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German Pages 300 Year 1990
WALTE R ÖTSCH
Das Sraffa-Paradoxon
Volkswirtschaftliche Schriften Begründet von Prof. Dr. Dr. h. c. J, Broermann
Heft 404
Das Sraffa-Paradoxon Das gemeinsame Konsistenz-Problem der neoklassischen und Marxschen Gleichgewichtstheorie
Von Dr. Walter Ötsch
Duncker & Humblot · Berlin
CIP-Titelaufnahme der Deutschen Bibliothek
Ötsch, Walter: Das Sraffa-Paradoxon: das gemeinsame Konsistenz-Problem der neoklassischen und Marxschen Gleichgewichtstheorie I von Walter Ötsch.- Berlin: Duncker und Humblot, 1990 (Volkswirtschaftliche Schriften; H. 404) ISBN 3-428-06994-3 NE: GT
Alle Rechte vorbehalten
© 1990 Duncker & Humblot GmbH, Berlin 41 Fotoprint: Wemer Hildebrand, Berlin 65 Printed in Gennany ISSN 0505-9372 ISBN 3-428-06994-3
Vorwort Diese Arbeit hatte eine lange Entstehungszeit Viele Personen waren durch Anmerkungen, Ermunterung und Kritik behilflich. Ihnen allen gilt mein Dank. Einige werden hier namentlich genannt. Kazimierz Laski hat mein Interesse an der Thematik geweckt und mich durch viele Anmerkungen unterstützt. Kurt W. Rothschild und Wilfried Fuhrmann haben mir den für diese Arbeit nötigen Freiheitsraum gegeben. Kurt W. Rothschild hat eine sehr frühe Version dieser Arbeit einer Kritik unterzogen und mich dadurch von manchen Irrwegen bewahrt. Die Diskussionen mit Amit Bhaduri halfen mir, die Hauptthese klarer zu formulieren. Ich bedanke mich bei den Teilnehmern der 'International Summer School of Advanced Studies' (C.I.S.E.P.) in Triest in den Jahren 1987 und 1988 für viele Anregungen. Von besonderer Hilfe waren die Diskussionen mit Richard Arena, Donald Harris, Alessandeo Roncaglia und Ian Steedman. Heinz Kurz, Peter Fleissner, H.W. Holub und Peter Aasehel haben mich zu Gastvorträgen eingeladen und wertvolle Diskussionsbeiträge beigesteuert. Ich bedanke mich bei vielen Studenten, die in insgesamt drei Lehrveranstaltungen Teile der Arbeit mit mir intensiv diskutierten. Athanasios Asimakopoulos bin ich für einen ermutigenden Kommentar zu Dank verpflichtet. Hajo Riese und Friedeich Hinterherger haben eine frühere Version der Arbeit mit hilfreichen Kommentaren versehen. Bengt-Ame Wiekström hat die Arbeit gewissenhaft gelesen; ihm verdanke ich viele Anregungen. Gerhard Orosel und J .A. Kregel bin ich für Anmerkungen zu Kurzfassungen der Arbeit dankbar. Rainer Born war bei wissenschaftstheoretischen und Günter Pilz bei mathematischen Problemen hilfreich. Für das Layout bin ich Elisabeth Stiftinger zu Dank verpflichtet. Ganz besonderen Dank schulde ich Bertram Schefold, der durch viele Jahre hindurch diese Arbeit mit wohlwollender Kritik förderte.
Linz, im Juli 1990
Walter Ötsch
Inhaltsverzeichnis
0. Einleitung
15
1. Die Konsistenz-Debatte in der neoklassischen Theorie
23
2. Die Konsistenz-Debatte in der Marxschen Theorie
36
3. Die korrekte Methode in beiden Debatten
78
4. Die neoklassische und die Marxsche Theorie als mechanistische Ansätze
5. Der gemeinsame Bauplan der neoklassischen und Marxschen Gleichgewichtstheorie
6. Die neoklassische und Marxsche Gleichgewichtstheorie von Basisprodukten
105 133 155
7. Das Sraffa-Paradoxon
170
8. Zusammenfassung
204
Anmerkungen zu den einzelnen Kapiteln
225
Verzeichnis der Abbildungen
275
Literaturverzeichnis
277
Inhaltsangabe der einzelnen Ziffern 0. Einleitung 1. Fragestellung und Intention der Arbeit 2. Gedankengang der Arbeit 3. Das Sraffa-Modell 4. Basis- und Nichtbasisprodukte 5. Darstellung des Sraffa-Modells 6. Der Spezialfall in Bezug auf die Techni 7. Der Spezialfall in Bezug auf das Aktivitätsniveau
1. Die Konsistenz-Debatte in der neoklassischen Theorie 8. Die Makro-Modelle 9. Robinson 1953 10. Drei Antworten darauf 11. Sraffa 1960 12. Sarnuelson 1962a- 1: das Preismodell 13. - II: Grafische Darstellung 14.- III: Surrogate Production Function 15. -IV: ldente Kapitalintensitäten 16. Diese Analyse in einem Sraffa-Modell 17. Resümee der 'Angreifer' und der 'Verteidiger' 18. Die Sraffa-Theorie als Spezialfall der allgemeinen Gleichgewichtstheorie 19. Die Antworten der 'Angreifer' dazu 20. Ausblick
2. Die Konsistenz-Debatte in der Marxschen Theorie 21. Die Vorgangsweise in diesem Kapitel 22. Formale und dialektische Logik 23. Die sechs Bausteine 24. Das Grund-Bild einer zweigeteilten Realität 25. Eine einfache Begriffs-Matrix 26. Gebrauchswert und Tauschwert 27. Baustein 1: die Werttheorie
Inhaltsangabe der einzelnen Ziffern
28. Die Ware in der Warenzirlculation 29. Die Dynamik der Warenzirkulation 30. Die 'Dialektik' dieser Dynamik I 31. Die 'Dialektik' dieser Dynamik II 32. Baustein 2: die Theorie der Kapitalzirkulation 33. Die Dynamik der Kapitalzirkulation 34. Die duale Interpretation der Werttheorie 35. Baustein 3: die Mehrwerttheorie 36. Der Produktionsprozeß 37. Dieser in Mengen und Arbeitswerten 38. Zusammenfassung von Baustein 3 39. Baustein 4: der Kreislauf des Geldkapitals 40. Dieser in Diagrammen 41. Dessen fonnale Struktur 42. Baustein 5: der Reproduktionsprozeß des Kapitals 43. Eine Uminterpretation von Baustein 4 44. Ein Zwei-Sektoren-Modell 45. Dieses in einem Diagramm 46. Die Reproduktionsschemata 47. Zwei oder drei Schemata? 48. Der Zusammenhang von Baustein 4 und 5 49. Kapitel 18 bis 21 in Band II 50. Marx's Definition von Baustein 5 51. Marx's Modeliierung von Baustein 5 52. Baustein 6: die Theorie der Produktionspreise 53. Eine Uminterpretation von Baustein 5 54. Die zwei Rechenverfahren 55. Der Primat des 'Umweg-Verfahrens' 56. Vier Interpretationen der Abbildungen 7 bis 10 57. Das 'Transformationsproblem' 58. Die Sraffa-Version der Marxschen Theorie 59. Ihr Mengen- und Arbeitswerte-System 60. Die korrekte Transfonnationsformel 61. Die fonnale Struktur dieses Modells 62. Der Transfonnationsansatz von Marx 63. Ein zweifaches Resümee 64. Die Konsistenz-These und die Inkonsistenz-These 65. Wiederholung 66. Zusammenfassung der bisherigen Arbeit 67. Die Hauptthese der Arbeit
9
10
Inhaltsangabe der einzelnen Ziffern
3. Die korrekte Methode in beiden Debatten 68. Externe und interne Kritik 69. Empirische Kritik 70. Eine interne Kritik via Sraffa-Modell 71. Schritt 1: die Defmition des Paradigmas 72. Schritt 2: die Definition der formalen Struktur des Sraffa-ModeUs 73. Schritt 3: die Definition einer Sraffa-Version 74. Die konsistente Sraffa-Version 75. Schritt 4: die Formulierung einer Zusatz-Bedingung 76. Die inkonsistente Sraffa-Version 77. Zusammenfassung 78. Die konsistente Sraffa-Version der neoklassischen Makro-Theorie 79. Die inkonsistente Sraffa-Version der neoklassischen Makro-Theorie 80. Die konsistente Sraffa-Version der Marxschen Gleichgewichtstheorie 81. Die inkonsistente Sraffa-Version der Marxschen Gleichgewichtstheorie 82. Zusammenfassung 83. Zwei Definitionen von 'Neoklassik' 84. DieSraffa-Version der neoklassischen Gleichgewichtstheorie 85. Hahn I 86. Die Grenzproduktivitätstheorie darin 87. Das Nonsubstitutionstheorem darin 88. Hahn II: der Kreislauf-Zusammenhang 89. Hahn II als Gleichungssystem 90. Hahn III: die Sraffa-Version 91. Ein Interpretationsproblem 92. Zusammenfassung zu diesem Kapitel 93. Ausblick 94. Der weitere Gedankengang 95. Der rote Faden der Arbeit
4. Neoklassische und Marxsche Theorie als mechanistische Ansätze 96. Eine Selbstinterpretation der ersten Neoklassiker 97. Die Preistheorie als Analogie-Bereich 98. Preise als simultane Gleichgewichtspreise 99. Preise als Widerspiegelungen' von Grenznutzen 100. Kausalität bei beiden Interpretationen 101. Zwei Ebenen von Kausalität 102. Zwei Arten von Kräften 103. Die Parallele zur Mechanik von Newton
Inhaltsangabe der einzelnen Ziffern
104. Das weitere Argument 105. Defmition von 'mechanistischer Kraft-Theorie' 106. Die mechanistische Metapher bei Jevons und Walras 107. Nutzen und Masse 108. Die axiomatische Methode 109. Psychische und mechanische Kräfte 110. Die Grenznutzentheorie als Kraft-Gesetz 111. Das Kraft-Gesetz von Newton 112. Das Kraft-Gesetz von Jevons und Walras 113. Zusammenfassung zur mechanistischen Matapher für Jevons und Walras 114. Die These für die Marxsche Theorie 115. Die Werttheorie als Analogie-Bereich 116. Wert und Masse 117. Die Arbeitskraft im Produktionsprozeß 118. Die Mengenschöpfung als Hauptphänomen 119. Die Kraft-Theorie von Marx 120. Die duale Interpretation der Werttheorie 121. Zusammenfassung für die Marxsche Theorie 122. Die neoklassische und die Marxsche Kraft-Theorie 123. Der Zuschreibungsprozeß von Wert 124. Dessen Objekt-Aspekt 125. Dessen Subjekt-Aspekt 126. Die Subjekt-Objekt-Beziehung darin 127. Die beiden Werttheorien als Gegensätze 128. Zusammenfassung
S. Der gemeinsame Bauplan der neoklassischen und Marxschen Gleichgewichtstheorie 129. Ziel dieses Kapitels 130. Die Theorie von Sraffa als 'nicht-mechanistischer' Ansatz 131. Das Reduktionsproblem 132. Dieses für beide Werttheorien 133. Die beiden Waagen' 134. Das Reduktionsproblem für die Marxsche Theorie 135. Das Reduktionsproblem für die neoklassische Theorie 136. Das Reduktionsproblem im 'Kapital' 137. Die Lösungsvorschläge von Marx 138. Marktdeterminierte Lösungsvarianten 139. Produktionsdeterminierte Lösungsvarianten 140. Das Modell von Rowthom 141. Der Bauplan der Marxschen Gleichgewichtstheorie
11
12
Inhaltsangabe der einzelnen Ziffern
142. Die vier Schritte im Preis-Argument 143. Zusammenfassung für Marx 144. Der Bauplan der neoklassischen Gleichgewichtstheorie 145. Von Ausgangsdaten zu Gleichgewichtsresultaten 146. Zusammenfassung 147. Prozedurales versus simultanes Argument 148. Der gemeinsame Bauplan der beiden Gleichgewichtstheorien 149. Zwei Arten von Redundanz-Vorwürfen 150. Redundanz in Bezug auf die Preise 151. Antworten auf diesen Vorwurf 152. Redundanz in Bezug auf die Berechnung der theoretischen Größen 153. Eine Antwort darauf 154. Zusammenfassung des Kapitels
6. Die neoklassische und Marxsche Gleichgewichtstheorie von Basisprodukten 155. Schritt 1 der Neuinterpretation 156. Schritt 2 der Neuinterpretation 157. Eine Entscheidung für den 'neuen Standpunkt von Neoklassik' 158. Zwei Zusatzargumente dazu 159. Überblick über dieses Kapitel 160. Das Modell von Hahn mit der Werttheorie von Walras 161. Darstellung der Marxschen Sraffa-Version 162. Darstellung der neoklassischen Sraffa-Version 163. Gemeinsame Elemente in beiden Sraffa-Versionen 164. Methodische Überlegungen: der interne Charakter der Analyse 165. Methodische Überlegungen: die Konsistenz-Prüfung 166. Die Parabel von der Insel 167. Diese bei perfekter empirischer Testbarkeil 168. Das Prinzip der Komplementarität in der Physik 169. Das Prinzip der Komplementarität in der Nationalökonomie
7. Das Sraffa-Paradoxon 170. Ziel dieses Kapitel 171. Zu beantwortende Fragen 172. Die Bedeuumg eines Schrittes 4 173. Die gewählte Vorgangsweise für Schritt 4 174. Zwei formale Minimalbedingungen für ein Kraft-Gesetz 175. Diese in den beiden Werttheorien 176. Statische Kraft-Gesetze
Inhaltsangabe der einzelnen Ziffern
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177. Dynamische Kraft-Gesetze 178. Kraft-Gesetz und Verteilungsabhängigkeit von Größen 179. Primär- und Sekundär-Bereich 180. Direkte und indirekte Kraft-Einwirkung 181. Das Universalitätsprinzip in der Mechanik 182. Eine unvollständige Kraft-Theorie 183. Eine vollständige Kraft-Theorie 184. Die Modelle aus Kapitel 6 als geeignet für die Fragestellung 185. Verteilungsunabhängige Preise als Implikation 186. Die Spezialfälle als Resultat 187. Das Sraffa-Paradoxon 188. Das Sraffa-Paradoxon als Begrenzung des Konsistenz-Bereiches 189. Wiederholung des Gedankengangs (1) 190. Wiederholung des Gedankengangs (2) 191. Die inhaltliche Deutung der formalen Äquivalenz von Zusatz-Bedingungen 192. Die Marxsche Preistheorie als Kraft-Theorie 193. Das Sraffa-Paradoxon für die Marxsche Theorie 194. Der Transformationsansatz von Marx als vollständige Kraft-Theorie 195. Die neoklassische Mengentheorie als Kraft-Theorie: im EinbahnstraßenBild 196. Die neoklassische Mengentheorie als Kraft-Theorie: im Kreislauf-Bild 197. Das Sraffa-Paradoxon für die neoklassische Theorie 198. Wiederholung für die neoklassische Theorie 199. Eine spiegelbildliche Problematik in beiden Paradigmen 200. Zusatz-Bedingungen und Gleichgewichtstheorie 201. Die zwei Hauptargumente der modernen 'Verteidiger' der Neoklassik 202. Das Gesetz vom tendenziellen Fall der Profitrate 203. Eine 'neoklassische' Interpretation dieses Gesetzes 204. Ist das Gesetz inkonsistent? 205. Kritik des Parallel-Argumentes 206. Das Gesetz in einer konsistenten und in einer inkonsistenten Variante 207. Das Gesetz in Parallele zu einem neoklassischen Makro-Modell 208. Das 'Kapital'-Argument der 'Verteidiger' 209. Makr~Modelle und allgemeine Gleichgewichtstheorie 210. Die dynamische Kraft-Theorie bei Walras 211. Diese für den Sekundär-Bereich 212. Die Konsistenz-Problematik als verstecktes Problem 213. Dies in beiden Theorien 214. Die 'innere Tendenz' in beiden Paradigmen 215. Zusammenfassung 216. Surplus-Theorie und Preis-Theorie 217. Das Konsistenz-Problem und die Verteilungstheorie
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Inhaltsangabe der einzelnen Ziffern
218. Das spiegelbildliche Gesamtergebnis {1) 219. Das spiegelbildliche Gesamtergebnis (2)
8. Zusammenfassung 220. Der Kern der beiden Konsistenz-Debatten 221. Die Vorgangsweise in Kapitell und 2 222. Das methodische Prozedere über vier Schritte 223. Zusammenfassung zum Stand der Debatte (I) 224. Zusammenfassung zum Stand der Debatte (2) 225. Überblick über den Gedankengang zur Hauptthese 226. Parallel-Bilder auf Ebene I 227. Parallel-Bilder auf weiteren vier Ebenen 228. Die Neuinterpretation: Schritt 1 bis 3 229. Die Neuinterpretation: Schritt 4 230. Zusammenfassung zum Sraffa-Paradoxon 231. Die Neuinterpretation der beiden Konsistenz-Debatten (1) 232. Die Neuinterpretation der beiden Konsistenz-Debatten (2) 233. Vergleich mit dem Stand der Debatte 234. Neoklassische und Marxsche Theorie als Gegensätze 235. Die Kapitalkontroverse und die Transformationsdebatte als Gegensätze 236. Eine Neuinterpretation der Intention von Sraffa 237. Die Theorie von Sraffa als 'nicht-mechanistische' Theorie
0. Einleitung
1. (Fragestellung und Intention der Arbeit) Piero Sraffas "Warenproduktion mittels Waren" zählt zu den großen Werken der nationalökonomischen Theorie in diesem Jahrhundert. 1 Es hat zwei theoretische Debatten entscheidend beeinflußt: dieKapital-Kontroverse in den sechziger Jahren (Reswitching-Debatte). Ihr Thema war die formale Analyse neoklassischer Modelle, inbesondere von "Makro-Modellen", wie der makroökonomischen Produktionsfunktion. Als Hauptergebnis wurde behauptet. daß diese Modelle inkonsistent sind. die Debatte um das Marxsche Transformationsproblem. Ihr Thema war die formale Analyse Marxscher Gleichgewichtsmodelle. Ein Hauptergebnis behauptet, daß die Marxsche Arbeitswertlehre nicht geeignet sei, eine konsistente Theorie Marxscher Produktionspreise zu liefern. Beide Debatten beschäftigen sich mit der Konsistenz von Modellen. Die beiden Argumente, in denen eine Inkonsistenz behauptet wird (zum einen für neoklassische, zum anderen für Marxsche Modelle), wurden unabhängig voneinander entwickelt. Allgemein herrscht Übereinstimmung darüber, daß es keinen systematisch-theoretischen Zusammenhang zwischen ihnen gibt. 2 Im Gegensatz dazu versuche ich in dieser Arbeit zu zeigen, daß beiden Debatten ein gemeinsames Problem zugrundeliegt Die Intention meiner Arbeit ist eine Neuinterpretation der beiden Konsistenz-Debatten sowie Sraffas impliziter Kritik in seiner "Einleitung zu einer Kritik der ökonomischen Theorie".3
2 • (Gedankengang der Arbeit) Im Gedankengang der Arbeit wird zuerst die
Kapitalkontroverse (Kap. 1) sowie die Debatte um das Transformationsproblem (Kap. 2) kurz skizziert. In diesen einleitenden Kapiteln geht es nicht darum, beiden - sehr komplexen - Debatten in vielen Verästelungen zu folgen, sondern das Grundproblem und die Hauptargumente zusammenfassend darzustellen. In Kapitel 3 wird der Kern beider Debatten im Hinblick auf methodische Gemeinsamkeiten befragt. Hier geht es um die Klärung einfacher methodischer Gesichtspunkte, wie der Bedeutung des Begriffs "Konsistenz". Es soll gezeigt werden, daß die Konsistenz- und Inkonsistenz-Argumente in beiden Debatten einem
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Einleitung
einfachen Prozederes über drei bzw. vier Schritte zugeordnet werden können. Dieses Prozedere kann dreüach ausfmdig gemacht werden: in der Debatte um das Marxsche Transformationsproblem, in der Debatte um die neoklassischen Makro-Modelle und in der Debatte um die allgemeine Gleichgewichtstheorie (ein Gesichtspunkt, der von neoklassischer Seite im Zusammenhang mit der Kapitalkontroverse ins Spiel gebracht wurde). Insgesamt ergeben sich vier Argumente: ein Konsistenz- und ein Inkonsistenz-Argument für jeweils die neoklassische und die Marxsche Theorie. In der Marxschen Theorie werden beide Argumente in demselben Modelltypus geführt (die Marxsche Gleichgewichtstheorie); in der neoklassischen Theorie werden beide Argumente in unterschiedlichen Modelltypen geführt: das Konsistenz-Argument bezieht sich auf die allgemeine Gleichgewichtstheorie, das Inkonsistenz-Argument auf die 'MakroModelle'. Ziel der Arbeit ist es, diese vier Argumente in einen gemeinsamen Bezugsrahmen zu stellen, von wo sie als SonderflUle eines einzigen Arguments interpretiert werden können. Die Neuinterpretation wird ab Kapitel 4 entwickelt. Sie folgt den vier Schritten des methodischen Prozederes aus Kapitel 3 und zeigt in jedem Schritt eine theoretisch-konzeptuelle Parallele zwischen der neoklassischen und der Marxschen Theorie. (Das Hauptargument wird also schrittweise und parallel für beide Paradigmen entwickelt). In Kapitel4 wird auf eine ganz grundlegende und bislang wenig beachtete Gemeinsamkeit in den Werttheorien von Walras (Grenznutzentheorie) und von Marx (Arbeitwertlehre) aufmerksam gemacht: beide können als direkte Anwendung einer mechanistischen Denkweise (in Analogie zur Mechanik von Newton) interpretiert werden. Dies wird anband eines konzeptionellen Vergleiches von Grundbegriffen bei Newton, Walras und Marx gezeigt Im KapitelS wird die gemeinsame Betrachtungsweise der beiden Werttheorien vertieft. Es wird ein einfaches Schema entwickelt, welches die Klassifikation und Diskussion grundlegender theoretischer Probleme in beiden Paradigmen erlaubt. Das Hauptargument fiir die Neuinterpretation der beiden Konsistenz-Debatten wird in Kapitel6 wiederaufgenommen. Hier wird vorgeschlagen, sich in beiden Paradigmen mit den jeweiligen Gleichgewichtstheorien zu befassen; d.h. auch in der neoklassischen Theorie die Konsistenz-Problematik auf die allgemeine Gleichgewichtstheorie zu beziehen. In Kapitel 7 wird dann gezeigt, unter welchen Bedingungen beide Gleichgewichtstheorien konsistent bleiben und unter welchen Bedingungen beide inkonsistent werden (beide Begriffe in der ganz spezifischen Bedeutung aus Kapitel 3). Die Hauptthese - hier Sraffa-Paradoxon genannt - besagt, daß ein aus der mechanistischen Metapher abgeleitetes Postulat beide Gleichgewichtstheorien in genau derselben Weise inkonsistent macht, wie dies aus den bisherigen Konsistenz-Debatten bekannt
Einleitung
17
ist. Schließlich wird vorgeschlagen, diese formale Äquivalenz inhaltlich zu deuten und die Konsistenz-Problematik als Ausdruck eines impliziten mechanistischen Forschungsprogramms (in einer speziellen Deutung) in beiden Paradigmen zu verstehen. Insgesamt wird in der Neuinterpretation ein vollkommen paralleles Argument für die neoklassische und die Marxsche Theorie geführt. Es führt zu einem identen Ergebnis für beide Paradigmen: beide bleiben nach demselben Kriterium "konsistent" und beide werden nach demselben Kriterium "inkonsistent". Im Hauptergebnis wird auch ein systematischer theoretischer Zusammenhang der Makro-Modelle mit der allgemeinen Gleichgewichtstheorie behauptet. Damit wird zum einen die Kapitalkontroverse für die allgemeine Gleichgewichtstheorie relevant; zum anderen ist sie lediglich ein Spezialfall der hier entwickelten Überlegungen. In Kapitel 8 werden einige Resultate zusammengefaßt und vorgeschlagen, die in Sraffas Hauptwerk nur implizit enthaltene Kritik neu zu interpretieren. Dem Leser I der Leserin, der I die sich einen schnellen Überblick über die Hauptthese verschaffen will, wird geraten Kapitel 3, 4 und 7 zu lesen. In Kapitel3 wird vor allem ein Verständnis der Abbildungen 12 und 13 hilfreich sein, in Kapitel4 die dreifache Interpretation von Abbildung 15. Kapitel& kann auch als Leseanleitung und Orientierung für die Arbeit verwendet werden. Eine schematische Zusammenfassung des Standes der Debaue mit der hier vorgeschlagenen Neuinterpretation fmdet sich in den Abbildungen 21 und 22.
3. (Das Sraffa-Modell) Als Vorspann zu meinem Gedankengang wird das
Sraffa-Modell kurz skizziert. In Sraffa 1960 (1968, 1976) sind verschiedene Modelle bzw. Modell-Varianten zu fmden.4 Für unsere Diskussion ist das einfache Modell von Kapitel 2, Ziffer 11 (S. 29f) ausreichend. Es besteht aus n Preisgleichungen der Art (XitPt + Xi2P2+ ..... + XinPn) (1+r) + wLj
=ZiPi
i
= 1,2,.... ,n
bzw. aus dem Gleichungssystem
Xp (l+r) +wL = Zp.5 Dieses Preis-System basiert bekanntlich auf einem Mengen-System, nämlich der Technik X,L
~
Z.
Im folgenden verwende ich die übliche Normierung der Mengen: der BruttoOutput jedes Produktes wird als Einheitsmaß gesetzt. Damit ergibt sich ein Mengen-System
18
Einleitung
(1) A, 1
~
I
mit einer MatrixAder KapitalkoeffiZienten und einem Vektor 1 der Arbeitskoeffizienten. 6 Der Ausdruck "Mengen" wird in meiner Arbeit (sofern nicht eigens anders angegeben) in der Bedeutung von "Mengen im Produktionssystem" verwendet. Insofern die Aktivitätsniveaus nicht beachtet werden, bezeichen "Mengen" die Gesamtheit der Koeffizienten der Matrix A und des Vektors I.
Das Preis-System kann jetzt als (2) Ap (1+r) + wl = p
angeschrieben werden.
4.
(Basis- und Nichtbasisprodukte) In Bezug auf die Bestimmung der Preise können Sraffa (1976, S. 25ft) folgend zwei Arten von Produkten unterschieden werden: Produkte, welche aktiv an der Bestimmung des gesamten Systems teilnehmen (Sraffa nennt sie Basisprodukte) und Produkte, welche nur für eine Subgruppe der Ökonomie, aber nicht für das Gesamtsystem relevant sind (Sraffa nennt sie Nichtbasisprodukte).1 Falls beide Arten von Produkten auftreten, zerBillt das Gleichungssystem (2) in zwei Teile, nämlich (2a)
(l+r) + wlB
= PB
(1+r) + wlN
= PN.
und
(2b)
(2a) zeigt die Basisprodukte, (2b) die Nichtbasisprodukte.S Erstere sind vom Rest der Ökonomie unabhängig, letztere nicht. Der Preisvektor PN ist von PB abhängig und zur Berechnung von PB und der allgemeinen Profitrate r (für ein gegebenenes w) nicht notwendig. "Mit anderen Worten ausgedrückt: Der Preis eines Nicht-Basisproduktes hängt von den Preisen seiner Produktionsmittel ab, nicht aber deren Preise von dem seinen. Dagegen hängen die Preise der Produktionsmittel eines Basisprodukts nicht weniger von dessen Preis ab wie sein eigener Preis von denen seiner Produktionsmittel." (Sraffa 1976, S. 27).
Die Theorie der Preise von Basisprodukten bildet den Kern der Preistheorie im Sraffa-Modell. Im folgenden beschränken wir uns auf diesen Kern und verstehen (1) und (2) stets als Modell mit ausschließlich Basisprodukten9 (d.h. wir beschäftigen uns mit einem Gleichungssystem, aus dem die Nichtbasisprodukte durch einfaches Streichen ihrer Gleichungen eliminiert wurden.) 10
19
Einleitung
S. (Darstellung des Sraffa-Modells) Abbildung l dient der Darstellung des
Sraffa-Systems. Es zeigt die übliche Unterscheidung nach Mengen und Preisen. Im Mengensystem (linker Teil) ist die verwendete Technik A, l ~ I sowie ein Zeilenvektor x' zu finden. Dieser symbolisiert das aktuelle Aktivitätsniveau (Niveau- oder Intensitätsvektor).l1 Das Mengensystem enthält n+ 1 Meßdimensionen: n für die n Basisprodukte und eine für die homogene Arbeit. Demgegenüber werden alle Ausdrücke im Preissystem als Skalare verstanden. D.h. alle Produkte aus Mengen und Preisen in der Preisgleichung (2) werden als gemeinsamer Ausdruck, gemessen auf der einen Dimension des Preissystems, gelesen. 12 (In Abb. 1 wird auf eine eigene Notation im Preissystem für die Produkte aus Mengen und Preise verzichtet). Die prinzipielle Trennung nach Mengen-Ausdrücken (zu fmden im Mengensystem) und Preis-Ausdrücken (zu finden im Preissystem) macht es notwendig, den Zusammenhang zwischen Mengen und Preisen explizit anzugeben. Eine Möglichkeit besteht in der Formel zur Berechnung des Vektors der Preise p, d.h.: (3)
p
=w
[ I - (1 +r) A ] -1 I
Das ist in Abbildung 1 als Pfeil@ eingetragen. Dieses Gleichungssystem hat bekanntlich zwei Freiheitsgrade. Sie werden in der Regel als der Standard des Preissystems (für die Preise und den Nominallohn) und als eine Verteilungsvariable (meist r oder w) interpretiert.13
PREISE
MENGEN (I)
A, I~ I x'
(n+ 1 Dimensionen)
@
(2) Ap (I+r) + wl
=p
(1 Dimension)
Abbildung 1: Das Sraffa-Modell
6.
(Der Spezialfall in Bezug auf die Technik) Aus Gleichung (3) folgt unmittelbar die wichtigste formale Eigenschaft des Sraffa-Modells für die hier behandelten Debatten: alle relativen Preise sowie alle Preisaggregate (wie Volkseinkommen, Wert der Inputs, Lohnsumme) 14 ändern sich, falls sich die Verteilung verändert. Die "Bewegungsrichtung" der Preise p in Abhängigkeit
Einleitung
20
von einer "Bewegung" der Verteilung (Lohnsatz w bzw. Profitrate r) verläuft im allgemeinen völlig ungeordnet und ohne eine allgemeine Gesetzmäßigkeit.15 "Der Schlüssel für die Bewegung der relativen Preise als Folge einer Lohnänderung liegt in den ungleichen Verhältnissen, in denen Arbeit und Produktionsmittel von den verschiedenen Zweigen beschäftigt werden." (Ebenda, s. 31 ).
Konsequenterweise kann demnach eine Bedingung dafür formuliert werden,
daß die relativen Preise unabhängig von der Einkommensverteilung sind. 16 Dies
liegt dann vor, wenn die Eigenwertgleichung (4)
AI
= cp
1
gilt, wobei cp der dominante Eigenwert der Matrix A und der Vektor der direkten Arbeit 1auch der dazugehörige charakteristische Vektor ist 17 Übliche Interpretationen dieser Bedingung sind:18 idente Produktionsprozesse in allen Sektoren19 die Marxsche Bedingung von gleicher Wertzusammensetzung des Kapitals20 bei Berücksichtigung der Zeitstruktur der Arbeitsinputs: gleiche Arbeitsaufwendungen auf allen Stufen der Produktion21 neutrale Preis-Wicksell-Effekte22 Im folgenden wird das Vorliegen von Bedingung (4) als Speziallfall in Bezug
auf die Technik bezeichnet.
7 . (Der Spezialfall in Bezug auf das Aktivitätsniveau) Im Falle, daß Bedin-
gung (4) nicht gilt, kann gesondert davon eine Bedingung formuliert werden, daß Preisaggregate (z.B. die Kapitalsumme x'Ap) unabhängig von der Einkommensverteilung sind; und zwar indem auf das Aktivitätsniveau (Vektor x') abgezielt wird. Sraffa erklärt dies so: Nehmen wir an, die Preise wären bei einer Senkung des Nominallohns w (Erhöhung der Profitrate r) konstant. 23 In Industrien mit einer hohen "Kapitalintensität" würde ein 'Defizit', in Industrien mit einer niedrigen "Kapitalintensität" würde ein 'Überschuß' entstehen. "Es folgt daraus ein "kritisches" Verhältnis von Arbeit zu Produktionsmitteln, das die Wasserscheide zwischen "Defizit"- und "Überschuß"-Zweigen markieren würde. Zweige mit einer solchen speziellen "Proportion" wiesen eine ausgeglichene Bilanz auf - die Vomahme von Lohnkürzungen lieferte genausoviel, wie zur Zahlung von Profiten nach der allgemeinen Rate benötigt würde." (S. 32).
Diese Vorstellung wird auf eine fiktives Gesamtsystem übertragen:
Einleitung
21
"Es muß sich um eine Gesamtheit handeln, in der sowohl Produkt als auch Produktionsmittel Quantitäten ebendesselben Warenaggregats sind. .. . (Ein solches System) besitze die Eigenschaft, daß die einzelnen Waren innerhalb seines Produktionsmittelaggregats in denselben Proportionen vertreten sind wie zwischen seinen Produkten". (S. 39).
Dies ist dann gewährleistet, wenn die Eigenwertgleichung (5)
X*
A
= cp
x•
gilt,24 wobei cp der dominante Eigenwert der Matrix A und der Vektor des Aktivitätsniveau x* auch der dazugehörige charakteristische Vektor ist25 Übliche Interpretationen dieser Bedingung sind: das Standardsystem von Sraffa26 ein steady-state Wachstumsmodell ein von Neumann Wachstumsmodell27
Im folgenden wird das Vorliegen von Bedingung (5) als Speziallfall in Bezug
auf das Aktivitätsniveau bezeichnet
Für den Leser, der mit Eigenwertproblemen nicht vertraut ist, genügt folgendes Resümee: die wichtigste formale Eigenschaft des Sraffa-Modells ist die Verteilungsabhängigkeitder Preise. Nur bei ganz speziellen Konstellationen im Mengen-System des Modells kann diese Abhängigkeit eliminiert werden; sie werden im folgenden als Spezialfälle bezeichnet
1. Die Konsistenz-Debatte in der neoklassischen Theorie 8.
(Die Makro-Modelle) Thema der Kapitalkontroverse der sechziger Jahre 1 war die Analyse neoklassischer Makro-Modelle. Darunter verstehe ich im folgenden alle neoklassischen Modelle, in denen ein systematisch-theoretischer Zusammenhang zwischen technischen Größen und (gesamtwirtschaftlichen) Verteilungsgrößen behauptet wird. Beispiele dafür sind die makroökonomische Produktionsfunktion von Wicksteed, die Kapitaltheorien von Wicksell, BöhmBawerk und Marshall, das neoklassische Wachstumsmodell von Solow, Swan und Meade2 sowie das neoklassische Zweisektorenmodell von Uzawa, Inada und Drandakis.3 In alldiesen Modellen ist eine "Mengensubstanz von Kapital" zu finden und der Zinssatz (die Profitrate) wird anband des "Grenzprodukts des Kapitals" bestimmt Der bekannteste Vertreter der Makro-Modelle ist zweifellos die makroökonomische Produktionsfunktion, worin der Pro-Kopf-Output als Funktion der "Kapitalintensität" aufscheint4 Auf sie wird im folgenden als pars pro toto Bezug genommen. In der Diskussion um diese prominente Variante der Makro-Modelle ging es vorrangig um zwei Fragenkomplexe: 1-
um die Bedeutung des Buchstabens "K" bzw des Ausdrucks "Kapital"; und
2-
um die Gültigkeit von systematischen Zusammenhängen zwischen Mengengrößen5 und Verteilungsgrößen. Beispiele für solche Zusammenhänge sind:6
"1 - an association between lower rates of profits and higher values of capital per man employed;7 2 - an association between lower rates of profits and higher capital-output ratios; 3 - an association between lower rates of profits (and through investment in more 'mechanized' or 'round-about' methods of production) higher sustainable steady states of consumption per head (up to a maximum)." (Harcourt 1972, S. 22).
24
Die Konsistenz-Oebane in der neoklassischen Theorie
In der Zeit vor der Kapitalkontroverse wurden diese Aussagen von neoklassischen Autoren zwar als gleichnishafte Parabeln bezeichnet; sie wurden jedoch als im Kern richtige Darstellung komplexer Zusammenhänge verstanden.
9.
(Robinson 1953) Als Beginn der Debatte gilt allgerneinS Joan Robinsons Aufsatz "The Production Function and the Theory of Capital". Robinsons Aufsatz beschäftigt sich mit beiden Fragenkomplexen. Im Zentrum steht die Frage, in welchen Einheiten "Kapital" in der makroökonomischen Produktionsfunktion gemessen wird. Offensichtlich geht es darum, eine Meßeinheit für "Kapital" zu finden, welche unabhängig von Preisen und der Verteilung ist. Nach der Autorio müßte eine solche Einheit gleichzeitig als Mengen- und als Preisausdruck interpretierbar sein. "Mengen-Kapital" ist ein technischer Ausdruck, er beinhaltet die Hilfsmittel für produktive Arbeit im Produktionsprozeß. "PreisKapital" ist ein ökonomischer Ausdruck, er beinhaltet eine Bezugsgröße für die Kalkulation von Einkommen. Die Diskussion dieser Frage in einem Modell mit heterogenen Kapitalgütern erbringt ein eindeutiges Resultat: es gibt keine skalare Größe "Kapital" in einer mengenmäßigen Bedeutung, die unabhängig von Preisen und Verteilung definierbar ist.9 Diesbezüglich ist es also nicht möglich, ein neoklassisches Makro-Modell zu konstruieren. 10 Wohl aber kann der Preisausdruck des Kapitalstocks für eine gegebene Verteilung (z.B. Profitrate) berechnet werden; er verändert allerdings seine Größe bei einer Veränderung der funktionellen Verteilung. Gleichzeitig ist es auch möglich, mehrere Techniken hinsichtlich ihrer Profitabilität zu vergleichen. II Im allgemeinen ergibt sich nach Robinson, daß bei gegebener Hierarchie der Techniken ein höherer Lohnsatz mit einer höher mechanisierten Technik verbunden ist, - also der traditionelle Zusammenhang wie in der makroökonomischen Produktionsfunktion. Allerdings gäbe es eine Ausnahme, sie wird im Anhang kurz erwähnt: einen Bereich, wo eine sinkende Profitrate mit einem sinkenden Mechanisierungsgrad verbunden ist. Gleichzeitig kann es auch zu einer Wiederkehr einer Technik' kommen. 12 Damit wurde der zweite Fragenkomplex erstmals problematisiert, wenngleich dem "perversen " Fall von der Autorin nur ein geringer Stellenwert eingeräumt wird.
10.
(Drei Antworten darauf) Die Antworten der 'Verteidiger' der Neoklassik13 in dieser ersten Phase der Auseinandersetzungen können vereinfacht in drei Kategorien eingeteilt werden: 1 - "Kapital" wird expressis verbis - in der Tradition von Clark und Ramsey als homogen definiert (Clark-Ramsey-Parabel). 14 Es besteht aus "Elementarteilchen", welche kostenlos und ohne Zeitaufwand in jede beliebige Form trans-
Die Konsistenz-Debatte in der neoklassischen Theorie
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forrnierbar sind_ Dies kann auch als Annahme der "Formbarkeit" von Kapital bezeichnet werden (melleability assumption).lS Die Heterogenität von Kapitalgütern wird damit schlichtweg wegdefiniert. 16 Ein Makro-Modell mit dieser Annahme ist de facto ein Ein-Gut-Modell; das einziges Gut ist für produktive und konsumlive Zwecke verwendbar. Der relative Preis der 'Elementarteilchen' und des Outputs ist unabhängig von Verteilungsvariationen. Preise sind hier irrelevant; alle interessierenden Preis-Beziehungen (wie die Profitrate als Verhältnis der Profitsumme zum Wert des eingesetzten Kapitals) lassen sich als reine Mengengrößen auffassen. Ein Bewertungsproblem von "Kapital" existiert nicht und "Kapitalparadoxa", welche den unter Fragenkomplex 2 erwähnten Zusammenhängen widersprechen, können ex defmitione nicht auftreten. Modelle dieser Art werden im folgenden als theoretisch uninteressant betrachtet und aus der weiteren Debatte ausgeschieden. 2 - die diskutierten Probleme der Messung von "Kapital" werden als empirische Probleme verstanden.I 7 Auch diese Kategorie wird im folgenden außer acht gelassen, weil sie offenbar keine adäquate Antwort auf die oben angesprochenen Fragen liefern kann: sie betreffen grundlegende kategorale Probleme der Theoriebildung und grundsätzliche Theoreme; - somit Fragen, die geklärt sein müssen, bevor Fragen des empirischen Testens einer Theorie ins Blickfeld rücken. Beide Fragenkomplexe sind eindeutig hierarchisch geordnet: zuerst kommen Probleme einer theoretisch-konzeptionellen Ebene. Probleme empirischer Art liegen auf einer ganz anderen und nachgeordneten Ebene; hier kann keinerlei Gegenargument gegen Probleme der ersten Ebene formuliert werden. 18 3 - Damit komme ich zur dritten Kategorie. Sie beinhaltet eine Neuinterpretation der makroökonomischen Produktionsfunktion, welche in der Folgezeit allgemein, und zwar sowohl von den Kritikern der neoklassischen Makro-Modellen als auch von den 'Verteidigern', akzeptiert wurde. Die makroökonomische Produktionsfunktion wird jetzt als das Ergebnis einer optimalen Technik-Wahl aus einer unendlichen Anzahllinear-limitationaler Produktionsprozesse angesehen. Der Ausgangspunkt sind lineare Zusammenhänge in der Produktion; Substitutionalität erscheint erst, wenn die Ergebnisse optimaler Auswahlentscheidungen von Techniken einander gegenübergestellt werden. Es gibt hier heterogene und produzierte Kapitalgüter und (bei der Beschreibung der Technikwahl-Ergebnisse) keinen Mengen-Index "Kapital". Dies ist der Hauptunterschied zum üblichen Verständnis der makroökonomischen Produktionsfunktion. Die Hauptgemeinsamkeit der beiden Interpretationen bezieht sich auf die in Ziffer 5 erwähnten Zusammenhänge, die in beiden Interpretations-Varianten gelten; - in der Neuinterpretation für die jeweils optimalen Techniken als Ergebnisse des
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Die Konsistenz-Debatte in der neoklassischen Theorie
Auswahlverfahrens. Sowohl die alte als auch die neue Interpretation zeigen also eine eindeutige Reihung von Techniken anband ihrer ProfitabilitäL Die neue Interpretation der makroökonomischen Produktionsfunktion ist für meine Arbeit relevant, weil sie die Konstruktion eines systematischen Zusammenhanges des Sraffa-Modells mit der makroökonomischen Produktionsfunktion erlaubt. Der prominenteste Autor dieser Interpretation ist Samuelson 1962a (siehe unten).l9
11. (Sraffa 1960) Das Erscheinen von Sraffas "Warenproduktion mittels Waren" im Jahre 1960 markiert den Beginn der eigentlichen Kapitalkontroverse.20 Sraffa nimmt hier allerdings nicht direkt Stellung; die Auseinandersetzung ist- von Nebenbemerkungen abgesehen21 - indirekter Art, indem Modelle konzipiert werden, in welchen weder ein Aggregat "Kapitai"22 noch die in Ziffer 8 erwähnten Zusammenhänge vorkommen. Letztere beziehen sich auf Modelle mit mehreren Techniken. Dieser Fragenkomplex wird von Sraffa im Kapitel XII (Wechsel in den Produktionsmethoden) behandelt und zwar zuerst für Nichtbasisprodukte (Ziffer 92) und dann für Basisprodukte (Ziffer 93ft). In beiden Fällen ist eine Wiederkehr von Techniken möglich: d.h. ein und dieselbe Technik kann bei zwei unterschiedlichen Profitraten die profitabelste sein, auch wenn in einem Zwischenbereich der beiden Profitraten andere Techniken profitabler sind.23 Damit gibt es keine monotone Ordnung von Techniken hinsichtlich ihrer Profitabilitäl. Die Konstruktion eines Mengenmaßes von Kapital ist unmöglich und die in Ziffer 8 genannten Zusammenhänge treten nicht auf. Sraffas Verdienst ist es, Reswitching-Phänomene erstmals als modellmäßige Normalfälle betrachtet zu haben: sie stehen im Zentrum seines Modells und werden mit keinen Ausdrücken wie "pervers" oder "anomal" belegt 12. (Samuelson 1962a: I. Das Preismodell) Diese Überlegungen gelten für das Sraffa-Modell; von vielen als neoricardianisches Modell bezeichnet Was hat all das mit neoklassischen Modellen zu tun, die ja bekanntlich auf ganz anderen Prämissen beruhen? Diese Frage ist prinzipieller Art und für das weiteres Argument wichtig; eine Antwort fmdet sich in Kapitel 3. Hier beschränke ich mich vorläufig darauf, die von Samuelson vorgeschlagene Neuinterpretation der makroökonomischen Produktionsfunktion zu skizzieren (Samuelson 1962a).24 Samuelson geht dabei, so schreibt er, von einem Modell "of modern linear and more generat programming" (S. 193) aus. Dieses Modell wird im Anhang seines Papers konkretisiert; in der Terminologie unserer Arbeit handelt es sich um die Variante eines Sraffa-Modells mit zwei Sektoren und nur einem Basisprodukt. Die Preisgleichungen sind: 25 a 1 ( 1 + r ) PI + wl1 = PI
Die Konsistenz-Debatte in der neoklassischen Theorie
a2 ( 1 + r ) Pt + wl2
= P2
Gut 1 bezeichnet das Kapitalgut (Basisprodukt), Gut 2 das Konsumgut (Nichtbasisprodukt). a 1 und a 2 bezeichnen die Einsatzkoeffizienten des Kapitalgutes im 1. und 2. Sektor.26 Für den Numeraire P2 = 1 gilt folgende Lohnkurve:27
w
=
1 - a 1 ( 1 + r)
Diese Kurve ist (zwischen den positiven Maximalwerten w* = (1- at) I (h + (a2l1 - a1l2) (1+r)) für r =0 und R =(1-at) I a11 für w =0) negativ geneigt; ihr Kurvenverlauf hängt von den technischen Koeffizienten ab. Es gilt: 28 für Tl < 1 ist die Lohnkurve konkav (vom Ursprung aus), für Tl = 1 ist sie eine Gerade und für Tl> 1 ist sie konvex; wobei Tl als das Verhältnis von a2 I l2 zu a1 I lt definiert ist. Tl bezeichnet also das Verhältnis der "Kapitalintensitäten" der beiden Sektoren. Samuelson analysiert nun "a special subdass of realistic cases" (S. 196), nämlich den Fall, wo Tl gleich Eins ist 29 In diesem Fall ist die Lohnkurve eine Gerade.
13 . (II: Grafische Darstellung) Die weiteren Überlegungen erfolgen anband von Abbildung 2. Im linken Teil (a) sind die Lohnkurven dreier verschiedener Techniken a, ß und 'Y eingetragen; annahmegemäß haben sie alle einen linearen Kurvenverlauf. In jeder Technik gibt es nur ein einziges Kapitalgut (also homogenes Kapital). Die Heterogenität von Kapital kommt durch die Annahme ins Spiel, daß sich die EinsatzkoeffiZienten für den Produlctionsprozeß des Kapitalgutes im Wechsel der Techniken ändern30 und das Kapitalgut Alpha (es gehört zur Technika) sich physisch von Kapitalgut Beta (aus der Technik ß) unterscheidet. (Alle Techniken produzieren jeweils das gleiche homogene Konsumgut; der Reallohn wird in Einheiten dieses Gutes gemessen). Aus Abbildung 2 (a) ist ersichtlich, daß im Übergang von a zu ß und zu 'Y der KoeffiZient a 1 ansteigt (vgl. die Formel für die maximale Profitrate R). D.h. "beta is a more 'round-about mechanized time-intensive' process than alpha" (S. 198). Die Auswahl der Techniken erfolgt nach dem üblichen Profitabilitätskriterium: im Gleichgewicht wird stets die kostengünstigste Technik eingesetzt. Dies entspricht der Wahl der Technikaufgrund der Konkurrenzannahme: bei gegebener Profitrate r wird jeweils jene Technik gewählt, die mit dem höchsten Lohnsatz w (hier sowohl Real- als auch Nominallohn) verbunden ist Die Ergebnisse der Technikwahl liegen also auf der äußeren Umhüllenden aller Lohnkurven. Samuelson nennt diese Kurve "Faktorpreisgrenze", sie repräsentiert "the steady
'
'
>
.. r
' (b)
::=::>
_.r
Abbildung 2: Die Vorgangsweise von SAMUELSON 1962a
(a)
'
w
w
ß
Factor Price Frontier
Factor Price Curve
"(
(c)
~------------~1/L
Q/L
Surrogate Production Function
~
sg.
;l
F
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~
s·
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N
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8
~
!;;l
Die Konsistenz-Debatte in der neoklassischen Theorie
29
state configurations of equilibrium real wage and interest rate" (S. 195). In Analogie dazu werden die Lohnkurven "Faktorpreiskurven" genannt. Insgesamt ergibt sich eine monotone Ordnung der optimalen Techniken im Hinblick auf die Profitrate (Zinssatz): bei sukzessiv steigendem r wird zuerst Technik y, dann Technik J3 und schließlich (bis zum Maximalwert Ra ) Technik a eingesetzt. Da es hier nur drei Techniken gibt, besteht die Faktorpreisgrenze aus einem Streckenzug mit drei Geraden (in Abb. 2 (b) strichliert eingezeichnet).
14. (III: Surrogate Production Function) Samuelson macht nun einen Gedankensprung und postuliert die Existenz einer üblichen makroökonomischen Produktionsfunktion, wobei "Kapital" explizit als physisch homogen definiert und als "Jelly" bezeichnet wird (der Wert des Kapitals, gemessen in Jelly-Einheiten wird mit dem Buchstaben J symbolisiert). Dies ist in Abbildung 2 (c) eingetragen (ausgezogene Kurve. QIL ist der Pro-Kopf-Output, J/L die "Kapitalintensität"). Hier gilt die Grenzproduktivitätstheorie und jede Technik, dargestellt durch ihre "Kapitalintensität", ist mit einem bestimmten Reallohn w und einem bestimmten Zinssatz r assoziiert. Überträgt man diesen Zusammenhang in Abbildung 2 (b), so ergibt sich die dick eingetragene Kurve (Samuelson nennt sie "surrogate frontier"). Samuelson vergleicht nun beide Kurven: "Note how generally similiar are the Frontiers of Fig 2b (hier: strichlierte Linie in Abb 2b) and Fig. 4b (hier: dick eingetragene Linie in Abb. 2b), even though the former has been rigorously derived from a defmetely heterogeneous capital-goods model and the latter from the neoclassical fairy tale (gemeint ist die Clark-Ramsey-Parabel). Indeed if we invent the right fairy tale, we come as close as we like to duplicating the true blue-print reality in all its complexity. The approximating neoclassical production function is my new concept of the Surrogate Production Function. ... But what is the interpretation of capital jelly J that all this presupposes? This can be called the Surrogate (Homogeneous) Capital that gives exactly the same result as does the shifting collection of diverse physical capital goods in our more realistic model (above)"' (S. 201).
15. (IV: Idente Kapitalintensität) Der springende Punkt bei dieser neuen Rechtfertigung der makroökonomischen Produktionsfunktion liegt in der Annahme von identen Kapitalintensitäten Tl in allen Techniken. Sie garantieren gerade Faktorpreiskurven, eine konvexe Faktorpreisgrenze sowie eine "wellbehaved production function", wo die in Ziffer 8 genannten Zusammenhänge gelten.31 Nur in diesem Fall ist eine eindeutige Ordnung der Techniken nach ihrer Profitabilität möglich, weil hier sowohl der relative Preis als auch der Wert des Kapitalstocks jeder Technik von Verteilungsvariationen unabhängig ist.32 Samuelsons Modell garantiert Kapital unabhängig von Preisen und Verteilung und verbleibt - nachdem alle Techniken das gleiche Konsumgut er-
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Die Konsistenz-Debatte in der neoklassischen Theorie
zeugen-de facto innerhalb der "Jelly-Welt" der Makro-Mcxlelle.33 Wird die Annahme konstanter Kapitalintensitäten nicht getroffen, so sind im allgemeinen "perverse" Fälle, wie die Wiederkehr von Techniken auf der Faktorpreisgrenze (Reswitching) oder eine Zunahme des Kapitalwertes bei einer Erhöhung der Profitrate (Capital Reversing, definiert in der Umgebung von Switch-Punkten auf der Faktorpreisgrenze)34 möglich. Ich fasse zusammen: Die von Samuelson vorgelegte Neuinterpretation der makroökonomischen Prcxluktionsfunktion ist mcxlellmäßig nur unter der Annahme gleicher sektoraler Kapitalintensitäten konstruierbar.35
16.
(Diese Analyse in einem Sraffa-Modell) All dies gilt für ein zweisektorales Modell mit einem Basis- und einem Nichtbasisprcxlukt Offensichtlich kann eine ähnliche Analyse in Mcxlellen mit einer beliebigen Anzahl von Basisund Nichtbasisprcxlukten durchgeführt werden. Tatsächlich wurde in der Kapitalkontroverse mit sehr unterschiedlichen Mcxlellen argumentiert Im folgenden wollen wir uns auf ein einziges Mcxlell beschränken, in welchem die Hauptproblematik klar hervortritt. Welches Mcxlell ist dazu am besten geeignet? Zuallererst können wir ein reines Nichtbasis-Modell ausscheiden, weil dabei der Grundgedanke von prcxluzierten Kapitalgütern verloren geht.36 Als zweites vergleichen wir "gemischte" Modelle (d.h. Modelle mit Nichtbasis- und Basisprcxlukten) mit "reinen" Basisprodukt-Modellen {d.h. mit unserem Sraffa-Modell nach der Definition von Ziffer 3). Für Modelle dieser Art kann gefragt werden, welche Art der Interaktionen relevanter ist: diejenige zwischen dem Nichtbasisprodukt-Teil mit dem Basisprcxlukt-Teil eines "gemischten" Modells cxler diejenigen innerhalb des Basisprodukt-Teiles alleine. 37 Die Antwort ist eindeutig: weil der Basisprodukt-Teil der preistheoretische Kern der von Sraffa entworfenen Mcxlelle ist, sind die von diesem Teil beschriebenen Interaktionen relevanter als die Interaktionen mit dem Nichtbasisprodukt-Teii.38 Daraus folgt, daß es sowohl zulässig als auch wünschwenswert ist, die Kapitalkontroverse auf ein Sraffa-Modell unserer Definition zu beziehen. Mit anderen Worten: die von Champemowne und Samuelson vorgelegte Neuinterpretation der Makro-Modelle gilt auch für ein Sraffa-Modell. Tatsächlich wird diese Vorgangsweise der Problemstellung mehr gerecht, weil ein relevanteres Modell als das der beiden Autoren Verwendung findet. 39 Wir interpretieren nun das Sraffa-Modell als Darstellung der von Samuelson vorgelegten Interpretation der makroökonomischen Produktionsfunktion und stellen an dieses Modell die beiden Fragen aus Ziffer 8. Welche Antworten ergeben sich hier?
Die Konsistenz-Debatte in der neoklassischen Theorie
31
m...l: Eine skalare Größe "Kapital" als Mengenausdruck unabhängig von Preisen und Verteilung ist nicht definierbar; sie ist für ein Sraffa-Modell bedeutungslos. Die in den Makro-Modellen enthaltenen Zusammenhänge zwischen Mengengrößen und Verteilungsgrößen- sie alle basieren auf der Annahme einer eindeutigen Ordnung von Techniken nach ihrer ProfiLabilität - sind in der Neuinterpretation der Makro-Modelle mittels eines Sraffa-Modells (genauer: einer Abfolge von Sraffa-Modellen) nur dann möglich, wenn die Mengensysteme aller Sraffa-Modelle den in Ziffer 6f. genannten Spezialfällen gehorchen. 40 Gelten diese Spezialfalle (in Bezug auf die Technik und I oder in Bezug auf das Aktivitätsniveau) nicht. dann kann die von Champernowne und Samnelson vorgeschlagene Neuinterpretation der Makro-Modelle nicht konsistent formuliert werden. 41 lobesondere ist auch eine Nachfragefunktion nach Kapital nicht defmierbar. ~:
All dies bezieht sich nicht nur auf die Makro-Modelle per se,42 sondern auch auf alle jene Varianten der neoklassischen Theorie, die mit einem aggregierten Kapitalbegriff arbeiten und I oder wo beispielsweise eine makroökonomische Produktionsfunktion Verwendung findet. Beispiele dafür sind die makroökonomische Verteilungstheorie,43 die Beschäftigungstheorie,44 die Wachstumstheorie45 und die Außenhandelstheorie46 (und insbesondere allen damit verbundenen wirtschaftspolitischen Folgerungen).47 Soweit zur Relevanz der Debatte.
17. (Resümee der 'Angreifer' und der 'Verteidiger') Die abschließende Einschätzung der Kapitalkontroverse flUlt naturgemäß bei 'Angreifern' und 'Verteidigern' unterschiedlich aus. a) Aus den eben erwähnten Antworten ziehen die meisten 'Angreifer' (NeoKeynesianer, Srafftaner, Neo-Ricardianer) folgenden Schluß: 1 - Es gibt kein skalares "Kapital" (und alle damit verbundenen Begriffe) in einer Mengen-Bedeutung.48 2 - Die Makro-Modelle sind inkonsistent
b) Die Reaktionen der 'Verteidiger' (Neoklassiker, Neo-Neoklassiker) sind unterschiedlicher Art. Allgemein werden die formalen Resultate der Kapitalkontroverse akzeptiert In der Interpretation ihrer theoretischen Bedeutung werden allerdings verschiedene Standpunkte eingenommen. Vereinfacht lassen sich drei Gruppen identifiZieren:
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Die Konsistenz-Debatte in der neoklassischen Theorie
1 - Die Bedeutung der Ergebnisse wird bestritten, weil empirisch das Vorhandensein von Reswitching-Phänornenen entweder ungewiß49 oder widerlegt sei.5° Argumente dieser Art sind (wie in Ziffer 10/2) prinzipiell zurückzuweisen: empirischen Argumenten kommt keinerlei Relevanz bei der Diskussion formal-logischer Problerne einer Theorie zu. Zuerst muß eine Theorie logisch korrekt formuliert sein, erst dann darf empirisch argumentiert werden. 51
2 - Solows Versuch, neoklassische makroökonomische Gedanken in einem Ansatz neu zu formulieren, bei dem auf jeden Begriff von aggregiertern Kapital verzichtet wird. Im Mittelpunkt seines Ansatzes steht das Konzept einer "social rate of return of investrnent". Diese Interpretationsvariante bleibt im folgenden unberücksichtigt. Es handelt sich hier um einen Nebenstrang der Debatte, welcher in einer Reflexion über die Hauptargumente der Kapitalkontroverse vernachlässigt werden kann.52 3- Damit komme ich zur dritten Kategorie. Sie ist die wichtigste für den aktuellen Stand der Debatte und hat mittlerweilen unter den neoklassischen Autoren anscheinend die Vorherrschaft errungen. Ihre Vertreter akzeptieren im wesentlichen die Argumente der 'Angreifer•53 (ebenso die dazu notwendige Neuinterpretation der Makro-Modelle), konstatieren aber, daß die gesamte Kapitalkontroverse ohne Belang für den eigentlichen "Kern" der neoklassischen Theorie in toto sei: dies sei die allgerneine Gleichgewichtstheorie in der Nachfolge von Walras. Nachdem diese Theorie 1) keinen Begriff von aggregiertern Kapital kennt, sondern alle Inputs in den Produktionsprozeß stets in disaggregierter Weise beschreibt, und 2) keine Aussage über eine monotone Ordnung von Techniken gemäß ihrer Profilabilität {bzw. andere in Ziffer 8 genannte Zusammenhänge) trifft, sei die gesamte, in der Kapitalkontroverse diskutierte Problematik für die allgerneine Gleichgewichtstheorie vollkommen irrelevant Mit anderen Worten: zwischen den Makro-Modellen und der allgerneinen Gleichgewichtstheorie wird ein scharfer Trennungsstrich gezogen und beide Modell-Typen als zwei prinzipiell getrennte Klassen von Modellen verstanden, zwischen denen keine systematisch-theoretische Verbindung existiert Die allgemeine Gleichgewichtstheorie sei damit, so das Argument, von all den logischen Problernen der Kapitalkontroverse unberührt und die Debatten in der Kapitalkontroverse können nicht auf die Kerngedanken neoklassischer Theoriebildung, wie sie in der allgerneinen Gleichgewichtstheorie zu finden sind, angewandt werden.54
Die Konsistenz-Debatte in der neoklassischen Theorie
33
Von diesem unversehrten Kern55 kann nun eine Gegenattacke eröffnet werden. Sie besteht darin, die Theorie von Sraffa als Spezialfall der neoklassischen Gleichgewichtstheorie anzusehen, weil nämlich das allgemeine Gleichgewicht unter bestimmten Bedingungen zu einem Sraffa-Modell reduziert werden könne.S6 Dies unterstreiche die Wirkungslosigkeit einer logischen Kritik der Neoklassik via Sraffa-Modell: nachdem die allgemeine Gleichgewichtstheorie keine Konsistenz-Problematik aufweist, sei es unmöglich, ihre formale Struktur mittels des Sraffa-Modells - als eines sehr speziellen Teilmodells der Gleichgewichtstheorie- in Frage zu stellen. Wohl aber begründe die allgemeine Gleichgewichtstheorie eine fundierte Kritik an Sraffas Ansatz: sie sei der weitgespannte Rahmen für die ökonomische Theoriebildung, das Sraffa-Modell dagegen lediglich ein irrelevanter SpezialfalL
18. (Die Sraffa-Theorie als Spezialfall der allgemeinen Gleichgewichtstheorie) Die Ansicht, die Sraffa-Theorie als Spezialfall der allgemeinen Gleichgewichtstheorie zu interpretieren, wird in zwei Varianten vorgetragen: a) Die erste Variante bezieht sich auf ein einfaches atemporales Gleichgewicht. Hier wird mit dem Non-Substitutionstheorem argumentiert Es besagt, daß die kostengünstigste Technik - und damit auch ihre Preise - unabhängig von der Endnachfrage (den Präferenzen) bestimmt werden kann, wenn konstante Skalenerträge vorliegen, nur ein primärer Faktor und keine Kuppelproduktion existiert.S7 Die Wahl der Technik und die Preise der gewählten Technik hängen hier nur von der funktionalen Einkommensverteilung ab und können nicht als Ausdruck individueller Präferenzen interpretiert werden. Dies treffe auch für ein Sraffa-Modell zu;S8 es sei deshalb als spezielles neoklassisches GleichgewichtsmodeUS9 bei Gültigkeit des Non-Substitutionstheorems zu verstehen.60 b) Die zweite Variante ist präziser. Sie bezieht sich auf eine spezielle Klasse von Modellen innerhalb der allgemeinen Gleichgewichtstheorie, nämlich auf intertemporale Allokationsmodelle mit produzierten lnputgütem.6 1 Ein bekanntes Modell dieser Kategorie ist das Modell von Hahn (Hahn 1982). In diesem Modell - mit einem Gegenwarts- und einem Zukunftsmarkt - besitzt jedes Gut entsprechend seiner spezifischen Angebots- und Nachfragekonstellation einen eigenen Zinssatz als Quotient aus Gegenwarts- und Zukunftspreis. Eine Sraffa-Preisgleichung (mit gleichem Aufschlagsatz in allen Sektoren, jetzt verstanden als einheitlicher Zinssatz - bzw. als Rate der Eigenverzinsung - für alle Güter) gilt nur bei einer ganz speziellen Konstellation zwischen Gegenwartund Zukunftsmärkten, wo alle Zukunftspreise proportional den Gegenwartspreisen sind. Das Sraffa-Modell ist somit ein Spezialfall der allgemeinen Gleichge-
34
Die Konsislenz-Debatte in der neoklassischen Theorie
wichtstheorie; eine logische Kritik an der Neoklassik - definiert als allgemeine Gleichgewichtstheorie - sei damit unmöglich. (Das Modell von Hahn wird in Kapitel 3 ausführlicher beschrieben; es spielt für mein Hauptargument eine wichtige Rolle).
19. (Die Antworten der 'Angreifer' dazu) Von Seiten der 'Angreifer' wird in Bezug auf diese Standpunkte unterschiedlich argumentiert Zum einen wird offensichtlich das generelle Argument akzeptiert, die Kapitalkontroverse beziehe sich nicht auf die allgemeine Gleichgewichtstheorie.62 Im Bezug auf diesen allgemeinen Standpunkt scheint es bis dato eine Übereinstimmung zwischen 'Angreifern' und 'Verteidigern' zu geben. Zum anderen werden jedoch die konkreten Argumente beider Varianten in Frage gestellt. Zu der ersten Variante wird eingewandt, die produktionstechnischen Einschränkungen des Nonsubsitutionstheorems (siehe oben) seien für den klassischen Modelltyp irrelevant (z.B. gibt es bei Sraffa eine entwickelte Theorie von Kuppelprodukten). 63 Ihre Relevanz gelte ausschließlich der neoklassischen Theorie, indem nämlich die Bedingungen explizit gemacht werden, unter denen Präferenzen keinen Einfluß auf die Preise haben. Dies sei dann der Fall, wenn die Einkommensverteilung exogen vorgegeben wird.64 Eine derartige Annahme widerspricht allerdings der allgemeinen Gleichgewichtstheorie, wo die Einkommensverteilung simultan mit den Preisen bestimmt wird. Dazu sind Präferenzen unabdingbar. Im klassischen Modellen hingegen gebe es ein eindeutig geordnetes Prozedere: zuerst wird die Einkommensverteilung bestimmt (und zwar ohne Rekurs auf Präferenzen); die Theorie der relativen Preise baut darauf auf (und gilt stets für die- bereits vorher bestimmte- Verteilungskonstellation). Zur zweiten Variante wenden die 'Angreifer' im wesentlichen ein, daß hier ein grundsätzliches Mißverständnis über die klassische Basis des Sraffa-Modells vorliegt. Es gäbe zwar gewisse formale Ähnlichkeiten des Sraffa-Modells mit neoklassischen Modellen, beide beruhen jedoch auf gänzlich anderen Visionen. Ein bekanntes Beispiel sei der verwendete Gleichgewichtsbegriff. Während die allgemeine Gleichgewichtstheorie kurzfristige Gleichgewichte analysiere, sei die klassische Theorie - wie das Modell von Sraffa - an der Analyse längerfristiger Gleichgewichtspositionen (gekennzeichnet durch den Ausgleich der sektoraler Profitraten ) interessiert. Von daher sei umgekehrt die (kurzfristige) neoklassische Sichtweise als Spezialfall der (langfristigen) klassischen Sichtweise zu verstehen.6S
20.
(Ausblick) Ein Ziel der vorliegenden Arbeit ist es, diese Argumente - und zwar sowohl der 'Angreifer' wie der 'Verteidiger'- in einerneuen Perspektive zu
Die Konsistenz-Debatte in der neoklassischen Theorie
35
beleuchten. Insbesondere soll der Versuch unternommen werden, auf die Gegenattacke der Neoklassiker eine neue Antwort zu geben. Es soll gezeigt werden, daß die Konsistenz-Problematik der Makro-Modelle sehr wohl auch auf die allgemeine Gleichgewichtstheorie bezogen werden kann, weil ein systematisch-theoretischer Zusammenhang zwischen den beiden Modelltypen existiert. Dazu ist es notwendig, zuerst einige grundsätzliche methodische Fragen zu klären. Dies soll in Kapitel 3 geschehen. Bevor ich damit beginne, wende ich mich der zweiten großen Konsistenz-Debatte im Zusammenhang mit der Theorie von Sraffa zu: der Debatte um das Transformationsproblem in der ökonomischen Theorie von Marx.
2. Die Konsistenz-Debatte in der Marxschen Theorie 2 1 • (Die Vorgangsweise in diesem Kapitel) Im vorigen Kapitel habe ich
mich bemüht, die Grundgedanken der Kapitalkontroverse in einem kurzen historischen Abriß zu skizzieren und die wichtigsten Schlußfolgerungen festzuhalten. Die Vorgangsweise in diesem Kapitel ist anderer Art. Bevor in die Debatte um das Transformationsproblem (als formales Problem der Marxschen Theorie) eingestiegen werden kann, muß nämlich geklärt werden, was eine "Marxsche Theorie" ist Dies kann aus der Literatur nicht abgeleitet werden: es gibt keinerlei Konsens darüber, was eigentlich eine "Marxsche" Theorie ist oder was eine solche von anderen Theorien unterscheidet und es gibt auch keinen Konsens darüber, was die wichtigsten Schlußfolgerungen aus der Transformationsdebatte sind. Aus diesem Grunde soll im folgenden vorerst mein eigenes Verständnis einiger Aspekte der Marxschen ökonomischen lbeorie skizziert werden, welche für die Transformationsdebatte aus meiner Sicht relevant sind. 1 Diese Vorgangsweise ist gerade für eine Konsistenz-Debatte angebracht. In Kapitel 3 wird argumentiert, daß der Begriff Konsistenz in beiden Debatten in einem konditionalen Sinn zu verstehen ist. D.h. die Gültigkeit oder NichtGültigkeit bestimmter Anforderungen an das Modell (z.B. die Profitrate in Arbeitswerten soll der Profitrate in Preisen gleich sein) entscheidet darüber, ob ein Modell als konsistent oder als inkonsistent zu bezeichnen ist. Damit reduziert sich die Konsistenz-Debatte letztlich auf eine Debatte um die Gültigkeit einer bestimmten Interpretation der Theorie, wo das Vorhandensein bestimmter Bedingungen als 'genuin' für das jeweilige Paradigma angesehen wird. In einem solchen Problemverständnis ist es hilfreich, eine explizite Definition dessen anzugeben, was als 'genuin' für die jeweilige Theorie angesehen wird.
2 2 • (Formale und dialektische Logik) Die in dieser Arbeit vertretene Defini-
tion der "Marxschen Theorie" basiert auf einer grundlegenden methodischen Vorentscheidung. Bekanntlich behaupten viele Autoren, die sich selbst als Marxisten bezeichnen, ein charakteristis\;hes Merkmal der ökonomischen Theorie von Marx sei die Verwendung einer 'dialektischen Methode'.2 Demgegenüber3 nehmen viele Teilnehmer der Transformationsdebatte auf die 'dialektische Methode' überhaupt nicht Bezug.4 Sie entwerfen formal-logische Model-
Die Konsistenz-Debatte in der Marxschen Theorie
37
le, welche als genuin Marxsche Modelle verstanden werden, ohne daß dabei die angewandte Methode explizit thematisiert wird. 5 Die Marxsche Theorie erscheint hier als "positive" Theorie; ein prinzipieller methodischer Unterschied zu anderen Theorien ist nicht erkennbar.6 Offenbar sind die beiden divergierenden Standpunkte für eine KonsistenzDebatte von entscheidender Bedeutung. Wird die ökonomische Theorie von Marx als 'dialektische' Theorie verstanden, so ist die Frage einer rein formalen Konsistenz der Theorie zweitrangig. Mehr noch: von Vertretern dieser Sichtweise wird das Auftreten einer formalen Inkonsistenz sogar als Beleg für das Vorhandensein einer 'dialektischen Methode' herangezogen,7 worin das systematische Vorhandensein von "Widersprüchen" behauptet wird. 8 Demgegenüber gilt im zweiten Standpunkt das Kriterium der formalen Konsistenz. Eine Konsistenz-Debatte, d.h. eine Überprüfung der formalen Strukturen Marxscher Modelle, ist nach diesem Standpunkt eminent wichtig. Sie entscheidet letzlieh darüber, ob diese Modelle den formalen Voraussetzungen für eine ökonomische Theorie genügen. Eine Abklärung der beiden Standpunkte kann hier nicht unternommen werden; dies würde eine eigene runfangreiche Studie erfordern. Ich gehe in dieser Arbeit vom zweiten Standpunkt aus und argumentiere in der Tradition alljener Autoren, welche die "Marxsche Theorie" als positive, formal darstellbare Theorie behandein.9 Gleichzeitig soll darauf aufmerksam gemacht werden, daß es mir nicht um die Darstellung der "Marxschen Theorie" in toto geht, sondern nur jenes Teils der "Marxschen Theorie", den ich für die Thematik meiner Arbeit als relevant erachte. Es wird kein Gesamtbild über 'Das Kapital' entworfen und es wird auch nicht argumentiert, in welcher Weise dieser Teil mit anderen - hier nicht behandelten - Teilen im Gedankengebäude von Marx zusammenhängt 10 Die Begriffe "Marxsche Theorie" oder "Marxsches Paradigma" in meiner Arbeit beziehen sich nur auf die explizit hier definierten Teile des 'Kapital' und sind inuner unter dieser Einschränkung zu verstehen.
Hauptaspekt meiner Darstellung ist die Zuordnung Marxscher Begriffe (sie werden stets als formale Begriffe gedeutet) im Hinblick auf ihre Meßdimensionen. Dieser Aspekt ist flir die Konsistenz-Thematik von besonderem Interesse. Andere Aspekte (wie z.B. der gesellschaftliche Bedeutungsinhalt der Begriffe) werden vorausgesetzt und nicht eigens erwähnt
2 3 • (Die sechs Bausteine) Die ökonomische Theorie von Marx wird in dieser Arbeit anband von sechs 'Bausteinen' defmiert, welche für die Transformations-
38
Die Konsistenz-Debatte in der Marxschen Theorie
debatte unmittelbar relevant sind. Diese sechs Bausteine bilden ein miteinander verbundenes Argument. Sie werden von Marx nacheinander in einer streng hierarchischen Abfolge entwickelt, wobei jeder Baustein alle vorhergehenden enthält. Die Basis dieses Arguments ist die Werttheorie von Marx; sie ist für mich ein unverzichtbarer Bestandteil einer "genuin Marxschen Theorie". Sie ist der zentralste Gedanke von Marx und wird von ihm gleich zu Beginn des 'Kapital' entwickelt. "Die späte wissenschaftliche Entdeckung, daß die Arbeitsprodukte, soweit sie Werte, bloße sachliche Ausdrücke der in ihrer Produktion verausgabten menschlichen Arbeit sind, macht Epoche in der Entwicklungsgeschichte der Menschheit." (1/1/1, S. 53).
Jede Theorie, die zwar andere Elemente von Marx berücksichtigt, nichtjedoch seine Werttheorie, wird in dieser Arbeit als nicht-Marxsche Theorie defmiert. Um Mißverständnisse zu vermeiden, soll gleich eingangs festgehalten werden, daß es hier um eine Rekonstruktion von Gedanken von Marx und nicht um eine inhaltliche Beurteilung der Marxschen Theorie als brauchbarer und plausibler ökonomischer Theorie geht. (Derselbe Standpunkt wird auch in Bezug auf die neoklassische Theorie eingenommen.) Vgl. dazu auch die Unterscheidung nach einer externen und einer internen Kritik einer Theorie, wie sie zu Beginn des 3. Kapitels getroffen wird. Es geht in meiner Arbeit ausschließlich um eine interne Kritik der neoklassischen bzw. Marxschen Theorie auf dem Boden des jeweiligen Paradigmas und nicht um eine externe Beurteilung, insbesondere ihrer Werttheorien. Argumente dieser Art sind nicht Gegenstand meiner Arbeit.
Die sechs Bausteine sind: 11 1) die Werttheorie (111!1); 2) die Theorie der Kapitalzirlculation ()./l/4); 3) die Mehrwerttheorie Q.!l/4 und 1/3/5); 4) die Theorie des Kreislaufes des Geldkapitals {II/1/1); 5) die Theorie des Reproduktionsprozesses des Kapitals {11/3/18 und 20); sowie schließlich 6) die Theorie der Produktionspreise {111/2!9).
Im folgenden werden diese sechs Bausteine im Nachvollzug des Gedankengangs im 'Kapital' sowohl inhaltlich als auch in Bezug auf formal-logische Elemente entwickelt 12 Im Nacheinander der sechs Bausteine wird schrittweise ein Gesamtmodell konzipiert, welches in meinem Marx-Verständnis als genuin Marxsches Gleichgewichtsmodell anzusehen ist 13 Ziel meiner Ausführungen ist auch eine theoretische Fundierung des üblichen Schemas mit Mengen, Arbeitswerten und Preisen. In diesem Schema wird dann das Transfonnations-
Die Konsistenz-Debatte in der Marxschen Theorie
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problern dislcutiert. Am Ende des Kapitels soll dann, wie zu Ende des vorigen Kapitels, aus einer umfangreichen und komplexen Thematik ein kleines Set von Grundgedanken extrahiert werden. Es dient als Ausgangspunkt für eine Reflexion über die Transformations-Debatte und für die vorgeschlagene Neuinterpretation.
2 4.
(Das Grund-Bild einer zweigeteilten Realität) Ich beginne mit dem ersten Baustein, der Werttheorie von Marx. Das 'Kapital' beginnt bekanntlich mit den Worten: "Der Reichtum der Gesellschaften, in welchen kapitalistische Produktionsweise herrscht, erscheint als eine ungeheure Warensammlung, die einzelne Ware als seine Elementarform. Unsere Untersuchung beginnt daher mit der Analyse der Ware" (1/1/1, S. 17).
Marx verwendet bereits im ersten Satz den Begriff "erscheint". Er spricht damit eine behauptete "sichtbare Oberfläche" von Phänomenen, ihre "Erscheinungsform", an. Sie muß nach ihm streng und prinzipiell von dem "unsichtbaren Hintergrund", dem "Wesen", getrennt werden: " ... alle Wissenschaft wäre überflüssig, wenn die Erscheinungsform und das Wesen der Dinge unmittelbar zusammenfielen" (111!7/48, S. 763). "... von allen Erscheinungsformen und ihrem verborgenen Hintergrund (gilt:) Die ersteren reproduzieren sich unmittelbar, spontan, als gang und gäbe Denkformen, der andere muß durch die Wissenschaft erst entdeckt werden" (1/6/17, s. 489f.)
Diese Unterscheidung ist für Marx von ganz fundamentaler Bedeutung. Er entwirft damit das Grund-Bild einer zweigeteilten Realität, bestehend aus zwei Schichten.l4 Dieses Grund-Bild muß auch auf die Ware angewandt werden. Für Marxist das Phänomen Ware ganz grundsätzlich nach "Erscheinungsform" und "Wesen" zu unterscheiden.
2 5.
(Eine einfache Begriffs-Matrix) Am Beginn des 'Kapital' trifft Marx eine weitere Unterscheidung: Jede Ware "ist unter doppeltem Gesichtspunkt zu betrachten, nach Qualität und Quantität" (1/1/1, S. 17).
Damit ergeben sich nach Marx zwei unterschiedliche Arten, eine Ware zu analysieren: nach "Erscheinungsfonn" und nach "Wesen" sowie nach "Qualität" und nach "Quantität". Kombinieren wir beide Unterscheidungsarten (offenbar sind sie nicht deckungsgleich), so erhalten wir eine Begriffsmatrix mit insgesamt vier unterschiedlichen Aspekten einer Marxschen Ware. Die Verwendung
40
Die Konsistenz-Debatte in der Marxschen Theorie
dieser Matrix ist meines Erachtens besonders geeignet, zentrale Gedanken der Marxschen ökonomischen Theorie auf einfache Weise darzustellen. Alle Abbildungen dieses Kapitels können als Begriffsmatrix gelesen werden. In den Zeilen sind die "Erscheinungsform" und das "Wesen" einer Ware {oder von Waren) zu finden; in den Spalten ihre "Qualität" und "Quantität". Untersuchen wir nun, wie und mit welchen Begriffen Marx diese Matrix auffüllt
2 6.
(Gebrauchswert und Tauschwert) Der "qualitative" Aspekt einer Ware wird von Marx als Gebrauchswert bezeichnet. "Die Nützlichkeit eines Dings macht es zum GebrauchswerL... Der Warenkörper selbst, wie Eisen, Weizen, Diamant usw. ist daher ein Gebrauchswert oder Gut." (1/1/1/,S. 18).
Der Gebrauchswert bezeichnet die naturwissenschaftlichen Eigenschaften einer Ware. Diese Eigenschaften dienen ihrerseits zur Homogenitätsdefinition einer bestimmten Art von Ware und damit zur Definition des Mengen-Maßstabs jeder Ware. "Bei der Betrachtung der Gebrauchswerte wird stets ihre quantitative Bestimmtheit vorausgesetzt, wie Dutzend Uhren, Elle Leinwand, Tonnen Eisen usw." (ebenda).
Vereinfacht bezeichnet der Gebrauchswert den Mengen-Aspekt von Waren. Der "quantitative" Aspekt hingegen wird als Tauschwert definiert; er bezeichnet den Preis-Aspekt von Waren: "Der Tauschwert erscheint zunächst als das quantitative Verhältnis, die Proportion, worin sich Gebrauchswerte einer Art gegen Gebrauchswerte anderer Art austauschen" (ebenda).
Wiederum stoßen wir auf das Wort "erscheint": der Tauschwert ist ein Begriff der "Erscheinungsform". Eine solche Begrifflichkeil hat Marx auf den ersten Seiten des 'Kapitals' in Bezug auf den Gebrauchswert nicht formuliert. Der "qualitative" Aspekt wird hier nicht hinsichtlich von "Erscheinungsform" und "Wesen" unterschieden. Dies zeigt Abbildung 3. Der Gebrauchswert bzw. Mengen-Aspekt einer Ware (linke Spalte) wird nicht hinsichtlich der Zeilen spezifiziert; der Tauschwert bzw. Preis-Aspekt bezeichnet die "quantitative Erscheinungsform" einer Ware (erste Zeile I zweite Spalte).
2 7.
(Baustein I: die Werttheorie) Somit verbleibt ein dritter Begriff. Er wird von Marx , wie in Abbildung 3 gezeigt, ausgehend vom Tauschwert entwickelt.
Die Konsistenz-Debatte in der Marxschen Theorie
"Quantität"
"Qualität"
"Erscheinungsform"
Tauschwert (quantitative Austauschrelation) Gebrauchswert
I
Nützlichkeit (stofflicher W arenkörper)
PREIS-ASPEKT
Ir--------.'
MENGEN-ASPEKT ,,
"Wesen"
I
Wertbildende Substanz, Wert, Wertsubstanz, Abstrakte Arbeit ARBEITSWERTASPEKT
Abbildung 3: Eine erste Klassifikation von Aspekten einer Manschen Ware
41
42
Die Konsistenz-Debatte in der Marxschen Theorie
"Eine gewisse Ware, ein Quarter Weizen z.B. tauscht sich ... mit anderen Waren in den verschiedensten Proportionen. Mannigfache Tauschwerte also hat der Weizen statt eines einzigen ... Es folgt daher: ... Der Tauschwert kann überhaupt nur die Ausdrucksweise, die "Erscheinungsform" eines von ihm unterscheidbaren Gehalts sein " (I/1/1, S. 18f.)
Die Tatsache, daß es möglich ist. verschiedene Waren in einer Tauschgleichung gleichzusetzen, - d.h.die mathematische Gleichheit auf einem Maßstab weist nach Marx darauf hin, daß etwas Gemeinsames realiter in ihnen enthalten sein muß. "Ein einfaches geometrisches Beispiel veranschauliche dies. Um den Flächeninhalt aller geradlinigen Figuren zu bestimmen und zu vergleichen, löst man sie in Dreiecke auf. Das Dreieck selbst reduziert man auf einen von seiner sichtbaren Figur ganz verschiednen Ausdruck - das halbe Produkt seiner Grundlinie mit seiner Höhe. Ebenso sind die Tauschwerte der Waren zu reduzieren auf ein Gemeinsames, wovon sie ein Mehr oder Minder darstellen." (S. 19).
Was ist nun dieses Gemeinsame? Stimmt Abbildung 3, so darf es nichts mit dem Gebrauchswert zu tun haben. Marx 'begründet' dies so: "Das Gemeinsame kann nicht eine geometrische, physikalische, chemische oder sonstige natürliche Eigenschaft der Waren sein. Ihre körperlichen Eigenschaften kommen überhaupt nur in Betracht, soweit sie selbe sie nutzbar machen, also zu Gebrauchswerten. ... Sieht man nun vom Gebrauchswert der Warenkörper ab, so bleibt ihnen nur noch eine Eigenschaft, die von Arbeitsprodukten. Jedoch ist uns auch das Arbeitsprodukt bereits in der Hand verwandelt. Abstrahieren wir von seinem Gebrauchswert, so abstrahieren wir auch von den körperlichen Bestandteilen und Formen, die es zum Gebrauchswert machen. Es ist nicht länger Tisch oder Haus oder Garn oder sonst ein nützlich Ding. All seine sinnlichen Beschaffenheiten sind ausgelöscht. Es ist auch nicht länger das Produkt der Tischlerarbeit oder der Bauarbeit oder der Spinnarbeit oder sonst einer bestimmten produktiven Arbeit. Mit dem nützlichen Charakter der Arbeitsprodukte verschwindet der nützliche Charakter der in ihnen dargestellten Arbeiten, es verschwinden also auch die verschiedenen konkreten Formen dieser Arbeiten, sie unterscheiden sich nicht länger, sondern sind allzusamt reduziert auf gleiche menschliche Arbeit, abstrakt menschliche Arbeit. Betrachten wir nun das Residuum der Arbeitsprodukte. Es ist nichts von ihnen übriggeblieben als dieselbe gespenstige Gegenständlichkeit, eine bloße Gallerte unterschiedsloser menschlicher Arbeit, d.h. der Verausgabung menschlicher Arbeitskraft ohne Rücksicht auf die Form ihrer Verausgabung. Diese Dinge stellen nur noch dar, daß in ihrer Produktion menschliche Arbeitskraft verausgabt, menschliche Arbeit angehäuft ist. Als Kristalle dieser ihnen gemeinschaftlichen gesellschaftlichen Substanz sind sie - Werte" (S. 19f).
Wie wird dieser Aspekt gemessen?
Die Konsistenz-Debatte in der Marxschen Theorie
43
"Durch das Quantum der in ihm enthaltenen "wertbildenden Substanz", der Arbeit. Die Quantität der Arbeit selbst mißt sich an ihrer Zeitdauer, und die Arbeitszeit besitzt wieder ihren Maßstab an bestimmten Zeitteilen, wie Stunde, Tag usw." (S. 20).
Damit kennen wir den ersten Baustein und Abbildung 3 ist komplett. Es ergeben sich drei Aspekte einer Ware: der Gebrauchswert bzw. Mengen-Aspekt (nicht differenziert hinsichtlich von "Erscheinungsform" und "Wesen"), der Tauschwert bzw. Preis-Aspekt und der Wert bzw. Arbeitswert-Aspekl
2 8. (Die Ware in der Warenzirkulation) Das Schema aus Abbildung 3 wirft die Frage auf, warum nur die "quantitative" Seite einer Ware (rechte Spalte), nicht jedoch ihre "qualitative" Seite (linke Spalte) hinsichtlich von "Erscheinungsform" und "Wesen" unterschieden wird Tatsächlich findet sich auch ein solches Schema mit vier Begriffen im 'Kapital': es bestätigt die in Ziffer 25 implizierte Vermutung, prinzipiell müßten in der Marxschen Theorie vier verschiedene Aspekte einer Ware identifizierbar sein. Dieses Schema entwickelt Marx bei der Darstellung der Warenzirkulation in der 'einfachen Warenproduktion'15 (einer vorkapitalistischen Gesellschaft). Die Theorie der Warenzirkulation ist für unseren Gedankengang, der Theorie von Preisen in einer kapitalistischen Ökonomie, nicht relevant; sie wird hier nur in einem kurzen Exkurs erwähnt werden. (Das Hauptargument wird in Ziffer 32 wiederaufgenommen). Im folgenden wird die Abbildung 3 in zwei Schritten modifiziert. In einem ersten Schritt werden zwei neue Begriffe für die beiden 'Erscheinungsformen' (der ersten Zeile unserer Begriffs-Matrix) geprägt "Waren kommen zur Welt in der Form von Gebrauchswerten oder Warenkörpem, als Eisen, Leinwand, Weizen usw. Es ist dies ihre hausbackene Naturalform. Sie sind jedoch nur Waren, weil Doppeltes, Gebrauchsgegenstände und zugleich Wertträger. Sie erscheinen daher nur als Waren oder besitzen nur die Form von Waren, sofern sie Doppelform besitzen, Naturalform und Wertform." (1/1(3,
s.
29).
In einem zweiten Schritt wird die Wesens-Ebene' aufgespalten. Hier existiert nachMarx "der in der Ware eingehüllte innere Gegensatz von Gebrauchswert und Wert" (1/1/1, S.42)
Damit wird der Begriff Gebrauchswert der zweiten Zeile unserer Matrix zugeordnet. Insgesamt ergeben sich die vier Begriffe der Abbildung 4, eine Revision des Schemas aus Abbildung 3:
Die Konsistenz-Debatte in der Marxschen Theorie
44
"Qualität"
"Quantität"
Formwechsel (Metamorphose) "Erscheinungsform"
t
NATIJRALFORM
- - - "Wesen"
l
I
I:I
WERTFORM
- - - - - L - - GEBRAUCHSWERT Gebrauchsgegenstand I
I I I I
WERT
I
Der innere Gegensatz
Abbildung 4: Die Ware in der Warenzirkulation
Die Konsistenz-Debatte in der Marxschen Theorie
45
"Wenn es im Eingang dieses Kapitels in der gang und gäben Manier hieß: Die Ware ist Gebrauchswert und Tauschwert, so war dies, genau gesprochen, falsch: Die Ware ist Gebrauchswert oder Gebrauchsgegenstand und "Wert". Sie stellt sich dar als dies Doppelte was sie ist, sobald ihr Wert eine eigene, von ihrer Naturalform verschiedene Erscheinungsfom besitzt, die des Tauschwerts." (1/1/l,S. 41).
2 9. (Die Dynamik der Warenzirkulation) Das Begriffsschema aus Abbildung 4 (entwickelt anhand der Wertformenanalyse im 1. Kapitel des 'Kapital') wird von Marx zur theoretischen Begründung der Dynamik der Ware in der Warenzirkulation (3. Kapitel) verwendet Dabei wird der "in der Warennatur schlummernde Gegensatz von Gebrauchswert und Wert" (1/1/2. s. 65)
mit dem Austauschprozeß der Waren. welcher "widersprechende und einander ausschließende Beziehungen einschließt" (1/1/3, 79).
s.
in Beziehung gesetzt "Die Entwicklung der Ware hebt diese Widersprüche nicht auf, schafft aber die Form, worin sie sich bewegen können." (ebenda).
Dies wird so konkretisiert "(Der Austauschprozeß) produziert die Verdopplung der Ware in Ware und Geld, ein äußerer Gegensatz, worin sie ihren immanenten Gegensatz von Gebrauchswert und Wert darstellen. In diesem Gegensatz treten die Waren als Gebrauchswerte dem Geld als Tauschwert gegenüber. Andererseits sind beide Seiten des Gegensatzes Waren, also Einheiten von Gebrauchswert und Wert. Aber diese Einheit von Unterschieden stellt sich auf jeden der beiden Pole umgekehrt dar und stellt dadurch zugleich deren Wechselbeziehung dar. Die Ware ist reell Gebrauchswert, ihr Wertsein erscheint ideell nur im Preis, der sie auf das gegenüberstehende Gold als ihre reelle Wertgestalt bezieht. Umgekehrt gilt das Goldmaterial nur als Wertmateriatur, Geld. Es ist reell daher Tauschwert. Sein Gebrauchswert erscheint nur noch ideell in der Reihe der relativen W ertausdrücke, worin es sich auf die gegenüberstehenden Waren als den Umkreis seiner reellen Gebrauchsgestalten bezieht. Diese gegensätzlichen Formen der Waren sind die wirklichen Bewegungsformen ihres Austauschprozesses." (1/1/3, s. 80).
Marx drückt diesen Formwechsel (Metamorphose, siehe Abb. 4) mit der bekannten Formel Ware- Geld- Ware (bzw. Naturalform-Wertform- Naturalform) aus und beschreibt ihn als Kreislaufprozeß:
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Die Konsistenz-Debatte in der Marxschen Theorie
"Der Kreislauf, den die Metamorphosenreihe jeder Ware beschreibt. verschlingt sich unentwirrbar mit den Kreisläufen andrer Waren. Der Gesamtprozeß stellt sich dar als Warenzirkulation" (1/1(3, S. 86).
Zusarnmengefaßt gilt für die Theorie der Warenzirkulation: jede Ware enthält in sich auf der Realitätsebene einen inneren Gegensatz. Dieser wird als die letzte Ursache für die Dynamik der Waren in der Warenzirkulation, manifestiert als Wechsel von Naturalfonn zu Wertfonn und umgekehrt, angesehen.
3 0 • (Die 'Dialektik' dieser Dynamik I) Die Theorie der Warenzirkulation operiert mit der Behauptung einer Widersptüchlichkeit sowohl auf der 'Wesens'wie auch auf der 'Erscheinungs'-Ebene. Beiden Arten von "Widersptüchen" kommt eine grundlegende theoretische Bedeutung zu: der "Widerspruch" auf der 'Erscheinungs'-Ebene (die Bewegungsfonn Ware- Geld- Ware) wird aus dem "Widerspruch" auf der 'Wesens'-Ebene begründet. Es liegt nahe, diese Theorie als typisch dialektischen Ansatz zu verstehen. Dies würde einen Gegensatz zu meinen Ausführungen in Ziffer 22 begründen, wo alle in dieser Arbeit erwähnten Teile der Marxschen Theorie als "nonnale" fonnal-logische Zusammenhänge bezeichnet wurden. Im folgenden möchte ich kurz zeigen, daß Marx in seiner Theorie der Warenzirkulation zwar den Begriff "Widerspruch" verwendet, daß dieser aber in einer Art interpretiert werden kann, die mit einer formallogischen Modellbildung durchaus kompatibel ist. Dazu verwende ich eine von Marx selbst angeführte Analogie zur Theorie der Planentenbewegung von Newton. Die Analogie besteht in der Gegenüberstellung der Erklärung der Bewegungsfonn eines Planeten um die Sonne (eine Ellipsenbahn) mit der Erklärung der Bewegungsfonn einer Ware in der Warenzirkulation (ein Kreislauf). Die Newtonsehe Theorie ist wohlbekannt: die Ellipsenbewegung wird mittels zweier Kräfte erklärt, der Anziehungskraft und der Fliehkraft Das Bewegungsmuster ergibt sich aus der vektoriellen Resultante der beiden in verschiedene Richtungen wirkenden Kräfte. Diese Theorie ist ein formal-logischer Ansatzpar excellence. Marx stellt sie seiner "dialektischen" Theorie der Warenzirkulation gegenüber: (Zuerst nochmal der Zusammenhang aus dem Zitat oben): "Man sah, daß der Austauschprozeß der Waren widersprechende und einander ausschließende Beziehungen einschließt. Die Entwicklung der Ware hebt diese Widersprüche nicht auf, schafft aber die Form, worin sie sich bewegen können."
Und nun der springende Punkt:
Die Konsistenz-Debatte in der Marxschen Theorie
47
"Dies ist überhaupt die Methode, worin sich wirkliche Widersprüche auflösen. Es ist z.B. ein Widerspruch, daß ein Körper beständig in einen andren fällt und ebenso beständig von ilun wegflieht Die Ellipse ist eine der Bewegungsformen, worin dieser Widerspruch sich ebensosehr verwirklicht als löst" (1/1!3, S. 79).
3 1.
(Die 'Dialektik' dieser Dynamik TI) Marx nimmt hier auf die Newtonsehe Theorie der Planentenbewegung Bezug; und zwar genau in der Frage nach von ihm in der Theorie der Warenzirkulation verwendeten Methode. In dieser Analogie können die beiden Aspekte Gebrauchswert und Wert- nach Marx realiter vorhanden - den beiden Kräften Anziehungskraft und Fliehkraft bei Newton gegenübergestellt werden. Jetzt gilt: so wie in der Theorie der Planentenbewegung zwei in verschiedene Richtungen wirkende Kräfte eine Ellipsenbahn eines Planeten begründen, so begründen in der Theorie der Warenzirkulation Gebrauchswert und Wert einen Kreislauf der Ware bzw. von Waren. Gebrauchswert und Wert sind demnach in der gleichen Weise die "Ursache" für die Bewegung der Ware in der Warenzirkulation, wie es Anziehungs- und Fliehkraft für die Bewegung eines Planeten in der Kosmologie von Newton sind. In dieser (methodisch zu verstehenden) Gegenüberstellung wird eine strikte Trennung einer dialektischen von einer formal-logischen Methode -jedenfalls in Bezug auf die Theorie der Warenzirkulation - fragwürdig. Mehr noch: die Theorie von Newton - gemeinhin als Prototyp eines formalen Ansatzes verstanden- wird von Marx zur lllustration seiner "dialektischen" Theorie verwendet Dies wird dadurch ermöglicht, daß Marx die in verschiedene Richtungen wirkenden Kräfte bei Newton offenbar als "widersprüchliche Kräfte" ansieht. Eine solche Gleichsetzung ist erstaunlich, weil sie gerade das vermengt, was nach meinem Verständnis den entscheidenden Unterschied zwischen formaler und dialektischer Methode ausmacht 16 "Widerspruch" in der Theorie der Warenzirkulation bezeichnet demnach lediglich eine besondere Konstellation in formal-logischen Zusammenhängen (wie zwei Kräfte, die in zwei verschiedene Richtungen wirken) 17 und nichts, was den Rahmen formaler Modell-Überlegungen sprengen würde.
3 2.
(Baustein 2: die Theorie der Kapitalzirkulation) Der Begriffsraster aus Abbildung 4 ist für Marx nur ein Zwischenschritt in seinem Gedankengang. Er gilt nur für die Analyse einer vorkapitalistischen Ökonomie. Für eine kapitalistische Ökonomie ist nicht die Theorie der Warenzirkulation, sondern die Theorie der Kapitalzirkulation relevant. Wir kommen damit zum Hauptargument zurück und zwar zum zweiten Baustein der Marxschen Theorie unserer Definition. Wiederum erfolgt eine Zäsur: "Die Zirkulationsform, worin sich das Geld zum Kapital entpuppt, widerspricht
Die Konsistenz-Debatte in der Marxschen Theorie
48
allen früher entwickelten Gesetzen über die Natur der Ware, des Werts, des Geldes und der Zirkulation selbst" (J/)./4, S. 127).
Danach ist zu erwarten, daß die Abbildungen 3 und 4 für die Theorie der Kapitalzirkulation nicht gelten. Die Theorie der Kapitalzirkulation basiert auf zwei Überlegungen. Zum einen gilt im Kapitalismus anstelle der Formel Ware- Geld- Ware (W- GW) die Formel "G - W - G', wo G' = G + ll G, d.h. gleich der ursprünglich vorgeschossenen Geldsumme plus einem Inkrement. Dieses Inkrement oder den Überschuß über den ursprünglich vorgeschoßnen Wert nenne ich- Mehrwert (surplus value). Der ursprünglich vorgeschoßne Wert erhält sich daher nicht nur in der Zirkulation, sondern in ihr verändert er seine W ertgröße, setzt einen Mehrwert zu, oder verwertet sich. Und diese Bewegung verwandelt ihn in Kapital." (112/4, S. 123).
Zweitens hebt Marx auf der 'Wesens'-Ebene die Trennung nach einem "qualitativen" und einem "quantitativen" Aspekt auf: "In der Zirkulation G - W - G' funktionieren beide, Ware und Geld, nur als verschiedne Existenzweisen des Werts selbst, das Geld seine allgemeine, die Ware seine besondre, sozusagen nur verkleidete Existenzweise" (ebenda, S. 126).
Damit haben wir ein Schema mit drei Begriffen (Abbildung 5): "Wenn in der einfachen Zirkulation der Wert der Waren ihrem Gebrauchswert gegenüber höchstens die selbständige Form des Geldes erhält, so stellt er sich hier plötzlich dar als eine prozessierende, sich selbst bewegende Substanz, für welche Ware und Geld beide bloße Formen" (1/2/4, S. 127).
Es gibt damit nur noch einen 'Wesens'-Begriff, nämlich Kapital.1s
3 3.
(Die Dynamik der Kapitalzirkulation) Gleichzeitig wird Kapital als dynamischer Begriff konzipiert. "In der Tat aber wird der Wert hier das Subjekt eines Prozesses, worin er unter beständigem Wechsel der Formen von Geld und Ware seine Größe selbst verändert, sich als Mehrwert von sich selbst als ursprünglichem Wert abstößt, sich selbst verwertet. Denn die Bewegung, worin er Mehrwert zusetzt, ist seine eine eigne Bewegung, seine Verwertung also Selbstverwertung. Er hat die okkulte Qualität erhalten, Wert zu setzen, weil er Wert ist." (ebenda, S. 126).
49
Die Konsistenz-Debatte in der Manschen Theorie
"Erscheinungs form"
"Qualität"
"Quantität"
MENGEN
PREISE Geld
Ware
IWERTFORM I
NATURALFORM
Preise
Mengen I_
"Wesen"
I
KAPITAL
Arbeitszeiteinheiten ARBEITSWERTE
AbbildiDig 5: Die Ware in der Kapitalzirlculation
"Der Wert wird also prozessierender Wert, prozessierendes Geld und als solches Kapital" (ebenda, S. 127).
Das Bewegungsmuster einer Ware in der Kapitalzirkulation wird von Marx völlig anders als in der Warenzirkulation erklärt. In der Warenzirkulation wird die Ware als ein ruhendes Ding verstanden; ihr Bewegungsmuster muß eigens erklärt werden. Die zwei Aspekte auf der Wesens'-Ebene werden als "Widerspruch" begriffen und dieser "Widerspruch" dient als Begründung für die Dynamik der Ware in der Warenzirkulation. In der Kapitalzirkulation hingegen wird die Ware als dynamisches Ding defmiert:l9 "Das Kapital als sich verwertender Wert ... ist eine Bewegung, ein Kreislaufprozeß durch verschiedene Stadien ... Es kann daher nur als Bewegung und nicht als ein ruhendes Ding begriffen werden. Diejenigen, die die Verselbständigung des Werts als bloße Abstraktion betrachten, vergessen, daß die Bewegung des industriellen Kapitals diese Abstraktion in actu ist." (11/1/4, S. 100).
Die Konsistenz-Debatte in der Manschen Theorie
50
Das Bewegungsmoment ist in der Ware selbst inkorporiert und muß nicht eigens erklärt werden.20
3 4 (Die duale Interpretation der Werttheorie) Zurückblickend bemerken wir, o
daß Marx in den ersten Kapiteln des 'Kapital' drei gänzlich verschiedene Begriffsldassiftkationen (Abbildungen 3 bis 5) konzipiert hat
Bei vielen Interpretationen der Marxschen Werttheorie bleibt unklar, auf welche der drei Klassifikationen sie sich beziehen.
Das Schema aus Abbildung 5 ist für mein Hauptargument bezogen auf die Marxsche Theorie von zentraler Bedeutung; insbesondere für das werttheoretische Argument. Dies ist mit ein Grund, warum die Marxsche Werttheorie in diesem Kapitel ausführlicher dargestellt wurde.
Es impliziert eine duale Interpretation der Werttheorie von Marx: sie kann gleichermaßen als Mengen- wie auch als Preistheorie interpretiert werden, weil hier ein Wesensaspekt (Wert bzw. Kapital) gleichberechtigt zwei Oberflächenaspekten (Naturalform und Wertform) gegenübersteht. Kapital als relevanter Wertbegriff der Marxschen Theorie für eine kapitalistische Ökonomie bezeichnet also sowohl das Wesen' von Mengen (Naturalform) wie auch von Preisen (Wertform).
3 5o (Baustein 3: die Mehrwerttheorie) Als dritter Baustein folgt die Mehr-
werttheorie. Diese Theorie ist im 4. bis 6. Kapitel von Band I des 'Kapital' zu fmden. Marx entwickelt sie in vier Schritten: I) Zuerst wird die Frage aufgeworfen, in welchem Bereich des Reproduktionsprozesses des Kapitals (siehe unten, Baustein 4) die Entstehung des Mehrwerts anzusiedeln ist: in der Zirkulations- oder in der Produktionssphäre. Marx diskutiert diese Frage unter der Annahme von 'Äquivalenttausch', wo bei jedem Tauschvorgang W A-G- Ws die Arbeitswerte von A und B gleich sind. Hier gilt: "Werden Äquivalente getauscht, so entsteht kein Mehrwert. ... Die Zirkulation oder der Warenaustausch schafft keinen Wert" {1/2/4, S. 1340.
Der Mehrwert muß also in der Produktion entstehen. 2) Im zweiten Schritt wird gefragt, aus welcher Ware im Produktionsprozeß Mehrwert entstehen könne:
Die Konsistenz-Debatte in der Marxschen Theorie
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"Um aus dem Verbrauch einer Ware Wert herauszuziehen, müßte unser Geldbesitzer so glücklich sein, innerhalb der Zirkulationssphäre auf dem Markt eine Ware zu entdecken, deren Gebrauchswert selbst die eigentümliche Beschaffenheit besäße, Quelle von Wert zu sein, deren wirklicher Verbrauch also selbst Vergegenständlichung von Arbeit wäre, daher Wertschöpfung. Und der Geldbesitzer fmdet auf dem Markt eine solche spezifische Ware vor - das Arbeitsvermögen oder die Arbeitskraft" (1/2/4, S. 138).
Dieser Ausdruck wird so defmiert: "Unter Arbeitskraft oder Arbeitsvermögen verslehn wir den Inbegriff der physischen und geistigen Fähigkeiten, die in der Leiblichkeit, der lebendigen Persönlichkeit eines Menschen existieren und die er in Bewegung setzt, sooft er Gebrauchswerte irgendeiner Art produziert." (ebenda).
Arbeitskraft als Bestandsgröße ist in der Marxschen Theorie streng von Arbeit als Stromgröße zu trennen: "Der Gebrauch der Arbeitskraft ist die Arbeit selbst. Der Käufer der Arbeitskraft konsumiert sie, indem er ihren Verkäufer arbeiten läßt. Letztrer wird hierdurch actu sich betätigende Arbeitskraft, Arbeiter, was er früher nur in potentia war." (l/3/5, s. 148).
3) Im dritten Schritt muß der Arbeitswert dieser Ware bestimmt werden. Marx definiert dazu einen eigenen Produktionszweig, die Reproduktion der Arbeitskraft: "Der Wert der Arbeitskraft, gleich dem jeder andren Ware, ist bestimmt durch die zur Produktion, also auch Reproduktion, dieses spezifischen Artikels notwendige Arbeitszeit. Soweit sie Wert, repräsentiert die Arbeitskraft selbst nur ein bestimmtes Quantum in ihr vergegenständlichter gesellschaftlicher Durchschnittsarbeit. Die Arbeitskraft existiert nur als Anlage des lebendigen Individuums. Ihre Produktion setzt also seine Existenz voraus. Die Existenz des Individuums gegeben, besteht die Produktion der Arbeitskraft in seiner eignen Reproduktion oder Erhaltung. Zu seiner Erhaltung bedarf das lebendige Individuum einer gewissen Summe von Lebensmitteln. Die zur Produktion der Arbeitskraft notwendige Arbeitszeit löst sich also auf in die zur Produktion dieser Lebensmittel notwendige Arbeitszeit, oder der Wert der Arbeitskraft ist der Wert der zur Erhaltung ihres Besitzers notwendigen Lebensmittel:" (l!l/4, S. 141).
Kurzum: "Der Wert der Arbeitskraft löst sich auf in den Wert einer bestimmten Summe von Lebensmitteln" (ebenda, S. 142).
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Die Konsistenz-Debatte in der Mantschen Theorie
3 6 • (Der Produktionsprozeß) Im vierten und letzten Schritt zur Mehrwert-
theorie wird der Produktionsprozeß (jener Teil der Ökonomie, wo Mehrwert entsteht) mit einer eigenen Begrifflichkeit beschrieben und ein rudimentäres Modell entworfen. 'Mehrwert' ist ein Begriff der Wesens'-Ebene, er wird in Arbeitswerteinheiten gemessen. Weil Mehrwert in der Produktion anfallt, muß die Grundhypothese einer zweigeteilten Realität (Ziffer 24) auch für den Produktionsprozeß gelten. Marx entwickelt diese Idee im 5. Kapitel von Band I. Es trägt die Überschrift "Arbeitsprozeß und Verwertungsprozeß" und bezeichnet die beiden Dimensionen des Produktionsprozesses, wobei der "Produktionsprozeß Einheit von Arbeitsprozeß und Wertbildungsprozeß" (1/3/5, s. 156)
ist. (Die Ausdrücke Verwertungsprozeß und Wertbildungsprozeß werden hier synonym verwendet). Der Arbeitsprozeß ist definiert als "Prozeß zwischen Mensch und Natur, ein Prozeß worin er seinen Stoffwechsel mit der Natur durch seine eigne Tat vermittelt, regelt und kontrolliert." (ebenda, s. 148)
bzw. als "zweckmäßige Tätigkeit zur Herstellung von Gebrauchswerten" (ebenda, S. 154).
Der Arbeitsprozeß beinhaltet den 'sichtbaren' Teil der Produktion: den Einsatz von Produktionsmitteln (Arbeitsmitteln) und produktiver Arbeit und ihre Verwandlung in das fertige Produkt (den Gebrauchswert). Der Verwertungsprozeß (Wertbildungsprozeß) hingegen stellt den 'unsichtbaren' Teil der Produktion dar, ihr eigentliches 'Wesen' in einem kapitalistischen Produktionsprozeß. Dazu müssen Produktionsmittel, Arbeitskraft und Endprodukt wertmäßig festgehalten werden. Dies erfolgt mittels der Begriffe variables und konstantes Kapital, sie werden im Einklang mit der Mehrwerttheorie defmiert: "Der Teil des Kapitals ..., der sich in Produktionsmitteln, d.h. in Rohmaterial, Hilfsstoffe und Arbeitsmittel umsetzt, verändert seine Wertgröße nicht im Produktionsprozeß. Ich nenne ihn daher konstanten Kapitalteil, oder kürzer: konstantes Kapital. Der in Arbeitskraft umgesetzte Teil des Kapitals verändert dagegen seinen Wert im Produktionsprozeß. Er reproduziert sein eignes Äquivalent und einen Überschuß darüber, Mehrwert, der selber wechseln, größer oder kleiner sein kann. Aus einer konstanten Größe verwandelt sich dieser Teil des Kapitals
Die Konsistenz-Debatte in der Marxschen Theorie
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fortwährend in eine variable. Ich nenne ihn daher variablen Kapitalteil, oder kürzer: variables Kapital." (J/3/6, S. 177).
3 7. (Der Produktionsprozeß in Mengen und Arbeitswerten) Ich komme zur
quantitativen Beschreibung des Produktionsprozesses. Der zweifachen Begrifflichkeit folgend muß der Produktionsprozeß zweifach spezifiziert werden: als Arbeitsprozeß und als Verwertungsprozeß. Der Arbeitsprozeß ist 'sichtbar'; er kann in einer physischen Input-Output-Relation (Produktionsmittel, Arbeit--. Output) festgehalten werden. Der Verwertungsprozeß ist 'unsichtbar': er bezeichnet das "Wachstum" der Inputs in Arbeitswerten (c+v) zu ihrem Outputwert (c+v+m). Dies kann auch als Input-Output-Relation c+v --. c+v+m angeschrieben werden, wobei c für das konstante Kapital, v für das variable Kapital und m für den Mehrwert steht. (Vgl. l/3n). Die zweifache Modeliierung des Produktionsprozesses in Mengen (Arbeitsprozeß) und in Arbeitswerten (Wertbildungsprozeß) ist nach meinem Verständnis für eine Marxsche Theorie unabdingbar. Vgl. damit auch die Aussage aus Ziffer 23, jede Theorie ohne Marxschen Wertbegriff als nicht-Marxsche Theorie zu verstehen.2l Damit gibt es in der Marxschen Theorie des Produktionsprozesses einen engen Konnex von Mengen und Arbeitswerten. Dieser Konnex ist für mein Argument in Kapitel 4 bedeutsam. Er bezeichnet den Mengenaspekt in der dualen Interpretation der Werttheorie.
3 8 • (Zusammenfassung von Baustein 3) Abbildung 6 dient der Zusammen-
fassung der Mehrwerttheorie, des dritten Bausteins unserer Reise durch das 'Kapital'. Wiederum erfolgt eine Unterteilung nach Oberfläche und Wesen, diesrnals nach Arbeitsprozeß (oberer Teil) und nach Wertbildungsprozeß (unterer Teil). Im oberen Teil sind physische Input-Output-Relationen, im unteren Teil Input-Output-Relationen in Arbeitswerten symbolisch dargestellt. Gezeigt wird der Produktionsprozeß zweier Sektoren, des Sektors Konsumtionsmittel (der Lebensmittel) und des Sektors Reproduktion (der Arbeitskraft) sowie der Produktionsprozeß für die gesamten Ökonomie (rechter Teil). Jeder Produktionsprozeß wird zweifach als Arbeitsprozeß und Verwertungsprozeß dargestellt, wobei die Gegenbegriffe jeweils untereinander eingetragen sind. Die Bestimmung des Wertes der Arbeitskraft erfolgt nach Marx durch zwei hintereinandergeschaltete Sektoren: den Sektor Reproduktion und den Sektor Konsumtionsmitteln. Im Sektor Reproduktion fungieren die Lebensmittel (Konsumtionsmittel) als Input. Der Output ist der Ersatz der Arbeitskraft, also eine Art Ersatzinvestition des abgenützten Teils der Bestandsgröße Arbeitskraft. Die Input-Output-Relationen sind im Arbeitsprozeß (alles in physischen Mengen): Konsumtionsmittel --. Ersatz der Arbeitskraft (als Teil der gesamten -strichliert eingezeichneten- Arbeitskraft) und im Verwertungsprozeß: Arbeits-
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wert der Konsumtionsmittel ~Wert der Arbeitsieraft (als abgenützter Teil des Arbeitswertes des gesamten Bestandes an Arbeitslcraft, letzteres symbolisiert in Abbildung 6 durch X).22 In diesem Sektor wird kein Mehrwert produziert: die Arbeit beispielsweise der Hausfrauen gilt als "unproduktiv". Daraus ergibt sich (im Gegensatz zu den "produktiven" Sektoren) die Gleichheit des Arbeitwerts der Inputs (Konsumtionsmittel) mit dem Arbeitswert der Outputs (Wert der Arbeitskraft). Der Input im Sektor Reproduktion ist der Output im Sektor KonsumtionsmitteL Die Input-Output-Relationen diese Sektors sind im Arbeitsprozeß: physische Inputs (Produktionsmittel und direkte Arbeit) ~ physischen Output (Konsumtionsmittel) und im Wertbildungsprozeß: Arbeitswert der Inputs (konstantes und variables Kapital im Konsumtionsmittelsektor) ~ Arbeitswert des Output (der Konsumtionsmittel). Für die Gesamtökonomie (rechter Teil von Abbildung 6) gilt: der Wert der Ware Arbeitskraft (in summa) ist mit dem variablen Kapital der gesamten Ökonomie ident. Im Wertbildungsprozeß überträgt das konstante Kapital c seinen Wert unverändert auf den Output, während das variable Kapital v (es zeigt die für die Reproduktion notwendige Arbeit) zur Größe v + m im Endprodukt ansteigt, weil die Kapitalisten die Arbeitskraft im Ausmaß der Mehrarbeit m über die notwendige Arbeitszeit v hinaus einsetzen ("produktiv konsumieren").
3 9.
(Baustein 4: der Kreislauf des Geldkapitals) Ich komme zum zweiten Band des 'Kapital'. Hier kann der vierte Baustein, die Theorie des Kreislaufes des Geldkapitals, identifiziert werden. Diese Theorie ist eine Präzisierung der Theorie der Kapitalzirkulation (Baustein 2) unter Einbeziehung der Mehrwerttheorie (Baustein 3). (Baustein 2 und 3 bauen auf Baustein I, der Werttheorie, auf: Baustein 4 beinhaltet alle drei vorangehenden Bausteine). Gleich zu Beginn des zweiten Bandes definiert Marx den Kreislauf des Geldkapitals: "Der Kreislaufprozeß des Kapitals geht vor sich in drei Stadien, welche nach der Darstellung des ersten Bandes, folgende Reihe bilden: Erstes Stadium: Der Kapitalist erscheint auf dem Warenmarkt Wld Arbeitsmarkt als Käufer; sein Geld wird in Ware umgesetzt oder macht den Zirkulationsakt G Wdurch. Zweites Stadium: Produktive Konsumtion der gekauften Waren durch den Kapitalisten.... Das Resultat ist: Ware von mehr Wert als dem ihrer Produktionselemente. Drittes Stadium: Der Kapitalist kehrt zum Markt zurück als Verkäufer; seine Ware wird in Geld umgesetzt oder macht den Zirkulationsakt W - G durch.
I
Produktionsmittel, Konsumtions- I direkte Arbeit mittel ~ I
I
I
I ~I
.. Ersatz der Arbeitskraft
Sektor Reproduktion
•
~
I I I : Arbeitskraft I
I I
Produktive Arbeit
Produktionsmittel
1
I
Abbildung 6: Die Mehrwerttheorie
WertI:__ _ _-:--, bildungsArbeitswert der Arbeitswert der prozeß Inputs im --...1 Konsumtions- I (Verwertungs- KM-Sektor mittel prozeß) 1
II
I
Variables Kapital V
I I I L-----1
I lx
1I ------
I lx
Wertder ~ I Arbeitskraft
Konstantes Kapital c
-
-
~
Mehrarbeit (Mehrwert) m Bruttoprodukt
Notwendige Arbeit v
c
U\ U\
i; ·
f t
Ei"
t
i"t:'
~
c:J r
Gesamte ( onomie
- '-------·
I
: I
1•
I L---------t I -------r-----, ------r-I I II r--------
Arbeitsprozeß
I
I...
14 Sektor Konsumtionsmittel
I
I
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Die Konsistenz-Debatte in der Marxschen Theorie
Die Formel für den Kreislauf des Geldkapitals ist also: G - W ... P ... W' - G', wo die Punkte andeuten, daß der ZirkulationsprozeR unterbrochen ist und W wie G' ein durch Mehrwert vermehrtesWund G bezeichnen."
(11!111.
s. 29).
Die Namensgebung erklärt Marx so: "Eben weil die Ausgangs- und Schlußform des Prozesses die des Geldkapitals (G), wird diese Form des Kreislaufprozesses von uns als Kreislauf des Geldkapitals bezeichnet." (ebenda, S. 46).
Allerdings können nach Marx auch andere Teile dieses Kreislauf-Zusammenhanges als Ausgangs- bzw. Schlußpunkt definiert werden. P als Ausgangspunkt bezeichnet den Kreislauf des produktiven Kapitals (11/1/2) und W' als Ausgangspunkt den Kreislauf des Warenkapitals (11/1/3). Diese drei Kreisläufe sind realiter eine Einheit: "Der wirkliche Kreislauf des industriellen Kapitals in seiner Kontinuität ist daher nicht nur Einheit von Zirkulations- und Produktionsprozeß, sondern Einheit aller seiner drei Kreisläufe." (1111/4, S. 97).
Alle drei Kreisläufe zeigen denselben Prozeß, allerdings aus einem anderen Blickwinkel: aus analytischen Gründen wird eine andere Stelle der Kreislaufabfolge als Ausgangspunkt defmiert und der Gesamtkreislauf über alle Stadien bis zu diesem Ausgangspunkt nachvollzogen. Die Dreiteilung ist lediglich gedanklicher Natur: "So stellt sich der ganze Unterschied als ein bloß formaler dar, oder auch ein bloß subjektiver, nur für den Betrachter bestehender Unterschied." (ebenda, S. 95).
Jeder der drei Kreisläufe kann als pars pro toto für den Gesamtkreislauf dienen kann. Allerdings ist "der Kreislauf des Geldkapitals ... die ... charakteristischste Erscheinungsform des Kreislaufes des industriellen Kapitals." (1111/1, S. 58);
Für eine Kurzfassung ist also der Kreislauf des Geldkapitals heranzuziehen.
40•
(Dieser Kreislauf in Diagrammen) In den Abbildungen 7 und 8 wird der Kreislauf des Geldkapitals schematisch dargestellt. Beide Abbildungen zeigen die Formel G- W ... P ... W'- G' unter Berücksichtigung der Abbildungen 5 und 6.
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G~
Zirkulationsprozeß
Erscheinungsform
w·~
- -
G'
I
----------------------I~ --t_ -------t_ -I~ Produktionsprozeß
Wesen
r -
w
W
Arbeitsprozeß
I
W ertbildungsprozeß
1 c+v
~
W'
I
:-+----t~~
c+v+m I
... p ... Abbildung 7: Der Kreislauf des Geldkapitals I
In Abbildung 7 werden die Begriffe aus dem Kreislauf des Geldkapitals dem Grund-Bild einer zweigeteilten Realität zugeordnet. Der Zirkulationsprozeß findet nach Marx ausschließlich auf der Erscheinungs-Ebene statt, nämlich als Umwandlung von Wertform (ausgedrückt in Preisen) zu Naturalform (ausgedrückt in Mengen) und umgekehrt Im Kreislauf des Geldkapitals fmden zwei Austauschprozesse statt (sie entsprechen denen aus der Theorie der Kapitalzirkulation, Baustein 2): G ~ W (Stadium 1) und W' ~ G' (Stadium 3). Im Stadium 2 hingegen befindet sich die Ware im Produktionsprozeß P und der untere Teil von Abbildung 7 zeigt die zweifache Spezifikation des Produktionsprozesses, wie dies auch für Abbildung 6 galt: W ~ W' symbolisiert die Input-Output-Funktion des Arbeitsprozesses und c+v ~ c+v+m die InputOutput-Funktion des Verwertungsprozesses (des Wertbildungsprozesses). In der Abbildung 8 wird derselbe Gedanke auf andere Weise dargestellt, wobei die Begriffsmatrix aus Abbildung 5 Verwendung findet. 23 Stadium 1 und 3 des Kreislaufes des Geldkapitals werden als Operationen CD und ® dargestellt. Stadium 1 beinhaltet die Umwandlung des Preis-Terms G (Geldkapital) in den Mengen-Term W (produktives Kapital). Stadium 3 beinhaltet die Umwandlung des Mengen-Terms W' (Warenkapital) in den Preis-Term G' (Geldkapital). Im Produktionsprozeß hingegen (Stadium 2) finden wir zwei Input-Output-Relationen, nämlich ® im Mengen-System (Arbeitsprozeß) und ® im Arbeitswefte-System (Verwertungsprozeß). Damit sind auch die Zusammen-
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Die Konsistenz-Debatte in der Marxschen Theorie
hänge ® und® gegeben. Sie symbolisieren, wie das Mengen-System des Produktionsprozesses mit seinem Arbeitswerte-System zusammenhängt.
41. (Die formale Struktur des Kreislaufs des Geldkapitals) Für die eingangs definierte Begriffsmatrix gilt: im Kreislauf des industriellen Kapitals, konkretisiert im Kreislauf des Geldkapitals, sind die Symbole W und W' MengenTerme; sie bezeichnen die Naturalform von Waren (ihre "qualitative Erscheinungsform"). Die Symbole G und G' sind Preis-Terme, sie bezeichnen die Wertform von Waren (ihre "quantitative Erscheinungsform"). Die Symbole c,v und m schließlich sind Arbeitswert-Terme; sie bezeichnen den Wert- bzw. Kapital-Aspekt von Waren (ihr 'Wesen'). Wie alle Abbildungen dieses Kapitels kann auch Abbildung 8 als einfache Darstellung formaler Elemente Marxscher Theoremen verstanden werden. Die formale Struktur des Kreislaufes des Geldkapitals beinhaltet demnach: a)
drei Systeme (in Mengen, in Arbeitswerten und in Preisen);
b)
drei Input-Output-Relationen, je eine in einem System: ® in Mengen, @ in Arbeitswerten und (/) in Preisen.
Die Input-Output-Relation (/) ergibt sich dabei, indem die Anfangsgröße G des Kreislaufes des Geldkapitals mit dessen Endgröße G' direkt in Beziehung gesetzt wird; und c)
vier Zusammenhänge zwischen den Systemen: