, Lobbykratie, Bürokratie, Plutokratie. Wortreich in Gemeinschaft zu schmähen, scheint etwas Befriedigendes zu haben, mindestens etwas, das emotional stark involviert. „Wir sind diejenigen, die ein bissel aufpassen. Weil wir hatten das schon mal, die Diktatur, wie wir es jetzt eigentlich wieder haben. Das ist nichts anderes, bloß ich sage mal ‚DDR 2.0‘. Da hat sich ja nichts geändert. Die Meinungsfreiheit wird abgeschafft, die Presse ist gleichgeschaltet. […] Und das ist das, was aber die Bürger wieder aufregt, wenn ich wieder genau denselben Scheiß – sage ich auf Deutsch –, wie das früher war, wo man nichts sagen durfte.“ Der Arzt unterbricht mit Blick auf das Aufnahmegerät: „Ja. Denk an die Aufzeichnung. ((lacht))“. Ich falle kurz aus der Rolle des Schweigenden: „Das ist vielleicht der Unterschied zu früher“. Das

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bleibt so stehen und verhallt. Eine Erinnerung aus dem Erfahrungsraum der DDR wird aufgerufen und aktualisiert – dass Gesprächsmitschnitte missbräuchlich verwendet werden, dass offenes Reden schwer möglich ist. Ich weise das zurück: Wie man sieht, können wir öffentlich reden und es ohne Konsequenzen sogar aufzeichnen. Neben der Erinnerung schwingt im Gesagten auch die Selbstidentifikation mit, als „Abweichler“ etwas Riskantes und höchst Subversives zu tun, Unerhörtes auszusprechen. An einer anderen Stelle sinnieren die Interviewten, darüber exiliert zu werden: „Dann ist es nicht mehr weit, dass sie uns alle des Landes verweisen.“ Darauf ein anderer: „[W]ohin denn? Uns nimmt doch niemand.“ Und ein Dritter in zynischer Anspielung auf die weltweite Fluchtmigration: „In verschiedenen Ländern ist Platz geworden.“ Was passiert mit der Aufzeichnung? Ein Schreibbüro übernimmt den Auftrag, die drei Stunden Gespräch zu verschriftlichen. Der Mitarbeiter gibt nach zwei Stunden auf und bricht den Auftrag ab, weil das Gesagte ihn emotional belastet. Mit der sich in der Auswertung einstellenden Distanz zum Interviewmaterial vergisst man das selbst recht schnell. Mehr passiert nicht. Ein Abend in einer Kneipe in bester Lage. Ein risikoarmer verbaler Aufstand bei Pils und Geselligkeit, der sich bei manchen Befragten in die sozialen Medien hinein verlängert, wo man ohne viel Aufwand das Weltgeschehen dauerkommentiert: wissend, kritisch, oft auch gehässig. Ein Aufnahmegerät ist wirklich nützlich. Es dokumentiert wortgetreu, was ich selbst noch an dem Abend im Hotelzimmer nur schemenhaft erinnere und mir niemals hätte alles merken können. Und es hilft, sich vom Gesagten zu distanzieren. Anders als der Mitarbeiter des Schreibbüros kann ich selbst entscheiden, wann und wie viel ich nachhöre, ich kann in die Situation zurückgehen und jederzeit wieder heraus. Aus dem Gesagten werden schließlich an die hundert Seiten Transkript, aus diesen noch mal so viele Seiten Interpretationsnotizen. Und als Artefakt hilft das Aufnahmegerät, die Gesprächssituation für alle Beteiligten als Forschung zu definieren. Das ist nicht immer so. Als am 7. November 2020 in Leipzig eine bundesweite Demonstration der Querdenken-Bewegung gegen die CoronavirusSchutzmaßnahmen angekündigt ist, planen wir mit Kolleg*innen unseres Instituts teilnehmende Beobachtungen der Versammlung. Unter dem Motto „Geschichte wiederholen“ wird mobilisiert, zu Zehntausenden wie 1989 über den symbolisch aufgeladenen Innenstadtring Leipzigs zu ziehen. Aufnahmegeräte können wir an diesem Tag nicht benutzen und wir können den Beobachteten auch nicht einzeln erklären, was wir eigentlich tun. Smartphones und Schreibblöcke sind die einzige Möglichkeit, Beobachtungen zu notieren. Diese Artefakte in Kombination mit einem Mund-Nasen-Schutz machen uns diffus erkennbar und als Beobach-

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tende selbst zum potenziellen Beobachtungsobjekt. Ein Demonstrant mit dunklen Haaren und verspiegelter Sonnenbrille: „Ich weiß, was ihr da tut. Ich hab euch beobachtet. Ihr schreibt hier alles auf. Ihr seid Denunzianten. Ist euch das nicht peinlich, das Volk zu denunzieren?“ Aber vermutlich hätten wir Ähnliches an diesem Tag kollektiver Widerstandseuphorie auch mit Aufnahmegerät zu hören bekommen.

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III. Die Suche nach den anderen Erzählungen. Vielstimmigkeit im Erinnern an 1989 das wiedervereinigte deutschland feiert sich wieder 1990 ohne immigrantInnen flüchtlinge jüdische und schwarze menschen es feiert im intimen kreis es feiert in weiß doch es ist ein blues in schwarz-weiß es ist ein blues (May Ayim, „blues in schwarz-weiss“, 1990)

In der Fernsehsendung die Wiedervereinigung, Anfangs hab’ ich mich gefreut, doch schnell hab’ ich’s bereut, Denn noch nie seit ich denken kann, war’s so schlimm wie heut! (Advanced Chemistry, „Fremd im eigenen Land“, 1992)

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„Alles ist noch nicht so, wie wir uns das vorstellen“ Krisendeutungen und Gesellschaftskritik in der späten DDR und der ostdeutschen Umbruchsgesellschaft Carsta Langner

Drei Jahrzehnte nach dem Sturz des alten SED-Regimes gestalteten sich die Rückblicke auf den Umbruchsprozess in Ostdeutschland anlässlich des Jahrestages 2019 auffallend kritisch. Publikationen wie „Lütten Klein“ von Steffen Mau, „Die Übernahme“ von Ilko-Sascha Kowalczuk und „Der Schnee von gestern ist die Sintflut von heute“ von Daniela Dahn, die allesamt in großen Verlagen wie Suhrkamp, C.H. Beck und Rowohlt erschienen, zogen eine eher negative Bilanz der gesellschaftlichen Transformation infolge der Wiedervereinigung: Während Mau als Soziologe Ostdeutschland 30 Jahre nach der staatlichen Vereinigung als eine „frakturierte Gesellschaft“1 charakterisierte, zeichnete Kowalczuk als Historiker die Ungleichzeitigkeiten und schiefen Machtverhältnisse zwischen ost- und westdeutschen Akteuren nach, die den Prozess bestimmten.2 Bei Dahn wurde darüber hinaus die Geschichte der ostdeutschen Umbruchsgesellschaft als eine „Geschichte von Demütigungen, einer tätigen Verachtung ihrer Kultur, Literatur, Wirtschaft und sozialen Infrastruktur, die immer weiter fortwirkt“ beschrieben.3 Diese kritischen Resümees können auf verschiedene Ursachen zurückgeführt werden, maßgeblich infolge der Historisierung der Transformation selbst, auf die nun mit zeitlichem Abstand geblickt wird, aber auch aufgrund von Krisenerfahrungen infolge des Umbaus des Sozialstaates und der Finanzmarktkrise 2008. Soziale Abstiege bzw. antizipierte Abstiegsängste ließen sich in den letzten drei Jahrzehnten regelmäßig auch unter explizitem Rückgriff auf die Erfahrungen von 1989 für politische Mobilisierungen nutzen; noch nie jedoch so erfolgreich wie 2019 von radikal-rechten Kräften. Damit kann die wissenschaftliche Neubewertung der gesellschaftlichen Umbruchsprozesse in Ostdeutschland auch als Reaktion auf die politischen Erfolge der AfD gewertet werden. Kowalczuk beispielsweise koppelt seine historische Re1 2 3

Mau 2019. Kowalczuk 2019. Dahn 2019.

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konstruktion dezidiert an die Frage nach den Demokratiedefiziten in der ostdeutschen Gesellschaft.4 Die AfD, die sich in ihren Landtagswahlkämpfen 2019 in Brandenburg, Sachsen und Thüringen unter Slogans wie „Vollende die Wende“ als ostdeutsche Interessenvertretung mit dem Gebaren von Regimestürzler*innen stilisierte, brachte eine breite Öffentlichkeit einmal mehr zu der Frage: „Warum tickt der Osten anders?“ Der vorliegende Beitrag argumentiert, dass die erfolgreiche Bezugnahme auf das Umbruchsjahr 1989 durch radikal-rechte Kräfte wie der AfD nur zu verstehen ist, wenn die politische Zäsur in eine lange Geschichte des gesellschaftlichen Wandels, der bereits in den 1970er und 1980er Jahren einsetzte, eingebettet wird. Die Frage nach langen Linien gesellschaftlicher Krisendeutungen und Gesellschaftskritik in Ostdeutschland soll daher aufgenommen und zeitlich in die späte DDR hineinverfolgt werden: Welche Erwartungen an gesellschaftliche Veränderungen existierten in der ostdeutschen Gesellschaft bereits in den beiden Jahrzehnten vor dem politischen Systemumbruch, und auf welcher Quellenbasis lassen sich diese empirisch rekonstruieren?5 Der zäsurübergreifende Ansatz, der die Jahre 1989/1990 in eine lange Geschichte des Wandels gesellschaftlicher Mentalitäten und Krisendeutungen inte­ griert, wird von der historischen Forschung vor allem in den letzten Jahren verstärkt aufgegriffen.6 Mit dem Fokus auf gesellschaftliche Mentalitäten steht dieser Ansatz damit en passant in einer seit den 1990er Jahren existierenden Forschungstradition einer Sozialgeschichte, die die DDR-Gesellschaft abseits staatlicher Vorgaben und Proklamationen untersucht und damit auch den Wandel politischer Kultur nachzeichnet.7 Eine solche Rekonstruktion kann somit einen Beitrag zu einer Gesellschaftsgeschichte leisten, die sich nicht nur auf die DDR selbst beschränkt, sondern in transnationale gesellschaftliche Entwicklungen eingebunden ist.8

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Kowalczuk 2019, S. 22. Die Fragestellungen gehen auf konzeptionelle Ideen zum Projekt „Gesellschaftskrise und Krisenerfahrungen“, das im Rahmen des Forschungsverbundes „Diktaturerfahrung und Transformation“ gefördert wird, zurück. Vgl. Allen 2019; Weinke 2019; Brückweh et al. 2020; Weinke 2020; Morina 2020. Vgl. Bösch/Gieseke 2015. Vgl. Bösch 2015. Verschiedene Lebensweisen, wie bestimmte subkulturelle Milieus, aber auch Formen von Protest artikulierten sich in den 1970er und 1980er Jahren bereits auf ähnliche Weise nicht nur in den osteuropäischen, sondern auch in den westlichen Gesellschaften (vgl. Gassert 2018). Diese gesellschaftliche Transfergeschichte gilt es zukünftig historisch noch genauer herauszuarbeiten.

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Der vorliegende Beitrag konzentriert sich auf die ostdeutsche Gesellschaft und eruiert, auf welchen zeitgenössischen Quellen sich lange Linien gesellschaftlicher Kritik empirisch nachzeichnen lassen. Die Rekonstruktion dessen, was 1989 als Kritik am Staat formuliert wurde, kann dabei jedoch nicht von einer homogenen Gesellschaft ausgehen, die sich auch nicht in dem Dreiklang Ausreisebewegung, Bürgerrechtler*innen und ‚schweigende‘ – aber dann zum Teil demonstrierende – Mehrheit erschöpft.9 Eine historisch-empirische Analyse muss daher die gesamte gesellschaftliche Vielschichtigkeit und deren Veränderungen seit den 1970er Jahren in den Blick nehmen. Wie komplex sich ein solches Vorhaben gestaltet, das auf historischem Quellenmaterial beruht, soll im Folgenden exemplarisch an drei verschiedenen Quellengattungen – Dokumentarfilmen, sozialwissenschaftlichen Studien und Eingaben – dargestellt werden. Mit dieser Rekonstruktion von Krisendeutungen in der späten DDR und Erwartungen an gesellschaftliche Veränderungen, die die Erfahrungen der 1990er und 2000er Jahren prägten, soll auch ein Beitrag zu aktuellen gesellschaftlichen Krisenwahrnehmungen in der ostdeutschen Gesellschaft geleistet werden, die sich zunehmend in Kritik an der repräsentativen Demokratie und in der Zuwendung zu politischen Akteuren des rechtsradikalen Spektrums äußert.10 1. Eine Gesellschaft beobachtet sich – Krisendeutungen in Dokumentarfilmen

Zeitversetzt zur Bundesrepublik setzte ab Mitte der 1970er Jahre in der DDR verstärkt Kritik an gesellschaftlichen Verhältnissen und staatlich proklamierten Lebensformen ein, die auch von einer breiteren Öffentlichkeit rezipiert und diskursiv 9 Gieseke 2015. 10 Anders als momentan – gerade auch im journalistischen Bereich – häufig zu beobachten, soll jedoch nicht nach dem ‚Braunen Erbe‘ der DDR gesucht werden. Dieses findet man, wie wichtige Studien belegen (Waibel 1995; Poutrus 2003): In der DDR existierten über die Jahrzehnte hinweg Alltagsrassismen und in den 1980er Jahren auch eine sich zu organisieren beginnende Neonaziszene. Trotzdem scheint ist es fraglich, ob eine Kausalkette zwischen den letzten Jahren der DDR und den heutigen rechtsradikalen Erscheinungen gezogen werden kann. 30 Jahre nach dem Ende der DDR scheint es eher geschichtspolitisch motiviert, die SED und die DDR-Gesellschaft für den heutigen Rechtsextremismus in die Verantwortung zu ziehen. Damit geraten sowohl die bundesdeutschen Entwicklungen als auch die globalen rechtsradikalen Bewegungen aus dem Blick: Auch in allen westlichen Staaten existierten in den 1970er und 1980er Jahren rechtsradikale Akteure; sei es in Form sogenannter Einzeltäter oder in festen organisationalen Strukturen wie Vereinen, Thinktanks oder Wehrsportgruppen (vgl. für die Bundesrepublik u.a. Frei et al. 2019).

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verhandelt wurde. Exemplarisch dafür stehen der bestsellerartige Verkauf feministischer Literatur – beispielsweise der Autorinnen Maxie Wander, Irmtraud Morgner oder Brigitte Reimann – oder staatlich in Auftrag gegebene Dokumentationen wie „Flüstern und Schreien“ über alternative Musikszenen in der DDR, die zum Teil zu sogenannten Kultfilmen avancierten. Sie spiegeln die Heterogenität und Nonkonformität verschiedener Lebensentwürfe in der DDR wider: Zunehmende Scheidungsraten, das offene Bekenntnis zu Homosexualität und die Forderung nach deren rechtlicher Gleichstellung, aber auch das Ausbrechen aus als (klein-) bürgerlich geltenden Lebensformen in subkulturelle Milieus wie der Punkszene. Die verschiedenen Milieus waren nicht nur verstärkt – durch Kleidungsstil und Habitus – sichtbar, sondern auch zunehmend handlungsfähig11 und in ihren gesellschaftskritischen Proklamationen vielschichtig und konkurrierend. Im ‚Arbeiter- und Bauernstaat‘ existierten 1989 somit verschiedene soziale Milieus mit eigenen Lebensformen und eigenen Forderungen; und sei es lediglich jene, auf die eigene Weise leben zu dürfen. Fotograf*innen, Filmschaffende und Schriftsteller*innen der DDR dokumentierten – vor allem in den 1980er Jahren – in zunehmendem Maß kritisch die Gesellschaft, in der sie lebten. Auch wenn die daraus entstandenen Werke in der DDR zum Teil noch einer politischen Zensur unterlagen, zeugt bereits die Tatsache ihrer Realisierung von gesellschaftlichen Öffnungsprozessen.12 Die Künstler*innen, Wissenschaftler*innen und Journalist*innen der verschiedenen Dokumentationen setzten sich dabei selbst dafür ein, kritische Bohrungen an gesellschaftlichen Konfliktstellen vorzunehmen. Sie erkämpften sich – zum Teil gegen oder mit politischen Funktionären – Möglichkeiten einer ungeschönten Darstellung gesellschaftlicher Wirklichkeiten.13 11 Der Vertrieb Hunderter verschiedener lokaler ‚Untergrundzeitschriften‘ – sogenannter Samisdat-Zeitschriften – führte beispielsweise Ende der 1980er Jahre gar nicht mehr zu staatlicher Verfolgung. 12 Vgl. Dietrich 2019, S. 1907–2164. 13 In einem Interview aus dem Jahr 2018 erzählt die Filmschaffende Helke Misselwitz, wie sie das Exposé für ihren Film „Winter Adé“ über das Leben von Frauen in der DDR immer wieder den zuständigen Mitarbeiter*innen im Kulturministerium vorlegte und nach deren Kritik neu konzipierte, ohne dass dies zu einer reinen Auftragsarbeit wurde. Misselwitz berichtet, dass es aus ihrer Sicht zum damaligen Zeitpunkt noch keine Dokumentation gegeben habe, in der Frauen davon hätten erzählen können, was das Leben ausmache. Nach der ersten Vorführung des Films stand – Misselwitz zufolge – Horst Pehnert, der Leiter der Hauptabteilung Film mit den Worten auf: „Ein bisschen lang, aber ich wüsste auch nicht, wo man schneiden könnte. […] Ich entschuldige mich dafür, keine Frau zu sein“. Online verfügbar unter https://www. bpb.de/gesellschaft/bildung/filmbildung/299320/interview-helke-misselwitz. Gesehen am 22.06.2020.

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Landolf Scherzer beispielsweise, der in den 1970er Jahren bereits die schweren Arbeitsbedingungen der Hochseefischer von Rostock dokumentierte,14 bat 1980 den Literaturverantwortlichen seiner SED-Bezirksleitung darum, „den Ersten vom Bezirk (oder einen Kreisersten) einige Wochen von früh bis abends bei allen Amtshandlungen begleiten“15 zu dürfen. Sechs Jahre später wurde sein Anliegen genehmigt und konnte 1988 als erste Innenansicht der Arbeit eines Parteifunktionärs der DDR publiziert werden. Auch der Spiegel nahm diese ostdeutsche Publikation zur Kenntnis und bezeichnete Scherzer im darauffolgenden Jahr als „eine Art Wallraff ohne Maske“.16 In den 1980er Jahren entschieden zwar noch immer SED-Instanzen auf lokaler, regionaler und zentralstaatlicher Ebene, welche gesellschaftlichen Konfliktlinien dokumentiert und öffentlich dargestellt werden durften, doch die Räume weiteten sich, und in kleinen, fragmentierten Teilöffentlichkeiten erzeugten die Arbeiten durchaus Resonanz und regten zu weiteren Fragen an. Neben der Publikation von Dokumentarliteratur, Tagebüchern und Fotoreportagen geben heute vor allem auch filmische Dokumentationen einen zeitgenössischen Eindruck der späten DDR: Filmzyklen, die aus einer Langzeitperspektive den gesellschaftlichen Umbruch ‚von unten‘ festhielten, entstanden in den 1970er Jahren und verstärkt in den 1980er Jahren, ebenso wie filmische Dokumentationen zu konkreten gesellschaftlichen Fragen und Problemen – wie jene des zunehmenden Rechtsradikalismus. Noch immer sind Dokumentarfilme wie diese als spezifische Quelle in den Geschichtswissenschaften marginalisiert.17 Dabei geben sie nicht nur Aufschluss über die Artikulationsmöglichkeiten von Kritik seitens der Filmschaffenden, die wiederum vollständig nur durch den künstlerischen Austausch zwischen ost- und westdeutschen Regisseur*innen in den 1970er und 1980er Jahren erklärbar ist;18 sie liefern darüber hinaus – wenn auch durch den Blick der Regisseur*innen gefiltert – Eindrücke jener O-Töne der ostdeutschen Bevölkerung, die eine mentalitäts- und gesellschaftsgeschichtliche Rekonstruktion der langen Wende erlauben.19 Im Folgenden soll daher kursorisch auf einige der 14 Die dann aber in einer ersten Auflage erst 1983 erschienen ist. 15 Scherzer 2002. 16 So bezeichnete Der Spiegel Scherzer in seinem Artikel als „Sisyphos in Bad Salzungen“, Der Spiegel 44/1989. Online verfügbar unter https://www.spiegel.de/spiegel/print/d-13499921. html. Gesehen am 22.06.2020. 17 Schlegelmich 2019, S. 73. 18 Vgl. Roth 2000, S. 114. 19 Die Historikerin Anne Barnert hat in diesem Zusammenhang einen ganz spezifischen Quellenkorpus erschlossen: Die Filmdokumentationen am Filmarchiv der DDR. Vgl. Barnert 2015.

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Dokumentarfilme eingegangen werden, die Kontinuitäten gesellschaftlichen Unmuts bekunden. 1985 – und damit bereits zwei Jahre vor dem Konzert in der Berliner Zionskirche, das durch Rechtsradikale angegriffen wurde und damit sowohl in der DDR als auch in der Bundesrepublik Anlass gab, über das Thema zu berichten – erhielt Roland Steiner die Rechercheerlaubnis zu seinem Film „Unsere Kinder“. Im Anschluss an seine Dokumentation zu den Jugendwerkhöfen der DDR widmete sich Steiner erneut Jugendlichen, die als deviant galten. Dazu zählten neben Punks und Gruftis auch junge Neonazis. In seinem Film sprachen neben jugendlichen Neonazis auch die Schriftsteller*innen Christa Wolf und Stefan Heym über den zunehmenden Rechtsradikalismus. Als Konterpart lässt Steiner dabei auch einige der Betroffenen rechter Gewalt – junge Linke – zu Wort kommen und dokumentiert damit bereits für die letzten Jahre der DDR rechte Kontinuitäten und deren Gegenwehr. Später interviewten auch die Regisseure Andreas Voigt und Thomas Heise sowie westdeutsche Journalisten wie Peter Wensierski ostdeutsche Neonazis und etablierten mit ihren Filmen Anfang der 1990er fast ein Genre, in dem junge Rechte aus Ostdeutschland über ihr Leben berichten konnten.20 Neben diesen thematisch eng zugeschnittenen Filmdokumentationen entstanden ab den 1960er Jahren Langzeitbeobachtungen: In „Die Kinder von Golzow“ von Barbara und Wolfgang Junge begleiteten die Filmschaffenden Kinder der gleichen Jahrgangsstufe einer brandenburgischen Schule von 1961 bis 2007 nahezu deren gesamtes Leben. Ebenfalls in Brandenburg drehte Volker Koepp 1974 bis 1997 die Dokumentation über Arbeiterinnen im VEB Obertrikotagenbetrieb „Ernst Lück“ in Wittstock an der Dosse und fing damit den Arbeits- und Lebensalltag über den politischen Umbruch 1989 hinweg ein.21 Die Historie der zahlreichen filmischen und literarischen Dokumentationen aus der späten DDR und der Umbruchsgesellschaft erzählt en passant ein Stück ostdeutscher Erfahrung selbst: die gesellschaftliche Anstrengung gegen repressive staatliche Strukturen, die zunehmende Darstellbarkeit von Kritik an gesellschaftlichen Verhältnissen und das anschließende Vergessenwerden dieser historischen Zeugnisse unter neuen politischen und gesellschaftlichen Bedingungen ab 1990; im breiten kollektiven Gedächtnis sind diese Dokumentationen kaum noch in Erinnerung. Erst in den letzten Jahren werden sie neu herausgegeben und stellen eine wichtige Quelle für 20 Die 1990er Jahre waren vor allem durch den Blick auf die Täter bestimmt. Sozialwissenschaftliche Studien versuchten mittels soziologischer und biographischer Analysen, die rechtsradikale Gewalt zu erklären (bspw. Bugiel 1999; Korfes 1992; Montau 1996). Die Betroffenen der Gewalt – vor allem vermeintliche Nichtdeutsche oder junge Linke – kommen in den damaligen Untersuchungen und Darstellungen so gut wie nicht zu Wort. 21 Vgl. Roth 2000.

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die Rekonstruktion der langen Geschichte der Wende über den Umbruch 1989 hinaus dar.22 In seiner „Leipzig“-Reihe, in der ab 1989 vor allem junge Menschen ihren Hoffnungen und Ängsten Ausdruck verleihen, fokussiert der Regisseur Andreas Voigt genau auf diese Umbruchserfahrungen. Voigts Filme reihen sich in ihrer Form, ihrem Gegenstand und ihrem Duktus in die Vielzahl an filmischen Dokumentationen ein, die in der späten DDR unter dem organisatorischen Dach der DEFA die gesellschaftlichen Deutungen über gesellschaftliche Verhältnisse und damit den Vorabend des politischen Umbruchsprozesses ab 1989 einfingen: Einzelne Personen kommen zu Wort und werden in ihrem Lebensalltag begleitet, in einem kumpelhaften ‚Du‘ – und zum Teil moralisierendem Gestus – sind auch die Regisseure selbst zu hören; in ihren langen Einstellungen und dem nahezu vollkommenen Ausbleiben von Musik erscheinen die Dokumentationen melancholisch und verdoppeln das Bild des ‚stillen Landes‘; eine Metapher, die bereits Wolf Biermann 1977 prägte und die am Ende der 1980er Jahre so allgegenwärtig war, dass sie nach dem politischen Systemwechsel auch als wissenschaftliche Gesellschaftsdiagnose diente.23 Die Langzeitdokumentation von Voigt ordnet sich in diese filmischen Traditionen ein, sticht gleichzeitig aber hervor, da sie wie kaum eine andere die Gegensätzlichkeit der ostdeutschen Gesellschaft und die divergierenden Umbruchserfahrungen porträtiert. Bis in die jüngste Vergangenheit bewegt sich die Darstellung und nimmt am Ende auch die westdeutschen Krisenerfahrungen auf. Besonders deutlich wird dies anhand der lebensgeschichtlichen Erfahrungen von Isabel, einem Mädchen, das sich in der sogenannten Gruftiszene Ende der 1980er Jahre bewegte.24 Isabel, das Mädchen aus Voigts Film „Leipzig im Herbst“, hielt sich Ende 1989 mit anderen Jugendlichen in einem besetzten Haus auf und war bereit, Voigt Einblicke in ihr Leben zu gewähren. In der Dokumentation berichtet sie von ihrer Angst vor rechten Übergriffen in Leipzig im letzten Jahr der DDR und demons22 Vgl. Hecht 2000. 23 Das Argument einer stillgelegten Gesellschaft wurde 1991 von Sigrid Meuschel in die fachwissenschaftliche Debatte eingebracht (Meuschel 1993). In dessen Folge entwickelte sich bereits in den 1990er Jahren eine Debatte, in der Historiker und Historikerinnen wie Mary Fulbrook und Thomas Lindenberger, aber auch Soziologen wie Detlef Pollack für eine Gesellschaftsgeschichte der DDR plädierten (Fulbrook 1996; Lindenberger 1996; Pollack 1998). 24 Die – vor allem jungen – Menschen jener Subkultur gerieten durch ihre Kleidung und Lebensweise in den Fokus der Polizei- und Sicherheitsbehörden: Die Unterlagen des Ministeriums für Staatssicherheit zeigen, wie rechtsmotivierte Grabschändungen jüdischer Friedhöfe Ende der 1980er Jahre als Angriffe sogenannter jugendlicher Gruftis uminterpretiert wurden.

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triert erste Schießübungen mit einer Schreckschusspistole. Damit wird auch das Narrativ der „friedlichen Revolution“ – in dessen Fokus das Ausbleiben körperlicher Gewalt seitens der Staatsmacht gegenüber den scheinbar ebenfalls gewaltlosen Protesten im Vordergrund steht – zeitgenössisch gebrochen: Die Verhältnisse in der ostdeutschen Gesellschaft waren aus dieser Perspektive in den Jahren des politischen Systemwechsels alles andere als gewaltfrei.25 In der Person Isabel sehen die Betrachter*innen eine melancholische, aber in die Zukunft blickende junge Frau, die zunächst von ihrer Hoffnung auf eine baldige Einführung der DMark berichtet, am 3. Oktober 1990, im Film „Letztes Jahr Titanic“ dann aber enttäuscht Abschied von ihrem Staat nimmt. Auf einer burlesken Party im Stil der 1920er Jahre zelebriert sie im Film mit jungen Künstler*innen und Studierenden den Untergang des sinkenden Schiffs. Verkleidete junge Männer beginnen, sich auf dieser eher atypischen ‚Einheitsfeier‘ auszuziehen, und verkörpern mit ihrem Striptease – angelehnt an das historische Burlesque – in diesem historischen Moment den Verfall geltender Gesellschaftsnormen. Voigt fragt Isabel später am Abend, als auf den Straßen die Feuerwerkskörper den Taumel dieses Tages untermalen, wie sie sich fühle. Sie antwortet, bevor ihr die Tränen kommen: „Ich finds absolut beschissen.“ Die Ambivalenzen der Erwartungen an das neue politische System werden bereits in Isabel als konkreter Person deutlich: Ein Dreivierteljahr nachdem sie die schnelle Einführung der D-Mark wünschte, zeigt sie schon am 3. Oktober 1990 traurig die letzten Scheine der Ostmark in die Kamera: „Ich hoffe, dass sie wiederkommt, irgendwann.“ Ein Vierteljahrhundert später ist Isabel eine erfolgreiche Steuerberaterin. 1992 musste sie aufgrund fehlender Ausbildungsstellen und des Drängens ihrer Mutter von Leipzig nach Stuttgart ziehen. Als nüchterne Geschäftsfrau mit Vorliebe für schnelle und teure Autos, die sich in ihren Arbeitspausen – einem gängigen neoliberalen Klischee folgend – auf einem Fitnessgerät neben dem Schreibtisch selbst in Form hält, ist sie im Film „Alles andere zeigt die Zeit“ im Jahr 2015 zu sehen. Voigt zeichnet mit seiner Dokumentation ein widersprüchlicheres Bild der Umbruchserfahrungen: Einfache Zuschreibungen werden ebenso verunmöglicht wie kausale Erklärungen eines simplifizierenden Zusammenhangs zwischen enttäuschten Erwartungen und politischen Radikalisierungen. Es ist nicht die ostdeutsche Isabel, sondern der schwäbische Kleinunternehmer, der unter Tränen vom Niedergang seines Unternehmens infolge der globalen Finanzmarktkrise 2008 und von seinen damit einhergehenden Suizidgedanken erzählt. Abstiegserfahrungen 25 Unter dem Hashtag „Baseballschlägerjahre“ konnten Betroffene über die Alltäglichkeit rechter Gewalt Anfang der 1990er Jahre berichten. Pogrome wie jene in Hoyerswerda und RostockLichtenhagen erscheinen dabei nur als Speerspitze einer alltäglichen rechten Bedrohung.

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werden damit nicht als genuin ostdeutsches Phänomen dargestellt. Die Komplexität ostdeutscher Erfahrungswelten vor und nach dem Umbruch 1989 zeichnet Voigt bereits anhand einer geringen Auswahl von Protagonist*innen eindrucksvoll nach.26 Er verbindet sie in seiner Langzeitbeobachtung letztlich auch mit der Darstellung der gesellschaftlichen Auswirkungen neoliberaler Politikformen, wie sie durch den Sturz der realsozialistischen Regimes ab 1989 endgültig entfaltet werden konnten und die – wenngleich zeitlich und räumlich verschieden – europaweit Abstiegserfahrungen nach sich zogen.27 Anders als Andreas Voigt, der seine filmischen Dokumentationen mit den politischen Veränderungen 1989 einsetzen lässt, beginnt der Regisseur Volker Koepp die Darstellung des Lebens junger Textilarbeiterinnen in der brandenburgischen Kleinstadt Wittstock in der Hochphase der DDR: Mitte der 1970er Jahre kamen die wirtschaftlichen und sozialen Reformen, die unter Honecker beschlossen wurden, in Form einer sozialistischen Wohlstands-, Konsum- und Wettbewerbsgesellschaft zur Geltung: Löhne – nun auch leistungsbezogene – stiegen, Rentenerhöhungen traten in Kraft und soziale Leistungen – wie die Verlängerung des Schwangerschaftsurlaubs – wurden erweitert.28 Im märkischen Wittstock soll – so erfahren die Zuschauer*innen im ersten Teil von Koepps Langzeitdokumentation – bis 1980 ein Textilwerk mit über 3000 Arbeiterinnen entstehen. Es ist die Zeit des wirtschaftlichen Booms sozialistischer Couleur: Arbeitskräfte werden so händeringend gesucht, dass die SED gleichzeitig auch – entgegen der ehemaligen Prämissen – verstärkt ausländische Arbeitskräfte anwirbt. In der Kleinstadt Wittstock wird versucht, die Textilproduktion vor allem mit jungen Arbeiterinnen auszubauen. 1974 betreten – so beginnt Koepps Erzählung – die ersten 1000 Mädchen und Frauen das noch im Aufbau befindliche Werk. Das Durchschnittsalter im Betrieb liegt bei 23 Jahren und so ziert die Losung „Der Jugend vertrauen, heißt in erster Linie, ihnen Verantwortung zu übertragen“ das Werkstor. Bereits in den ersten Minuten fragt die Off-Stimme melancholisch, was diese Forderung für die Mädchen, die in großen, dunklen Werkhallen an lauten Nähmaschinen sitzen, heiße. Der Film begleitet ab diesem Zeitpunkt 22 Jahre lang drei junge Frauen in ihrem Arbeits- und Lebensalltag in Wittstock. Die 26 So radikalisiert sich André, ein weiterer jugendlicher Protagonist in Voigts Filmreihe, der in seinen Jugendjahren in Leipzig 1989 in einem diffusen Welt- und Menschenbild zwischen linken und rechten Jugendgruppierungen changiert, ab 2012 nach einem persönlichen „Totalabsturz“ an seinem neuen Wohnort im Ruhrpott vollends im rechtsradikalen Milieu. Neben seinen tätowierten rechten Symbolen trägt er am Balkon in Wuppertal nun auch seine ostdeutsche Identität mittels einer übergroßen sächsischen Landesflagge zur Schau. 27 Ther 2016; Raphael 2019. 28 Wolle 2013, S. 49f.

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Zuschauer*innen lernen vor allem Elsbeth und Erika – im Jahr 1974 sind beide noch keine 20 Jahre alt – als kritische und reflektierte junge Menschen kennen, die bestehende Hierarchieverhältnisse im Betrieb ebenso infrage stellen wie ihren konkreten Arbeitsort, der so manche Verbesserung – wie den schlichten Einbau von Fenstern – nötig hätte: „Alles ist noch nicht so, wie wir uns das vorstellen“, erklären sie 1974 vor der Kamera. Beide fordern kontinuierlich Mitspracherechte in ihrem als eher trist erscheinenden Arbeitsalltag an den Nähmaschinen ein. Sie reflektieren mit ihren jungen Kolleginnen, die zum Teil bereits selbst – aufgrund des immensen Arbeitskräftemangels jener Zeit – und entgegen ihres eigenen Willens als Vorgesetzte agieren müssen, ihre Position im gesamten Produktionsprozess. Nachdenklich, fast schon verzweifelt, argumentieren sie, aufgrund welcher gesamtgesellschaftlichen Umstände es ihnen nicht möglich sei, das geforderte Arbeitssoll zu erfüllen. Sie bringen Verbesserungsvorschläge ein, die nicht erfüllt werden und die sie über die Jahre zermürben. Bereits Ende der 1970er Jahre erscheinen sie resigniert, sind vom mangelnden Zusammenhalt im Kollegium enttäuscht und vom fordernden Arbeitsalltag erschöpft. Und so wünschen sie sich 1978 – im dritten Film des „Wittstock“-Zyklus – vom kommenden Jahr vor allem eins: „Viel Geld.“ Nur 14 Jahre später wurde das Textilwerk in Wittstock 1992 infolge von Insolvenz geschlossen. Volker Koepp begleitet seine Protagonistinnen in den letzten beiden Teilen des „Wittstock“-Zyklus durch die Zeit des Umbruchs, der für die Frauen vor allem Arbeits- und Perspektivlosigkeit in Brandenburg bedeutet. Es sind jene Erfahrungen, die die Krisennarrative der 1970er und 1980er Jahre überlagern und die Protagonistin Elsbeth 2018 in einem Interview einen nostalgischen Blick auf das Leben im VEB ‚Ernst Lück‘ zurückwerfen lassen: „In dem stimmte einfach das Soziale.“29 Die zeitgenössisch artikulierte Kritik an Arbeitsbedingungen und die mangelnde Solidarität zwischen den Kolleginnen werden retrospektiv nicht mehr erinnert. 2. Eine Gesellschaft analysiert sich – Gesellschaftskritik im Spiegel sozialwissenschaftlicher Studien

Die von Regisseur*innen wie Volker Koepp filmisch dokumentierten Krisenerfahrungen, die zum Teil schon in den 1970er Jahren einsetzten, spiegeln sich zeitgenössisch auch in anderen Quellen wider: DDR-Sozialwissenschaftl*innen produzierten seit den 1960er Jahren an Universitäten und Zentralinstituten durch 29 Artikel „Rückkehr nach Wittstock“, taz, 3. Oktober 2018. Online verfügbar unter https://taz. de/40-Jahre-taz--Abgewickelte-DDR-Betriebe/!5536023/. Gesehen am 21.06.2021.

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quantitative Befragungen große Mengen an empirischem Wissen für politische Entscheidungsträg*innen, die heute Aufschluss über gesellschaftliche Krisenerfahrungen geben. Trotz ihres politischen Auftrags und theoriegeleiteter dogmatischer Vorannahmen, die aus dem Marxismus-Leninismus entlehnt wurden, entsprachen diese Studien den damaligen internationalen methodischen Standards empirischer Sozialforschung30 und stellen als zeitgenössische Quelle einen wichtigen Fundus zum Verständnis der ostdeutschen Umbruchserfahrungen dar.31 Als historische Quellengattung haben sie – ähnlich den filmischen Dokumentationen – bisher kaum Beachtung gefunden. Anfang der 2010er Jahre entwickelte sich zwar eine Debatte zwischen Zeithistoriker*innen über den Umgang mit sozialwissenschaftlich erhobenen Daten und soziologischen Zeitdiagnostiken,32 aber für die Rekonstruktion einer langen Geschichte der Wende spielen sie in der Geschichtswissenschaft kaum eine Rolle.33 Dabei dokumentieren sie bereits in ihren Fragestellungen und Titeln seit den 1970er Jahren gesellschaftliche Krisenwahrnehmungen in der DDR. Für die „Studentische Intervallstudie 5 des Zentralinstituts für Jugendforschung“ aus dem Jahr 1976 wurden 534 Briefe studentischer Absolvent*innen nach deren Eintritt in ihr Berufsleben ausgewertet. Die zahlreichen Auszüge aus den Briefen, die in der 146-seitigen Studie abgedruckt wurden, stellen eine einzige Aneinanderreihung von Krisenwahrnehmungen dar: Die Vereinbarkeit von Familie und Arbeit wird als schwer beschrieben, von finanziellen Nöten und dem Leben auf beengtem Wohnraum wird ebenso berichtet wie von Hierarchieverhältnissen in den Betrieben. Die Hochphase des Sozialstaates sozialistischer Couleur findet in dem zeitgenössischen Dokument ebenso wenig eine Entsprechung wie der in den Krisenjahren nach 1989 vielbeschworene Zusammenhalt in den Betriebskollektiven. Auch wenn die Originalbriefe heute nicht mehr auffindbar sind und die Auswahl der Zitate auf die – damals selbst noch sehr jungen – Wissenschaftler Hannsmann und Kasek zurückgehen, bezeugen sie die wissenschaftliche Wahrnehmung gesellschaftlicher Konflikte. Ähnlich den filmischen Dokumentationen wird auch in diesen zeitgenössischen Quellen eine gespaltene und – trotz sozialistischen An30 Vgl. Peter 2018. 31 Vgl. Fulbrook 2003. 32 Vgl. Graf/Priemel 2011; Dietz/Neumaier 2012; Pleinen/Raphael 2014. Dabei argumentierten 2014 die Historikerin Jenny Pleinen und der Historiker Lutz Raphael für einen „Weg in die Labore der Sozialwissenschaftler und Meinungsforscher“ (Pleinen/Raphael 2014, S. 182), der jedoch die Zeitdiagnosen der Sozialwissenschaften eher historisieren als reproduzieren sollte. 33 Historiker*innen, die aktuell mit sozialwissenschaftlichen Studien zur Erforschung in der langen Geschichte der Wende arbeiten, sind u.a. Jens Gieseke und Kerstin Brückweh (vgl. Brückweh 2019; Gieseke 2015).

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spruchs – auf Konkurrenz beruhende Gesellschaft beschrieben: „Zwischen den Kollegen gibt es nur wenig Gemeinsamkeit bzw. wenig Zusammengehörigkeitsgefühl. Jeder möchte mit seiner Arbeit fertig werden und sieht nicht die Probleme des anderen, das fördert sehr eine egoistische Arbeitseinstellung.“34 Nahezu ein Viertel aller Briefeschreibenden berichtete von Konflikten in den Arbeitskollektiven und klagte, nur in wenigen Fällen stehe der Mensch im Mittelpunkt und nicht der Plan. Neben kritisierten Produktionsbedingungen werden auch die Kollegen und Kolleginnen negativ beschrieben: „[D]ie geistige Verflachung (Auto, Grundstück, Exquisitsachen – sonst nichts) meiner Kollegen ist oft deprimierend.“35 Die Kritik der studentischen Absolvent*innen im Jahr 1976 spiegelt sich auch in anderen Untersuchungen wider: In der soziologischen Habilitation von Bärbel Bertram „Beruf und Berufseinstellungen Jugendlicher im Sozialismus“ gab 1977 lediglich ein Drittel der von ihr befragten jugendlichen Lehrlinge an, in ihrem erlernten Beruf und dem damals aktuellen Betrieb bleiben zu wollen.36 Ein Grund für diese Unzufriedenheit der Auszubildenden mag darin zu sehen sein, dass die von Schüler*innen der DDR ersehnten Berufe Mitte der 1970er Jahre gar nicht ergriffen werden konnten: Während Arzt, Pilot und Schauspieler in den Befragungen auf den obersten Plätzen rangierten, lag einer der meist zu erlernenden Berufe – jener des Landwirts – kontinuierlich am Ende der Wunschliste.37 Setzt man diese zeitgenössischen soziologischen Befunde in Beziehung zu anderen Quellengattungen, dann werden sehr ähnliche gesellschaftskritische Urteile sichtbar: So klagt auch in der DEFA-Filmdokumentation „Wäscherinnen“ aus dem Jahr 1972 eine Lehrausbilderin, wie schwer es sei, „Interesse bei den Mädchen für den Beruf zu wecken“ und ihnen zu zeigen, „wie schön diese Arbeit doch ist“. Jürgen Böttcher filmte Anfang der 1970er Jahre junge Frauen im VEB Rewatex, einer Berliner Großwäscherei. Obwohl sie bei dieser körperlich immens schweren Arbeit fröhlich erscheinen, erzählen die jungen Frauen dem Regisseur ganz offen, dass sie sich etwas ganz anderes unter dem Beruf vorgestellt hätten: „[H]ier bleiben tue ich nicht.“ Die Antwort eines Mädchens auf die Frage, was sie am Sonnabend mache – „Da schlaf ich“ –, lässt erahnen, wie diese körperlich harten Tätigkeiten bereits an den noch jugendlichen Körpern zehrten. Die Dokumentation bringt sowohl den Unmut der jungen Frauen zum Ausdruck als auch jene des Regisseurs: In einem der Räume, an deren Wand die Losung „Verbundenheit mit den Frauen 34 35 36 37

Hannsmann/Kasek 1976, S 57. Hannsmann/Kasek 1976, S. 78. Bertram 1977, S. 243. Vgl. Bertram 1977.

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und Mädchen der sozialistischen Länder“ und das Konterfei Rosa Luxemburgs zu sehen sind, findet die tägliche Auswertung der geleisteten Arbeit im Betrieb statt. Die Stimme aus dem Off kommentiert diese Situation: „Punkte, Zensuren, Auswertungen jeden Tag; Dienstleistung ist der Umgang mit fremdem Eigentum.“ Ernüchternd fällt der Begriff „Dienstleistung“ mehrere Male in der 23-minütigen Filmdokumentation und veranschaulicht – wenig subtil – den Widerspruch zwischen einer ehemals kommunistischen Utopie und dem realpolitischen Strukturwandel, der eben nicht nur in den kapitalistischen Staaten in den 1970er Jahren einsetzte. Kundenzufriedenheit hatte auch in der beginnenden Dienstleistungsgesellschaft der DDR der 1970er Jahre hohe Priorität und so mahnt in der Dokumentation eine der Ausbilderinnen zu Sorgfalt beim Zusammenlegen der gemangelten und gebügelten Wäsche; andernfalls würden die Kunden sich beschweren: „Manche würden explodieren und gleich eine Eingabe schreiben und dann gehts gleich zum Direktor hoch“. 3. Eine Gesellschaft beschwert sich – Krisenwahrnehmungen in privaten Eingaben

In der DDR hatten ab 1953 die Bürger*innen das Recht, sich mittels einer Eingabe über persönliche Probleme zu beschweren und zu deren Lösung staatliche und gesellschaftliche Instanzen zu kontaktieren.38 Der Oberbürgermeister einer Stadt konnte bei Problemen mit der eigenen Wohnung ebenso angeschrieben werden wie das Gesundheitsministerium in Bezug auf Schwangerschaftsabbrüche – wie Atina Großmann für die Zeit vor der erneuten Legalisierung 1972 darstellt.39 In der DEFA-Filmdokumentation „Wäscherinnen“ aus dem Jahr 1972 ist es der Betriebsdirektor des VEB Rewatex, der als Instanz durch die unzufriedenen Kund*innen mittels einer Eingabe kontaktiert werden kann, um Beschwerde einzulegen. Dabei handelt es sich bei den Eingaben nicht um standardisierte Formulare, sondern um Briefe, die zum Teil äußerst detailliert den Lebensalltag der Briefschreibenden als auch das zu lösende Problem veranschaulichen. Sie spiegeln damit ebenso wie die filmischen Dokumentationen oder sozialwissenschaftlichen Studien Krisenwahrnehmungen breiter Gesellschaftskreise wider. Felix Mühlberg zufolge 38 Ein aktueller Beitrag zur Bedeutung von „Eingaben“ für die Untersuchung politischer Kultur stellt jener von Christina Morina im Jahrbuch Deutsche Einheit dar (vgl. 2020). Auch Frank Wolff hat in seiner historischen Darstellung mit Eingaben gearbeitet; dabei vor allem hinsichtlich der Frage nach dem Ausreisewunsch (vgl. 2019). 39 Grossmann 1997.

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erhielt allein die oberste Staatsführung in ihrer 40-jährigen Geschichte insgesamt fast eine Million Briefe.40 Die jeweiligen Adressat*innen waren dazu verpflichtet, innerhalb eines begrenzten Zeitraums – der im Verlauf der DDR-Geschichte variierte – zu reagieren, und sei es zunächst nur mit der Bestätigung des Eingangs und dem Verweis auf eine später folgende Antwort. Dabei handelte es sich nicht nur um Bittbriefe, die zu keiner Lösung führten. Darauf lassen nicht nur die immensen Mengen an Eingaben – die heute sowohl in Stadt- und Landesarchiven als auch im Bundesarchiv hinterlegt sind – schließen, sondern auch die Tatsache, dass es Ende der 1980er Jahre sogar zu einer Zunahme dieser Beschwerdebriefe kam.41 Ein Blick in die Eingaben und deren Bearbeitung durch die jeweiligen zuständigen Behörden, Betriebe und andere Einrichtungen verdeutlicht, dass die Bürger*innen mit ihren privaten Forderungen zum Teil sehr erfolgreich waren. Zudem lässt das Mittel der Eingabe auf ein spezifisches Staatsverständnis schließen, das sich zum einen durch eine Unvermitteltheit zwischen Individuum und Staat ausdrückt und damit Formen von kollektiven Handlungen kaum kennt – obwohl es durchaus auch Kollektiveingaben gab – und das zum anderen die situative Lösung individueller und gesellschaftlicher Probleme in den Vordergrund stellt. So entschied in der DDR nicht der freie Markt, wer eine Wohnung bekommen sollte, sondern staatliche Instanzen in einem aufwendigen bürokratischen Verfahren im Einzelfall. Dieses Entscheiden im Einzelfall, der sehr umfangreich in der Kommunikation zwischen den beteiligten Behörden und Institutionen besprochen und begründet wird, kann einerseits als staatliche Willkür interpretiert werden, andererseits aber auch als Idee, dem konkreten Menschen in seiner speziellen sozialen Lage gerecht zu werden. Die Bürger*innen wiederum „setzten den Staat unter Druck, seine materiellen Versprechen einzuhalten, und benutzten das Eingaberecht dazu, die Politisierung des Privatlebens zu ihren Gunsten auszulegen“.42 Die Eingaben vermitteln darüber hinaus auch einen Eindruck davon, welche Probleme gelöst werden sollten: Auf lokaler Ebene handelte es sich dabei sehr häufig um fehlenden oder mangelhaften Wohnraum, aber auch gesellschaftliche Fragen zur Umweltproblematik waren ab Mitte der 1980er Jahre stark präsent. Vorrangig wurden – aus heutiger Sicht nahezu paradox anmutende – Alltagsangelegenheiten auf diese Weise geäußert und gelöst. Während im März 1989, ein halbes Jahr vor dem Sturz der Mauer in Berlin, ein Bewohner in Halle an der Saale den Bau einer ebensolchen auf seinem Grundstück in Erwägung zog, um sich vor den Autoabgasen seines Nachbarn zu schützen, verlangte mitten in den 40 Vgl. Mühlberg 2004. 41 Merkel/Mühlberg 1998, S. 17. 42 Betts 2010, S. 304.

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vermeintlichen Wirren der Umbruchsjahre 1989/1990 eine ältere Frau die Beantwortung der Frage, warum es im halleschen Solbad Wittekind kein Kohlsäurebad mehr gebe, obwohl dieses bei ihren Krankheitssymptomen äußerst hilfreich sei. Nachdem einige kommunalpolitische und -wirtschaftliche Hebel in Gang gesetzt worden waren, konnten der Frau die gute Nachricht mitgeteilt werden, dass das Kohlsäurebad wieder in das Behandlungsspektrum aufgenommen wurde.43 Die Eingaben zeugen damit von alltagsweltlichen Erfahrungen und Sorgen, die häufig quer zur politischen Umbruchssituation und zu historischen Freiheitsnarrativen liegen. Nicht nur der Inhalt der Eingaben, der auf lokaler Ebene zum Teil durch seine Alltagsproblematik charakterisiert ist, sondern auch die fordernde, fast drohende Sprache ist dabei aufschlussreich. Sie erinnert stark an heutige – als „wutbürgerlich“ bezeichnete – verbale Attacken: Sie kennen sich sehr gut aus Herr Stadtrat Müller,44 aber mein Rechtsbeistand, welcher mir nun schon 11 Jahre beiseite steht, ist besser als Sie […]. Er betreibt mein Problem nur noch als Hobby damit er auch teilhaben kann an den Faxen, welche die Stadtväter von seiner ehemaligen Heimatstadt machen.45

Im ‚Unrechtsstaat‘ machten die Bürger*innen immer wieder auf ihre Rechte und auf das, was ihnen zustehe, aufmerksam und zeugten damit auch vom „wachsenden Rechtsbewusstsein einfacher DDR-Bürger*innen, die den ,Fürsorgestaat‘ beim Wort nahmen“.46 Während die jungen Textilwäscherinnen in Böttchers Filmdokumentation forderten, dass in jedem Betrieb die gleiche Lohngruppe auch das gleiche Gehalt bedeuten müsse, beklagte sich 1983 ein Brauereikraftfahrer mittels einer Eingabe, trotz angehäufter Überstunden und eines zwölfstündigen harten Arbeitstages keinen regulären Feierabend zu bekommen: […] am Freitag bat ich um pünktlichen feierabend es fürte kein weg rein dies ging bis zum Betriebsleiter, er zwang mich die Arbeit zumach oder ich müßte von den Betrieb trennen gab er mir zurantwort. […] mann tut alles um seinen Arbeitsplatz nicht zu verlieren und hat so viel Angst. obwohl die Kollegen, Ihre Arbeit und ich gerne tun. 43 Eingabe einer Einwohnerin der Stadt vom 31. Juli 1990 an die Dezernentin des Gesundheitswesens. Dem angehängt ist ein Schreiben der Frisur und Kosmetik Halle GmbH – vormals gleichnamiger VEB (Stadtarchiv Halle, A 3.25, Nr. 159). 44 Name anonymisiert. 45 Eingabe eines Einwohners der Stadt Halle vom 6. März 1989 an einen Stadtrat (Stadtarchiv Halle, A 3.25 Nr. 157). 46 Betts 2010, S. 304.

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[…] Es wäre vielleicht angebracht wenn die Gesetze nicht so sind wie sie von den Betriebsleiter und der BGL angewandt werden [sic].47

In zahlreichen Eingaben wird eine „streitlustige und verbitterte Bürgerschaft, die sich ständig auf ihre Rechte berief, um der Enttäuschung über die materiellen Defizite des sozialistischen Gesellschaftsvertrages Luft zu machen“48, erkennbar. Die Themenkomplexe, die in den Eingaben angesprochen werden, variieren dabei vor allem hinsichtlich der Adressat*innen. So wurde beispielsweise das Staatssekretariat für Arbeit und Löhne angeschrieben, wenn Angelegenheiten von und mit ‚ausländischen Werktätigen‘ – den sogenannten Vertragsarbeitern – zu lösen waren.49 Gerierten sich die Schreibenden in ihren Äußerungen bis zur staatsfeindlichen Hetze, dann wurden die Eingaben an die zuständige Abteilung der Staatssicherheit weitergeleitet. In diesem spezifischen Fundus an Eingaben, die eine Fundamentalkritik am politischen und gesellschaftlichen System der DDR darstellen, stechen nationalistische Proklamationen hervor, „nicht selten mit Anklängen an die NSIdeologie und mit dramatisierter Schilderung der Lage im Osten wie der Charakterisierung der DDR als Konzentrationslager oder der Behauptung, die Zustände dort seien schlimmer als bei den Nazis“.50 Dass sowohl nationalistische Forderungen und die – augenscheinlich – private Berufung auf die Einlösung materieller und sozialer Rechte auch gesamtgesellschaftliche Resonanz erfuhren, zeigen letztlich die Symbole und Forderungen, die 1989 auf der Straße durch massenhafte Demonstrationen artikuliert wurden. Anhand der Reden am 4. November 1989, jener großen Demonstration am ­Alexanderplatz in Berlin fünf Tage vor Öffnung der Grenzen, zeigte sich beispielsweise, dass die Forderungen nach Einhaltung von Arbeitsrechten – für die jene des zitierten Brauereikraftfahrers exemplarisch steht – auch in kollektive politische Handlungen übersetzt wurden: So verlas der bekannte Dramaturg Heiner Müller eine Verlautbarung der Initiative für Unabhängige Gewerkschaften, in der kritisiert wurde, dass der Freie Deutsche Gewerkschaftsbund (FDGB) nicht dafür gesorgt habe, dass die Löhne gestiegen seien und die Arbeitszeit sich reduziert habe. Er griff damit 1989 eine weitverbreitete Kritik der Arbeiterschaft in der DDR auf, die in den hier genannten Quellen schon in den Jahrzehnten davor erkennbar war. Mit ihrem konkreten Beispiel können sie plausibel machen, warum auch in den 47 Merkel 1998, S. 70. 48 Betts 2010, S. 304. 49 Neben DDR-Bürgern, die sich für ihre ausländischen Kolleginnen einsetzten, werden in diesen Eingaben in den 1980er Jahren – verstärkt in den Umbruchsjahren 1989/1990 – auch alltagsrassistische Ressentiments deutlich. 50 Suckut 2016, S. 48.

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2000er Jahren an diese Krisenwahrnehmungen angeknüpft werden konnte. Nur 14 Jahre nachdem in der DDR aus äußerst divergierenden Gründen gegen die Staatsmacht demonstriert worden und diese schließlich zurückgetreten war, gingen im Jahr 2003 – diesmal nicht nur in Ostdeutschland – wieder Tausende auf die Straßen. Sie demonstrierten gegen den geplanten und letztlich auch durchgeführten Umbau des Sozialstaates, der für viele einen nachhaltigen sozialen Absturz bedeuten sollte. Anhand der Proteste gegen die Hartz-IV-Reformen, die sich dezidiert in die Tradition der Montagsdemonstrationen stellten, lässt sich erkennen, wie gespalten selbst die Bewegung der ehemaligen Bürgerrechtler*innen in sich war: Während Anhänger*innen des Neuen Forums, der Vereinigten Linken, der Kirche von unten und der Initiative für Unabhängige Gewerkschaften zu den Protesten aufriefen, kritisierten andere – wie beispielsweise der damalige Bundespräsident Joachim Gauck, der selbst Mitglied im Neuen Forum in Rostock war – diese mit der Begründung, sie seien „töricht und geschichtsvergessen“,51 denn es sei ja 1989 um fundamentale Kritik am DDR-Regime gegangen.52 4. Conclusio

Anhand exemplarisch ausgewählter zeitgenössischer Quellen der letzten beiden Jahrzehnte der DDR – wie Filmdokumentationen, sozialwissenschaftlicher Studien und Eingaben – stellte der Beitrag dar, dass die DDR-Gesellschaft vor 1989 eine ausdifferenzierte war, deren unterschiedliche soziale Milieus gegensätzliche Kritik an gesellschaftlichen Verhältnissen äußerten. Diese kulminierten aufgrund innerpolitischer und -gesellschaftlicher Spannungen und internationaler Entwicklungen – wie den sowjetischen Liberalisierungsprozessen – schließlich in den Protesten im Herbst 1989. Vor allem Quellen ‚von unten‘, die die gesellschafts- und alltagsgeschichtliche Perspektive widerspiegeln und weniger die von Historiker*innen und Sozialwissenschaftler*innen häufiger genutzten staatlichen Beobachtungen der Polizei- und Sicherheitsorgane geben Eindrücke aus der späten DDR und damit Aufschluss über Kontinuitäten von Krisendeutungen und Gesellschaftskritik vor und nach 1989. Während die Forderungen genuin politischer Akteure – wie der zahlreichen politischen Initiativen oder einzelner Dissident*innen oder Bürgerrechtler*innen – durch öffentliche Proklamationen in Form von Flug51 Joachim Gauck in einem Interview mit der Berliner Zeitung vom 9. August 2004. Online verfügbar unter https://www.berliner-zeitung.de/joachim-gauck-nennt-die-hartz-iv-protesteberechtigt-sieht-aber-einen-grundlegenden-unterschied-zum-herbst-1989-wer-gute-gruendefuer-demos-hat-braucht-kein-falsches-etikett-li.6233. Gesehen am 15.04.2020. 52 Vgl. Hartmann/Leistner 2019.

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blättern, Stellungnahmen oder in der Bundesrepublik veröffentlichter Publikationen gut rekonstruiert werden können, stellt sich dies für die ,schweigenden Mehrheit‘ deutlich schwieriger dar.53 Die Mehrheit der DDR-Gesellschaft hinterließ andere und nur verstreute zeitgenössische Quellen. Diese jedoch sind notwendig, um Kontinuitäten und Brüche gesellschaftlicher Krisenwahrnehmungen für breite Gesellschaftskreise zu rekonstruieren und damit einhergehend die politische Zäsur des Jahres 1989 in einem langen historischen Veränderungsprozess zu verorten. Anhand der hier ausgewählten Quellengattungen zeigte sich, dass die DDRGesellschaft keine ‚stillgelegte‘ war, die dann äußerst überraschend 1989 ihre Regierung und später auch ihren Staat stürzte. Es rumorte bereits in den Jahrzehnten zuvor, sei es aufgrund nicht erfüllter Wünsche an die Gestaltbarkeit des eigenen Lebens in der sozialistischen Konsumgesellschaft der 1970er und 1980er Jahre, sei es durch das repressive staatliche Unterdrücken subkultureller Lebensstile. Der Titel des vorliegenden Beitrags veranschaulicht, dass die Forderungen, die im Jahr 1989 auf die Straße getragen wurden, nicht nur Ausdruck einer Fundamentalkritik am SED-Staat waren, wie Joachim Gauck 2003 mit seiner Kritik an den damals neuaufgelegten Montagsdemonstrationen suggerierte. Sie entsprangen auch einer Kritik an den lebensweltlichen Verhältnissen, wie den Bedingungen der Erwerbsarbeit, die sich bereits in den 1970er und 1980er Jahren für breitere Gesellschaftsschichten als prekär erwiesen. Auch wenn Phänomene wie Massenarbeitslosigkeit und soziale Abstiege eine Folge des – in Europäisierungsprozesse eingebundenen – gesellschaftlichen Umbaus Ostdeutschlands nach 1989 waren, begehrten breitere Gesellschaftskreise bereits in den beiden Jahrzehnten zuvor nach einem weniger harten Arbeits- und Lebensalltag und forderten demokratische Mitsprache- und Mitwirkungsrechten. Für große Gesellschaftsschichten im Osten erfüllten sich – wie heutige Betrachtungen der Transformationszeit nahelegen – die Erwartungen an die staatliche Vereinigung möglicherweise nicht. Damit ließe sich unter anderem auch der spätere Bezug auf die Montagsdemonstrationen infolge der geplanten Hartz-IV-Gesetzgebung 2003 begründen. Aber auch die Kontinuität rechten Denkens und Vorstellungen einer homogenen ‚Volksgemeinschaft‘ finden sich bereits vor dem Sturz der SED. Auch sie waren Teil der ‚friedlichen Revolution‘ und konnten seit 2014 unter dem Ruf ‚Wir sind das Volk‘ – für die diversen PEGIDA-Demonstrationen – und 2019 unter dem Slogan ‚Vollende die Wende‘ für die ostdeutschen Landtagswahlkämpfe der AfD erneut politisch erfolgreich mobilisiert werden.

53 Gieseke 2015, S. 67.

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Was tun, wenn man nicht zum ‚Volk‘ gehört ’89 und die An-/Abwesenheit von Vertragsarbeiter*innen Claudia Pawlowitsch & Nick Wetschel

30 Jahre nach 1989 konkurrieren bei der historischen Urteilsfindung über die Geschichte der Menschen, die als „ausländische Werktätige“ in der DDR lebten, verschiedenste Deutungsangebote: einerseits das – sicher mit besten Absichten – skandalisierende, jedoch schiefe Bild von „Sklavenarbeit im sozialistischen Bruderland“,1 andererseits die revisionistische Apologie, die bis zur Zurückweisung der Existenz von Rassismus im anderen Deutschland reicht2 – erklärtermaßen geleitet von der Verteidigung der solidarischen Idee „sozialistischer Bruderhilfe“. Dabei bedeutet das Vorhandensein dieser kontroversen Positionen noch keine breite Debatte, die Auseinandersetzung mit diesem Teil des DDR-Erbes bleibt weitgehend auf Teilöffentlichkeiten beschränkt. Dabei ist den Vertragsarbeiter*innen seit 1989 immer wieder wissenschaftliche/aktivistische/politische Aufmerksamkeit zuteilgeworden. In diesem Sinne wurden sie nachträglich ‚entdeckt‘, ihre Situation aufgedeckt oder sie verschafften sich selbst Sichtbarkeit, wie es sich etwa in der erst nach 1989 etablierten (Selbst-)Bezeichnung als „Vertragsarbeiter“ zeigt.3 Als selbstverständlicher Teil des vieldeutiger werdenden 1989-Gedächtnisses, das sich zuletzt immer stärker von Freiheits- und Einheitsteleologie sowie einer reinen Erfolgserzählung löst, lassen sich migrationsgesellschaftliche Erzählanteile jedoch noch nicht – oder nur als Einforderung – ausmachen.4 So gibt es im Bildgedächtnis von 1989 kein spontan abrufbares Bild, auf dem Vertragsarbeiterinnen sichtbar wären. Prominent treten sie lediglich als unerwünscht und deshalb Angegriffene in den Bildern der ‚Gewalt-Wende‘, um und nach 1989, auf. Unser Beitrag fragt nach der An- und Abwesenheit von Vertragsarbeiter*innen um 1989 und in der unmittelbaren Folgezeit sowie nach dem Ort dieser Erfahrungen in der Erinnerungslandschaft der wiedervereinigten Mehrheitsgesellschaft. Vom lokalen Beispiel der Stadt Dresden ausgehend, wird der Text sich mit der 1 2 3 4

Frei et al. 2019, S. 107ff. Van der Heyden 2019, S. 274ff. Vgl. Theodor 2011; Bui 2017. Vgl. Handro 2011; Möhring 2015; Schrader et al. 2015; Sabrow 2019; Berendsen/Koss 2020.

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für Migration und Migrationsgeschichte grundlegenden Frage von Zugehörigkeit befassen.5 Dabei betrachten wir 1989/1990 als einen Wendepunkt, an dem sich Zugehörigkeitsfragen neu stellten, die sowohl gesamtgesellschaftlich als auch individuell verhandelt werden mussten. Dazu zählen auch gewissermaßen harte Faktoren: die arbeits- und sozialrechtliche Stellung, die Aufenthalts- sowie die Bleibeperspektive.6 Mit der Staats(neu)bildung ging gleichsam für alle in der DDR lebenden Menschen eine Neudefinition von Zugehörigkeiten einher, die nicht selten mit biographisch tiefgreifenden Veränderungen verknüpft waren. Für die Vertragsarbeiter*innen kam jedoch hinzu, dass sie hierfür – im Gegensatz zu den DDR-Bürgerinnen – nicht auf die Rahmungen von Wirtschafts- und Sozialunion, Nation und Staatsbürgerschaft zurückgreifen konnten. Für sie musste es erst einmal darum gehen, ob aus der Position der Arbeitsmigration in einen inzwischen verschwundenen Staat heraus Zugehörigkeit überhaupt möglich werden würde. Dazu gehören auch als weich zu verstehende Faktoren von Zugehörigkeit, zum Beispiel ob es mit der Mehrheitsgesellschaft gemeinsame und geteilte Erfahrungen und Erinnerungen des Umbruchs- und Transformationsgeschehens gibt. In diesem Sinne fragte der Sprecher einer Arbeitsgruppe der Dresdner Stadtverordnetenversammlung, als 1989/1990 die Situation der ‚Ausländer*innen‘ im Land in der sich nun pluralisierenden DDR-Öffentlichkeit und abseits der bis dahin geltenden Leitlinien des Sprechens über ideologische und alltägliche Dimensionen der Migration in die DDR zum Thema wurde: „Wussten Sie schon, dass ohne ausländische Werktätige auf dem Rangierbahnhof Dresden Friedrichstadt weniger Güterzüge abgefertigt würden, in den Brauereien der Stadt kaum Bier gebraut werden würde, im Schlachthof wahrscheinlich nicht mehr geschlachtet würde […] und in den Schuhfabriken Radebeuls und Meißens die Produktionsergebnisse weniger freundlich ausfielen? Ich wusste es auch nicht so genau“.7 Die weiterreichende Frage nach sozialer Akzeptanz und Sichtbarkeit in der Gesellschaft ist freilich nicht allein um 1989/1990, sondern langfristig zu betrachten. Sie hat eine deutsch-deutsche Vorgeschichte und wird bis in die Gegenwart fortgeschrieben.8 Im Sinne der Frage nach den mit 1989 verknüpften tieferliegenden Entwicklungen und Konfliktlinien, die auch unsere Gegenwart strukturieren, wird es in dem vorliegenden Beitrag auch um die Aushandlung des Selbstverständnisses als Einwanderungsgesellschaft und um Rassismus bzw. „Vereinigungsrassismus“ gehen müssen.9 In der selbstbewussten Berufung auf die Formel „Wir sind das Volk!“ 5 6 7 8 9

Vgl. Mecheril 2018. Vgl. Coşkun/Raphael 2014, Sextro 1996. Zeitweilige Arbeitsgruppe Integration 1990. Vgl. Herbert 2001; Kocatürk-Schuster et al. 2017; Heitzer et al. 2018. Frei et al. 2019, S. 16.

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waren die „ausländischen Werktätigen“ oft nicht eingeschlossen: „[D]er Protestruf der Montagsdemonstrationen, der auf die Beseitigung der staatlichen Diktatur und auf demokratische Reformen in der DDR abzielte und wenig später in der Variante ‚wir sind ein Volk‘ die deutsche Wiedervereinigung einforderte, dient hier [in Eingaben und Leserbriefen] dazu, den Bruch mit dem public transcript [das heißt dem offiziell sanktionierten Deutungs- und Sagbarkeitsrahmen] der Völkerfreundschaft zu legitimieren. Die ausländischen Vertragsarbeiter*innen haben in diesem ‚Wir‘ keinen Platz. Auf das ‚Volk‘ wird hier nicht im Sinne der bürgerlichen Revolution als Souverän verwiesen, sondern im Sinne einer ethnischen Einheit – der verwandte Volksbegriff ist nicht demokratisch, sondern völkisch.“10 In diesem Beitrag werden einige Ergebnisse der Untersuchung zu den lokalen Lebenswirklichkeiten und ihrer behördlichen Verwaltung vorgestellt. Dazu werden neben Material aus dem Bundesarchiv, dem Sächsischen Landtag und dem Dresdner Stadtarchiv vier 2018/2019 mit ehemaligen Vertragsarbeiter*innen geführte Interviews herangezogen. So lassen sich unter der oben skizzierten Perspektive von Zugehörigkeiten die Rahmungen der Mehrheitsgesellschaft, das heißt von öffentlichem Diskurs, Politik und Verwaltung, sowie die Erfahrungen der Vertragsarbeiter*innen ins Verhältnis setzen. Zunächst beziehen wir den Forschungsstand zu den Grundlinien von Vertragsarbeit in der DDR sowie die unmittelbaren politischen und lebensweltlichen Auswirkungen von ’89 auf das lokale Beispiel, um anschließend den Betrachtungszeitraum im Sinne einer langen Geschichte der Wende bis in die zweite Hälfte der 1990er Jahre zu erweitern. Schließlich werfen wir einen kursorischen Blick auf die Präsenz/Repräsentation von Vertragsarbeiter*innen in der Erinnerungslandschaft 30 Jahre nach ’89. 1. Aufenthalt: Widersprüche und Begrenzungen

1989 wurden in der DDR etwa 93.000 Menschen als „ausländische Werktätige“ auf Basis von bilateralen Regierungsabkommen in verschiedenen Betrieben beschäftigt und gleichzeitig ausgebildet.11 Sie waren auf Grundlage von Regierungsabkommen in die DDR eingereist und wurden dort nach dem Rotationsprinzip eingesetzt, das heißt ihre Verträge waren auf vier bis fünf Jahre Aufenthalt in der DDR beschränkt. Zu Beginn kamen die in der DDR eingesetzten Arbeitskräfte vor allem aus Algerien, Polen und Ungarn, zum Ende der 1980er Jahre waren dann vor allem Viet-

10 Rabenschlag 2014, S. 211f.; Kororoshy/Mecheril 2019; Wildt 2019. 11 BStU, MfS, Zentrale Auswertungs- und Informationsgruppe (ZAIG), Nr. 4599.

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nam, Mosambik, Angola, Kuba und China ihre Herkunftsländer.12 Die Zahl der Vertragsarbeiter*innen hatte sich bis dahin aufgrund der immer desolateren Wirtschafts- und Personallage in den DDR-Betrieben vervielfacht. Zunehmend hatte die ökonomische Notwendigkeit – der Arbeitskräftebedarf seitens der DDR, aber auch teilweiser Einbehalt der Löhne seitens der Partnerstaaten – den für Menschen und Entsendeländer wichtigen entwicklungspolitischen Qualifizierungsansatz verdrängt. Tätig waren viele von ihnen in den Bereichen der Textil-, Elektro- und Ernährungsindustrie, die aufgrund unattraktiver Bedingungen, wie Schichtarbeit oder die Verrichtung monotoner Handgriffe, durch eine hohe Personalfluktuation gekennzeichnet waren. Im Bezirk Dresden, also vor allem in der Stadt Dresden, in Riesa, Freital und Zittau, lebten Ende 1989 etwa 21.150 „ausländische Werktätige“ und damit, neben dem Bezirk Karl-Marx-Stadt, Berlin, Halle, Erfurt und Leipzig die meisten in der DDR.13 Noch bis kurz vor dem Mauerfall wurden sie angeworben.14 War im Berufsalltag der Kontakt zwischen den Bürger*innen der DDR und den Vertragsarbeiter*innen üblich, galt dies kaum für den Freizeitbereich. Dennoch gab es Freundschaften, Liebes- oder Zweckbeziehungen, etwa durch den Nebenerwerb des Nähens von Jeans, jedoch waren diese Kontakte weder politisch gewollt – was dem proklamierten Internationalismus und den Solidaritätsbekundungen nicht notwendigerweise widersprechen musste – noch sind sie verallgemeinerbar.15 Integration sollte auf den Bereich der Arbeit beschränkt bleiben und wurde, trotz der zunehmenden Anwerbungen, nie auf andere Sektoren des sozialen Lebens ausgeweitet. Dies hätte gleichsam konträr zum politischen Selbstverständnis gestanden: Die Führung der DDR wollte das in sich abgeschlossene System nicht zu einer Einwanderungsgesellschaft hin öffnen. Die ‚Ausländerpolitik‘ der SED war nicht widerspruchsfrei, und so war auch das Alltagsleben von und mit Vertragsarbeiter*innen vielfältig und widersprüchlich. In Eingaben oder Berichten des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS) werden die zunehmenden Konflikte und Spannungen zwischen den DDR-Bürger*innen und den Vertragsarbeiter*innen thematisiert. Sie entsprangen der Konkurrenz um Ressourcen (Lebensmittel, Gerätetechnik oder Wohnraum), unterschiedlichen Vorstellungen alltäglicher Lebensweisen.16 Das MfS registrierte unter anderem in 12 Sandig 1994, S. 13. 13 BStU, MfS, HA XVIII, Nr. 21632; Schüle, S. 87. Bereits seit 1977 wurden algerische, ungarische und polnische Arbeiter*innen in Dresden beschäftigt. 14 Schulz, 2011, S. 160. 15 BStU, MfS, Abt. X, Nr. 339, 112. 16 StADD: 9.1.30 AG Kartonagenindustrie-1698; BStU, MfS, Abt. X, Nr. 339, 336; BStU, MfS, ZAIG; BStU, MfS, BV Dresden, KD Dresden-Land, Nr. 16742; BStU, BV Dresden, Abt. XVIII, Nr. 13887.

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seinen Berichten zur politisch-operativen Sicherung auch Alltagsrassismus, Diskriminierungserfahrungen und Gewalt gegen „ausländische Werktätige“.17 Zum Konfliktstoff wurde der Aufenthalt von Vertragsarbeiter*innen häufig dann, wenn Verstetigung und Normalisierung, etwa durch die wachsende Zahl vertraglich aus dem Ausland verpflichteter Arbeiter*innen, binationale Familiengründungen und selbstbewusste Präsenz im öffentlichen Raum, mit dem eigentlichen Kern des Arrangements brachen: der zeitlichen Begrenztheit des Aufenthalts in einer (in dieser Hinsicht) homogenen Gesellschaft. Im Zuge des politischen Umbruchs 1989 dynamisierte sich das gesamte Konfliktgeschehen aufgrund des immer häufiger und offener gezeigten Rassismus sowie des Wegfalls der vertraglichen Grundlage des Aufenthalts im Zuge der Auflösung des einstigen „Bruderlands“ DDR. Es galt für die Vertragsarbeiter*innen, Entscheidungen über Gehen und Bleiben zu treffen. 2. Anwesenheit 1989 – Abwesenheit 1990

Diese Fragen wurden auch in der sich demokratisierenden DDR behandelt. Am Zentralen Runden Tisch in Berlin bildete sich etwa eine Arbeitsgruppe Ausländerfragen, die sich bereits ab dem 2. Januar 1990 traf, um Leitlinien sowie Konzepte für eine zukünftige ‚Ausländerpolitik‘ auszuarbeiten.18 Eine der zentralen Forderungen der Arbeitsgruppe war es, dass „niemand gegen seinen Willen nach Hause geschickt wird, wenn Verträge auslaufen oder in den Heimatländern Repressalien drohen“.19 Ein weiteres Ergebnis war die aus der Arbeitsgruppe hervorgehende Ernennung der Pastorin Almuth Berger zur Staatssekretärin für Ausländerfragen beim Ministerrat der DDR am 1. März 1990. Ähnliche Entwicklungen lassen sich auch auf kommunaler Ebene feststellen: Ausländerbeauftragte wurden in einem jeweils ortseigenen Verfahren berufen und gingen meist auf bürgerschaftliche Initiativen in Foren und Runden Tischen zurück, die sich gegebenenfalls von Seiten westdeutscher Äquivalente hatten beraten lassen. Trotz dieser frühen Anbahnung – in Leipzig wurde die republikweit erste Stelle als Ausländerbeauftragter am 2. Mai 1990 besetzt – blieb ihr Einfluss in den letzten Monaten der DDR gering.20 Bereits in der kurzen Phase der Regierung Hans Modrows verließen viele

17 BStU, HA XI, Nr. 1037; BStU, MfS, HA XVIII, Nr. 21712, 19545; BStU, MfS, AG XVII, Nr. 3429; BStU, BV Dresden, Abt. XVIII, Nr. 12460; Breuer 1990; Ködderitzsch 1990; Süß 1993; Wagner 2020; Waibel 2017. 18 Sextro 1996, S. 51ff. 19 Sextro 1996, S. 55. 20 Vgl. Kolinsky 1999; Kolinsky 2005; Phillips/Rink 2009.

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Vertragsarbeiter*innen die DDR. Sie gingen in die Bundesrepublik, um dort einen Asylantrag zu stellen, oder sie kehrten in ihre Herkunftsländer zurück.21 Auch die erste frei gewählte Regierung unter Ministerpräsident Lothar de Maizière vermochte nichts an der Auswanderung aus der DDR zu ändern; hinsichtlich der Vertragsarbeiter*innen verschärfte sich dieser Umstand nur noch. In der vom 13. Juni 1990 ausgegebenen Verordnung über die Veränderung von Arbeitsverhältnissen mit ausländischen Bürge*innen, die auf Grundlage von Regierungsabkommen in der DDR beschäftigt und qualifiziert werden sowie einer Durchführungsbestimmung wurden zwar die vertraglich vereinbarten Aufenthaltsfristen beibehalten, allerdings von der Bindung an einen bestimmten Arbeitsvertrag, Arbeitsplatz und Arbeitgeber gelöst.22 Mit Beendigung des Arbeitsrechtsverhältnisses – meist stellten Betriebe dafür entsprechende Anträge an das Ministerium für Arbeit und Löhne – erloschen jedoch das Anrecht auf Sach- und Geldleistungen der Sozialversicherung sowie das staatliche Kindergeld.23. Auch die Mietverträge, die an die Betriebe gekoppelt waren, liefen mit dem Verlust des Arbeitsplatzes aus, und/oder es wurden nun ungerechtfertigt hohe Mieten für ein Zimmer verlangt. Diese Gemengelage schuf zusätzlich eine Situation starker existenzieller Unsicherheit. Ein beredtes Beispiel davon gibt ein Brief von zehn Auszubildenden und ihrer Gruppenleiterin aus Dresden an die Ausländerbeauftragte Almuth Berger: Seit Beginn der Währungsunion haben wir Angst: Angst vor der Ausländerfeindlichkeit, Angst, daß unsere Ausbildung vorzeitig abgebrochen wird und Angst vor dem Verlust der Solidarität und Freundschaft. Die Existenzangst kommt noch dazu. Wir haben gehört, daß wir so schnell wie möglich in unsere Heimatländer abgeschoben werden sollen, weil die zukünftige gemeinsame Regierung Deutschlands die Staatsverträge der DDR nicht mit übernimmt. Man sagt, in der DDR [gibt es] keine Solidarität mehr, und alle Kassen sein leer. Niemand fühlt sich mehr für uns zuständig und verantwortlich. Wir verfolgen das politische Geschehen sehr genau. Aber dies alles, was man jetzt mit uns Ausländern macht, kann doch nicht das Ziel der Menschen gewesen sein, die im November 1989 auf die Straße gegangen sind. Wir freuen uns, wenn die Deutschen ein vereinigtes Vaterland haben werden. Wir sehen ein, daß es jetzt bei der Wiedervereinigung große Sorgen und Probleme für das Land gibt. Vergessen Sie aber bitte über allen Sorgen die Ausländer nicht, die in der noch-DDR leben.24

21 22 23 24

Sextro 1996, S. 57f. Sextro 1996, S. 66; Schulz 2011, S. 160. BArch, DC 20 I/3/2991; DQ 3/1879a. BArch, DC 211/13.

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Diese Zukunftsängste der Vertragsarbeiter*innen hatten auch in der Phase des Übergangs unter de Maizière keinen sehr großen Stellenwert.25 Der politische Umgang mit ihnen ebenso wie die sich massiv gegen sie richtende Gewalt auf der Straße standen im klaren Zusammenhang mit einem (national-)populistischen Einheitsprogramm, in dem die Alternativen von 1989 schnell marginal geworden waren. Mit dem am 3. Oktober geschlossenen Einigungsvertrag wurde auch für die fünf neuen Bundesländer das bundesdeutsche Asylrecht maßgeblich. Die Dresdner Ausländerbeauftragte Marita Schieferdecker-Adolph resümierte im Dezember 1990 vor den Stadtverordneten: „Seit Oktober vergangenen Jahres hat sich die Situation für die Ausländer erschreckend verschärft. Als es hieß ‚Wir sind das Volk!‘, waren sie eingeschlossen, als es hieß ‚Wir sind ein Volk!‘, waren sie ausgeschlossen. Nun sollten sie dieses Land verlassen.“26 Trotz der Widrigkeiten gingen viele das Risiko des Bleibens ein. Die Gründe waren durchaus verschieden. Garantierte Entschädigungen als Anreiz zur Rückreise mochten erst einmal attraktiver erscheinen als eine ungewisse Zukunft in Deutschland. Für Thi Hanh Bui – die mit ihrem Mann im Dresdener Betriebsteil des VEB Polygraph arbeitete – kam eine schnelle Rückkehr nicht infrage, weil sich dadurch die sich gerade erst eröffneten Möglichkeitsräume wieder verschlossen hätten: ’90 es ist hier so: […] Abfindung 3.000 DM und dann nach Hause, wenn die Leute 3.000 Mark nehmen, nach Hause – und dann ist es vorbei. […] Ich denke nur: [ich bin] einfach neugierig und da arbeite ich noch im Betrieb und mein Lohn ist schon ok. […] Aber im Betrieb gab es nicht so viel Arbeit. Kurzarbeiten, wöchentlich acht Stunden oder 20 Stunden, dann bekomm ich auch nicht viel, ganz wenig. Da sagen viele Leute […]: Warum nicht nach Hause? Ich hab’ gesagt, ich war noch nie in Westberlin, ich möchte nach Berlin.27

Neue Räume für die alltägliche Bewältigung des Umbruches boten Selbstorganisierungen, aber auch Kirchen oder Ausländerräte. Die Vertragsarbeiterin Olga Macuacua aus Mosambik hörte zum ersten Mal durch ihren Betreuer von den politischen Ereignissen. Gleichzeitig kündigte man ihr an, dass sie wieder zurückkehren müsse. Auch sie wäre gern auf eine der zahlreichen Demonstrationen gegangen. Jedoch erinnert sie sich, gesagt bekommen zu haben: „Wenn du teilnehmen willst, kann das sein, dass man dich sofort in ein Flugzeug reinsteckt 25 Sextro 1996, S. 61. 26 StADD, 7.1. Protokolle der Stadtratssitzungen, 13. Stadtverordnetenversammlung 13.12.1990. 27 Interview: Thi Hanh Bui, Februar 2019 – ISGV, LGA 92.

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und dann fliegst du sofort nach Hause.“28 Die Veränderungen – betrafen sie Arbeit, Ausbildung, Wohnen und Einkommen sowie Aufenthaltstitel und Aufenthaltsbedingungen – mussten mehr oder weniger individuell geklärt werden. Insbesondere Vietnames*innen übten Tätigkeiten innerhalb ethnischer Ökonomien aus, um ihre Existenz zu sichern. Beispielsweise waren das der Handel mit Obst und Gemüse, der Verkauf preiswerter Textilien oder die Arbeit in einem „ChinaRestaurant“ oder „Asia-Imbiss“, deren Bezeichnungen bewusste Versuche waren, Stigmata, die sie als Vietnames*innen betreffen konnten, zu umgehen.29 Die nach 1990 sehr weitverbreitete Selbständigkeit ist unter anderem auch dem Zwang zur finanziellen Absicherung und dem daran gekoppelten Aufenthaltstitel geschuldet, zugehörig bleiben oder werden konnte streng genommen nur, wer erwerbstätig war: Aber nach der Wende […]: Was machen wir da nur? Wenn wir nicht arbeiten, dann haben wir auch nur eine Möglichkeit: Wir müssen zurück in die Heimat. Sondern wir müssen arbeiten – unbedingt. […] Für die Deutschen ist es auch schwer, aber für uns, fremde Leute, so wie wir sind, ist es auch noch schwerer. Aber wichtig ist: Wir haben keine andere Chance.30

Neben Bemühungen, den Lebensunterhalt zu sichern, sind alltägliche Gewalterfahrungen integraler Bestandteil der Erzählungen. Gewaltvoll wird auch die Erfahrung von Orten erinnert, die gleichsam als Orte des Nichtaufenthaltes markiert waren. So konnte es etwa erheblich zum Sicherheitsgefühl beitragen, öffentliche Verkehrsmittel zu meiden. Morgado-Vasco Muxlhanga hatte bemerkenswerterweise schon vor dem Umbruch darauf geachtet, selbst mobil zu sein: „[U]nd wo der Trabi nicht mehr lief […], hab’ ich sofort den ersten besten Schrott geholt – West.“31 Mag der Autokauf auch eine geteilte Erinnerung weiterer Teile der Bevölkerung der ehemaligen DDR sein, ist er in dieser Situation nicht nur als das Nutzen neuer Konsummöglichkeiten zu verstehen. Vielmehr war man auf dem Arbeitsweg oder in der Freizeit dann Beleidigungen und Gewalt(androhungen) weniger ausgesetzt.

28 29 30 31

Interview Olga Macuacua, November 2019 – ISGV, LGA 92. Gemende 1999; Bui 2003, S. 204ff. Interview Hung Cao The, November 2019 – ISGV, LGA 92; Weiss 2005, S. 83ff. Interview Morgado-Vasco Muxlhanga 2018 – ISGV, LGA 92.

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3. Lange Geschichte(n) der Vertragsarbeiter*innen

Auf politischer Ebene hatte die Einbindung der zwischen den Entsendeländern und der DDR getroffenen Vereinbarungen in eine gesamtdeutsche Gesetzgebung keine Priorität, sondern wurde schnell Bestandteil einer langen Transformation, die über 1989/1990 hinausging.32 Dies hatte für die Betroffenen – je nach Herkunft, Alter, Geschlecht, Bildung und Beruf – individuell enorme soziale Folgen. Greifbar wird diese Situation in den Plenardebatten der ersten Wahlperiode des Sächsischen Landtags (1990–1994) einerseits und andererseits in den an den ersten Sächsischen Ausländerbeauftragten Heiner Sandig33 gerichteten Petitionen. Angesichts der neuen politischen Situation sah Sandig seine erste Amtszeit rückblickend in folgendem Auftrag: „,Mit Fremden leben lernen‘ […]. Das scheint uns die erste Aufgabe für Sachsen zu sein.“34 Damit reflektierte er gleichsam auf den neuen Status quo: eine sich formierende Migrationsgesellschaft Ost. Als vermittelnde Instanz zwischen staatlichen und privaten Interessen bezüglich der in Sachsen lebenden ‚Ausländer‘ wurde er nicht nur neuer (institutioneller) Akteur für ein gewissermaßen neues Politikfeld, sondern auch Sprecher in einer Zugehörigkeitsdebatte, die sich weit über juristische Fragen hinaus erstreckte. Einen Schwerpunkt setzte er – wie schon der Runde Tisch in Berlin – beim Bleiberecht für die Vertragsarbeiter*innen, denn die Situation der Regierungsabkommensarbeitnehmer (ist) zunehmend von Unsicherheit geprägt […]. Einige leben schon fast ein Jahr mit regelmäßig eingehenden Ausreiseaufforderungen, weil ihre Duldung nur jeweils für drei Monate verlängert wurde. Ihre psychische Situation ist im Hinblick auf die auch sie betreffende ausländerfeindliche Stimmung bedrückend.35

Ein grundlegendes Problem war die Neudefinition des Aufenthaltsstatus: Nachdem die mit der DDR und dem Entsendeland vereinbarte vertragliche Frist für den Aufenthalt abgelaufen war, wurden den meisten Menschen Duldungen ausgestellt, ihre Aufenthaltszeit in der DDR jedoch nicht angerechnet. Stattdessen verfolgte das Sächsische Staatsministerium des Inneren als oberste Instanz der Ausländerbehörden die Auffassung, alle ehemaligen Vertragsarbeiter*innen so zu 32 Böick/Brückweh 2019. 33 Er wurde am 14. Mai 1992 durch den Sächsischen Landtag, dessen zweiter Vizepräsident er war, ernannt. Die Errichtung der Stelle des Ausländerbeauftragten wurde durch den Innenausschuss des Sächsischen Landtages (Sitzung am 03.04.1992) beschlossen. 34 Sandig 1993, S. 2. 35 Sandig 1993, S. 16f.

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behandeln, als seien sie erst am 3. Januar 1990 eingereist.36 Aus Sicht von Bündnis 90/Die Grünen entstand daraus eine fatale Situation in vielfacher Hinsicht: Es wurde damit die Möglichkeit erschwert, eine baldige Aufenthaltsgenehmigung, die sich an den Aufenthaltszeiten orientierte, zu erlangen. Das hatte zur Folge, dass durch „den ungesicherten Aufenthaltsstatus […] diese Menschen Freiwild für am Rande der Legalität arbeitende ‚Arbeitsvermittler‘ [geworden sind]. Die Lebensunsicherheit hat Probleme bei einer Integration in die neue Gesellschaftsordnung zur Folge.“37 In einer Antwort des Sächsischen Ministeriums des Inneren (SMI) wird in dieser Sache im Rückgriff auf die DDR darauf verwiesen, dass den Vertragsarbeiter*innen schon in der DDR nie ein dauerhafter Aufenthalt in Aussicht gestellt worden sei. Die ungeklärte Situation wurde schließlich auch von der Fraktion Linke Liste/PDS, der SPD sowie von der CDU-Fraktion thematisiert.38 Überparteilich lässt sich das Bestreben einer „humanitären Lösung“ konstatieren.39 Bemerkenswert ist, dass die als desolat beschriebenen Lebens- und Arbeitsverhältnisse in der DDR und die unsicheren politischen wie auch lebensweltlichen Bedingungen der Herkunftsländer als Argument von allen Parteien hervorgehoben wurden. So führte das CDU-Mitglied Sandig in der 52. Sitzung des Landtages im Dezember 1992 aus: „Wenn sie so wollen, sind die Regierungsabkommensarbeiter ganz gewiß auch Opfer des Sozialismus. […] Bei der Abschiebung in die Herkunftsländer […] erwarten insbesondere die Vietnamesen harte Sanktionen von staatlicher Seite, vergleichbar solchen, die die sogenannten Republikflüchtlinge in der DDR damals zu erwarten hatten.“40 In der Abgrenzung von vergangenen und bestehenden sozialistischen Gesellschaftssystemen wurde ein gemeinsames Erinnerungsnarrativ, gewissermaßen ein Wir konstruiert; ein Wir, das vor allem aus der Rückschau auf die Erfahrungen des Demokratisierungsprozesses eine Handlungsverpflichtung und eine unumkehrbare neue Haltung darstellte. Hingegen geriet dieses Gemeinsame an eine Grenze, wenn es konkret wurde und um strittige Aufenthaltsverlängerungen ging. In seiner Amtszeit befasste sich der Sächsische Ausländerbeauftragte mit 43 überlieferten Einzelfällen und Petitionen ehemaliger Vertragsarbeiter*innen, welche in den Jahren 1991 bis 1998 an den Sächsischen Landtag eingereicht wor36 Sandig 1994, S. 14, Drs 1/1196. Am 1. Januar 1991 erfolgten durch die Ausländerbehörden die Titelumschreibungen aufgrund einer Übergangsvorschrift § 11 Abs. III des Gesetzes über die Einreise und mittels eines Erlasses des Ministerium des Inneren wurde eine Aufenthaltsbewilligung nach § 28 des Ausländergesetzes erteilt. 37 Drs 1/1196. 38 Drs 1/2639. 39 Drs 1/3858, PlPr 1/80. 40 PlPr 1/52.

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den waren. Zu den Anliegen bezogen jeweils der damalige Ausländerbeauftragte Heiner Sandig als auch das SMI Stellung. Der Petitionsausschuss beschloss auf Grundlage der jeweiligen Einschätzungen und unter dem Eindruck der parlamentarischen Debatte, der jeweils aktuell geltenden Rechtslage, ob und wie die Anliegen der Petenten zu bewerten seien. Die eingereichten Unterlagen enthalten zum Teil weitere Anlagen wie Strafbefehle, Ausweiskopien, Solidaritätsbekundungen, Weihnachtskarten, Arbeitsverträge, Fotografien, Aufenthaltsbewilligungen oder Führungszeugnisse. Das zentrale Anliegen der Petent*innen war es, Klarheit über ihre Bleibeperspektive zu gewinnen. Denn nur eine positive Entscheidung konnte den Zustand der permanenten Existenzunsicherheit beenden. Viele von ihnen hatten bereits seit dem Ablauf ihrer Aufenthaltsbewilligung in befristeten und sich immer wieder verlängernden Duldungsverhältnissen gelebt. Hinter ihnen lagen oft jahrelange Verfahren um ihre Statusanerkennung. Jederzeit durch Abschiebung, Übergriffe, Wohnungs- und Arbeitslosigkeit bedroht, war für viele die Petition eine letzte Möglichkeit, Rechtssicherheit zu erlangen, um eine mögliche Abschiebung abzuwenden. Zu diesem Zweck wurde in den Petitionen eine Art Beweis- oder wenigstens Nachweisführung über das legitime Vor-Ort-Sein vorgenommen. Der Sache nach sind solche Individualpetitionen Zeugnisse besonders prekärer Lebenslagen und auch nur dann entstanden, wenn über dieses Verfahren überhaupt Kenntnis bestand. So können sie freilich nicht Quelle genereller Aussagen über die Lebenswege von Vertragsarbeiter*innen nach 1989 sein, gehören aber zu den wenigen schriftlichen Überlieferungen, die überhaupt zur Verfügung stehen. Den Schreiben, die vor dem Petitionsausschuss oft als Einzelfallanliegen behandelt wurden, ging meist eine biographische Skizze der Petent*innen voran, die der Transformationserfahrung eine zentrale Bedeutung beimaß. So schilderte Herr N. rückblickend: Mit der Vereinigung Deutschlands verlor ich meine Arbeit und zugleich die Unterstützung und Leitung durch die mit einem Dolmetscher und einem Gruppenleiter organisierten Wohn- und Arbeitsgemeinschaft […]. Da ich der deutschen Sprache nicht mächtig war, habe ich viele Gesetze und Regelungen am Anfang nicht verstanden […]. Durch den Aufbau meines Geschäfts habe ich Schulden bei Freunden und Verwandten in Deutschland, die ich in Vietnam nie zurückzahlen kann, wenn ich nun zurückkehren müßte.41

Auch viele andere Vertragsarbeiter*innen beschreiben diesen plötzlichen Verlust bisheriger Orientierungs- und Existenzgrundlagen. Das vorhandene Sprachprob41 Petition 9. Juli 1996, Nr. 380/9/1880/02/03218/8.

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lem erstreckte sich dabei weit über die Fremdsprachenkompetenz hinaus. Barrieren bestanden auch hinsichtlich der Nachvollziehbarkeit und des Verständnisses des juristischen Vorgangs,, wie es sich anhand des Ausländerrechts und in vielen Fällen auch im Zusammenhang mit dem Strafrecht zeigt, war doch ihr Aufenthalt wegen der rigiden Umsetzung der Gesetze gefährdet und ein Rechtsschutz durch fehlende Ermessungsentscheidungen eingeschränkt. Das Sächsische Innenministerium hatte sich angesichts des verbreiteten „ambulanten Handels“ mit Zigaretten (zumindest bis 1993) zu einem besonders rigiden Ansatz von Generalprävention entschieden, mit dem nicht nur Stigmatisierung einherging, sondern längerfristig der Aufenthalt nicht weniger Petent*innen infrage stand, sollten sie zu einer Strafe über 45 Tagessätze verurteilt worden sein: „Die konsequente Ausweisungspraxis ist geeignet und erforderlich, andere Ausländer davon abzuschrecken, sich ebenfalls am Handel mit unverzollten und unversteuerten Zigaretten zu beteiligen.“42 Ungeachtet aller Widrigkeiten sah Herr N. seine Lebensperspektive in Deutschland, was er mit den hier aufgenommenen Verbindlichkeiten unterstrich. Herr N. ist ein typischer Petent. Er war wie die meisten männlich und vietnamesischer Herkunft. Zwar stellten viele der 24- bis 38-jährigen Vertragsarbeiter*innen ihren Antrag an den Petitionsausschuss selbst; jedoch wurden auch einige der Anträge entweder gemeinsam mit oder von einer fürsprechenden Institution, wie dem Betrieb, einer kirchlichen Einrichtung oder Interessenverbänden eingereicht. Der überwiegende Anteil der Petent*innen lebten in Chemnitz, Leipzig und Dresden, aber auch in mittelgroßen Städten wie Glashütte, Zittau und Waldheim. Viele hatten zu diesem Zeitpunkt einen Gewerbeschein oder eine Anstellung. Aus den wenigen Petitionen von Frauen geht hervor, dass diese, vor allem wenn sie Kinder hatten, diese Situation als noch komplizierter schilderten. So schrieb Frau S.: 42 Im Vergleich zu anderen Bundesländern führte die Sächsische Landesregierung erst 1993 eine Bagatellgrenze ein. Bis dahin begangene Straftaten hatten, unabhängig von ihrem Umfang, eine Verweigerung der Aufenthaltsbefugnis zur Folge. Vgl. Petition vom 16.02.1995, Nr. 380/4/1880/02/006776/8/, darin Stellungnahme Sächsische Staatsministerium des Inneren (SMI) vom 25.04.1996, S. 3: „Steuerhehlerei, die eine Verurteilung zu einer Geldstrafe in Höhe von 45 Tagessätzen zur Folge hat, stellt einen nicht geringfügigen Verstoß gegen Rechtsvorschriften dar. Der illegale Zigarettenhandel ist – zumal er im öffentlichen Verkehrsraum stattfindet – eine Beeinträchtigung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung und schädigt die Volkswirtschaft erheblich. Die Ausweisungsentscheidung ist aus generalpräventiven Gründen geboten und ermessensfehlerfrei. Dem illegalen Zigarettenschmuggel und -handel kann wirksam nur durch eine kontinuierliche Ausweisungspraxis begegnet werden, die auch Kleinhändler erfaßt. Die konsequente Ausweisungspraxis ist geeignet und erforderlich, andere Ausländer davon abzuschrecken, sich ebenfalls am Handel mit unverzollten und unversteuerten Zigaretten zu beteiligen. Eine Ausweisung aus generalpräventiven Gründen erfordert nicht, daß in der Person des Betroffen eine Wiederholungsgefahr festgestellt wird.“

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Nach der Wende kam mein Schicksal […]. Ich war arbeitslos. In diese[r] Zeit habe ich [mir] immer Mühe gegeben, um eine Arbeit selbst zu suchen. Aber das war sehr schwer für mich. Da ich in diese Zeit schwanger war. Mein jüngstes Kind wurde am 03.8.93 […] geboren. Am 17.04.94, dem Stichtag für den Nachweis der Voraussetzungen für eine Aufenthaltsbefugnis war unser Kind erst 8 Monate alt und ich konnte nicht arbeite[n], da ich das kleinste Kind zu Hause betreute.43

Einigen Petent*innen sahen in den nach dem Umbruch gewonnenen Möglichkeiten und bereits geschaffenen materiellen Grundlagen eine Chance. Demgegenüber erwarteten sie im Herkunftsland Perspektivlosigkeit: „Wenn ich zurückkomme nach Mocambique, habe ich dort weder Arbeit noch Wohnung zu erwarten. Das alles habe ich hier in Deutschland. Meine Wohnungseinrichtung kann ich nicht mitnehmen, außerdem könnte ich einen Transportcontainer auch nicht bezahlen.“44 Gleiches galt auch für die Familie von Herrn T.: Wir leben schon fast fünf Jahre in Deutschland, haben eine Familie gegründet, haben eine kleine Tochter (6 Monate alt), die in Deutschland geboren ist, haben eine Wohnung, haben ein gesichertes Einkommen, genau wie eine[n] deutsche Familie. […] Wir fallen doch keinem Menschen zur Last. Wenn wir nach Vietnam zurückkommen, haben wir eine ganze Menge Probleme vor uns. Zuerst haben wir keine Wohnung in Vietnam. Auf jeden Fall bekommen wir keine Arbeit.45

Nicht nur die zu erwartende Situation bei ihrer Rückkehr spielt bei der Entscheidung, in Deutschland zu bleiben, eine Rolle, sondern auch die Erfüllung impliziter Erwartungen der hiesigen Mehrheitsgesellschaft. Vielfach wird in den Petitionsbegründungen die gesellschaftliche Zugehörigkeit über eine formale Anpassung, die einer Assimilation an das Idealbild eines unauffälligen, arbeitenden und nicht dem deutschen Sozialsystem zur Last fallenden Migranten gleichkommt, artikuliert. Andererseits durften viele vietnamesische Staatsbürger*innen, auch wenn diese abgeschoben wurden, nicht in die Volksrepublik einreisen.46 Die Unsicherheit zog sich noch viele Jahre hin. Auffällig ist, dass nachdem die Bundesregierung mit Vietnam am 21. Juni 1995 ein Rücknahmeabkommen – im Austausch von Entwicklungs- und Wiedereingliederungshilfe – vereinbart hatte, besonders viele Petitionen von Vietnames*innen den Landtag erreichten, insbe43 44 45 46

Petition 15. Dezember 1996, Nr. 380/11/1880/02/03849/8. Petition 15. August 1991, Nr. 380/3/1880/01/00678/2. Petition 28. Februar 1992, Nr. 380/4/1880/91/01354/2. Petition 9. August 1993, Nr. 380/1/1880/01/03992/2.

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sondere von denjenigen, die in den letzten Jahren der DDR eingereist waren.47 Allerdings sollte es noch zwei Jahre dauern, bis am 1. November 1997 für die ehemaligen Vertragsarbeiter*innen eine ausländerrechtliche Änderung in Kraft trat. Für sie war damit eine Verbesserung ihres Bleiberechts verbunden. Nun wurden ihre Aufenthaltszeiten in der DDR schließlich doch noch anerkannt.48 Mit der formalen Erteilung einer Aufenthaltsbefugnis erledigte sich die Frage der Zugehörigkeit jedoch noch nicht automatisch. Deshalb sah sich Sandig in seinem vierten Jahresbericht 1997 zu der appellierenden Einschätzung veranlasst: „[B]ei den Einzelfällen [wird] immer wieder deutlich, daß diese Ausländergruppe auch heute noch politisch Unterstützung braucht“.49 4. Ausblick

Eine unter dem Titel „Für Respekt und Anerkennung. Die mosambikanischen Vertragsarbeiter und das schwierige Erbe aus der DDR“50 stattfindende Konferenz, die das Lothar-Kreyssig-Ökumenezentrum der evangelischen Kirche in Mitteldeutschland organisiert hatte, forderte auch zu Beginn des Jubiläumsjahres 2019 weiterhin politische Unterstützung ein. Das Anliegen war, dass die Geschichte der Vertragsarbeit und ihre sich fortlaufend stellenden Probleme „dringend auf die Agenda der Aufarbeitung“ gehörten.51 Im Herbst desselben Jahres stellten Abgeordnete der Partei Die Linke eine Kleine Anfrage an die Bundesregierung, die neben Rentenfragen der Vertragsarbeiter*innen auch auf die Anerkennung dieser Migrationsgeschichte in der bundesrepublikanischen Erzählung und die Kontinuität von Ausgrenzung und Gewalterfahrung vor und nach 1989 und bis in die Gegenwart abzielte.52 Das Themenfeld geriet und gerät meist problembezogen (Rassismus in ‚Ostdeutschland‘) oder periodisch am erinnerungskulturellen Kalender orientiert an die Öffentlichkeit. Der vorliegende Beitrag ist selbst ein Beispiel dafür, denn die Auseinandersetzung mit der Ge-

47 Dieser Entwicklung war u.a. die Einstellung der Gewährung von Entwicklungshilfe seitens des Bundes im Jahr 1994 vorausgegangen. Vgl. SMI an Petitionsausschuss. Petition vom 01.08.1994, Nr. 380/25/ 01/04523/2. Das UNHCR empfahl, vor allem diejenigen zuerst abzuschieben, die als Letztes eingereist waren. Vgl. ebd., Brief vom 12.06.1995. 48 Gemende 1999, S. 58f. 49 Sandig 1997, S. 9. 50 Neumann-Becker/Döring 2020. 51 Döring 2019, S. 30. 52 Deutscher Bundestag Drs 19/14658.

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schichte der Vertragsarbeit in Dresden53 geht auf ein am Institut für Sächsische Geschichte und Volkskunde realisiertes Projekt zurück, das nach den biographischen und gesellschaftlichen Unebenheiten und Ambivalenzen der Transformationszeit und somit auch einer Erfolgserzählung von „1989“, „Friedlicher Revolution“ und „Deutscher Einheit“ fragte.54 So wie es uns dort relevant erschien, Vertragsarbeit zu thematisieren, so gehört die Geschichte der Vertragsarbeiter*innen offenkundig auch zum problematischen Erbe von 1989, wie es der vorliegende Band versteht. Das Problem wird greifbar an der Frage, ob der eventuell zu beobachtende jüngste Trend einer neuen Präsenz der Vertragsarbeiter*innen-Geschichte sich auch hin zu einer ungefragten Repräsentation im Sprechen über Migration in Deutschland bzw. über Deutschland als Einwanderungsgesellschaft entwickeln kann. Ob das mit Hilfe aufwendig recherchierter und kuratierter Informations- und Vermittlungsangebote wie der Web-Dokumentation „Eigensinn im Bruderland“,55 die hier exemplarisch für die Verzahnung von wissenschaftlichen, aktivistischen und erinnerungspolitischen Motiven steht, gelingen kann oder ob es sich lediglich um Effekte der Zahlenmagie historischer Jahrestage und das Interesse beschränkter Teilöffentlichkeiten handelt,56 bleibt abzuwarten. Stattdessen bedürfte es einer „Pluralisierung der bundesdeutschen Migrationsnarrative […], die die deutsche Migration nicht nur von der westdeutschen Gastarbeiter*innenperspektive […], sondern auch von der ostdeutschen Vertragsarbeiter*innenperspektive her [erzählt]. […] Es geht darum, die Frage zu stellen, welche Narrative wir brauchen, um sehr viel selbstverständlicher mit unserer Einwanderungsgesellschaft umzugehen.“57 Dabei bleibt ebenso abzuwarten, ob und wie diese Auseinandersetzung, die bisher häufig auf aktivistische und zivilgesellschaftliche Impulse zurückging, günstigenfalls disziplinenübergreifend in der Forschung angegangen wird. Zur Pluralisierung würde schließlich auch gehören, über die zahlenmäßig sicher bedeutsamsten Gruppen der sogenannten Gast- und Vertragsarbeiter*innen hinauszugehen und etwa anderweitig beschäftigte ‚Ausländerinnen‘, Studierende, Wissenschaftler, Geflüchtete und Asylbewerber*innen einzubeziehen. In einer solchen Migrationsgeschichte nach der deutsch-deutschen Mauergesellschaft58 gibt es Leerstellen und Fallstricke: Wir haben hier relative Erfolgsgeschichten erzählt: Leerstellen zu berücksichtigen hieße, auch die Geschichten in den Blick zu nehmen, die nicht mehr ‚hier‘ erzählt werden können, die nicht in das selbst 53 54 55 56 57 58

Gemende 1999; Kirchberg 2010. Spieker et al. 2019. Enzenbach/Kollath/Oelkers 2019. Nguyen 2020. Ha/Ulrich 2019. Wolff 2019.

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gestiftete Bild des betriebsamen „neuen Ossis“59 oder anerkannten „asiatischen Preußen“60 passen. Allerdings ist bei der zuvor erwähnten Berücksichtigung im Aufarbeitungsparadigma auch das Risiko ungewollter Passivierung, von Fürsprache und vielleicht zum Einschluss in das, was Max Czollek61 im Hinblick auf das deutsch-jüdische Verhältnis noch einmal als Gedächtnistheater, nämlich als Sonderform mehrheitsgesellschaftlicher Integrationsbestrebungen, besprochen hat, groß. In dieser Lesart geraten die Thematisierung und Repräsentation der Vertragsarbeiter*innen-Geschichten lediglich zur Beglaubigung der biographischen und gesellschaftlichen Überwindung historischer Problemlagen und damit zur Affirmation der gegenwärtigen Zugehörigkeitsordnungen. Was zeigt sich beim Thema der Zugehörigkeit der Vertragsarbeiter*innen vom Erbe 1989? Im Blick auf eine marginalisierte Gruppe schärft sich das Bild des Umbruchs: Möglichkeiten und Grenzen der Marginalisierten werden deutlich. Lebensgeschichten derjenigen, die sich behaupt(et)en, werden sichtbar. Sichtbar wird auch, inwieweit verschiedene Gruppen in der Mehrheitsgesellschaft fähig sind, mit neuen Realitäten umzugehen. Diese sind dabei nicht allein Folgen von ’89, denn sicherlich ermöglichten die Umbrüche in den Ostblock-Staaten 1989–1991 das Wiedererstarken globaler Migrationsbewegungen, die sich grob als Ost-West-Migration fassen lassen. Doch die Bundesrepublik kämpfte bereits zuvor mit ihrer Selbstanerkennung als Einwanderungsgesellschaft und führte ihre Asyldebatte dann im Einheitstaumel neu.62 In diesem Zusammenhang sind auch die recht unmittelbaren Folgen von 1989 ins Gedächtnis zu rufen, für die Hoyers­ werda und Rostock-Lichtenhagen zur Chiffre geworden sind. Das ist der – in unterschiedlichen Graden – gewaltsame Ausschluss (rassifizierbarer) Minderheiten, mittels dessen sich ein Homogenitätsanspruch Geltung zu verschaffen sucht, der sich gegen die notwendigen Folgen nach innen diverser und nach außen global vernetzter Gesellschaftsordnungen stemmt. Sowohl durch Vorurteile und alltagsrassistische Praktiken gegenüber als ‚Ausländerinnen‘63 wahrgenommenen Menschen als auch durch Formen gewaltsamer Selbstermächtigung als Politik auf der Straße müssen nicht nur Vertragsarbeiter*innen bis heute ihre Zugehörigkeit praktisch infrage gestellt sehen. Angesichts solcher Homogenitätssehnsüchte, die im Zuge der Renationalisierung nach/seit 1989 Bestand haben, ist es daher wichtig, das Standardnarrativ mit den Attributen „mutig“, „friedlich“ und „deutsch“ durch andere Attribute zu ergänzen. 59 60 61 62 63

Vu 2019. Brandau 2019. Czollek 2019. Meier-Braun 2018; Poutrus 2019. Alexopoulou 2019.

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Dazu tragen die vielfältigen seit 1989 entstandenen Initiativen von Migrant*­ innen(selbst)organisationen bei, die ihre Geschichten hörbar machen64 sowie ihren Anspruch auf fraglose Zugehörigkeit symbolisch zu untermauern suchen. Die Übergabe von Hunderten selbstgenähten Mund-Nasen-Schutzmasken im Zuge der Coronavirus-Pandemie an die Stadt Dresden im April 2020, der wenig später eine Spende von 10.000 industriell gefertigten Masken aus Vietnam folgte, begründete Hung Cao The als Sprecher der vietnamesischen Vereine in Dresden entsprechend: „Wir sind Dresdner und haben eine Verpflichtung, unsere zweite Heimat im Kampf gegen das Virus zu unterstützen.“65 5. Literatur AG Ausländer in der DDR (o.J.): Leitlinien für die Ausländerpolitik in der DDR. Online verfügbar unter https://www.auslaender-in-der-ddr.com/home/runder-tisch/. Gesehen am 23.03.2020. Alexopoulou, Maria (2019): ‚Ausländer‘ – A Racialized Concept? ‚Race‘ as an Analytical Concept in Contemporary German Immigration History. In: Mahmoud Arghavan et al. (Hrsg.): Who Can Speak and Who Is Heard/Hurt? Facing Problems of Race, Racism, and Ethnic Diversity in the Humanities in Germany. Bielefeld: transcript, S. 45–67. Bästlein, Klaus, Enrico Heitzer, Martin Jander, Anetta Kahane und Patrice G. Poutrus (Hrsg.) (2018): Nach Auschwitz: Schwieriges Erbe DDR. Plädoyer für einen Paradigmenwechsel in der DDR-Zeitgeschichtsforschung. Schwalbach/Ts.: Wochenschau Verlag. Berendsen, Eva und Robin Koss (2020): „Anderen wurde es schwindelig.“ 1989/90: Schwarz, jüdisch, migrantisch. In: Wissen schafft Demokratie 7. Schriftenreihe des Instituts für Demokratie und Zivilgesellschaft. Jena: Amadeu Antonio Stiftung, S. 206–219. Böick, Marcus und Kerstin Brückweh (2019): Einleitung „Weder Ost noch West“. Zum Themenschwerpunkt über die schwierige Geschichte der Transformation Ostdeutschland. In: Zeitgeschichte-online. Online verfügbar unter https://zeitgeschichte-online.de/ themen/einleitung-weder-ost-noch-west. Gesehen am 16.06.2021. Brandau, Bastian (2019): Vietnamesen in Dresden. Die asiatischen Preußen. https://www. deutschlandfunkkultur.de/vietnamesen-in-dresden-die-asiatischen-preussen.1001. de.html?dram:article_id=452207. Gesehen am 29.05.2020. Breuer, Wilhelm (1990): Ausländerfeindlichkeit in der ehemaligen DDR. Studie zu Ursachen, Umfang und Auswirkungen von Ausländerfeindlichkeit im Gebiet der ehema64 DaMost 2020. 65 Stadt Dresden 2020a, 2020b.

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Brüche, S-Bahn-Surfen, Neuanfänge Populäre Repräsentationen von ,’89/’90ʻ Jonas Brückner

1. Einleitung

Sei es kultur- und gesellschaftspolitisch, medial oder in der Wissenschaft, das jüngst vergangene 30-jährige Jubiläumsjahr zum politischen Umbruch in der DDR 1989/1990 bewies: Die Debatte um das „Erbe 89“ erfreut sich einer außerordentlichen Lebendigkeit. Das zeigen beispielhaft die Diskussionen über die Ausgestaltung des Museums bzw. der Gedenkstätte Runde Ecke in Leipzig,1 die Kontroverse zwischen Ilko-Sascha Kowalczuk und Detlef Pollack über die Urheber und Trägerinnen der „Friedlichen Revolution“,2 der von Naika Foroutans Studie „Ostmigrantische Analogien“3 ausgelöste Diskurs über Ostdeutsche als Migranten4 oder jüngste Aneignungsversuche der „Friedlichen Revolution“ durch sogenannte Querdenker.5 Die Anlässe und Gründe hierfür sind vielfältig und komplex. Abgesehen davon, dass ein rundes Jubiläum sicher die Diskursmaschine anheizt, liegen die grundsätzlichen Ursachen im erneuten Aufflammen der Deutungskämpfe um ,’89/’90‘ und die ostdeutsche Transformation im Aufeinandertreffen von Problemdruck einerseits und Artikulationspotenzial andererseits. Anhaltend erfolgreiche rechtspopulistische bis rechtsextreme Mobilisierung in den Neuen Bundesländern und die folgende Ursachenforschung trifft auf einen größeren zeitlichen Abstand zu ,’89/’90‘, der die Ereignisse auch neu bewertbar macht, wofür wiederum eine gestiegene öffentliche Aufmerksamkeit vorhanden ist. Während Zeitzeugen ihre persönlich-biographischen wie kollektiven Erfahrungen zu ,’89/’90‘ in künstlerischen Werken neu befragen, nutzen zunehmend auch jüngere Menschen diese Möglichkeit, um die Bedeutung des politischen 1 2 3 4 5

MDR 2019. Havemann-Gesellschaft 2019. Foroutan et al. 2019. Der Spiegel 2019. Stach/Hartmann 2020.

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Umbruchs und spezifisch ostdeutsche Erfahrungsräume zu erkunden. Auch in der künstlerisch-kulturellen Auseinandersetzung mit dem Erbe der DDR und ihrem Ende lassen sich Konjunkturen beobachten. Besser fassen lässt sich diese Entwicklung aber als ein von Kontinuitäten wie Wandlungen unterworfener Prozess, der im Zuge der oben genannten Debatten eine neue Sichtbarkeit erfährt. In diesem Zusammenhang sollen im Folgenden Antworten auf die Fragen gefunden werden: Wer sind die Urheber*innen der Werke, die sich mit , ’89/’90‘ auseinandersetzen? Welche Geschichtsbilder drücken sich in diesen Werken aus (und welche nicht)? Welche Trends gibt es in Bezug auf die eingenommenen Perspektiven und Stoffe? Und wie hängen diese Entwicklungslinien in der künstlerischen Auseinandersetzung mit der Erinnerungskultur zusammen? 2. Populäre Geschichtskultur als Impulsgeber

Die Darstellung fußt auf einer Bestandsaufnahme seit 1989 erschienener Musikstücke bzw. -videos, fiktionaler Literatur und Spielfilmen, die direkt oder indirekt den gesellschaftlichen Umbruch seit 1989 thematisieren. Die Betrachtung dieser ästhetischen Komponente einer allgemeinen Geschichtskultur stellt dabei eine bedeutsame Perspektive auf das Wechselgeflecht ihrer Dimensionen dar. Wenngleich auch nur analytisch von anderen (wie etwa von der kognitiven oder politischen) trennbar, kommt der ästhetischen Dimension insofern eine spezielle Rolle zu, als in einer medial repräsentierten „narrativen Kohärenz“ von (Zeit-)Geschichte der Zusammenhang von abstrakter Geschichtskultur mit konkreten Lebenswelten veranschaulicht wird.6 Anders gesagt: Populäre Repräsentationen von Geschichte ermöglichen in der Freiheit der fiktionalisiert-verdichteten Narration eine niedrigschwellige, an Erfahrungen von Produzentinnen wie von Rezipienten rückgebundene Analyse (impliziter) Geschichtsdeutungen und deren Wandel. Ich fasse die Untersuchungsgegenstände in diesem Sinne als „populäre Geschichtskultur“ auf, also als „Darstellungen in textueller, visueller, audiovisueller sowie performativer Form […], die Wissen über die historische Vergangenheit in einer verständlichen, attraktiven Weise präsentieren und ein breites Publikum erreichen“.7 Kriterien der Auswahl für diese Repräsentationen sind, dass sie eine gewisse Zugänglichkeit in dem Sinne aufweisen, dass sie textimmanent verständlich sind, Information mit Unterhaltung verbinden und kohärente Narrative herstellen. Eine massenhafte Verbreitung wird in vorliegender Darstellung als ein 6 7

Rüsen 2014, S. 48. Korte/Paletschek 2009, S. 13.

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relatives Kriterium im Rahmen einer Gesamtschau gewertet, um die Untersuchungsgegenstände kontextabhängig betrachten zu können.8 Dies ist relevant, weil im aufgeladenen Feld konkurrierender Narrative von „’89“ gerade auch marginale oder nur in Teilöffentlichkeiten rezipierte Deutungsmuster Aussagekraft entfalten. Im Zusammenhang mit ebenjenen Geschichtsbildern und entsprechenden Narrativen können diese populären kulturellen Repräsentationen in Anlehnung an das von Astrid Erll und Stephanie Wodianka am Beispiel des Films entwickelte Konzept als „Verbreitungsmedien“ betrachtet werden.9 Verbreitungsmedien definieren sich im Anschluss an die Assmann’schen Speichermedien weniger darüber, langfristig, bereits relativ stabilisiert und gesellschaftlich identitätsstiftend zu wirken, als vielmehr darüber, in (teil-)öffentlichen Diskursen, gleichsam einem „erinnerungskulturellen Netz“,10 als Impuls- und Anlassgeber fungieren zu können. Verbreitungsmedien wie beispielsweise Musikvideos, Romane oder Spielfilme sind in dieser Analyseperspektive also (noch) keine Institutionen eines kulturellen Gedächtnisses, aber Mittel der Aushandlung gesellschaftlicher Erinnerungskulturen. 3. Populäre Repräsentationen in Musik, Literatur und Film

Bei dem untersuchten Quellenkorpus handelt es sich um deutschsprachige Erstveröffentlichungen von Musikstücken und -videos (siehe 3.1), fiktiver Literatur (3.2) und Spielfilmen (3.3), die seit 1989 erschienen sind und die den gesellschaftlichen Umbruch von 1989/1990 selbst oder die frühen 1990er Jahre in Ostdeutschland direkt oder indirekt behandeln. Ebenfalls mit in den Blick genommen werden Werke, in denen ostdeutsche Erfahrungsräume thematisiert werden. Diese Erfahrungsräume heben weniger auf eine kollektive oder gar homogene ostdeutsche Identität ab,11 sondern reflektieren einen „erinnerungsgemeinschaftliche[n] Zusammenhang, der variationsreich aktualisiert werden kann“.12 Diese Perspektive erlaubt es, auch (fiktionalisierte) Lebenswelten seit 1989 und in der jüngeren Zeit zu betrachten, die durch das Erbe der DDR oder den „Wiedervereinigungs“Prozess geprägt sind, ohne dass diese selbst einen Schwerpunkt bilden oder explizit aufgerufen werden müssen. Damit sind freilich auch Autor*innen und deren Erzählungen eingeschlossen, die nicht wesentlich in der DDR sozialisiert worden 8 9 10 11 12

Hecken/Kleiner 2017, S. 3; Storey 2017, S. 24f. Erll/Wodianka 2008, S. 1ff. Ebd., S. 13. Kowalzcuk 2019, S. 85ff. Mau 2019, S. 212.

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sein müssen – sowohl Westdeutsche als auch in den 1980er Jahren oder später geborene Personen aus DDR-geprägten Familienzusammenhängen. 3.1 Musikstücke und -videos

Beim Erschließen des Feldes fällt zunächst auf, wie selten ,’89/’90‘ und ostdeutsche Erfahrungsräume Thema sind:13 Die vergleichsweise geringe Zahl von 34 zwischen 1990 bis 2020 erschienenen Musikstücken kann als Gradmesser dafür verstanden werden, dass Musik kein einschlägiges Mittel und Medium dieser Verhandlung ist. Innerhalb dieses Spektrums zeichnet sich zudem ab, dass die musikalische Bearbeitung des Themas zu etwa zwei Dritteln von Musiker*innen vergleichsweise jüngerer Jahrgänge ab 1970 geprägt ist und die Werke größtenteils, ebenfalls zu etwa zwei Dritteln, erst seit 2010 erschienen sind. Nichtsdestotrotz lassen sich verschiedene Phasen der musikalischen Bearbeitung identifizieren. Am Anfang stehen dabei die „Wendelieder“, die unmittelbar 1989 oder bereits davor entstanden. Sie wurden während oder kurz nach den Herbstereignissen populär rezipiert und gleichsam in diesem konkreten neuen Kontext in ihrer Bedeutung reaktualisiert – als Ausdruck der Freude über Mauerfall und Deutsche Einheit. Beispiele hierfür sind etwa Pink Floyds „Another Brick in the Wall“ (1979), David Hasselhoffs Cover von „Looking for Freedom“ (1989), „Freiheit“ (1987) von Marius Müller Westernhagen und nicht zuletzt „Wind of Change“ (1989) von den Scorpions. Von diesen erfolgreichen, neu angeeigneten Wendeliedern westlicher Musiker müssen jene unterschieden werden, die noch aus DDR-Zeiten stammen und nun wiederaufgelegt und neu gedeutet wurden, etwa die 1990er Neuauflage einer gemeinsamen Version von „Über Sieben Brücken musst du gehen“ von Karat (Ost) und Peter Maffay (West), oder das Lied „Als ich fortging“ (1987) der aus der DDR kommenden Gruppe Karussell.14 Die wenigen in den frühen bis mittleren 1990er Jahren entstandenen Stücke spiegeln vor allem in ironisch bis beißend-kritischer Weise erste Enttäuschungen der nun zu Ostdeutschen gewordenen DDR-Bürger*innen. Diese beziehen sich auf die negativ wahrgenommenen Konsequenzen des Vereinigungsprozesses wie auch den Einigungsprozess an sich. Hervor treten vor allem Gruppen und Künstler*innen 13 Vgl. auch die Beiträge von Anna Lux und Andreas Kötzing in diesem Band. 14 Dabei besteht ein interessantes Forschungsdesiderat in der Frage, welche Bevölkerungsgruppen jenseits der medialen und damit westdeutsch geprägten Rezeption welche Werke als „Wendelieder“ rezipiert und mit welchem spezifischen Sinngehalt wahrgenommen haben.

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in den Spielarten des Punks, etwa Nina Hagens „Erfurt & Gera“ (1991) oder Feeling B mit „Ich such die DDR“ (1991). Vereinzelt kommentieren auch westdeutsch sozialisierte Musiker*innen die wiedervereinigten Verhältnisse, so etwa in „Hurra“ (1995) der Gruppe Die Ärzte und ihrem ironischen Spott auf das öffentlich zelebrierte Glück der Einheit. Ein anderes Beispiel ist Bernd Begemanns „Kein Glück im Osten“ (1996), in dem die Kommunikationsschwierigkeiten eines westdeutschen Musikers in den neuen Bundesländern besungen werden. Eine absolute Ausnahme im musikalischen Feld stellt Gerhard Gundermanns „Hier bin ich geboren“ (1995) dar, in dessen Text bereits früh eine trotzig-selbstbewusste bis kritische Reflexion über Herkunft und Handeln in der DDR angestellt wird. Wobei sich auch hier eine kritische Bestandsaufnahme der Gegenwart der 1990er zeigt: „Hier isses heute nicht besser als gestern“. In einem Zusammenhang mit dem politischen Umbruchsprozess 1989/1990 stehen zudem musikalische Antworten auf den sichtbaren Ausbruch neonazistischer und rassistischer Gewalt im gesamten wiedervereinigten Deutschland Anfang der 1990er Jahre.15 Die in großen Teilen der gesamtdeutschen Bevölkerung virulent gewordene nationalistische Stimmung wie auch konkrete rassistische Gewalttaten (wie in Mölln, Solingen, Hoyerswerda und Rostock) werden in Songs von ost- wie westdeutschen Musikern, so zum Beispiel Die Prinzen, Anarchist Academy, Die Goldenen Zitronen und Die Ärzte, interessanterweise gerade nicht als typisch ost- oder westdeutsches Phänomen behandelt. Teile der Musik(sub) kultur setzten eher einen kritischen Schwerpunkt auf die historischen Kontinuitäten rechten Denkens und rechter Gewalt in Deutschland anstatt auf die Differenz zwischen Ost und West. Nach diesen unmittelbaren Thematisierungen entstanden im weiteren Verlauf der 1990er bis weit in die 2000er Jahre hinein kaum neue Stücke, die sich explizit mit Umbruchs- und Nachwendeerfahrungen auseinandersetzen. Gut eineinhalb Jahrzehnte lang herrschte in der Musik ein aus heutiger Sicht eigentümliches Schweigen. Dies mag damit zusammenhängen, dass mit der weitverbreiteten Rückbesinnung (und möglicherweise neuen Bedeutung) auf das Werk bekannter Musiker*innen aus der DDR einerseits und der Konzentration auf das nun umfänglich frei verfügbare Werk aus globalen Kontexten sowie der Etablierung neuer Stile in der elektronischen Musik andererseits zunächst kein Bedarf an ostdeutscher Selbstreflexion bestand. Darüber hinaus wäre zu vermuten, dass der Transformationsschock der Nachwendezeit zunächst mit einer Sprachlosigkeit im Hinblick auf diese Erfahrung und auch auf Fragen der eigenen Herkunft einher15 Vgl. auch Büsser 2010, S. 101.

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ging. In dieser Lesart dürfte es auch generationsübergreifend für viele Ostdeutsche einige Jahre gedauert haben, bevor der Systemwechsel – zumindest im Feld Musik – auch künstlerisch verbalisiert werden konnte. Einzige Ausnahme bildet hier das Stück „Wir sind Wir“ (2004) des aus Eisenhüttenstadt stammenden DJs und Produzenten Paul van Dyk und des Hamburgers Peter Heppner als Sänger. Im Abschreiten der deutschen Geschichte ab Ende des Zweiten Weltkrieges wird auf textueller Ebene wie auch mittels visueller Illustration im Musikvideo in der Frage nach übergeordneter Identität durchaus eine deutsch-deutsche Perspektive eingenommen. Dabei findet auch die sozialistische Utopie Erwähnung. Gleichwohl wird ihr Scheitern deutlich gemacht, wobei der Mauerfall – im Musikvideo unterlegt mit einschlägigen ikonographischen Darstellungen – als glücklicher Schlusspunkt einer westlich-liberalen Fortschrittserzählung dargestellt wird. Das Lied ist ein Beispiel dafür, dass die DDR allmählich auch jenseits einer einseitigen Fokussierung auf den autoritären Staatsapparat thematisiert werden kann. Dabei stehen die Deutsche Einheit und damit indirekt auch ihre konkrete Ausgestaltung als historischer Glücksfall außer Frage. Das sich darin ausdrückende Geschichtsverständnis ist zu diesem Zeitpunkt staatstragend – wie sich in der Liveaufführung des Liedes beim Staatsakt zum Tag der Deutschen Einheit 2005 zeigte. Dass durchaus ein Wille zum Zusammenwachsen besteht, verdeutlicht ein anderes ost-west-deutsches Duo. Ute Freudenberg und Christian Lais besingen in „Auf den Dächern von Berlin“ (2011) sehr unterschiedliche Erfahrungswelten in DDR und BRD, betonen aber vor allem das Gemeinsame eines jugendlichen Lebensgefühls dies- wie jenseits der Mauer. In der Aneinanderreihung von vordergründig unpolitischen Klischees über das Leben in Ost und West sowie dem unbedingten Willen zur, wohl dem Genre des Schlagers geschuldeten, guten Stimmung wird auf bemerkenswerte Art gegenseitige Bezugnahme deutlich. Dass östliche und westliche Nostalgie gleichberechtigt nebeneinanderstehen können, lässt sich zwei Jahrzehnte nach der sogenannten Wiedervereinigung als eine Normalisierung im Reden bzw. Singen über das Zusammengehen der beiden deutschen Teilgesellschaften verstehen. Mit den Erfolgs- und Fortschrittsgeschichten ist jedoch zumindest in der Musik seit den 2010er Jahren zunehmend Schluss. Vorreiter war hier die Chemnitzer Gruppe Kraftklub, speziell mit ihrem Lied „Karl-Marx-Stadt“ (2012). Der Text behandelt, ausgeprägt hedonistisch, Klischees vom Leben in der abgehängten ostdeutschen Provinz und den damit verbundenen sozialen Problemlagen, überspitzt sie ironisch, leugnet sie aber nicht. Dabei bleibt kein Zweifel, dass man sich mit der DDR-Herkunft und ostdeutscher Gegenwart auch als Nachgeborener durchaus selbstbewusst beschäftigen, vielleicht teilweise auch identifizieren kann.

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Kraftklub waren dabei wohl die ersten ostdeutschen Musiker (ganz überwiegend Männer), die die DDR gar nicht mehr oder kaum noch bewusst erlebt haben und nun einen neuen Ton in die musikalische Auseinandersetzung mit dem Erbe von ,’89/’90‘ bringen. Die Einstellungen, musikalischen Stile und thematischen Bezüge unterscheiden sich dabei ganz erheblich. Letztere reichen von einem starken Lokal- oder Regionalfokus über das Leben und Überleben in der Provinz bis hin zu einer kritischen Auseinandersetzung mit der Umbruchs- und Nachwendezeit. Was diese Generation von Musikern verbindet, ist das subtile Mitschwingen bis explizite Beschreiben von ostdeutschen Erfahrungsräumen – beispielsweise in dem Werk von Feine Sahne Fischfilet, Marteria (Mein Rostock, 2014), Pisse („Scheiß DDR“, 2015), dem ost-west-deutschen Duo Zugezogen Maskulin (beispielsweise „Plattenbau O.S.T.“, 2015, „Uwe & Heiko“, 2017). Weitere gemeinsame Merkmale sind, dass diese Gruppen nie monothematisch zu „ostdeutscher Herkunft“ arbeiten, es sich vielmehr um ein Thema, oft auch nur einzelne Stücke, unter vielen handelt und diese Gruppen in ihren jeweiligen Sparten in Westdeutschland ebenso erfolgreich sind. Es lässt sich hier also ein Bewusstsein für DDR- und ostdeutsche Bezüge erkennen, wobei zu bezweifeln ist, ob sich diese Gruppen und ihre Fans überhaupt oder ausschließlich als ostdeutsch identifizieren. Auch wenn aufgrund der insgesamt geringen Anzahl einschlägiger Werke Verallgemeinerungen schwierig sind, lassen sich die aufgefundenen Stücke doch als Ausdruck eines ab etwa 2014 manifestierenden, gesamtgesellschaftlichen Trends zur Pluralisierung der Perspektiven auf die Umbruchszeit und ihre Folgen verstehen. Dieser ist auch in der Musik von einer Vervielfältigung der Akteure, Reaktualisierungen der (zeit-) geschichtlichen Motive und generell einem geringeren Fokus auf die Herbstereignisse 1989 gekennzeichnet. Weitere Beispiele sind etwa die Hamburger Gruppe Kettcar, die vor dem Hintergrund der Migrationsbewegungen nach Europa ab 2015 an die Legitimität von Fluchthilfe aus der DDR 1989 („Sommer 89“, 2017) erinnert. Die ebenfalls aus Hamburg stammenden Goldenen Zitronen historisieren mit „Das war unsere BRD“ (2019) die „alte“ Bundesrepublik, was zugleich als Abgesang auf die DDR als historische Ausnahme interpretiert werden kann. Der aus Frankfurt/Oder stammende Nils Wehowsky spielt als Kunstfigur Finch Asozial hochgradig stilisiert und als wesentlichen Bestandteil seines Werkes mit Klischees von Ostdeutschland. Die Gruppe City meldet sich mit einer aktualisierten Bestandsaufnahme des Lebens in der DDR zurück („Mein Land“, 2019), während mit Veronika Fischer ein Schwergewicht der ostdeutschen Popmusik ihren mit „Panta Rhei“ entstandenen Klassiker aus den 1970er Jahren zusammen mit dem aus Stuttgart stammenden Hiphopmusiker Max Herre neu interpretiert („Nachts“, 2019). Gleichzeitig schließen diese Pluralisierungstendenzen auch den Fortbestand geschichtspolitisch konservativer Bezüge von ,’89/’90‘ als erfolgreiche

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Einheitserzählung16 mit ein – etwa bei Eko Freshs „1989“17 (2019), der dieser Erzählung zugleich eine postmigrantische Perspektive hinzufügt. Beispiel Romano „König der Hunde“ Romano, bürgerlich Roman Geike, ist 1977 in Ost-Berlin geboren, womit er den politischen Umbruch etwa an der Schwelle seiner Jugendzeit und die nähere Nachwendezeit als Jugendlicher erlebte. Diese Zeit ist auch Gegenstand seines Musikstücks „König der Hunde“18 und des dazugehörigen Musikvideos vom 2017er Album „Copyshop“. Auffällig ist zunächst, dass der Mauerfall im Musikvideo nicht den Endpunkt der Erzählung markiert, sondern in einschlägig ikonographischen, aber farblich verfremdeten Bildern die Exposition des eigentlichen Liedtexts darstellt. Er ist geschichtliche Bedingung und erzählerischer Ausgangspunkt, aber gleichzeitig nicht zentrales Motiv. Vielmehr geht es im Folgenden um ein jugendliches Erleben der Zeit nach dem Mauerfall und der früheren Nachwendezeit in (Ost-)Berlin. Zentrale Motive sind positiv wahrgenommene, neue Konsum- und Entfaltungsmöglichkeiten. Neben der „Couch von Quelle“ bezieht sich das auch auf das lustvolle Ausprobieren ganz unterschiedlicher Kultur- wie Lebensstile von „Breakdance und Karate“ über Hiphop bis Techno, von „Kellerlochpartys“ bis „S-Bahn surfen durch Berlin“. Sowohl textlich als auch auf der visuellen Ebene des Videos wird ein Zusammenfallen vom Ende der Kindheit und dem der DDR als Gesellschaftssystem verdeutlicht: Trägt Romano zu Beginn noch eine Pionieruniform, wird diese mit einem Schnitt genau in der Textzeile „Pioniertuch im Müll, ich mach was ich will“ mit einer Collegejacke getauscht. Deutlich werden auch ambivalente und negative Erfahrungen geschildert, wie etwa der „verlor’ne Durchblick“ in der Schule oder die prekäre Lage und zeitweise Abwesenheit der Eltern. Vor allem jedoch wird eine Umgebung dargestellt, die eben auch von großer Rauheit bis Gewalt geprägt war. Das bezieht sich einerseits auf die allgemeine Atmosphäre, wird andererseits mit Anspielung auf „Springerstiefel, Stahlkappen, Baseball-Schläger“ hinsichtlich rechter Gewalt konkretisiert. Auf den Punkt gebracht wird diese komplexe Gemengelage im Refrain: Wir ziehen Freiheit auf Lunge Von null auf hundert, eine Sekunde 16 Handro 2011, S. 94ff. 17 Ein Auftragswerk der Bundeszentrale für politische Bildung. 18 Romano 2017.

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Komm wir dreh’n noch ne Runde Dickes Fell, kleiner Junge Nackt unter Wölfen im Großstadtdschungel König der Hunde

Deutlich werden: schlagartige, lustvolle, bisweilen überfordernde Freiheit, eine klare Notwendigkeit, hier aber auch die prinzipielle Möglichkeit, sich gegen die Härten dieses Umfeldes verteidigen zu müssen. Interessant ist die Referenz auf Bruno Apitz’ antifaschistischen Roman „Nackt unter Wölfen“, der zum schulischen Kanon der DDR gehörte. In dieser Aktualisierung (und Rekontextualisierung) des Stoffs wird einerseits eine biographische Herkunft markiert und andererseits ein Ausgeliefertsein in einer gewaltförmigen Erwachsenenwelt verdeutlicht. Hier liegt ein wiederkehrendes Muster in der künstlerischen Bearbeitung des Themas für Personen vor, die in der Umbruchszeit Kinder oder Jugendliche waren: Die Grenzöffnung selbst kann als relevanter Einschnitt vorkommen, ist aber nicht das zentrale Thema. Schwerpunkte sind vielmehr die Ambivalenz von Entfaltungsmöglichkeiten und Orientierungslosigkeit sowie verschiedenste Gewalterfahrungen. 3.2 Fiktionale Literatur

Mit Blick auf die fiktionale Literatur ist in Bezug auf den Gegenstandsbereich des politischen Umbruchs 1989/1990 die vor allem literaturwissenschaftlich und erinnerungskulturell geführte Debatte über die Definition von „Wendeliteratur“ von Belang.19 Im Sinne der eingangs geschilderten Materialgrundlage und Analyseperspektive wird Wendeliteratur in Anlehnung an Bach verstanden als fiktionale und autofiktionale Literatur, die einen „thematisch-stofflichen Bezug“ zu den Umbruchereignissen aufweist und nach 1989 erschienen ist. Damit liegt freilich ein Schwerpunkt auf Werken, die retrospektive, (semi-)fiktionalisierte Perspektiven auf den Umbruch einnehmen.20 In der fiktionalen Literatur zeigt sich dabei ein deutlich anderes Bild als in der Musik. Ins Auge fällt zunächst, dass die Anzahl der Veröffentlichungen im Themenfeld nach den genannten Kriterien weitaus höher ist – im Rahmen der vorliegenden Untersuchung wurden 138 zwischen 1989 und 2020 erschienene Werke betrachtet. Von den 95 Autor*innen dieser Werke sind, dem Namen nach, etwa 19 Vgl. zur Übersicht Bach 2017, S. 21ff. 20 Ebd., S. 24f.

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zwei Fünftel Frauen und drei Fünftel Männer. Deutlich über zwei Drittel sind Personen mit DDR-Sozialisation oder DDR-Familienhintergrund. Autor*innen mit eigener oder familiärer Migrationsgeschichte von außerhalb Deutschlands sind die Ausnahme. Ab Beginn der 1950er Jahre sind nahezu alle Geburtenjahrgänge vertreten. Auch im Bereich Literatur erscheinen in den 1990er Jahren relativ wenig Werke (22 bis einschließlich 1999), was auch hier für die These von einem weitverbreiteten Transformationsschock unter den nun zu Ostdeutschen Gewordenen spricht. Veröffentlichungen im ersten Jahrzehnt nach dem politischen Umbruch stammen vor allem von bereits in der DDR etablierten Schriftsteller*innen. Diese erste Phase ist geprägt von erzählerischen Perspektiven, die sich häufig kritisch bis resigniert dem Untergang der DDR, der Umbruchszeit selbst, dem Einigungsprozess und Verlusterfahrungen widmen.21 Dabei werden in der fiktionalen Literatur bereits früh Reflexionen über eine „spezifische Eigentümlichkeit“ der Ostdeutschen angestellt22 und teilweise schon längere Linien des Lebens in der DDR und in Ostdeutschland nach 1989 mitthematisiert. Beispiele sind etwa Stefan Heyms „Auf Sand gebaut. Sieben Geschichten aus der unmittelbaren Vergangenheit“ (1990) oder Christa Wolfs „Medea. Stimmen“ (1996). Hinzu kommen erste literarische Auseinandersetzungen mit der mentalen und sozialen Problemlagen der unmittelbaren Nachwendezeit, etwa bei Brigitte Burmeisters „Unter dem Namen Norma“ (1994) oder Helga Königsdorfs „Im Schatten des Regenbogens“ (1993). Ab den 2000er Jahren (und damit früher als in der Musik) sind die Veröffentlichungen im Themenfeld, gemeinsam mit zunehmend stärkerer Beteiligung von Autor*innen der Geburtenjahrgänge ab den 1960er Jahren, von einer deutlichen quantitativen Ausweitung sowie Diversifizierung der betrachteten Zeiträume und Sujets geprägt. Dies geht einher mit einem Trend zu einer weniger emotionalisierenden, eher historisierenden und analytisch-rationalen Verarbeitung des Umbruchs, wenngleich dessen Thematisierung als „Unbegreiflichkeit“ erhalten bleibt.23 Dabei kann angenommen werden, dass eine gewisse zeitliche und damit auch „epische Distanz“24 zu den Umbruchereignissen notwendig war, bevor diese in einem größeren, zahlenmäßigen Umfang wie auch in größerer Tiefe bearbeitet werden können. Diese Distanz konvergiert freilich mit einer anderen biographischen Perspektive auf die Umbruchszeit der nun veröffentlichenden Autor*innen, 21 22 23 24

Wehdeking 2015, S. 28; Gabler 2011, S. 175. Gabler 2011, S. 170f. Ebd., S. 184. Wehdeking 2015, S. 30f.

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die 1989/1990 tendenziell als junge Erwachsene erlebt haben. Eine typische Erscheinungsform in dieser Phase der literarischen Verarbeitung ist der „Generationenroman“, in dem einerseits historische Aufarbeitungen wie andererseits Identitätsfragen in Bezug auf die (post-)sozialistische Gesellschaft anhand von familiären Generationenfolgen reflektiert werden. In den Blick geraten hier teilweise transgenerationale Auseinandersetzungen mit der Geschichte der DDR bis zu deren Ende und bis in die Nachwendezeit, die weniger den Umbruch 1989/1990 selbst, sondern die langen Linien hin zu dieser Entwicklung und darüber hinaus beschreiben. Diese langen Linien stellen sich in den untersuchten Werken überwiegend in der diachronen Dimension dar, also einer Erzählperspektive, die die ungleichzeitige Verknüpfung von zwei oder mehr Generationen betrachtet.25 Ein frühes Beispiel für eine so angelegte Erzählung ist etwa Christoph Heins „Landnahme“ (2004), später folgen zum Beispiel Maxim Leos „Haltet euer Herz bereit“ (2009) oder Regina Scheers „Machandel“ (2014). Ein weiterer Trend in der Zeit ab der Jahrtausendwende besteht in der deutlich autobiographisch beeinflussten Auseinandersetzung mit Kindheit und Jugend in der späten DDR, mit dem Umbruch 1989/1990 und der frühen Nachwendezeit. Beispiele für den Fokus auf die häufig als relativ sorglos und weitestgehend „normal“ beschriebene Kindheit in der späten DDR wie auch den generell „unbeschwerten“ Zugang zu ihrem persönlichen Erbe26 sind etwa „Mein erstes T-Shirt“ (2001) von Jakob Hein oder „DJ Westradio. Meine glückliche DDR-Jugend“ (2007) von Sascha Lange. Werke, die die Umbruchserfahrung selbst aus jugendlicher Perspektive betrachten, sind etwa Robert Ides „Geteilte Träume. Meine Eltern, die Wende und ich“ (2007) oder Peter Richters „89/90“ (2015). Zunehmend in den Blick geraten auch Werke, die in unterschiedlichen Akzentuierungen den Übergang von der späten DDR in die frühe Nachwendezeit erzählen, wobei dieser gesellschaftliche Übergangsprozess mit dem Entwachsen der Kindheit oder dem Erwachsenwerden der Protagonist*innen zusammenfällt. Clemens Meyer gehörte in diesem Zusammenhang mit „Als wir träumten“ (2006) zu den Vorreitern, ab Mitte der 2010er Jahre kann man von einem regelrechten Trend auf diesem Gebiet sprechen. Zu nennen sind hier etwa Manja Präkels „Als ich mit Hitler Schnapskirschen aß“ (2017) oder Julia Schochs „Mit der Geschwindigkeit des Sommers“ (2018). Dabei lässt sich feststellen, dass, je länger der Umbruch 1989/90 zurückliegt, die Erfahrungen eines unbeschwerten Lebens in der DDR oder die Entfaltungsmöglichkeiten in oder nach der Umbruchszeit zunehmend durch Schilderungen prekärer Lebenslagen und Gewalterfahrungen in der Nachwendezeit wie auch 25 Bernhard Jahn zitiert nach Bach 2017, S. 30. 26 Wehdeking 2015, S. 50.

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darüber hinaus ergänzt werden. Wobei die zuvor genannten positiven Aspekte gleichzeitig nicht verschwinden. Wendeliteratur war schon seit 1989 von einer relativen Stetigkeit der Veröffentlichungen mit einem entsprechenden thematischstofflichen Bezug und einer Pluralität eingenommener Perspektiven geprägt. Dabei verstärkt sich jedoch mit zunehmendem zeitlichen Abstand tendenziell der erzählerische Schwerpunkt auf Kontinuitäten über 1989/90 hinaus – zu Ungunsten von erzählerischen Verdichtungen eines „alles verändernden Bruchs“. Während auch die Angehörigen der Jahrgänge mit eigener Lebenserfahrung in der DDR bis heute Werke im Themenfeld veröffentlichen, treten allmählich auch erste Autor*innen auf die Bühne, die die DDR nur noch als kleine Kinder erlebt haben oder nach ihrem Ende geboren wurden (aber aus in der DDR lebenden Familien stammen). In augenscheinlicher Nähe zu persönlichen Erfahrungshorizonten werden dabei Spurensuchen in spezifisch ostdeutschen Gegenwarten angestellt. Dies geschieht etwa in direktem Bezug und mit Fokus auf eine DDR-Familienbiographie bei Paula Fürstenbergs „Familie der geflügelten Tiger“ (2016), hinsichtlich einer neuen Sichtbarkeit von Rechtsradikalismus in der sächsischen Provinz bei Lukas Rietzschels „Mit der Faust in die Welt schlagen“ (2018) oder bei Olivia Wenzels „1000 Serpentinen Angst“ (2020) im Erkunden von Erfahrungen des Schwarzseins und mit Rassismus, die zugleich komplex mit einer DDR-Herkunft verflochten werden. Auch wenn sich zum gegenwärtigen Zeitpunkt kaum sagen lässt, ob sich darin ein bedeutsamer Trend widerspiegelt, zeigt sich doch, dass spezifisch ostdeutsche Erfahrungsräume auch für die „Spät- und Nachgeborenen“ der DDR ein Thema zu bleiben scheinen. Beispiel Paula Irmschler „Superbusen“ Eine solche „Nachgeborenen“-Perspektive lässt sich anhand des 2020 erschienenen Romans „Superbusen“ der 1989 in Dresden geborenen Paula Irmschler veranschaulichen. Der Roman erzählt größtenteils rückblickend aus der Perspektive der Hauptprotagonistin, der ebenfalls aus Dresden stammenden Gisela, über einen Zeitraum vom Beginn ihres Studiums in Chemnitz 2010 bis hin zu den dortigen rechtsradikalen Ausschreitungen im Sommer 2018. Während Giselas Studium eher ein Nebenschauplatz bleibt, nimmt die Handlung eine breite Perspektive biographischer Entwicklung der Hauptfigur ein: von dem Verlassen der Heimatstadt, dem Ankommen und Hineinwachsen in ein neues Umfeld und der Etablierung einer neuen Normalität, die durch ein dichtes Wechselspiel zwischen emotionaler, sozialer und materieller Prekarität wie auch erfolgreicher Selbstbehauptung geprägt ist.

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Bezüge zu ostdeutschen Erfahrungsräumen sind in der Erzählung vielfach präsent, zunächst in Form familiären Anekdotenerzählens über die DDR-Zeit, welches von Gisela jedoch als ritualisiert und teilweise befremdlich beschrieben wird. Ostdeutsche Erfahrungen entstehen für die Hauptfigur weniger in Rückgriff auf die historische Vergangenheit, sondern durch selbsterlebte Differenzerfahrungen, die bereits in der Kindheit beginnen. In der Grundschule habe sich ein „Wessimädchen“27 etwa dadurch unterschieden, dass sie einen andersartigen Dialekt gesprochen und sich durch scheinbare Weltläufigkeit ausgezeichnet habe. Wenngleich Gisela damit durchaus einen Statusunterschied verbindet, deutet die Figur dies doch weniger als Ausdruck der (westdeutschen) Herkunft als vielmehr als erfolgreiches Entsprechen normativer Erwartungen an ein ‚anständiges Mädchen‘: „Alle bewunderten sie. Sie war irgendwie besser als alle anderen. Aber das war eher Zufall. Sie hatte blonde Locken, saubere Hefte und war wirklich klug“.28 An anderer Stelle zeigt sich eine solche Differenzerfahrung, als die Hauptprotagonistin mit ihrer Band „Superbusen“ auf Tour geht und sie und ihre Bandkolleginnen Station in westdeutschen Städten machen. Neben gewissermaßen gesamtdeutschen und ihnen vertrauten Codes und Praxen linker Subkultur stößt Gisela hier auch auf deutliche Unterschiede. Diese beginnen mit der schriftlichen „Debattenkultur“ auf den Toiletten und enden mit der Feststellung, dass linke Organisation im Osten eher von Pragmatismus und (notwendigerweise) von Zusammenhalt geprägt sei, während sie im Westen von hochdifferenzierten Lebensstilen „und viele[n] Fettnäpfchen“ zeuge.29 Zusätzlich relevant im Sinne ostdeutscher Erfahrungsräume ist die erzählerische Herstellung einer „ostdeutschen Provinz“. Dies drückt sich sehr anschaulich bereits zu Beginn in einer als zeitaufwendig und umständlich geschilderten Anreise per Bahn aus, die mit der Einfahrt in den Chemnitzer Bahnhof gleichsam zu einer Reise in die Vergangenheit wird. Diese räumliche Randständigkeit drückt sich auch in Statusunterschieden innerhalb Giselas politischer Kontexte aus: Mehrfach werden Personen aus den linken Szenen Berlins und Leipzigs als deutlich „hipper“, zum Teil auch besser organisiert beschrieben. In der Beschreibung der Protagonistin werden diese immer wieder präsenten Fluchtpunkte des Lebens in Chemnitz zugleich als durchaus ambivalent wahrgenommen. In Anspielung auf das Lied der Chemnitzer Gruppe Kraftklub wird dieses Verhältnis zunächst als trotzige Abwehr beschrieben: „Ich will nicht nach Berlin. Darüber waren wir uns

27 Irmschler 2020, S. 34. 28 Ebd., S. 34. 29 Ebd., S. 209.

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alle einig anno 2012“.30 Allerdings wird die Frage nach ,Gehen oder Bleiben‘ im Zuge der Handlung zunehmend wichtiger, womit die Frage nach der ostdeutschen „Weggehgesellschaft“31 auch aus der Perspektive einer Nachgeborenen ein bestimmendes Thema bleibt. Die im Roman dargestellten ostdeutschen Erfahrungsräume konstituieren sich also über eine doppelte Differenzerfahrung: Zum einen wird die ostdeutsche Provinz weniger über ihre territoriale Lage in den Neuen Bundesländern, sondern eher als Kontrastfolie zu den groß- und größerstädtischen, urbanen Zentren konstituiert. Auf der anderen Seite bleibt auch in der Lebenswelt von Gisela die ,klassische‘ Unterscheidung in Ost und West von Belang – wenngleich diese nicht als das Gefühl von Unterlegenheit oder Dominiertwerden daherkommt, sondern im Ton nüchterner Feststellung unterschiedlicher Lebensrealitäten. Relevant in der Deutung des Romans hinsichtlich der Bezüge zur DDR, des politischen Umbruchs und entsprechender Erfahrungsräume ist nicht zuletzt, dass eben jene gar nicht im Mittelpunkt stehen. Die in den Beispielen genannten Verweise auf ostdeutsche Erfahrungsräume sind zwar mehr als einer Stimmung oder einem gewünschten Sound geschuldetes Beiwerk. Sie stellen einen wichtigen Teilaspekt der geschilderten Lebenswelt dar – jedoch nicht als ein zentrales, die Identität bestimmendes Bezugsfeld. Im Mittelpunkt stehen vielmehr Aspekte weiblicher Emanzipation, etwa die sozialen Beziehungen in einem Freundinnenkreis, Frauen in politischen und Musikszenen, Zwänge, Ängste und Möglichkeiten, die mit Schwangerschaft und Mutterschaft verbunden sind, oder Kämpfe mit Körpernormen, insbesondere „fat shaming“.32 Ostdeutsche Erfahrungsräume sind dabei, wie geschildert, relevant, zugleich aber ein Aspekt unter vielen – was als durchaus typisch für künstlerische Werke, vor allem jüngerer Autor*innen mit familienbiographischen Bezügen zur DDR gedeutet werden kann.

30 Irmschler 2020, S. 27. 31 Kowalczuk 2019, S. 152. 32 Dabei weisen ostdeutsche Geschlechterverhältnisse und -rollen wie auch entsprechende Emanzipationsvorstellungen eine durch die DDR geprägte Spezifik auf (vgl. Heß 2010 und Fulbrook 2010, S. 160ff.). Auch wenn „Superbusen“ selbst das nicht zum Thema macht, könnte sich das durchaus im Subtext der Erzählung widerspiegeln.

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3.3 Spielfilme

Für diese Untersuchung wurden 79 Spielfilme mit einem Bezug zum politischen Umbruch 1989/1990 oder ostdeutschen Erfahrungsräumen betrachtet.33 Dazu zählen hier sowohl Kino- als auch Fernsehfilme sowie einzelne Folgen von (Mini-) Serien oder mehrteilige Spielfilme. Zunächst muss festgehalten werden, dass die Frage nach der Autor*innenschaft bei den komplexen und arbeitsteiligen Produktionsprozessen des Films differenzierter ausfallen muss als bei fiktionaler Literatur oder Musik. An dieser Stelle wird auf die Regie fokussiert – welche sicher eine bedeutende, zugleich aber sehr spezifische Rolle in der Gesamtheit eines Filmproduktionsprozesses ist.34 Zumindest in Bezug auf die Rolle der Regie lässt sich feststellen, dass der Film deutlich stärker als Musik oder fiktionale Literatur im hier behandelten Themenfeld von westdeutsch sozialisierten Personen geprägt ist. Während gut die Hälfte der 60 Regisseur*innen aus westdeutschen Kontexten stammt (darunter in Ausnahmefällen einige mit eigener oder familiärer Migrationsgeschichte), sind nur ein gutes Drittel Ostdeutsche. Hinzu kommen noch einige wenige, die aus der DDR in die Bundesrepublik übergesiedelt sind und jeweils größere Teile ihres Lebens in beiden deutschen Staaten verbracht haben, sowie zwei Schweizer. Wenn Regisseur*innen aus dem Osten Filme zum Themengebiet vorlegen, belassen sie es, ähnlich wie in der Literatur, häufig nicht bei einem. Deutlich wird das bei Andreas Dresen (sechs Filme) sowie bei Andreas Kleinert, Leander Haußmann oder Timm Peter (jeweils drei Filme). Auffällig ist, dass die Regie, mehr noch als die Musik, dem Namen nach männerdominiert ist. Ähnlich wie bei der Literatur sind die Geburtenjahrgänge bis zu den 1970er Jahren relativ gleich vertreten, jüngere Regisseur*innen finden sind jedoch kaum. Bei einem genaueren Blick auf die Filme wird deutlich, dass das erste Jahrzehnt nach dem politischen Umbruch im Verhältnis zur Gesamtzahl der Veröffentlichung von einer ersten Phase intensiver Auseinandersetzung geprägt ist – 30 Filme zum Thema erschienen allein bis 1999. Allerdings fällt auf, dass diese sich fast komplett auf die Jahre von 1989 bis 1995 konzentrieren. Diese erste Phase ist ge33 Vgl. zur Gesellschaftskritik im Dokumentarfilm der späten DDR und der Umbruchszeit auch den Beitrag von Carsta Langner in diesem Band. 34 Dabei ist die Frage nach einer möglichen unterschiedlichen Verteilung sozialer Verortungen, insbesondere auch vor dem Hintergrund ost-/westdeutscher oder anderen Sozialisationskontexte, in unterschiedlichen Bereichen von Filmstäben, aber auch bei Schauspielern und in der Filmdistribution ein Forschungsdesiderat. So deutet sich etwa an, dass einzelne ostdeutsche Schauspieler immer wieder in Rollen mit „DDR-Bezug“ besetzt werden, was einerseits im Zusammenhang mit professioneller Spezialisierung und persönlichem Interesse, andererseits aber auch mit Authentifizierungsstrategien stehen könnte.

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prägt durch ein deutliches Auseinanderfallen der erzählerischen Perspektiven und Sujets zwischen ost- und westdeutschen Regisseur*innen. Die „letzte Generation der DEFA-Regisseure“ beschäftigt sich sowohl kritisch mit einem korrumpierten Staatssozialismus, blickt aber auch skeptisch auf den politischen Umbruch.35 Den Anfang machen einige wenige Filme, die noch vor oder im Laufe der Jahre 1989/1990 entstanden und als Abgesang auf die DDR rezipiert wurden. Beispiele hierfür sind etwa Peter Kahanes „Die Architekten“ (1990) oder Jörg Foths „Letztes aus der Da Da eR“ (1990). Dem folgen vor allem direkte Verarbeitungen des politischen Umbruchs selbst, etwa Andreas Dresens „Stilles Land“ (1992) oder Frank Beyers „Nikolaikirche“ (1995). Auseinandersetzungen mit der früheren Nachwendezeit bleiben auch im Laufe der 1990er Jahre eher die Ausnahme. Inhaltlich stehen sie durchweg im Zeichen von Transformationsdruck sowie sozialer und emotionaler Prekarität, insbesondere in der ostdeutschen Provinz. Zu nennen sind hier Helke Misselwitzs „Herzsprung“ (1992) und Andreas Kleinerts „Neben der Zeit“ (1995). Von westdeutschen Regisseur*innen (oder solchen, die schon länger in der Bundesrepublik lebten) erscheinen in der Nachwendezeit vor allem die „Ostkomödien“,36 zum Beispiel Peter Timms „Go Trabi Go“ (1991) oder Olaf Kaisers „Wer anhält stirbt“ (1995). Ob diese Komödien tatsächlich in erster Linie darauf abzielten, Mentalitätsunterschiede zwischen Ost und West abzubauen, wie von Lüdeker vermutet, sei dahingestellt. Ob sie dies wiederum bewirkt haben, ist die Aufgabe einer eingehenderen Rezeptionsforschung. Häufig, ebenfalls im Genre der Komödie, sind es vor allem westdeutsche Regisseure, die explizit politische Stoffe aufgreifen; so zu beobachten in der Frage von Eigentumsverhältnissen und Restitution in Detlev Bucks „Wir können auch anders“ (1993) oder der Rolle ehemaliger Staatsbediensteter in der DDR mit Manfred Stelzers „Grüß Gott, Genosse“ (1993). In Bezug auf Komödien vor dem Hintergrund der Umbruchsereignisse und der Nachwendezeit kann auch für die 2000er und 2010er Jahre von einer Kontinuität gesprochen werden, wobei das Genre zunehmend auch von ostdeutschen Regisseur*innen genutzt wird, so zu sehen in Peter Timms „Liebe Mauer“ (2009) oder Francis Meletzkys „Vorwärts immer!“ (2017). Wenngleich die Komödie als Genre populär bleibt, kann ab den 2000er Jahren von einer neuen Phase in der filmischen Bearbeitung gesprochen werden. Nicht unwesentlich geprägt wird diese Phase von Filmen, die einen handlungsleitenden Schwerpunkt auf die repressiven Aspekte der DDR, wie auf Flucht und Mauer35 Lüdeker 2015, S. 62f. 36 Ebd., S. 64.

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fall, legen. Lüdeckers Beobachtung in Hinblick auf Filmhandlungen, die in der DDR spielen, lässt sich auch auf solche übertragen, die den politischen Umbruch 1989/1990 berühren oder zum Schwerpunkt machen: Häufig dominiert die Erzählung des „Mauerfall[s] als Akt der Befreiung und genuine Leistung des Volkes“ in scharfer und moralisch aufgeladener Kontrastzeichnung zu einem schematisch dargestellten „bösen“ Staat und seiner Funktionsträger.37 Vor dem Hintergrund dieser Geschichtsdeutungen werden die filmischen Erzählungen häufig entlang von grenzüberschreitenden bzw. grenzüberwindenden Liebesbeziehungen erzählt. Vorreiterin war hier Margarethe von Trottas „Das Versprechen“ (1994). Es folgen nach der Jahrtausendwende etwa Connie Walthers „Wie Feuer und Flamme“ (2001) oder Thomas Bergers „Wir sind das Volk. Liebe kennt keine Grenzen“ (2008). Strukturell ähneln diese Filme den zeitgleich erscheinenden und ebenfalls beim Publikum sehr beliebten Fernsehfilmen zur NS-Zeit. Dies drückt sich vor allem in der Externalisierung politisch-moralischer Schuld auf ein „schlechtes Deutschland“ aus, welche als Entlastungsstrategie und positive Selbstvergewisserung für die (wesentlich bundesrepublikanisch geprägte) Gegenwart dienen soll.38 Darin spiegelt sich auch die fortgesetzte Wirksamkeit totalitarismustheoretischer Perspektiven in der Filmkultur. Ohne dass sich hier schon Trends herauskristallisieren, kündigt sich in der Phase der 2000er Jahre bereits eine gewisse Diversifizierung der Themen und Standpunkte an. Ein Beispiel hierfür sind westdeutsche Perspektiven, in denen das Ende des Systemgegensatzes in den Mittelpunkt rückt, so in Oskar Röhlers „Die Unberührbare“ (2000). Ebenfalls nennenswert sind erste Beschäftigungen mit Rechtsradikalismus und Neonazismus in Ostdeutschland, etwa in Winfried Bonengels „Führer Ex“ (2002), oder Filme, die längerfristige Krisen und Anpassungsschwierigkeiten in Ostdeutschland verhandeln, zum Beispiel Hagen Keller mit „Meer is nich“ (2007). Die Auseinandersetzung mit dem politischen Umbruch in der DDR und den Konsequenzen des Einheitsprozesses bleibt auch in den letzten zehn Jahren relevant. Allerdings finden sich nur vergleichsweise wenige Neuerscheinungen. Diese beziehen sich auf den „langen Schatten“ der Wiedervereinigung bei Friedemann Fromms „Polizeiruf 110. Wendemanöver“ (2015), auf die Umbruchszeit selbst, wie Dresens Romanadaption „Als wir träumten“ (2015) oder jüngst auf Auseinandersetzungen im Zusammenhang mit der Restitutionsproblematik in Florian Aigners „Im Niemandsland“ (2019). Neu hinzu kamen in der jüngeren Vergangenheit Filme und Serien, die einen Schwerpunkt auf generationale Perspektiven inner37 Lüdeker 2015, S. 68f. 38 Ebd., S. 69.

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halb von Familienzusammenhängen legen, zum Beispiel Christian Schwochows „Der Turm“ (2012) nach dem Roman von Uwe Tellkamp oder Matti Geschonnecks Romanverfilmung „In Zeiten des abnehmenden Lichts“ (2017). Hier lässt sich, ähnlich wie für den Bereich der Literatur, von einem Trend sprechen, wobei der „Generationenfilm“ dem Trend in der Literatur zeitlich folgt. Während filmische Erzählungen durch die Folie der Einheits- und Freiheitserzählung auch in den letzten zehn Jahren fortbestehen, gibt es gleichzeitig differenziertere und multiperspektivische Betrachtungen des Umbruchs von 1989/1990, womit der Film den Entwicklungen in Musik und Literatur grundsätzlich, wenn auch verzögert, folgt. Typisch für den Film, vor allem der 2000er Jahre, war die Narration einer „nationalen Identitätskonstruktion […] auf rein westdeutschen Werten“,39 die nicht verschwindet, sich aber deutlich abschwächt. Ein Beispiel für die neue Pluralität im Film ist Christian Schwochows „Bornholmer Straße“ (2014), der die Grenzöffnung in Berlin am 9. November 1989 als Tragikomödie aus der Sicht der Grenzsoldaten erzählt. Ein anderes Beispiel ist Dresens „Gundermann“ (2018), der die Kooperation des Liedermachers mit der Staatssicherheit in einer breiten und komplexen biographischen Perspektive veranschaulicht. Beispiel Burhan Qurbani „Wir sind jung. Wir sind stark“ Ein weiteres Beispiel für die neuen Töne im Film ist der 2014 erschienene Film „Wir sind jung. Wir sind stark“ des 1980 in Erkelenz geborenen Regisseurs Burhan Qurbani. Er thematisiert die neonazistischen, pogromartigen Ausschreitungen in Rostock-Lichtenhagen 1992 und spielt dabei an einem einzigen Tag, dem 24. August. Im Rahmen des zeitgeschichtlichen Geschehens fokussiert die Erzählung auf den jugendlichen Freundes- und Bekanntenkreis um den eher orientierungslos denn ideologisch-neonazistisch gefestigt wirkenden Gymnasialschüler Stefan. Eine Stimmung von Entwurzelung und Verlusterfahrungen durch das Verschwinden der Orientierung stiftenden Gesellschaft zieht sich wie ein bedrückendes Grundrauschen durch den ganzen Film. Die kollektive Orientierungslosigkeit wird in verschiedenen Graden anhand unterschiedlicher Alters- und Akteursgruppen (neben Stefans Freundeskreis auch anhand seines alleinerziehenden Vaters und einer vietnamesischen Familie von „Vertragsarbeiter*innen“) deutlich gemacht, vor allem als weltanschauliche und mentale Desintegration der ehemaligen, jungen wie alten DDR-Bürger*innen. Besonders drastisch wird der Transformationsschock mit dem Suizid eines etwas älteren Freundes beschrieben. Stefan liest in seinem Abschiedsbrief: 39 Lüdeker 2015, S. 76.

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Am Anfang war da noch Trauer, dass ich keine Arbeit habe und meine Freunde auch nicht. Und dass die Welt sich jetzt umgekehrt dreht. Aber dann kam zur Trauer eine Wut, weil ich kaum mehr weiß, wie es mal anders gewesen ist. Wie soll man weitermachen, wenn es kein Vorher mehr gibt?40

Bei den etwas Jüngeren in Stefans Freundeskreis zeigt der Film das Hin- und Hergerissensein zwischen dem gesellschaftlichen Rahmen, den sie noch als Kinder in der DDR erlebten, der Umbruchszeit selbst und den neuen weltanschaulichen Deutungsangeboten des völkischen Neonazismus. „Stasi raus!“ erscheint dabei, je nachdem, mit wem man es zu tun hat, eine genauso probate Provokation wie „Sieg Heil!“. Der Jugendklub ist geschlossen. „Wir machen jetzt unser eigenes Programm“,41 sagt ein Freund von Stefan zu dessen Vater. Deutlich wird, dass es einen Handlungsspielraum gibt, der aber mit einem Positionierungsdruck unter Gleichaltrigen einhergeht. „Bist du eigentlich links oder rechts?“, wird Stefan von einer ehemaligen Schulkameradin gefragt. Stefan will einfach „normal“ sein.42 Ungeachtet der vielfach ausgestellten ideologischen Ambivalenzen bei Stefan und seinem Freundeskreis zeichnet die Erzählung ein Bild, wonach sich ihre Wut und Trauer letztlich gegen asylsuchende Migrant*innen aus Südosteuropa und die Vertragsarbeiter*innen richtet. In der Elterngeneration werden sehr unterschiedliche Haltungen und Herangehensweisen an die allgemeine Lebenssituation wie auch die neonazistische Gewalt deutlich. Der Schwerpunkt der Erzählung liegt auf Stefans Vater Martin, wobei eine relative Handlungsunfähigkeit sowohl in seiner Rolle als Politiker als auch als Vater dargestellt wird. Martin ist erschrocken bis entsetzt über die pogromartige, sich entladende Gewalt und lehnt sie ab. In seinem Agieren als Politiker bleibt er jedoch unentschlossen und weitgehend passiv. Seine Hilflosigkeit wird deutlich in der Szene, in der die Gewalt am „Sonnenblumenhaus“ eskaliert. Martin bleibt, im Wissen um die Zuspitzung, zunächst zuhause, hört Musik und betrachtet Familienfotos.43 Als er dann doch zum Ort der Ausschreitungen eilt, verhallen seine eher zaghaften Rufe „Keine Gewalt!“ in den „Deutschland den Deutschen! Ausländer raus!“-Rufen der Menge.44 Zusätzlich bietet die Erzählung über die Perspektive der 40 41 42 43 44

Min. 31ff. Min. 26. Min. 9ff. Min. 87ff. Womit die Erzählung des Films en passant einen Kommentar auf die in dieser Sicht und an diesem Ort wenig nachhaltigen Ideale von Gewaltfreiheit und Demokratie der DDR-Bürgerbewegten abgibt.

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Großelterngeneration auch Deutungen über längere Entwicklungslinien an. So werden während eines Besuchs von Martin bei seinen Eltern45 sowohl verwurzelte rassistische Einstellungsmuster dargestellt als auch ein Verständnis vom (DDRstaatlichen) Antifaschismus, der dem Neonazismus mit Repression, vor allem aber auch mit einer Entpolitisierung begegnete. Zwar gibt der Film der Perspektive von Ausübenden neonazistischer Gewalt und ihrer sozialen wie emotionalen Desintegration als Ursache dafür sehr viel Raum. Andererseits wird in der Andeutung der längeren Entwicklungslinien sichtbar, dass die Gründe für diese Gewalt nicht nur in der transformationsbedingten Verunsicherung ab 1989/1990 zu suchen sind. Burhan Qurbani, Sohn afghanischer Geflüchteter, setzt in einem Interview zum Erscheinen des Films seine Auseinandersetzung mit dem Thema in expliziten Zusammenhang mit einer Kritik an den „Jubelreden anlässlich des Gedenkens an den Fall der DDR“, die die neonazistische Gewalt der Nachwendezeit in Ost und West ausgespart hätten.46 Sein Film kann somit als ein Versuch gewertet werden, einseitig verengte Geschichtsbilder von ,’89/’90‘ im Sinne einer Erfolgserzählung auch aus (post-)migrantischer Perspektive kritisch zu erweitern. 4. Zusammenfassung

Insgesamt betrachtet lassen sich in den drei unterschiedlichen populären Repräsentationsformen Musik, Literatur und Spielfilm in der Verhandlung von ,’89/’90‘ Gemeinsamkeiten in den Entwicklungstrends und inhaltlichen Schwerpunkten ausmachen, die jedoch medienspezifisch zu differenzieren sind. Gemein ist allen, dass sie mehr oder minder stark von männlichen Autoren und Künstlern geprägt sind. Hier besteht wahrscheinlich weniger ein Zusammenhang mit dem Themenfeld, sondern vielmehr mit geschlechtsspezifischen Ein- und Ausschlussmechanismen, die sich nach unterschiedlichen Kulturfeldern und Branchen differenzieren dürften.47 Gemein ist den drei Repräsentationsformen auch, dass sie, mit Abstrichen bei den Filmregisseur*innen, stark von Personen mit Herkunft aus der DDR geprägt sind. Dies ist als Indiz dafür zu werten, dass ein (familien-)biographischer Bezug zum Thema für viele Autor*innen und Künstler*innen den Anstoß zu einer solchen Auseinandersetzung gibt, was angesichts der ausgeprägten Transformati45 Min. 55ff. 46 Tagesspiegel 2015. 47 Wobei unabhängig davon eine detaillierte Untersuchung geschlechtlicher Spezifika in den fiktionalen Erzählungen notwendig ist; besonders angesichts dessen, dass sich die Transformationsprozesse der Nachwendezeit auch geschlechtsspezifisch ausgewirkt haben (vgl. neben Heß 2010 auch Hofmann 2013).

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onsschübe in der ostdeutschen Gesellschaft bei gleichzeitiger, zumindest scheinbarer, Kontinuität des westdeutschen Pendants nicht verwundert. Dieser Umstand dürfte damit korrespondieren, dass insbesondere in der stark von Ostdeutschen geprägten Literatur und Musik der politische Umbruch und seine Folgen auffällig wenig im Sinne des (noch) dominierenden, positiven „Erfolgsnarrativs“48 erzählt und gedeutet werden. Dieses dominante Narrativ akzentuiert das massenhafte Aufbegehren gegen die SED-Diktatur, das mit dem Vollzug der deutschen Einheit und der Adaption des westlichen Modells von liberaler Demokratie und Marktkapitalismus ihren geschichtlich folgerichtigen Abschluss findet. Sowohl in der Musik als auch in Literatur und Film werden in der Umbruchs- und Nachwendezeit zwar durchaus ein korrumpierter Staatssozialismus inklusive seiner repressiven Elemente repräsentiert, in vielen Fällen geht dies aber nicht automatisch mit der Aufgabe einer gesellschaftlichen Utopie einher. Zugleich dominieren hier vor allem Verlusterfahrungen sowie Beschreibungen und Reflexionen auf die emotionalen und materiellen Prekaritäten der Nachwendezeit. Dabei zeigen sich die vergleichsweise jungen Autor*innen in Musik und Literatur am sensibelsten für eine mit dem Umbruch einhergehende, konkrete neonazistische Gewalt wie auch die politisch-diskursive Rechtsverschiebung der 1990er Jahre. Die Zwischenphase von Ende der 1990er bis Ende der 2000er Jahre ist am stärksten von einer Divergenz und thematischen Ungleichzeitigkeit der unterschiedlichen Medien geprägt. In der Musik herrscht eine eigentümliche Funkstille, die lediglich von einzelnen Beschwörungsversuchen einer gesellschaftlichen Einheit durchbrochen wird. In der Literatur zeigen sich hingegen ab der Jahrtausendwende stark autobiographisch geprägte wie auch transgenerationale Spurensuchen nach dem Erbe der DDR – ein Trend, der sich gemäß anderer Prägungen der Autor*innen folgender Jahrgänge mit unterschiedlichen Schwerpunkten bis heute fortsetzt. Im Film erfolgt diese Hinwendung erst etwa ab den 2010er Jahren. Zunächst dominiert hier jedoch ein auffälliger Gegensatz zwischen zwei Perspektiven: zum einen der humoristisch-unkritische, teilweise auch nostalgische Blick auf Umbruch und Nachwendezeit, andererseits eine stark schematische Fokussierung auf den autoritär-repressiven Charakter des SED-Staates sowie dessen glückliche Überwindung. Diese Entwicklungslinien zeugen von einer gleichzeitigen Ungleichzeitigkeit innerhalb der Populärkultur, wie auch im Verhältnis zur allgemeinen Geschichtskultur um ,’89/’90‘. Die augenscheinliche Abwesenheit eines Erfolgsnarrativs in einem Großteil der populärkulturellen Repräsentationen begründet sich in der kommunikativen Spaltung zwischen öffentlich dominierenden Erzählungen und den in den ostdeutschen 48 Sabrow 2019, S. 30.

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Kontexten vorherrschenden familien- und milieuspezifischen Erzählungen,49 in denen der politische Umbruch heterogen und ambivalent, selten als ausschließlicher Erfolg erinnert wird. Dabei ist zu vermuten, dass eine ökonomisch voraussetzungsvollere Filmproduktion auch stärker an die kulturelle Hegemonie des Erfolgsnarrativs rückgebunden bleibt, während Literatur und die in ihrer Produktion niedrigschwelligere Musik eine vergleichsweise höhere Durchlässigkeit und Sichtbarkeit ostdeutsch geprägter Erfahrungen ermöglicht. In den letzten zehn Jahren beginnt diese Trennung jedoch aufzuweichen. Während vor allem im Film Bezugnahmen auf das Erfolgsnarrativ nicht gänzlich verschwinden, zeichnet sich im Deutungskampf um ,’89/’90‘ medienübergreifend ein klarer Trend zu einer Öffnung und Pluralisierung der erzählten Perspektiven ab. Die Vielschichtigkeit der Perspektiven ist, wie gezeigt, nicht neu, doch sie erfährt eine neue Sichtbarkeit und wohl auch neue Resonanz. Aber auch in Anzahl und thematischer Breite werden in Musik und Literatur, aber auch im Film vermehrt kritische Perspektiven auf die Nachwendezeit eröffnet, und es werden umbruchsübergreifende Perspektiven auf Kontinuitäten und Brüche sowie differenzierte Sichtweisen auf lange Linien von autoritär-staatlichen wie gesellschaftlichen Denkmustern deutlich. Die bisher öffentlich dominierende Erinnerung gerät von Seiten künstlerischer Verarbeitung (ostdeutsch-)familiärer wie bisher kaum sichtbarer Erinnerungen aus (post-)migrantischer Perspektive unter Druck. Die augenscheinlichste Ursache liegt sicher in einer neuen politischen Aktualität ‚des Ostens‘ infolge der politischen Mobilisierung rechter Bewegungen wie PEGIDA sowie der Wahlerfolge der AfD und in der erfolgreichen Aneignung von ,’89/’90‘ als Widerstandserzählung;50 ein Phänomen, das die Geschichtsdeutung vom politischen Umbruch als abgeschlossener Demokratisierung offenkundig und zu Recht nachhaltig erschüttert hat. Zugleich ist davon auszugehen, dass auch ein zeitlicher Abstand sowie eine „epische Distanz“ zu den Ereignissen neue Perspektiven ermöglichen. Aleida Assmann markiert im Erinnern nach 30 Jahren eine Zäsur, die einen neuen Gedächtnisrahmen schafft. Auch der allmähliche Generationenwechsel in den Redaktionen und an den Schalthebeln der Kunst- und Kulturdistributoren ermöglicht, zumindest prinzipiell, eine neue Offenheit. Ungeachtet einer quantitativ schwer zu beziffernden diskursiven Wirkmächtigkeit liegt in populärkulturellen Verarbeitungen von DDR- sowie ost- und ostwestdeutschen Erfahrungen als Impulsgeber erinnerungskultureller Netzwerke zum Erbe der DDR auch ein großes Potenzial: Mit dem möglichen Ende der einen Geschichte und der Sichtbarwerdung von 49 Sabrow 2010, S. 17ff. 50 Hartmann/Leistner 2019.

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vielen Geschichten von ,’89/’90‘ können Diskussions- und Austauschprozesse angeregt werden, die mittel- und langfristig Marginalisierungserfahrungen abbauen helfen und damit auch zu einer inklusiven gesellschaftlichen Selbstverständigung beitragen können. 5. Literatur Bach, Susanne (2017): Wende-Generationen/Generationen-Wende. Literarische Lebenswelten vor dem Horizont der Wiedervereinigung. Heidelberg: Universitätsverlag Winter. Büsser, Martin (2010): Made in Germany. Pop im Dienste der Nationalisierung. In: Holger Adam, Yasar Aydin, Zülfukar Cetin, Mustafa Doymus, Jonas Engelmann, Astrid Henning und Sonja Witte (Hrsg.): Pop Kultur Diskurs. Zum Verhältnis von Gesellschaft, Kulturindustrie und Wissenschaft. Mainz: Ventil, S. 98–108. Der Spiegel (2019): Was haben Ostdeutsche und Muslime gemeinsam? Online verfügbar unter https://www.spiegel.de/politik/deutschland/integrations-studie-ostdeutsche-undmuslime-aehnlich-stark-benachteiligt-a-1260803.html. Gesehen am 29.08.2020. Erll, Astrid und Stephanie Wodianka (2008): Einleitung. Phänomenologie und Methodologie des ,Erinnerungsfilms‘. In: Astrid Erll und Stephanie Wodiankae (Hrsg.): Film und kulturelle Erinnerung. Plurimediale Konstellationen. Berlin: De Gruyter, S. 1–20. Foroutan, Naika, Frank Kalter, Coşkun Canan und Mara Simon (2019): Ost-Migrantische Analogien I. Konkurrenz um Anerkennung. Berlin: Deutsches Zentrum für Integrations- und Migrationsforschung. Online verfügbar unter https://www.deziminstitut.de/fileadmin/user_upload/Projekte/Ost-Migrantische_Analogien/OstMig_ Booklet_A4.pdf. Gesehen am 16.02.2021. Fulbrook, Mary (2010): Ein ganz normales Leben. Alltag und Gesellschaft in der DDR. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft. Gabler, Wolfgang (2011): Diskurs der Unbegreiflichkeit. Zur Geschichte der Wenderomane, In: Raj Kollmorgen, Frank Th. Koch und Hans L. Dienel (Hrsg.): Diskurse der deutschen Einheit. Kritik und Alternativen. Wiesbaden: Verlag für Sozialwissenschaften, S. 167–192. Hartmann, Greta und Alexander Leistner (2019): Umkämpftes Erbe. Zur Aktualität von „1989“ als Widerstandserzählung. In: Aus Politik und Zeitgeschichte 69 (35–37), S. 18–24. Hartmann, Greta und Sabine Stach (2020): Friedliche Revolution 2.0? Zur performativen Aneignung von 1989 durch „Querdenken“ am 7. November 2020 in Leipzig. In: Zeitgeschichte-online. Online verfügbar unter https://zeitgeschichte-online.de/geschichtskultur/friedliche-revolution-20. Gesehen am 03.12.2020. Havemann-Gesellschaft (2019): Streit um die Revolution von 1989. Dossier: „Wem gehört die Friedliche Revolution?“ Debatte zum Beitrag der DDR-Opposition zur Fried-

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lichen Revolution. Online verfügbar unter https://www.havemann-gesellschaft.de/ themen-dossiers/streit-um-die-revolution-von-1989/. Gesehen am 29.08.2020. Hecken, Thomas und Marcus S. Kleiner (2017): Einleitung. In: dies. (Hrsg.): Handbuch Popkultur. Stuttgart: Metzler, S. 1–14. Heß, Pamela (2010): Geschlechterkonstruktionen nach der Wende. Auf dem Weg zu einer gemeinsamen politischen Kultur? Wiesbaden: Verlag für Sozialwissenschaften. Hofmann, Michael (2013): Ostdeutschland als Konservenbüchse traditioneller Männlichkeit. In: Dorothea Krüger, Holger Herma, und Anja Schierbaum (Hrsg.): Familie(n) heute. Entwicklungen, Kontroversen, Prognosen. Basel: Beltz, S. 343–357. Korte, Barbara und Sylvia Paletschek (2009): Einleitung. In: dies. (Hrsg.): History Goes Pop. Zur Repräsentation von Geschichte in populären Medien und Genres. Bielefeld: Transcript, S. 9–60. Kowalczuk, Ilko-Sascha (2019): Die Übernahme. Wie Ostdeutschland Teil der Bundesrepublik wurde. München: C.H. Beck. Lüdeker, Gerhard Jens (2015): DDR-Erinnerung in gegenwärtigen deutschen Spielfilmen: Vom Dissens zum Konsens. In: Hans-Joachim Veen (Hrsg.): Das Bild der DDR in Literatur, Film und Internet. 25 Jahre Erinnerung und Deutung. Köln, Weimar, Wien: Böhlau, S. 59–80. Mau, Steffen (2019): Lütten Klein. Leben in der ostdeutschen Transformationsgesellschaft. Berlin: Suhrkamp. MDR (2019): Warum das Leipziger Stasi-Museum in der Kritik steht. Online verfügbar unter https://www.mdr.de/kultur/themen/wie-weiter-im-leipziger-museum-rundeecke-100.html. Gesehen am 29.08.2020. Rüsen, Jörn (2014): Die fünf Dimensionen der Geschichtskultur. In: Jacqueline Nießer und Juliane Tomann (Hrsg.): Angewandte Geschichte. Neue Perspektiven auf Geschichte in der Öffentlichkeit. Paderborn: Schöningh, S. 46–57. Sabrow, Martin (2010): Wem gehört „1989“? In: ders. (Hrsg.): Bewältigte Diktaturvergangenheit? 20 Jahre DDR-Aufarbeitung. Leipzig: Akademische Verlagsanstalt, S. 9–20. Sabrow, Martin (2019): „1989“ als Erzählung. In: Aus Politik und Zeitgeschichte 69 (35–37), S. 25–33. Storey, John (2017): Was ist Populärkultur? In: Thomas Kühn und Robert Troschitz (Hrsg.): Populärkultur. Perspektiven und Analysen. Bielefeld: Transcript, S. 19–40. Tagesspiegel (2015): Deutsches Versäumnis. Online verfügbar unter https://www.tagesspiegel.de/kultur/spielfilm-wir-sind-jung-wir-sind-stark-deutsches-versaeumnis/11250954. html. Gesehen am 29.08.2020. Wehdeking, Volker: Die DDR in der Literatur nach der Friedlichen Revolution. In: Hans-Joachim Veen (Hrsg.): Das Bild der DDR in Literatur, Film und Internet. 25 Jahre Erinnerung und Deutung. Köln, Weimar, Wien: Böhlau, S. 25–50.

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6. Primärquellen Irmschler, Paula (2020): Superbusen. Claassen, Berlin. Romano (2017): König der Hunde [Musikvideo]. Online verfügbar unter https://www. youtube.com/watch?v=vrJ0wIshEto. Gesehen am 29.08.2020. Qurbani, Burhan (2014): Wir sind jung. Wir sind stark [DVD]. Zorro Medien.

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IV. Darum Geschichte! Erinnerungen und Vergessenes, blinde Flecken und Grautöne Das ich diese Geschichte überhaupt schreiben kann und schreiben will, verdanke ich nicht Grenzen, sondern ihrer Durchlässigkeit, verdanke ich Menschen, die sich nicht abgeschottet, sondern zugehört haben. (Saša Stanišić, „Herkunft“, 2019)

Wie soll man den eigenen Eltern sein neues Leben erklären? […] Vielleicht ist es gar nicht so einfach, wie immer alle sagen: Mauer in den Köpfen, Ossis und Wessis. Eine ebenso strenge Trennung verläuft zwischen Ost und Ost. Denn während die einen längst auf der anderen Seite leben, wirken die anderen alt im neuen Deutschland. Meist ist das eine Generationenfrage. Mein Vater geht nicht wählen in der Demokratie, die wir gemeinsam herbeigesehnt haben. Meine Mutter verkauft keine Träume mehr. Die Verluste werden nicht besprochen, wenn wir uns sonntags im Kleingarten beim Kirschkuchen treffen. Wir sind auf unterschiedliche Weise in der neuen Zeit angekommen, aber darüber reden wir nicht. (Robert Ide, „Geteilte Träume“, 2009) 

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Wozu Geschichte? Ein Essay über die Zukunft der Vergangenheit und ihre Debatten Ilko-Sascha Kowalczuk

Historiker*innen beschäftigen sich mit Vergangenheit(en) und rekonstruieren daraus Geschichte(n). Sie sezieren Mythen, entzaubern die naturgewordene Geschichte1 und erfinden (fast zwangsläufig) neue Mythen. Nichts fürchten diese mehr als Historisierung. Historiker*innen interessieren sich für die Dialektik von Ungleichzeitigkeiten und Gleichzeitigkeiten. Sie versuchen der scheinbaren Sinnlosigkeit der Vergangenheit – „Die Weltgeschichte hat keinen Sinn“2 – einen geschichtlichen Sinn zu verleihen. Sie verstehen sich als wissenschaftliche Aufklärer*innen, die ihre Standortgebundenheit zu rationalisieren suchen. „Gegenwart“ ist für sie ein Zustand, der durch die Vergangenheit konstituiert ist. „Gegenwart“ hat „allenfalls die Breite eines Rasiermessers, dessen Klinge unaufhörlich Teilstücke der Zukunft abschneidet und der Vergangenheit zuweist“.3 Streit über Vergangenheit ist nicht hinderlich, sondern das dynamische Element auf dem Weg zur Geschichte. Seit Jahrzehnten tobt ein Streit zwischen einigen Ostdeutschen, den kaum jemand zur Kenntnis nimmt: Wer machte die Revolution von 1989? War es überhaupt eine Revolution? Wer war Bürgerrechtler*in? Und was machen die eigentlich heute? Meist wird im Unterholz miteinander gestritten oder aufeinander eingehackt. Die Streithähne kennen sich alle mehr oder weniger gut, ihre Positionen sind allen Beteiligten hinlänglich bekannt. Alle paar Jahre fällt kurzzeitig ein Spot auf diesen unlösbaren Streit, so wie im Sommer 2019 in einer Frankfurter Zeitung, so wie im Sommer 2020 in einer Berliner Zeitung oder auf den Ostseiten der Zeit.4 Letzteres ist deshalb etwas bizarr, weil diese „Ostseiten“ nur im Osten erscheinen und dort nur von einer kleinen Gruppe gelesen werden. Ostprobleme gingen offenbar, so ist die Zeit wohl zu ver1 2 3 4

Barthes 1996, S. 113. Popper 1992, S. 316. Wehler 1984, S. 15. Dokumentiert auf der Webseite der Robert-Havemann-Gesellschaft: https://www.havemanngesellschaft.de/themen-dossiers/streit-um-die-revolution-von-1989/. Gesehen am 21.06.2021.

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stehen, nur den Osten etwas an, weil es sich um regionalspezifische Randprobleme handle. Und die Debatte in der Frankfurter Zeitung ging gleich völlig am Osten vorbei, die liest dort nämlich fast niemand. Im Kern geht es dabei seit 1990 um die Frage, was die Ziele des Aufbruchs von 1989 waren. Die Antworten darauf fallen nicht so verschieden aus, wie vielleicht manche denken. Es stehen sich im Prinzip nur zwei Positionen gegenüber. Die eine sagt, es sei um Freiheit und die Überwindung der kommunistischen Diktatur gegangen. Die andere sagt, es sei um einen demokratischen Sozialismus in der DDR gegangen. Außerdem sagen die einen, es sei ein Aufbruch von vielen, praktisch von allen gewesen. Andere halten dagegen, Revolutionen seien nicht Angelegenheiten von Mehrheiten, denn diese warteten ab, welche Minderheit obsiege. Erst dann bewege sich auch die Masse. Als Idealfall für diese Sicht gilt die ostdeutsche Revolution von 1989. Zunächst hört sich das gar nicht so unversöhnlich an, wie die Streitereien vermuten ließen. Doch hinter diesen beiden Positionen verbergen sich viele weitere. Auch dabei gibt es wiederum einen Kern, der einfach lautet: Beendete die deutsche Einheit die Träume vom Aufbruch ’89 oder nicht?5 Das ist nun sehr kompliziert, weil auch im Oktober 1989 niemand in Bonn, Washington oder Moskau, auch nicht in der DDR ernsthaft über die Einheit als tagesaktuelles Ziel nachdachte. Jeder, der das laut getan hätte, wäre als Spinner verlacht worden. Nichts deutete darauf hin – nur einige Historiker*innen und rückwärtsgewandte Prophet*innen sehen das anders –, dass Moskau innerhalb von Wochen die gesamte Nachkriegsordnung preisgeben würde. Es ging darum, das Leben in diesem Staat namens DDR erträglicher zu gestalten, der SED Freiräume abzutrotzen. Das war zugleich der große Kitt im Herbst 1989, als ein paar Hunderttausend Mutige hinter der Mauer, ganz unabhängig von ihren politischen Zielen, sich zusammenfanden, um für ein besseres Leben zu streiten. Sie wurden angetrieben von Zehntausenden, die fluchtartig das Land verließen, weil sie es satt hatten, auf die von den Kommunisten seit Jahrzehnten angepriesene lichterlohe Zukunft zu warten und weiterhin in einer wenig verheißungsvollen Gegenwart auszuharren. Aber niemand brauchte große Zukunftsentwürfe, Gesellschaftsentwürfe. Die einen, die unter großen Gefahren flüchteten, wollten das, was bereits im Westen existierte bzw. was sie sich darunter vorstellten. Die anderen, die blieben und sich unter großen Gefahren für Reformen engagierten, hofften auf eine Politik der kleinen Schritte, Verbesserungen, die Gewährung der Menschenrechte, die letztlich, irgendwann, vielleicht schon 1992 oder 1995, halbfreie Wahlen wie in Polen im Juni 1989 ermöglichen 5

Vgl. Pollack 2019; Kowalczuk 2019a, 2020; Wolfram 2020a, 2020b; Hähnig 2020; Hildebrandt et al. 2020; Schulz 2020; Großbölting 2019; Sabrow 2019.

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würden. Das war der Zeithorizont, in dem die politischen Akteure im Herbst 1989 dachten, in dem auch die Bundesregierung dachte.6 Und allem war die Implosion des Systems inhärent, an die nur kaum jemand glaubte. Und dann kam alles anders, die Mauer wurde durch mutige Menschen durchbrochen und unmittelbar auf der politischen Tagesordnung ganz oben stand die unerwartete und kaum noch erhoffte Deutsche Einheit. Und zugleich zerbrach, was nur Diktaturen zusammenhalten: die Einheit der Opposition.7 Im Kampf gegen den gemeinsamen Gegner werden aus vielerlei Gründen Differenzen und gegensätzliche Positionen, soweit es irgend geht, zurückgedrängt, verdrängt; gegenseitige Loyalität ist ein kaum zu schlagender Wert im Kampf gegen den schier übermächtigen Feind. Mit dem Fall der Mauer kam nun hervor, was ohnehin immer gegeben war, was sich nun aber auch endlich entfalten konnte: die vielfältigen, oft gegensätzlichen politischen Ziele und Erscheinungen der Opposition. Aber nicht nur das. Auch die ostdeutsche Gesellschaft wurde endlich aus der Lethargie, der Gleichmacherei, der gewollten (wenn auch nie realisierten) Uniformiertheit entlassen. Die ostdeutsche Gesellschaft war bis 1989 eine sehr heterogene, wie jede andere auch. Die Machthaber hatten versucht, das zu kaschieren. Auch das brach nun zusammen und wurde sichtbar. Dem Ruf nach politischem Pluralismus war zugleich der Wunsch innewohnend, die Unterschiede in der Gesellschaft endlich sichtbar machen zu können. Denn auch in der DDR gab es vielfältige, unterschiedliche, ja, gegensätzliche Erfahrungsräume: Der Wärter von Bautzen erzählt die DDR anders als der Häftling von Bautzen. Oder, um Voltaire8 zu zitieren: „Sprecht Ihr mit einem holländischen Bürgermeister über die Aufhebung des Edikts von Nantes, so ist es eine unkluge Willkürherrschaft; befragt Ihr einen Minister des französischen Hofes, so ist es weise Politik.“ Was sich so banal anhört, ist in der öffentlichen Debatte heftig umstritten.9 30 Jahre später muss man erstaunt feststellen, dass viele noch immer zu glauben scheinen, es gebe einen Riss in der ostdeutschen Gesellschaft, und das sei schlimm. Es sei schlimm, also das sei wirklich schlimm, wenn es nur einen Riss gebe. Gesellschaften sind durch viele Risse, Widersprüche, Gegensätzlichkeiten geprägt, nur diese bringen uns weiter.10 Der Widerspruch ist des Fortschritts Antrieb. Eine Gesellschaft muss aber auch erlernen, mit diesen inneren Spannungen umzugehen, sie produktiv zu nutzen. Dafür bedarf es in der freiheitlichen Demokratie keiner 6 7 8 9 10

Kowalczuk 2015. Kowalczuk 2002, 2014. Voltaire 1737/2011, S. 70. Vgl. dazu ausführlich Kowalczuk 2019b. Vgl. Dahrendorf 1967, 2004.

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Vorbilder, schon gar keiner verordneten, sondern für Freiheit und Demokratie engagierter Menschen – ob nun im Osten mit oder ohne Widerstandserfahrung. Denn über eines sollte dann bei aller produktiv-spannungsgeladenen Uneinigkeit vielleicht Einigkeit herrschen: In einem demokratischen Gemeinwesen zählen die Verdienste in der Vergangenheit weniger als das Engagement in der Gegenwart. Wissenschaftliche Debatten, die aus den übersichtlichen Räumen ins grelle Licht einer breiten Öffentlichkeit treten, sollen irritieren und Gewissheiten infrage stellen. Sie verkünden keine Wahrheiten, sondern Einsichten, die ihren Reiz daraus beziehen, dass sie nicht wie in Stein gemeißelte Wahrheiten verkünden, sondern stetig im Fluss sind. Diskussionen in der Öffentlichkeit sind per se politisch – 2020 konnten wir das alle eindrucksvoll erleben, als Virologen mit ihren Erkenntnissen die Öffentlichkeit unterrichten wollten und aus einer Gesellschaft, die bislang kaum den Unterschied zwischen Viren und Bakterien bestimmen konnte, über Nacht eine große Gruppe von Expert*innen entstand, die den verblüfften Virologen ihr Expert*innenwissen über die „richtigen“ Annahmen entgegenhielt. Christian Drosten hat das wunderbar pointiert kommentiert, als er sagte, er kenne sich ein „bisschen“ mit dem SARS-Coronavirus aus, er würde sich öffentlich nie zu anderen Viren äußern, weil er davon „keine Ahnung“ habe, und erst recht nicht zu Bakterien, zu schweigen von nichtmedizinischen Fachgebieten. Dieses wundervolle Eingeständnis blieb echolos – die empörte Gesellschaft kommentierte und kommentierte und kommentierte, als wäre jeder und jede seit Jahr und Tag Expert*in für das Coronavirus. Dieses Beispiel zeigt exemplarisch, dass die Klage gerade von manchen Historiker*innen, jeder glaube, in historischen Fachfragen mitreden zu können, gar keine spezifische Erscheinung für zeithistorische Probleme ist, sondern jedes öffentliche Thema betrifft. Eine demokratische Gesellschaft lässt ungern über sich reden, sondern nimmt aktiv Teil, mischt sich in die eigenen Angelegenheiten ein. Das ist für die beteiligten Wissenschaftler*innen nicht immer angenehm. Denn natürlich können jene, die sich nicht Tag für Tag mit bestimmten wissenschaftlichen Problemen beschäftigten (können), nicht jenes Expert*innenwissen angehäuft haben wie die damit vorrangig befassten Menschen. So sind oftmals öffentlich ausgetragene Debatten zwischen Wissenschaftler*innen, wie etwa über „1989“ und die Frage der Ziele und die Rolle der Opposition, extrem verdichtete Angelegenheiten, in denen auf einer halben Zeitungsseite (5000 oder maximal 10.000 Zeichen) komplizierte Sachverhalte dargestellt werden müssen, für die normalerweise ein Vielfaches an Platz, im wissenschaftlichen Austausch vielleicht sogar ein dickes Buch zu Verfügung steht. In einem anderen Beispiel wurde das 2020 ebenfalls sichtbar: An den Debatten im Zuge der Ermordung von George Floyd und der weltweiten Black-Lives-Matter-Bewegung beteiligten sich in Deutschland auch Menschen, die sich seit vielen Jahren und Jahrzehnten wis-

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senschaftlich mit Rassismus befassten. In dieser Forschung sind Rassismusdefinitionen umstritten, die Critical Whiteness Studies werden nicht von allen goutiert und Intersektionalitätsansätze sind noch längst nicht allerorten verinnerlicht. Und doch gibt es in den wissenschaftlichen Auseinandersetzungen, die ohnehin internationalisiert sind und von den Debatten in den USA maßgeblich geprägt werden, ein hohes Reflexionsniveau und eine elaborierte Theoriedebatte. Dies gilt auch für die akademische Forschung in Deutschland, tritt sie jedoch mit ihren Erkenntnissen an die Öffentlichkeit, wie im Zuge der Black-Lives-Matter-Bewegung, stößt sie fast überall auf Verwunderung, auf Skepsis, sogar auf Hass und Ablehnung. Das hängt zunächst einmal mit dem verteidigten Nichtwissen und Nichtwollenwissen zusammen. Wie im Drosten-Beispiel behauptet sich eine meinungsstarke Gruppe der Gesellschaft, weil sie es nach eigenem Bekunden „weiß“, ohne danach zu fragen, zuzuhören, selbst darüber zu arbeiten, im besten wissenschaftlichen Sinne alles zur Kenntnis zu nehmen, was zum Thema relevant ist. Es geht darum, die eigene Meinung zu behaupten, koste es, was es wolle. Bei „Corona“ wird die Gefahr geleugnet und zum Teil mit abenteuerlichen Verschwörungstheorien zusammengebracht. Bei „Rassismus“ – einer Ideologie, Macht- und Herrschaftsform – wird behauptet, den gebe es überall, und Weiße seien davon ebenso betroffen. Und bei „1989“ wird aus der bloßen Zeitzeugenschaft ein Gewicht: Was ich gesehen und gehört und erlebt habe, entspricht der historischen Komplexität der Vorgänge. Wenn man so will, haben wir es in all diesen Fällen mit einem populistischen Verständnis von Wissenschaft und „Wahrheit“ zu tun. Das „Ich“ wird kurzerhand zum „Wir“ erhoben und jeder, der sich dem entgegenstellt, wird seinerseits kurzerhand zum Wissenschaftsleugner erklärt. Aus dem wissenschaftlichen Anspruch rationaler Deutungskämpfe wird so im öffentlichen Raum ein Kampf um die „eine Wahrheit“, die in jedem wissenschaftlichen Raum, wo es freilich auch zur Sache geht, im Idealfall nur schallendes Gelächter hervorrufen würde. Heißt das nun aber, Wissenschaftler*innen hätten im öffentlichen Raum nichts zu suchen? Nein, ganz im Gegenteil sogar. Sie sollten die öffentlichen Räume mit ihrer Kakophonie bereichern, gerade um die Meinungssuche empfindlich zu erschweren. Die Vielstimmigkeit stärkt demokratische Grundstrukturen. Allerdings ist diese Lehrbuchmeinung schwer in der Realität umzusetzen. Zum einen mangelt es an Möglichkeiten öffentlicher Interventionen. Die überregionale Tageszeitung, das Wochenjournal, der zugkräftige Radiosender, die TV-Sendung stehen nur einer Elite der Elite dauerhaft und dann, wenn sie es für nötig erachtet, zur Verfügung. Das betrifft ganz ähnlich die Möglichkeiten in den sozialen Medien. Auch hier gilt, dass nur erhört wird, wer bestimmte Medien bespielen kann. Das Recht auf freie Meinungsäußerung schließt bekanntlich nicht das Recht auf jenes Medium ein, das die eigene Meinung auch über den engen Raum, in dem sich alle

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Wissenschaftler*innen a priori bewegen, hinaus transportiert. Zum anderen aber kommt hinzu, was noch schwerer zu fassen ist: Die Teilnahme an öffentlichen Debatten setzt die Bereitschaft voraus, die eigenen Forschungsergebnisse, die in jahrelanger, mühevoller, quälender Art erarbeitet worden sind und vor lauter Ausdifferenziertheit einem selbst oft Schwindelgefühle und Kopfschmerzen verursachen, gnadenlos bis an den Rand des Banalen herunterzubrechen und auf „Kitschniveau“ zu bringen. Das vor sich selbst auszuhalten, den kopfschüttelnden Blicken der (oft neidischen, aber auch argwöhnenden) Kolleg*innen und auch der verdutzten Öffentlichkeit, die einen für die Banalität kritisiert und für jede darüber hinausgehende Komplexität gnadenlos zerreißt, muss auch ertragen werden. Hinzu kommt, dass öffentliche Debatten von Zuspitzungen, Übertreibungen, eindeutigen Thesen leben, alles dazu unterkomplex vorgetragen, was angreifbar macht – nicht gerade das, was im Wissenschaftsbetrieb honoriert wird. Und dennoch gibt es keine Alternative dazu zu versuchen, sich in öffentliche Debatten einzumischen. Der Sinn von Wissenschaft besteht in ihrer gesellschaftspolitischen Relevanz, ein weites Feld. Ein Rückzug würde bedeuten, diese Relevanz preiszugeben und allein um der Forschung willen zu forschen. Das mag Einzelne befriedigen, keine Disziplin jedoch würde das überleben. Gesellschaftspolitische Relevanz bemisst sich natürlich nicht an der öffentlichen Präsenz einer Fachdiszi­ plin, aber sie darf ihr – wie die Virologie in Coronavirus-Zeiten – zu gegebener Zeit nicht ausweichen. Da hat es die Zeitgeschichte besonders schwer, denn ihre „gegebene Zeit“ ist immer da. Auch wenn Historiker*innen nicht mehr die Sinndeuter und Gesellschaftserklärer wie im 19. Jahrhundert sind und es auffällig ist, dass sich an den großen Debatten unserer Gegenwart Soziolog*innen, Psycholog*innen, Theolog*innen, Politolog*innen beteiligen, aber Historiker*innen nur ausnahmsweise, so sind sie doch als Expert*innen für historische Zusammenhänge nach wie vor sehr gefragt. Wenn man nun die Frage stellt, wie sie künftig öffentlich intervenieren könnten, ist darauf hinzuweisen, dass sie schlecht vorbereitet sind. Nehmen wir als Beispiel das seit einiger Zeit heftig debattierte Thema „Ostdeutschland“. Dazu muss ich etwas ausholen: Infolge der Revolution von 1989 kam es zu einer Archivrevolution: In einem bislang unvergleichlichen Ausmaß sind Akten einer Diktatur offengelegt worden. Auch wenn das in komplizierten Gesetzgebungsverfahren mit hochemotionalen öffentlichen Debatten geschah – bald waren sowohl die Unterlagen der einstigen Staatspartei SED wie auch die Dokumente „ihres Schilds und Schwerts“,11 des Ministeriums für Staatssicherheit, und auch die der meisten übrigen staatlichen 11 Ausführlicher Kowalczuk 2019c.

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Einrichtungen öffentlich zugänglich. Lediglich die Unterlagen des Außenministeriums wurden mit der üblichen 30-jährigen Sperrfrist im Politischen Archiv des Auswärtigen Amts belegt, und aus nicht transparenten Gründen sind die Akten der einstigen Blockparteien im Gegensatz zu den Unterlagen der SED privatisiert worden und werden von jenen Parteien, denen sie sich angeschlossen hatten, verwaltet und zum Teil mit Sperrfristen versehen. Forscher*innen kamen nun aber ebenso an die wichtigsten Unterlagen heran wie Millionen Menschen, die vor allem in den Stasi-Unterlagen Antworten zu ihrer Biographie suchten. In Bezug auf die Stasi herrscht in der bundesdeutschen Öffentlichkeit bis heute große Einigkeit. Hier wurde von Anfang an – in Verbund mit der Politik – eine Skandalisierung betrieben, die eine hohe Integrationsfunktion erfüllte. Wer nicht zum überschaubaren, genau definierten Täterkreis hinzugerechnet wurde, also kein offizieller oder inoffizieller Stasi-Mitarbeiter war, hatte gute Chancen, in das neue politische System integriert zu werden. Das beförderte die Selbstintegration früherer Systemträger*innen und Mitläufer*innen, die sich als exkulpiert ansehen konnten. Zugleich beförderte die Skandalisierung die pauschale Ausgrenzung Hunderttausender, nicht nur der MfSler und ihrer Inoffiziellen Mitarbeiter*innen (IM), sondern auch der PDS und ihres Umfelds, die sich als deren Interessenvertreterin verstand, obwohl sie 1989/1990 entscheidend dazu beigetragen hatte, die Stasi ins Zentrum des DDR-Unrechts zu rücken, um so selbst von der historischen Verantwortung der SED abzulenken. Ein Überleben der SED/PDS als Hauptverantwortliche für das Unrechtsregime wäre politisch kaum möglich gewesen. Die Ausgrenzung der legalen PDS trug wiederum paradoxerweise dazu bei, dass die Partei und ihr Umfeld etwa 20 Prozent der ostdeutschen Gesellschaft friedlich in die bundesdeutsche Gesellschaft führten, weil sie als ostdeutsche Protestpartei erfolgreich agieren konnte und so – wohl entgegen ihrer Intention – veranschaulichte, wie Demokratie, Sozialstaat und Rechtsstaat konkret funktionieren. Mit der Besetzung des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS) setzte eine Aufarbeitungswelle ein, deren heftige Erschütterungen die gesamten 1990er Jahre über andauerten. Im Zentrum standen die Akten der Stasi, obwohl die Stasi nie das Zentrum der SED-Herrschaft bildete. Die Geheimpolizei war ein Herrschaftsund Machtmittel der Partei gewesen und nicht umgekehrt. Die DDR war ein SED-Staat und kein Stasi-Staat. Bis heute setzt sich jeder, der das MfS historisieren will, dem Verdacht aus, das Regime zu verharmlosen. Von Beginn an neigten Medien wie Politik zur Skandalisierung. Stasi-Gemeinheiten und -Verbrechen ließen sich besser darstellen als die Alltäglichkeit der Diktatur, die ihre Brutalität oft erst in ihrer Subtilität offenbart. Gewalt, die ebenso systematisch wie versteckt ausgeübt wird, gehört zum Einmaleins jeder Diktatur – und hat dabei unendlich viele Ausprägungen und Erscheinungen. Sie kann ebenso

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schlimm und nachhaltig wirken wie der dumpfe Schlag gegen den Kopf, nur erweist sie sich eben oft schwerer sag- und nachprüfbar. Die Stasi wurde auch zur Projektionsfläche dieser SED-Gewalt. Das aber bewirkte andersherum: Wer der Stasi nicht diente, konnte, so die Entlastungsstrategie, nicht so schwer verwickelt gewesen sein. Unter einer fehlenden Distanz zu Erinnerungen und Erfahrungen leidet naturgemäß auch die Wahrnehmung der wissenschaftlichen Erforschung der ostdeutschen Geschichte. Die ist in diesem Fall systemisch angelegt. Zeitgeschichte produziert keine Werke, in denen sich der Einzelne abgebildet wiederfinden soll. Die individuelle Erfahrung geht in der kollektiven Erfahrung und der gesamtgesellschaftlichen Rekonstruktion auf, präziser: unter. Das provoziert automatisch Konflikte. Die wissenschaftliche Beschäftigung mit der DDR erlebte in den 1990er Jahren einen Boom. Neben den üblichen Stellungskämpfen um institutionelle Vorherrschaft ging es dabei aber auch immer um methodische, theoretische und inhaltliche Fragen. Im Zentrum stand über 20 Jahre die heiß umstrittene Frage: Soll Politik- oder Gesellschaftsgeschichte dominieren? Es stritten „Westdeutsche“ über „Ostdeutschland“, weil nur „Westdeutsche“ über wissenschaftliche Machtpositionen verfügten, so dass sie als Teilnehmer*innen am Diskurs akzeptiert wurden. Ostdeutsche waren (sind) Zaungäste von Debatten über ihre Vergangenheit. Thematisch dominierten zunächst politikhistorische Fragestellungen, obwohl gesellschaftsgeschichtliche Arbeiten ebenso von Anfang an bearbeitet worden sind wie wirtschafts- oder kulturhistorische Problemstellungen. Nach etwa 20 Jahren konnte jeder Forschungsbericht über die DDR-Geschichte festhalten, dass keine andere Epoche der deutschen und europäischen Geschichte innerhalb kürzester Zeit auf einem derartigen Niveau so breit erforscht worden sei. Schon Mitte der 2000er Jahre sprachen gar manche bereits davon, die DDR-Geschichte sei „überforscht“, andere urteilten, DDR-Geschichte sei zunehmend „langweilig“ geworden.12 Solche Einschätzungen kamen durchweg von Historiker*innen, die nicht als Experten für die DDR- oder Kommunismusgeschichte gelten. Es sind auch eher ungewöhnliche Einschätzungen von Historiker*innen, einfach deshalb, weil Historiker*innen an sich weder „langweilige“ noch „überforschte“ Geschichtsepochen kennen. Obwohl es eine unverkennbare Dominanz politikhistorischer Ansätze gab, entfaltete die historische DDR-Forschung doch von Anfang eine breite thematische, theoretische und methodische Vielfalt. Das hat sich in den letzten Jahren sogar noch verstärkt. Die immer wieder noch bis etwa 2010 aufflammenden Debatten über die „richtigen“ methodischen und theoretischen Zugriffe sind ebenso verschwun12 Vgl. Augstein 2012.

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den wie die schulmeisterlichen Hinweise einflussreicher Historiker*innen, welche nun die richtigen Themen seien und welche nicht. In dieser unsinnigen Debatte ging es nie um Inhalte oder um einen produktiven Streit zwischen Intellektuellen, sondern immer nur um Deutungshoheit, öffentlichen Einfluss und letztlich finanzielle Mittel, weshalb sich daran auch fast nie ostdeutsche Wissenschaftler*innen beteiligten, weil sie nicht auf jenen Kommandohöhen agierten, auf denen Hoheit und Einfluss verhandelt wurden. Bis heute hat sich ein Grundproblem in der historischen Forschung über die DDR nicht lösen lassen, obwohl es bereits seit Anfang der 2000er Jahre immer wieder benannt worden ist: Die historische DDR-Forschung befindet sich in einer Insellage, und zwar gleich doppelt. Zum einen gibt es kaum Verknüpfungen und Verzahnungen mit der allgemeinen historischen Forschung. Zum anderen erweist sich die historische DDR-Forschung oftmals gegenüber der sozialwissenschaftlichen Forschung über die DDR und Ostdeutschland resistent (und umgekehrt genauso übrigens). Um beim Letzteren zunächst zu bleiben: Das zeigt sich vor allem methodisch und theoretisch. Die historische DDR-Forschung verbindet nach wie vor zu selten sozialwissenschaftliche Theorieansätze mit der empirischen historischen Analyse. Die bereits vor 20 Jahren konstatierte kleinteilige DDR-Forschung ist noch immer das prägende Antlitz der DDR-Forschung. Das korrespondiert mit der andauernden Insellage der historischen DDR-Forschung. Diese ist zum einen strukturell bedingt. Diese führt nach wie vor einen Behauptungskampf, einen institutionellen Anerkennungskampf. Die Überführung der Stasi-Unterlagen ins Bundesarchiv stellt dafür ein schönes Beispiel dar. In der Behörde für die Stasi-Unterlagen existierte eine anerkannte und sehr produktive Forschungsabteilung. Schon seit Jahren war darum gerungen worden, was aus dieser Abteilung nach der Auflösung der Behörde werden würde. Die Forschungsabteilung hatte keine Lobby, kein Vorschlag zur Zukunft der Forschungsinstitution fand auch nur ansatzweise Berücksichtigung. Von mehreren Seiten gab es die Idee, die Forschungsabteilung als Grundstein für ein zu schaffendes Forschungsinstitut für kommunistische oder europäische Diktaturen zu nehmen. Übereinstimmend hieß es immer wieder, die künftige Erforschung von Geheimpolizeien, Opposition und Widerstand, Repression und Alltag müsse im Rahmen einer weiten Kultur- und Gesellschaftsgeschichte, nicht im engen Korsett einer starren politischen Herrschaftsgeschichte erfolgen, und dies müsse in transnationaler und komparatistischer Perspektive erfolgen. Am Ende ist die Forschungsabteilung bereits in der noch bestehenden Stasi-Unterlagen-Behörde weitgehend zu einer Editionsabteilung geschrumpft worden – sicherlich passgerecht für das Bundesarchiv, aber der Forschungslandschaft nicht jene Impulse verleihend, die ein modern ausgerichtetes und dringend nötiges Forschungsinstitut zur Geschichte des Kommunismus

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und der europäischen Diktaturen hätte aussenden können. Gegenwärtig scheint die deutsche Geschichtsschreibung zur globalen Historiographie des Kommunismus den Anschluss zu verlieren. In den wichtigsten Kompendien zum Kommunismus etwa aus Oxford oder Cambridge, die fast parallel erschienen sind, kommen deutsche Forscher*innen kaum vor. Auch die wichtigsten internationalen Debatten werden fast ausschließlich ohne deutsche Beteiligung geführt. Das hängt nicht mit der Ignoranz der internationalen Community gegenüber den Forschungen in Deutschland zusammen, sondern wohl mit dem Umstand, dass ausgerechnet in Deutschland die Kommunismusforschung meistens die DDR-Geschichte ausblendete, dass die DDR-Geschichtsschreibung oft ohne Zusammenhang zur allgemeinen Kommunismusgeschichte glaubt auszukommen und dass in der Bundesrepublik seit 1990 die Geschichte der Arbeiterbewegung und die Geschichte der KPD akademisch ein Schattendasein führen und oft bevorzugt von jenen betrieben werden, die sich auch politisch in der Tradition ihrer Untersuchungsobjekte stehend sehen. Gegenwärtig ist aber in der wissenschaftlichen Community zu beobachten, dass eine neue Forscher*innengeneration den Diskursraum betritt und neue Akzente setzt. Wenn früher bemängelt wurde, dass die politische Geschichte alle anderen methodische Ansätze dominiert habe, so ließe sich heute kritisch einwenden, politische Geschichte komme bezogen auf die DDR kaum noch vor. Sehr dominant sind seit einigen Jahren Ansätze, die auf nichtschriftlichen Quellen aufbauen und hier vor allem auf lebensgeschichtlichen Interviews. Dabei ist zu beobachten, dass die Studien nicht nur Erfahrungsräume und Mentalitäten in den Blick nehmen, sondern zunehmend „heute“ geführte Interviews als Quellen für die Rekonstruktion historischer Lebensweisen, Vorstellungen und Entwicklungen benutzen. Diese Art von Positivismus irritiert ebenso wie eine belanglose Zurschaustellung von Plaste-Eierbecher versus Plastik-Eierbechern in so manchen Museen. Dahinter verbirgt sich eine nach den lokalen, regionalen, nationalen und globalen Erfahrungen der letzten 30 Jahre offenbar neue vermutete Offenheit des Geschichtsprozesses, welche die westliche Gesellschaftsordnung nicht mehr als alternativlos und vor allem als widersprüchlicher und zukunftsloser versteht, als sie sich selbst nach 1989/1990 anpries. In der Suche nach Alternativen erscheint zwar nicht die DDR als erstrebenswert, aber ein „demokratischer Sozialismus“ durchaus. Das ist verständlich, wenn denn damit in Teilen jüngerer Forschungsergebnisse nicht zu beobachten wäre, in der DDR-Geschichte – Staat wie Gesellschaft – Emanzipations- und Alternativmodelle, verschüttete Potenziale freilegen zu wollen, mit denen man nun ausgerechnet jenen „demokratischen Sozialismus“ zu begründen sucht, für den dessen Verfechter*innen in der DDR jahrelang in Haftanstalten weggesperrt oder aus dem Lande gejagt wurden.

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Diese Tendenz ist besonders in den neueren Forschungen über Ostdeutschland seit 1990 zu beobachten. Dieses jüngere Forschungsfeld ist bislang kaum in der historischen Forschung angekommen, sondern wird von den Sozialwissenschaften beherrscht. Hier überwiegen Studien, die den Transformationsprozess kritisch betrachten. Dabei ist aus geschichtswissenschaftlicher Sicht anzumerken, dass es nur sehr selten gelingt, die Entwicklungen und Prozesse vor und nach 1989 gleichermaßen überzeugend darzustellen und zu analysieren.13 Zukünftig dürfte es noch stärker darauf ankommen, die ersten vorliegenden Studien aufzugreifen und die starren politikhistorischen Zäsuren, die bislang die Geschichte kartieren, zu hinterfragen. Also ist vielleicht die Zäsur 1973 (Ölpreisschock) am Ende global betrachtet entscheidender als 1989? Natürlich, Zäsurbildungen hängen auch immer von konkreten Fragestellungen ab, die Geschichte eines Anglervereins wird andere Zäsuren erfordern als die Geschichte des Kochlöffels am Bodensee. Aber: Beide Betrachtungen werden, sofern sie über ihren Gegenstand hinaus wissenschaftliche Erkenntnisrelevanz anmelden, die konkreten Entwicklungen und Prozesse in größere Kontexte einbetten und sich dabei an anerkannten Zäsuren orientieren. Diese sind dynamisch. Die Erforschung des Transformations- und Einigungsprozesses seit 1990 auf nationaler, transnationaler, europäischer und globaler Ebene beginnt gerade erst, auch von Historiker*innen entdeckt zu werden. Bislang dominierten auf diesem Feld Sozialwissenschaftler*innen. Von Historiker*innen könnten zwei Dinge erwartet werden, für die sie mit ihren spezifischen methodischen Zugriffen prädestiniert erscheinen: Zum einen geht das nicht, ohne neue Quellen zu erschließen. Hier wird interessant zu beobachten sein, welche das über die traditionellen hinaus sein werden; traditionell im Sinne etwa des großen Bestandes im Bundesarchiv zur Geschichte der Treuhandanstalt, deren schiere Menge allein das methodische Problem aufwirft, wie das wissenschaftlich-analytisch sinnvoll bewältigt werden kann, ohne dass wir in den nächsten Jahren mit einer Vielzahl von Einzelstudien überschüttet werden, die uns viele neue Kenntnisse, aber wenig neue Erkenntnisse bringen. Mir erscheint in diesem Kontext inhaltlich interessant zu sein, die Fragestellungen jenseits dominierender politikgeschichtlicher Zäsuren zu entwickeln, also über die Epochengrenze von 1989/1990 hinweg zu fragen. Die bereits erwähnte Studie zum Heiratsverhalten ostdeutscher Frauen 1980 bis 2000 trägt hier Pioniercharakter wie auch einige andere Untersuchungen. Solche Analysen legen Ursachen und Kontexte für vieldiskutierte Probleme aus den 1990er und 2000er Jahren in Ostdeutschland offen. So könnte die Frage nach Rassismus, Antisemitismus, Illibera13 Für eine solche Ausnahme siehe Schröter 2018, siehe als Bilanz Kowalczuk et al. 2021.

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lismus oder paternalistischer Staatsgläubigkeit in Ostdeutschland in historischen Längsschnitten bis ins 19. Jahrhundert zurückreichend untersucht werden und dabei herausgearbeitet werden, was nach 1990 eigentlich warum auf eine lange Tradition zurückblickt und was tatsächlich vor allem mit dem Transformationsgeschehen zusammenhängt. Ein anderes Forschungsfeld böte die demographische Entwicklung, ein Gebiet, das in der Gegenwart für Ostdeutschland von zentraler Relevanz ist. Auch hier wäre zu untersuchen, inwiefern die Entwicklungen nach 1990 ursächlich mit dem Transformationsprozess zusammenhängen oder nicht doch, wie es Studien der Akademie der Wissenschaften der DDR aus den 1980er Jahren nahelegen, weitaus längeren Entwicklungslinien folgten. Viele weitere Forschungsthemen könnten aufgelistet werden, die neben synchronen und diachronen Vergleichen und einer stärken methodischen und theoretischen Vernetzung in der internationalen Kommunismusforschung einen Schwerpunkt auf historische Entwicklungsprozesse legen, die eben nicht politikhistorische Zäsuren als Anfangsoder Endpunkte gesellschaftsgeschichtlicher Entwicklungen nehmen, wovon die historische DDR- und Ostdeutschlandforschung aber gegenwärtig noch stark geprägt ist. Insofern ist zu erwarten, dass künftige öffentliche Debatten über die DDR oder Ostdeutschland noch irritierender ausfallen, sprich noch produktiver für die Gesellschaft, natürlich nicht für die Beteiligten, weil die zum Zeitpunkt der Debatte in aller Regel thematisch längst woanders unterwegs sind. Das führt zum Ausgangspunkt dieses Essays: Geschichte ist die aus der Vergangenheit geronnene Verdichtung, die wir rekonstruieren, erzählen, erfinden. Sie ist nur ein kleines Abbild dessen, was wir uns zumuten können, was wir verarbeiten, verkraften oder in einem Sinnzusammenhang anschauen können. Sie ist der kleinste Teil dessen, was Vergangenheit ausmacht, was geschehen ist. Es ähnelt im übertragenen Sinne dem Paradoxon „Schrödingers Katze“: Vergangenheit ist der an sich sinnlose Kasten, zur sinnhaften Geschichte wird der Inhalt erst durch unsere Beobachtung, Rekonstruktion und Erzählung. Geschichtsschreibung enthält immer auch die spezifischen Blicke der Geschichtsschreiber*innen, daher bleibt die Zukunft der Vergangenheit immer gleich spannend und aufregend. Literatur Augstein, Franziska (2012): Der stumme Gast. Wie schreibt man deutsche Zeitgeschichte? Die Historiker Norbert Frei und Ulrich Herbert diskutieren in München. In: Süddeutsche Zeitung v. 27.01.2012. Barthes, Roland (1996): Mythen des Alltags. Frankfurt a.M.: Suhrkamp.

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Dahrendorf, Ralf (1967): Pfade aus Utopia. Arbeiten zur Theorie und Methode der Soziologie. Gesammelte Abhandlungen I. München: Piper. Dahrendorf, Ralf (2004): Der Wiederbeginn der Geschichte. Vom Fall der Mauer zum Krieg im Irak. Reden und Aufsätze. München: C.H. Beck. Großbölting, Thomas (2019): „Wem gehört die Friedliche Revolution? Die Pollack-Kowalczuk-Kontroverse von 2019 als Lehrstück von Wissenschaftskommunikation“. In: Deutschland Archiv. 14.07.2019. Online verfügbar unter www.bpb.de/312786. Gesehen am 17.06.2021. Hähnig, Anne (2020): „Der Osten braucht eine neue Elite!“. In: Zeit im Osten v. 28.05.2020. Hildebrandt, Annette und Ilko-Sascha Kowalczuk, Werner Schulz, Matthias Rößler, Elke Witte, Günter Nooke, Rainer Eckert und Petra Morawe (2020): „Wer will schon Elite sein?“. In: Zeit im Osten v. 10.06.2020. Kowalczuk, Ilko-Sascha (2002): Freiheit und Öffentlichkeit. Politischer Samisdat in der DDR 1985 bis 1989. Schriftenreihe der Robert-Havemann-Gesellschaft (7). Berlin: Robert Havemann Gesellschaft. Kowalczuk, Ilko-Sascha (2015): Endspiel. Die Revolution von 1989 in der DDR. 3. Ausgabe. München: C.H. Beck. Kowalczuk, Ilko-Sascha (2019a): „Eine Minderheit bahnte den Weg“. In: FAZ v. 15.07.2019. Kowalczuk, Ilko-Sascha (2019b): Die Übernahme. Wie Ostdeutschland Teil der Bundesrepublik wurde. 6. Auflage. München: C.H. Beck. Kowalczuk, llko-Sascha (2019c): Rezension zu: Stamm, Christoph: Wem gehören die Akten der SED? Die Auseinandersetzung um das Zentrale Parteiarchiv der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands nach 1990. Düsseldorf. H-Soz-Kult, 02.06.2020. Online verfügbar unter www.hsozkult.de/publicationreview/id/reb-28575. Gesehen am 17.06.2021. Kowalczuk, Ilko-Sascha (2020): „Die Mehrheit stand daneben“. In: Berliner Zeitung v. 15.04.2020. Kowalczuk, Ilko-Sascha, Frank Ebert und Holger Kulick (Hrsg.) (2021): (Ost)Deutschlands Weg. 2 Bände, Berlin, Bonn: Bundeszentrale für politische Bildung. Kowalczuk, Ilko-Sascha und Arno Polzin (2014): Fasse Dich kurz! Der grenzüberschreitende Telefonverkehr der Opposition in den 1980er Jahren und das Ministerium für Staatssicherheit. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. Pollack, Detlef (2019): „Es war ein Aufstand der Normalbürger“. In: FAZ v. 12.07.2019. Popper, Karl R. (1992): Die offene Gesellschaft und ihre Feinde. Band II. 7. Auflage. Tübingen: J.C.B. Mohr. Sabrow, Martin (2019): „Mythos 1989. Rückblick auf ein historisches Jahr. Wem gehört die friedliche Revolution?“ BpB 28.11.2019. Online verfügbar unter https://www.bpb. de/geschichte/zeitgeschichte/deutschlandarchiv/300737/mythos-1989. Gesehen am 17.06.2021. Schröter, Anja (2018): Ostdeutsche Ehen vor Gericht. Scheidungspraxis im Umbruch 1980–2000. Berlin: Ch. Links Verlag.

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Schulz, Werner (2020): Wem gehört die Revolution von 1989? Link: Globkult, 20.07.2020, https://www.globkult.de/geschichte/zeitgeschichte/1918-wem-gehoert-die-revolutionvon-1989. Gesehen am 17.06.2021. Voltaire (2011): Über die Geschichte. Ratschläge an einen Journalisten [1737]. In: Fritz Stern und Jürgen Osterhammel (Hrsg.): Moderne Historiker. Klassische Texte von Voltaire bis zur Gegenwart. München: C.H. Beck. Wehler, Hans-Ulrich (1984): Einleitung. In: ders. (Hrsg.): Geschichte und Soziologie. 2. Auflage. Königstein im Taunus: Athenäum. Wolfram, Klaus (2020a): „Der Mutige wird wieder einsam“. In: Berliner Zeitung v. 06.04.2020. Wolfram, Klaus (2020b): „Die Revolution habe alle gemacht“. In: Die Zeit im Osten v. 29.04.2020.

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Das Narrativ der Demütigung und die Gefühle der Ostdeutschen Ute Frevert

2019, zum 30. Jahrestag des Mauerfalls, war oft von der Enttäuschung die Rede, die die damaligen Bürger*innen der DDR angesichts der nachfolgenden Entwicklung in ihrem Land verspürten. Viele erinnerten sich an große Hoffnungen und tiefe Ernüchterung, an Versprechen, die nicht gehalten wurden, an Aufbrüche, Einbrüche und Abbrüche. Interviews, Redebeiträge und schriftliche Texte stellten der Wiedervereinigung aus ostdeutscher Perspektive kein gutes Zeugnis aus, das Ressentiment vieler war mit Händen zu greifen. Es drückte sich nicht zuletzt in den Erfolgen der rechtsextremen Alternative für Deutschland aus, die 2019 bei Landtagswahlen in Thüringen, Brandenburg und Sachsen zwischen 23,4 und 27,5 Prozent der Stimmen gewann. Ihr erinnerungspolitischer Appell „Die Wende vollenden“ hatte gezündet und die Partei mancherorts zur stärksten Kraft gemacht. In Umfragen stimmten 42 Prozent der Ostdeutschen der Ansicht zu, sie seien Bürger zweiter Klasse.1 Damit gehe, hieß es von rechts wie von links, ein Gefühl der Demütigung einher. Vom „Stachel der Demütigung“ sprach 2016 die sächsische SPD-Integrationsministerin Petra Köpping, die zwei Jahre später einen Bestseller unter dem Titel „Integriert doch erstmal uns“ vorlegte. Das Gefühl, gedemütigt worden zu sein, diagnostizierte sie überall dort, wo jemand ihr von persönlichen Niederlagen und Kränkungen erzählte.2 Solche Erfahrungen gab es zuhauf. Sie verbanden Menschen, deren Betriebe von der Treuhand abgewickelt oder weiterverkauft wurden, die ihren Arbeitsplatz verloren und einen neuen suchen mussten. Gekränkt und abgewertet fühlten sich Professor*innen, die ihre Marxismus-Leninismus-Lehrstühle räumen mussten, und NVA-Generäle, die nicht in die Bundeswehr übernommen wurden. Gedemütigt scheinen sich schließlich auch Spät- und Nachgeborene zu fühlen, die sich mit den enttäuschten Eltern und Großeltern identifizieren. Einige reden von Anschluss, Landnahme, Kolonialisierung und Exil.3

1 2 3

Dimap 2019. Vgl. Schlottmann 2016; Hähnig 2017. Vgl. Stange 2019; Milev 2018, 2020; Oberender 2020; Dümcke/Vilmar 1995.

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1. Enttäuschung oder Demütigung?

Das sind starke Worte. Worte aber sind nicht Schall und Rauch, sie sind politische Waffen und wollen es sein. Sie legen Bedeutungen fest, nehmen In- und Exklu­ sionen vor, erheben Ansprüche auf Deutungshoheit und politische Positionierung. Wer von Enttäuschung spricht, ruft einen anderen semantischen Horizont auf als diejenige, die von Demütigung oder Kolonialisierung redet. Eine Kränkung oder Niederlage erfahren zu haben, meint etwas anderes, als gedemütigt oder erniedrigt worden zu sein. Von Enttäuschung spricht man gemeinhin vor dem Hintergrund von Hoffnungen und Erwartungen, die sich nicht erfüllt haben.4 Das ist bedauerlich und wird bedauert, aber explizite Schuldzuweisungen finden nicht statt – außer dann, wenn jemand leichtfertig oder aus betrügerischen Motiven etwas versprochen hat, an das er oder sie sich anschließend nicht mehr gebunden fühlt. Wer dagegen das Wort Demütigung im Munde führt, hat anderes im Sinn. Demütigung bedarf eines Demütigenden: Es muss jemanden geben, der einer anderen Person die Würde abspricht und sie in die Knie zwingt. Enttäuschung ist strukturell flach, auch wenn sie emotional tief gehen kann. Sie kommt in der Regel ohne einen zentralen Akteur aus, der die Enttäuschung absichtlich verursacht hat. Ebenso wie Hoffnungen und Erwartungen relativ unbestimmt sein können, bewegen sich auch Enttäuschungen im Vagen, Unverbindlichen, Stimmungsmäßigen. Es gibt, anders als bei Demütigungen, weder Opfer noch Täter. Man erleidet keine Enttäuschung, und es fehlen die aktiven Enttäuscher. Bei Demütigungen dagegen, ähnlich wie bei Betrügereien, lassen sich diejenigen, die gedemütigt oder betrogen werden, klar von jenen unterscheiden, die demütigen und betrügen. Beide Seiten sind identifizierbar, ihr Verhalten kann ihnen unmittelbar zugerechnet werden, und sie gehen eine konkrete, handgreifliche Beziehung miteinander ein. Eben das macht die Sprache der Demütigung so anschlussfähig. Zum einen bedient sie einen Opferdiskurs, der sich seit dem späten 20. Jahrhundert hoher gesellschaftlicher Wertschätzung erfreut.5 Sie fordert Empathie ein, weckt Empörung und ruft zur Solidarität mit der Person auf, die ohne eigenes Zutun gedemütigt und erniedrigt wird. Zum anderen lenkt sie die Aufmerksamkeit auf den oder die Täter, die mit eigenem Zutun und in voller Absicht demütigen. Diese Täter sind, anders als die Opfer, im Wortsinn tätig: Sie schauen und sprechen die Opfer an, teilen ihnen ihre Verachtung, Geringschätzung, Überlegenheit verbal oder 4 5

Gotto 2018. Goltermann 2017; Bruckner 1997.

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Das Narrativ der Demütigung und die Gefühle der Ostdeutschen

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handgreiflich mit. Sie erzeugen damit ein hierarchisches Verhältnis und zwingen die Unterlegenen dazu, sich zu ducken, den Kopf einzuziehen, ihre Ohnmacht und Unterworfenheit anzunehmen. 2. Die Politik der Demütigung und ihre Gegenstrategien

Von Demütigungen reden nicht nur Ostdeutsche. Das Narrativ erfreut sich auch in anderen sozialen und politischen Zusammenhängen großer Beliebtheit. In der internationalen Politik spielt es aktuell und historisch eine zentrale Rolle. Putins Russland, befinden Expert*innen, operiere mit einem Demütigungssyndrom, das man auch den arabischen Ländern attestiert.6 China bekennt sich offensiv dazu: Das 19. Jahrhundert gilt dort parteioffiziell als „Jahrhundert der Demütigung“ – einer Demütigung durch ausländische Mächte, die erst mit dem Sieg Maos beendet worden sei. Oder, genauer gesagt, fast beendet: Denn erst wenn Hongkong, das 1997 zu China zurückkehrte, vollkommen gleichgeschaltet und Taiwan eingegliedert seien, werde die chinesische Nation die Spuren ihrer einstigen Ohnmacht und Abhängigkeit vollends abgeschüttelt und ihre traditionelle Stärke und Autonomie zurückgewonnen haben.7 Die Botschaft des Narrativs ist durchsichtig: Wer gedemütigt worden ist, hat das Recht, sich dagegen zu wehren. Er kann die historische Demütigung zwar nicht ungeschehen machen. Aber er lässt sie nicht auf sich sitzen, sondern ergreift Gegenmaßnahmen, die diejenigen, die gedemütigt haben, ins Unrecht setzen und in die Schranken weisen. Ein ähnliches Narrativ trat 1919 in die Welt, als Deutsche den Versailler Vertrag als nationale Demütigung wahrnahmen und dann nach 1933 alles taten, die einstige Schwäche durch offensive Stärke zu kompensieren.8 Der Umschlag von Schwäche in Stärke ist spezifisch für die internationale Demütigungsszenerie, in der sich Machtverhältnisse verschieben und neu justieren können. Indem Demütigungserfahrungen, wie in China, über einen langen Zeitraum präsent gehalten und propagandistisch aufbereitet werden, entfalten sie eine hohe kollektive Mobilisierungskraft. Sie beruht auf der emotionalen Bindungsfähigkeit des klassischen Ehrdiskurses, wie er seit der Frühen Neuzeit mit wechselnden Trägern geführt wurde. War es zunächst der absolutistische Fürst und Landesherr, dessen Ehre es um jeden Preis zu wahren und vor Verletzun6 7 8

Vgl. Shevtsova 2015; Eppler 2015; Moïsi 2009, S. 88–133. Wang 2012. Von Demütigung sprachen damals nicht nur Deutsche, sondern auch Österreicher, Ungarn, Türken und Italiener – alle die, die sich als Verlierer des Ersten Weltkriegs empfanden und von den Friedensschlüssen übervorteilt fühlten.

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gen zu schützen galt, ging die Ehre im 19. Jahrhundert zunächst auf den Staat über, in zunehmendem Maße aber auch auf die Nation. Das bedeutete, dass sich alle Staatsbürger*innen und Angehörigen einer Nation von einer Ehrenkränkung getroffen fühlen konnten und das, dank kräftiger politischer Aufforderung und medialer Unterstützung, auch taten.9 Demütigungen fanden und finden aber nicht allein auf internationalem Parkett statt.10 Jüdische Deutsche, die 1933 aus ihren Ämtern und Positionen entlassen wurden, obwohl sie sich dem Regime als loyale Staatsdiener zur Verfügung stellten, nahmen dies als abgrundtiefe Demütigung und Degradierung zu Bürgern zweiter Klasse wahr. Zwei Jahre später verloren sie das „Ehrenrecht“, in der Wehrmacht zu dienen, 1936 wurden ihnen die Bürgerrechte gänzlich aberkannt. Nach dem „Anschluss“ Österreichs ans Deutsche Reich 1938 zwangen Nazis Wiener Juden, NS-kritische Graffiti auf den Knien von den Bürgersteigen zu bürsten. Die alltäglichen Demütigungen und Erniedrigungen, die Häftlinge in Konzentrationslagern erfuhren, gehörten zur Machtstrategie eines Regimes, das seine politischen und „rassischen“ Feinde sowohl körperlich als auch psychisch-emotional zu vernichten und auszulöschen suchte. Dieser Strategie konnte man sich nur individuell entziehen, durch Flucht, Emigration oder Selbstauslöschung. Kollektiver Widerstand war unmöglich, eine Beschwerdeinstanz gab es ebenso wenig wie mediale Unterstützung. Empathie war im „Dritten Reich“ ohnehin Mangelware und ausschließlich „Gemeinschaftsgenossen“ vorbehalten. Der Volksgerichtshof inszenierte vor den Augen loyaler Parteigänger*innen veritable Demütigungsschauspiele gegen sogenannte Verräter*innen. Sein Präsident Roland Freisler zog dabei alle Register der Beleidigung, Beschimpfung und Erniedrigung, ohne dass die Angeklagten die Chance bekamen, sich dagegen zu wehren, oder auf das Mitgefühl des Publikums rechnen durften. In solchen Konstellationen – die nicht auf Nazi-Deutschland beschränkt waren, sondern sich auch in den stalinistischen Schauprozessen der späten 1930er Jahre abbildeten – luden die extrem asymmetrischen Machtverhältnisse geradewegs dazu ein, Demütigungen als Demonstrationen der eigenen Dominanz und Hegemonie sowie als radikales Exklusionsinstrument einzusetzen. Ein nachholender Umschlag von Stärke in Schwäche und von Schwäche in Stärke war weder vorgesehen noch wahrscheinlich. Demütigungen blieben allerdings kein Monopol totalitärer Staaten und Gesellschaften. Obwohl internationale Organisationen und nationale Parlamente nach 1945 und vor dem Erfahrungshintergrund massiver Menschenrechtsverletzungen 9 Vgl. Frevert 2020. 10 Frevert 2017.

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das Konzept einer staatlich-überstaatlich geschützten Menschenwürde in Anschlag brachten, fanden in vielen Ländern weiterhin Ausgrenzungen, Herabsetzungen, Erniedrigungen statt. Große Teile der Bevölkerung wirkten daran mit, als Täter*innen und als willfähriges Publikum. Autoritätspersonen wie Lehrer*innen oder Vorgesetzte demütigten Schüler*innen und Mitarbeiter*innen. Männer demütigten Frauen, Heterosexuelle demütigten Homosexuelle, Klassenkamerad*innen teilten untereinander aus, Kolleg*innen saßen (in der DDR) übereinander zu Gericht.11 In den 1960er Jahren begann sich der Wind langsam zu drehen, kritische Stimmen konnten sich in den westlichen Demokratien, dank deutlicher Liberalisierungsschübe, zunehmend Gehör verschaffen. Ebenso wie Frauen gegen erniedrigende Gewalt oder die mediale Vermarktung und Objektifizierung des weiblichen Körpers auf die Straße gingen, meldeten sich auch Schwule und Lesben selbstbewusster zu Wort und protestierten gegen die allfällige Erfahrung sozialer Demütigung und Herabsetzung. Prügelnde Lehrer galten fortan als untragbar und sahen sich aufgefordert, Kinder und Jugendliche respektvoll zu behandeln. Respekt gebührte nun nicht mehr nur den klassischen Respektspersonen, die in der sozialen oder Altershierarchie oben standen. Respekt kam allen zu, kraft ihrer Würde als Menschen. Was genau es bedeutete, dieser Würde Anerkennung und Respekt zu zollen, war Verhandlungssache und veränderte sich je nach sozialen Befindlichkeiten und Machtverhältnissen. Demütigungen in Wort, Schrift, Bild und Tat aber gehörten definitiv nicht mehr zu den akzeptablen und akzeptierten Umgangsformen. Trotzdem verschwanden sie nicht gänzlich von der gesellschaftlichen Bildfläche. Gerade Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene bedienten sich ihrer, um Machtansprüche zu signalisieren, zu bestätigen und zu stabilisieren. Die neuen sozialen Medien leisteten Schützenhilfe. Wer in ihr Fadenkreuz geriet, konnte nur verlieren, und das bereits aus früheren Dekaden bekannte Mobbing erreichte ungeahnte Dimensionen. Die psychischen Folgen wogen schwer und sind vielfach bezeugt. Allerdings hat sich daraus kein eigenes Narrativ destilliert. Weder machen Kinder und Jugendliche öffentlich gegen Altersgenossen Front, die ihnen Demütigungen zufügen, noch haben sich die Schwulen- und Frauenbewegung seinerzeit damit begnügt, empfangene Erniedrigungen und Diskriminierungen anzuprangern. Anstatt sich in die Opferrolle zu begeben und die zugeschriebene Schwäche zu reproduzieren, legten sie es darauf an, Stärke zu gewinnen und zu demonstrieren. Für Feministinnen hieß es „Die Scham ist vorbei“, sie lehnten es ab, sich wei11 Zum Demütigungseffekt der sogenannten Konflikt- und Schiedskommissionen, in denen „das Kollektiv“ in Betrieben, Genossenschaften und Nachbarschaften über Normbrüche seiner Mitglieder urteilte, vgl. Frevert 2017, S. 59f.

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terhin beschämen, herabsetzen, demütigen zu lassen. Homosexuelle adoptierten den Slogan Gay Pride, der seit den 1970er Jahren das öffentliche Auftreten der internationalen Schwulenbewegung prägt. Statt sich in die Demut zwingen zu lassen, heben Schwule und Lesben ihren Stolz, ihr positives Selbstwertgefühl hervor. „Werdet stolz auf eure Homosexualität!“, hieß es 1971 in Rosa von Praunheims Film „Nicht der Homosexuelle ist pervers, sondern die Situation, in der er lebt“. Diesen Stolz trug und trägt man auf die Straße, weil er dem eigenen Selbstbewusstsein zuträglicher ist als das Gefühl, gedemütigt worden zu sein. Jenes Gefühl verschwindet zwar nicht. Die Scham über das, was einem zugefügt wurde, bleibt oft lebenslang erhalten und legt das „Opfer“ auf eine passive und unterlegene Position fest. Entkommen kann es ihr nur dann, wenn es positive Selbstwahrnehmungen aufruft und sich darin mit anderen zusammenschließt. Nur so lässt sich Schwäche in Stärke, Ohnmacht in Macht verwandeln. 3. Ambivalenzen und Asymmetrien nach 1989

Ein ähnlicher Prozess ist gegenwärtig in Ostdeutschland zu beobachten. Viele ehemalige DDR-Bürger*innen haben die drei Jahrzehnte nach der Wiedervereinigung als überaus ambivalent erlebt. Schon die Monate zwischen dem Mauerfall Anfang November 1989 und dem 3. Oktober 1990 waren voller gemischter Gefühle. Freude, Überraschung, Spannung, Euphorie wechselten ab mit Verlust­ ängsten, Unsicherheit, Sorgen. Die Geschwindigkeit des Umbruchs war atemberaubend und überforderte manche. Das Ende der DDR und der Beitritt der neugeschaffenen Ost-Länder zur Bundesrepublik ließen niemanden unberührt. Das Leben veränderte sich rasend schnell, und nicht wenige hatten den Eindruck, dass sie dabei nur Zaungäste waren. Ihre persönliche Handlungs- und Entscheidungsmacht stieß an enggezogene Grenzen, auf politischem Gebiet ebenso wie in wirtschaftlichen Belangen. Kompensation erfuhren sie als Konsument*innen. Sie gewannen unbegrenzten Zugang zu den begehrten Westprodukten, die die Ostwaren im Nullkommanichts aus den Regalen verdrängten. Gebraucht- und Neuwagen aus Westproduktion fanden reißenden Absatz, die vordem sorgsam gepflegten Trabis landeten auf dem Schrottplatz. In der Entscheidung, was sie kaufen und verbrauchen wollten, spürten die neuen Bundesbürger*innen jene Freiheit, die ihnen in der Arbeitswelt fehlte. Ob ihr Betrieb abgewickelt oder privatisiert wurde, wie viele Arbeitsplätze dabei verloren gingen, entzog sich in aller Regel ihrer Mitwirkung. Da die Erwerbsquote von Frauen und Männern in der DDR sehr hoch gelegen hatte, sah sich jede und jeder von den wirtschaftlichen Umbrüchen betroffen.

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Frauen reagierten darauf häufig flexibler als Männer. Sie hatten seit jeher zwei Arbeitsplätze gehabt, einen im Betrieb und einen im eigenen Haushalt. Der letztere blieb ihnen erhalten, selbst wenn der erstere wegfiel. Und er wurde attraktiver: Man musste für die Waren des täglichen Bedarfs keine Schlange stehen und war beim Einkaufen nicht mehr auf die Gewogenheit der Verkäufer*innen angewiesen. Allerdings wirkte sich die auch in der DDR fortgesetzte weibliche Familienorientierung nicht selten als erwerbspolitischer Stolperstein aus. Waren Frauen in Industriebetrieben beschäftigt gewesen, fanden sie anschließend seltener als ihre männlichen Kollegen eine Neuanstellung und waren häufiger von Arbeitslosigkeit betroffen. Auch deshalb zeigten sie ein höheres Interesse an beruflicher Weiterbildung und ließen sich in entsprechende Förderprogramme des Bundes und der Länder einbinden.12 Fehlte es an akzeptablen Arbeitsplätzen vor Ort, waren sie eher als Männer bereit, umzuziehen und sich andernorts nach einer adäquaten, zukunftsträchtigen Beschäftigung umzusehen. Das betraf vor allem jüngere Frauen, die sich in statistisch signifikanter Häufung gen Westen in Bewegung setzten. Männer hingegen taten sich oft schwerer mit den Herausforderungen der Nachwendezeit. Sie waren weniger mobil, litten stärker unter dem Verlust des Arbeitsplatzes und der daran geknüpften sozialen Beziehungen. Viele vermissten die betriebsgebundene Gemeinschaftlichkeit und beklagten die Vereinzelung, die mit der marktwirtschaftlichen Ordnung einherging. Aus DDR-Zeiten daran gewöhnt, ihren festen, sicheren Platz im Leben zugewiesen zu bekommen, traf sie die Unsicherheit und Volatilität der neuen Verhältnisse unvorbereitet. Arbeitslosigkeit war ein Fremdwort gewesen, das Phänomen kannte man nur aus den propagandistisch aufgebauschten Negativnachrichten der „Aktuellen Kamera“ über die kapitalistische Bundesrepublik. Selber vor die Situation gestellt, den angestammten Arbeitsplatz zu verlieren, fiel man damit zwar nicht ins Bodenlose, denn auch im Kapitalismus gab es ein stabiles soziales Sicherungsnetz. Zudem wurden viele in Fortbildungs- und Umschulungsmaßnahmen aufgefangen, um sie für neue Anforderungen zu qualifizieren. Doch auch das nagte empfindlich am Selbstbewusstsein. Hinzu trat die Erfahrung, dass sich das Leitungspersonal in den neuen Wirtschafts- und Verwaltungsstrukturen fast ausschließlich aus den alten Bundesländern rekrutierte. Während die eigene Erwerbsbiographie und Qualifikation abgewertet wurden, kam das neue Wissen in Gestalt westlicher Eliten daher. Belohnt von der augenzwinkernd so genannten Buschzulage – allein schon das Wort wirkte demütigend und herabsetzend –, trafen sie die maßgeblichen Entscheidungen. Selbst wenn nicht alle dem Bild des arroganten, besserwisserischen „Wessis“ ent-

12 Gieseke/Siebers 1996.

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sprachen, reichte der Rest aus, um unter „Ossis“ den Eindruck zu vertiefen, sie hätten im eigenen Land nichts mehr zu sagen und würden fremdbestimmt.13 Das unterschied die Verhältnisse in der ehemaligen DDR merklich von den Erfahrungen in anderen Ländern des Ostblocks. Dort wurden die postsozialistischen Eliten nicht importiert, sondern entstammten der eigenen Bevölkerung. Wenn Fehler gemacht und Gefühle verletzt wurden, war man im Land selber dafür verantwortlich. Das schloss nicht aus, dass sich auch in Polen oder Tschechien tiefe soziale und politische Risse und Spaltungen auftaten zwischen denjenigen, die dem liberal-westlichen Modell zuneigten und es nachahmten, und denen, die sich davon abwandten, weil es bei ihnen Gefühle der Unzulänglichkeit und des Identitätsverlusts hervorrief. Auch hier gab und gibt es das Narrativ der Demütigung. Aber es kehrte sich eher nach außen, gegen die Europäische Union und den Westen.14 In Deutschland übernimmt das Narrativ ebenfalls die Funktion, „Opfer“ und „Täter“ zu unterscheiden und Letztere als die Anderen, die Fremden, die Ungewollten zu verurteilen und auszugrenzen. Anders als in Ostmitteleuropa jedoch sprechen „Opfer“ und „Täter“ die gleiche Sprache, gehören dem gleichen Staatsverband an, wählen eine gemeinsame Regierung und befolgen die gleichen Gesetze. Dass das Trennende dennoch stärker betont wird als das Gemeinsame und auf ostdeutscher Seite neue Identitäts- und Grenzmarkierungen errichtet werden, hat jenseits der Vereinigungserfahrungen Gründe, die weit in die Vergangenheit zurückreichen. Jahrzehntelang war das Verhältnis zwischen den beiden deutschen Staaten durch eine tief in die Körper und Gefühle ihrer Bürger*innen eingeschriebene Asymme­trie gekennzeichnet gewesen. Dafür waren beileibe nicht nur materielle Differenzen und Disparitäten verantwortlich. Trotz wiederholter politischer Bekenntnisse zur nationalen Einheit und eines ihr gewidmeten Feiertags am 17. Juni haben sich die Menschen im Westen nie besonders für die „Brüder und Schwestern“ im Osten interessiert. Je länger, desto mehr orientierte man sich westwärts, fand Paris, Rom und New York ungleich attraktiver als Ost-Berlin und Leipzig. Man wusste nicht viel über den Alltag östlich der Elbe, war sich aber sicher, niemals in diesem grauen, autoritären Land leben zu wollen. Umgekehrt kannten DDR-Bürger*innen die Bundesrepublik oft besser als den eigenen Staat. Sie schauten Westfernsehen, konnten alle Minister beim Namen nennen, fieberten

13 Mau/Offe 2020; Mau 2019. 14 Zum Nachahmungsparadigma und seinen politischen Folgen in Ost(mittel)europa seit 1990 vgl. Krastev/Holmes 2019.

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mit bei Fußballspielen und Misstrauensvoten gegen Willy Brandt oder Helmut Schmidt. Auch mit der westlichen Konsumwelt waren sie bestens vertraut. Für viele in der DDR übersetzte sich diese langjährige Asymmetrie der Aufmerksamkeit und Teilnahme nach 1989 in Gefühle der Kränkung und des Zurückgestoßenseins. Eben noch als Helden der friedlichen Revolution gefeiert und an die bundesdeutsche Brust gedrückt, fühlte man sich rasch als armer Bittsteller, dem außer oberflächlicher Neugier und Gleichgültigkeit auch eine Menge Vorurteile entgegenschlugen. Das spiegelte sich in Umfragen wider: 1991 nahmen nur knapp 38 Prozent der Ostdeutschen (und 33,6 Prozent der Westdeutschen) die Wiedervereinigung als positives Ereignis wahr. 2018 aber hatte sich das Blatt gewendet. Jetzt äußerten sich zwei von drei Ostdeutschen erfreut, unter den Westdeutschen waren es 56,6 Prozent. Der Schwenk ging, zeigt eine neue Studie, vor allem auf das Konto der jüngeren Generation und derer, die als „Binnenmigranten“ Brücken bauten und den jeweils anderen Landesteil besser kennengelernt hatten.15 Zwischen 1991 und 2017 zogen 3,7 Millionen ehemalige DDR-Bürger*innen in die westlichen Bundesländer; junge Menschen und Frauen waren überproportional vertreten. Von West nach Ost wechselten 2,5 Millionen Menschen.16 4. Gibt es eine ostdeutsche Identität?

Wie ist es vor diesem Hintergrund zu erklären, dass dennoch – und gerade wieder in den letzten Jahren – so viel von Demütigung und Deklassierung die Rede ist und dass diese Rede immer stärker den Charakter eines politischen Arguments und Schlagabtausches annimmt? Der Eindruck drängt sich auf, dass hier ein identitätsstiftendes Narrativ konstruiert wird mit dem Zweck, Ost- und Westdeutsche erneut und dauerhaft voneinander zu scheiden. Das geschieht durch die Festschreibung einer ostdeutschen Identität, die sich, wie behauptet wird, nach 1990 herausgebildet und auf die vielfältigen, von Westdeutschen verursachten und verantworteten Demütigungserfahrungen reagiert habe. An dieser Konstruktion sind ihre blinden Flecke interessant und aufschlussreich. Ausgeblendet und negiert werden zum einen die 40-jährige Vorgeschichte der Vereinigung und das, was die DDR für ihre Bürger*innen bedeutet hat. Zum anderen unterschlägt das Beharren auf einer gemeinsamen Opferidentität, dass

15 Vgl. Heller et al. 2020. 16 Bangel et al. 2019.

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Menschen die Zeit nach 1989 sehr verschieden erlebt haben, abhängig von Alter, Geschlecht, sozialer Position oder politischer Einstellung. So zeigen repräsentative Umfragen, dass Demütigungs- und Abwertungsgefühle offenbar längst nicht bei allen Ostdeutschen verbreitet sind. Unter den brandenburgischen Wähler*innen, die 2019 für die AfD bzw. die Linke votierten, stimmten 77 bzw. 70 Prozent der Aussage zu, Ostdeutsche fühlten sich als Bürger zweiter Klasse. Bei denen, die der CDU ihre Stimme gaben, galt das nur für 38 Prozent, bei Grünen-Wähler*innen waren es 36 Prozent.17 Dass sich die Zustimmung derart signifikant nach Parteien unterschied, ist wenig verwunderlich. Denn Linke und Rechte waren und sind es vor allem, die antiwestliche Ressentiments pflegen und in das Demütigungshorn blasen. Immer mehr Wähler*innen, Männer deutlich häufiger als Frauen, wechselten übrigens die Seiten und wandten sich in den drei ostdeutschen Landtagswahlen 2019 den extremen Rechten zu – ein Phänomen, das an entsprechende Wählerwanderungen aus den frühen 1930er Jahren erinnert. Attraktiv schien ihnen besonders die nationalistische und Antielitenhaltung der AfD, die auf dezidierten Konfrontationskurs zu den „Altparteien“ geht und den angeblich kosmopolitischen Westeliten in Politik, Wirtschaft, Medien und Kultur Verrat am deutschen Volk vorwirft. Dagegen setzt die extreme Rechte einen völkischen Nationalstolz, der Migrant*innen ausschließt und dafür jene aufwertet, die sich als abgehängt, deklassiert und gedemütigt empfinden. Auffällig ist, dass die AfD vor allem bei Männern punktet. In Sachsen stimmten 2019 33 Prozent der männlichen Wähler, aber nur 22 Prozent der weiblichen für diese Partei, in Brandenburg waren es 30 bzw. 19 Prozent. Den stärksten Zuspruch erhielt sie von Personen mittleren Alters: Bei 30- bis 59-jährigen Sachsen lag die Zustimmungsrate etwas über 35 Prozent, in Brandenburg etwas unter 30 Prozent. Jüngere Wähler*innen blieben zurückhaltender: Von den 18- bis 29-Jährigen erhielt die AfD lediglich jede vierte Stimme..18 Auch diese unterschiedliche Alters- und Geschlechterverteilung deutet darauf hin, dass „der Osten“ weit diverser ist, als es die Rede von einer durch Ausschluss-, Abwertungs- und Demütigungserfahrungen nach 1990 geprägten ostdeutschen Identität suggeriert. Eine solche Identität, wie sie manche Publizist*innen und Intellektuelle seit etwa zehn Jahren beschreiben oder besser herbeischreiben wollen, entpuppt sich bei näherem Hinsehen als kühn konstruierte Kopfgeburt.19 Das 17 Online verfügbar unter https://www.rbb24.de/politik/wahl/Landtagswahl/beitraege/vorwahlbefragung-landtagswahl-brandenburg-analyse.html. Gesehen am 21.06.2021. 18 Ehmann et al. 2019. 19 Hensel 2009, 2019; Engler/Hensel 2018.

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heißt nicht, dass die Beispiele für Abwertung, Arroganz, Gleichgültigkeit „des Westens“ erfunden wären. Sie sind es nicht, und jeder und jede kann davon erzählen: von dem Bayern, der sich erkundigt, ob man im Osten denn auch Kühlschränke oder Zentralheizung gehabt habe; von der Frau an der Augsburger Hotelrezeption, die dem Gast aus Leipzig erklärt, wie der Aufzug funktioniert; von dem Bielefelder Wissenschaftler, der sich über das schlechte Englisch seiner Dresdner Kollegin mokiert.20 Dass solche Zuschreibungen herabsetzend wirken können, liegt auf der Hand. Aber sind sie tatsächlich so gemeint, legen sie es auf diese Wirkung an? Zwingen sie ihre Adressat*innen in die Knie, in die Unterwerfung? Maßt sich hier jemand Macht an, wertet das Gegenüber ostentativ ab und verweist es verächtlich auf eine ohnmächtige Position? Das mag in einigen Fällen so gewesen sein, fügt sich aber nicht zu einer flächendeckenden Politik der Demütigung, wie sie aus anderen historischen Kontexten bekannt ist. Selbst bei den Akteuren der vielgescholtenen Treuhand ist eine solche absichtsvolle Politik nicht dokumentiert.21 Wenn sie gleichwohl von manchen so empfunden und namhaft gemacht wurde, demonstriert das neben einem unschwer nachvollziehbaren Unterschied der Sensibilitäten auch die tiefe Kommunikationslücke zwischen „Tätern“ und „Opfern“. Anstatt Kränkungen hinzunehmen und sie entweder zu beschweigen oder als Demütigung umzucodieren, hätte man ein Gespräch darüber beginnen können. Das hatte Bundespräsident Richard von Weizsäcker schon 1990 angemahnt. Er forderte damals vor allem die Westdeutschen auf, ihren ostdeutschen Mitbürger*innen entgegenzugehen. Begegnung auf halbem Wege statt Abgrenzung und Abwertung tue not, um die Wiedervereinigung zu einer Erfolgsgeschichte zu machen. Zehn Jahre später bilanzierte sein Nachfolger Johannes Rau, man habe noch immer „viele Vorurteile und Fehlurteile übereinander. Wir wissen zu wenig, wir erzählen uns zu wenig über unsere unterschiedlichen Erfahrungen und Sichtweisen.“22 Das traf Westdeutsche und Ostdeutsche gleichermaßen. Der Kommunikationsabbruch fand in jeder Richtung statt. Auch Westdeutsche, die nach 1990 in den Osten gingen, erfuhren dort Ausgrenzung, Indifferenz und Abwehr. Aus der Rückschau lässt sich konstatieren, dass weder die einen noch die anderen die Chance nutzten, von Ausnahmen abgesehen. Wenige haben Gespräche mit offenem Visier geführt und dabei Freundschaften geschlossen. Oft war das Gegenteil zu beobachten: Grenzübergreifende Freundschaften, lange vor 1989 entstanden, lösten 20 Weitz/Bielmeier 2019; Pollack 2020, S. 158ff. 21 Böick 2018, S. 549ff. 22 Kiehl 2001, S. 419f., 483.

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sich auf, weil sie den emotionalen Zerreißproben des Umbruchs und der Neuerfindung von Identitäten nicht gewachsen und die Differenzen im Gespräch nicht zu überbrücken waren. Wenn überhaupt, schafften es junge Erwachsene, einen Draht zueinander zu finden, neugierig zu sein und auf Augenhöhe miteinander zu kommunizieren. Aber selbst „Nachwendekinder“ oder diejenigen, die 1989 noch zur Schule gegangen waren, trugen ihre ostdeutsche Herkunft im Gepäck.23 Während Alltag und Lebensführung der „alten“ Bundesbürger*innen von den Umbrüchen kaum tangiert wurden, war im Osten jede Familie davon betroffen, wenngleich auf verschiedene Weise. Auch die Kinder blieben nicht ungeschoren. Jana Hensel, 1976 in Leipzig geboren und aufgewachsen, beschrieb in ihrem 2002 erschienenen Buch „Zonenkinder“, wie sie und ihre Mitschüler*innen die neuen Freiheiten und Herausforderungen nach 1989 erlebten und sich bereitwillig-neugierig darauf einließen. Das Verhältnis zur Elterngeneration aber war hochambivalent. Auf der einen Seite konstatierte sie eine dramatische Auseinanderentwicklung: „Unsere gemeinsame Geschichte endete an dem Tag, als die Mauer fiel: Sie ängstigten sich um ihre Jobs, wir suchten uns das passende Gymnasium.“ Auf der anderen Seite hielt sie den Eltern die Treue. Hier sah sie den größten Unterschied zu ihren späteren westdeutschen Kom­ militon*innen, die sich von ihren Eltern abnabelten, mit ihnen stritten und sie provozierten. „Wir“ hingegen waren „nahezu die Einzigen, die nichts gegen unsere Eltern taten, so zumindest kam es uns manchmal vor. Sie lagen ja schon am Boden, inmitten der Depression einer ganzen Generation, und wir, die wir mit viel Glück und nur dank unserer späten Geburt um ein DDR-Schicksal herumgekommen waren, wollten die am Boden Liegenden nicht noch mit Füßen treten […]. So haben wir mit ihnen schon vor langer Zeit einen Nichtangriffspakt geschlossen.“ Im Pakt war Raum „für Verständnis, Rührung und eine ziemliche Portion Mitleid […]. Wir stellten keine Fragen nach historischer Schuld oder Ähnlichem. Das Einzige, was wir taten: Wir verteidigten unsere Eltern. Wir wichen nie von ihrer Seite, sondern blieben da bis zum letzten Augenblick, so als gälte es, einem kleinen Bruder beizustehen.“24 Das erinnert an Berichte aus der Zeit nach 1945, als in den Familien ebenfalls über die Vergangenheit geschwiegen wurde. Auch damals war der Systembruch gewaltig, die „historische Schuld“ ungleich größer. Über sie legte sich ein Schamschweigen, das von allen Altersgruppen befolgt und erst mehrere Jahrzehnte später gebrochen wurde. Aber anders als nach 1990 gab es keine Notwendigkeit 23 Nichelmann 2019. 24 Hensel 2002, S. 75–77, siehe auch Nichelmann 2019, S. 179–192.

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für die Jüngeren, die Älteren zu verteidigen, denn es fehlten die Ankläger. Nach den Nürnberger Kriegsverbrecherprozessen und den Entnazifizierungsverfahren der unmittelbaren Nachkriegsjahre schlossen die Besatzungsmächte ihre Akten über die NS-Zeit und wandten sich, ebenso wie die Deutschen in Ost und West, der Zukunft zu. 1990 jedoch befanden sich die Kläger im eigenen Land, und zwar gleich zweifach: im Westen, dessen Bewohner*innen nach vier Jahrzehnten Demokratieerziehung und -erfahrung fragten, wie Ostdeutsche vier Jahrzehnte Sozialismus überstanden hatten. Auch unter den Ostdeutschen selber gab es manche, die solche Fragen stellten, ihre persönliche Leidensgeschichte als Systemopfer erzählen und die Verantwortlichen zur Rechenschaft ziehen wollten. Das war der Hintergrund, vor dem Jugendliche wie Jana Hensel sich in Verteidigungshaltung vor ihre Eltern stellten, anstatt sich bei den kritisch Fragenden einzureihen. Einige gingen noch weiter und identifizierten sich aus „Mitleid“ und „Rührung“ mit den Älteren, die von den wirtschaftlichen und sozialen Umbrüchen der 1990er Jahre stark gebeutelt wurden. Auch sie eigneten sich das Narrativ der Demütigung an, obwohl sie von den neuen Möglichkeiten und Freiheiten am meisten profitierten. Wie stark dieses Narrativ die Geschichte verzerrt und künstlich homogenisiert, wird nicht nur an den generationellen Unterschieden deutlich. Auch andere lebensgeschichtliche Erfahrungen werden damit unsichtbar gemacht und eingeebnet. Die Frontstellung zum Westen verdeckt die Binnendifferenzen des Ostens. Manche dieser Differenzen traten erst nach 1989 zutage, haben aber Wurzeln in der DDR-Zeit. Dass SED- und Stasi-Kader ihr Experten- und Herrschaftswissen nutzten und sich in der chaotischen Umbruchszeit fleißig am brachliegenden Volksvermögen bedienten, taucht in der ostdeutschen Erzählung über die demütigenden Akteure des westdeutschen Raubtierkapitalismus nicht auf. Wer in der DDR-Zeit von der Stasi bespitzelt und „zersetzt“ worden war, Jahre in Bautzen verbracht hatte und deshalb nur eine geringe Rente bezog, machte auch nach 1989 andere Erfahrungen als derjenige, der einst Macht ausgeübt und seine Schäfchen inzwischen ins Trockene gebracht hatte. Diese und viele andere Differenzen werden aus der angeblichen ostdeutschen Identität herausgeschrieben und zugunsten der Ost-West-Spaltung geglättet. Gerade Menschen, die sich vom SED-Regime unterdrückt, bedrängt, gegängelt und eingeschränkt gefühlt hatten, nahmen die neue Zeit, trotz aller Schwierigkeiten, als Freiheitsgewinn wahr. Demütigung und Abwertung hatten sie eher vor 1989 erlebt als danach.25

25 Von der DDR als „reale[m] Haus“ der „Ängste, der Verbote und Demütigungen“ sprach der Leipziger Historiker Hartmut Zwahr als Chronist der Montagsdemonstrationen (Zwahr 1993,

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5. Die Entsorgung der DDR-Vergangenheit

Das lenkt den Blick auf eine weitere Leerstelle. Mit dem gegenwärtigen Identitäts- und Demütigungsnarrativ verbindet sich nicht nur die Entdifferenzierung ostdeutscher Erfahrungen nach der Vereinigung, sondern auch die Entsorgung und Weichspülung der DDR-Erinnerung. Die angebliche Wucht der Demütigungserfahrung nach 1989 verdeckt das, was vor 1989 passiert war. Über das „Vorher“ gehen die Meinungen und Erinnerungen erstaunlich weit auseinander. Das spiegelt die Heterogenität der Erfahrungen sogar in einer weitgehend gleichgeschalteten und uniformen Gesellschaft wie der DDR, die innere Brüche und Spannungen nach Kräften übertünchte und die „sozialistische Menschengemeinschaft“ der Werktätigen beschwor.26 Fast jeder und jede war Mitglied einer „Massenorganisation“: Der FDGB (Freie Deutsche Gewerkschaftsbund) zählte 1989 9,5 Millionen Mitglieder, die DSF (Gesellschaft für Deutsch-Sowjetische Freundschaft) 6,4 Millionen, die SED und die FDJ (Freie Deutsche Jugend) jeweils 2,3 Millionen. Das hieß mitnichten, dass alle glühende Befürworter*innen des realexistierenden Sozialismus waren. Es gab viel Kritik und eine semioffizielle Meckerkultur. Es gab diejenigen, die als „rote Bonzen“ verschrien waren und in deren Anwesenheit man seine Zunge hütete. Andere gehörten zwar der SED an, oft sogar in herausgehobenen Positionen, und besaßen trotzdem ein offenes Ohr und einen wachen Blick für die hausgemachten Missstände.27 Es gab jene, die bespitzelten, und die, die bespitzelt wurden, manchmal sogar in Personalunion, so dass das Ministerium für Staatssicherheit (MfS) über ein und dieselbe Person sowohl eine Täter- als auch eine Opferakte führte. Wer sicht- und hörbar aufbegehrte, bekam die Gewalt der „Organe“ hautnah zu spüren. Auch die Jugendlichen und jungen Erwachsenen, die seit den 1970er Jahren unter dem Dach der evangelischen Kirche über politische Alternativen und Reformen diskutierten, standen unter genauer Beobachtung und bewegten sich in einem Nischenraum, dessen Grenzen das Regime jederzeit enger oder weiter ziehen konnte. Wer aufgab und einen Ausreiseantrag stellte, musste sich auf eine lange und beschwerliche Durststrecke gefasst machen und erfuhr dabei alle erdenklichen Formen von Diskriminierung bis hin zur Kriminalisierung. All das war den DDR-Bürger*innen nicht unbekannt. Manche wandten sich, anonym oder mit Klarnamen, an Zeitungen und Parteileitungen, um sich über S. 9). Das DDR-System „hat fast alle gedemütigt, denn es nahm den Menschen massenhaft den freien Willen“ (ebd., S. 17). 26 Wolle 1998, S. 229. 27 Scherzer 1989.

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das, was ihnen misslich auffiel, zu beschweren und Änderungen anzumahnen. Die größere Gruppe derjenigen, die die Anonymität vorzogen, begründete das damit, dass sie sich vor weiteren staatlichen Repressionen schützen wollte. „Ihr laßt zu“, schrieb „ein alter Genosse“ im September 1989 an das Politbüro, „daß die Genossen vom MfS schon wie bei den Nazis die Gestapo-Methoden ausführen, habt Ihr vergessen wie es war?“ Seinen Namen wollte er nicht nennen „da ich nicht möchte das [sic] meine Kinder Ärger durch mich erhalten“.28 Ein langjähriges SED-Mitglied aus Riesa, das sich beim Zentralrat der FDJ bitter über die „gescheiterte“ Jugendpolitik beklagte, tat das ebenfalls ohne Angabe der Adresse, „aus Angst vor Nachstellungen durch die Staatsorgane“.29 Um das tatsächliche Ausmaß solcher Nachstellungen und Bespitzelungen wussten nur wenige Eingeweihte; dass sich im Freundes- und Bekanntenkreis, zuweilen in der eigenen Familie, Inoffizielle Mitarbeiter*innen der Stasi befanden, erfuhren die meisten erst nach 1990, als die Unterlagen öffentlich zugänglich wurden. Aber dass man in einem „Polizei- und Stasistaat“ lebte, wie es ein bekennender „Sozialist“ kurz vor dem Mauerfall formulierte, war Allgemeinwissen. Auch sickerte durch, dass die Zahl derer, die die DDR legal verlassen wollten, seit Anfang der 1980er Jahre sprunghaft anstieg. Auf einer (wiederum anonymen) Postkarte an den Ministerpräsidenten Willi Stoph hieß es 1985: „Langsam packt uns die Panik. Die vielen jungen geförderten Menschen, die ausreisen wollen. Sind wir wirklich der dumme Rest. Warum wohl?“30 Diese Frage stellten sich im Sommer 1989 viele. Und immer mehr kehrten aus dem Urlaub in Ungarn oder Prag nicht mehr in die Heimat zurück. Damit stärkten sie paradoxerweise denen den Rücken, die im Land bleiben wollten, aber laut und vernehmlich auf Veränderung pochten. Was im September 1989 mit den Montagsdemonstrationen einer ebenso winzigen wie mutigen Minderheit begann, zog im Oktober Hunderttausende auf die Straßen – bis das Regime vor dieser neuartigen Massenbewegung kapitulierte. Die Aktivist*innen der friedlichen Revolution wurden damals landauf, landab gefeiert und als „Helden“ (nicht nur von Leipzig) verehrt. Das betraf vor allem die Mitglieder der zahlenmäßig kleinen Bürgerrechtsbewegung. Sie hatten den Protest über mehrere Jahre hinweg vorbereitet und den Anstoß gegeben, hätten allerdings ohne die tatkräftige Unterstützung der Vielen wenig ausrichten können. Wäre der

28 Zit. nach Suckut 2015, S. 437. 29 Ebd., S. 453. Zur Meckerkultur vgl. Staadt 1996; Betts 2010, S. 286–309. 30 Ebd., S. 340, 439. Zur Ausreisebewegung vor 1989 vgl. Wolff 2019.

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gesamte „dumme Rest“ montags zuhause geblieben, hätten Stasi und Kampfgruppen leichtes Spiel gehabt.31 Das tat er nicht – zumindest nicht zur Gänze. Gleichwohl ließ sich trotz beeindruckend großer Menschenmengen nicht übersehen, dass hier beileibe nicht das ganze DDR-Volk versammelt war. Millionen blieben daheim und warteten ab, was kommen würde. Erst als die Mauer fiel, setzten auch sie sich in Bewegung. Die unterschiedliche Mobilisierungsdichte und -sequenz verweist auf abgestufte Grade von Unzufriedenheit und Überdruss, auf verschiedene Interessen, Hoffnungen und Sehnsüchte. Längst nicht alle DDR-Bürger*innen fühlten sich unwohl in ihrem Land oder hätten von einem diktatorischen Regime gesprochen. Abgesehen von den Kadern, die um ihre Privilegien fürchteten, gab es viele, die sich eingerichtet und mit Korruption, Parteiherrschaft, Gängelung und Misswirtschaft arrangiert hatten. Solange sie nicht politisch aneckten und ihre Bedürfnisse den Gegebenheiten anpassten, konnten sie im Land hinter der Mauer auskömmlich und sorgenfrei leben. Der Staat sorgte für alle und alles – wie eine „gute Mutter“, die es ihren „17 Millionen Kindern an nichts fehlen“ ließ, sie „verwöhnt und verhätschelt aber auch mit Strenge erzogen“ hatte.32 Als diese Familienaufstellung plötzlich ihr Ende fand und Wellen harscher Kritik über die gestrenge Mutter hereinbrachen, sahen sich die Kinder, die bislang nicht aufgemuckt hatten, vor die implizite oder explizite Frage gestellt, warum sie sich dieses Regiment so lange hatten gefallen lassen. Je mehr Wissen über die desolate Wirtschaftslage, aber auch über die repressiven Machenschaften und „Zersetzungs“-Operationen des allgewaltigen Ministeriums für Staatssicherheit zirkulierte, desto schwieriger wurde es, dieser Frage auszuweichen oder sich auf das eigene Unwissen zu berufen. 6. Scham und Schamabwehr

Eine mögliche Reaktion wäre Scham gewesen – Scham über das Wegschauen, das Sichducken, das Fähnchen-Schwenken auf den Erste-Mai-Demonstrationen, das massenhafte Defilieren vor den Parteioberen auf den Festtribünen zum 10., 20., 30., 40. Jahrestag der Staatsgründung. Man hätte sich schämen können für das eigene Mittun, für die annähernd hundertprozentige Zustimmung bei den 31 Siehe dazu schon Zwahr 1993 sowie die Kontroverse zwischen Detlef Pollack und Ilko-Sascha Kowalczuk in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung v. 12.07., 14.07., 16.07. u. 29.07.2019. Vgl. auch Kowalczuk 2019, S. 30–33 sowie Pollack 2020, Kapitel 1. 32 Suckut 2015, S. 449. So ein Ost-Berliner an das ZK der SED zum 40. Jahrestag der DDRGründung am 07.10.1989.

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Volkskammerwahlen, für das Schulterzucken angesichts offenkundiger Wahlfälschungen im Mai 1989, für die Indifferenz angesichts der Erschießung eines „Republikflüchtigen“ noch im Februar 1989 und der Auszeichnung der verantwortlichen Grenzsoldaten durch Leistungsabzeichen und Geldprämien. Anlässe für Scham gab es zuhauf. Nicht zuletzt die öffentliche Debatte über die DDR als Unrechtsstaat, so der 1966 in Jena geborene Thomas Oberender, habe „bei allen, die dort lebten, Scham induziert und ein Gefühl der Illegitimität ihrer damaligen Lebenswirklichkeit“.33 Doch Scham ist ein Gefühl, das sich schwer aushalten lässt. Es zehrt am Selbstbewusstsein, beschädigt das Selbstwertgefühl und dämpft die Lebensenergie. Deshalb liegt es nahe, Scham abzuwehren. Nach der Wiedervereinigung gelang das zum einen dadurch, dass man sich über das, was vergangen war, in Schweigen hüllte. Man sprach nicht darüber und ließ nicht mit sich sprechen. Da die eigenen Kinder in die Schweigespirale einwilligten, um die überlasteten, verunsicherten und geschwächten Eltern zu schützen und zu schonen, ließ sich die Konfrontation mit dem eigenen Selbst und dessen Blindstellen vermeiden. Noch erfolgreicher war die Strategie, von diesen Blindstellen abzulenken, indem man die Verantwortung für die Fehlentwicklungen der Vergangenheit anderen zuwies: den „roten Bonzen“, SED-Funktionären und parteifrommen Journalist*innen, die schon vor 1989 viel Kritik und Unzufriedenheit auf sich gezogen hatten.34 Drittens schließlich ließ sich eine neue Front aufmachen und die alte damit in den Hintergrund schieben. Eben diese Funktion erfüllte das auf die Erfahrungen der Umbruchszeit gemünzte Demütigungsnarrativ, das sich Ende der 1990er Jahre zu etablieren begann. Parallel dazu entwickelte sich ein neuer „Oststolz“. Angesichts des Verlusts „von Sicherheiten, der Erfahrung von Deklassierung und Demütigung, dem Einzug von Verdrängung, Konkurrenz am Arbeitsplatz, der Notwendigkeit zur Umorientierung in vielen Lebensbereichen“, besannen sich viele auf eine DDR-Geschichte, die sie sehr viel liebevoller zeichneten, als es der offizielle politische und Mediendiskurs tat.35 Psychologen bezeichnen das als „Eigengruppenaufwertung“ und diagnostizierten sie anlässlich von Erhebungen aus den Jahren 1996 und 1998. Damals brachten Proband*innen aus den neuen Bundesländern bewusst eine positiv besetzte ostdeutsche Identität zum Ausdruck, in krassem Unterschied zu denen

33 Oberender 2020, S. 42. Dazu – und zu anderen Aspekten von Scham und Beschämung – vgl. Simon 1995, S. 27–34, 2019, S. 37. 34 Suckut 2015. 35 Wolle 2000, Zitat S. 419.

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aus den alten Ländern. Deren Selbstbild war vergleichsweise düster und hellte sich lediglich durch den Stolz auf „Wirtschaft und Währung“ auf.36 Der „Oststolz“ ging dabei über die in den 1990er Jahren einsetzende Ostalgiewelle mit Spreegurken, Ampelmännchen, Kostümfesten und Trabisafaris weit hinaus.37 Man erinnerte nicht bloß, mit mehr oder weniger Melancholie, die im Taumel der Westorientierung 1990 verschwundenen Konsumgüter, sondern suchte die DDR-Erfahrung als solche und damit auch die eigene Biographie zu rehabilitieren. Schon 1992 berichtete das Magazin Der Spiegel über „DDRNostalgie in Eisenhüttenstadt“. Ehemals als „Stadt ohne Vergangenheit“ gefeiert, wurde die DDR hier zwei Jahre nach ihrem Untergang bereits weichgezeichnet und vermisst. Denn alle wussten, dass die meisten Bewohner*innen ihre Arbeitsplätze verlieren würden und neue nicht in Sicht waren. Vor diesem Hintergrund verklärte man die Jahre vor 1989 als eine Zeit der Sicherheit und Planbarkeit, der Geborgenheit und Zugehörigkeit. Es habe, hieß es immer wieder, in der DDR keine Kriminalität gegeben, keine Neonazis, keine Arbeitslosigkeit, keine Angst vor sozialem Abstieg. Stattdessen seien die Beziehungen durch Solidarität, „Zusammenhalt“ und „gegenseitige Hilfe“ geprägt worden, im Unterschied zur derzeit herrschenden Konkurrenz und Ellenbogenmentalität. Auf die Schattenseiten des Regimes angesprochen, beharrte man darauf, dass es durchaus ein richtiges Leben im falschen hatte geben können, und wollte sich den „Stolz aufs eigene Leben“ nicht nehmen lassen.38 Dieser Stolz aber ging zulasten dessen, was die Publizistin Ines Geipel als Erinnerung an die „Gewaltmaschine der Ost-Diktatur“ einklagt. Als ehemalige DDRSpitzensportlerin hat sie nicht nur das organisierte Doping zum Thema gemacht, sondern die „Brutalität des Ostens“ auch in vielen anderen Lebensbereichen seziert. Aus ihrer Sicht verbleibt das „Mehrheitsbewusstsein der Ostdeutschen“ im „Bann des Alten“ und nimmt die zahllosen „Opfer des DDR-Unrechts“ nicht zur Kenntnis, um die eigene Biographie während der SED-Diktatur zu retten.39 Statt darüber nachzudenken, wie sehr sie von dieser Diktatur geprägt, bevormundet und gedemütigt worden sind, drehen sie den Demütigungsspieß um und richten ihn gegen die neue Ordnung. Die parteipolitischen Präferenzen bestätigen das. Nicht zufällig findet sich die mit Abstand positivste Einstellung zur DDR bei den Anhängern der AfD, die 2019 in Eisenhüttenstadt, aber auch in Görlitz, Meißen und Bautzen die meisten 36 37 38 39

Schmitt et al. 2000, S. 2, 26, 32. Ahbe 2016. Fleischhauer 1992, 1995; Schmidt 1995; Mau 2019; Mau/Offe 2020, S. 370. Geipel 2019a, 2019b, 2020.

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Wahlstimmen erhielt.40 Sie hat es offenbar am besten verstanden, die Deckerzählung von der allumfassenden Demütigung des Ostens durch den Westen zu bedienen und die zwischen Nostalgie, Ressentiment und Verlustängsten changierende Stimmung zahlreicher Bürger*innen einzufangen. Diese Deckerzählung gilt es als solche kenntlich zu machen und in ihren Ablenkungsfunktionen zu überprüfen. Mindestens ebenso wichtig aber ist es, ihr eine andere, positive, selbstwertsteigernde Erzählung entgegenzusetzen. Darin können und müssen Erlebnisse der Deklassierung und Kränkung ebenso Platz finden wie Erfahrungen der Resilienz, der kreativen Selbstermächtigung, des Lernens am lebenden Objekt. Viele Menschen, die in der DDR aufgewachsen sind, haben sich nach 1989 auf beeindruckende Weise neu erfunden und ihr neues Leben aktiv gestaltet. Hier ist „Oststolz“, East Pride, angebracht und angesagt.41 7. Literatur Ahbe, Thomas (2016): Ostalgie. Erfurt: Landeszentrale für politische Bildung Thüringen. Bangel, Christian, Paul Blickle, Elena Erdmann, Philip Faigle, Dr. Andreas Loos, Julian Stahnke, Julius Tröger und Sascha Venohr (2019): Die Millionen, die gingen. Online ­verfügbar unter https://www.zeit.de/politik/deutschland/2019-05/ost-west-wanderung-­ abwanderung-ostdeutschland-umzug. Gesehen am 17.06.2021. Betts, Paul (2010): Die Politik des Privaten. Eingaben in der DDR. In: Daniel Fulda et al. (Hrsg.): Demokratie im Schatten der Gewalt. Göttingen: Wallstein. Böick, Marcus (2018): Die Treuhand. Idee – Praxis – Erfahrung 1990–1994. Göttingen: Wallstein. Bruckner, Pascal (1997): „Ich leide, also bin ich“. Die Krankheit der Moderne. Berlin: Aufbau Verlag. Dimap, Infratest (2019): Aktuelle bundesweite Umfragen: 30 Jahre Mauerfall. Online verfügbar unter https://www.infratest-dimap.de/umfragen-analysen/bundesweit/um fragen/aktuell/30-jahre-mauerfall/. Gesehen am 17.06.2021. Dümcke, Wolfgang und Fritz Vilmar (Hrsg.) (1995): Kolonialisierung der DDR. Kritische Analysen und Alternativen des Einigungsprozesses. Münster: agenda. Ehmann, Annick, Sascha Venohr und Vanessa Materla (2019): Männlich, Arbeiter, AfDWähler. Online verfügbar unter https://www.zeit.de/politik/deutschland/2019-09/

40 Petersen 2019, S. 8. 41 Im rechtsextremen Spektrum gibt es die Neigung, daraus ein ebenso kompetitives wie konfrontatives Narrativ zu basteln und den Osten als das bessere, stärkere, härtere Deutschland erscheinen zu lassen. Teils ergänzt dieser ostdeutsche Exzeptionalismus die Opfer- und Demütigungserzählung, teils dreht er sie um. Vgl. dazu Leistner/Böcker 2021.

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waehler-ostdeutschland-analyse-alter-geschlecht-beruf-schulabschluss-religion. Gesehen am 17.06.2021. Engler, Wolfgang und Jana Hensel (2018): Wer wir sind. Die Erfahrung, ostdeutsch zu sein. Berlin: Aufbau Verlag. Eppler, Erhard (2015): Demütigung als Gefahr. In: Blätter für deutsche und internationale Politik (7), S. 69–77. Fleischhauer, Jan (1992): „Ick will meine Ruhe wieder“. Der Spiegel v. 04.05.1992. Fleischhauer, Jan (1995): Stolz aufs eigene Leben. Der Spiegel v. 03.07.1995. Frevert, Ute (2017): Die Politik der Demütigung. Schauplätze von Macht und Ohnmacht. Frankfurt am Main: S. Fischer. Frevert, Ute (2020): Die Gefühle der Staaten. In: Hélène Miard-Delacroix und Andreas Wirsching (Hrsg.): Emotionen und internationale Beziehungen im Kalten Krieg. Berlin: De Gruyter Oldenbourg, S. 25–43. Geipel, Ines (2019a): Umkämpfte Zone. Mein Bruder, der Osten und der Hass. Stuttgart: Klett-Cotta. Geipel, Ines (2019b): „Die Brutalität des Ostens wird immer mehr wegmoderiert“. In: Die Wochenzeitung v. 31.10.2019. Geipel, Ines (2020): Die Flucht aus unserer Geschichte. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung v. 28.09.2020. Gieseke, Waltraud und Ruth Siebers (1996): Umschulung für Frauen in den neuen Bundesländern. In: Zeitschrift für Pädagogik 42 (5), S. 687–702. Goltermann, Svenja (2017): Opfer. Die Wahrnehmung von Krieg und Gewalt in der Moderne. Frankfurt am Main: S. Fischer. Gotto, Bernhard (2018): Enttäuschung in der Demokratie. Berlin, Boston: De Gruyter Oldenbourg. Hähnig, Anne (2017): „Integriert doch erst mal uns!“. Online verfügbar unter https://www. zeit.de/2017/17/petra-koepping-integration-sachsen-pegida. Gesehen am 17.06.2021. Heller, Ayline,rAna Nanette Tibubos, Manfred Beutel und Elmar Brähler (2020): Mauer in den Köpfen? Einstellungen zur deutschen Einheit im Wandel. OBS-Arbeitspapier 42. Mainz: Johannes-Gutenberg-Universität. Hensel, Jana (2002): Zonenkinder. Reinbek: Rowohlt. Hensel, Jana (2009): Achtung Zone. Warum wir Ostdeutschen anders bleiben sollten. München: Piper. Hensel, Jana (2019): Wie alles anders bleibt. Geschichten aus Ostdeutschland. Berlin: Aufbau. Kiehl, Reinhard (Hrsg.) (2001): Alle Jahre wieder. Düsseldorf: My favourite book. Krastev, Ivan und Stephen Holmes (2019): Das Licht, das erlosch. Eine Abrechnung. Berlin: Ullstein. Leistner, Alexander und Julia Böcker (2021): „Im Osten geht die Sonne auf“: Nostalgie als soziologische Erklärung der Gegenwart von Vergangenheit in Ostdeutschland. In: Zeithistorische Forschungen, in Contemporary History 18 (2021), S. 133–139. Mau, Steffen (2019): Lütten Klein. Berlin: Suhrkamp.

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Mittendrin Eine westdeutsche Historikerin in Leipzig 1990–1993* Dorothee Wierling

1. Voraussetzungen und Vorgefundenes

Dass ich, eine Historikerin aus dem Ruhrgebiet mit kurzer DKP-Vergangenheit in den 1970er Jahren und ohne DDR-Verwandtschaft, im April 1990 nach Leipzig ging, um dort eine Außenstelle des Kulturwissenschaftlichen Instituts NordrheinWestfalen (KWI) aufzubauen, hatte vor allem eine Voraussetzung: meine Teilnahme an einem Forschungsprojekt mit Lutz Niethammer und Alexander von Plato, für das wir wundersamerweise 1987 Erlaubnis erhielten, in der DDR lebensgeschichtliche Interviews mit Angehörigen der Geburtsjahrgänge 1900–1930 in drei Industriestädten durchzuführen: in Chemnitz (zu dieser Zeit Karl-MarxStadt), Bitterfeld und Eisenhüttenstadt. Das Projekt wurde bewacht, betreut und beneidet von DDR-Historikern der Akademie der Wissenschaften der DDR.1 Als die Mauer fiel, befand ich mich gerade als Fellow an der Universität Tel Aviv. Und gleich nach meiner Rückkehr, im April 1990, ging ich nach Leipzig. Mein offizieller Auftrag lautete, als Assistentin von Niethammer, der inzwischen der Gründungsdirektor des KWI geworden war, in Leipzig eine Außenstelle dieses Instituts, die Forschungsstelle Leipzig aufzubauen und von dort aus mit möglichst vielen unserer 150 Interviewpartner aus der DDR Nachinterviews zu machen bzw. machen zu lassen.2 Dazu standen mir als Jahresetat 50.000 D-Mark zur Verfügung.

* 1 2

Der Text basiert auf einem Vortrag, den ich Ende Dezember 2019 an der Universität Leipzig gehalten habe. Peter Hübner, Jochen Czerny, Jörn Schüttrumpf, Dagmar Semmelmann und Petra Clemens. Die Ergebnisse unseres Oral-History-Projekts von 1987 wurden 1991 unter dem Titel: „Die Volkseigene Erfahrung“ veröffentlicht (Niethammer/von Plato/Wierling). Dafür waren 30 „biographische Eröffnungen“ ausgewählt worden, die uns paradigmatisch für das Gesamtsample, also der Erfahrungen dieser Jahrgänge in der DDR, zu sein schienen.

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Unser erster und wichtigster Kontaktmann in Leipzig war damals Hartmut Zwahr.3 Er muss es auch gewesen sein, der dafür sorgte, dass ich eine kleine Wohnung im Gästehaus der Universität in der Ritterstraße beziehen konnte und der mir später auch zu den ersten Büroräumen verhalf, und zwar in der freigeräumten Etage einer Villa in der Emil-Fuchs-Straße, wo die Leipziger Außenstelle der Akademie der Künste (noch) residierte und heute das Zentrum für Medien und Kommunikation untergebracht ist. Die einzige Ausstattung war ein mit Kohlen zu beheizender Kachelofen. Dass ich noch länger von meiner Wohnung aus arbeitete, hing aber mit der zähen Weigerung der westdeutschen Verwaltung des KWI zusammen, Möbel und Geräte für ein Büro anzuschaffen, für das ich keinen Mietvertrag vorlegen konnte. Dafür konnte ich erste (natürlich befristete und Teilzeit-) Arbeitsverträge abschließen mit jungen, neugierigen und interessanten Forscher/ innen, die mich in meinen Aufgaben unterstützen, aber auch ihre eigenen Themen verfolgen sollten. Später kam noch eine Sekretariatsstelle dazu. Der Fußboden in der Toilette hatte zwar ein Loch, durch das man in die darunter liegende Toilette des Erdgeschosses schauen konnte, aber wir hatten einen Kopierer, den wir auch den verbliebenen Kollegen der Akademie in der unteren Etage der Villa zur Verfügung stellten. Im Gegenzug kümmerte sich in der Heizperiode einer von ihnen um den Kachelofen. Braunkohle war genug vorhanden. Und beim ersten Ausfall des Westkopierers fand sich unter den DDR-Germanisten auch jemand, der diesen erfolgreich reparierte. Das Klima in der Stadt war anfangs unheimlich und aufregend: Überwiegend männliche Westdeutsche bevölkerten die Hotels, die Grimmaische Straße und das bald eröffnete Mövenpick-Restaurant mit ihren riesigen Mobiltelefonen. Sie himmelten die resoluten Kellnerinnen an und waren wohl auch Kunden einiger Prostituierter, die auf dem Parkplatz hinter einem großen Hotel am „Ring“ in kleinen Wohnwagen ein mobiles Bordell aufgemacht hatten. Der schöne alte Marktplatz verwandelte sich in einen Automarkt. Sinti und Roma, gerade aus Rumänien geflohen, bettelten in den Straßen. In der Stadt herrschte eine latent hysterische Stimmung von Euphorie, die jederzeit in Aggression und Angst umschlagen konnte, besonders in den Monaten vor der Währungsunion.

3

Hartmut Zwahr war damals Professor für die Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung an der Karl-Marx-Universität in Leipzig und schrieb an einer Geschichte der Wendejahre in Leipzig (1993).

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2. Kontakte knüpfen

Die ersten Kontakte entstanden vor allem mit älteren, etablierten und doch aufgeschlossenen Wissenschaftlern im Umkreis von Hartmut Zwahr. Sie wollten den Aufbruch unterstützen, aber die DDR hatte auch bei den kritischen Etablierten tiefe Spuren hinterlassen: Kämpfe, Enttäuschungen und jetzt die Erfahrung, dass der Westen vor allem als Konsumparadies in Leipzig Einzug gehalten hatte. Zu diesem Kreis zählte als Ausnahme aber auch Petra Lux, eine junge, energische Feministin, die, wie die Jüngeren überhaupt, entschlossen war, jetzt „ihr Ding“ zu machen.4 Es kamen als Mitarbeiterinnen in der Forschungsstelle ein gerade geprüfter Jurastudent, eine Absolventin der Theaterhochschule Leipzig sowie eine junge Germanistin hinzu. Historiker, Kultur- und Sozialwissenschaftler aus dem Mittelbau mit oder ohne Job wurden regelmäßige Gäste, in der Geschichtswissenschaft insbesondere Matthias Middell, bei den Kultur- und Sozialwissenschaften zum Beispiel Micha Hofmann, Dieter Rink, Monika Kirst und Cordula Günther. Sie erlebten die „Wende“, so schien mir jedenfalls, überwiegend als Befreiung, ohne die DDR als bloßes Gefängnis zu denunzieren. Auch sie hatten Verletzungen erlebt oder erlebten sie jetzt. Es gab Zynismus. Aber es überwogen die Lust am Neuanfang und der mild-ironische Rückblick auf die eigenen Erfahrungen. Dennoch befanden gerade sie sich in der größten Gefahr, mitten im Prozess der persönlichen und wissenschaftlichen Neuorientierung den institutionellen Anschluss als Erste zu verlieren. Und nicht jeder konnte umstandslos an frühere Forschungen anknüpfen, die Westdiskurse mussten gelernt werden, die Westkonkurrenz um Stellen war angesichts der akademischen Überproduktion im Westen groß. Allerdings bot die zusammenbrechende DDR auch ein hochinteressantes Forschungsfeld, gerade in den Sozialwissenschaften, für das Ostexpertise gefragt war. Die jeweilige Fachkultur spielte auf beiden Seiten eine große Rolle bei dem Umgang der Westdeutschen mit ihren ostdeutschen Kollegen; die Geschichtswissenschaft legte eher verbissene Verhaltensweisen an den Tag, insbesondere, wo es um die Zeitgeschichte ging, die in der DDR hochpolitisiert gewesen war und nach 1989 auch im Westen repolitisiert und dabei sowohl inhaltlich als auch methodisch zunächst wieder konservativer wurde. Dass ich vom Historischen Seminar gebeten wurde, für die studentischen Abschlussjahrgänge im Lehrerstudium noch eine Art Westcrashkurs anzubieten, ohne den sie nicht ins Berufsleben bzw. in die Arbeitslosigkeit entlassen werden sollten, gab mir Gelegenheit, auch Studierende und ihre besonders prekäre Situation kennenzulernen. Es war zwar eine zwiespäl4

Im Jahr unseres Kennenlernens veröffentlichte sie mit einer Freundin eines der ersten feministischen Bücher der Wendezeit (vgl. Fischer/Lux 1990).

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tige Erfahrung, den oft unwilligen und verständlicherweise ressentimentgeladenen Studierenden das Erlebnis westlicher Geschichtswissenschaft aufzuzwingen, das verhalf mir aber auch zu wichtigen Kontakten und Freundschaften, von denen einige bis heute bestehen. Die „Jüngeren“ insgesamt, also jene, die am Ende der DDR noch nicht voll etabliert waren, haben mich gerettet in Leipzig, weil sie an eine Zukunft für sich glaubten, auch wenn sie noch nicht immer wussten, an welche. Ihre intellektuelle Neugier, ihr Selbstbewusstsein und ihre Nachsichtigkeit mir gegenüber bewahrten mich davor, vom Strudel der Veränderungen und der zunehmenden Depression um mich herum überfordert zu werden. 3. Besetzung von Räumen

Im Chaos zwischen Gewohnheitsrechten und unklaren Ansprüchen wurde die Raumfrage – sowohl des Büros als auch der Wohnung – dringlich. Unsere Unterbringung in der Emil-Fuchs-Straße erwies sich als unhaltbar, nachdem die Akademiekollegen sich auf den erzwungenen Auszug vorbereiteten. Als die Wissenschaftsministerin von NRW, Anke Brunn, ihren Besuch bei uns anmeldete, musste ich sie bitten, vorher woanders eine Toilette zu benutzen, denn der durchlöcherte Fußboden unseres eigenen Klos drohte inzwischen einzubrechen. Es fügte sich gut, dass die Ministerin und ich bei dem gemeinsamen Rückflug nach Düsseldorf auf Kurt Biedenkopf trafen, der damals aber noch nicht Ministerpräsident von Sachsen war5 und der sich sofort nach meiner „Unterbringung“ erkundigte, woraufhin ich wortreich klagte. Zurück in Leipzig, wurde ich ins Rektorat der Universität bestellt, wo man mir – offensichtlich auf Anordnung des mächtigen westdeutschen Professors – einen braunen Umschlag mit einem Schlüsselbund überreichte. Der gehörte zu Räumen in der Ritterstraße, von denen man sich erzählte, dort sei „die Sicherheit“ untergebracht gewesen, und die deshalb leer standen. Plötzlich verfügten wir über Platz, Zentralheizung, Telefone und Hausmeister, ohne für irgendetwas jemals einen Pfennig zu bezahlen. Meine persönliche Wohnsituation war weniger stabil, denn im Gästehaus endete meine „Wohnhaft“, wie die Leiterin sich ausdrückte, Ende 1990, und ich mietete zuerst ein Zimmer bei einer jungen Frau, bis der Westbesitzer des Hauses auftrat und uns kündigte. Von dort ging es in eine Wohnung, welche die eigentli5

Kurt Biedenkopf kam 1990 zunächst als Gastprofessor für Volkswirtschaftslehre an die Universität Leipzig, wurde aber im selben Jahr Spitzenkandidat der CDU Sachsen, mit der er bei den Landtagswahlen die absolute Mehrheit gewann.

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che Mieterin für mich freigemacht hatte, eine „fischelante“ sächsische Kleinkriminelle, über die ich später einen Aufsatz geschrieben habe.6 Schließlich lud mich Beate Klemm, eine meiner Leipziger Studentinnen, in die von ihr besetzte Wohnung in Connewitz als Mitbewohnerin ein; eine Wohnung, für die die noch existierende Kommunale Wohnungsverwaltung zwar keine Miete einzog, uns aber dennoch mit Strom versorgte und geplatzte Wasserrohre reparierte. Diese Vorgänge scheinen mir symptomatisch für eine Zusammenbruchsgesellschaft, in der die alten Strukturen noch vorhanden waren, das Leben drumherum sich aber radikal verändert hatte und in der neue Strukturen noch nicht existierten, wohl aber Bedürfnisse, die befriedigt werden mussten. Im Ergebnis war es so, dass Probleme erstaunlich leicht und schnell gelöst werden konnten, weil Menschen spontan und mit Realitätssinn reagierten und im Nahfeld Fakten schufen. Was man in der – immer nur teilweise funktionierenden – DDR gelernt hatte, ließ sich nun nach ihrem unerwarteten Ende, in der kurzen Phase vor der Etablierung neuer Regeln, hervorragend anwenden – und ich profitierte davon. Interessanterweise schien die symbolische Besetzung von Räumen wichtiger als die reale. So bildete sich in Leipzig zum Beispiel eine Kommission zur Umbenennung von Straßen. Wer darin saß, entzieht sich meiner Kenntnis. Gerüchte besagten, dass diese Kommission die Geschwister-Scholl-Straße umbenennen wollte, nachdem der Widerstand unter Generalverdacht gefallen war; und angeblich sollte auch die zum Völkerschlachtdenkmal führende – und auf das Schlachtdatum verweisende – „Straße des 18. Oktober“ umbenannt werden, da man fälschlicherweise vermutete, es handele sich um eine Referenz zur Russischen Revolution. Gerüchte gab es viele in Leipzig Anfang der 1990er – wie immer, wenn die Zeiten ungewiss und die Machtfragen noch nicht ganz entschieden sind. 4. Zusammenbrüche und Aufbrüche

Am stärksten hat sich mir eingeprägt, was unmittelbare Folge des Zusammenbruchs der DDR für ihre Bewohner war: das völlige Infragestellen dessen, was bisher selbstverständlich gewesen war, verbunden mit einer oft begeisterten Erwartung, aber genauso oft auch mit panischen Befürchtungen, was denn in Zukunft gelten würde. Währungsunion und formelle Wiedervereinigung schufen zwar bald eine gewisse Klarheit über die Rahmenbedingungen, aber was diese im Detail und vor allem für einen selbst bedeuteten, war noch lange ungewiss. Für viele waren die Aussichten schockierend. Ich erinnere mich an einen Mann mittleren Alters, 6

Wierling 1993.

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der – angelockt von unserem Klingelschild – uneingeladen in unsere Etage kam auf der Suche nach einer Stelle oder wenigstens einer Gesprächspartnerin. Er war gerade aus seiner Dozentur an der nahegelegenen Leipziger Handelshochschule entlassen worden und völlig orientierungslos. Ich erinnere mich auch an ein Gespräch mit einem Arbeiter bei TAKRAF,7 der stolz von dem letzten Kran erzählte, den sie in der DDR noch gebaut und auf den sie auf der letzten Leipziger Messe noch so große Hoffnungen gesetzt hatten. Monate später war ein befreundeter westdeutscher Gewerkschaftsfunktionär zu Besuch in Leipzig, der mir stolz von seiner Beteiligung bei der Abwicklung der TAKRAF erzählte. Persönliche und ökonomische Zusammenbrüche erlebte man überall, aber eben auch Aufbrüche, individuelle und kollektive. Leipzig war quicklebendig, Zeitungen, Kulturzentren, freie Schulen und Cafés wurden gegründet und wieder aufgegeben, westliche Missionare von den Mormonen bis zu den Trotzkisten kamen in die Stadt, auf der Grimmaischen Straße rollten die Zwölfjährigen auf ihren Skateboards. Aber viele waren auch nur mit sich selbst und ihren Familien beschäftigt, mit den Herausforderungen ihrer Arbeit – Entlassungen und Zeitverträgen – der kränkenden Abwertung ihrer Lebensleistungen und der Angst vor Armut. Man konnte sich dieser Präsenz der existenziellen Veränderungen und Krisen nicht entziehen, auch wenn man nur Beobachterin war. Es war anstrengend. 5. Konferenzen und Kolloquien

Ich war mit einem klaren Auftrag nach Leipzig geschickt worden. Die mir gestellte „Hauptaufgabe“ war es, Nachinterviews mit Gesprächspartnern aus dem Projekt „Volkseigene Erfahrung“8 durchzuführen. Zwar versuchten wir, diesen Auftrag zu erfüllen, aber die damit verbundenen Erwartungen realisierten sich nicht, und das Projekt scheiterte im Ergebnis auf interessante Weise.9 Danach wurde die Forschungsstelle selbst zum Mittelpunkt diverser akademischer Veranstaltungen. Lutz Niethammer schwebten vor allem große Konferenzen vor, als Erstes schlug er eine über „nationale Identität“ vor, was ich aber ablehnte. Mir graute vor ideologischen Debatten, die zudem mit der Lebenswirklichkeit vor Ort wenig zu tun hatten. Die erste Konferenz war deshalb klassisch geschichtswissenschaftlich, sie steckte den 7 8

9

Ein Kombinat mit Stammbetrieb in Leipzig, der in der DDR volkseigene Betriebe umfasste, die auf Tagebau-Ausrüstungen, Krane und Förderanlagen (TAKRAF) spezialisiert waren. Vgl. Fn. 2. Dabei handelte es sich um das eingangs erwähnte Oral-History-Projekt, bei dem 1987 zum ersten Mal eine westdeutsche Forschergruppe die Möglichkeit bekam, in der DDR lebensgeschichtliche Interviews durchzuführen. Vgl. Wierling 1992.

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Forschungsstand zum „17. Juni 1953“ ab; die zweite bezog sich auf ein für die DDR relativ neues Thema mit hoher moralischer Bedeutung: Juden in der DDR. Eine weitere beschäftigte sich mit biographischen Brüchen in der Zeitgeschichte. Auch eine andere Tagung nahm direkt Bezug auf die Umbruchsituation in der DDR: „Der Fall der Denkmäler“. Immer schienen die Themen existenziell, was den Diskussionen eine besondere Intensität verlieh, zum Beispiel auch über die Situation von Frauen in der DDR, die in einem besonders überfüllten und auch emotional aufgeladenen Raum stattfand, einem Saal im „Haus des Lehrers“. Die Referenten waren immer west-ost-gemischt, wenn möglich unter Einbezug von internationalen Gästen. Ich selbst konzentrierte mich auf mein Habilitationsprojekt, eine „Kollektivbiographie des Geburtsjahrgangs 1949 in der DDR“10 und erwischte damit einen Jahrgang, der nicht nur sein ganzes Leben in der DDR verbracht hatte, sondern auch in der Mitte des Lebens war, als diese zusammenbrach – und damit die Ambivalenz dieser Erfahrung in besonderer Weise verkörperte. Zugleich war das fast mein eigener Jahrgang und also immer mit inneren Vergleichen und Phantasien über alternative Lebenswege verbunden. Diejenigen, die der Leipziger Forschungsstelle irgendwann angehörten, verfolgten alle auch ihr eigenes wissenschaftliches Interesse, ihren persönlichen Einstieg in das Forschen unter den neuen Bedingungen. Finanziert wurde das meist durch eine sogenannte Arbeitsbeschaffungsmaßnahme bzw. ABM-Stelle, ein damals großzügig zugesprochenes Instrument; alle diese Projekte bewegten sich, trotz ihres breiten disziplinären und thematischen Spektrums, im Bezugsrahmen der gesellschaftlichen Veränderungen, deren Zeugen wir gemeinsam waren. Ich könnte die Einzelthemen kaum noch zusammenbringen. Mit der Zeit kamen ja immer mehr Leute hinzu, auch solche, die nicht von uns bezahlt wurden, keine Verpflichtungen hatten und uns einfach als Anlaufstelle und intellektuelle Kontaktstelle nutzten. Uns allen kam zugute, dass die Forschungsstelle in keine andere Institution vor Ort eingebunden war, dass wir unseren eigenen Regeln folgen konnten. Am liebsten war mir das montägliche Frühstückskolloquium, zu dem jede/r etwas zum Essen, Trinken und Diskutieren mitbrachte. Insgesamt habe ich diese Gespräche als lebendig und immer anregend in Erinnerung. Oft entstanden dabei Promotions- oder andere Publikationsvorhaben oder Projekte im Bereich dessen, was wir heute Public History nennen.11 Dass ich nicht der Uni angehörte und niemandem eine Stelle wegnahm, schützte mich allerdings nicht vor Misstrauen aus dieser Richtung. Das betraf 10 Wierling 2002. 11 Zum Beispiel entstand hier der Plan für das Buch „Grenzen überschreiben“ (2004).

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weniger die Hochschulangehörigen selbst als vielmehr die Institutionenvertreter aus dem Westen, die frühzeitig Pflöcke einschlagen wollten, um von dort Positionen auszubauen. So verlor ich – auf Geheiß eines ursprünglich von der KonradAdenauer-Stiftung etablierten Geschichtsprofessors – bald meinen (unbezahlten) Lehrauftrag, mit dem ich die oben erwähnten Westkurse durchgeführt hatte. Der ostdeutsche Dekan, der mir die Nachricht überbrachte, bedeutete mir nicht ohne Schadenfreude, ich käme wohl aus dem falschen „Stall“ – so sprach man damals –, nämlich dem des zu Recht als linksliberal verschrienen Lutz Niethammer. Gastprofessoren aus dem Westen kamen und gingen – die meisten aus Interesse, um dann auf ihre Weststellen zurückzukehren. Evaluierungskommissionen reisten an und schufen Ängste, Konflikte, Scham und für einige auch Chancen. Immerhin „überlebten“ auf ihren Leipziger Professuren sowohl Harmut Zwahr als auch Werner Bramke, der Zeithistoriker. Die Universität war aber überwiegend kein guter Ort in diesen frühen Jahren. Mir schien die Forschungsstelle dagegen als ein ungewöhnlich freier Raum, in dem ich mich lieber aufhielt. 6. Wir Wessis. Machtfragen

Trotzdem verband mich natürlich viel mit den Vertretern der westdeutschen Wissenschaft in Leipzig. Eine gemeinsame, mich befremdende Erfahrung war es, durch die schlichte Tatsache westdeutscher Herkunft sehr viel mehr Macht zugesprochen zu bekommen, als ich tatsächlich hatte. Ich war wissenschaftliche Assistentin auf befristeter Stelle mit einem lächerlichen Etat und improvisierten Versuchen, auf Zeit einen Ort wissenschaftlichen Austauschs zu schaffen. Dennoch wurde ich gern eingeladen und wenn ich sprach, hörte man mir zu. Denn ich verfügte über vergleichsweise viel soziales und kulturelles Kapital, das ich meiner westdeutschen Herkunft verdankte. Zugesprochene Macht verwandelte sich so in reale Macht. Das verband mich mit allen anderen Wessis in Leipzig, ob ich wollte oder nicht. Wir verkörperten die Regeln, nach denen ab jetzt auch der Osten funktionieren sollte. Wir fühlten uns deshalb absolut sicher in unserer Haut und zogen dadurch natürlich auch Ressentiments auf uns – als Besserwessis eben. Man konnte uns allerdings auflaufen lassen, wie im Fall der Straßennamen, oder manipulieren, instrumentalisieren oder sich uns verweigern. All das geschah mit großer Selbstverständlichkeit, das war ja Teil des asymmetrischen Verhältnisses. Nur in Beziehungen von gewisser Dauer, in denen Kollegialität, Vertrauen und Freundschaft entstanden, konnte man das ausschließen. Ich erinnere mich an eine Situation, in der ich als Wessi einerseits auftrumpfte, andererseits eine beschämende Niederlage erlitt. Ich hatte (vor der Währungs-

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union) einen Brief nach Essen zu verschicken und im Schreibwarenladen nur noch Luftpostbriefumschläge gefunden. In der Leipziger Hauptpost reihte ich mich in die lange Schlange ein, aber als ich endlich nach vorne vorgerückt war, weigerte sich die Postangestellte auf der anderen Schalterseite, den Brief anzunehmen, da es ja keinen Luftpostverkehr nach Essen gebe. Meine Erklärung, dass es ja nur der Umschlag sei, um den es hier gehe, und dass doch nichts die Post daran hindere, den Brief mit einem Zug zu transportieren, ließ sie nicht gelten. Es folgte eine längere Auseinandersetzung, in deren Verlauf sowohl sie als auch ich beschlossen, nicht von der Stelle zu weichen. Der Unterschied war aber, dass sie den Osten vertrat, also Heimvorteil hatte, und dass ich offensichtlich in der hinter mir bedrohlich anschwellenden und deutlich grollenden Schlange mit meinem westlichen Anspruch alle gegen mich aufbrachte. So gab ich schließlich auf und machte mich beleidigt davon. Die Machtfrage kann also nicht so einfach beantwortet werden. Schließlich waren wir Wessis darauf angewiesen zu verstehen, wie das Leben unter den Bedingungen des Umbruchs organisiert werden konnte, also in einer Situation, in der die alten Strukturen nicht mehr, die neuen aber noch nicht funktionierten. Darin waren die Ortsansässigen eindeutig besser als wir. Dennoch wäre es absurd, die Asymmetrie leugnen zu wollen, die zwischen Wessis und Ossis herrschte. Man merkte es daran, dass mit verschlossenen Gesichtern geschwiegen wurde, wenn ein Wessi schamlos herrschsüchtig auftrat. Kurt Nowak, der im Leipziger Umbruch sehr einflussreich wurde, bemerkte mir gegenüber damals, Theologen wie er seien die neue SED.12 Er bezog das darauf, dass in den alten autoritären Strukturen, in denen man vorher Konflikte vermieden hatte, nun andere Leute die Leerstelle besetzten, welche die SED zurückgelassen hatte. Bewusst oder unbewusst, gern oder ungern machten wir Wessis uns diese Strukturen zunutze, um uns durchzusetzen. 7. Am Schluss: Fernweh

Ich hatte meinen Aufenthalt in Leipzig immer für vorübergehend und die Existenz der Forschungsstelle Leipzig des KWI für zeitlich begrenzt gehalten. Ich musste auch an meine eigene Weiterfinanzierung denken; außerdem kam das Budget aus NRW, während Sachsen mittlerweile der bayrischen Betreuung zugesprochen worden war. An eine Übernahme der Forschungsstelle von SPD- in CSU-Verantwortung war nicht zu denken. Das waren die äußeren Gründe, die mich Anfang 1993 12 Kurt Nowak war Professor für Theologie an der Karl-Marx-Universität Leipzig und Spezialist für kirchliche Zeitgeschichte.

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den Abschied planen ließen. Aber das war nicht alles. Um uns herum wurden die Spielräume kleiner, die großen Institutionen, voran die Universität, gingen in die neue Ordnung über, Stellen wurden nicht mehr nur gestrichen, sondern besetzt, überwiegend mit Westdeutschen, die kamen, um zu bleiben. Manche zogen sogar nach Leipzig. Aus der jüngeren Generation der Leipziger Akademiker fanden oder schufen sich einige ihren Platz, während andere aus meinem Blickfeld verschwanden. Sicher war die Forschungsstelle damit noch nicht überflüssig geworden, aber es gab mehr Orte für den intellektuellen Austausch als noch im Anfang. Mir selbst wurde die Existenz zwischen der Welt des Westens und des Ostens allmählich zu anstrengend – vor allem die persönliche Position als Brückenbauerin, wenn ich im Osten den Westen und – viel schwieriger – im Westen den Osten erklären musste. Zum ersten Mal in meinem Leben konzentrierten sich meine politischen Diskussionen auf die so problematische „deutsche Frage“, mit der ich mich vorher nie besonders befasst hatte. Ich bekam Fernweh und bewarb mich erfolgreich als DAAD-Professorin an der University of Washington in Seattle, wo ich im Herbst 1993 hinzog. Zum Abschied schenkte man mir unter anderem ein Glas mit einem Stück Schokolade, einem Tütchen Waschpulver und etwas Orangenschale: die Geruchskonserve des Westpakets. Darüber hatten wir bei einem denkwürdigen Frühstückskolloquium diskutiert bzw. ich hatte zugehört, wie die Leipziger/innen sich über den „Geruch des Westens“ austauschten, eine Erfahrung, die mir als Wessi natürlich verschlossen war. Cordula Günther gelang es, die Forschungsstelle noch einige Jahre weiter zu erhalten, und aus ihrem ersten Jahresbericht geht hervor, dass 1994, trotz Umzug und Unsicherheit im Hinblick auf die Zukunft, noch vier Forschungsprojekte über ABM angebunden waren. In einem einzigen Jahr organisierte sie eine Tagung über die Situation von Schriftstellern in der Transformationsphase und eine zweitägige Konferenz über „Brüche in Biographien“, die an eine 1991er Tagung mit demselben Titel anknüpfte. Die Forschungsstelle veranstaltete 1994 eine öffentliche Vortragsreihe zum Thema „Der Krieg ist aus“ und ein monatliches Forschungskolloquium zu Projekten aus allen Humanwissenschaften, die aus dem engeren bis weiteren Umkreis der Forschungsstelle stammten; eine beeindruckende Bilanz, die zeigte, dass es sehr gut ohne mich ging. Ich selbst trat in Leipzig im Juli 1994 als Gast aus Amerika auf. Seattle war der größtmögliche Kontrast. Eine wunderschöne Stadt zwischen Gebirge und Wasser, entspannte Menschen, für die Europa weit weg war. Der Hype um den Mauerfall war dort fast schon vorbei, als ich ankam. Ein amerikanischer Unifreund sagte mir irgendwann: „Ob du über Schafzucht in Italien im 17. Jahrhundert forschst oder über die DDR und 1989, das ist hier vollkommen egal“ – an der Westküste der USA war das alles gleich fern und fremd. Ich be-

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gann zu vermissen, was mich in Deutschland so belastet und angespannt hatte: den politischen Kampf in der Lagerbildung der Historikerzunft nach 1989, die Leidenschaft der Leute, wenn ihnen ihr Leben von mir „erklärt“ wurde, die atmosphärische Dichte der Konferenzen über DDR-Geschichte, wo akademische Distanz unmöglich war, weil es – tatsächlich – Identitäten betraf. Was ich dem Publikum zu sagen hatte als Historikerin, war im Deutschland nach 1989 wichtig gewesen – gerade auch im Streit. Es ging bei diesem Thema in den 1990er Jahren immer um mehr als akademische Debattenspiele. Was mir diese frühen Jahre in Leipzig beschert haben und wofür ich sehr dankbar bin, ist die unmittelbare Erfahrung, dass Geschichte wirklich Leben verändern kann. 1989 war eine solche Geschichte, jedenfalls für Ostdeutsche. Ich war ja nur Beobachterin, wenn auch „teilnehmende“. Deshalb handelt es sich bei meinen Leipziger Jahren um die wichtigsten meines Historikerinnenlebens. Geschichte wurde nicht nur geschrieben, sie ereignete sich, wurde gemacht, „nicht aus freien Stücken, nicht unter selbstgewählten, sondern unter unmittelbar vorgefundenen, gegebenen und überlieferten Umständen“,13 wie es in dem wunderbaren Marxzitat heißt. Bei aller Asymmetrie – das galt für beide Seiten: Ost und West. 8. Literatur Dietzsch, Ina (2004): Grenzen überschreiben? Deutsch-deutsche Briefwechsel 1948–1989. Köln, Weimar, Wien: Böhlau. Fischer, Erica und Petra Lux (1990): Ohne uns ist kein Staat zu machen. DDR-Frauen nach der Wende. Köln: Kiepenheuer & Witsch. Marx, Karl (1972): Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte [1852]. In: Marx/Engels – Werke (MEW), Band 8. Berlin/DDR: Dietz Verlag, 115–123. Niethammer, Lutz, Alexander von Plato und Dorothee Wierling (1991): Die volkseigene Erfahrung. Eine Archäologie des Lebens in der Industrieprovinz der DDR. Berlin: Rowohlt. Wierling, Dorothee (1992): Gewendete Biographien? In: Brigitte Rauschenbach (Hrsg.): Erinnern, Wiederholen, Durcharbeiten. Zur Psychoanalyse deutscher Wenden. Berlin: Aufbau Verlag, S. 217–227. Wierling, Dorothee (1993): Rand-Bemerkungen zu Moral, Ökonomie und Geschlechterverhältnissen in der Schattenökonomie der DDR. Gespräche mit Elke Körner. In: Andreas Kuntz (Hrsg.): Arbeiterkulturen. Vorbei das Elend, aus der Traum? Düsseldorf: Thomas Verlag, S. 51–66.

13 Marx 1852/1972, S. 115.

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Wierling, Dorothee (2002): Geboren im Jahr Eins. Der Geburtsjahrgang 1949. Versuch einer Kollektivbiographie. Berlin: Chr. Links Verlag. Zwahr, Hartmut (1993): Ende einer Selbstzerstörung. Leipzig und die Revolution in der DDR. Leipzig: Sax Verlag.

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Unbesorgtes Eigentum Vom bemerkenswerten Vergessenwerden des Volkseigentums während der friedlichen Revolution Dominik Intelmann

Volker Braun: Das Eigentum Da bin ich noch: mein Land geht in den Westen. KRIEG DEN HÜTTEN FRIEDE DEN PALÄSTEN Ich selber habe ihm den Tritt versetzt. Es wirft sich weg und seine magre Zierde. Dem Winter folgt der Sommer der Begierde. Und ich kann bleiben wo der Pfeffer wächst. Und unverständlich wird mein ganzer Text. Was ich niemals besaß wird mir entrissen. Was ich nicht lebte, werd ich ewig missen. Die Hoffnung lag im Weg wie eine Falle. Mein Eigentum, jetzt habt ihrs auf der Kralle. Wann sag ich wieder mein und meine alle.1

Mit der friedlichen Revolution von 1989 erkämpften sich BürgerInnen der DDR eine neue Form von Handlungsfähigkeit. Der Schwerpunkt der ersten politischen Forderungen lag dabei auf Meinungs- und Pressefreiheit, dem freien Reisen und politischer Selbstbestimmung in freien Wahlen. In diesen Aushandlungsprozessen wie überhaupt in den Protestslogans blieb die wirtschaftliche Basis der Gesellschaft und mithin eine Thematisierung des Volkseigentums ein nachrangiges Thema. Im Folgenden soll es um die Genese dieser Blindstelle gehen: Welche ideologische Funktion erfüllte das Volkseigentum in der DDR und wie schlug sich das reale Verhältnis der Menschen zum Volkseigentum in den Eigentumsdebatten von 1990 nieder? Wie ist es zu erklären, dass der Neuverteilungsprozess des Volkseigentums kaum Gegenstand zeitgenössischer öffentlicher Debatten war, während

1

Braun 2000 [1992], S. 141.

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die Ausbreitung der Massenarbeitslosigkeit einen kurzen, aber intensiven Protest­ zyklus nach sich zog? Dabei soll der Fokus der Untersuchung nicht auf die Kämpfe ums Grund- und Immobilieneigentum gelegt werden, die anderswo bereits eingehend debattiert worden sind,2 sondern vielmehr auf das weit weniger fassliche „Volkseigentum“ der Betriebe und Unternehmen. Gerade weil hier eine direkte persönliche Betroffenheit der DDR-Bürgerinnen – anders als beim Wohneigentum – nicht vorliegt, muss sich die Untersuchung auf eine konstellative und thesenhafte Vorgehensweise stützen, die die unausgesprochene Beziehung der Ostdeutschen zum Volkseigentum erhellt. Dafür wird im ersten Abschnitt untersucht, wie das Volkseigentum in der DDR ideologisch gerahmt wurde und in welchen Bezug die Subjekte dazu idealerweise treten sollten. Im zweiten Abschnitt wird anhand der Auswertung von Textquellen (Tageszeitungen und Sekundäranalyse grauer Literatur) die Thematisierung des Volkseigentums in der Zeit der friedlichen Revolution nachvollzogen. Darauf folgend resümiert der dritte Abschnitt die ostdeutschen Eigentumsverhältnisse 30 Jahre nach den maßgeblichen Entscheidungen im Wiedervereinigungsprozess. Abschließend werden im Fazit Thesen angerissen, die beleuchten, unter welchen Bedingungen das Volkseigentum vergessen wurde. 1. Das Volkseigentum in der DDR

Bezugnehmend auf Marx und Engels gingen die SED-Machthaber davon aus, dass mit der Abschaffung des Privateigentums und der Einführung des Volkseigentums die Arbeitskraft ihren Warencharakter verloren habe, Ausbeutung und entfremdete Arbeit damit beendet seien.3 Der Begriff des „Eigentümerbewusstseins“ avancierte zur festen Chiffre innerhalb der gesellschaftswissenschaftlichen Forschung der DDR und gehörte zum Kanon der Charakteristika einer „sozialistischen Persönlichkeit“. Dabei wurde durchaus eine „Differenz zwischen formalem 2 3

Vgl. bspw. Dahn 1994; Brückweh 2019. Vgl. Steiner 1997, S. 268. Im „Anti-Dühring“ führt Friedrich Engels dazu aus: „Mit der Besitzergreifung der Produktionsmittel durch die Gesellschaft ist die Warenproduktion beseitigt und damit die Herrschaft des Produkts über die Produzenten. […] Die Gesetze ihres eigenen gesellschaftlichen Tuns, die ihnen bisher als fremde, sie beherrschende Naturgesetze gegenüberstanden, werden dann von den Menschen mit voller Sachkenntnis angewandt und damit beherrscht. […] Erst von da an werden die Menschen ihre Geschichte mit vollem Bewußtsein selbst machen. […] Es ist der Sprung der Menschheit aus dem Reiche der Notwendigkeit in das Reich der Freiheit“ (Engels 1975 [1894], S. 264).

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Eigentümerdasein und fehlendem Eigentümerbewusstsein“ konstatiert,4 weshalb die Ausprägung jenes Eigentümerbewusstseins immer als zu Förderndes, noch zu Vervollkommnendes galt. Da es sich offensichtlich nicht von allein herstellte – so wie es eigentlich die Theorie nahelegte –, wurden Appelle an die Bevölkerung ausgegeben: „Du sollst das Volkseigentum schützen und mehren“, so das sechste von den „10 Geboten der sozialistischen Moral und Ethik“.5 Abseits dieser Appelle gab es mit dem 1963 verabschiedeten Neuen Ökonomischen System der Planung und Leitung (NÖSPL) Versuche, die Motivation und Identifikation der Arbeiterinnen mit dem Volkseigentum durch Umstrukturierungen innerhalb des planwirtschaftlichen Systems zu steigern. Helmut Koziolek, Direktor des Zentralinstituts für sozialistische Wirtschaftsführung und an der Ausarbeitung des NÖSPL maßgeblich beteiligt, führte im Rückblick dazu aus: Dieses [Volks-]Eigentum war nicht faßbar […]. [W]ir wollten das Eigentum handhabbar machen und die materielle Interessiertheit erhöhen, also sozialistisches Eigentümerverhalten erzeugen […], um dem Gewinngedanken zum Durchbruch zu verhelfen und auch die Verantwortung der Betriebskollektive durch eine entsprechende Ausgestaltung der materiellen Interessiertheit für dieses Eigentum zu stärken.6

Ziele dabei waren eine Dezentrierung der planwirtschaftlichen Befehlsgewalt und eine Verantwortungsübertragung an die Betriebskollektive, mit der die Mängel bei Motivation, Innovationsfreude und Identifikation bearbeitbar werden sollten. Walter Ulbricht, der sich für diese Umgestaltung stark machte, wurde 1971 abgesetzt; mit der Machtübernahme Honeckers sollte das NÖSPL dem Vergessen anheimfallen. Es blieb bei Apellen, die nun mit Konsumanreizen zur Förderung des privaten Wohlstands im Rahmen der „Einheit von Wirtschafts- und Sozialpolitik“ flankiert wurden. Ein Desiderat blieb bis zuletzt die reale Vergesellschaftung des Eigentums, in der die Produzenten einen bestimmenden demokratischen Einfluss auf die Gestaltung der Produktions- und Aneignungsprozesse hätten nehmen können.7 Demgegenüber hatte die „Verstaatlichung anstelle einer demokratischen Vergesellschaftung der Produktionsmittel […] die Weichen gestellt […] für eine bürokratische Verselbständigung des totalitären Herrschaftsapparates“.8 Das Volkseigentum trat den 4 5 6 7 8

Dietrich 2018, S. 1639. Zit. nach Lemke 1980, S. 21. Pirker et al. 1995, S. 257. Vgl. Steinitz 2011, S. 101. Habermas 1990, S. 183.

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Menschen als etwas Fremdes, Unbeherrschbares entgegen. Der Publizist Wolfgang Engler führt dazu aus: Was dieses Arrangement nicht schuf, war ein entsprechendes Eigentümerbewusstsein und -verhalten, neuartige Antriebskräfte. So entstand herrenloses, unbesorgtes Eigentum. Die Menschen vergaßen, was „Eigentum“ noch vor einer Generation bedeutet hatte.9

Dieses Vergessenwerden – so die These – hat sich in dem konkreten Umgang mit dem Volkseigentum in der Zeit der friedlichen Revolution niedergeschlagen. Darauf wird im Folgenden vertiefend eingegangen. 2. Das Volkseigentum in der Zeit der friedlichen Revolution

Während in der Sowjetunion unter Gorbatschow seit 1985 Experimente zur Einbeziehung der unmittelbaren Produzentinnen in Entscheidungsprozesse durchgeführt wurden,10 war die Demokratisierung des Volkseigentums in der DDR in dieser Zeit nahezu kein Thema mehr.11 Erst mit der Reformbewegung im Herbst 1989 kamen unter der Chiffre eines „Dritten Weges“ bzw. des „Sozialismus mit menschlichem Antlitz“ auch Debatten über das Volkseigentum auf. Inmitten der Thematisierung von Reise- und Meinungsfreiheit und der Skandalisierung autoritärer Politikstrukturen blieb das Thema jedoch randständig: Als Heiner Müller auf der Alexanderplatz-Demonstration vom 4. November 1989 als Einziger der Rednerinnen mit dem Aufruf zur Gründung unabhängiger Gewerkschaften die soziale Frage berührte, schlug ihm nur wenig Begeisterung entgegen.12 Die Initiative für Unabhängige Gewerk9 Engler/Hensel 2018, S. 120. 10 Vgl. Haug 1989. 11 Eine Ausnahme stellte das Statement des Liedermachers Gerhard Gundermann auf dem Kongreß der Unterhaltungskunst im März 1989 dar: „Hier müssen morgen bewußte Subjekte agieren, die sich ihre Aufgaben selber suchen […]. Die Basis für das Entstehen solcher Subjekte ist, daß der Begriff Volkseigentum endlich von einer moralisch ideologischen Kategorie zu einem funktionierenden Mechanismus gemacht wird, denn Eigentümerbewußtsein entsteht nur aus Eigentümerfunktion, also wenn jedes produzierende Subjekt entsprechenden Einfluß auf Planung, Leitung und Verteilung der Produktion hat. Die Entscheidungsebenen müssen aus den Ministerien heraus, vor Ort verlagert werden. Die Gesellschaft muß von unten her demokratisiert werden, an der ökonomischen Basis“ (Gundermann 2003 [1989], S. 560). 12 Vgl. Hürtgen 2001, S. 165ff. Abseits einer „nuschelnd und rhetorisch ungekonnt[en]“ Vortragsweise (Hürtgen 2001, S. 166), traf der Aufruf offensichtlich auch nicht die „Aufbruch-

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schaften, deren Aufruf Müller verlas, war Stichwortgeberin einer ostdeutschen Betriebsräteinitiative, die für eine kurze Zeit Teil des Kanons der Umwälzungen von 1989 war, dann aber mit der Übernahme westdeutscher Gewerkschaftsstrukturen und Betriebsbeziehungen ins Hintertreffen und schließlich in Vergessenheit geriet. Mit Blick auf die umfangreichen Dokumentationen dieser Bewegungen13 lässt sich feststellen, dass auch hier die Beziehung zwischen den Produzentinnen und „ihrem“ Volkseigentum unterbeleuchtet blieb. Umso interessanter sind die wenigen Beispiele, in denen um eine Thematisierung gerungen wurde. So formulierte der sich neustrukturierende Betriebsrat im VEB Werk für Fernsehelektronik Berlin im Januar 1990: „Nur wenn der Betriebsrat das letzte Wort hat, nur dann können wir erhoffen, daß sich echtes Eigentümerbewußtsein gegenüber dem Volkseigentum entwickelt“.14 Und auch vom Betriebsrat des VEB Funkwerk Köpenick wurde zum gleichen Zeitpunkt betont, dass der „Betriebsrat […] die Wahrnehmung der Eigentümerfunktion der Werktätigen an ihrem Volkseigentum“ darstelle,15 was auch als Reaktion auf die Gründung eines „sozialistischen Unternehmerverbands“ hinter dem Rücken der Belegschaften im Dezember 1989 gedeutet werden kann.16 Noch radikaler wird in der „Auflistung der Aufgaben und Strukturen“ eines zu gründenden Rates der Werktätigen (RdW) in Karl-Marx-Stadt im Dezember 1989 formuliert, warum die Rätestruktur einer Übernahme westdeutscher Gewerkschaftsbeziehungen vorzuziehen sei: Weil man von ganz anderen Eigentumsverhältnissen ausgehen muß. Der DGB [Deutsche Gewerkschaftsbund] in der BRD vertritt die Interessen seiner Mitglieder gegenüber den Eigentümern der Betriebe, bei uns liegt das Eigentumsverhältnis aber völlig anders. Da wir die Eigentümer der Betriebe und der Produktionsmittel sind, werden unsere Interessen durch den RdW gegenüber der Betriebsleitung vertreten, so, wie das

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stimmung, die sich in Forderungen wie ‚Neues Forum zulassen‘, ‚Krenz muß weg‘‚ Visafrei bis Hawaii‘ aber auch nach Presse- und Meinungsfreiheit artikulierte“ (Gehrke/Hürtgen 2001, S. 87). Das Vorgreifen auf die kommenden sozialen Auseinandersetzungen erschien als Störung und erinnerte manche Zuhörenden wohl mithin an die „politische“ Rhetorik der autoritären Machthaber. Vgl. Arbeitskreis Geschichte sozialer Bewegungen Ost-West 2017; Gehrke/Hürtgen 2001; Rosa-Luxemburg-Stiftung 2019. Gehrke/Hürtgen 2001, S. 417. Ebd., S. 432. Ähnlich wie in den anderen realsozialistischen Ländern deuteten sich darin erste Absetzbewegungen der Betriebsdirektorinnen an, die bereits auf eigene Faust mit westdeutschen „Partnern“ Joint-Venture-Vereinbarungen erörterten, die die Eigentumsverhältnisse nicht unbeeinflusst ließen.

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eigentlich die Aufgabe des FDGB [Freier Deutscher Gewerkschaftsbund] sein sollte, sich aber als völlig unzureichend erwiesen hat.17

Ähnlich explizit agiert in dieser Zeit nur noch die basisdemokratische Bewegung Vereinigte Linke (VL), die das „Recht der Werktätigen auf Teilhabe am Geschehen im ganzen Betrieb“ aus der „Form des kollektiven Eigentums“ ableitet und die Arbeitenden aufruft: Der Betriebs- oder Arbeiterrat muß die umfassende Kontrolle über den Betrieb übernehmen. […] Erklärt Euren Betrieb zu Eurem Eigentum und entscheidet eigenverantwortlich über die Verteilung des betrieblichen Anteils am Nettogewinn.18

Diese Form von Forderung „wirkte auf die meisten Zeitgenossen in der DDR wohl eher abstrakt-hochtrabend, ja in vielerlei Hinsicht realitätsfern“,19 denn damit verfehlte die VL offenkundig die Stimmung in den Betrieben und der Gesellschaft im Allgemeinen.20 Erst retrospektiv rückte für einige der damaligen Akteurinnen das Volkseigentum in den Mittelpunkt ihrer Überlegungen zu der politischen Praxis, die aus ihrer Sicht damals notwendig gewesen wäre; dann aber war es bereits zu spät, wie Leonore A. von der Initiative für unabhängige Gewerkschaften im Gespräch zu Protokoll gibt: [S]olche großen Fragen wie, was wird mit dem Produktionseigentum, diese Fragen haben wir natürlich nicht geklärt. […] Also eigentlich hätte der Staat enteignet werden müssen, der hatte sozusagen die Produktionsmittel in der Hand. Aber da lief auch die Entwicklung über uns hinweg.21

Während der thematische Bezug zum Volkseigentum bei den Initiativen und Bewegungen von 1989 randständig blieb, gelangte mit Christa Luft eine langjährige Ökonomieprofessorin als Wirtschaftsministerin in die Übergangsregierung unter Ministerpräsident Modrow, für die ein Neubezug aufs Volkseigentum zentral war. Mit anderen SED-Reformerinnen gründete sie im November 1989 außerhalb der bestehenden Parteistrukturen eine Arbeitsgruppe Wirtschaftsreform, die an die 17 18 19 20

Ebd., S. 397. Ebd., S. 510ff. Schmidt 2017, S. 131 Als die VL im März 1990 zu den ersten freien Volkskammerwahlen antrat, erreichte sie lediglich 0,18 Prozent der Wählerstimmen und damit einen Sitz im Parlament. 21 Gehrke/Hürtgen 2001, S. 125.

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Ideen des NÖSPL anschloss und deren Aufgaben sie im Neuen Deutschland folgendermaßen umriss: Das Eigentümerbewußtsein, Eigentümerverhalten muß […] zuallererst in unseren volkseigenen Betrieben beginnen, indem die Werktätigen dort Einfluß auf die Gestaltung effektiver Produktionsstrukturen bekommen, […] indem sie Einfluß auf die Entwicklung der Arbeits- und Lebensbedingungen usw. bekommen. […] [A]uch künftig bleibt […] das gesellschaftliche Eigentum das dominierende in unserem Land. Aber es wird flankiert von einer Vielfalt anderer Eigentumsformen, die eine gleichberechtigte Entwicklungsmöglichkeit erhalten müssen.22

In den folgenden Wochen hielt Luft diesen Kurs aus Eigentumspluralismus und Demokratisierung bei Planung und Leitung der volkseigenen Betriebe bei. Spätestens im Februar jedoch zeichnete sich ab, dass der noch im Dezember in der Bevölkerung offenkundig vorhandene Rückhalt für eine eigenstaatliche, sozialistische DDR zunehmend schwand. In dieser Zeit wurde am Runden Tisch ein Vorschlag von Wolfgang Ullmann (Demokratie Jetzt) debattiert, der die Bildung einer „Treuhandgesellschaft (Holding) zur Wahrung der Anteilsrechte der Bürger mit DDR-Staatsbürgerschaft am ‚Volkseigentum‘ der DDR“ vorsah. Insbesondere in Antizipation der Ergebnisse der ersten freien Wahlen im März 1990 sollte … … dafür Sorge getragen werden, daß das in Volksbesitz befindliche Eigentum […] nicht herrenlos wird und einfach verlorengeht. […] Die Verlustgefahr resultiert daraus, daß die Rechtskonstruktion ‚Volkseigentum‘ nicht im Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland, dessen Geltungsbereich ja vermutlich auf das Territorium der DDR ausgedehnt werden wird, enthalten ist. […] Als erste Handlung müßte diese HoldingGesellschaft gleichwertige Anteilsscheine […] an alle DDR-Bürger emittieren.23

Nur zwei Wochen später, am 1. März 1990, beschloss der Ministerrat die Gründung der Treuhand. Damit wurde zudem über die Umwandlung des Kombinats- und Betriebseigentums in Kapitalgesellschaften entschieden, bei denen die Treuhand Gesellschaftsanteile halten sollte, um damit auch bei einer veränderten Rechtssituation weiterhin demokratisch legitimiert in die wirtschaftliche Tätigkeit einwirken zu können. Beibehalten wurde das Ziel, die „Anonymität des Volksei-

22 Neues Deutschland 19.12.1989. 23 Berliner Zeitung 15.02.1990.

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gentums“ zu beseitigen,24 während die Ausgabe von Anteilsscheinen nicht in den Beschluss einfloss.25 Im Wahlkampf zu den ersten freien Wahlen am 18. März 1990 spielte das Thema Volkseigentum bestenfalls eine Nebenrolle. Stattdessen ging es um eine schnelle Währungsunion, eine nationale Wiedervereinigung und die Bruderhilfe aus dem Westen – mit diesen Themen konnte die Allianz für Deutschland unter CDU-Führung die Wahlen gewinnen. Das mediale Bild der volkseigenen Wirtschaft war in dieser Zeit äußerst negativ geprägt: Ans Licht kamen der hohe Verschleißgrad der Industrien, die prekäre Umweltsituation und Versorgungsmängel. Ab Frühjahr 1990 und noch einmal verstärkt nach der Währungsunion am 1. Juli verbreitete sich zudem ein weitreichender Boykott von DDR-Waren durch die eigene Bevölkerung – also letztlich durch die Produzentinnen selbst. Dabei mag auch die Veröffentlichung des „Schürer-Berichts“ eine Rolle gespielt haben. Dieses für das Politbüro bestimmte, intern verhandelte Dokument zur „Analyse der ökonomischen Lage der DDR“ vom Oktober 1989 warnte vor einer unmittelbar bevorstehenden Zahlungsunfähigkeit der DDR. Presseberichte, die den Inhalt des Dokuments offenlegten, führten den Bürgerinnen vor Augen, wie marode die eigenen wirtschaftlichen Strukturen waren. Erst in späteren Veröffentlichungen wurde betont, dass das Dokument auch strategischen Charakter besaß und die verhärteten Entscheidungsprozesse im Politbüro antreiben sollte. Anders als dargestellt, war die DDR „im Jahr 1989 nicht zahlungsunfähig“,26 wie auch eine Untersuchung der Deutschen Bundesbank retrospektiv feststellen konnte.27 Mit der neuen Regierung wandelte sich der politische Umgang mit dem Volkseigentum vollkommen. Während bei der Ur-Treuhand die Privatisierung des Volksvermögens oder eine Veräußerung von Anteilen an Belegschaften oder Investoren nicht vorgesehen war, gaben nun die marktpolitischen Überzeugungen der westdeutschen CDU die Richtung vor:28 Die Treuhandanstalt (THA) wurde 24 Neue Zeit 15.03.1990. 25 Im April 1990 gründete sich ein schnell wieder in Vergessenheit geratener Verband der Volksaktionäre, der erneut eine „Ausgabe von Anteilscheinen (Volksaktien)“ einforderte, aber davon ausging, dass das „Volkseigentum […] privatisiert werden“ müsse, damit „[d]er einzelne […] sich […] unternehmerisch für sein Eigentum engagieren“ könne (Neue Zeit 19.04.1990). 26 Brenke 2009, S. 20. 27 Vgl. Deutsche Bundesbank 1999. 28 Zwischen 1952 und 1975 wurden mit dem beim Bundesministerium für gesamtdeutsche Fragen eingerichteten Forschungsbeirat für Fragen der Wiedervereinigung Deutschlands in der Bundesrepublik Szenarien der Reprivatisierung des Volkseigentums in der DDR debattiert. Diese Ansätze erhielten während des Wiedervereinigungsprozesses erneut eine gewisse Aufmerksamkeit (vgl. Böick 2018, S. 98f.).

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mit dem Gesetz zur Privatisierung und Reorganisation des volkseigenen Vermögens zum 1. Juli, gleichzeitig mit der Durchführung der Währungsunion, de facto neugegründet. Eigentumsvielfalt und verschiedene Formen des Gemeineigentums waren darin nicht mehr vorgesehen, ebenso wenig wie eine Förderung der Eigentumsbildung Ostdeutscher. Bevorzugt wurde die Privatisierung an erfahrene und kreditwürdige Investorinnen – Bedingungen, die die Ostdeutschen strukturell ausschlossen. Gegen diese Form des Privatisierungsmodus, der unmittelbar in einem Eigentumstransfer von Ost nach West resultierte, erhob sich kein nennenswerter Widerstand. Vielmehr herrschte in der Bevölkerung zunächst eine Art Privatisierungseuphorie vor: Der Wunsch vieler war der Erhalt der Stellung als Lohnarbeiterinnen, den die neuen westdeutschen Eigentümer und Managerinnen in den Augen der Mehrheit der Ostdeutschen am ehesten garantieren konnten. Die Privatisierungseuphorie bezog sich dabei eben nicht auf den Wunsch, die Stellung der Eigentümerin selbst einzunehmen. In der Volkskammer-Fraktion der PDS und aus den Reihen der Bürgerrechtsbewegungen erhob sich jedoch lautstarke Kritik. Günter Bergt (PDS) bemängelte in der Parlamentsdiskussion über die Ausgestaltung der THA am 7. Juni 1990 das „ungenügende Mitspracherecht der Arbeiter bei der Bestimmung des Schicksals ihrer Betriebe“ und die Unklarheit darüber, „welcher Anteil dem DDR-Bürger an dem von ihm erarbeiteten Eigentum verbleibe“.29 Günter Nooke (Bündnis 90), gab bei der gleichen Aussprache zu Protokoll: Das sogenannte Treuhandgesetz ist in mehrfacher Hinsicht unakzeptabel. […] [Es bedeutet] eine Volksenteignung in nie dagewesenem Ausmaß. Das Ergebnis ist ein Volk von Sozialhilfeempfängern und Angestellten. Ich vertrete hier eine Bürgerbewegung und Bürger ist man, wenn man Eigentum hat.30

Kurz danach begann der rasche Zusammenbruch der ostdeutschen Industriestrukturen. Im Vergleich zum Jahr 1989 wurden 1991 nur noch 30 Prozent der Industrieproduktion erreicht, was auch mit Bezug auf die anderen osteuropäischen Länder ein negatives Extrem darstellt.31 Auf die massenhafte Schließung von VEBs ab der zweiten Hälfte des Jahres 1990 mit einer damit verbundenen grassierenden (verdeckten) Arbeitslosigkeit von bis zu 40 Prozent reagierten die Belegschaften mit Massenstreiks. Ab Frühjahr 1991 formierten sich gar erneut Montagsdemons29 Neues Deutschland 08.06.1990. 30 Deutscher Bundestag, Referat Öffentlichkeitsarbeit 2000, S. 355. 31 Vgl. Heske 2005, S. 266; Ther 2019, S. 88.

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trationen – diesmal „gegen Arbeitslosigkeit und Sozialabbau“ –, bei denen die Tätigkeit der THA ins Visier geriet. Auf Transparenten war zu lesen: „Treuhand sei doch einmal fair, weiter wollen wir nichts mehr“, „Vom Arbeitervolk zum Volk ohne Arbeit“, „Stoppt die Arbeitsplatzvernichtung“, „Wir haben nichts mehr zu verlieren außer: Unsere Arbeitsplätze“, „Stets belogen und beschissen, von der Treuhand rausgeschmissen“ und im Rahmen einer Betriebsbesetzung: „Wir bewachen hier unsere Arbeitsplätze“.32 Zentraler Bezugspunkt war die Sicherung des eigenen Lohnarbeitsverhältnisses, während die Resultate der Privatisierungspolitik und die Umwälzung der Eigentumsverhältnisse außerhalb des Fokus blieben. Weder wurde eine ostdeutsche (Privat-)Eigentümerschaft eingefordert oder Ideen einer kollektiven (Selbst-)Verwaltung in Stellung gebracht, noch wurde ein – nun retrospektiver – Bezug auf das Volkseigentum als ehemals symbolisch „Eigenes“ hergestellt. Nur vereinzelt, wie zum Beispiel beim Streik im Hennigsdorfer Stahlwerk, kursierten Slogans wie „Treuhand in Arbeiterhand“ oder wurden – wie bei einer Montagsdemonstration im Mai 1991 in Leipzig – Banner mit der Aufschrift „Räumt die Treuhand/KohlRegierung weg – Die Betriebe in Arbeiterhand!“ gezeigt. Diese politische Bezugnahme entstand jedoch nicht aus der Basisbewegung der Streikenden, sondern wurde, wie im letzteren Fall, durch politische Splittergruppen wie die SpartakistArbeiterpartei Deutschlands eingebracht.33 Die THA reagierte auf die bei den Demonstrationen und Streiks erhobene Kritik und korrigierte ihren Kurs. Nachdem nun ohnehin auch das Kaufinteresse westlicher Investorinnen nachgelassen hatte, wurden seit Mai 1991 ManagementBuy-Out-Kaufangebote (MBO) bei Gleichwertigkeit mit anderen Angeboten bevorzugt.34 Damit konnte zumindest das bestehende Management bzw. die leitenden Angestellten das Unternehmen leichter erwerben. Das Angebot kam jedoch verspätet: So gingen zwar 7,7 Prozent der privatisierten volkseigenen Betriebe an ostdeutsche Manager, wertmäßig entfielen jedoch von der Bruttokaufpreissumme lediglich 2,9 Prozent auf solche Käufer.35 Die (nie seitens öffentlicher Behörden 32 Vgl. z.B. Arbeitskreis Geschichte sozialer Bewegungen Ost-West 2017, S. 147, 171, 179; Die Zeit 18.06.1993. Auch bei den zahlreichen Belagerungen und symbolischen Besetzungen der THA-Zentrale in Berlin ging es – wie beispielhaft an einer Demonstration von Betriebsräten im Juni 1992 nachzuvollziehen ist – zumeist um „Forderungen zum Erhalt von Arbeitsplätzen“ in Form von Investitionsprogrammen und Arbeitsplatzgarantien (Frankfurter Rundschau 22.06.1992, zitiert nach: Arbeitskreis Geschichte sozialer Bewegungen Ost-West 2017, S. 84). 33 Vgl. Spartakist-Arbeiterpartei Deutschlands 1991, S. 4. 34 Vgl. Käppler 1996. 35 Vgl. Bekavac 1996, S. 330. Bezeichnend ist, dass der Kategorie „ostdeutsche Investoren“ bei den Erhebungen „eindeutig nur sogenannte Management-buy-outs (MBO) zugeordnet wer-

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zugänglich gemachte) Privatisierungsbilanz der THA, die je nach Quelle nur unwesentlich voneinander abweicht, bestätigt diese Tendenz eindrücklich: Bezogen auf den Wert der Unternehmen seien nur ca. 5 Prozent aller Betriebe an ostdeutsche, 10 Prozent an internationale und 85 Prozent an westdeutsche Käuferinnen privatisiert worden.36 Auch wenn 1991 eine dezidiert auf Ostdeutschland bezogene „Eigentumsbildung in Arbeitnehmerhand“ sogar auf dem CDU-Bundesparteitag in Dresden debattiert und deren Förderung beschlossen wurde,37 so konnten sich derlei Politikansätze nicht gegen die gewichtigen Interessen anderer Gruppen durchsetzen. Die Erschaffung einer lokalen Eigentümerklasse in den neuen Bundesländern war vollkommen gescheitert. 3. Die ostdeutsche Eigentumssituation heute

Die Datenlage zu privatem Reichtum ist in Deutschland sehr unzureichend, wie selbst der Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung wiederholt feststellen musste.38 Dementsprechend ist auch eine Geographie der Eigentumsverhältnisse – wie in unserem Fall mit Bezug auf Ostdeutschland –kaum darstellbar. Raj Kollmorgen ermittelte trotz dessen auf Grundlage eigener Berechnungen rund zehn Jahre nach dem Abschluss der Privatisierungen eine Eigentumsverteilung, die die Tendenz der THA-Bilanz fortschreibt und die noch heute als gültig erachtet werden kann: Besaßen – idealiter gesehen – die Ostdeutschen vor der Vereinigung 100 Prozent „ihres“ Produktivvermögens, sind es heute […] ca. 20–25 %. Mit anderen Worten, den Ostdeutschen gehört praktisch kein Produktivvermögen in Westdeutschland; es gehört ihnen aber auch nur ein Viertel des ostdeutschen. […] Die verbleibenden ca. 75 % teilen sich westdeutsche und ausländische Kapitaleigner im Verhältnis von etwa 90 zu 10.39

36 37 38 39

den“ konnten (Hauser et al. 1996, S. 177). Privatwirtschaftlich-institutionelle oder Einzelinvestoren – wie es bei westdeutschen Verkaufsfällen die Regel war – gab es demnach gar nicht. Als weitere Privatisierungsoption führte das Belegschafts-Buy-Out (BBO) ein absolutes Schattendasein: Nur ca. 20 Mitarbeiterkollektiven gelang es, im THA-Privatisierungsverfahren „ihren“ eigenen Betreib zu erwerben (vgl. Käppler 1996). Vgl. Bekavac 1996, S. 330; Busch 2000, S. 187; Käppler 1996; Treusch 2015. Vgl. Christlich Demokratische Union Deutschlands 1991, S. 87, 202. Vgl. Schröder et al. 2020, S. 512; Rehberg 2006, S. 23f. Kollmorgen 2005, S. 203f. Eine ähnliche Verteilung lässt sich auch bei Grund- und Immobilieneigentum nachweisen. Auch hier kam es zu einer „Entlokalisierung der Eigentümerstruktur“

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Ostdeutschland kann als eine hochgradig außengesteuerte Wirtschaftsregion bezeichnet werden. Die spezifische Geographie der Eigentumsverhältnisse bedingt dabei einen permanenten Kapitalabfluss an die Eigentümerinnen von Immobilien und Produktionsmitteln, und – damit im Zusammenhang stehend – eine mittlerweile 30 Jahre andauernde Abhängigkeit von Transfermitteln, die auf unbestimmte Zeit weiterbestehen wird.40 Ostdeutschland fungiert dabei als „Filialökonomie“,41 die geprägt ist von Filialbetrieben mit Stammsitz in Westdeutschland. Dies schlägt sich sowohl in der Höhe der durchschnittlichen Lohneinkommen nieder als auch in der Haushaltssituation ostdeutscher Kommunen, da am Ort der Filiale nur Lohn-, aber keine Gewerbesteuern gezahlt werden. Es zeigt sich aber auch im defensiven Charakter von Arbeitskämpfen,42 da Belegschaften von Filialen in dieser Situation häufig mit der Drohung der Standortverlagerung konfrontiert werden.43 Entscheidend ist nicht die Tatsache, dass die Eigentümer auswärts wohnen – in Westdeutschland. Die räumliche Verteilung der Eigentumsverhältnisse in Ostdeutschland bedingt einen Funktionsverlust, der nicht nur auf den ökonomischen Bereich beschränkt ist, sondern sich sowohl in der Handlungsfähigkeit von Institutionen und Verbänden als auch in den Erfahrungen der Selbstwirksamkeit der Bevölkerung niederschlägt.44

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44

und „Westwanderung des Immobilieneigentums“ (Reimann 2000, S. 47, 120), die für einige wenige Orte in den neuen Bundesländern stichprobenartig erhoben wurde. So hatten im Jahr 2006 53,5 Prozent der Gebäudeeigentümerinnen in der Dresdener Äußeren Neustadt einen westdeutschen Wohnsitz (vgl. Glatter/Wiest 2008, S. 58), im Berliner Prenzlauer Berg waren es im Jahr 1998 sogar zwei Drittel (vgl. Reimann 2000, S. 120f.). Eine 2015 durchgeführte Untersuchung der Eigentümerstruktur von Gründerzeitblöcken in Leipzig ergab, dass sich 27,1 Prozent im Eigentum von Ostdeutschen und 71,6 Prozent von Westdeutschen befanden (vgl. Rink/Schotte 2015, S. 45). Vgl. Intelmann 2020. Dörre/Röttger 2006, S. 158. Vgl. Hinke 2008. Doreen Massey untersuchte mit Wales in den frühen 1980er Jahren eine Region, die von ähnlichen Eigentümerstrukturen geprägt war und deren folgende Beschreibung durchaus auch für Ostdeutschland gültig ist: „[T]he increasing degree of external […] control poses new and different problems for working-class organization – the feeling of negotiating with ghosts […]. It is a situation which not only poses new difficulties for trade-union negotiation […] but which also reflects the changed status of management in the region, the removal of its real control, its reduction essentially to functions of administration and direct supervision […]. [W]hat has actually been lost to these regions is not a type of job […] but a function within the overall social relations of production“ (Massey 1983, S. 79, 81). Individuelle und kollektive Eigentumslosigkeit und Transferabhängigkeit können in Empfindungen von Fremdbestimmtheit und Kontrollverlust resultieren. Es wäre noch an anderer

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4. Fazit

Die Wiedervereinigungspolitik zeitigte intendierte und nichtintendierte Folgen.45 Mit der Neuformierung der THA im Juli 1990 wurde ein Pfad eingeschlagen, der eine „Subalternisierung“46 der Ostdeutschen beim Ringen um die Verteilung des DDR-Volkseigentums sehenden Auges hinnahm. Nicht nur wurden dabei die Bedingungen für eine kapitalistische Landnahme47 vormals – schlecht – vergesellschafteten Gemeineigentums geschaffen. Es wurde darüber hinaus der Modus der Landnahme so strukturiert, dass Menschen aus der DDR nicht an einer (privaten oder kollektiven) Eigentumsbildung teilhaben konnten.48 Viel spricht dafür, dass die Ausgestaltung des Treuhandgesetzes und der Privatisierungspolitik in erster Linie Interessen bereits etablierter Wirtschaftsfraktionen bediente.49 Vorliegender Text wollte diesen bekannten, mehr oder weniger forcierten Strategien, die in einer „massenhaften Übertragung der Eigentumstitel an Gebietsfremde“50 resultierten, mit einer komplementären Haltung eines Großteils der Ostdeutschen in Konstellation bringen: Dem nahezu widerstandslosen SichEnteignen-Lassen. Die sich während des Wiedervereinigungsprozesses ausbreitende Überzeugung, die DDR hätte abgewirtschaftet, mündete in der Ansicht, mit der Ideologie seien nun auch ihre materiellen Werte wertlos geworden. Das Volkseigentum drohte damit nicht nur rein rechtlich „herrenlos“ zu werden; es fand sich auch keine irgend geartete Zivilgesellschaft, die sich dem Volkseigentum in Vertretung des

45

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Stelle zu erörtern, in welchem Zusammenhang die durch Dependenz zu charakterisierenden Gesellschafts- und Wirtschaftsverhältnisse in Ostdeutschland zu der seit 2014/2015 vielfach zu beobachtenden autoritären Protestneigung und entsprechenden Wahlergebnissen steht. Sicherlich lag es nicht in der Absicht der entscheidenden Politikerinnen und beteiligten wirtschaftlichen Akteuren, ein Territorium zu schaffen, das permanent von staatlichen Transfers und einem Umverteilungsmechanismus abhängig ist (vgl. von Beyme 1995, S. 63). Die warnenden Stimmen aus dem Rat der Wirtschaftsweisen, die im drohenden Kollaps der DDRWirtschaft aufgrund der 1:1-Umtauschregelung bereits Mehrkosten für die Unternehmerklasse befürchteten, verstummten allerdings schnell. Die Folgekosten des Zusammenbruchs wurden in den folgenden Jahren auf eine Weise verteilt, so dass sie jene nicht ernsthaft bedrohten (vgl. Intelmann 2020). Ostdeutschland konnte für die Einzelunternehmerin aufgrund spezifischer Fördermittelquellen sogar ein lohnenswerter Aktionsraum sein. Kollmorgen 2011, S. 301. Vgl. Dörre 2009. Wie gezeigt, traten allein ostdeutsche MBOs und Gebietskörperschaften in den Wettbewerb ums Eigentum ein. Da in Ostdeutschland keine Unternehmerverbände etc. existierten, mussten die sich gründenden Gewerkschaften und politischen Parteien jene Interessen vertreten. Ludwig 2017, S. 584.

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„Volkes“ annahm.51 Was sich im Kleinen abspielte, fand seine Entsprechung im Großen: Im Kleinen entledigten sich die Ostdeutschen nach der Währungsunion ihres DDR-Hausrats, verklappten ihren Trabant und Wartburg massenhaft in Wäldern – und boykottierten für einige Zeit „ihre“ eigene Produktion. Im (sozialpsychologisch gedachten) Großen machten sich die Ostdeutschen frei vom Ballast der ungeliebten Produktionsmittel. Eine unausgesprochene Privatisierungseuphorie beschwor die Übergabe des „ganze[n] Salat[s]“52 in die Hände erfahrener Profis – zu denen sich viele Ostdeutsche selbst nicht zählten. Dabei ist nicht zu vernachlässigen, welche Bilder ein Großteil der Ostdeutschen von der Bundesrepublik hatte bzw. welche Bilder die Bundesrepublik in den Köpfen der DDR-Bürger zu erschaffen vermochte: Es sind die Repräsentationen eines „sozialen“ bzw. „Teilhabekapitalismus“,53 der auch aufgrund der Systemkonkurrenz massiv Ressourcen auch für die wohlfahrtsstaatliche Inklusion randständiger Gruppen mobilisierte.54 Die Vorstellungen von der Leistungsfähigkeit der bundesrepublikanischen Gesellschaft waren im Kopf so mancher DDR-Bürgerinnen geradezu auratisch aufgeladen. Ingo Schulzes grotesk und übertrieben anmutende Beschreibung des „Westens“ in seinem Roman „Neue Leben“ vermag dabei eine tatsächlich vorhandene Gefühlsebene widerzuspiegeln: Im Westen wurden die Straßen unterirdisch beheizt, die Tankstellen schlossen nie. Über jedem Geschäft, über jeder Tür blinkte Reklame, weshalb die Nächte taghell blieben und von einem Verkehr durchflutet waren wie bei uns nicht mal nach der Maidemonstration. Im Westen duftete das Benzin wie Parfüm, und die Bahnhöfe glichen tropischen Gärten, in denen man den Reisenden wundervolle Früchte darbot. Im Westen trug man in der Schule lange Haare und Jeans und kaute Kaugummis, mit denen sich kopfgroße Blasen machen ließen. Öffnete man denn nicht bei dem O von Ost den Mund wie ein Tölpel? Und zischte dieses West nicht schon an sich dahin wie ein Lamborghini auf Superfast-Reifen? Osten klang nach bewölktem Himmel und Omnibus und Baugrube. Westen nach Asphaltstraßen mit gläsernen Tankstellen, nach Terrassen mit Strohhalmgetränken und Musik über einem blauen See. Städte mit Na-

51 Seltene Ausnahmen waren, wie beschrieben, einige Bürgerrechtler am Runden Tisch und in der Volkskammer und Teile der ostdeutschen Betriebsrätebewegung. 52 So bezeichnete der THA-Vorsitzende Rohwedder am 19.10.1990 das gesamte Volkseigentum und bezifferte es auf einen Wert von 600 Milliarden D-Mark (zit. nach: Brinkmann 2005, S. 311). 53 Sennett 2005, S. 27; Busch/Land 2012. 54 In der BRD aktiv gewesene Gewerkschafterinnen berichteten, dass bei Tarifverhandlungen die „DDR immer mit am Verhandlungstisch“ gesessen habe (Becker 2001, S. 522).

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men wie Cottbus, Leipzig oder Eisenhüttenstadt konnten einfach nicht im Westen liegen. Wie anders klang dagegen Lahr, Karlsruhe, Freiburg oder Garching.55

Wenn Wolfgang Engler von unbesorgtem Eigentum schreibt, so verweist er auf eine bestimmte kollektive Beziehungsweise zum Eigentum in der DDR. Diese Beziehungsweise ist widersprüchlich, da sie auf die Erfahrung des Noch-nicht vergesellschafteten Eigentums einerseits und auf die Erfahrung der sich bereits verändernden Sozialbeziehungen „zwischen Arbeitern und Vorgesetzten, Frauen und Männern“ und ein „veränderte[s] Selbstgefühl“ andererseits rekurriert.56 In jener Ungleichzeitigkeit von Suspendierung des – im Horizont der marxistischen Theorie – eigentlichen Ziels und der tatsächlichen, partiellen Transformation von Beziehungsweisen57 ist das bemerkenswerte „Vergessen privateigentümlicher Grenzen und Zuständigkeiten“ zu verorten.58 Diese widersprüchliche Konstellation kam im Wiedervereinigungsprozess folgenschwer zum Tragen. Einerseits mangelte es im historischen Moment seiner Neuverteilung an einem (Kollektiv-)Bewusstsein bezüglich des Volkseigentums, andererseits lebte die Gewöhnung daran fort, dass Eigentum seine Funktion als Herrschaftsinstrument abgelegt und daher seine private Aneignung keine Bedeutung habe. Unbesorgt verfolgten die DDR-Bürger den Privatisierungsprozess als Beobachterinnen. Unbesorgt blieb das mangelhaft vergesellschaftete Volkseigentum als „Herrenloses“ ohne Verantwortlichen auf der Strecke: „Ich selber habe ihm den Tritt versetzt“.59 5. Literatur Adamczak, Bini (2017): Beziehungsweise Revolution. 1917, 1968 und kommende. Berlin: Suhrkamp. Arbeitskreis Geschichte sozialer Bewegungen Ost-West (2017): Dokumente der Initiative Ostdeutscher und Berliner Betriebsräte, Personalräte und Vertrauensleute. Berlin: Arbeitskreis Geschichte sozialer Bewegungen Ost-West. Becker, Klaus J. (2001): Die KPD in Rheinland-Pfalz 1946–1956. Mainz: Hase & Koehler. Bekavac, Jasenka (1996): Einfluß der Aktivitäten der Treuhandanstalt auf die Verteilung 55 56 57 58 59

Schulze 2010, S. 225. Engler/Hensel 2018, S. 122. Vgl. Adamczak 2017. Engler/Hensel 2018, S. 122. Braun 2000 [1992], S. 141.

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Dominik Intelmann

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„Ich komm’ aus Karl-Marx-Stadt / Bin ein Verlierer, Baby / Origina(l)Ostler“. Der Osten als Ort pluraler Beheimatung in der Populären Musik seit 2000 Anna Lux

1. „Kein Glück im Osten“. Einleitung

1999 im Leipziger Studentenclub Moritzbastei, die Autorin auf einem Konzert. Auf der Bühne der Hamburger Popkünstler Bernd Begemann, bekannt für seine poetischen und lebensklugen Songs. Der Saal ist halb gefüllt, die Stimmung gut, Musikwünsche werden artikuliert und die Songs mitgesungen. Applaus auch bei den ersten Takten zum nächsten Song, in dem es um die Erfahrungen des Sängers Anfang der 1990er Jahre geht, als er auch durch ostdeutsche Lande tingelte: Ich fuhr 1000 Kilometer / für 200 Mark (inklusive) / Ich war ziemlich enttäuscht / Als kaum einer kam. / Doch es lag nicht am Veranstalter / Es war meine eigene Schuld / Ich habe kein Glück im Osten.

Doch nicht nur schlechte Gage und mangelndes Interesse machen dem singenden Ich in dem Song zu schaffen, sondern vor allem das Misstrauen des Publikums gegenüber ihm, dem kulturellen Westimport. Das Leipziger Publikum feierte den Song. Es wurde mitgesungen, über die detailreiche Ausschmückung des Dialogs gelacht. Widerspruch oder Empörung waren nicht zu bemerken. Vielmehr gehörte der Song zu den Hits des Abends. Das Leipziger Publikum (der Großteil stammte aus der Stadt) schien vielmehr einig mit dem Hamburger, denn der Song schien eine Diskrepanz anzusprechen, mit der auch sie vertraut waren. Auch sie schienen ihre Schwierigkeiten mit diesem Osten zu haben, vor allem dann, wenn sich „der Osten“ über die Dichotomie zum Westen definierte und als emotional aufgeladenes Identifikationsangebot inszenierte. Dabei ging es nicht um die tatsächlichen, in den 1990er Jahren unübersehbaren wirtschaftlichen, sozialen und gesellschaftlichen Probleme, mit denen die Menschen im Osten seit der Vereinigung konfron-

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„Ich komm’ aus Karl-Marx-Stadt / Bin ein Verlierer, Baby / Origina(l)Ostler“.

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tiert waren und die ein hohes Maß an Frust produzier(t)en.1 Vielmehr schien die Verbundenheit zwischen Publikum und Sänger auf dem gemeinsamen Befremden gegenüber der Behauptung einer kollektiven ostdeutschen Identität zu beruhen, die sich wesentlich über die Differenz zwischen Ost und West definierte. Ein solches, auf Abgrenzung zielendes Identitätsangebot macht zwar manches sichtbar, überdeckt aber mindestens ebenso viel, ebnet Unterschiede und Ähnlichkeiten ein, produziert neue Gräben und vertieft alte. Und so waren die Sympathien des Leipziger Publikums nicht bei ihrer eigenen „imagined community“ (Benedict Anderson), sondern bei dem lebensechten Lonely Rider Begemann, wenn er, wie es im Song am Ende heißt, „die Stadt verlässt und sich einen ganz anderen Beruf wünscht“. Die Szene eröffnet den Zugang zu einem Feld und zu Fragen, die im Mittelpunkt des vorliegenden Beitrags stehen. Ausgehend von Songs, die 1989/1990 und die anschließenden Transformationsprozesse thematisieren, wird im Folgenden diskutiert, wie in Popmusik (oder besser Populärer Musik)2 Erinnerung und Identität(en) verhandelt werden. Populäre Musik verstehe ich damit sowohl als „Geschichtsmaschine“3 als auch als „Schauplatz […] diskursiver Identitätsverhandlungen“.4 Grundsätzlich ist Populäre Musik als ein komplexes, vielschichtiges und historisch veränderliches Phänomen zu verstehen, als eine „hochorganisierte und in hohem Maße institutionalisierte kulturelle Praxis inner-

1 2

3 4

Vgl. Kowalczuk 2019; Großbölting 2020. Zur analytischen Beschreibung des Verhältnisses von Populärkultur und Musik orientiere ich mich an Kaspar Maase, der mit Rückgriff auf die Musikwissenschaftlerin Sarah Chaker (2011) folgende Unterscheidung vorschlägt: Populäre Musik (großgeschrieben) bezeichnet Formen musikalischer Praxis, die erst aufgrund bestimmter (medien-)technischer, ökonomischer und gesellschaftlich-politischer Entwicklungen im 20. Jahrhundert möglich wurden. Der Begriff schließt dabei auch Musiken ein, die eine relativ geringe Verbreitung haben und subkulturellen oder anderen Szenen, also nicht dem Mainstream zuzuordnen sind. Der Begriff populäre Musik (in Kleinschreibung) erfasst hingegen alle Musiken mit großer Reichweite und quantitativ massenhaftem Publikum. Das trifft auf Songs von Lady Gaga ebenso zu wie auf Mozarts „Kleine Nachtmusik“. Populäre und populäre Musik zusammen bilden den Oberbegriff Popularmusik (vgl. Maase 2019, S. 28f.). In der Forschung wird verschiedenfach auch „Popmusik“ verwendet, wobei er als Analysebegriff mehr meint als im Alltagsverständnis zur Beschreibung eines bestimmten Musikstils oder Genres. Vielmehr wird Popmusik hier als soziale Konstruktion verstanden, als komplexer Zusammenhang aus Musik und Text, dem Optischen und dem Körperlich-Performativen, den an reale Personen (in der Produktion wie Rezeption) geknüpften Erzählungen (vgl. Seifert 2018, S. 52). Für einen Überblick über die sehr unterschiedlich ausgerichteten Versuche, das Feld definitorisch zu fassen, vgl. Hecken 2017. Lindenberger/Stahl 2014, S. 228. Kruse 2010, S. 4.

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halb moderner Industriegesellschaften“.5 Zudem gilt Populäre Musik als „ein Medium des gesellschaftlichen Wandels“, das diesen moderieren, ihn ermöglichen und katalysieren kann. Die klanglichen, textlichen, symbolischen und kulturellen Verknüpfungen werden zu einem sowohl sinn- als auch identitätsstiftenden Zusammenhang, der durch die Verbreitung von Musik überindividuell zur Verfügung steht. Anschauungen von Welt werden in Populärer Musik so nicht nur gespiegelt oder abgebildet, sondern produziert.6 Die doppelte Funktion von Populärer Musik als Spiegel von Welt wie als produktives Instrument zur Hervorbringung und Gestaltung von Welt bezieht sich jedoch nicht nur auf Gegenwart, sondern auch auf Vergangenheit. Populäre Musik kann daher auch als Medium der Erinnerung analysiert werden7 entlang der Frage, welche Themen, Topoi, Bilder mit welchen ästhetischen Mitteln wann verhandelt werden und wie diese im Verhältnis zu herrschenden Geschichtsbildern und erinnerungskulturellen Deutungen stehen.8 Zudem ist Populäre Musik ein wesentlicher Ankerpunkt bei der Ausgestaltung sozialer Beziehungen im Alltag und bei der Konstitution sozialer Identität. Als solche ist Populäre Musik auch für die Untersuchung kollektiver Identitätsaushandlungen relevant.9 Das Kollektivkonstrukt ostdeutsch entstand in der Transformationsphase der 1990er Jahre als Ergebnis einer vor allem medialen Fremdzuschreibung als ‚das Andere‘ (gegenüber dem Westen als ‚das Normale‘) sowie einer zunehmend selbstbewussten Beharrung auf Eigenständigkeit. Als Identitätskonstrukt ist ostdeutschSein eingebettet in andere soziale Identitäten und kollektive Herkunftsbezüge (Stadt, Region, Nation, Europa, die Welt). Innerhalb derer kann es als Abgrenzungsidentität ebenso wie als Mittel der Selbstbehauptung kontextabhängig aktu5 6 7 8 9

Wicke 1992, S. 11. Ebd., S. 21. Nieper/Schmitz 2016; Löding 2014. Korte/Paletschek 2009, S. 13f. Vgl. Kruse 2010, S. 9. Unter Rückgriff auf Benedict Anderson können kollektive Identitäten als „vorgestellte Gemeinschaften“ verstanden werden, die über kulturelle Symbole und diskursive Praktiken gefestigt werden. Als zentrale Strategien zur Herstellung kollektiver Identität gelten die Behauptung eines gemeinsamen Selbst- und Weltverständnisses sowie die Konstruktion eines ‚Anderen‘ als Abweichung von ‚dem Eigenen‘ als Norm. Die Konstruktion von kollektiver Identität ist dabei stets ein sozialer Prozess; sie muss immer wieder neu hergestellt und verhandelt werden. Ein zentraler Begriff zur Beschreibung kollektiver Identitäten ist Grenze: Kollektive Identitäten sind kompakter, je stärker die Grenze zur Markierung eines ‚Außen‘ fungiert. Sie sind elastischer und differenzierter, je mehr die Grenze reflektiert und zum Gegenstand einer offenen Identitätsbildung wird. Differenz – als Gegenbegriff zu Identität – wird dann nicht mehr als ‚das Andere‘ bestimmt: „So verstanden wäre Identität nicht mehr der Gegensatz von Alterität, sondern eine Praxis der Differenzierung“ (Assmann/Friese 1998, S. 23).

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alisiert werden.10 In den letzten fünf bis zehn Jahren haben das Konzept ostdeutsch und die daran angelagerten Identitätsdebatten eine neue Sichtbarkeit und Dynamik erlebt. Dabei erfahren insbesondere vergangen geglaubte Ost-West-Dichotomien ein Revival und werden als kollektive Identitäten aufgewertet. Infolgedessen erscheint der Osten für die einen (nach wie vor) als per se rechts, vormodern und demokratieunfähig. Die Gegenseite wiederum behauptet eine systematische und anhaltende Marginalisierung des Ostens und fordert eine Ostquote als Allheilmittel.11 Verfestigte Fronten und alte wie neue Demütigungen werden in diesen Debatten ebenso sichtbar wie Versuche einer stärkeren Annäherung. Dabei haben die Debatten um Identität und Repräsentation auch die Nachwendekinder erreicht, die sich der Enttäuschungserfahrungen ihrer Eltern und Großeltern annehmen, sie sich zu eigen machen und darin eigene Anliegen verhandeln. In den letzten Jahren haben die Aushandlungsprozesse an Schärfe gewonnen. Gründe hierfür sind die Jubiläen von „friedlicher Revolution“ und „Wiedervereinigung“, die als Erinnerungsmotoren die Sichtbarkeit pluraler Perspektiven generell verstärken, weiterhin die aktuelle zivilgesellschaftliche und politische Polarisierung, die mit PEGIDA und AfD offen zutage tritt und sich in den Auseinandersetzungen um die Maßnahmen gegen das Coronavirus fortsetzt.12 Verschärfungen und neue Sichtbarkeit hängen aber auch zusammen mit normalen erinnerungskulturellen Prozessen und einer Umschichtung der Gedächtniskultur infolge eines Generationswechsels nach 30 Jahren.13 Angesicht der zum Teil emotional hochaufgeladenen Auseinandersetzungen um die Ostdeutschen und die Frage, „wer wir sind“,14 gerät häufig aus dem Blick, dass die Aushandlungen selbst kontinuierlich Wandlungen unterworfen sind und keineswegs einem eindeutigen Pfad folgen.15 Vielmehr haben gerade die Auseinandersetzungen in den letzten 30 Jahren zu einer Pluralisierung im Nachdenken über den Osten beigetragen. Anders als ostdeutsch im Sinne eines Kampfbegriffs, der auf Dichotomie setzt und innerostdeutsche Unterschiede ebenso wie lebensweltliche Nähen zwischen Ost und West überdeckt, macht das kulturelle Kon­ strukt eines, wie man es nennen könnte, neutral gehaltenen Aus-dem-Osten-Seins die unterschiedlichen Erfahrungen mit der Integration in die Gesellschaft nach 1989 selbst zum Gegenstand. Ein wichtiger Ort pluraler Identitätsentwürfe ist das Feld der (Populär-)Kultur. In Romanen wie Manja Präkels „Als ich mit Hitler 10 11 12 13 14 15

Vgl. Ganzenmüller 2020. Vgl. dazu kritisch bereits Karstein/Schmidt-Lux 2006. Vgl. Leistner/Lux 2021. Assmann 2006, S. 27. Engler/Hensel 2018. Vgl. Bittner 2009.

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Schnapskirschen aß“ (2017) oder Regina Scheers „Machandel“ (2014) wird die Auseinandersetzung mit Differenz nicht nach außen, sondern vielmehr ins Innere der eigenen Identitätskonstruktionen verlegt. Damit werden Perspektiven eröffnet, die auf die Komplexität von Konflikten innerhalb der ostdeutschen Gesellschaft ebenso verweisen wie auf unterschiedliche Sichtweisen des Ostens auf den Osten. Hier setzt der Aufsatz an, der Formen der Identitätsaushandlung im Medium der Populären Musik diskutiert. Konkret werden fünf Songs untersucht, die nach 2000 erschienen sind und sich direkt oder indirekt, konkret oder symbolisch auf Wende- und Nachwendezeit beziehen.16 Gemeinsam ist diesen Songs, dass sie in ihrer Bezogenheit auf 1989/1990 als Zäsur eine historische Dimension aufweisen und zugleich Fragen von Herkunft und Identität verhandeln.17 Die Untersuchung erfolgt entlang von drei Identitätserzählungen: ostdeutsch als Teil der gesamtdeutschen Gesellschaft (Integrationserzählung), ostdeutsch als Ergebnis der Konstitution eines ‚Eigenen‘ durch Abgrenzung von einem ‚Außen‘ (Abgrenzungserzählung), das Ostdeutsche als Abgrenzungsfolie und die Suche nach einem Dritten. Hier wird der Osten zu einem pluralen Erinnerungsraum, der zugleich ein gebrochener, prekärer Erfahrungsraum ist (Differenzerzählung). 2. „Wir sind wir“ (2004) – Wundergeschichte und Selbstvergewisserung

„Wir sind wir“ erschien als das Ergebnis einer Zusammenarbeit zwischen dem Techno-DJ Paul van Dyk, 1971 in Eisenhüttenstadt geboren und aufgewachsen in Ost-Berlin, und dem Hamburger Musiker Peter Heppner, 1967 geboren und Sänger der Gruppe Wolfsheim. Die Produktion steht in Zusammenhang mit der massenmedialen Inszenierung des „Wunders von Bern“ im Jahr 2004, dem überraschenden Sieg der westdeutschen Nationalmannschaft gegen den Favoriten Ungarn während der Fußballweltmeisterschaft 1954. Der damalige Sieg zählt zu den zentralen Gründungsmythen der Bundesrepublik. Der Song „Wir sind wir“ erschien im Rahmen einer Special Edition anlässlich des sich zum 50. Mal jährenden WM-Sieges. Er wurde zeitgenössisch vorwiegend in diesem Kontext rezipiert, und zwar durchaus erfolgreich: 19 Wochen lang war der Song in den deutschen Charts. Zudem war er Teil und Gegenstand der zeitgenössisch heftigen Debatten um deutschsprachigen Pop und seine etwaige Funktion im „Ver(un)

16 Die Auswahl erfolgte auf der Grundlage einer Materialsammlung im Rahmen des Forschungsprojekts „Das umstrittene Erbe von 1989“ (siehe auch die Webseite www.89goespop.de). 17 Vgl. hierzu auch den Beitrag von Jonas Brückner in diesem Band.

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sicherungsdiskurs“18 um deutsche Identität, Stichwort „Normalisierung der deutschen Nation“ und „positiver Patriotismus“. Im Musikvideo zu „Wir sind wir“ wird eine recht eindeutige Geschichte erzählt. Zu sehen ist der Sänger Peter Heppner, der alterslos Zeiten und Räume durchschreitet. Stets trägt er eine Kamera bei sich, um den Zeitenwandel festzuhalten. Er ist Sänger und Zeuge von Geschichte zugleich. Das Video untergliedert sich in drei Teile. Der erste zeigt Trümmerfrauen und vom Krieg zerstörte Gebäude. Es folgen Bilder vom Wiederaufbau, der Torjubel in Bern, „Wirtschaftswunder“-Bilder. Der zweite Teil referiert auf die DDR mit Bildern von Mauerbau, Trennung und Flucht, und auch der dritte Teil arbeitet mit ikonographischen Bildern, nun bezogen auf den Mauerfall. Anknüpfend an die Beobachtungen von Matthias Steinle lässt sich das Musikvideo damit als ein Beispiel für das Narrativ einer Wunderund Erfolgsgeschichte der Bundesrepublik bewerten, das entlang des Dreischritts Wunder von Bern, Wirtschaftswunder und Wendewunder konstruiert wird.19 Hört man den Song ohne die vereindeutigenden Bilder des Videos, sondern fokussiert auf den Text, eröffnen sich (mindestens) zwei über die zeitgenössischen Deutungen hinausweisende Interpretationsansätze. In einem ersten wird die Wunder- und Erfolgsgeschichte der Bundesrepublik ergänzt durch eine Erzählung von DDR und Vereinigung, die nicht im Modus von „Diktatur“- und „Revolutionsgedächtnis“ (Martin Sabrow) erfolgt, sondern als Ambivalenzerzählung. Der Song greift dabei die Ursprungshoffnung auf ein besseres Land ebenso auf („Auferstanden aus Ruinen dachten wir / Wir hätten einen Traum vollbracht“) wie er die Vereinigung beider deutscher Staaten auch als Verlusterfahrung verhandelt, die als Kapitalismuskritik bis in die Gegenwart verlängert wird: Jetzt können wir haben, was wir wollen, / Aber wollten wir nicht eigentlich viel mehr? / […] Wieder eins in einem Land, / Superreich und abgebrannt.

Ein zweiter Interpretationsansatz ergibt sich durch den aktuellen Rezeptionskontext, der sensibler ist für ostdeutsche Selbsterzählungen. In diesem ist es möglich, den Text auch als ostdeutsche Erfahrungsgeschichte der Nachwendezeit zu lesen. Ein Marker für diese Interpretation ist die Wahl der temporalen Mittel in der ersten Strophe, die spezifische Verwendung von Präsens, Präteritum sowie Zeitadverbien. Im Musikvideo legen die Bilder den Bezug zur unmittelbaren Nachkriegszeit nahe. Der Text jedoch ist im Präsens geschrieben (im Gegensatz zu den folgenden Textteilen). Das Heute könnte damit auch auf die frühen Nullerjahre als Gegen18 Kruse 2010. 19 Steinle 2015.

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wart verweisen und damit auf die Veränderungsprozesse in ostdeutschen Städten seit der Wende: Tag um Tag, Jahr um Jahr, / Wenn ich durch diese Straßen geh, / Seh’ ich, wie die Ruinen dieser Stadt wieder zu Häusern auferstehen. / Doch bleiben viele Fenster leer, Für viele gab es keine Wiederkehr. / Und über das, was grad noch war, / Spricht man heute lieber gar nicht mehr.

Ein erster Bauboom hatte Mitte der 1990er Jahre das Stadtbild von Berlin, Leipzig oder Dresden stark verändert. Zugleich blieben viele Wohnungen unbewohnt, Abwanderung war nach wie vor ein eklatantes Problem. Die Zeile über das Schweigen kann sich in dieser Deutung sowohl auf die 1945 proklamierte „Stunde null“ beziehen wie auf das neue Schweigen angesichts der untergegangenen DDR. Auch der Sound im Hintergrund, der im Video als Torjubel in Bern eindeutig zugeordnet ist, bleibt ohne die Visualisierung unspezifisch. Selbst die dem Zitat oben folgende Zeile „Aufgeteilt, besiegt und doch / Schließlich leben wir ja noch“ ist in ihrer eindeutigen Zuordnung zum Kriegsende zu relativieren, da sie am Ende des Songs wiederholt wird – nun allerdings durch Verweis auf die deutsch-deutsche Vereinigung. Die Textzeile wird damit zeitlich entbunden und ruft ganz grundsätzlich den Bezug zum historischen Erbe des „Dritten Reiches“ für die deutsche Geschichte auf – nach 1945 ebenso wie nach 1990. Folgt man dieser Lesart, kann der gesamte Song als ein Angebot zur Gedächtnisbildung und Gedächtnisreflexion in Auseinandersetzung mit erinnerungskulturell marginalisierten Erfahrungen und Erinnerungen zu DDR- und Wendezeit gedeutet werden. Eine solche Deutung ist vor dem zeitgenössischen Hintergrund nicht unplausibel. Denn im Sommer 2004 waren der Film „Das Wunder von Bern“ und die damit zeitgleichen Auseinandersetzungen um deutsche Identität und Popkultur nur ein Teilaspekt der gesellschaftlichen Debatten. Mindestens ebenso wichtig waren die Auswirkungen der wirtschaftlichen Transformationsprozesse in den neuen Bundesländern, die zu massiv hohen Arbeitslosenzahlen geführt hatten. Ihren sichtbarsten Ausdruck fanden diese Prozesse in den Hartz-IV-Protesten, die im Sommer 2004 ihren Höhepunkt erlebten. Gleichzeitig lassen sich Anfang der 2000er Jahre, nicht zuletzt im Umfeld des 15-jährigen Jubiläums der „friedlichen Revolution“, Verschiebungen im Erinnerungsdiskurs feststellen, die sich zunächst vor allem im Feld Literatur abzeichneten. Im Anschluss an Jana Hensels kon­ tro­vers diskutierten Bestseller „Zonenkinder“ (2002) erschien eine Vielzahl von (auto-)biographischen Texten der sogenannten Wendegeneration, die neue Perspektiven in der Auseinandersetzung über DDR und Transformationszeit eröffneten. Mittelfristig trugen diese Romane, Erzählungen und Essays zu einer Neu-

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ausrichtung auch im Diskurs über ostdeutsche Identitäten bei, die weit über das literarische Feld hinausweisen. Vor diesem Hintergrund kann „Wir sind wir“ auch als Teil einer diskursiven Selbstvergewisserung der Ostdeutschen in den 2000er Jahren verstanden werden. Im Song wurden die ostdeutschen Identitätsbefragungen dabei explizit an gesamtdeutsche Debatten um nationale Ver(un)sicherungen zurückgebunden. Der Song ist damit beides: ein Beitrag zu dem zeitgenössisch verhandelten Diskurs über ‚neuen‘ Nationalismus – und als dieser wurde der Song mit Pomp (in Orchesterversion) im Rahmen der Einheitsfeier 2005 inszeniert, breit rezipiert und kritisiert – und ein Kommentar zu einseitigen Erzählungen der Geschichte der Bundesrepublik als Wunder- und Erfolgsgeschichte und damit ein Beitrag im Selbstvergewisserungsdiskurs im Osten. Und als dieser wurde der Song erst in jüngster Zeit wiederentdeckt.20 „Wir sind wir“ kann so als Versuch einer Integration ostdeutscher Erfahrungsräume und Erzählungen in die nationalen Ver(un)sicherungsdebatten Anfang der 2000er Jahre gelesen werden. Dabei beharrt der Song auf eigensinnigen Erzählungen und Deutungen über den Osten ebenso wie er das „Dritte Reich“ und die DDR gleichermaßen als politisches und kulturelles Erbe für das gesamte Land aufruft. Der Song ist so auch ein Beispiel für die Mehrdeutigkeit und Polyvalenz von Kunst, die in unterschiedlichen Kontexten neu gelesen werden kann. Dass die Wir-Erzählung abhängig von Rezeptionskontext und gesellschaftlich-politischem Kontext nicht nur verschiedene, sondern auch gegensätzliche Rezeptionsmöglichkeiten eröffnet, zeigt sich darin, dass der Song vor einigen Jahren von dem AfD-Politiker Björn Höcke im Rahmen seiner Rede auf dem Erfurter Domplatz verwendet wurde. Eingebunden in den Aufruf zum Widerstand gegen die „Merkel-Diktatur“ wurde der Song hier Teil einer heroischen Inszenierung und damit jeglicher Ambivalenz entledigt und nationalistisch vereindeutigt. Diese politische Vereinnahmung des Songs ist ein Beispiel dafür, wie die AfD symbolisch an ostdeutsche Erfahrungen, Produkte und Ereignisse anknüpft und geschichtsnarrative Lücken füllt. Paul van Dyk wehrte sich dagegen und schickte eine Unterlassungsaufforderung an die AfD.

20 Vgl. den Podcast „Sound des Ostens“ (2019) von Antonie Rietzschel und Laura Terberl. Online verfügbar unter https://www.sueddeutsche.de/kultur/sz-podcast-das-thema-der-sounddes-ostens-1.4669906. Gesehen am 24.04.2021.

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3. „Der Osten rollt“ (2007) – Die Ermannung Ostdeutschlands im Gangsta-Rap

Ist die ostdeutsche Erzählung von „Wir sind wir“ in die Konstruktion eines gesamtdeutschen Wir integriert, verläuft die Konstruktion von Identität im folgenden Song über die Abgrenzung von einem konstitutiven Außen. Der Song gehört dabei zu jenem Genre, das als Medium der Identitätsversicherung schlechthin gilt, der Rap. Rap kann als diskursiver Rahmen zur Herstellung von Identität konzipiert werden, als Auseinandersetzung mit Erfahrungen von grundlegender Ungerechtigkeit und „Strategie der Gegenöffentlichkeit“.21 Der Rap-Song „Der Osten rollt“ des Berliner Rappers Joe Rilla (aka Hagen Stoll, 1975 in Ost-Berlin geboren) muss vor seinem Genrehintergrund verstanden werden. Auch Joe Rilla verknüpft das Anliegen, Ungerechtigkeit und fehlende Repräsentation von Ostdeutschen zu thematisieren mit dem Anspruch, ihnen eine Stimme zu geben und eine als unterdrückt wahrgenommene Wahrheit zu vermitteln. Konkret wird im Song das Narrativ vom gedemütigten Osten etabliert, der sich seiner selbst bewusst wird und sich gegen Unterdrückung und Fremdzuschreibungen behauptet. Verortet in den Plattenbauten von Berlin-Marzahn und unterlegt mit dumpfen Beats, inszeniert sich Joe Rilla als Repräsentant nicht nur der Plattenbaukids, sondern eines ostdeutschen Kollektivs. Die Selbstthematisierung wird dabei zur Selbstbehauptung der Vergessenen, Abgehängten und Gedemütigten:22 Und ich bin der Stolz dieser Platten / Ich steh für Jungs die nie eine faire Chance hier hatten / Zeiten ändern sich. Niemand läuft hier mehr gebückt / Hier zeigen dir 16jährige wie man Schränke zerpflückt / […] Hier sei Hoffnung ein Fremdwort schreiben sie in der Presse / […] Und jeder Ostler – verdammt – im Land weiß was ich mein’ / […] Rilla bringt es auf den Punkt, weil der Osten was zu sagen hat / Ich hab das Klagen satt, setz’ alles auf eine Karte / Und fühl mich wie 89 auf der Straße.

Über die Thematisierung von Prekarität, Perspektivlosigkeit und fehlender Repräsentanz wird die Krisenerzählung bei Joe Rilla zur Identitätserzählung umgedeutet. Die Konstruktion von kollektiver Identität erfolgt dabei im Wesentlichen über die Abgrenzung von einem Außen, von den Machteliten in Politik, Wirtschaft und Medien und nicht zuletzt vom Westen, der durch den kontinuierlichen Bezug auf den Osten als das Andere im Song ständig mitverhandelt 21 Kage 2020, S. 62 sowie Seeliger 2014. 22 Siehe zum Narrativ der Demütigung den Beitrag von Ute Frevert in diesem Band.

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wird („ihr habt den Osten viel zu lange gedrückt“). Die Unterscheidung zwischen Wir und Ihr wird als Konflikt von Unterdrückung und Widerstand inszeniert. Der Demütigung wird Wut gegenübergestellt, einer gesellschaftlichen Marginalisierung die körperliche Präsenz und – über die Referenz auf 1989 – die Wirkmächtigkeit der Straße aufgerufen. Der Plattenbau in Berlin-Marzahn wird nicht nur als Ort gemeinsamer Vergangenheit und Gegenwart inszeniert, sondern als Ort sozialer Vergemeinschaftung eines kampfbereiten Milieus. Demütigung und Widerstand werden dabei im Song unter Rückgriff auf Symbole und Codes ostdeutscher Hooligans inszeniert, die Hagen Stoll (ein ehemaliger Hooligan des BFC Dynamo Berlin) vertraut sind. Glatzen, Bomberjacken, tätowierte Oberarme, Muskelpakete dominieren die Bildgestaltung im Video und im Text heißt es: „Oberarme zugescheppert / Ostberlin / Junge / Kategorie C, mein Freund“; Kategorie C steht für gewaltsuchende Hooligans. Die Referenzen auf die (ostdeutsche) Hooligankultur gehen einher mit Vorstellungen und Inszenierungen von Männlichkeit, die über körperliche Kraft und Kampf(geist) definiert sind und im Video in einer bemerkenswerten Brachialität daherkommen (wenn Steinplatten mit bloßer Hand oder auch dem Kopf zertrümmert werden). Ostdeutsch-Sein wird hier zusammengedacht mit Echte-Männer-Sein und entsprechend rezipiert. Ein Kommentar unter dem YouTube-Video lautet: „Ich glaub die ossis sind die einzigen Deutschen die noch Männer sind [sic]“. Vor diesem Hintergrund kann der Song als eine Antwort auf ostdeutsche Identitätsaushandlungen der Zeit verstanden werden, die – zunächst an ein bestimmtes Milieu und eine bestimmte Zielgruppe gebunden – auch an bestimmte Männlichkeitsbilder andockt. Im Song erfolgt die diskursive Selbstvergewisserung so zum einen als Abgrenzungserzählung, zum anderen im Modus der „Ermannung“ Ostdeutschlands.23 Dass diese Inszenierungen im (Gangsta-)Rap und konkret bei dem Berliner Label Aggro Berlin ihren Ort finden, ist nicht verwunderlich. Polarisierung, Zuspitzung und Abgrenzung ist im Genre generell ein zentrales inhaltliches wie stilistisches Mittel. Aggro Berlin rollte in den 2000er Jahren das Feld erfolgreich auf, indem sie mit dem Maskenmann Sido, dem deutschtümelnden Fler oder dem übersexualisierten afrodeutschen B-Tight kontinuierlich die Grenzen des Sag- und Zeigbaren strapazierten. Mit dem Ostrapper Joe Rilla hatte das Label einen neuen Charakter geschaffen, der eine weitere Zielgruppe anvisierte. Die Inszenierungen im Song haben jedoch nicht nur eine ästhetische und kulturelle, sondern auch eine politische Dimension. Zwar betonte Stoll in einem Interview mit der taz, dass er kein Nazi und von Rechten in den 1990er Jahren

23 Erhard et al. 2019, S. 61.

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vielmehr durch die Stadt gejagt worden sei.24 Doch der Song lässt die Grenzen offen, verwendet „Punk“ und „Zecke“ als abwertende Zuschreibungen und eröffnet inhaltlich, musikalisch und ästhetisch Anschlussmöglichkeiten nach rechts. Vor allem in den letzten Jahren wird verstärkt das Verhältnis von Pop und (rechtem) Populismus in Deutschrock und Deutschrap diskutiert25 – auch die Stellung von Hagen Stoll, seit 2010 Sänger der Deutschrockband Haudegen, die sich 2017 in den sozialen Medien von der Band Frei.Wild distanzierte.26 Eng mit diesen Auseinandersetzungen verknüpft ist die Tatsache, dass die „Ermannung“ des Ostens als Teil einer Widerstandserzählung gegen Eliten und westdeutsche Dominanz in den letzten Jahren auch jenseits des Gangsta-Rap Resonanz gefunden hat und politisch wirkmächtig geworden ist.27 Bereits Anfang der 2000er Jahre präsentierten sich ostdeutsche Hooligans zunächst innerhalb der eigenen Szene als Vorkämpfer eines (wieder-)auferstandenen Ostens und des ‚besseren Deutschland‘. Im Rahmen von PEGIDA, im Wahlkampf der AfD sowie jüngst während der QuerdenkenDemonstrationen erfolgte dann eine ‚Ausweitung der Kampfzone‘. Die (Selbst-) Inszenierung der Hooligans als „subkulturelle Gewaltavantgarde“28 geht dabei einher mit Prozessen der Professionalisierung und Politisierung. Gewalthandlungen zielen nun weniger auf ihresgleichen, sondern auf politische Gegner und das „Merkel-Regime“. Durch politische Akteure teilweise legitimiert, inszenieren sich Hooligans nun als Wegbereiter einer ‚Revolution von unten‘. Zugleich ist das Verhältnis von Pop(ulärkultur) und Politik keineswegs einfach oder eindeutig im Sinne eines Ursache-Wirkung-Prinzips zu verstehen. Vielmehr muss analytisch unterschieden werden zwischen Privatperson und Kunst-Bühnenfigur und dem komplexen, keineswegs eindeutigen Spiel mit Begriffen, Symbolen, Bezügen, das gerade im Rap wesentlich ist. Mit Blick auf (politische) Wirkungen von Popkultur hat Kaspar Maase betont, dass die Rezeption von unterschiedlichen Faktoren abhängig sei, von Vorwissen, Voreinstellungen, Vorannahmen, die jeweils biographisch bedingt sind und die selbst innerhalb einer einzelnen Person und ihrer Biographie mehrdeutig und widersprüchlich sein können. Popkultur ist nur eine neben vielen anderen Stimmen im Selbstverständigungsprozess pluralistischer Gesellschaften. Eine wesentliche Rolle im Aneignungsprozess von Popkultur spielt der Fiktionalitätsvertrag, also das Wissen der Zuschauer*innen um den Text, die Figur, die Erzählung als künstlerisches, fiktives und konstruiertes Produkt. Popkultur entfalte, so Maase, also nicht per se politische Wirkung. Sie ist an sich 24 25 26 27 28

Vgl. Hartmann 2008. Vgl. Appen/Hindrichs 2020; Balzer 2019. Vgl. Bakunin 2017. Vgl. Hartmann/Leistner 2019. Erhard et al. 2019, S. 47.

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weder revolutionär noch reaktionär, sondern vielmehr Quelle starker Gefühle29 – und als solche kann sie durchaus auch politisch wirksam werden.30 4. Jenseits von Osten – Ambivalente Erfahrungsräume und prekäre Heimat(en)

In jüngerer Zeit ist neben Literatur insbesondere Musik der Ort, an dem Aushandlungsprozesse über alternative Deutungen des Aus-dem-Osten-Seins stattfinden. Offensiver als bisher wurde seit 2010 bei ganz unterschiedlichen Bands und Künstler*innen die Herkunft aus dem Osten zum inhaltlichen und ästhetischen Gegenstand ihrer Songs. Nicht trotz, sondern gerade wegen der Art und Weise, wie Herkunft hier verhandelt wird, erfahren diese Musiker*innen und Bands öffentliche Sichtbarkeit und Popularität. Auch in den drei Songs, die im Mittelpunkt der folgenden Ausführungen stehen, findet eine Beschäftigung mit Herkunftsorten und -milieus statt. Diese sind als biographische Ankerpunkte Räume territorialer, sozialer und kultureller Vertrautheit.31 Zugleich sind diese Herkünfte keineswegs verbunden mit Orten der Harmonie und Idylle, in die man sich nostalgisch zurücksehnt, sondern vielmehr prekär, unsicher und brüchig. Die in den folgenden Songs rekonstruierten Herkunftsräume möchte ich mit dem Begriff prekäre Heimat fassen, verstanden als Räume, die zwar mit Vertrautheit verbunden sind, derer man sich aber nicht sicher sein kann. 4.1 Nieder mit den Stereotypen, es lebe Karl-Marx-Stadt! Lokale Identität als ein Drittes?

Die aus Chemnitz stammende Band Kraftklub verhandelt in ihrem Song „KarlMarx-Stadt“ (2012) die Erfahrung, aus dem Osten zu sein, ironisch-gebrochen. Dabei greift das Lied Bilder und Stereotype auf. In der ersten Strophe rückt der Song den vielzitierten Bürger zweiter Klasse in den Mittelpunkt, für den in Fremdwie Selbstzuschreibung der „Modus der kollektiven Unterprivilegierung“32 zum unüberwindbaren Ausgangspunkt seiner Charakterisierung geworden ist. Ein zen29 Generell zum Verhältnis von Musik und Emotionen am Beispiel der Liedkultur in der DDR vgl. Brauer 2020. 30 Maase 2019, S. 201–208. 31 Vgl. Mitzscherlich 2019, S. 187. 32 Ganzenmüller 2020.

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traler Bestandteil ist die Delegierung von Verantwortung für das eigene Leben wie für das gesellschaftliche Umfeld, der auch im Song aufgegriffen wird: Ich kann nichts dafür, doch die meisten begreifen nicht / Dass es nicht meine Schuld ist, wenn mein Leben scheiße ist / Sondern eigentlich das System, Politik und HartzIV / Egal woran es liegt, es liegt nicht an mir.

Die zweite Strophe verhandelt das Klischee vom abgehängten Osten, in dem nichts funktioniert und sogar das Essen grau ist: Ich cruise Banane essend im Trabant um den Karl-Marx-Kopf / Die Straßen menschenleer und das Essen ohne Farbstoff / Diskriminiert, nicht motiviert / Von der Decke tropft das Wasser, nichts funktioniert.

Bereits durch die Art und Weise, wie die Bilder im Text verknüpft sind und zugespitzt werden, sind sie als Zuschreibungen markiert und in ihrem Wirklichkeitscharakter gebrochen. Beide Strophen inszenieren die Figur des Ostdeutschen als Loser und Wendeverlierer, um sie im nächsten Schritt zu dekonstruieren. Dafür kreiert Kraftklub die Figur des „(l)Ostler“, den sie den popkulturellen Thron erklimmen lassen, wenn sie den Refrain in Text und Melodie an Becks SlackerHymne „Loser“ von 1994 anlehnen: „Ich komm aus Karl-Marx-Stadt / bin ein Verlierer, Baby / Origina(l)Ostler“. Die Krisenerzählung wird im Song umgedeutet zum selbstbewussten Bekenntnis zu einer Identität,33 die mit den Fremd- und Selbstzuschreibungen als Ostler zwar verknüpft ist, diese jedoch hinter sich lässt, um etwas Eigenes zu sein. Eine durch den Osten als Erfahrungsraum geprägte lokale, auf die Stadt Chemnitz orientierte Identität wird auf der visuellen Ebene im Musikvideo verknüpft mit Herkunft als sozialem Raum und einem alltäglichen Miteinander. Zu sehen sind junge Menschen, die normale Junge-Leute-Sachen machen: mit dem Auto rumfahren, Musik machen, tanzen, abhängen, nachts illegal ins Schwimmbad einsteigen etc. Der Song kann als Versuch verstanden werden, in der Auseinandersetzung um das Ostdeutsche eine eigene Position zu entwickeln, die nicht in 33 Diese Beobachtung können mit kultursoziologischen Überlegungen zum Verhältnis von Stigma und Charisma zusammengedacht werden. Die Erfahrung von Stigmatisierung führt hiernach keineswegs nur zu passivem Dulden, sondern kann auch aktiv auf- und angegriffen werden, indem die Stigmatisierung durch die Stigmatisierten selbst stigmatisiert wird. Die (An-)Klage kann sich dabei nicht nur gegen einzelne Akteure oder Gruppen, sondern gegen die Gesellschaft, ihre Moral und Vorannahmen richten. Gelingt die Mobilisierung einer breiten Anhängerschaft, kann Stigma in Charisma quasi umschlagen (vgl. Lipp 1985).

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der reinen Abkehr von bestehenden Identitätskonstruktionen liegt, sondern in der konstruktiven Auseinandersetzung mit ihnen. Dies markiert auch der Titel des Songs „Karl-Marx-Stadt“, der zum einen auf den lokalen Raum als Heimatstadt der Bandmitglieder verweist, zugleich die vielfältigen Umbruchserfahrungen im Osten mittransportiert, die in der Namensumwandlung von Karl-Marx-Stadt zu Chemnitz 1990 symbolisch festgeschrieben sind. Für die Generation der Wendeund Nachwendekinder, zu der auch die fünf Musiker von Kraftklub zählen, gehören Prekarität, Abwanderung, Rechtsextremismus zu den inhärenten Folgen des politischen Umbruchs von 1989/1990. Der Song rückt jedoch nicht diesen selbst, sondern die Ambivalenz der Deutungen in den Mittelpunkt, historisiert sie und bietet Orientierung und Identifikationsmöglichkeiten über ein Drittes. Dies kann die Heimatstadt sein – jedoch nicht als verklärter Ort einer vergangenen Idylle oder als Krisenort, der zum Widerstand zu verpflichten scheint (wie Joe Rillas Berlin-Marzahn), sondern als prekäre Heimat – als Ort kontinuierlicher Auseinandersetzung, an dem es dennoch sich zu leben lohnt. 4.2 Die Platte als „lieu de souvenir“ – „Grauer Beton“ (2017) von Trettmann

„Grauer Beton“ erschien als einer der erfolgreichsten Songs von Trettmann und machte erneut im Rap, jedoch auf gänzlich andere Weise als Joe Rilla, ostdeutsche Plattenbauten und die Erfahrungswelt der 1990er Jahre zum Gegenstand. Als Storytelling-Song konzipiert, ist „Grauer Beton“ eine Zeitmaschine, aus der die Hörerin jedoch nicht aussteigt und in die Vergangenheit eintaucht, sondern vielmehr in der Maschine verbleibt und von dort auf die Vergangenheit blickt. Der Song nimmt sie mit in die Kindheit und Jugend des Musikers „irgendwann Mitte der neunz’scher Jahre“ in die Neubausiedlung, in der er aufgewachsen ist. Unterlegt mit reduzierten, tragenden Beats, die Stimme mit Autotune verzerrt, entsteht im Verlauf des Songs das dichte Bild von einem Ort und einer Zeit, in denen Hoffnungen und Träume eng mit Enttäuschung, Ängsten und Verlusten verbunden sind. Die soziale Lage ist prekär, die kulturellen und mentalen Auswirkungen beklemmend: Seelenfänger schleichen um den Block, und / machen Geschäfte mit der Hoffnung. / Fast hinter jeder Tür lauert ’n Abgrund.

Für das erzählende Ich erscheint Weggehen der einzige Ausweg:

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Grauer Beton, rauer Jargon / Freiheit gewonn’, wieder zeronn’ / auf und davon, nicht noch eine Saison.

Gegenüber der konkreten autobiographisch geprägten Erzählung auf der Text­ ebene wirkt das Musikvideo in scharfen Schwarz-Weiß-Kontrasten artifiziell. Gedreht wurde in dem Wohngebiet Fritz Heckert, der zweitgrößten Neubausiedlung in der DDR, in der Trettmann (1973 geboren) aufgewachsen ist. Zu Beginn des Videos sind in der Totalen (von oben aufgenommen) die Plattenbauten zu sehen. In ihrer Einheitlichkeit strahlen sie Ruhe und Sicherheit aus. Aus der Vogelperspektive erscheinen sie als der Ort, der in der DDR für viele mit Warmwasser und Fernheizung sowie sozialem Miteinander verbunden war, als der Ort, der in den 1970er und 1980er Jahren als moderne Errungenschaft im Kampf gegen Wohnungsnot galt.34 Ergänzt werden diese Aufnahmen durch Bilder von Innenräumen, in denen Trettmann rappt. Der eine befindet sich in einem Abrisshaus, der andere ist ein gemütliches Wohnzimmer – beides, so suggeriert es die Montage, Teil des urbanen Raums der Platte. Doch ob Totale, Außenansicht oder Innenraum, ob Sicherheit oder Verfall, die visuelle Inszenierung des urbanen Raums kommt ohne andere Menschen aus. Es ist ein verlassener Ort. Die einzigen Gäste (quasi Zeitreisende) sind Trettmann und ein Hund. Auf diese Weise wirkt der Raum entrückt, historisiert. Der urbane Raum der Platte wird bei Trettmann zu einem „lieu de souvenir“,35 in dem die Erinnerungen jedoch nicht aufgehen, sondern wie in einem Echoraum verfangen. Die Künstlichkeit der Bilder wie die der Figur Trettmann provozieren Entfremdungs- und Distanzeffekte mindestens ebenso wie Identifikationsmöglichkeiten mit den erinnerten, erzählten Geschichten. Die Künstlichkeit der Räume im Video wird noch verstärkt durch die Kontrastierung mit Farbfotos, die aus dem Fotoalbum des Künstlers stammen. Zu sehen sind Jungs, junge Männer, die auf den Schnappschüssen scheu und fordernd zugleich in die Kamera schauen. Es ist der Blick von jungen Menschen, die im Jetzt leben, Zukunft ungewiss. Durch die Kombination der Bilder mit Musik und Text wird der Zusammenhang von Vergangenheit und Gegenwart sichtbar, hörbar und fühlbar. Orientierungslosigkeit, Zukunftsängste und die Verlusterfahrungen der 1990er haben sich in der Gegenwart manifestiert – als Leere. Zur prekären Heimat wird der Ort hier, weil er auch erinnerungskulturell fragil ist und infolgedessen als 34 Vgl. Mau 2019. 35 Den Begriff schlägt Aleida Assmann vor, um Erinnerungsorte, die private und subjektive Erinnerungen mobilisieren, von Pierre Noras Begriff des kollektiven Gedächtnisortes („lieux de mémoire“) zu unterscheiden (vgl. Assmann 2006, S. 121).

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menschen- und beziehungsleerer Erinnerungsort inszeniert wird. Mit seinem Song versucht Trettmann diese Leere zu füllen, sich quasi in sie einzuschreiben. 4.3 „Das Karma fickt zurück“, aber … – „9010“ (2019) von Kummer

In „9010“ – die frühere Postleitzahl von Karl-Marx-Stadt – rückt Felix Brummer (aka Kummer), Sänger der Band Kraftklub, auf seiner ersten Soloplatte Gewalt als Alltagserfahrung in der Wendezeit in den Mittelpunkt. Durch das Wir gleich zu Beginn des Songs wird Gewalt durch Neonazis als eine kollektive Erfahrung im Osten erzählt, die keine Ausnahme, sondern einen bis in die Gegenwart reichenden Zustand beschreibt. Der Ort dieser Erfahrungen ist „da wo wir leben“, Heimat also ein Raum kontinuierlicher Unsicherheit in Bezug auf physische Unversehrtheit.36 Unterlegt durch Trap-Beats beschreibt der Song allerdings nicht nur die Erfahrungen mit Gewalt, sondern integriert die Geschichte der Täter von damals als ebenfalls gebrochene Biographien. Die Wiederbegegnung mit dem früheren Feind wird auf der visuellen Ebene kontextualisiert. Im Video zu sehen sind historische Aufnahmen aus der DDR, Kindheit und Jugend in der „heilen Welt der Diktatur“ (Stefan Wolle). Pioniernachmittage, Ferienlager, Sportfeste, 1.-Mai-Demonstrationen verweisen auf mentale, kulturelle und soziale Primärprägungen derer, die sich in den 1990er Jahren auf der Straße gegenüberstanden. Es folgt dokumentarisches Filmmaterial aus der Wende- und Nachwendezeit – Trabi-Konvois und D-Mark-Euphorie. Ergänzt werden diese Aufnahmen durch private Fotos aus den 1990er Jahren, die Alltagsgewalt zeigen: Blutflecken auf der Straße, Alkoholkonsum, Jagen und Gejagtwerden. Über die historische Einordnung werden mit dem Musikvideo Erklärungsansätze angeboten, ohne Zwangsläufigkeiten zu behaupten. Der Song zielt auf ein Verstehen, ohne Konflikte zu relativieren, auf ein Benennen, ohne aufzurechnen. „Das Karma fickt zurück“, heißt es im Song. Aber darin findet sich für das erzählende Ich keine Genugtuung: Ich würd’ gern mit dem Finger auf dich zeigen / Schaut ihn euch an, dieses dumme Stück Scheiße / Aber nein, jetzt nach all der Zeit / Nach all den Jahren tust du mir auf einmal leid / […] Aber nein, kein Gefühl von Triumph / Nicht mal eine Klitzekleinigkeit an Rache für mich. 36 Vgl. hierzu die Überlegungen von Johannes Schütz in seinem Vortrag „Wenn Heimat Angst macht“, im Rahmen der Tagung „Ambivalente Transformationen. ‚1989‘ zwischen Erfolgserzählung und Krisenerzählung“ an der TU Dresden (10.–12.11.2019).

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Mit dem Refrain ruft Kummer ein Konzept von Empathie und Verstehen (nicht Verständnis) auf, das bedingt ist durch den Herkunftsort als prekärer Heimat, der niemanden unbeschadet entlassen hat. 5. Zusammenfassung

Betrachtet man Populäre Musik als Seismographen gesellschaftlicher Aushandlungen, so lässt sich anhand der Beispiele ein Spektrum von Identitätsverhandlungen über den Osten aufzeigen, die auch auf unterschiedliche Rezeptionsmilieus und die konflikthafte Spannung pluraler Heimat(en) jenseits von Pop verweisen. Am Beispiel der Songs können drei Deutungsmuster unterschieden werden: Integrationserzählung, Abgrenzungserzählung, Differenzerzählung. In „Wir sind wir“ von Paul van Dyk und Peter Heppner wird das Aus-dem-Osten-Sein in eine gesamtdeutsche Identitätskonstruktion integriert. Der Song ist als Versuch zu verstehen, der ostdeutschen Erzählung entgegen der dominierenden Narration von Erfolgsund Wundergeschichte der Wende eine eigene Legitimität zuzuweisen. Die Integrationserzählung zielt hier auf ein Aufgehen in einem gesamtdeutschen Wir, das die Eigenlogiken von DDR- und Wendeerfahrung gleichberechtigt einbindet. Im Gegensatz dazu ist der Rap-Song „Der Osten rollt“ von Joe Rilla als Beispiel für eine, sich vom gesamtdeutschen Wir separierende, kollektive Identitätskonstruktion zu verstehen. Dabei hebt das Konstrukt ostdeutsch stark auf die Abgrenzung von einem konstitutiven Außen ab, werden Dichotomien zwischen Opfer und Täter sowie zwischen ‚wir hier unten‘ und ‚die dort oben‘ betont. Die Fremdzuschreibung als abgehängter Osten wird aufgenommen, eigensinnig umgedeutet und als „Widerstandserzählung“37 aufgewertet. Ostdeutschland erscheint dabei als das ‚bessere Deutschland‘, authentischer, homogener, auch männlicher. In ihrer je spezifischen Ausrichtung können beide Songs als Beispiele für die identitätsbezogenen Großerzählungen in Bezug auf den Osten verstanden werden: das nationale Wir sowie das ostdeutsche Wir. Von diesen Großerzählungen sind die Beispiele im dritten Teil zu unterscheiden. Diese Songs, entstanden nach 2010, sind eher eine Suche nach Verortung des Aus-dem-Osten-Seins als klare Antworten auf identitätsbedingte Ver(un)sicherungen. In den Songs von Kraftklub, Trettmann und Kummer spielen die reflexive Auseinandersetzung mit Ambivalenzen und Gebrochenheit sowie eine explizite lokale Verortung im städtischen Raum eine wesentliche Rolle. Die Songs können als Versuche einer eigensinnigen Aneignung des Ostens als prekärer Heimat ver37 Hartmann/Leistner 2019.

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standen werden, weil sie in ihren Deutungen hochambivalent ist (Kraftklub), als Erinnerungsraum fragil erscheint (Trettmann) oder als Lebensraum eine Gefahr darstellt (Kummer). Dieser Aneignungsprozess qua Kunst kann mit dem zusammengedacht werden, was Beate Mitzscherlich als Beheimatung beschrieben hat. Bei Beheimatung geht es um das Prozesshafte, um die Auseinandersetzung mit dem Ort, aus dem man nun einmal kommt.38 Der Prozess ist offen, er kann auch scheitern und umfasst Befremden, Entfremden, Weggehen und Flüchten ebenso wie das eigensinnige (Wieder-)Aneignen, das Wiederkommen, das Trotzdem-Bleiben (müssen) und das Wieder-Weggehen. Die Songs können als Ankerpunkte (für die Künstler wie für die Fans) verstanden werden, als Angebote im Befremden über ostdeutsche Identitätsdebatten. Sie können auch als Ausgangspunkte verstanden werden, um sich die prekäre Heimat wieder anzueignen, auch jenseits von Musik. Ein Beispiel dafür ist das 2018 von Kraftklub initiierte und mitorganisierte Konzert „Wir sind mehr“, das als Antwort auf die rechtsextremen Ausschreitungen in Chemnitz stattfand und zu dem 65.000 Menschen kamen. Das Konzert verweist ebenso auf die Kontinuität des Prekären (im Modus rechtsextremer Gewalt) wie auf den Versuch, sich darin zu behaupten. Die drei unterschiedlichen Deutungsmuster zeigen für das Feld der Populären Musik plurale Identitätsvorstellungen und -aushandlungen auf, die über die scheinbare Eindeutigkeit im Reden über die Ostdeutschen hinausweisen. Es ist lohnenswert, dieser Pluralität in ihrer historischen Dimension wie gegenwärtigen Dynamik in anderen gesellschaftlichen, sozialen und kulturellen Feldern nachzugehen und sie analytisch zu reflektieren. Dabei zu Musik mit dem Fuß zu wippen, kann sicher nicht schaden. 6. Literatur Appen, Ralf von und Thorsten Hindrichs (2020): Editorial. In: dies. (Hrsg.): One Nation under a Groove. „Nation“ als Kategorie populärer Musik. Bielefeld: transcript. Assmann, Aleida (2006): Der lange Schatten der Vergangenheit. Erinnerungskultur und Geschichtspolitik. München: C.H. Beck. Assmann, Aleida und Heidrun Friese (1998): Einleitung. In: dies. (Hrsg.): Identitäten. Erinnerung, Geschichte, Identität. Frankfurt am Main: Suhrkamp, S. 11–23. Bakunin, Georg (2017): Haudegen vs. Frei.Wild – Der Unterschied zwischen Proletariat und Deutschtümelei. In: Vice Magazin 21.03.2017. Online verfügbar unter https://

38 Mitzscherlich 2019, S. 188.

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Kummer: 9010 (2019), Kiox (Kummer & Eklat Tonträger). Paul van Dyk/Peter Heppner: Wir sind wir (2004), Re-Reflections in the Mix (Urban). Trettmann: Grauer Beton (2017), #DIY (SoulForce Records).

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V. Let’s talk about ’89 – Geschichte vermitteln Nicht bloße Aufklärung, sondern partizipatorische Aktivierung muß das gemeinsame Ziel sein. (Hans Mommsen, „Die Last der Vergangenheit“, 1979)

Beide Zeitzeugen werden nochmal willkommen geheißen und die pädagogische Mitarbeiterin übergibt das Gespräch an die Jugendlichen mit der Anmerkung: „Jetzt könnt ihr Eure Fragen stellen.“ (Beobachtungsprotokoll, 2019)

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Historisch-politische Bildung zu 1989 Spannungen in einem voraussetzungsvollen Feld Christina Schwarz

Das Erbe von 1989 ist umstritten. Verschiedenste Erinnerungen, kontroverse Erzählungen und divergierende Bezugnahmen sind Teil eines geschichtskulturellen Diskurses, der in den vergangenen Jahren an Dynamik gewonnen hat. Diese Deutungskonkurrenzen sind nicht spezifisch für das Erinnern an 1989. Die „Pluralisierung der Deutungsangebote und Auseinandersetzungen um historische Orientierung sind Markenzeichen einer postmodernen Geschichtskultur, die […] eingeschliffene historische Deutungsmuster in Frage stellt“, wie die Historikerin und Geschichtsdidaktikerin Saskia Handro schreibt.1 Positiv gedeutet könnte man im Zusammenhang mit 1989 also sogar von einer sehr dynamischen Geschichtskultur sprechen, in der die verschiedenen „Orientierungen der menschlichen Lebenspraxis“ zum Ausdruck kommen und verschiedene Artikulationen ihren Platz haben.2 In Erinnerungspolitiken spiegelt sich diese Vielfalt anders als in Geschichtsbildern, die familiär oder milieuspezifisch geprägt sind, in Zeitzeugenberichten anders als in populären Darstellungen, wie zum Beispiel in Filmen oder Comics, die sich mit 1989 beschäftigen. Die verschiedenen Deutungen sind Hinweise darauf, wie unterschiedlich die Erfahrungen sind, mit denen sich Menschen gegenwärtig auf die Vergangenheit beziehen und vor welchen sich wandelnden Erwartungshorizonten sie dies tun.3 Die Dynamik und Kontingenz der Geschehnisse in den letzten Jahren der DDR4 und ihre Einbettung in langfristige Entwicklungen und globale Kontexte hinterlassen darüber hinaus ohnehin Fragen, die mit einer stringenten, monokausalen Meistererzählung schwer einzufangen sind.5

1 2 3 4 5

Handro 2011, S. 86. Rüsen 1997a, S. 38. Vgl. Koselleck 2010. Ein guter Überblick über das Jahr 1989, seine komplexen Entwicklungen, die Wucht und das Tempo der damaligen Zeit und ihre Folgen: Kowalzcuk 2009 und 2019a. Vgl. Kowalczuk 2019b.

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Die Politisierung der Erinnerung beschreibt vor diesem Hintergrund die zunehmende Vehemenz der Kontroversen um 1989, in denen „konkurrierende Vorstellungen von Demokratie und Kollektivität sichtbar werden, sich konturieren, sich gegeneinander positionieren“.6 Einstige geschichtspolitische Konsensfiktionen gerieten in den letzten Jahren stark ins Wanken. Populärkulturelle Darstellungen waren bereits in den 1990er Jahren von einer rückblickend überraschenden Vielstimmigkeit geprägt, auch wenn die dort verhandelten Themen in einem breiteren öffentlichen Diskurs selten sichtbar waren.7 Die historisch-politische Jugendbildung ist Teil dieser dynamischen Geschichts­ kultur,8 die in Bezug auf 1989 derzeit von starken Kontoversen und teils populistischen Zuspitzungen gekennzeichnet ist. Sie prägt die Erinnerung an 1989 selbst auf spezifische Weise – besonders die Bildungsträger der Aufarbeitungslandschaft haben sehr konkrete geschichtspolitische Ausrichtungen und Missionen. Sie tragen die Erinnerung an die DDR als Diktatur (das Diktaturparadigma) in die öffentlichen Auseinandersetzungen und erinnern an die Repressionen, die von SED-Herrschaft und MfS ausgingen. In den letzten Jahren deutet sich allerdings auch eine Dynamisierung der außerschulischen Vermittlungsarbeit9 zum Thema DDR an, die vor allem mit einem Generationenwechsel in vielen Aufarbeitungseinrichtungen einhergeht. Aufgrund ihrer Vielzahl sind diese Lernorte in der „Geschichtskultur sehr präsent und bilden einen wichtigen Eckpfeiler für das historische Lernen über die Geschichte der DDR“.10 Darüber hinaus gibt es zahlreiche Einrichtungen, die nicht der Aufarbeitungslandschaft angehören, aber dennoch 6 7 8

Vgl. Leistner „Bis hierher und wie weiter?“ in diesem Band. Vgl. Hartmann et al. 2021. Geschichtskultur wird hier in einem sehr weitreichenden Verständnis gefasst, als einen alle „Artikulationen von Geschichtsbewusstsein in der Gesellschaft“ umfassenden Sinnbildungsvorgang (Rüsen 2008, S. 235). 9 Anders als im schulischen Kontext, in dem starre Curricula die Bildungsziele vorgeben, basiert die außerschulische Bildung auf den grundlegenden Prinzipien der Freiwilligkeit der Teilnehmenden-, Lebenswelt- und Handlungsorientierung, auf partizipativen Elementen und oft auch auf Ergebnisoffenheit und Langfristigkeit (vgl. Hafeneger 2011). Damit ermöglicht sie einen flexibleren Umgang mit den Sichtweisen der Jugendlichen, sie gibt ihren Interessen, ihren Fragen und deren Aushandlungen potenziell mehr Raum, als das in der Schule der Fall ist. Bisher gibt es, anders als bei der schulischen Geschichtsvermittlung, speziell zum Thema DDR-Geschichte nur wenige Studien zur außerschulischen Bildung. Hier existieren lediglich Überblicksdarstellungen zu den inhaltlichen Schwerpunktsetzungen von Anbietern historischpolitischer Bildung (vgl. Behrens et al. 2006). Diese erlauben aber kaum Einblicke, wie 1989 in den pädagogischen Interaktionen thematisiert, ausgehandelt und angeeignet wird. Das Forschungsprojekt „Soziologie der außerschulischen Geschichtsvermittlung“ will diese Leerstelle schließen. 10 Brauer/Zündorf 2019, S. 374.

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die DDR bzw. 1989 im thematischen Repertoire ihrer Bildungsveranstaltungen haben.11 Die Bildungsträger mit ihren Angeboten sind vor diesem Hintergrund Foren für geschichtskulturelle Aushandlungsprozesse und besonders in Jugendbildungsveranstaltungen konfrontiert mit kontroversen bzw. zu ihren Narrativen konträren Erinnerungen. Anliegen des vorliegenden Beitrages ist es nicht, die Rolle der Aufarbeitungsinstitutionen in den Debatten um 1989 zu rekonstruieren. Vielmehr soll gefragt werden, wie das Handlungsfeld der historisch-politischen Jugendbildung zu 1989 in die heterogenen Bezugnahmen, Dynamiken und Deutungsmuster eingebettet ist und wie sich diese auf die Bildungsarbeit auswirken.12 Hierzu beschäftigt sich der Text zunächst mit aktuellen narrativen Bezugnahmen auf 1989. Narrationen werden im Text als Konstruktionen beschrieben, die spezifische Funktionen beim Erinnern und für gegenwärtige Orientierungen besitzen. In den aktuellen Kontroversen existieren Deutungskonkurrenzen, die im vorliegenden Beitrag anhand derzeit bestimmender Narrationen aufgezeigt werden, um so die gegenwärtige Heterogenität zum Thema zu illustrieren und die Geschichte von 1989 als etwas Gemachtes verstehbar zu machen. Der Text zeigt, dass Jugendliche über die Schule, ihre Familien oder verschiedene Medien selbst in diese geschichtskulturellen Debatten eingebunden sind. Auf dieser Basis soll geklärt werden, ob und wie sich diese Vielstimmigkeit und der Konstruktionscharakter der Erinnerung auf die außerschulische Geschichtsvermittlung auswirken. Dazu werden zunächst die Auswertungsergebnisse einer Bestandsaufnahme vorgestellt, die 2019 zu typischen Vermittlungsformaten und -inhalten der außerschulischen Bildung zu 1989 erstellt wurde und die unter anderem Hinweise darauf gibt, wie sich die historisch-politische Bildungspraxis dem Thema 1989 aktuell nähert. Der Text fragt im Anschluss daran nach den Möglichkeiten der außerschulischen Bildung im Umgang mit kontroversen Narrationen und zeigt etwaige Zukunftsperspektiven auf. Deutlich wird, dass das Handlungs-

11 Zur Bedeutung außerschulischer Lernorte für die Geschichts- und Politikdidaktik vgl. Karpa et al. 2015. Für einen Überblick über außerschulische Bildungsprozesse, ihre gesetzlichen Grundlagen, institutionelle Verankerung und die verschiedenen Bereiche der außerschulischen Jugendbildung etc. vgl. Lüders/Behr-Heintze 2005. Dort wird bspw. deutlich, dass außerschulische Bildung, die hier im Kontext der Jugendarbeit besprochen wird, „einen eigenständigen Bildungsauftrag hat, der sich deutlich von dem der Schule unterscheidet und der durch spezifische Formen und Methoden geprägt ist“. Eine besondere Stärke der außerschulischen Bildung liege darin, jenen Themenfeldern einen Raum zu geben, „die üblicherweise in der Schule nicht vorkommen bzw. von ihr konsequent vernachlässigt werden, also vor allem im musischen, politischen, technischen, handwerklichen und sportlichen Bereich“ (S. 448). 12 Teile des Aufsatzes erschienen 2021 als Essay im Deutschland-Archiv der Bundeszentrale für politische Bildung (Schwarz 2021).

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feld vor Herausforderungen steht, zu deren Bewältigung es selbst große Potenziale birgt.13 1. Narrative als Sinnträger

Die Geschehnisse vor 30 Jahren in ihrer Komplexität vollumfänglich zu fassen, scheint auf den ersten Blick beinahe unmöglich. Dennoch wird 1989 häufig sehr konkret erinnert. Vor allem in den sogenannten Neuen Bundesländern haben viele Zeitgenoss*innen persönliche Erinnerungen an diese Zeit und verbinden mit ihr starke Emotionen. So unterschiedlich die damaligen Perspektiven auf die Ereignisse in der DDR waren, so variantenreich sind die persönlichen Erinnerungspunkte und -sequenzen. Heute sind diese zum Teil von den Erfahrungen der Transformationsjahre seit den 1990er Jahren überschrieben. Hinzu kommt, dass das individuelle Erinnern in einer unvermeidbaren und wirkmächtigen Korrespondenz zu gesellschaftlichen Geschichtsrepräsentationen steht.14 Diese Aspekte tragen zur Vielstimmigkeit und Mehrdeutigkeit des Umbruchjahres 1989 bei. Egal, ob es sich um subjektive Erinnerungen oder kollektive Bezugnahmen handelt, sie artikulieren sich häufig in Narrationen, also Darstellungen erzählender Art. Dabei verknüpfen narrative Deutungsmuster Ereignisse und bilden auf diese Weise Ereignisketten mit chronologischer Ordnung. Sie können „generell als zeitlich strukturierte Repräsentationen von Ereignissequenzen“ definiert werden.15 Durch das Einbinden in eine zeitliche Ordnung schreiben Narrationen Ereignissen Bedeutung ein. Der konkrete Hintergrund, zum Beispiel die alltagsweltlichen Deutungen, institutionellen Bindungen und biographischen Umstände zum Zeitpunkt der Artikulation bzw. Reproduktion einer Narration beeinflussen dabei die Perspektive auf die jeweils repräsentierte Vergangenheitssequenz und damit den Sinn der Narration. Folgt man Jörn Rüsen, wird Bedeutung dabei nicht einfach konstruiert, sondern entsteht in einem „komplexen und dynamischen Zusammenhang von Bedeutungsvorgabe und Bedeutungszugabe“.16 Daneben werden Aspekte, die die Kohärenz einer Erzählung stören, weggelassen.17 Durch diesen 13 Der Text entstand im Kontext des Forschungsprojekts „Soziologie der außerschulischen Geschichtsvermittlung“, das Teil des Projektverbundes „Das umstrittene Erbe von 1989“ ist. In dem Projekt selbst wird untersucht, welche Inhalte und Bezugnahmen in außerschulischen Jugendbildungsveranstaltungen zum Thema 1989 verhandelt werden. 14 Vgl. dazu u.a. Kansteiner 2004. 15 Saupe/Wiedemann 2015, S. 3. 16 Rüsen 2013, S. 195. 17 Ebd., S. 195f.

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selektiven Zugriff auf die Vergangenheit strukturieren und reduzieren Narrationen Komplexität. Und sie schaffen Kohärenz, indem sie Vergangenheitspartikel in einen sinnvollen Zusammenhang stellen und somit den Plot der Erzählung hervorbringen. Werden Narrationen als hervorgebrachte Deutungszusammenhänge gefasst, erfüllen sie eine „Orientierungsleistung für die menschliche Lebenspraxis“ . Sie ordnen also Vergangenes nicht nur ein, sondern helfen auch, gegenwärtige Umstände und Erwartungen zu interpretieren18 – in retrospektiven Darstellungen wird „Vergangenheit vergegenwärtigt“.19 Das in Narrationen Dargestellte hat dabei aktuelle Relevanz. Wäre es irrelevant, wäre die Narration insgesamt redundant – es bräuchte die Erzählung über die konkreten Ereignisse in der Vergangenheit nicht. Viele Aspekte, die eine Zeit lang als irrelevant interpretiert wurden, geraten leicht in Gefahr, ganz vergessen zu werden, da ihr Überleben in geschichtlichen Repräsentationen vom steten Reproduzieren und Reaktualisieren abhängt. Gegenwärtige Erfahrungsräume und Erwartungshorizonte, wie sie Reinhart Koselleck20 beschreibt, werden vor diesem Hintergrund zu Referenzpunkten bei der Artikulation von Narrativen. Die Gegenwart bildet dabei den Angelpunkt zwischen Erfahrung und Erinnerung. Nicht zu vernachlässigen ist in diesem Zusammenhang die Tatsache, dass Narrative nicht starr sind und dass ihre Bedeutung für gesellschaftliche Gruppen und die Gesellschaft insgesamt variieren kann.21 Je nachdem, wie sich Standpunkte, Perspektiven und Zustände in der Gegenwart ändern, ändert sich auch der rekursive Blick auf die Vergangenheit.22 In dem hier dargestellten Kontext dienen Narrative auch der Bewältigung von Kontingenz. Zum einen ordnen sie vergangene Kontingenzerfahrungen ein und helfen, Brüche deutend in einen sinnvollen Zusammenhang zu stellen.23 Besonders beim Thema 1989 ist dieser Aspekt höchst relevant, denn 1989 ist voll von Brüchen, Umwälzungen und Wandlungen, die in einer rasanten Dynamik und in komplexen Zusammenhängen erfolgten, die sehr unterschiedlich gedeutet wer18 Ebd. 19 Rüsen 1997b, S. 57. 20 Koselleck 2010. 21 Vgl. Saupe/Wiedemann 2015, S. 6. 22 In der Gegenwart beeinflusst der kognitive Abgleich von Erfahrungen und Erwartungen Entscheidungsfindungen und situatives Handeln. Vor dem Hintergrund unterstellter Kausalzusammenhänge werden so zudem kohärente Welt- und Geschichtsbilder möglich, die genauso divergent ausfallen können wie die Zukunftsprognosen, die aus ihnen folgen. Vgl. dazu Villinger 2019 und Micus/Przybilla-Voß 2019. 23 Rüsen 2013, S. 30, 194.

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den. Zum anderen formen Narrative Erwartungshorizonte und lassen die Zukunft in einem bestimmten Licht erscheinen, wodurch sie kalkulierbarer wird. Bei der Analyse von Narrativen werden unter Umständen also nicht nur Vergangenheitsdeutungen sichtbar, sondern auch gegenwärtige Fragestellungen, die an die Vergangenheit gerichtet werden. Die Funktion, die Narrationen und ihre impliziten Moralvorstellungen erfüllen, lassen zudem auf Orientierungen und Zukunftsperspektiven schließen. 2. 1989-Narrative

Während bei der Auseinandersetzung mit Geschichte meistens Themen eine Rolle spielen, die kaum oder gar nicht erfahrungsbasiertes Wissen einbeziehen, ist das im Zusammenhang mit 1989 anders. Oftmals bedienen Bezugnahmen auf 1989 beides: eigens Erlebtes und historiographisch Eingeordnetes.24 Vor dem Hintergrund ihrer Bedeutung in der Gegenwart haben Narrationen über 1989 immer ein Moment der Integration in aktuelle Haltungen und Weltsichten. Nicht selten dienen sie daher der Legitimation jetziger Standpunkte oder enthalten zumindest Erklärungsmuster für gegenwärtige Lebenslagen und Einstellungen. 1989 wird vor diesem Hintergrund nach wir vor als Kristallisationspunkt geschichtspolitischer Deutungen herangezogen. In engem Zusammenhang damit steht in geschichtsdidaktischer Perspektive immer die Frage, was gegenwärtig aus der Geschichte von 1989 zu lernen sei. Martin Sabrow stellt für das Umbruchgeschehen 1989 zwei dominante „Erzählmuster“ mit den für sie typischen Narrativen heraus: Mit der Gegenüberstellung von Revolutions- und Wendegedächtnis beschreibt er die Dichotomie zwischen einem geschichtspolitisch dominanten Erfolgsnarrativ, das besonders von politischen Bildungsträgern reproduziert wird, und den divergierenden, kommunikativ tradierten Erinnerungen der Mehrheit der ostdeutschen Bevölkerung.25 Während die narrative Erinnerung an eine Revolution den „aufopferungsvollen Kampf der Regimegegner“ fokussiert, sind die Wendeerzählungen sehr viel offener angelegt und erinnern das Ende der DDR beispielsweise als unverhofft und unvermutet.26 Laut Sabrow beschreibt das Revolutionsnarrativ 1989 als einen „glücklichen Endpunkt“ und „die DDR als einen im Herbst 1989 – bzw. zwischen den Kommunalwahlen im Mai 1989 und den Volkskammerwahlen im März 1990 – mutig 24 Vgl. Lücke/Sturm 2008. 25 Vgl. Sabrow 2019a. 26 Micus/Przybilla-Voß 2019, S. 10.

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überwundenen Unrechtsstaat“.27 Die diesem Narrativ entgegenstehenden Wendeerzählungen sind weniger leicht zu fassen, da sie sich individuell und durch „lebensgeschichtliche Selbstbehauptung“ vom Revolutionsgedächtnis abgrenzen.28 Der Begriff „Wendegedächtnis“ kann somit als begriffliche Klammer für unterschiedliche Narrative verstanden werden. Diese Narrative öffnen konkrete Perspektiven auf 1989, lassen aber auch Leerstellen. 1989 kann als Endpunkt, Anfang, Bruch oder als von Kontinuitäten geprägter Übergang begriffen werden, je nach räumlichem und zeitlichem Bezugsrahmen.29 Neben den beiden dominanten „Erzählmustern“ benennt Sabrow die „Anschlusserinnerung“ an 1989, die mittlerweile jedoch an Relevanz verloren habe und besonders „von den entmachteten Eliten des SED-Staats gepflegt wurde und den Umbruch als eine historische Niederlage begriff“.30 Besonders irritierend war im 30. Jubiläumsjahr von 1989 zudem die Vereinnahmung der Ereignisse von damals durch die AfD. Für die rechte Partei scheint 1989 elementarer Bestandteil einer identitätsstiftenden „‚Volks‘-Erinnerung“ zu sein, mit der sie Erinnerungspolitik betreibt.31 Dabei vereinnahmt sie einige gängige und erinnerungskulturell dominante narrative Versatzstücke über 1989 und ordnet diese in ihrem Sinne neu an. Als rechtspopulistische Partei, die vorgibt, für eine Mehrheit der deutschen Bevölkerung zu sprechen, fällt es ihr leicht, einen gesellschaftlichen Wandel für sich zu instrumentalisieren, der vermeintlich vom Großteil der DDR-Bevölkerung gegen die Staatseliten erkämpft wurde und der die deutsche Einheit vor dem Hintergrund einer eindimensionalen nationalen Geschichtsschreibung als zwingend notwendiges Resultat erscheinen lässt.32 Dabei verschiebt die Partei ein von ihr unterstelltes Telos der „volksdeutschen“ Einheit von 1989 in die Gegenwart und spricht im Jahr 2019 von einer „Wende 2.0“, die jetzt erkämpft werden müsse. Die AfD konstruiert auf diese Weise ein identitätsstiftendes Momentum, in dem sie das Charismatische der damaligen Ereignisse reaktualisiert und ritualisiert. Offensichtlich hat sie damit Erfolg. Eng verknüpft mit dieser ‚Volks‘-Erinnerung ist das Widerstandsnarrativ von 1989, das Greta Hartmann und Alexander Leistner identifiziert haben.33 Es erzählt 1989 als einen vom Volk erkämpften Umsturz der politischen Verhältnisse in der DDR und „bedient eine historisch tradierte Distanz und innere Abwehr 27 Sabrow 2010, S. 17. 28 Sabrow 2007, S. 20. 29 Vgl. Sabrow 2019b. 30 Ebd. 31 Vgl. Jessen 2019. 32 Vgl. Jessen 2019 und Handro 2011. 33 Hartmann/Leistner 2019, vertiefender Leistner/Lux 2021.

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gegenüber sogenannten herrschenden Eliten“.34 In ihr drückt sich ein in der DDR entstandenes Misstrauen von Bürger*innen gegenüber Regierenden aus. In den letzten Jahrzehnten zeigte sich dieses Narrativ beispielsweise immer wieder in verschiedenen Adaptionen von Montagsdemonstrationen wie bei Protesten gegen Hartz IV oder bei PEGIDA-Aufmärschen, aber auch im Wahlkampf der AfD im Jahr 2019. Die Attraktivität dieser Erzählung erklären Hartmann und Leistner mit der erinnerungskulturell einseitigen Bezugnahme auf 1989. Geschichtspolitisch sei das Umbruchsjahr im wiedervereinigten Deutschland in eine Erzählung eingebunden worden, die die Befreiung, Entmachtung und die Straßenproteste ins Zentrum gestellt habe und nach wie vor stelle. Andere Aspekte des damaligen Demokratisierungsprozesses, wie die Runden Tische, seien demgegenüber vernachlässigt worden. Diese eindimensionale Erinnerung hat die Massenproteste als „Politik der Straße“ charismatisch aufgeladen, wodurch sie immer wieder zur Nachahmung anregen. Konkurrierende Demokratievorstellungen, die im Osten vor allem auf Erfahrungen aus der DDR beruhen, verstärkten diese Resonanz. Deutlich wird, dass es die eine Geschichte als solche nicht gibt. 1989 wird in der Gesellschaft sehr verschieden erinnert. Die unterschiedlichen Narrationen zeigen, dass Bezugnahmen auf damals davon abhängig sind, von welcher Position in der Gegenwart erinnert wird, welche Fragen an die Vergangenheit gestellt, vor welchen Erwartungshorizonten sie formuliert werden und welche konkreten Erfahrungen dabei eine Rolle spielen. „Geschichte wird gemacht“, so könnte man die vorangegangenen Kapitel zusammenfassen. Die Geschichte in ihren narrativen Ausprägungen als Konstruktion zu verstehen, ist folgenreich für das Vermittlungsverständnis von Geschichte, wie zu zeigen sein wird. 3. Perspektiven und Gegenwartsbezüge von Jugendlichen in der außerschulischen Bildung zu 1989

Diese Dynamik und Pluralität, besonders die Dichotomie von Wende- und Revolutionsgedächtnis, stellen die Praxis der historisch-politischen Jugendbildung vor große Herausforderungen, denn in den Bildungsveranstaltungen vor Ort sind heterogene Deutungen und Narrative präsent, die Widersprüche hervorrufen können. Jugendliche bewegen sich in verschiedenen Diskursfeldern. Sie sind geprägt durch den Geschichtsunterricht, Erzählungen in ihren Familien und populäre Bilder und Darstellungen von 1989. Für junge Menschen vermischt 34 Hartmann/Leistner 2019, S. 24.

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sich das synchrone Nebeneinander verschiedener Erzählungen leicht zu einem unentwirrbaren „Durcheinander“. Das Sinnstiftende eines Narrativs kann dem Sinn eines anderen widersprechen. Wenn Jugendliche in Bildungsveranstaltungen mit Narrativen konfrontiert werden, die ihre eigenen Bilder und tradierten Erinnerungsfragmente kaum berühren oder die einander scheinbar widersprechen, wird dies besonders deutlich. Vor allem, wenn Fragen und Diskrepanzen nicht beantwortet bzw. aufgelöst werden, kann der Bildungsprozess schnell ins Leere laufen oder sogar mehr Verwirrung als Orientierung stiften.35 Häufig wird jedoch ein Auseinanderklaffen der zu vermittelnden Inhalte und der Vorstellungen der Jugendlichen konstatiert:36 Die Urteilsbildung über die Transformationsphase basiert […] nicht nur beziehungsweise nur zu einem geringen Teil auf kritisch-reflektiertem Wissen, sondern überwiegend auf eigenen lebensweltlichen Erfahrungen, die vielfach auch im Familiengedächtnis bewahrt und tradiert werden.

Die Lebenswelt prägt den Blick und das Vorwissen der Teilnehmenden historischpolitischer Bildungsveranstaltungen auf den Ort, die Geschichte, das zu verhandelnde Thema. Bildungsprozesse sollten an die lebensweltlich vorhandenen Geschichtsbilder der Jugendlichen anschließen, um auf diese Weise ihren Vorstellungen von Geschichte, Gegenwart und Zukunft einen Raum zu geben. Wie viel Anpassungsbedarf es in der Bildungslandschaft zum Thema 1989 nach wie vor braucht, dafür ist die Dynamik der letzten 30 Jahre maßgebend. Deutlich wird sie, führt man sich beispielsweise vor Augen, wie sich die Familienerzählungen über das Umbruchsjahr innerhalb einer Generation verändert haben. Die Eltern der Jugendlichen von heute waren 1989 nicht selten selbst noch Jugendliche oder Kinder. Ihre Erinnerungen an 1989 und die folgenden Jahre sind andere als die der heutigen Großelterngeneration. Das wirkt sich auf das Bild aus, das Jugendliche heute von dieser Zeit haben, und auf das Wissen, mit dem sie an Bildungsveranstaltungen zum Thema 1989 teilnehmen. Zudem sind die Zielgruppen der Jugendbildungsveranstaltungen inzwischen heterogener – eine Diversifizierung der Besucher*innen bedeutet eine Diversifizierung der Fragen, die an geschichtliche Themen gestellt werden. Durch partizi35 Im Forschungsprojekt „Die Soziologie der außerschulischen Geschichtsvermittlung“ werden derzeit die Aushandlungen und Interaktionen in außerschulischen Vermittlungsformaten zum Thema 1989 untersucht. Die Auswertung des Erhebungsmaterials ist zum Zeitpunkt der Veröffentlichung dieses Artikels noch nicht abgeschlossen, weshalb vorerst eine beschreibende Annäherung an das Feld erfolgt. 36 Kuller/Ganzenmüller 2019.

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pative Arbeitsweisen können sich außerschulische Bildungsträger den Anregungen von Jugendlichen öffnen. Doch nicht nur Geschichtsbilder und ’89-Narrative spielen in den Vermittlungsprozessen eine Rolle, auch die Art der alltagsweltlichen Wissensaneignung und -rezeption hat sich gewandelt. So sind soziale Medien ein wesentlicher Informationspool der gegenwärtigen Geschichtskultur. Heute informieren sich die meisten Menschen über das Internet. Angesichts unzähliger Informationsschnipsel und Textfragmente, die Jugendliche über Messengerdienste erhalten oder auf Webseiten und Informationsplattformen lesen, spielt die Fähigkeit zur quellenkritischen Reflexion und Medienkompetenz eine entscheidende Rolle. Auch hier bieten sich Verknüpfungen zwischen der Lebenswelt der Jugendlichen und historisch-politischen Bildungsprozessen an. Die Quellenkritik gehört in der Auseinandersetzung mit Liedtexten, Briefen, Zeitungsartikeln, Aufrufen oder Zeitzeugenaussagen zum Kerngeschäft der außerschulischen Geschichtsvermittlung zum Thema 1989. Jugendliche lernen so, die Authentizität einer Aussage zu prüfen, deren Inhalt mit anderen Perspektiven abzugleichen, Absichten und Wertungen herauszuarbeiten und zu analysieren. Diese Art des quellenkritischen Denkens können Jugendliche auf andere Wissensbereiche und ihren Alltag übertragen. 4. Jugendbildungsangebote zum Thema 1989 und ihre Ausrichtung – Eine Bestandsaufnahme

Wie begegnen außerschulische Bildungsträger aktuell den verschiedenen Narrativen zum Thema 1989 sowie den gesellschaftlichen Dynamiken und Trends? Erste Antworten auf die Frage, wie sie sich dem Thema 1989 nähern, gibt die Auswertung der bereits erwähnten Bestandsaufnahme. Ausgehend von der These Martin Sabrows, dass politische Bildungsträger besonders häufig auf ein Revolutionsgedächtnis rekurrierten, wurden die Ankündigungstexte von 88 Veranstaltungen außerschulischer Bildungsarbeit (im Osten Deutschlands) zum Thema 1989 analysiert.37 Die Ankündigungstexte wurden zunächst daraufhin untersucht, ob ihre inhaltlichen Schwerpunktsetzungen das Revolutionsgedächtnis widerspiegeln. Sol37 Die Bestandsaufnahme umfasste neben anderen Institutionen die Bundeszentrale bzw. die ostdeutschen Landeszentralen für politische Bildung, (parteinahe) Stiftungen, Volkshochschulen, BStU-Außenstellen, die Aufarbeitungsbeauftragten der Länder und freie Träger, wie Grenzmuseen, Gedenkstätten, Vereine oder Jugendbildungsstätten. Die einzelnen Einrichtungen unterscheiden sich jeweils durch den Grad ihrer Institutionalisierung, durch thematische Schwerpunkte und Mitarbeiter*innen mit verschiedenen professionellen Hintergründen.

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len verschiedene Narrative und Perspektiven in Vermittlungsangeboten verhandelt werden, spielt es jedoch auch eine Rolle, welche Entfaltungsmöglichkeiten grundsätzlich für die Aushandlungen von Themen gegeben sind. Deshalb wurde bei der Analyse berücksichtigt, wie Inhalte räumlich und zeitlich kontextualisiert werden. Weitere Indikatoren waren die Formate der Bildungsveranstaltungen, die angewendeten Methoden, eingebundenen Akteure und die Nennung von Vermittlungszielen. Auf diese Weise wurden erste Indizien dafür gefunden, inwiefern die konkreten Vermittlungsangebote die Lebenswelt der Jugendlichen berücksichtigen. Zur Analyse der Veranstaltungsankündigungen wurden folgende konkrete Indikatoren herangezogen: a) Welche Ereignisse, zentralen Themen und Schlagworte werden in den Ankündigungstexten thematisiert? Die meisten Veranstaltungsankündigungen erinnern dezidiert an die Erfolge des Herbstes 1989. Häufig spielen dabei regionale Höhepunkte, wie Besetzungen der MfS-Bezirkszentralen oder große Demonstrationszüge eine Rolle. Schlagworte wie „Friedliche Revolution“, „Montagsdemonstrationen“ (oder beispielsweise „Donnerstagsdemonstrationen“ als regionale Besonderheit), „Proteste“, „Stasibesetzung“ oder „Friedensgebete“ deuten diese thematischen Schwerpunktsetzungen an. Diese Art der Erinnerung gibt erste Hinweise darauf, dass ein Revolutionsgedächtnis im Sinne Sabrows die Grundlage der Veranstaltung ist. Oft schlagen sich in den entsprechenden Veranstaltungsankündigungen auch Ereignisse von nationaler Tragweite nieder, wie der Mauerfall oder die Deutsche Einheit als herausragende Themenpunkte. b) Spielen Ereignisketten eine Rolle und wo enden diese? Welchen Zeitraum umfasst die Veranstaltung thematisch? Eine vorläufige Annahme bei diesem Analyseschritt lautet: Je knapper der thematisierte Zeitraum gefasst war, desto wahrscheinlicher ist ein Narrativ, das die erfolgreichen Höhepunkte von 1989 in den Fokus nimmt und Entwicklungen darüber hinaus vernachlässigt. Die Darstellung von Kontinuitäten und langfristigen Prozessen, aber auch die Thematisierung von Transformationsbrüchen nach 1989 waren in den Ankündigungstexten der Bestandsaufnahme unterrepräsentiert. Auch aktuelle Bezüge wurden in der Auswertung berücksichtigt. Oft fragen die Bildungsträger bereits in der Veranstaltungsankündigung danach, was die Ereignisse von damals mit dem Leben der Teilnehmenden heute zu tun hätten. Die Art und Weise, wie diese aktuellen Bezüge angesprochen werden, kann Hinweise auf

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eine Art der Teilnehmendenorientierung geben, die sich mit den Perspektiven von Jugendlichen konstruktiv auseinandersetzt. c) Welche Formate haben die Bildungsveranstaltungen? Auch Veranstaltungsformate geben Anhaltspunkte darauf, wie sich Bildungsträger in ihren Angeboten an den Interessen und Fragen der Teilnehmenden orientieren. Das ist beispielsweise dann eher der Fall, wenn in Projektwochen genügend Zeit für die Entfaltung jugendlicher Perspektiven anberaumt ist oder wenn Gruppen selbstgewählten Fragestellungen nachgehen können, was bei einigen OralHistory-Projekten der Fall war. d) Gibt es konkrete Vermittlungsziele? Konkret benannte Vermittlungsziele gaben in der Analyse Anhaltspunkte dafür, inwiefern ein Narrativ eingeübt werden soll oder ob ein ergebnisoffener Prozess angestrebt wird, bei dem die Auseinandersetzung mit individuellen Erfahrungen und Narrativen im Vordergrund steht. Selten wurden in den Veranstaltungsankündigungen neben der bloßen Auseinandersetzung mit bestimmten thematischen Schwerpunkten inhaltliche Ziele genannt. Wo dies der Fall war, wurden die Zielstellungen in der Analyse berücksichtigt. e) Welche Akteure werden in die Bildungsveranstaltungen eingebunden und wie? Der (biographische) Hintergrund der in die Veranstaltung eingebundenen Zeitzeug*innen, ihre Rolle im Zusammenhang mit den Ereignissen im Herbst 1989, ihre aktuelle gesellschaftliche Position und ihre Beziehung zu den Teilnehmenden (Nachbar*innen, Familienmitgliedern) wurde bei der Auswertung der Bestandsaufnahme berücksichtigt. Darüber hinaus spielte die Art und Weise, wie die Zeitzeug*innen in die Veranstaltungen eingebunden werden, bei der Analyse eine Rolle. In kurz angelegten Veranstaltungen bleibt Jugendlichen häufig nicht genug Zeit, eigene Fragestellungen zu entwickeln und einen Dialog selbst zu inszenieren. Wird den Teilnehmenden die Möglichkeit gegeben, Zeitzeug*innen selbst zu suchen, kann man davon ausgehen, dass ihre Perspektive stärker in den Bildungsprozess eingebunden ist. f ) Adressat*innen der Ankündigungstexte Ein verschwindend geringer Anteil der Ankündigungen adressiert die Jugendlichen direkt als Jugendliche. Häufiger sind es Schulen (Lehrer*innen / Lehrkräfte), die adressiert werden oder Jugendliche als Schüler*innen. Oft haben die Ankündigungstexte keine konkreten Adressat*innen, sondern wenden sich an Altersgruppen oder Klassenstufen. Das ist ein interessanter Nebenbefund der Auswertung, der da-

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rauf verweist, wie stark außerschulische Bildungsangebote mit schulischer Bildung verquickt sind, und könnte ein Indiz dafür sein, wie selten Jugendliche als Subjekte mit eigenen Geschichtsbildern und Fragestellungen wahrgenommen werden. Erstaunlich häufig lässt sich bei den untersuchten Ankündigungstexten ein geschlossenes Revolutionsnarrativ nachzeichnen, das die Erfolge der sogenannten Friedlichen Revolution in den Vordergrund stellt. Es liegt die Vermutung nahe, dass diese Veranstaltungen auf einem geschlossenen, wenig flexiblen, teleologischen Narrativ basieren, das es zu verinnerlichen gilt. Nur etwa 30 Prozent der Veranstaltungsvorhaben orientieren sich im Unterschied dazu explizit an den Sichtweisen, Interessen und Fragen der Teilnehmenden, sind ergebnisoffen angelegt, diskutieren den Herbst 1989 kontrovers, kontrastieren und kontextualisieren die einschlägigen Schlagworte und markanten Ereignisse und/oder binden die Erfahrungswelten von Nachbarschaften bzw. Familien in die Vermittlungsarbeit ein. Solche Veranstaltungen schaffen gute Voraussetzungen, um familiär tradierte oder andere Narrative zu den Umbrüchen im Herbst 1989 einzubeziehen und zu verhandeln.38 Darüber hinaus gibt es eine Reihe von Themen, die an die gegenwärtige Lebenswelt der Jugendlichen und an ihre Erfahrungsräume anknüpfen könnten, in den Ankündigungstexten aber verschwindend selten oder gar nicht auftauchen. Dazu gehören beispielsweise migrantische Erfahrungen in Ost und West, internationale Perspektiven, Umweltthemen oder die Entwicklung der extremen Rechten vor und nach der Wiedervereinigung. Warum die außerschulischen Bildungsangebote zum Thema 1989 in diesen Punkten hinter ihren Möglichkeiten zurückbleiben, kann an dieser Stelle nicht abschließend geklärt werden. Es könnte zum einen daran liegen, dass viele Schulen Bildungseinrichtungen als Dienstleister verstehen.39 Sie formulieren konkrete Erwartungen an außerschulische Bildungsangebote, um auf diese Weise Unterrichtsinhalte outsourcen zu können. Das hat nicht selten zur Folge, dass inhaltliche Schwerpunkte, Methoden, Zielstellungen, Zeitfenster und Kommunikationsformen aus der Schulpraxis übernommen werden, die curricularen Schwerpunktset38 Eine Analyse der Veranstaltungsankündigungen kann die Frage, ob und inwiefern ein „Revolutionsgedächtnis“ in der historisch-politischen Bildung zu 1989 dominiert, nicht abschließend beantworten. Die Veranstaltungsankündigungen geben bspw. noch keine Auskunft darüber, wie thematische Schwerpunkte durch eingeladene Zeitzeug*innen gesetzt werden oder über die Art der Teilnehmendenorientierung, die u.a. durch dialogische Gesprächsformate in der Vermittlungsarbeit verstärkt werden kann. 39 Zum Verhältnis von Bildungsprozessen von Jugendlichen in und außerhalb der Schule vgl. Plessow 2014.

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zungen in Lehrplänen unterworfen sind. Darunter leiden die Prinzipien außerschulischer Bildung, die aufgrund dessen häufig einige ihrer Freiheiten einbüßt. Es mag aber auch an strukturellen Problemen liegen, wie beispielsweise an mangelnden Ressourcen an Personal, Zeit, Raum und fehlenden Planungssicherheiten der Bildungseinrichtungen. Dies könnte wiederum eine Ursache darin haben, dass die Möglichkeiten der außerschulischen historisch-politischen Bildung noch zu wenig wahrgenommen werden und sie deshalb häufig finanziell nicht ausreichend ausgestattet ist. 5. Implikationen des Revolutionsnarrativs für die außerschulische Geschichtsvermittlung

Die gegenwärtige Dynamisierung von Diskursen und die Pluralisierung von Wissensbeständen und -zugängen – beispielsweise über das Internet – sind keine geeigneten Indizien dafür, ein Ende des Nebeneinanders verschiedener Geschichtsbezüge zum Jahr 1989 vorauszusagen. Diesem Umstand mit einer Verdichtung dieser Bezugnahmen hin zu einem dominanten und allumfassenden Narrativ über 1989 zu begegnen, dessen affirmative Aneignung zum Lernziel erhoben wird, kann jedoch keine Lösung sein. Ein geschlossenes Revolutionsnarrativ wäre eine solche Meistererzählung, die sich für die historisch-politische Auseinandersetzung mit dem Thema 1989 nur bedingt eignet. Der Vermittlung dieses Revolutionsnarratives liegt die Annahme zugrunde, ein bestimmtes chronologisches Basiswissen könne dazu dienen, dass sich die Teilnehmenden in der und an der Vergangenheit orientieren könnten – so als würde man „junge Menschen heute mit historischen Kenntnissen und Interpretationen wie mit einem Lunchpaket ausstatten, das für die zukünftigen Jahrzehnte ihres Lebens reichen könnte“.40 Zum Verständnis von Deutungskonkurrenzen und -ambiguitäten, der Wandelbarkeit von Narrativen, politischer Vereinnahmung von 1989 und zum Umgang mit diesen Dynamiken kann ein solches Vermittlungsverständnis hingegen sehr wenig beitragen. Nimmt man als Analysewerkzeug des Revolutionsnarrativs die Typologie des historischen Erzählens nach Jörn Rüsen zur Hilfe, würde man wohl am ehesten traditionales und exemplarisches historisches Erzählen konstatieren müssen.41 Dementsprechend schreibt Elena Demke, es handle sich bei gängigen Bildungsprozessen der außerschulischen Auseinandersetzung mit dem Thema DDR häufig „um die Vermittlung von Wer40 Hamann 2017, S. 80. 41 Rüsen 1997b.

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ten und Orientierungen durch Prozesse, die in ihrem Kern auf Vorbildwirkung und Abschreckung abheben“.42 Vor diesem Hintergrund wird 1989 überfrachtet, hat Vorbildfunktion und dient der Traditionsbildung – es wird deutlich definiert, was aus dieser Geschichte konkret zu lernen sei.43 Eine moralisierende Skandalisierung der DDR, die punktuell mit einer Gleichsetzung der NS-Diktatur einhergehen kann, wie in den letzten Jahren von einigen Bildungsträgern öffentlich diskutiert worden ist, ist eine Zuspitzung dieser simplifizierenden Darstellungsweise. Geschichtsvermittlung dieser Art untergräbt die Möglichkeit, verschiedene Geschichtsbezüge miteinander ins Verhältnis zu setzen.44 Ein solche Praxis bleibt zum einen hinter den Ansprüchen politischer Bildungsarbeit zurück, die laut dem Beutelsbacher Konsens auf den Verzicht von emotionaler Überwältigung, auf Kontroversität und Teilnehmendenorientierung setzt.45 Zum anderen birgt diese eindimensionale Herangehensweise an Bildungsarbeit aber auch die Gefahr, dass die Geschichte um 1989 dann zwar einheitsstiftende Identifikationspotenziale bieten würde, aber keine Ansatzpunkte zur kritischen Reflexion.46 Laut Saskia Handro wäre das fatal, „gerade weil sich mit dem Schlüsseljahr gegenwärtig und zukünftig unterschiedlich politisch imprägnierte und politisch instrumentalisierbare Deutungen verbinden lassen“.47 Die Wahlkampfstrategie der AfD im Jahr 2019 ist dafür ein Beispiel.48

42 Demke 2010, S. 99. 43 Ebd. 44 Zur Entpolitisierung von Geschichtsvermittlung durch die Annahme und Voraussetzung einer Konsensfiktion gesellschaftlich geteilter Werte in punkto Erinnerungskultur und die dadurch entstehende Verunmöglichung von kontroversen Aushandlungsprozessen in pädagogischen Settings siehe Verena Haug in diesem Band. 45 Vgl. Wehling 2016. Zur Aktualität des Beutelsbacher Konsenses vgl. Reinhardt 2020, zur Bedeutung des Beutelsbacher Konsenses für die nonformale Bildung vgl. u.a. Widmaier 2016. 46 Handro 2011, S. 105. 47 Ebd., S. 105. 48 In Brandenburg, Sachsen und Thüringen machte die Partei 2019 mit Sprüchen wie „Vollende die Wende“ oder „Wende 2.0“ Wahlkampf und setzte dafür beispielsweise in einem Comic die gegenwärtigen politischen Verhältnisse mit denen in der DDR gleich. Die Parteien außerhalb der AfD im Thüringer Landtag werden darin als austauschbare „Blockparteien“ dargestellt und eine weichgezeichnete Comicfigur Björn Höcke spricht darüber, „wie gleichgeschaltet Politik, Medien, Kultur und sogar die Kirchen inzwischen wirken“. AfD zu wählen, sei „eine friedliche Revolution mit dem Stimmzettel“, so die Conclusio des Comics. Online verfügbar unter https://cdn.afd.tools/wp-content/uploads/sites/178/2019/09/Wahlkampf-Comic_Flugblatt.pdf. Gesehen am 15.12.2020.

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Die bloße Aneignung von geschlossenen Geschichtsbildern und die Vermittlung stringenter Narrative, die Geschichte nicht als gemacht, sondern als unhinterfragbar vermittelt, hinterlassen inhaltlich und didaktisch zu große Lücken, die leicht instrumentalisiert werden. Die Heterogenität der Bezugnahmen auszublenden erscheint zudem paradox, führt man sich vor Augen, dass die kontroversen geschichtskulturellen Debatten weder an den teilnehmenden Jugendlichen noch an den Bildner*innen vorbeigehen. Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage, welche Möglichkeiten es für Bildungsträger gibt, auf Meistererzählungen wie das Revolutionsnarrativ zu verzichten und stattdessen mit unterschiedlichen Narrativen umzugehen. Ein Lösungsansatz liegt in der „dekonstruktivistischen Annäherung“ an Geschichtsdarstellungen in Bildungsprozessen, wie sie Oliver von Wrochem vorschlägt.49 Er plädiert für eine multiperspektivische Betrachtungsweise bei der Auseinandersetzung mit heterogenen geschichtlichen Ereignissen und Prozessen, die gegenwärtige Zuschreibungen und ihre Wirkungsweise in die Vermittlungsarbeit einbezieht. Ein reflexives Geschichtsbewusstsein und die Förderung von Ambiguitätstoleranz seien Ziele solcher Bildungsprozesse. Die Vermittlung von eindimensionalen Narrativen sieht er hingegen kritisch, da diese eine ausgewogenen Diskussionsmöglichkeit historischer Ambivalenzen zugunsten einer kohärenten Darstellungsweise von Geschichte aufgeben würde. Nicht das historische Ereignis an sich ist für ihn Gegenstand dekonstruktivistischer Auseinandersetzung im Bildungsprozess, sondern aktuelle Zuschreibungen und moralische Indienstnahmen geschichtlicher Ereignisse. In von Wrochems Verständnis ist die Gegenwart der omnipräsente Hintergrund, vor dem Geschichtsvermittlung stattfindet, Akteure in Bildungsprozessen miteinander agieren und Positionen entwickeln. Alle Teilnehmenden sind beeinflusst von politischen und gesellschaftlichen Bezugnahmen bzw. der gegenwärtigen Geschichtskultur. Diese Tatsache anzuerkennen und transparent zu machen, ist die Voraussetzung für dieses Verständnis von Geschichtsvermittlung.50 An die Perspektiven der Jugendlichen anzuschließen, heißt vor diesem Hintergrund auch, ihre Geschichtsbilder und Narrative für Bildungsprozesse fruchtbar zu machen. Da ihre Annahmen über 1989 geschichtskulturell unterrepräsentiert bzw. nicht vorhanden sind, gilt es, Räume für Aushandlungen zu öffnen, in denen jugendliche Perspektiven sichtbar werden können. Auf dieser Basis wird es dann möglich, ihren Standpunkt, aber auch andere Geschichtsvorstellungen zu reflektieren. Bildungsräume, die kontroverse und vielschichtige Geschichtsrepräsentationen verhandelbar machen, ermöglichen damit Prozesse, 49 Von Wrochem 2010, S. 60. 50 Ebd.

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die zur Ausbildung eines Geschichtsbewusstseins, wie Karl-Ernst Jeismann es versteht, produktiv beitragen.51 Laut Jeismann ist Geschichtsbewusstsein das Wissen um den „Zusammenhang von Vergangenheitsdeutung, Gegenwartsverständnis und Zukunftsperspektive“.52 Dieses Wissen diene der Selbstreflexion und der Einordnung gesellschaftlicher Bezugnahmen, die „an die Erkenntnismöglichkeiten, die Deutungswünsche, die lebensweltlichen Fragestellungen einer Gegenwart gebunden“ seien, in der die Jugendlichen lebten und die sie und ihre Zukunftserwartungen beeinflussten.53 Neben Werkzeugen zur Selbstreflexion berge das Geschichtsbewusstsein damit auch das Vermögen, gesellschaftliche Geschichtsdarstellungen analysieren und einordnen zu können. Es zeigt sich, so Jeismann, „am Bemühen um […] abwägende Urteilsbildung und Reflexion der Wertungen und Perspektiven“.54 Simplifizierende oder politisch vereinnahmte Geschichtsbilder und Narrative ließen sich somit hinsichtlich ihrer Strategien und in Bezug auf ihren Absolutheitsanspruch kritisieren.55 Diese Fähigkeit wird besonders dann relevant, wenn Parteien wie die AfD oder Akteure der extremen Rechten 1989 geschichtspolitisch für ihre Zwecke vereinnahmen. Die kritische Analyse historischer Bezugnahmen kann Jugendliche dazu befähigen, politische Handlungsdispositionen und -orientierungen in der Gegenwart und für die Zukunft zu finden, denn sie setzt Impulse für eine reflexive Auseinandersetzung auch mit aktuellen Problemlagen. Das blendet die subjektiven Sichtweisen und Narrative der Jugendlichen nicht aus, sondern setzt gerade auf das Verorten, Hinterfragen, Ausdifferenzieren und gegebenenfalls auch Reorganisieren der eigenen regional-, familien- oder milieuspezifischen Perspektiven. Hier geht es aber auch darum zu reflektieren, dass die Ereignisse und das Erbe von 1989 weiter umstritten und immer wieder geschichtspolitischen Vereinnahmungen ausgeliefert sind. 6. Aktuelle Herausforderungen

Die Professionalisierung der außerschulischen historisch-politischen Bildung zum Thema DDR befindet sich in einem dynamischen Prozess. Ein wachsendes Selbstbewusstsein und konkreteres Selbstverständnis für die Arbeit auf dem Gebiet der außerschulischen historisch-politischen Bildung wären für das Praxisfeld 51 Jeismann 1997, S. 43. 52 Ebd. 53 Ebd. 54 Ebd., S. 43. 55 Vgl. ebd., S. 42.

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eine große Chance. Das spielt zum einen in Bezug auf die Abgrenzung gegenüber der schulischen Bildung eine Rolle, zu der sie aufgrund ihrer Prinzipien ein wesentliches und unverzichtbares Komplement darstellt.56 Zum anderen wäre es gewinnbringend, das Verhältnis zwischen historisch-politischer Bildung und Aufarbeitung neu zu vermessen: Die hier skizzierte Art der Vermittlungsarbeit wird Aufarbeitungsinitiativen vor kaum lösbare Konflikte stellen, denn als solche haben sie einen konkreten erinnerungspolitischen Auftrag. Mit diesen normativ aufgeladenen Vermittlungszielen werden sie an die Grenzen stoßen, die ihnen die Prinzipien politischer Bildung setzen. Aufarbeitung und historisch-politische Bildung sind nicht deckungsgleich – Aufarbeitung heißt Erinnern, Mahnen und Gedenken. Historisch-politische Bildung heißt unter anderem Differenzieren, Rekonstruieren, Kontextualisieren und Orientierung schaffen. Oftmals wird beides jedoch synonym verwendet, was zur Folge hat, dass die Aufarbeitung mit Erwartungen konfrontiert wird, die sie nicht erfüllen kann. Die multiperspektivische und lebensweltorientierte Auseinandersetzung mit Geschichte verschafft Alteritätserfahrungen, die die eigene Perspektive erweitern und im besten Fall Toleranz, Empathie und eine eigenständige politische Haltung fördern. Multiperspektivität und Kontroversität sind jedoch nicht zu verwechseln mit Wertneutralität oder Geschichtsrelativierung. Derzeit sieht sich die historisch-politische Bildungslandschaft immer wieder Vorwürfen ausgesetzt, sie werde ihrer Verantwortung, Fakten neutral zu vermitteln, nicht gerecht. Besonders aus dem politisch extrem rechten Lager wird in diesem Zusammenhang häufig die Forderung nach einem Neutralitätsgebot laut. Für Aushandlungsprozesse in Bildungsveranstaltungen, die sich dem Grundgesetz und demokratischen Prinzipien verpflichtet fühlen, können jedoch nur diejenigen Deutungsangebote maßgebend sein, die wissenschaftlich fundiert sind und demokratische Einstellungen fördern.57 Werden menschenverachtende, ausgrenzende oder antipluralistische Positionen in Bildungsveranstaltungen von Jugendlichen thematisiert, stellt das die Bildner*innen jeweils vor enorme Herausforderungen. Das Handlungsfeld der außerschulischen Geschichtsvermittlung kann hier von den Erfahrungen anderer Bildungsfelder profitieren, etwa von der rassismuskritischen Bildungsarbeit. Die Stellungnahme der Landezentralen für politische Bildung 2020 hat zu diesem Thema eine Reihe von Vorschlägen gemacht.58 In den nächsten Jahren werde es darum gehen, rechte Narrative und Positionen zu erkennen, eine breite Teilhabe der 56 Vgl. dazu Plessow (2014). 57 Vgl. Reinhardt 2020; Drücker 2016. 58 Neue Rechte – Rassismus – Diskursverschiebungen – Gewalt. Was passiert in unserem Land und was bedeutet dies für die politische Bildung? Stellungnahme der Zentralen für politische Bildung. Online verfügbar unter https://www.politische-bil-dung.de/fileadmin/pdfs/

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verschiedenen Zielgruppen von Bildungsveranstaltungen zu ermöglichen, eigene „Strukturen, Handlungsroutinen, Einstellungen und Haltungen“ zu reflektieren, Angebote stetig weiterzuentwickeln und neue Perspektiven aufzugreifen, um auf diese Weise und durch Vernetzung und Solidarisierung untereinander, Versuchen der rechtsextremen Vereinnahmung etwas entgegenzusetzen. 7. Fazit

1989 ist mittlerweile Geschichte. Es liegt in der Vergangenheit, wurde und wird historisch eingeordnet und in mehr oder weniger ausgedehnte räumliche und zeitliche Bezugsrahmen gesetzt. Beschreibt man 1989 in einer entwicklungsgeschichtlichen Logik, dann stellt es sich als eine sehr prägnante Wegmarke dar. Erfahrungsgeschichtlich hat diese Wegmarke unterschiedlichste Relevanzen – für die einen hat sich alles geändert, für andere wenig. Geschichtspolitisch wird 1989 aktuell stark in ein Revolutionsnarrativ eingebunden, das den Mauerfall und die Wiedervereinigung als Erfolgs- und Einheitsgeschichte deutet. Die außerschulische historisch-politische Bildung folgt in ihren Bildungsveranstaltungen diesem Narrativ in großen Teilen – dafür liefert eine Bestandsaufnahme des Forschungsprojektes „Soziologie der außerschulischen Geschichtsvermittlung“ aus dem Jahr 2019 vorläufige, aber starke Indizien. 1989 gehört zum erinnerungskulturellen Repertoire der Gegenwart, wird aktuell vielfältig gedeutet, geschichtspolitisch reaktualisiert, aus unterschiedlichen Perspektiven erinnert und kontrovers diskutiert. Zur Logik des Revolutionsnarrativs gehört es, diese Heterogenität einzuebnen. Im Praxisfeld der historisch-politischen Bildung zum Thema 1989 muss nun untersucht werden, inwiefern ein Revolutionsnarrativ als „Basiserzählung“ herangezogen wird, um einen Konsens zu imaginieren, der eine kontroverse Aushandlung in den Bildungsveranstaltungen verschiedener Perspektiven blockiert und damit die historisch-politische Bildung zu 1989 entpolitisiert. Die Forschungsergebnisse, die Verena Haug in dem vorliegenden Band darstellt, sind dafür forschungslogisch beispielgebend. Offen bleibt in diesem Zusammenhang die dringliche Frage, inwiefern moralische Implikationen des Revolutionsnarrativs pädagogische Settings und Aneignungsmöglichkeiten in Bildungsprozessen vorstrukturieren. Zu ihrer Klärung wird das Forschungsprojekt „Soziologie der außerschulischen Geschichtsvermittlung“ seinen Beitrag leisten.

Rechtsextremismus_und_politische_Bildung_Stellungnahme_der_Zentralen.pdf. am 16.12.2020.

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Betrachtet man das Praxisfeld der historisch-politischen Bildung zum Thema 1989 vor dem Hintergrund aktueller politischer Entwicklungen, scheint es in Hinblick auf die Heterogenität der Bezugnahmen eine Diskrepanz zu geben. Betrachtet man das Feld von Seiten der Jugendlichen, wäre es jedoch fatal, diese als noch defizitäre Erwachsene zu betrachten, die mit einem bestimmten erinnerungspolitischen Repertoire ausgestattet werden müssen, um so zu verhindern, dass sie den Versuchungen undemokratischer Deutungsangebote anheimfallen. Multiperspektivische Aushandlungsprozesse stärken hingegen den Umgang mit Ambiguitäten, machen für geschichtliche Kontingenzen sensibel, verweisen auf (vorhandene oder nicht vorhandene) Handlungsspielräume von Zeitgenoss*innen und Zeitzeug*innen und befähigen, kontrovers verhandelte Themen als solche zu verstehen, sich in ihnen zurechtzufinden und eigene Haltungen zu entwickeln. Die augenscheinliche Verkomplizierung narrativer Bezugnahmen bedeutet für die Jugendlichen am Ende eine Vereinfachung und Erleichterung, auch wenn sie die Seite der Vermittelnden zunächst vor einige Herausforderungen stellt. Es wäre nicht nur in diesem Zusammenhang eine Chance, die Vergangenheit um 1989 verstärkt von ihren gegenwärtigen Repräsentationen aus zu betrachten. Das Praxisfeld der historisch-politischen Bildung zu 1989 ist quantitativ recht gut aufgestellt. Viele Bildungsmöglichkeiten sind vorhanden und können genutzt werden. Häufig werden Bildungsveranstaltungen von Aufarbeitungsinitiativen angeboten und gerahmt. Besonders hier, aber auch in anderen Zusammenhängen muss untersucht werden, inwiefern diese Positionen und Positionierungen metaperspektivisch reflektiert werden und welche Hilfestellungen Jugendliche bekommen, diese Positionen inhaltlich verorten zu können. Hier steht das Forschungsprojekt „Soziologie der außerschulischen Geschichtsvermittlung“ in der aktiven Auseinandersetzung mit Bildner*innen aus den Einrichtungen. 8. Literatur Barricelli, Michele und Martin Lücke (2011): Historisch-politischen Bildung. In: Benno Hafeneger (Hrsg.): Handbuch Außerschulische Jugendbildung. Grundlagen. Handlungsfelder. Akteure. Schwalbach/Ts.: Wochenschau Verlag, S. 325–343. Behrens, Heidi, Paul Ciupke und Norbert Reichling (2006): Die Auseinandersetzung mit der DDR-Geschichte in der politischen Erwachsenenbildung. Essen: Bildungswerk der Humanistischen Union. Brauer, Juliane und Irmgard Zündorf (2019): DDR-Geschichte vermitteln. Lehren und Lernen an Orten der DDR-Geschichte. In: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 70 (7–8), S. 373–389.

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Demke, Elena (2010): Zwischen Überfrachtung und Unterschätzung. DDR-Geschichte, widerständiges Verhalten und Bildungsarbeit. Forschungsjournal Neue Soziale Bewegungen 23 (2), S. 96–100. Drücker, Ansgar (2016): Der Beutelsbacher Konsens und die politische Bildung in der schwierigen Abgrenzung zum Rechtspopulismus. In: Benedikt Widmaier und Peter Zorn (Hrsg.): Brauchen wir den Beutelsbacher Konsens? Eine Debatte der politischen Bildung. Bonn: Bundeszentrale für politische Bildung, S. 123–130. Hafeneger, Benno (2011): Einleitung. In: ders. (Hrsg.): Handbuch Außerschulische Jugendbildung. Grundlagen. Handlungsfelder. Akteure. Schwalbach/Ts.: Wochenschau Verlag, S. 9–12. Hamann, Christoph (2017): Die „staubige Straße der Chronologie“. In: Hüttmann, Jens und Anna von Armin-Rosenthal (Hrsg.): Diktatur und Demokratie im Unterricht: Der Fall DDR. Berlin: Metropol, S. 75–87. Handro, Saskia (2011): Arbeit am kollektiven Gedächtnis. „1989“ in Schulbüchern. In: dies. und Thomas Schaarschmidt (Hrsg.): Aufarbeitung der Aufarbeitung. Die DDR im geschichtskulturellen Diskurs. Schwalbach/Ts.: Wochenschau Verlag, S. 84–107. Hartmann, Greta und Alexander Leistner (2019): Umkämpftes Erbe. Zur Aktualität von „1989“ als Widerstandserzählung, In: Aus Politik und Zeitgeschichte 69 (35–37), S. 18–24. Hartmann, Greta, Alexander Leistner, Anna Lux und Christina Schwarz (2021): Vom Sichtbarwerden des (Un-)Sichtbaren im Modus des Populären. Popularisierung, Populismus, Geschichtsvermittlung – und 1989. In: Marcus Böick, Constantin Goschler und Ralph Jessen (Hrsg.): Jahrbuch Deutsche Einheit 2021. Berlin: Ch. Links, S. 25–44. Jeismann, Karl-Ernst (1997): Geschichtsbewußtsein – Theorie. In: Klaus Bergmann et al. (Hrsg.): Handbuch der Geschichtsdidaktik. 5. überarbeitete Auflage. Seelze-Velber: Kallmeyer, S. 43. Jessen, Ralph (2019): Immer wieder montags. Warum wir über eine populistische „Volks“-Erinnerung reden müssen. In: INDES. Zeitschrift für Politik und Gesellschaf. 8 (1), S. 55–60. Kansteiner, Wulf (2004): Postmoderner Historismus – Das kollektive Gedächtnis als neues Paradigma in den Kulturwissenschaften. In: Friedrich Jäger und Jürgen Straub (Hrsg): Handbuch der Kulturwissenschaften. Paradigmen und Disziplinen. Stuttgart: Metzler, S. 120–139. Karpa, Dietrich, Bernd Overwien und Oliver Plessow (2015): Außerschulische Lernorte in der politischen und historischen Bildung. Immenhausen: Prolog Verlag. Koselleck, Reinhart (2010): „Erfahrungsraum“ und „Erwartungshorizont“ zwei historisch Kategorien. In: ders.: Vergangene Zukunft: Zur Semantik geschichtlicher Zeiten. Frankfurt am Main, S. 349–375. Kowalzcuk, Ilko-Sascha (2009): Endspiel. Die Revolution von 1989 in der DDR. München: C.H. Beck. Kowalzcuk, Ilko-Sascha (2019a): Die Übernahme. Wie Ostdeutschland Teil der Bundesrepublik wurde. München: C.H. Beck.

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Geschichte und Moral Paradoxien pädagogischer Geschichtsvermittlung Verena Haug im Gespräch mit Alexander Leistner

Alexander Leistner: In unserem Forschungsverbund „Das umstrittene Erbe von 1989“ gibt es ein Teilprojekt, das sich intensiv mit der außerschulischen historisch-politischen Bildung zur DDR beschäftigt und dort auch mit Fragen zum Verhältnis von Politik und Pädagogik. Dabei hat uns immer auch interessiert, wie sich dieses Verhältnis in der Geschichtsvermittlung zum Nationalsozialismus zeigt und was man aus diesen Erfahrungen für die DDR-Vermittlung lernen kann. Du hast selbst als Pädagogin in Gedenkstätten gearbeitet und zur NS-Geschichtsvermittlung geforscht. Wo siehst du Berührungspunkte zwischen den beiden Forschungsfeldern? Verena Haug (VH): Das DFG-Projekt „Der Umgang mit Paradoxien der politischen und moralischen Erziehung“ war als vergleichende Untersuchung schulischer und außerschulischer Vermittlung von Nationalsozialismus und Holocaust einerseits und Themen wie Migrationsgesellschaft/Rassismus, die im Ethikunterricht bearbeitet werden, andererseits angelegt. Als Teilprojekt habe ich darin gedenkstättenpädagogische Kommunikation beobachtet.59 Ich war vor allen Dingen in KZ-Gedenkstätten unterwegs und habe mir angeschaut, was und wie in Bildungsveranstaltungen, also in pädagogischen Interaktionen, vor Ort gesprochen wird: Was passiert da eigentlich vor dem Hintergrund der immer wieder formulierten Erwartung, gerade Gedenkstätten seien besonders geeignete Orte, um die Geschichte des Nationalsozialismus und der NS-Verbrechen zu vermitteln? Den Orten, die gerne als „authentisch“ bezeichnet werden, wird eine enorme Wirkung zugeschrieben – nicht nur als Läuterungshoffnung im öffentlichen Diskurs, sondern auch als Erlebniserwartung derer, die Gedenkstätten besuchen. Die Verbindung zum BMBF-Projekt „Das umstrittene Erbe von 1989 – Aneignungen zwischen Politisierung, Popularisierung und historisch-politischer Geschichtsvermittlung“ ist zunächst einmal eine ähnlich offene Ausgangsfrage und eine vergleichbare methodische Annäherung: Nach Auswertung der Bestandsauf59 Vgl. Haug 2015

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nahme von außerschulischen Veranstaltungen zum Thema ’89 wurde sich auch hier angeguckt, wie die historisch-politische Geschichtsvermittlung konkret stattfindet. Wie wird gesprochen, in welche Richtung wird ausgehandelt, verhandelt, wie viel Kontroversität, wie viel Überwältigung usw. ist da im Spiel? Es wird spannend sein zu sehen, welche moralischen Implikationen sich finden werden. Persönlich interessant fände ich zu erfahren, welche Lehren im Interaktionsgeschehen aus der DDR-Diktaturgeschichte gezogen werden und ob in den pädagogischen Veranstaltungen an den im politischen Diskurs virulenten Vergleich zwischen NSVerbrechen und DDR-Unrecht angeschlossen wird oder ob andere Kontexte hergestellt werden. Du hast von einer moralischen Aufladung von Pädagogik gesprochen, kannst du an einem Beispiel vertiefen, was damit gemeint ist? Mein Kollege im damaligen Projekt, der Kölner Erziehungswissenschaftler Matthias Proske, spricht insgesamt vom „moralpädagogischen Projekt ‚Aus der Geschichte lernen‘“ 1 und macht damit deutlich, dass der Versuch der Bewältigung der NS-Vergangenheit zumindest in der alten Bundesrepublik immer von pädagogischen Denkmustern, erzieherischen Verbesserungsideen bis hin zu bildungspolitischen Entscheidungen durchzogen war. Eines von vielen Beispielen ist der Beschluss der Kultusministerkonferenz 1960, als Reaktion auf die landesweiten antisemitischen Ausschreitungen seit Weihnachten 1959 das Thema NS-Geschichte in die Lehrpläne der Länder aufzunehmen. Diese Hoffnung, gegenwärtigen Antisemitismus und Rassismus mit historischer Bildung zu bearbeiten, hat sich bis heute gehalten. Immer wenn irgendwo deutlich wird, dass aus der Geschichte nicht gelernt worden ist, wird die Forderung nach Gedenkstättenbesuchen in den Ring geworfen. Der politische Reflex, auf Manifestationen von Antisemitismus mit Bildungsangeboten zu reagieren, zeigt, wie pädagogisiert der Diskurs über die NS-Geschichte ist. Dass der Nationalsozialismus im Ganzen deutlich zu verurteilen und abzulehnen ist, diesen erhofften moralischen Konsens zu erreichen oder vielleicht besser herzustellen, wird an die Pädagogik delegiert. Dass die Pädagogik das gar nicht leisten kann, wird dabei ignoriert. Natürlich können gute gedenkstättenpädagogische Programme eine kritische Auseinandersetzung mit der Geschichte befördern, sie können Selbstreflexion in Gang setzen und mit den Menschen über Werte ins Gespräch kommen. Sie können auch ein differenziertes Wissen vermitteln und vieles mehr. Aber sie können Menschen nicht zu guten Menschen erziehen. Gedenkstättenpädagogik ist vielleicht mehr 1

Proske 2010.

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noch als der Schulunterricht zum Nationalsozialismus darauf angewiesen, dass die Besucher*innen die Werte teilen, für die sie stehen, oder sie zumindest nicht angreifen. Ein Beispiel für das Gegenteil: Im letzten November erhielt die KZ-Gedenkstätte Moringen in Südniedersachsen Besuch von einigen Männern aus dem Umfeld der neonazistischen Kameradschaft Einbeck. Sie meldeten sich für eine Führung an, die schließlich vorzeitig beendet wurde, weil sich die Gruppe mehrfach geschichtsrelativierend äußerte. Zum Abschied nahmen sie ein Selbstporträt vor der Gedenkstätte auf, „thumbs up“ und die antisemitischen Aufdrucke der T-Shirts gut sichtbar. Das Foto erschien auf einer Facebook-Seite der Kameradschaft und ist in der Szene bestimmt gefeiert worden. Die Gedenkstätte reagierte in Form einer Stellungnahme, mit der sie sich deutlich gegen die Inszenierung der Männer positionierte. Im letzten Absatz heißt es: „Wir gehen davon aus, dass Besucher*innen der Gedenkstätte weder die hier geschehenen NS-Verbrechen in Frage stellen noch den Mord an den europäischen Juden und Sinti und Roma leugnen. Wir gehen davon aus, dass Besucher*innen von Gedenkstätten sich einig sind in der Überzeugung von der Gleichwertigkeit aller Menschen und der Gültigkeit der Menschenrechte.“2 Eine solche Stellungnahme finde ich politisch richtig, pädagogisch finde ich die Formulierung schwierig. Sie beschreibt aber letztlich, was wir in unseren empirischen Untersuchungen in Gedenkstätten auch vorgefunden haben – die Freigabe der Aneignung unter der Voraussetzung eines geteilten Urteilsrahmens. Dass pädagogische Arbeit diesen Konsens voraussetzt – oder diese Konsensfiktion, wie Niklas Luhmann es nennt –, ist das für dich eine Politisierung von Pädagogik? Oder würdest du das Verhältnis von Pädagogik und Politik noch grundsätzlicher bestimmen? Den Konsens vorauszusetzen, ist eher eine Moralisierung und Entpolitisierung der Pädagogik, würde ich sagen. Es geht nicht darum, wer welche Interessen an welcher Position hat, es geht auch nicht darum, Geschichtsdeutungen infrage zu stellen und zu diskutieren, sondern um die richtige moralische Haltung. Die Erwartung, dass der öffentliche Konsens geteilt wird, hat mit ’89 und den Folgen zu tun. Denn diese Konsensfiktion ist erst mit der deutsch-deutschen Vereinigung so deutlich geworden. Die politische Forderung „Nie wieder Faschismus!“, die man bis heute unter anderem in Gästebüchern der Gedenkstätten findet (meist nur 2

KZ-Gedenkstätte Moringen (19.11.2019): Stellungnahme. Online verfügbar unter http:// www.gedenkstaette-moringen.de/website/fileadmin/gedenktstaette/Newsletter/Stellungsnahme_19_11_2019.pdf. Gesehen am 07.01.2021.

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noch in ihrer kryptischen Form „Nie wieder!“), ist eine Forderung von Überlebenden gewesen, vor allen Dingen von politischen Gefangenen. Die Staatsgründungen der Bundesrepublik und DDR nahmen beide für sich in Anspruch, dieser Forderung gerecht zu werden. Zugleich war die alte Bundesrepublik immer wieder von heftigen geschichtspolitischen Debatten über den Umgang mit dem NS-Erbe geprägt, von Anerkennungskämpfen und Entschädigungsfragen, den Gerichtsprozessen, Schlussstrichforderungen und nicht zuletzt auch vom Kampf um ein würdiges Opfergedenken, also um die Gedenkstätten. Dieser Kampf, der jahrzehntelang vor allem von ehemaligen Opfern und ihren Verbänden geführt wurde, wurde dann seit den späten 1970er Jahren unterstützt und verstärkt durch Bürger*inneninitiativen und Geschichtswerkstätten. Das „Nie wieder!“ wurde in diesem Prozess einer Selbstbildungsinitiative von einer politischen Forderung allmählich zu einer pädagogischen Aufgabe. Die Gedenkstätten verstanden sich als politische Lernorte außerhalb der Schule – sie waren noch beides: politisch und pädagogisch. Sie repräsentierten auch in den 1980er Jahren keinesfalls einen öffentlichen moralischen Konsens, sondern waren höchstens das schlechte Gewissen der Nation, vor allem aber politische Akteur*innen und Institutionen in einem nach wie vor von der Systemkonfrontation geprägten Kontext. Das änderte sich ab 1989 natürlich. Der offizielle Stellenwert von Gedenkstätten veränderte sich in den 1990er Jahren erheblich. Diese Entwicklung war so erfolgreich, dass man heute den Eindruck haben kann, Gedenkstätten seien immer schon staatlich geförderte Institutionen mit umfangreichem öffentlichem Bildungsauftrag gewesen. Mit der Aufwertung der Gedenkstätten ging nämlich auch die Etablierung des Lernortbegriffs als Bezeichnung für die Einrichtungen einher, und für die wichtigsten Aufgaben von Gedenkstätten hat sich längst die Zwillingsformel „Gedenken und Lernen“ eingeschrieben. Seitens der Politik werden Gedenkstätten damit zur „kulturellen Grundausstattung“ gezählt, wie Volkhard Knigge es treffend nannte, und gleichzeitig entpolitisiert, weil das, was dort gelernt wird, nicht mehr auf politischer Ebene verhandelt wird, sondern als vermeintlich konsensualer Wissens- und Wertekanon vermittelt werden soll. Was du über die Geschichte der Entstehung der NS-Gedenkstätten quasi „von unten“ erzählst, ist spannend und unterscheidet sich vielleicht auch noch einmal vom Feld der DDR-Geschichtsvermittlung. Hier war ja lange Zeit typisch, dass die Institutionen von Zeitzeug*innen gegründet und/oder geführt wurden, die den Geschichtsklitterungen und verklärenden Mythenbildungen über die DDR die moralische Wucht ihrer Biographien von Repression und Verfolgung entgegensetzten. Und eine lange Zeit wirksame Konsensfiktion in diesem Feld war wohl, dass es ausreiche zu zeigen, wie schlimm die

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SED-Diktatur war und allein deshalb Adressat*innen im Umkehrschluss die Demokratie gut finden würden. Aber ich möchte noch einmal zurückkommen auf die von dir angesprochenen Paradoxien. Der Soziologe Fritz Schütze, der das Paradoxiekonzept theoretisch ausgearbeitet hat, geht ja davon aus, dass jegliche Pädagogik von Paradoxien geprägt sei, dass man damit aber „professionell“ umgehen könne, sie situativ und reflexiv auflösen. Das setzt bestimmte pädagogische Standards voraus und letztlich einen Professionalisierungsprozess von Geschichtsvermittlung. Vielleicht kannst du darauf noch einmal eingehen? Wo steht die NS-Vermittlung da? Mit den grundsätzlichen Paradoxien von Erziehung muss auch die Gedenkstättenpädagogik umgehen. Dazu gehört die Erwartung an Erziehung zu erziehen, ohne die erzieherische Absicht in ihrer Wirkung kontrollieren zu können: Man hat ein Ziel, kann aber nicht sicher sein, dass es dann bei Kindern oder Jugendlichen ankommt. Der Selbstanspruch, Wissen und Werte verbindlich zu verankern, ohne die Autonomie der Lernenden einzuschränken, ist eine weitere Paradoxie; und auch die Frage nach der Legitimation, bestimmte Werte in einer plural gefassten Gesellschaft verankern zu wollen. Dazu kommt die Formation, welche Erziehung grundsätzlich hat: Hier suggeriert das Generationenverhältnis in diesem Feld stets, dass die Erwachsenen wissen, was richtig ist, und die Kinder noch nicht. Das ist gerade in diesem moralisch hochaufgeladenen Feld erstens nicht richtig und zweitens problematisch, weil natürlich alle schon vorher wissen, worauf es hinauslaufen soll, und in dieser Idee von Vermittlung vor allem eben die Selbstkritik der Erwachsenen fehlt; gerade dann, wenn man gesichertes Wissen und eine gesicherte moralische Haltung weiterzugeben versucht. Auf der konzeptionellen Ebene sind viele gedenkstättenpädagogischen Programme sehr professionell und reflektieren diese paradoxen Anforderungen. Sie orientieren sich seit vielen Jahren an Prinzipien wie Teilnehmendenorientierung, Partizipation, biographischen und lokalgeschichtlichen Ansätzen; kritische Selbstreflexion spielt für die Gedenkstättenpädagogik eine wichtige Rolle. Der Beutelsbacher Konsens wird als Grundlage der Arbeit betrachtet, emotionale Überwältigung wird ebenso klar abgelehnt wie politische Indoktrination oder Aktualisierungen und Analogisierungen als didaktische Mittel. Der konkrete Ort wird in der Geschichtsvermittlung als zentral erachtet, er wird also nicht zur Illustration einer allgemeinen Geschichte der NS-Verbrechen herangezogen, sondern als Quelle im engeren Sinn. Matthias Heyl spricht in diesem Zusammenhang immer von „forensischer Bildung“, also der konsequenten Orientierung an den auffindbaren Spuren am Ort.

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Wie das Bildungsgeschehen, die Interaktion vor Ort, heutzutage aussieht, dazu kann ich nichts sagen. Unsere empirischen Daten sind in die Jahre gekommen. Ob pädagogisch Tätige in Gedenkstätten heute mehr Kontroversen in den Interaktionen meistern und moderieren müssen, weiß ich nicht. In unserem Projekt zeigte sich hinsichtlich des Umgangs mit den Paradoxien politisch-moralischer Erziehung, dass moralische Kommunikation im engeren Sinne durchgehend vermieden wurde. Es kam also in keiner Situation zu moralischen Beurteilungen der an den Interaktionen beteiligten Personen. Und was zeigte sich in der konkreten pädagogischen Situation? Vielleicht kannst du ein bisschen aus deinen Forschungen zu NS-Geschichtsvermittlung berichten? Auch (und vielleicht gerade) in Gedenkstätten wird natürlich davon Abstand genommen zu beschämen und zu beschimpfen. Hier zeigen sich verschiedene Strategien, Wissen und Moral gleichzeitig zu vermitteln. Da ist zunächst das, was wir stellvertretende Aneignung nennen. Sie findet sich überwiegend im Format Führung, das zum Standardangebot jeder Gedenkstätte zählt. Führungen sind zwar nicht in jedem Fall pädagogische Veranstaltungen, sie sind aber in vielen Fällen durch den Schulunterricht oder andere Kontexte pädagogisch gerahmt. Die stellvertretende Aneignung der Führungserzählung ist immanent, die fließt mit. Sie sorgt dafür, dass keine Tabubrüche passieren, weil das Reden eingeübt ist, häufig einem erprobten Skript folgt und so die soziale Interaktion relativ gut kontrollierbar bleibt. Kontroversen entstehen hier nicht, und die Deutungen der erzählten Ereignisse werden gleich mitgeliefert. Das Zweite ist die Moralität des Themas oder der Haltungsaspekt, der mit der Vermittlung von Geschichte mitläuft, welche mit dem Thema und vor allen Dingen dem Ort verschränkt wird. Das passiert kommunikativ. Zum Beispiel treffen sich die Gruppen immer vor dem Gedenkstätteneingang, immer gerahmt von dem oder der Gedenkstättenpädagog*in und den Lehrer*innen. Die Kommunikation funktioniert hier arbeitsteilig. Die Lehrer*innen sind für die Disziplinierung zuständig und die Pädagog*innen der Gedenkstätte vor allem für die Vermittlung des Wissens, des Ortes und für besondere Bedürfnisse des Ortes, die möglicherweise entstehen und die möglicherweise darin bestehen, dass sie in der Kommunikation zum Ausdruck gebracht werden. Die Moralität des Themas wird im folgenden Beispiel deutlich. Die Gruppe trifft sich vor dem Gedenkstätteneingang, die Führung soll losgehen, und manche Kinder haben noch ihre Kopfhörer in den Ohren. Die Pädagogin sagt: „Ja, wir treffen uns jetzt erstmal hier“, und dann greifen die Lehrer*innen relativ harsch ein und sagen: „Und jetzt macht die Musik aus, steckt eure Butterbrote ein“ etc. Wie

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das dann halt so ist, wenn sich so eine Gruppe sammelt. Dann fängt die Pädagogin an, und ich bin mir sicher, ihre Intention ist zu sagen: „Ich erklär euch, warum das hier so ist, also ich erklär euch, wie der Ort ist.“ Aber was sie tut, ist zu erklären, dass man hier auf blutgetränktem Boden steht, fast in diesen Worten sagt sie das, und es sich um ein Gelände handelt, wo viele, viele Menschen gestorben sind; dass es ein Friedhof ist usw. Damit wird dann auch deutlich, wie das Verhalten an diesem Ort auszusehen hat – was das auch an Möglichkeiten für die Kommunikation bedeutet, wird sehr eingeschränkt. Sie könnte genauso gut sagen: „Ich mache jetzt eine Führung und damit ihr mich gut hört, möchte ich, dass ihr eure Geräte ausschaltet“. In anderen pädagogischen Kontexten ist es ja auch so, dass man seine Handys ausmacht. An diesem Ort ist dies aber mit der Dignität, der Wirkung sowie der Geschichte gekoppelt und somit moralisch aufgeladen. Eine andere Art, den moralischen Gehalt von Thema und Ort zu verdeutlichen, ist die Experten-Laien-Kommunikation, die ich sternförmiges Sprechen genannt habe. Die Pädagog*innen kennen den Ort, sie wissen um eine Vielzahl von Geschichten, sie arbeiten seit so vielen Jahren dort, sie kennen das Archiv auswendig, sie kennen jede Stelle des Geländes usw. Sie können eigentlich jede Frage beantworten, dadurch haben sie einen wahnsinnig hohen Redeanteil, und die Gesprächsformation läuft so: Die Pädagogin steht im Zentrum, die Fragen kommen an sie, und sie gibt sie so zurück, und dadurch entsteht so ein Zickzack im Kreis, das vor allem auf die Vermittlung von Wissen und Deutung abzielt. Daraus kann sich außerdem eine Sprechform entwickeln, die ich als Zurichtung des Sprechens bezeichne. Es wird an keiner Stelle gesagt: „So reden wir hier nicht!“, aber es gibt so eine Atmosphäre von Gespräch, in der die Möglichkeiten des Ausdrucks immer weiter kommunikativ eingeschränkt werden; möglicherweise mit dem Ziel zu lernen, wie man sich am Ort und zu der Geschichte verhält und um die Tabus auch zu halten. Und das Letzte – das zeigt sich auch in der Stellungnahme von Moringen – ist, dass eben die Moral oder die Konformität mit öffentlicher Moral vorausgesetzt wird. Wenn man Erziehung als eine dreiteilige Operation aus Vermittlung, Aneignung und Bewertung versteht, dann ist es in Gedenkstätten häufig so, dass die Bewertungsoperation an den Anfang gestellt ist. Das heißt, dass das Selbstverständnis der Gedenkstättenpädagogik, nämlich ergebnisoffen zu sein und mehr Fragen mitzugeben als Antworten, auf einer geteilten öffentlichen Moral fußt. Man muss, um Offenheit gewährleisten zu können, sich eigentlich relativ sicher sein, dass geteilt wird, dass die NS-Verbrechen zu verurteilen sind. Die Frage ist, was ist eigentlich, wenn dieser Konsens öffentlich nicht mehr geteilt wird? Und was bedeutet der Versuch für die Bildungsarbeit, hinsichtlich der DDR-Geschichte, eine eindeutige Moral zu formulieren?

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Eine letzte Frage, die an Aktualität gewonnen hat: Wie geht man mit Provokationen im Zusammenhang mit den genannten Konsensfiktionen nun konkret um? David Begrich hat einmal in einem anderen Zusammenhang gesagt, die alte Bundesrepublik sei eine Konsensgesellschaft gewesen. Das glaube ich nicht. Was, glaube ich, eher stimmt, ist, dass in den letzten 20, 25 Jahren so etwas wie eine Konsensgesellschaft imaginiert wurde, eine Einheitserzählung quasi: Die von Cornelia Siebeck so genannte Basiserzählung von der geläuterten Gesellschaft, die nicht nur die NS-Vergangenheit aufgearbeitet, sondern gleich zwei Diktaturen überwunden habe und jetzt demokratisch sei; dazu die Renaissance der Extremismustheorie, die die Qualität der politischen Bedrohung weder unterscheiden will noch kann und nach der das Böse an den Rändern sei und in der Mitte nur Gutes, Demokratisches. Das ist ein Selbstverständnis, das die Gefahren für eine offene, vielfältige und demokratische Gesellschaft überhaupt nicht wahrnehmen kann. Dass Höcke in seiner Dresdner Rede Anfang 2017 nicht nur eine erinnerungspolitische Wende, sondern eine völkische Revolution gefordert hat, ist kaum rezipiert worden, auch darauf hat Cornelia Siebeck hingewiesen.3 Rezipiert wurde vor allem sein Angriff auf die Erinnerungskultur, die uns so lieb und teuer geworden ist. Wenn wir uns davon verabschieden, dass wir eine Gesellschaft sind, in der das Böse nur am Rand ist und dass Demokratie vor allem Konsens bedeutet, dann kann man, glaube ich, auch mit den Angriffen besser umgehen. Die Selbstbeschreibung als „gut“ erzeugt so viele blinde Flecken und macht einen total handlungsunfähig. Vielen Dank für das Gespräch!

Literatur Haug, Verena (2015): Am „authentischen“ Ort. Paradoxien der Gedenkstättenpädagogik. Berlin: Metropol Verlag. Proske, Matthias (2010): Das moralpädagogische Projekt „Aus der Geschichte lernen“ und der schulische Geschichtsunterricht über den Nationalsozialismus und den Holocaust. In: Ethik und Gesellschaft 2. Siebeck, Cornelia (2017): Dies- und jenseits des Erinnerungskonsenses. Kritik der postnationalsozialistischen Selbstvergewisserung. In: Aus Politik und Zeitgeschichte 67 (42– 43), S. 23–28.

3

Siebeck 2017.

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VI. Nachwort Hey! Said my name is called disturbance I’ll shout and scream, I’ll kill the king, I’ll rail at all his servants Well, what can a poor boy do Except to sing for a rock ’n’ roll band ’Cause in sleepy London town There’s just no place for a street fighting man (The Rolling Stones, „Street Fighting Man“, 1968)

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„Schon ’89 auf der Straße“ Von der Erfahrung demokratischer Selbstermächtigung zum Totem antiinstitutionellen Straßenprotests Monika Wohlrab-Sahr

Als ich im Jahr 1999 als Nachfolgerin von Detlef Pollack eine Professur für Religions- und Kirchensoziologie an der Theologischen Fakultät der Universität Leipzig antrat, einer Fakultät, die sich an der Universität dadurch hervorhob, dass ihre Professoren – damals mit einer Ausnahme männlich – ganz überwiegend Ostdeutsche waren,1 wurde ich in verschiedener Hinsicht in das Hintergrundwissen der in der DDR sozialisierten Kollegen, Sekretärinnen und Leipziger Studierenden sowie in die Regeln und Gepflogenheiten des neuen Kontexts eingeführt. Zu den Regeln, die mir – damals aus Berlin kommend – neu waren, gehörte zum Beispiel, dass man zu Beginn des „Professoriums“ – eines ‚ständischen‘ Zusammentreffens zur Vorbereitung des Fakultätsrats – die Runde machte und allen Anwesenden die Hand gab. Zum Hintergrundwissen gehörte, dass mich der Kollege Kurt Nowak gleich zu Beginn darüber aufklärte, dass in Leipzig nicht, wie im Westen Deutschlands, der 9. November, also der Tag des Mauerfalls, als das zentrale Ereignis von ’89 erinnert werde, sondern vielmehr der 9. Oktober, der Tag der großen Demonstration um den Leipziger Innenstadtring. Seine Frau war Ärztin und hatte an diesem Tag Dienst gehabt. Sie – so erzählte mir ihr Mann – hatte berichtet, dass am Tag der Demonstration in großem Umfang zusätzliche Blutkonserven in die Leipziger Kliniken geliefert worden seien. Man war auf gewalttätige Eskalationen 1

Es gab damals außer mir noch eine westdeutsche Kollegin und einen Kollegen, der aus Westdeutschland an die Fakultät kam, aber in Dresden geboren war. Alle anderen kamen aus dem Osten und hatten in der DDR-Zeit entweder an der Theologischen Fakultät oder am Theologischen Seminar – einer Einrichtung der evangelischen Kirche – gelehrt. Die eigentlichen Konflikte verliefen an dieser Front. Von der Tatsache, dass ich eine der wenigen Westdeutschen (und überdies auch eine von lediglich zwei Frauen an der Fakultät) war, habe ich letztlich profitiert. Die Kollegen waren, im Unterschied zu anderen Fakultäten, wie etwa der Sozialwissenschaftlichen, der ich später angehören sollte, in ihrem Ostdeutschsein nicht marginalisiert und waren bereit, mich in den neuen Kontext einzuführen. Und sie hatten – was mir besonders in Erinnerung geblieben ist – anders als viele westdeutsche Professoren dieser Generation allesamt „gestandene“ Ehefrauen mit eigenen Berufen.

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mit entsprechenden Opfern vorbereitet. Umso beeindruckender und erleichternder – so der Tenor seiner Erzählung – war der Umstand, dass die Demonstration friedlich verlaufen, es zur befürchteten Gewalt nicht gekommen war – die Ursprungserzählung der „friedlichen Revolution“. Ich selbst hatte die Ereignisse von 1989 weit weg vom Ort des Geschehens vor dem Fernseher im beschaulichen Regensburg verfolgt, und mir hatten sich in der Tat vor allem die Bilder des Mauerfalls eingeprägt. Aus Nowaks Ausführungen hatte ich etwas über Relevanzsetzungen in Ost und West gelernt und war eingestimmt auf das zentrale Motiv der Erinnerungskultur vor Ort. PEGIDA, LEGIDA und all die anderen Zusammenschlüsse lagen damals noch in weiter Zukunft; die Wahlerfolge von Republikanern und NPD in Sachsen freilich nicht. Der Rückblick auf die Ereignisse von 1989 in Leipzig und anderen Städten der ehemaligen DDR, auf die Erwartungen, die nach dem Zusammenbruch der DDR in verschiedenen Kontexten artikuliert und gegeneinander in Stellung gebracht wurden, auf die nachfolgenden gesellschaftlichen Entwicklungen, die diese Erwartungen in vieler Hinsicht konterkarierten, und schließlich auf die jüngere Geschichte der politisierten Erinnerung an das „charismatische Ereignis“2 von 1989 irritiert Konsensfiktionen verschiedener Art. Die Beiträge in dem vorliegenden Band zeigen dies in unterschiedlicher Weise, und Alexander Leistner stellt es in seiner Einleitung nachdrücklich heraus. Das, wovon man – trotz aller Unterschiede – glaubte ausgehen zu können, was als gemeinsamer Wissensvorrat und geteilte Interpretationsgrundlage vermeintlich vorausgesetzt werden konnte, ist durch die Entwicklungen der letzten Jahre tief irritiert worden. Zu diesen irritierten Erwartungen gehören soziologische Annahmen über den Verlauf nachholender Modernisierung und Demokratisierung, über Transformation und Angleichung, dazu gehören politische Erwartungen im Hinblick auf das „Zusammenwachsen“ von Ost und West in ökonomischer wie auch in politisch-kultureller Hinsicht, aber auch Annahmen darüber, wie das Ereignis von 1989 und seine Folgen zu deuten seien, was das angemessene Narrativ sein solle, mit dem sich die Geschichte von 1989 heute erzählen lasse. Einige dieser Erwartungen haben sich bei manchen Bevölkerungsgruppen ohne Zweifel erfüllt. Aber schon bald – lange vor PEGIDA und AfD – ließen die Wahlerfolge von Republikanern und NPD aufhorchen und – spätestens mit PEGIDA und AfD – wurden Phänomene unübersehbar, die verschiedene Forscher veranlasst haben, von einer „eigentümlich verfassten Teilgesellschaft“,3 von 2 3

Hartmann/Leistner 2019, S. 19. Vgl. Kollmorgen 2009.

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„Schon ’89 auf der Straße“

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der „überlagerten Gesellschaft“ im Osten Deutschlands4 oder von hartnäckigen „Ressentimentmilieus“5 zu sprechen. Frühe Vergleiche mit gespaltenen Gesellschaften wie den USA, wie sie bereits auf dem von Alexander Leistner ausgiebig gewürdigten Soziologentag in Leipzig im Mai 1990 von dem DDR-Soziologen Frank Ettrich6 angestellt worden waren, aber angesichts dominierender modernisierungstheoretischer Deutungsmuster wenig Aufmerksamkeit gefunden hatten, gewinnen so im Nachhinein an Plausibilität. So vielfältig wie das Geschehen von 1989, dessen Ursachen und Folgen selbst waren, so vielstimmig waren auch seine Deutungen von Anfang an. Diese Vielstimmigkeit zeigt sich auch heute noch, das verdeutlichen die Arbeiten von Anna Lux und Jonas Brückner in dem vorliegenden Band, in den diversen literarischen und populärkulturellen Referenzen darauf. Das Popkulturelle, als trivial Verschriene ist, das mag erstaunen, in mancher Hinsicht vielschichtiger als das, was sich im politischen Raum artikuliert. Weniger vielstimmig jedoch waren die Versuche, das Erinnern in institutionelle, erinnerungspädagogische Bahnen zu lenken: Die Rede von der friedlichen Revolution ist eine solche institutionalisierte Bahn des politisch-pädagogisierenden Erzählens, wie Christina Schwarz und Alexander Leistner in ihren Beiträgen zeigen. Sie knüpfte ohne Zweifel an die Perspektive derer an, die damals an den Protesten beteiligt waren oder sie doch mit innerer Beteiligung mitverfolgt hatten. Das Narrativ schloss aber gleichzeitig konkurrierende Erinnerungen, Erfahrungen und Deutungen aus, die in einigen der Beiträge des vorliegenden Bandes behandelt werden. Und doch war es ein starkes Narrativ. Mochte auch vieles an den Entwicklungen im Zuge der Wiedervereinigung und danach als problematisch erachtet worden sein, so dass sogar das böse Wort vom „Anschluss“ – Konnotationen an 1938 aufrufend – aufkam: Im Topos der friedlichen Revolution, der genuin mit den Erfahrungen der Demonstrationen und der Ikonologie des 9. Oktober 1989 verbunden ist, insbesondere mit den Demonstrierenden auf dem Leipziger Innenstadtring mit ihren Kerzen in den Händen, schien es einen eindeutig positiven Referenzpunkt zu geben. Das Geschehen war als Revolution zu deuten, die aber – im Unterschied zu anderen Revolutionen – weitgehend eine friedliche geblieben war. Und es gab bei dieser Revolution Heldinnen und Helden, die es – aller Angst vor dem gewaltsamen Eingreifen der Staatsmacht zum Trotz – gewagt hatten, auf die Straße zu gehen: die mutigen Bürgerinnen und deren Repräsentanten: die Bürgerrechtler. 4 5 6

Karl-Siegbert Rehberg in diesem Band. Pollack 2020, S. 211. Ettrich 1992.

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Dass dieses Narrativ und mit ihm die Frage nach den wesentlichen Akteuren – den protestierenden „Oppositionellen“ und den ausreisenden „Normalos“ – wissenschaftlich umstritten sind, haben die Debatten der letzten Zeit – etwa zwischen Detlef Pollack7 und Ilko-Sascha Kowalczuk8 – gezeigt.9 Davon bleibt auch das Revolutionsnarrativ nicht unberührt: Denn wenn das Ende der DDR primär die Folge eine „Abstimmung mit den Füßen“10 qua Ausreise und Flucht war, wird die Bedeutung der Oppositionellen zwangsläufig minimiert, und es stellt sich die Frage, ob die Revolution nicht vielmehr eine Implosion gewesen sei. Detlef Pollack hat im Hinblick auf die verursachende Rolle der Oppositionellen provokativ von einer „Mär“ gesprochen, und Thomas Großbölting11 hat im Nachhinein versucht, die Differenz der Kontrahenten in der anschließenden Debatte durch die Unterscheidung von „Ursache“ und „Anlass“ des Zusammenbruchs der DDR zu versöhnen. Trotz aller Unterschiede in der Gewichtung, die sich auch in anderen Kontexten feststellen lassen, war aber doch die positive Deutung des zentralen Ereignisses, auf das sich divergierende Erklärungen bezogen, unstrittig. Über die Ursachen mochte man ebenso streiten wie über die Folgen – es blieb der positive Bezug auf den Herbst ’89: als „charismatisches“ Ereignis, auf das die Ostdeutschen stolz sein konnten, als Erfahrung von überwundener Angst und von Selbstermächtigung, als kollektives Erleben der Macht, die sich von der Straße her entfalten konnte; und nicht zuletzt: als Erfahrung, dass ein – mehrfach geschwächtes – Regime auf diese Weise zu Fall gebracht werden konnte. Bei allem Dissens, der in der Kontroverse zwischen Pollack und Kowalczuk stellvertretend ausgetragen wurde, schien doch dieser Konsens gewahrt: dass „die Ostdeutschen“ sich auf den Herbst ’89 als etwas genuin Positives zurückbeziehen können und dass diese Bezugnahme selbst nicht weiter zu problematisieren ist. Hagen Findeis12 hat freilich zu Recht darauf hingewiesen, dass das im Osten Deutschlands gepflegte Narrativ von der „friedlichen Revolution“ im Westen Deutschlands nicht allzu viel Resonanz gefunden habe. Das, was in dem Projektverbund „Das umstrittene Erbe von 1989“ unter dem Stichwort „Politisierung der Erinnerung“ behandelt wird, erschüttert diesen vermeintlichen Konsens. Waren auch mehrfach in der Zeit nach 1989 Elemente des 7 8 9 10

Pollack 2019. Kowalczuk 2019. Siehe zu dieser Kontroverse Großbölting 2020. „Republikflucht“, hrsg. v. Bundeszentrale für politische Bildung und Robert-Havemann-Gesellschaft e.V., letzte Änderung Dezember 2019. Online verfügbar unter www.jugendopposition.de/145360. Gesehen am 16.05.2021. 11 Großbölting 2020, S. 4. 12 Findeis 2019.

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„Schon ’89 auf der Straße“

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Protests von ’89 – etwa die Friedensgebete und Montagsdemonstrationen – aufgegriffen und für diverse andere Zwecke, wie den Protest gegen Hartz IV, eingesetzt worden, zielen die Bezugnahmen in den Jahren seit 2014 – durch PEGIDA, LEGIDA, AfD und Querdenken – auf das Herz des charismatischen Geschehens. Die im Streit zwischen Pollack und Kowalczuk verhandelte Frage „Wem gehört die friedliche Revolution?“ hat sich längst von der Ursprungsfrage hin zur Frage nach der Legitimität des politischen Bezugs auf ’89 verschoben. Und wieder sind es die Akteure, über die es zu sprechen gilt. Durch die Inanspruchnahme von Seiten neuer kollektiver Akteure, die überwiegend dem rechten politischen Spektrum angehören, verändert sich aber gleichzeitig der inhaltliche Bezug auf ’89. Der Bezug auf die friedliche Revolution wird abgelöst durch den auf das Protestgeschehen auf der Straße gegen „die da oben“, durch ein – wie Alexander Leistner schreibt – „ideologisch dünnes“ Revolutionsnarrativ. Damit ist der mythische Kern von 1989, der in der Ikonologie der Kerzen tragenden Demonstranten in einer unverkennbar christlich inspirierten Weise eingefangen war und darin die Verbindung zu den Friedensgruppen, zur Nikolaikirche und ihren Friedensgebeten sichtbar aufrechterhielt, gleichsam seiner Inhalte entkleidet. Er ist reduziert auf die Form des Straßenprotests gegen die „Herrschenden“, auf die aktivistische Unmittelbarkeit der erhobenen Forderungen, einhergehend mit Rhetoriken des Umsturzes und der Machtergreifung. Die Sprachbilder, das arbeitet Alexander Leistner in seiner Einleitung klar heraus, holen sich ihre Anleihen von ganz rechts. Es entbehrt nicht einer gewissen Ironie, dass eine öffentliche Kontroverse darüber, ‚wem ’89 gehöre‘, zu einer Zeit geführt wird, in der diese Frage offenbar längst anders zu stellen ist, nämlich als Frage danach, wer sich auf ’89 legitimerweise berufen darf. Und die Antwort scheint gefallen: alle nämlich, die von sich behaupten können, sie seien „schon damals dabei gewesen“. Die Authentifizierung des politischen Bezugs auf ’89 erfolgt über diesen Anspruch, vor Ort gewesen zu sein, über die Beweiskraft der körperlichen Präsenz auf der Straße, und auch der gegenwärtige Protest wird über den Verweis auf den damaligen authentifiziert. „Wir waren schon damals auf der Straße, gegen die Diktatoren da oben, und wir sind es auch heute wieder, denn Unterdrückung und Entmündigung sind dieselben.“ So oder ähnlich lauten die rhetorischen Figuren, ganz gleich, ob es um Proteste gegen Flüchtlingspolitik, einen geplanten Moscheebau oder die Maßnahmen zur Eindämmung der Coronavirus-Pandemie geht. Es scheint fast, als würde die Gegenüberstellung von ‚Oppositionellen und Normalos‘, die in der Pollack-Kowalczuk-Kontroverse verhandelt wird, in den aktuellen Protesten auf verquere Weise versöhnt: Sind doch prominente Oppositionelle – wie Siegmar Faust, Vera Lengsfeld, Angelika Barbe und sogar Christoph

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Monika Wohlrab-Sahr

Wonneberger – bei den Protesten dabei, erhalten dort ihre Bühne, werden in den publizistischen Organen der rechten Szene ausgiebig interviewt. Wie eine späte Wiedergutmachung wird dies von manchen offenbar empfunden. Und der Bezug auf die Erfahrung von ’89 schlägt die Brücke. Dass ein Teil der alten „Kämpferinnen“ heute wieder auf der Bühne steht und die Proteste adelt, entzieht anderen Bezugnahmen auf ’89 den Boden. Auch wenn der gegenwärtige Protest sich basisdemokratisch geriert, sind es – so zeigt Alexander Leistner – gerade diese demokratischen Elemente, wie etwa die Runden Tische, die vergessen scheinen. Es ist vielmehr das aktivistische ‚Hier und Jetzt‘, das dichotome „Wir hier unten gegen die da oben“, es ist das Diffamieren alles Demokratisch-Institutionellen, insbesondere der politischen Institutionen und der Presse, das unter Rekurs auf ’89 geadelt wird. In diesem spezifisch eingeschränkten Sinne wird der Bezug auf ’89 zu einer Art „Totem“ der gegenwärtigen Proteste, offenbar geeignet, Emotionen zu wecken und zu kanalisieren, Kollektivität zu stiften, Einsprüche abzuweisen, die Sprechenden als authentische Sprecher zu qualifizieren und insgesamt: dem Widerstand eine höhere Weihe zu geben. Der amerikanische Soziologe Randall Collins13 hat im Anschluss an Emile Durkheim diese – kollektive Gefühle evozierende und die Aufmerksamkeit fokussierende – Funktion des Bezugs auf ein Totem im Kontext von Interaktionsritualketten herausgearbeitet. Der Bezug auf die Motive der Proteste von ’89 im Kontext öffentlichen Protests wäre ein hervorragendes Anwendungsfeld für diese Art soziologischer, auf Sinnverstehen basierender Erklärung. Während Politiker und Repräsentantinnen der politischen Bildung noch über die angemessene Form des Erinnerns streiten, wird diese Frage in den Straßenprotesten auf spezifische Art bereits beantwortet. Der Rekurs auf die „friedliche Revolution“ als Chiffre für die Errungenschaft ostdeutscher Protestierender im Herbst ’89 bleibt zwar rhetorisch präsent, was entsprechenden Protest von Bürgerrechtlerinnen wie Gesine Oltmanns und anderen provozierte. Faktisch aber ist an diese Stelle längst der ritualisierte, gegen „oben“ gerichtete Straßenprotest getreten. Und dieser wird plötzlich anschlussfähig für unzufriedene Westdeutsche aus unterschiedlichen, bis dahin eher unpolitischen weltanschaulichen Milieus und politisiert deren diffuse Ablehnungs- und Ressentimentstrukturen: sei es die Ablehnung von Schulmedizin und Impflicht in esoterisch-alternativ-anthroposophischen Milieus oder seien es die Ressentiments gegen die Zumutungen einer pluralistischen Gesellschaft in evangelikalen Milieus. Wenn die friedliche Revolution zur wütenden Revolte gegen „die da oben“ mutiert, liegen Zusammenschlüsse aller Art nahe. 13 Collins 2004.

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„Schon ’89 auf der Straße“

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Über das Eigentum an den Motiven der „friedlichen Revolution“ zu streiten ist in der politischen Auseinandersetzung, im öffentlichen „claims-making“, zweifellos bedeutsam. Zu einem Ergebnis wird dieser Streit aber nicht führen können. David Begrich, der auch in dem vorliegenden Band vertreten ist, hat dies in einem Interview mit der Leipziger Stadtzeitung Kreuzer nüchtern kommentiert: „Mit der ostdeutschen Protestgeschichte ist kein Eigentumsrecht verbunden. Sie gehört niemandem. Wer sich auf sie bezieht, tut das aus gänzlich heutigem Grund und muss damit rechnen, Widerspruch zu erfahren.“14 Mit diesen Inanspruchnahmen und Widersprüchen wird es die Gesellschaft der Bundesrepublik Deutschland mitsamt ihren Teilgesellschaften wohl noch lange zu tun haben. Literatur Collins, Randall (2004): Interaction Ritual Chains. Princeton, New Jersey: Princeton University Press. Ettrich, Frank (1992): Von der Erfolgswissenschaft zur Krisenwissenschaft. Die gesellschaftlichen Transformationsprozesse in Osteuropa und Ostdeutschland als Herausforderung der deutschen Soziologie. In: Hansgünter Meyer (Hrsg.): Soziologen-Tag Leipzig 1991. Soziologie in Deutschland und die Transformation großer gesellschaftlicher Systeme. Berlin: Akademie Verlag, S. 122–145. Findeis, Hagen (2019): Dreißig Jahre friedliche Revolution und keiner geht hin. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung v. 02.10.2019, S. 14. Großbölting, Thomas (2020): „Wem gehört die friedliche Revolution?“ Die Pollack-Kowalczuk-Kontroverse von 2019 als Lehrstück von Wissenschaftskommunikation. In: Deutschland-Archiv v. 14.07.2020. Online verfügbar unter www.bpd.de/312786. Gesehen am 10.05.2021. Hartmann, Greta und Alexander Leistner (2019): Umkämpftes Erbe. Zur Aktualität von „1989“ als Widerstandserzählung. In: Aus Politik und Zeitgeschichte 69 (35–37), S. 18–24. Kollmorgen, Raj (2009): Ostdeutschlandforschung. Status quo und Entwicklungschancen. In: Soziologie 38 (2), S. 147–174. Kowalczuk, Ilko Sascha (2019): Eine Minderheit bahnte den Weg. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung v. 15.07.2019, S. 9. Pollack, Detlef (2019): Es war ein Aufstand der Normalbürger. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung v. 12.7.2019, S. 9. Pollack, Detlef (2020): Das unzufriedene Volk. Protest und Ressentiment in Ostdeutschland von der friedlichen Revolution bis heute. Bielefeld: transcript.

14 Vgl. https://kreuzer-leipzig.de/2020/11/25/die-geschichte-wird-instrumentalisiert/. Gesehen am 16.05.2021.

Open-Access-Publikation im Sinne der Lizenz CC-BY-NC 4.0

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Autor*innenverzeichnis David Begrich, Theologe und Sozialwissenschaftler, ist Mitarbeiter der Arbeitsstelle Rechtsextremismus bei Miteinander e.V. in Magdeburg. Jonas Brückner arbeitet als Kulturhistoriker im Forschungsverbund „Das umstrittene Erbe von 1989“ und promoviert an der Universität Leipzig zu Männlichkeitsrollen in der DDR. Ute Frevert, Historikerin, ist Direktorin des Forschungsbereichs „Geschichte der Gefühle“ am Max-Planck-Institut für Bildungsforschung in Berlin. Verena Haug, Diplompädagogin, leitet den Bereich Berliner Ausstellung und Pädagogik im Anne Frank Zentrum e.V. Berlin. Greta Hartmann, Soziologin, ist wissenschaftliche Mitarbeiterin im Forschungsverbund „Das umstrittene Erbe von 1989“ am Institut für Kulturwissenschaften der Universität Leipzig. Dominik Intelmann, Humangeograph und Stadtforscher, promoviert an der Goethe-Universität Frankfurt am Main. Andreas Kötzing, Historiker und Kulturwissenschaftler, ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Hannah-Arendt-Institut für Totalitarismusforschung an der TU Dresden. Ilko-Sascha Kowalczuk, Historiker und Publizist. Carsta Langner ist Politikwissenschaftlerin und Historikerin und forscht und lehrt aktuell zu migrantischen Erfahrungen und migrationspolitischem Engagement in der ostdeutschen Umbruchsgesellschaft an der Friedrich-Schiller-Universität Jena. Alexander Leistner ist Soziologe an der Universität Leipzig und Mitarbeiter des Forschungsverbundes „Das umstrittene Erbe von 1989“. Anna Lux, Historikerin, ist wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Universität Freiburg/Br. im Forschungsprojekt „Das umstrittene Erbe von 1989“.

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Autor*innenverzeichnis

Claudia Pawlowitsch ist Historikerin am Institut für Sächsische Geschichte und Volkskunde in Dresden im Bereich Volkskunde/Kulturanthropologie. Karl-Siegbert Rehberg, Soziologe, war Gründungsdirektor des Instituts für Soziologie der Technischen Universität Dresden, seit 2009 Seniorprofessor (Forschung) für Soziologische Theorie, Theoriegeschichte und Kultursoziologie. Christina Schwarz, Kulturwissenschaftlerin und Philosophin, ist Mitarbeiterin im Forschungsverbund „Das umstrittene Erbe von 1989“, in dem sie das Forschungsprojekt zur außerschulischen Geschichtsvermittlung bearbeitet. Armin Steil, Berlin, Politikwissenschaftler, arbeitet in Forschung und politischer Bildung zu den Themenfeldern Migrationskonflikte, Rechtsradikalismus und Rassismus. Barbara Thériault ist Soziologin an der Université de Montréal, Übersetzerin von Feuilletons und Miniaturen vom Deutschen ins Französische und Friseurin in Ausbildung. Nick Wetschel arbeitet als Historiker am Institut für Sächsische Geschichte und Volkskunde in Dresden im Bereich Volkskunde/Kulturanthropologie. Dorothee Wierling, Universität Hamburg, war Stellvertretende Direktorin der Forschungsstelle für Zeitgeschichte in Hamburg. Monika Wohlrab-Sahr, Soziologin, ist Professorin für Kultursoziologie an der Universität Leipzig und Kodirektorin der Kollegforschungsgruppe „Multiple Secularities – Beyond the West, Beyond Modernities“.

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