Das soziale Leben der Universität: Studentischer Alltag zwischen Selbstfindung und Fremdbestimmung 9783839433485

The measuring of the university world - the social space of the university is characterized by multiple demarcations, in

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German Pages 358 Year 2017

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Table of contents :
Inhalt
Danksagung
Einleitend
Einleitung
Die Universität als Soziotop
Dynamiken des Studierens
Grenzziehungen
Was Förderer fordern
„I Think it’s Equal. We’re Just Students.“
Boundaries at Work
Zugehörigkeiten
Ethnizität und wissenschaftliche Hochschulkarriere
Binär codiert?
In Search of Belonging
Individuelle Wege
Das Selbst im Wandel
Zwischen Wissenschaft und Kinderwunsch
„Da kann man auch gleich Künstler werden.“
AutorInnen
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Das soziale Leben der Universität: Studentischer Alltag zwischen Selbstfindung und Fremdbestimmung
 9783839433485

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Joanna Pfaff-Czarnecka (Hg.) Das soziale Leben der Universität

Joanna Pfaff-Czarnecka (Hg.)

Das soziale Leben der Universität Studentischer Alltag zwischen Selbstfindung und Fremdbestimmung

Gedruckt mit freundlicher Unterstützung des Sonderforschungsbereichs 882 »Von Heterogenitäten zu Ungleichheiten« unter Verwendung der ihm von der Deutschen Forschungsgemeinschaft zur Verfügung gestellten Mittel.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2017 transcript Verlag, Bielefeld

Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlagkonzept: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Printed in Germany Print-ISBN 978-3-8376-3348-1 PDF-ISBN 978-3-8394-3348-5 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

Inhalt

Danksagung | 7

I. E INLEITEND Einleitung: Universitäten – als Orte der Heterogenität und Un/Gleichheit

Joanna Pfaff-Czarnecka | 11 Die Universität als Soziotop

Naby Berdjas | 43 Dynamiken des Studierens: Zum Konzept des universitären Parcours

Joanna Pfaff-Czarnecka/Milena Prekodravac | 61

II. GRENZZIEHUNGEN Was Förderer fordern – Begabtenförderung und soziale Ungleichheit

Larissa Bäumer | 93 „I Think it’s Equal. We’re Just Students.“ Zur Bedeutung von Geschlecht an einer vietnamesischen Universität

Belma Halkic | 123 Boundaries at Work: The Habitus at Private Universities in Turkey

Ekin Yildiran | 155

III. ZUGEHÖRIGKEITEN Ethnizität und wissenschaftliche Hochschulkarriere

Sven Kathöfer | 183

Binär codiert? Zur Herausforderung männlicher Fachkultur in der Informatik

Katharina Losch | 215 In Search of Belonging: Russian LGBT people in Germany

Kristina Matveeva | 243

IV. I NDIVIDUELLE WEGE Das Selbst im Wandel. Persönlichkeitsveränderung zwischen Desintegration und Zugehörigkeit an Universitäten

Vanessa Pietsch | 269 Zwischen Wissenschaft und Kinderwunsch. Zur Familienplanung bei PromovendInnen mit ‚Migrationserfahrung‘

Nadia Sadrudin | 295 „Da kann man auch gleich Künstler werden.“ Selbstausschluss und habituelle Verläufe von Personen aus hochschulfernem Elternhaus in akademischen Karrieren

Frerk Blome | 323 AutorInnenportraits | 353

Danksagung J OANNA P FAFF -C ZARNECKA

Schon kurz nachdem das Projekt ‚Ethnizität an der Universität – Prozesse ethnischer Grenzziehungen und Ungleichheitsrelationen im Studiumsverlauf‘ im Rahmen des SFB 882 ‚Heterogenitäten und Ungleichheiten‘ an der Universität Bielefeld gestartet wurde, habe ich mich darum bemüht, den Forschungsprozess und die Erkenntnisse in die universitäre Lehre einzubringen. Als eine besonders fruchtbare Form erwiesen sich die Lehrforschungen, die auf dem analytischen Rahmen des Teilprojekts basierten und ihn zugleich erweiterten, indem neben dem Heterogenitätsmal ‚Ethnizität‘ andere symbolische Grenzziehungen (auch in ihrer Verschränkung) einbezogen wurden. Der vorliegende Band basiert insbesondere auf der zweiten Lehrforschung in diesem Rahmen, die im SS 2014 und im WS 2014/15 durchgeführt wurde. Ich danke den StudentInnen für ihre Bereitschaft, in vielen Arbeitsstunden ihre Lehrforschungsberichte zu Aufsätzen umzuarbeiten. Es war faszinierend zu sehen, wie sich die vormaligen VerfasserInnen studentischer Beiträge zu AutorInnen wandelten. Es mussten beispielsweise die ersten Konfrontationen mit den Kommentaren anonymer GutachterInnen bewältigt werden. Mein besonderer Dank geht an Naby Berdjas. Als wissenschaftliche Hilfskraft hat sich seine Tätigkeit zunehmend auf die Vorbereitung und Drucklegung dieses Bandes konzentriert. Seine Mitarbeit ging bald über die üblichen Aufgaben einer ‚Hilfskraft‘ hinaus. Die Gliederung dieses Bandes geht auf seine Auseinandersetzung mit dem Inhalt der Beiträge zurück. Die in den Beiträgen zentralen Begriffe ‚Zugehörigkeit‘, ‚symbolische bzw. soziale Grenzziehung‘ und ‚Politiken des Selbst‘ bieten die Grundlage der Gliederung, die Herr Berdjas im eigenen Beitrag erläutert. Herrn Berdjas oblagen die Projektleitung, ein Teil des Lektorats und Korrekturen. Mit Letzteren waren auch Marina Walters sowie Holly Patch (für die englischsprachigen Texte) beschäftigt, denen ich an dieser Stelle ebenfalls sehr danken möchte.

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Dieses Buchprojekt konnte einerseits auf die seitens der Deutschen Forschungsgemeinschaft dem Sonderforschungsbereich zur Verfügung gestellten finanziellen Ressourcen zurückgreifen und andererseits auf die Expertise von Mitarbeiterinnen der Universität Bielefeld, die StudentInnen beim wissenschaftlichen Schreiben unterstützen. Frau Heike Brandl, die Leiterin des PunktUmProjekts der Universität Bielefeld hat sich schnell dafür gewinnen lassen, im Rahmen einer kurzfristig entwickelten Zusammenarbeit mit einem Teil der AutorInnen ein einsemestriges Kolloquium durchzuführen. Georgina Willms vom Fachsprachenzentrum der Universität Bielefeld hat – in einem kleineren Umfang – mit den englischsprachigen Autorinnen zusammengearbeitet. Fast alle Texte sind einem anonymen Review-Verfahren unterzogen worden. Vom einem ‚Peer-Review-Verfahren‘ kann hier insofern nicht gesprochen werden, als die meisten Kommentare von sehr erfahrenen KollegInnen aus der soziologischen Bildungsforschung, Erziehungswissenschaften, Soziologie sowie Ethnologie verfasst wurden. Da ich das Prinzip der Anonymität aufrechterhalten möchte, sei hier auf eine namentliche Nennung verzichtet; jedoch nicht ohne den KollegInnen hiermit meinen herzlichen Dank auszusprechen. Ihre Ideen wurden in den in diesem Band zusammengetragenen Aufsätzen vielfältig aufgegriffen und weiterentwickelt.

Einleitend

Einleitung Universitäten – als Orte der Heterogenität und Un/Gleichheit J OANNA P FAFF -C ZARNECKA

Wenn Universitäten heute aus einer Vielzahl an divergierenden Perspektiven – die mit ihrer Heterogenität korrespondieren – betrachtet werden, so herrscht in einem Punkt Einigkeit: Sie sind sowohl in Deutschland als auch weltweit in Bewegung geraten.1 Verschiedene Kräfte wirken in den universitären Raum hinein und erzeugen beträchtliche Dynamiken. Maßgeblich sind erstens bildungspolitische Weisungen, die solch wirkungsmächtige Prozesse wie die Bologna-Reform und die Exzellenz-Initiative auf den Weg gebracht haben. Verweisen diese bereits auf supranationale Einflüsse, kommen sie zweitens auch in Form erhöhten globalen Wettbewerbs zum Ausdruck: Universitäts-Rankings und die damit zusammenhängenden Vergleiche beschäftigen regionale und nationale BildungspolitikerInnen, Universitätsleitungen, Lehrende und StudentInnen. Eine globale Spannweite, drittens, haben auch Einflüsse, die tendenziell kulturelle Homogenisierung und institutionelle Isomorphisierung erzeugen (vgl. Meyer 2005), sowie neoliberale Maßnahmen, welche die Organisation Universität ‚managerialen‘ (vom Englischen ‚managerial‘ übernommen – die Prädominanz betriebswirtschaftlicher Kriterien markierend) und marktwirtschaftlichen Vorgaben unterstellen.2 Diese Anordnungen schlagen sich in einem erhöhten Effizienzdruck nieder, in veränderten Temporalitäten sowie in einem Spannungsverhältnis zwischen Vereinheitlichung und Heterogenisierung. Letzteres speist sich einerseits aus dem Innovationsdruck infolge des globalen Wettbewerbs und andererseits

1

Vielen Dank an Naby Berdjas für die kritische Lektüre dieses Textes, seine Korrekturen und Anregungen.

2

Zum problematischen Wechselverhältnis zwischen dem ‚New Public Management‘ und den universitären Lebenswelten vgl. Bülow-Schramm (2008).

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aus der ebenfalls global greifenden Vorgabe, die tertiäre Bildung für entscheidend mehr gesellschaftliche Kreise zu öffnen, als es bis vor kurzem der Fall war. Universitäten sind in den letzten Jahren ins Zentrum öffentlichen und wissenschaftlichen Interesses gerückt. Innerhalb der eher an Makroperspektiven interessierten Debatten kommt den Hochschulen viel Kritik zu: Neoliberalismuskritische Perspektiven prangern deren zunehmende Ökonomisierung an, welche alle Beteiligten – die Rektorate, die Verwaltungen, die Lehrenden und die StudentInnen – einem erhöhten Leistungsdruck unterwirft, der immer stärker mit Quantifizierungen und Optimierungsvorgaben untermauert werde. Kritische Zeitdiagnosen heben einen bestimmten Typus Krise in den Modalitäten der universitären Wissensgenerierung und -vermittlung hervor: Eine fortschreitende Irritation wissenschaftlicher Praxis und universitärer Lehre durch die ‚fachfremden‘ – ökonomischen wie politischen – Imperative. Weitere Kritik bringen den Universitäten auch die sozialen Ungleichheiten ein, die durch die universitären Strukturen tendenziell verstärkt werden. Die Hochschulforschung hat zwar in den letzten Jahren einerseits zu Recht eine Öffnung gegenüber benachteiligten Personen und Möglichkeiten zur sozialen Mobilität konstatiert, doch sie legt andererseits beträchtliche Ungleichheitsrelationen und immer wieder neue soziale Grenzziehungen im akademischen Raum frei. Diese Einleitung sowie die Beiträge dieses Bandes bieten Zeugnis der Heterogenisierung der Universitäten, indem sie diese im sozialen Raum der Universität betrachten. Diese Prozesse stehen im Zusammenhang mit der universitären Einbettung in gesellschaftliche Kräftefelder, die verschiedenartigen Logiken folgen. Die oben skizzierten Dynamiken und die damit zusammenhängenden Veränderungen in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft tangieren das universitäre Leben in einem beträchtlichen Maße. Die Heterogenisierung und ihre Konsequenzen sind auf sozialen Wandel zurückzuführen, der in den universitären Raum hinein wirkt (von dem wiederum gesellschaftliche Impulse ausgehen). Besonders wichtig erscheinen sowohl die Umgestaltungen des sozialen Raums der Universität und die Dynamiken der organisationalen Kulturen als auch deren nachhaltige Folgen für die Akteure, die im universitären Raum handeln. Uns interessieren vor allem die StudentInnen, die ja zu den wichtigsten universitären stakeholders gehören: deren individuelle Wege durch die Universität, Interaktionen und Vergemeinschaftungen ebenso wie die Sinnstiftung, die den universitären Raum miterzeugt (vgl. Weick 1995). Mikroperspektiven auf individuelle Wege durch die Organisation Universität können dabei Strukturen freilegen, die auf große Zusammenhänge verweisen. StudentInnen in ihrer Heterogenität zu begreifen, verhilft auch zum Verständnis der heutigen Universität in ihrer Vielfalt und in den damit einhergehenden Widersprüchen.

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Das Spannungsverhältnis zwischen Normierung und Vielfalt3 kommt in den die Heterogenität der StudentInnen fördernden Politiken zum Ausdruck. Universitäten in Deutschland – und auch anderswo – unterliegen dem Zwang, ihre Tore für immer mehr AspirantInnen auf tertiäre Bildung zu öffnen. Sie unterliegen auch der Norm, Diversität der StudentInnen zu fördern und zu gestalten. (Bald wird Diversitätspolitik in Deutschland sicherlich auch auf die akademischen Lehrenden ausgedehnt werden.) Solche gesellschaftlichen Öffnungen sind äußerst voraussetzungsreich: Sie erzeugen Unsicherheiten und schüren Konflikte; das wird anhand mehrerer Beiträge dieses Bandes ersichtlich werden. Die Wahrnehmung der Heterogenität fordert nämlich mitunter Vorstellungen sozialer Normalität heraus. Symbolische Grenzziehungen entlang der Trennlinie normal/außergewöhnlich oder etabliert/nicht dazugehörig schüren nicht selten Konkurrenz um den umkämpften Status Quo. Fortwährende Grenzverwischungen wie auch jegliche soziale Grenzarbeit können die Kreativität beflügeln, aber ebenso Unsicherheiten hervorrufen und Widerstand generieren. Universitäten sind solchen Auseinandersetzungen in einem ganz besonderen Maß ausgesetzt, weil sie als Kreuzwege gesehen werden müssen – wie kaum ein anderer Bereich des gesellschaftlichen Lebens. Es fließen hier höchst unterschiedliche Quellen des Gedankenguts und Modalitäten der Wissensentfaltung zusammen; es begegnen sich hier für längere Zeiträume mehr Menschen unterschiedlicher sozialräumlicher Herkunft als in den meisten anderen gesellschaftlichen Bereichen. Es treffen Werte, Normen, Aspirationen, Berufsbilder und Utopien aufeinander, die disparater nicht sein können. Die Universität lebt davon; zugleich muss sie mit der voraussetzungsreichen organisatorischen Aufgabe umgehen, diese Vielfalt zu gestalten. Heterogenität wird meistens in kollektivierender Begrifflichkeit verstanden und jegliche Kollektivierungen hängen mit hierarchischen Skalierungen zusammen (vgl. Dumont 1966). Heterogenitäten werden stets aus spezifischen Perspektiven wahrgenommen und je nach Standpunkt der Betrachtung wird zwischen ‚uns‘ und den ‚anderen‘ unterschieden; dabei sieht sich die Position des Sprechers meist als übergeordnet an. Das war und ist der Fall in den sogenannten multikulturellen Gesellschaften, wo harmonische Bilder eines Neben- und Mit-

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Die Begriffe ‚Heterogenität‘ und ‚Verschiedenartigkeit‘ werden hier synonymisch verwendet, ebenso wie ‚Diversität‘ und ‚Vielfalt‘. Gegenüber ‚Diversität‘ (‚Unterschiedliches vom Gleichen‘) ist ‚Heterogenität‘ (‚Unterschiedliches vom Verschiedenartigen‘) breiter gefasst. Eine detailliertere begriffliche Abgrenzung wird im Abschnitt „Heterogenitäten und Ungleichheiten: Zum Problem kollektivierender Adressierung“ dieses Textes vorgenommen.

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einanders durch kritische Positionen derjenigen in Frage gestellt wurden, die zwischen Zurschaustellungen der Vielfalt und den ungleich verteilten Machtbefugnissen und Rechten unterschieden. Erst allmählich setzt sich die Einsicht durch, dass die Betrachtung der Heterogenität bei Menschen und nicht bei Gruppen ansetzen muss. Heterogenität kann Ungleichheit ebenso hervorbringen wie ihre Folge sein. Der universalistische Duktus deutscher Universitäten (‚Gleiche Chancen für alle‘) steht in einem beträchtlichen Spannungsverhältnis zu den beobachtbaren Ungleichheiten im tertiären Bildungsbereich. Diese äußern sich in dem ungleich verteilten Zugang zu Universitäten, der mit Exklusionen auf den primären und sekundären Bildungsstufen zusammenhängt, aber auch in den ungleich verteilten Teilhabe- und Verwirklichungschancen auf dem Weg durch die Universität und im Zugang zum Beruf. Die Heterogenisierung vollzieht sich in verschiedenen Arenen, wo Fachkulturen, Vorstellungen von Normalität (etwa den Normalfall eines/einer StudentIn) und elitäre Chancenhortung (vgl. Tilly 2005) herausgefordert werden. Die ungleich verteilten Ressourcen und Chancen betreffen unterschiedliche Ebenen und Adressaten: die gesamte Bildung, einzelne Fachbereiche (die etwa mit den mangelnden Sprachkenntnissen der StudentInnen umgehen müssen), Kategorien von StudentInnen (‚Angehörige bildungsferner Schichten‘, Frauen, StudentInnen mit Behinderungen, Homosexuelle, Angehörige von Minderheiten) und einzelne Personen, die ihre persönliche Navigation (zum Begriff vgl. PfaffCzarnecka/Prekodravac in diesem Band) durch die Universität – auch gegen starken Gegenwind – mehr oder weniger erfolgreich gestalten. Die ungleiche Ausstattung mit für die Wahrnehmung sozialer Chancen wichtigen Ressourcen – allen voran das ökonomische, soziale und kulturelle Kapital (vgl. Bourdieu 2007) – wird durch symbolische Grenzziehungen (vgl. Lamont/Molnàr 2002) potenziert. Doch die in diesen Spannungsfeldern entstehenden Auseinandersetzungen werden von so vielen Akteuren und an so vielen Fronten ausgefochten, dass beträchtlicher Wandel verzeichnet werden kann – wie die hier gesammelten Beiträge dokumentieren. Diese Einleitung fasst die für unsere Thematik besonders relevanten Beiträge zur Universitätsforschung zusammen. Dazu gehören Konzeptualisierungen der Universität als Organisation, Positionen, die den krisenhaften Charakter der Universität thematisieren, sowie Ansätze, die ihre transformativen Potentiale hervorheben. Im Anschluss an die diskutierten Ansätze wird das Verständnis der Universität als sozialem Raum fortentwickelt. Besonderes Augenmerk liegt auf der komplexen Strukturierung der Universität und auf dem prozesshaften Charakter ihrer Organisation. Der Beitrag der StudentInnen zum Prozess des Organi-

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sierens kommt in Bezug auf soziale Grenzziehungen, Politiken des Selbst und die Möglichkeiten der persönlichen Transformation zur Sprache.

D ER P ROZESS DES O RGANISIERENS AN U NIVERSITÄTEN Die Universität als Organisation zu beschreiben, stößt auf einige Probleme, die u.a. mit einer ihrer Besonderheiten zusammenhängen. So lässt sich die Universität (anders als viele andere Organisationen, die zu einem Typus gehören) sowohl dem Funktionssystem Bildung als auch dem der Wissenschaft zuordnen (vgl. Huber 2012). Diese ‚Doppelexistenz der Universität‘ (ebd.) hängt mit der Einführung des humboldt‘schen Postulats der Einheit von Forschung und Lehre zusammen. Dabei ist das moderne Verständnis der Lehre nicht nur auf wissenschaftliche Inhalte beschränkt, sondern umfasst auch die Modalitäten ihrer Vermittlung. Die universitäre Lehre stellt eine gesellschaftliche Aufgabe dar, wenn man sie auch als Erziehungsauftrag begreift. Umfasst dieser wiederum solche demokratischen Elemente wie das Streben nach Chancengleichheit (bzw. Verringerung sozialer Disparitäten), dann werden die universitären Tore für soziale Herausforderungen geöffnet, wie etwa die Öffnung gegenüber dem Grundsatz der Diversität, oder die der Ermöglichung des Studiums für qualifizierte Flüchtlinge. Damit können manche Typen von Universitäten wohl leichter als andere umgehen. In Anbetracht der Vielfalt an Universitäten fragen manche, ob es die Universität denn überhaupt als einen organisatorischen Typus gibt (vgl. Stichweh 1994). Denn Universitäten haben heute verschiedene Größen, verschiedene Traditionen und unterschiedliche Spezialisierungen (von einer Forschungsuniversität bis zu Hochschulen, die auf berufliche Ausbildung spezialisiert sind). Durch ihre einzigartigen Geschichten weisen Universitäten verschiedenartige Kulturen auf, die jeweils etwa eher Hierarchie und elitäre Schließung oder aber eine egalitäre Orientierung betonen. Diese können sich in den Organigrammen niederschlagen und setzen sich in den Fächerkulturen der Universitäten fort (so differiert etwa das Studium der Rechtswissenschaft zwischen den deutschen Universitäten in Bezug auf die vermittelten Werte und Normen beträchtlich). Universitäten weisen eine unterschiedliche Sensibilisierung für studentische Bedürfnislagen auf. So unterscheiden sie sich im Ausbau von Unterstützungsangeboten sowie in den Formen der Lehr-Lern-Interaktion. Universitäten sind auch im unterschiedlichen Ausmaß gegenüber der Internationalisierung aufgeschlossen. Deren räumliche Verortung spielt für die Mobilität der StudentInnen ebenfalls eine

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wichtige Rolle, ziehen doch die Berliner Universitäten StudentInnen aus der ganzen Welt an, während mehrere mittelgroße Universitäten ihre StudentInnen hauptsächlich aus der unmittelbaren Region rekrutieren. Eine weitere Besonderheit dieses Organisationstypus liegt in der ‚losen organisatorischen Klammer‘, die durch die Dopplung der Entscheidungsbefugnisse entstanden ist: Weil die (deutsche) Universität dem Staat untergeordnet ist, setzen sich bis in den universitären Raum die staatlichen Verwaltungsstrukturen fort. Zugleich sind wichtige Entscheidungsbefugnisse auf den professoralen Körper konzentriert (vgl. Huber 2012). Diese beiden Konstellationen stehen in einem schwierigen Verhältnis zueinander. Wie in anderen modernen Organisationen verfügen zudem auch hier andere Teilnehmende – etwa die StudentInnen – über die Option ‚Voice‘ (vgl. Hirschman 1970), was das universitäre Kräftefeld noch komplexer macht. Karl Weick (1995) spricht zu Recht von einer losen Kopplung in der universitären Organisation, die mit der Konkurrenz der darin wirkenden Netzwerke, einem Mangel an Koordinationsinstanzen und schwacher gegenseitiger Bezugnahme ihrer Elemente zusammenhängt. Die lose Kopplung kann das Funktionieren der Universitäten beeinträchtigen – etwa die Effizienz im Umgang mit Reformen. Andererseits kann das Merkmal der ‚losen Kopplung‘ gerade eine Chance für die Verarbeitung der Heterogenität an der Universität sein. Indem die Universität per se ein äußerst komplexes Gebilde darstellt, bietet sie potentiell Platz für noch mehr Heterogenität und für die mit ihr einhergehende Auseinandersetzung mit Krisen. Im Falle der Universität könnte eine Art erhöhte Polykontextualität behauptet werden, da neben Wissenschaft eben auch Erziehung als generalisierte Sinn-‚Quelle‘ das Organisieren an der Universität strukturiert. In jedem Fall verweist die Figur der ‚losen Kopplung‘ auf die Komplexität der im universitären Raum wirkenden Strukturen und Prozesse. Diese Komplexität übt auch einen nachhaltigen Einfluss auf den äußerst voraussetzungsreichen Prozess des Studierens aus. Bei der Konzeptualisierung der Universität als Organisation bietet die Prozesstheorie des Organisierens (vgl. Weick 1976; Ruegg-türm/Ortmann 2003) wichtige Grundlagen, insbesondere auch um das Studieren im sozialen Raum der Universität nachvollziehen zu können. Handeln in Organisationen entsteht nicht (nur) durch die Übernahme und Ausführung extern von der Organisationsspitze oder der Politik vorgegebener Ziele und Normen (so z.B. im Hinblick auf das Hochschulrahmengesetz, jeweilige Prüfungsordnungen), sondern durch den eigenlogischen und selbstreferentiellen Umgang mit vielfältigen und widersprüchlichen Umwelterwartungen, die in der Organisation verarbeitet werden. Die Prozesse der Wirklichkeitskonstituierung im organisationalen Handeln und die damit einhergehende Praxis der Konstitution von Organisation – sei es auf

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individueller oder kollektiver Ebene der StudentInnen (aber auch anderer Akteure der Universität) – lassen sich als wissensbasierte Verfahren in den Blick nehmen, die Legitimität aus sozialen Erwartungsstrukturen beziehen, die über die Organisation hinausreichen (vgl. Kirchler 2005). Der zum Einfangen des sozialen Lebens der Universität gewählte Ansatz des ‚universitären Parcours‘ (vgl. Pfaff-Czarnecka/Prekodravac in diesem Band), der auf Karl E. Weicks Theorie des Organisierens rekurriert, berücksichtigt formale Organisationsstrukturen wie Regeln und vorstrukturierende Handlungsrichtlinien. Zugleich sieht er die Organisationsmitglieder als an der sinn-und prozesshaften Aushandlung von Bedeutung im universitären Alltag beteiligt, was auf die subjektiven Wurzeln der ‚organisatorischen Wirklichkeit‘ (vgl. Kirchler 2005) verweist und als Konstitutionsbedingung der Organisation überhaupt gilt. Universitäre Organisation wird hier als iterativer (im Sinne einer Abfolge zirkulärer Wirkungszusammenhänge) Prozess des Organisierens verstanden, wobei in diesem Band der Blick vor allem auf die Formen der Interpretation, also auf die Modi des Sensemaking der StudentInnen gerichtet wird. In Anlehnung an Weick (1995) wird unter Sensemaking sowohl ein sozial-kollektiver, als auch ein individueller und damit auch biographisch vergangenheitsbezogener Prozess verstanden. Die Verschränkung der organisatorischen Logiken und der studentischen Wege durch die Universität wird mit dem Begriff des ‚universitären Parcours‘ gefasst. Das Konzept des universitären Parcours gibt den prozesshaften Charakter des universitären Lebens der StudentInnen wieder. Es handelt sich um einen kompetitiven Prozess, der aus der Perspektive der Betroffenen durch Schranken und Einbindungen des ausdifferenzierten (z.B. nach Fächern) sozialen Raums einer Universität hindurch führt. Der universitäre Bildungsverlauf wird so zu einem konfliktbehafteten, an persönliche Ressourcen gekoppelten, aktiven Prozess des Studierens, der in Interaktionen mit Peers, mit Lehrenden sowie anderen bedeutsamen Personen auf dem Weg zum Beruf durchlaufen wird. Gleichzeitig lässt es der Parcours-Begriff durch seine Relation zu spezifischen Fächerkulturen und -grenzen zu, die Bedeutung von (gesellschaftlichen) und formalen organisatorischen Rahmenbedingungen sowie Limitierungen von Teilhabechancen zu berücksichtigen und zu reflektieren. Ausgangspunkt einer Exploration von Differenzkategorien, Prozessen sozialer Grenzziehung und damit potentiell einhergehenden Ungleichheitsparametern auf dem Weg durch die Universität ist die Konzeption der Universität als abgrenzbarer Ort, in dem die fakultätsspezifischen Parcours verlaufen. Die zur Verfügung stehenden Ressourcen werden nicht nur im materiellen Sinne verstanden; auch immaterielle ‚Kapitalien’ wie das Handling von Codes, Bildern,

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Deutungsmustern und Wissenselementen, welche Mitglieder einer heterogenen Gruppe verwenden, Gemeinschaft oder (Migrations-) Gesellschaft (vgl. Schützeichel 2007) sind hier wichtig. Dies bedingt die Beteiligungschancen und damit die Möglichkeit des Erfolgs auf dem Weg des Studierens. Die Verwirklichungschancen hängen nicht zuletzt mit dem Vermögen zusammen, Hürden zu nehmen und Krisen zu bewältigen.

K RISEN

UND T RANSGRESSIONEN IM UNIVERSITÄREN R AUM Die gewählte Hürdenmetaphorik nimmt zugleich Bezug auf den prozesshaften, durch zahlreiche Zäsuren strukturierten Weg der Studierenden durch die Universität, auf die angesprochenen Komplexitäten der Universität sowie auf ihre grundlegende Charakteristik, Kontinuität und bisweilen äußerst herausfordernde Veränderungen zu vereinbaren. Einige Beobachter betonen, die fortwährende Erzeugung von Krisen gehöre geradezu zu den zentralen Wesensmerkmalen der Universität (vgl. Huber 2012). Während (professionelles) Wissen lange Zeit als Instrument zur Bewältigung von Krisen galt (diese Idee lag über Jahrhunderte der Zielsetzung von Universitäten zugrunde), scheint die Wissenschaft heute nicht so sehr Krisen zu erzeugen, als vielmehr selbstinduzierte Krisen zu bewältigen: „Wissenschaft beginnt autonome und systematische Wissenschaft erst dann zu sein, wenn sie wie selbstverständlich gewissermaßen künstlich in Zweifel zieht, was der Praxis nicht fraglich ist. Wissenschaft simuliert also systematisch Krisen, sie verwandelt ohne Not durch Bezweiflung Routinen in Krisen und erzeugt paradoxal genau dadurch sich bewährendes Wissen“ (Oevermann, 2005, zit. in: Huber 2012).

Indem Krisen für universitäre Entfaltung solch zentralen Platz einnehmen, kann erwartet werden, dass die durch eine zunehmende Heterogenisierung entstehenden Verunsicherungen, ja, Krisen, im universitären Raum verarbeitet werden können, weil darin Umgang mit Krisen bereits so umfassend erprobt wurde. Paul Mecheril und Birte Klingler (2010) gehen sogar einen Schritt weiter und stellen die Behauptung auf, dass Universität bereits Krise sei. Damit ist das Potential der Universität gemeint, ein Ort der irritierenden Reflexion zu sein, in dem gesellschaftlichen Selbstverständlichkeiten ein (entzerrender) Spiegel vorgehalten wird. Jegliche Selbstverständlichkeiten können das kritische Vermögen der Universität herausfordern. Universität sei der privilegierte Ort, an dem Be-

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griffe und Einsichten stets neu gedacht werden, gedacht werden müssen. Bildung finde statt, indem sie fragt und in Frage stellt. Aus dieser Perspektive erscheint die Universität auch als ein Ort fortwährender Entgrenzungen, wo Normales und Anerkanntes mit Außergewöhnlichem und Unkonventionellem konfrontiert wird. Auf Bernhard Waldenfels zurückgreifend sehen Mecheril und Klingler die Universität als einen Ort der Transgression. Waldenfels interessierte sich bekanntlich für die Überschreitung epistemischer Ordnungen: „[Die Universität] verortet sich selbst als Übergangsort, als lieu de passage, wo Grenzen gezogen und verschoben werden. Natürlich hat die Universität wie jede Institution ihre Außenbezüge, indem sie öffentliche Aufgaben übernimmt, und ihre interne Normalität, wozu auch ein Forschungs- und Lehralltag gehört, doch die entscheidenden Impulse verdankt sie der Infragestellung vorgegebener Wissensbestände, fertiger Methoden und Regeln, der Abweichung vom Bewährten, der Überschreitung vorhandener Grenzen. Sie ist ein Ort der Ungeduld und der Widerständigkeit“ (Waldenfels, in: Mecheril/Klingler 2010, 86).

Grenzen werden nicht selten absichtsvoll überschritten. Regelverstöße, Verletzungen, Übertretungen kennzeichnen die hier gelebten Formen der Wissensgenerierung und -aneignung. Dabei können Verstöße gegen die geltenden Kanons auch bei der Generierung des sozialen Wissens entstehen, wer etwa in den Korpus der StudentInnen und der Lehrenden gehört. Fassen wir Transgressionen in ihren krisenhaften Wirkungen als kreativ und notwendig auf, dann können Erschütterungen in Bezug auf die Mitgliedschaft an der Universität wichtige Einsichten nicht nur in Bezug auf das Fachwissen, sondern ebenfalls auf den im sozialen Raum der Universität hergestellten Sinn bieten. Nicht nur in der Auseinandersetzung mit epistemischen Ordnungen sind Kontroversen besonders hervorzuheben; widersprüchliche Deutungskontexte sollen deutlich gemacht werden: „An der Universität werden Sätze gesprochen und geschrieben, die zu sinnvolleren und vielleicht sogar gelingenderen Welt- und Selbstverhältnissen beitragen. Wenn in diesem Sinne die Universität ein Ort der Erkundung, der Befragung und der Überschreitung der Grenzen epistemischer Ordnungen ist, an dem durch diese Praxis der Aufklärung andere, weniger einem äußeren Zwang verpflichtete, erstrebenswerte Welt- und Selbstverhältnisse möglich werden, dann stellt sich die Frage, wem die durch die Universität symbolisierte Lebensform dem Grundsatz nach offen stehen sollte (Mecheril/Klingler 2010, 89 – Hervorhebung der Autoren).

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Die Antwort lautet: ‚Allen‘. Auch die tertiäre Bildung wird zunehmend weltweit als Recht aufgefasst. Bietet die Universität besonders begehrte und aussichtsreiche Titel, um einen vielversprechenden beruflichen Weg einschlagen zu können, so stellt sie darüber hinaus einen geschützten Rahmen persönlicher Selbstentfaltung (vgl. unten). So verunsichernd der Weg durch die Universität sein mag, das durch den universitären Parcours gesteigerte Vermögen, mit persönlichen Herausforderungen umzugehen, ja die Befähigung, Grenzen zu überschreiten, ist ein hohes Gut, das allen offen zu stehen hat und wovon alle profitieren können. Die Freiheit des Zugangs, die eingefordert wird, steht in einem Zusammenhang mit dem Postulat der Freiheit der Forschung – eine Verschränkung, die Hauke Brunkhorst als das demokratische Moment der Universität bezeichnet (vgl. Mecheril/Klingler 2010). An dieser Stelle zeigt sich das Spannungsverhältnis zwischen dem Ideal der (demokratischen) Teilhabe und der Ideologie der Meritokratie (zur Kritik vgl. Solga 2009), die nicht nur in Deutschland nachhaltig den Zugang zur tertiären Bildung, ihre Modalitäten wie auch die Ver-/Zuteilung von Unterstützungsleistungen (vgl. Beitrag von Bäumer in diesem Band) legitimiert. Das Streben nach elitärer Schließung wird durch die Norm der Vielfalt zumindest teilweise herausgefordert. Es kann sein, dass die Zumutung, die moderne Universität habe sich gesellschaftlichen Herausforderungen zu stellen, nicht zu bewältigende Krisen generiert, doch Universitäten haben bisher kreative Wege erprobt, um zahlreiche gesellschaftliche Herausforderungen zu meistern, die nicht nur die Erkenntnisgenerierung betrafen. Zu den größten Herausforderungen, die die Akademia heute zu meistern hat, gehören Ungleichheit und Heterogenität, die das vorherrschende Meritokratieverständnis herausfordern.

H ETEROGENITÄTEN UND U NGLEICHHEITEN Die Transformation von etablierten gesellschaftlichen Orten und Institutionen in transnationale Räume (vgl. Bauschke-Urban 2008; Faist 2000) kennzeichnet eine der zentralen Konsequenzen einer zunehmend globalisierten Welt. Als ein solcher transnationaler Raum kommt der Universität – als Ort der individuellen und sozialen Selbstintegration (vgl. Martin 2005), wie auch als gesellschaftliche Folie von Integrations-, Anerkennungs- und Ausgrenzungspraktiken (Grace 2009; Mecheril 2003; Otten 2006) – ein besonderer Stellenwert zu, da gerade hier die Schere zwischen (humboldtschem) Bildungsideal und der Alltagspraxis im Hochschulsektor zwischen Individualisierung, Pluralisierung und Heterogenität auf der einen und Segregation, Ungleichheit und Homogenisierung auf der ande-

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ren Seite augenfällig zu Tage tritt (vgl. Parker 2007; Karakaşoğlu-Aydın 2000; Kristen et al. 2008). Der Zugang zur Universität steht allerdings lange noch nicht allen gleichermaßen offen. Neue quantitative Erhebungen belegen, dass die Zugangschancen immer noch ungleich verteilt sind. Neue sozialwissenschaftliche Forschung bietet zudem wichtige Anhaltspunkte, dass der Weg durch die Universität ebenso wie der Zugang zur Universität mit der Verfügungsgewalt über ökonomisches, soziales und kulturelles Kapital zusammenhängt. Damit können soziale Ungleichheiten im tertiären Bildungsverlauf verfestigt werden, was Chancen auf dem akademischen Arbeitsmarkt (hier im Sinne von – durchaus nicht nur auf die universitäre Karriere beschränkter – Berufen, die von akademischer Qualifizierung und Titeln abhängen) ungleich verteilt erscheinen lässt. Diese Ungleichheiten können auch mit ungleich verteiltem Zugang zu Stipendien zusammenhängen (vgl. Beitrag von Bäumer in diesem Band). Neuere Forschungen (z.B. Möller 2016) nehmen ebenfalls universitäre Karrierewege bis zur Professur in den Blick und heben eine tendenziell sich (wieder) öffnende soziale Schere hervor (vgl. auch Blome in diesem Band). Die Bildungsforschung hat sich lange mit der Dimension ‚Schichtzugehörigkeit‘ beschäftigt, während die Wirkung von Heterogenitäten bzw. der durch symbolische Grenzziehungen – wie Geschlecht, Race, ethno-nationale Herkunft, körperlichen Merkmalen, sexuellen Dispositionen u.a. – erzeugten Benachteiligungen lange Zeit ausgeblendet oder unterbelichtet blieb. Doch in den letzten 10-15 Jahren wurden, auch in Deutschland, Forschungen intensiviert, welche Heterogenitäten in den Blick nehmen. Der Zusammenhang von Verwirklichungschancen im Bildungsverlauf mit Prozessen kollektiver Grenzziehung stellt heute einen festen Bestandteil des akademischen Forschungskanons dar (vgl. Bade/Bommes 2004; Baumert et al. 2006; Berger/Kahlert 2008; Hentges et al. 2008; Diefenbach 2007; Metz-Gökel et al.; Nohl et al. 2009). Im Zentrum der unterschiedlichen Ansätze zur Untersuchung von Bildung, Heterogenität und Ungleichheit steht dabei vor allem die Schule als gesellschaftlicher Ort der (Kinder- und Jugend-)Sozialisation, ebenso wie die Analyse der unterschiedlichen Modi von Statuspassagen und deren – oftmals konfliktreiche – soziale Kontextualisierung (vgl. Bourdieu/Passeron 1971; 2007; Juhasz/Mey 2003). Werden in diesem Zusammenhang die einzelnen Facetten von Heterogenität entfaltet, so sticht – neben Geschlecht, Klasse und ‚race‘ (vgl. Anthias 2001) – Ethnizität als zentrales Distinktionsmerkmal heraus (vgl. Pott 2002). Die deutschsprachige Forschung hat in den letzten Jahren einige wichtige Studien zum Korrelat von Geschlecht bzw. Klasse und Studienerfolg vorgelegt (vgl. Bargel/Ramm/Multrus, Lange-Vester/Terwes-Krüger 2004, Bülow-Schramm 2008,

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Alheit et al. 2008; vgl. auch die Beiträge von Blome, Bäumer, und Kathöfer in diesem Band). Neue Zahlen belegen die weiterhin signifikant geringeren Teilhabechancen im Studium von StudentInnen aus bildungsfernen Schichten, was sich u.a. in Studienabbrüchen äußert (vgl. Heublein et al. 2008; Isserstedt 2007). Sowohl die sozioökonomische Herkunft als auch Geschlecht schlagen sich in der Fächerwahl nieder (vgl. Losch in diesem Band). Die Universität hat nicht aufgehört, eine wichtige Instanz sozialer Sortierung (vgl. Vester 2009) zu sein. Tertiäre Bildung übt immer noch Einfluss auf eine differentielle Verteilung von Personen auf gesellschaftliche Positionen aus. Eine solch angesehene und begehrte Studienrichtung wie Medizin kann immer noch als Ort der Klassenreproduktion gewertet werden, wie Christina Möller (2016) ausführt. Brisant sind ebenfalls neue Daten zu wissenschaftlichen Karrieren, die etwa freilegen, dass die in Deutschland neu eingeführte Juniorprofessur Bildungseliten bevorteilt (vgl. Schröder 2016). Diese Beispiele bringen das Spannungsverhältnis zwischen Wandel und Kontinuität an deutschen Universitäten zum Ausdruck. Über die Teilhabe- und Verwirklichungschancen von StudentInnen mit ‚Migrationshintergrund‘ ist noch wenig bekannt. Vergleicht man die einheimische mit der (maßgeblich) englischen und nord-amerikanischen akademischen Literatur zum Zusammenhang von Ethnizität und Universität in ihrer besonderen organisatorischen Form (vgl. Huber 2005), so gibt es in der deutschen sozialwissenschaftlichen Forschung noch vieles nachzuholen. Gerade die Universität – als exklusiver Ort und relevante Station im institutionellen Lebenslaufregime (vgl. Kohli 1985) – erweist sich hierbei als ein weitgehend blinder Fleck (vgl. BoosNünning 2008; Hick/Gary 2008). Im hieran ansetzenden akademischen Diskurs um die Frage nach dem Verhältnis von Heterogenität und Universität bildet etwa die Annahme einer Korrelation eines ethnischen Hintergrundes von StudentInnen und dem jeweiligen Modus und Verlauf der Hochschulbildung den disziplinenübergreifenden, gemeinsamen Nenner (vgl. Datta 2005; Modood 1993). Diese allgemeine Konstatierung eines Verhältnisses zwischen Ethnizität und Bildung sagt dabei noch nichts über die spezifischen Wirkungsweisen sowie deren Richtungen und Kausalitäten aus, welche in der gegenwärtigen Forschung auf durchaus diverse und zum Teil entgegenlaufende Weise aus den verschiedenen Perspektiven beschrieben und interpretiert werden. Dabei lassen sich vor allem zwei Stoßrichtungen in den zugrundeliegenden Fragestellungen feststellen: zum einen die Frage nach dem Grad, Modus und der Wirkungsweise des angenommenen Korrelats von Ethnizität und Bildung und zum anderen die Frage nach dem (meso-) gesellschaftlichen Kontext für den Hochschulbildungsverlauf unter den Bedingungen

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von Migrationshintergrund und Mehrfachzugehörigkeit(en) (vgl. Mecheril 2003), (Selbst-)Ethnisierung (vgl. Celik 2005) und den möglichen Normierungstendenzen im Sinne der Majoritätsgesellschaft (vgl. Solga 2005). Über diese Zusammenhänge gibt der Text von Sven Kathöfer Aufschluss, der intuitive Annahmen teilweise bestätigt (Wirkungsmacht der Figur ‚Migrationshintergrund‘ im universitären Raum) und zum Teil zurückweist (‚Migrationshintergrund‘ als Problemkategorie). Bei der Beantwortung des ersten Fragekomplexes wird der Konnex von Ethnizität und Universität in anderen nationalen Kontexten oftmals als ein Verhältnis gefasst, welches vor allem als ein negatives und zu Ungunsten der ethnischminoritären StudentInnen ausfällt (vgl. Collins 1971; Richardson 2008). Der Umstand, dass für StudentInnen mit Migrationshintergrund, die eine bildungsferne Herkunft aufweisen, schon am Ausgangspunkt ihrer Bildungssozialisation Benachteiligung und ein Ungleichgewicht in den Aktivierungsmöglichkeiten von Teilhabechancen (vgl. Sen 1993) an kulturellen Ressourcen (Voraussetzung von kulturellen Codes, monolinguale Vermittlung in der Schulausbildung) der Einwanderungsgesellschaft steht (vgl. Baumert et al. 2006; Gogolin 2008), erschwert zum einen die Statuspassage zur Weiterbildung an der Universität (vgl. Bade/Bommes 2004; Boos-Nünning 2008) als auch ein souveränes Auftreten auf dem akademischen Plateau (vgl. Bourdieu/Passeron 2007; Robbins 2006, 337). Aus dieser Perspektive drückt sich daher das Verhältnis von Ethnizität und Universität als eines einer fortgesetzten Benachteiligung im Bildungssystem und als konfliktreiche Disparität zwischen StudentInnen der ethnisch-minoritären und der Majoritätsgesellschaft aus. Empirisch evident wird diese Annahme durch eine wesentlich geringere Zahl von StudentInnen mit Migrationshintergrund (vgl. Deutsches Studentenwerk 2007) durch erhöhte Abbrecherquoten (vgl. Spiewak 2007) und die erschwerte Statuspassage in die und aus der Hochschule gegenüber den StudentInnen aus der Einwanderergesellschaft (vgl. Liebig/Widmaier 2009;. Kristen et al. 2008, 131). Diese Perspektive lässt sich durch den zweiten Strang der Forschungsfragen insoweit ergänzen, dass hierbei die (meso-) gesellschaftlichen Kontextualisierungen dieser Modi von Disparität in den Blick geraten. Bildung als spezifisches kulturelles Kapital (vgl. Grenfell/James 1998; Nohl et al. 2009) wird als Indikator für gesamtgesellschaftliche Ungleichheitsstrukturen und in Hinblick auf ethnische Minoritäten als Indikator für vielfältige Integrationsprobleme gedeutet (vgl. Bade/Bommes 2004; Juhasz/Mey 2003). Hierbei greifen strukturelle Wirkungsfaktoren wie Migrationsprozesse, ökonomische Benachteiligung, räumliche Segregation und Ethnizität ineinander (vgl. Cohen 2005; Schiffauer 2002; Schultz 2007). Das oftmals aus diesen Konstellationen abgeleitete Unvermögen

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zur Beherrschung der ‚korrekten‘ kulturellen Codes (vgl. Solga 2005; Leon 2002), die damit einhergehende Benachteiligung im Kampf um die Deutungsmacht, was legitimes Wissen ausmacht (vgl. Bourdieu 1990: 43), steht in einem Zusammenhang zur Unterprivilegierung von MigrantInnen an der Hochschule (vgl. Hentges et al. 2008). ‚Migrationshintergrund‘ und eine bildungsferne sozioökonomische Herkunft tangieren das ‚Passungsverhältnis‘ zwischen impliziten Selbstverständlichkeiten der Organisation Universität, der hier vorausgesetzten Kenntnisse und impliziten Routinen, und den persönlichen Merkmalen der Studierenden. Dem gegenüber betont Andreas Pott (2002), dass durch die Fixierung der einschlägigen Forschung auf die negativen Aspekte der Bildungsintegration die deutlichen Bildungsaufstiege in der zweiten Generation der MigrantInnen übersehen werden (vgl. auch Raiser 2007; Ofner 2003). Hier wird Ethnizität nicht als Hemmschwelle, sondern als Handlungsressource gedeutet, die für die erfolgreiche Bewältigung der Anforderungen im Bildungsaufstiegsprozess potentiell nützlich sein kann (vgl. ebd.). Eine in der Konsequenz ähnliche Position wird auch von Isabel Sievers (2005, 178) vertreten, wenn sie nach den spezifischen Kompetenzbiographien von StudentInnen mit dem Migrationshintergrund Türkei fragt, und zu dem Ergebnis kommt, dass es gerade die Fähigkeiten, Kenntnisse und Qualifikationen aus einer reflexiven Ethnizität sind, die eine erfolgreiche Bildungslaufbahn ermöglichen (vgl. ebenfalls Flocke 2007, 92; Datta 2005; Gutiérrez Rodríguez 1999; Soeffner/Zifonun 2008, 125). Die auf Heterogenitätsmerkmalen basierende Ungleichheitsvermutung ist daher sorgfältig zu überprüfen, haben die StudentInnen doch in ihrem Bildungsverlauf bereits zahlreiche Hürden genommen, bevor sie sich an der Universität einschreiben (Resilienzthese). Zudem liegen Anhaltspunkte vor, dass die Universität von MigrantInnen vornehmlich als integratives Bildungsmilieu erfahren wird (vgl. Schittenhelm 2009).

H ETEROGENITÄTEN UND U NGLEICHHEITEN : Z UM P ROBLEM KOLLEKTIVIERENDER ADRESSIERUNG Die Diskussion um die unterschiedlichen Wirkungen der Kollektivkategorie ‚Migrationshintergrund‘ bringt deutlich zum Ausdruck, dass die Figur ‚Heterogenität‘ eingehend betrachtet und umgedacht werden muss. Was ist ‚Heterogenität‘? Zunächst meint dieser Begriff einfach ‚Unterschied‘. Semantische Nähe weisen auch die Begriffe der Vielfalt und Diversität auf. In Anschluss an die Be-

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grifflichkeit des SFB 8824 ist ‚Heterogenität‘ gegenüber ‚Diversität‘ offener, weil letztere in der Regel auf kulturelle Unterschiede verweist, während ‚Heterogenität‘ nicht nur unterschiedliche Typen von Unterschieden meint, sondern auch ihr Zusammenspiel. Im US-amerikanischen Raum wird ‚diversity‘ sowohl im Sinne von ‚Vielfalt‘ als auch von ‚Ungleichheit‘ verwendet, was eine begriffliche Unschärfe mit sich bringt (vgl. Diewald/Faist 2011).5 ‚Heterogenität‘ ist insofern neutraler, als dass unterschiedliche Typen von Attributen darunter fallen können. Zudem haben die rezenten Diskussionen um ‚Diversität‘ in Bildungsorganisationen (einschließlich der Universitäten) und die daran anschließende Kritik wichtige Facetten der ‚multikulti‘-Debatten aufgenommen, so dass diesem Begriff ideologische Konnotationen anhaften, die tendenziell einen statischen Charakter kultureller Vielfalt hervorheben. Martin Diewald und Thomas Faist (2011) unterscheiden vier Gruppen von Attributen: (1) Zuschreibungsmerkmale – wie physische Unterschiede, Geschlecht, Alter, Ethnizität; (2) kulturelle Präferenzen – darunter Lebensstile, Einstellungen, Orientierungen und Weltanschauungen; (3) Kompetenzen, Qualifizierungen und Charakteristika sowie (4) eine Differenzierung von Aktivitäten im Zusammenhang mit der gesellschaftlichen Arbeitsteilung. Die mit diesen vier Gruppen von Eigenschaften zunehmende Heterogenisierung führen sie auf einschneidende Veränderungen in der (Welt)Gesellschaft zurück: eine Pluralisierung von Lebensstilen und Zugehörigkeiten und den damit verbundenen Orientierungen; eine Transnationalisierung des gesellschaftlichen Lebens, etwa in Form von Migration; Veränderung kognitiver und nicht-kognitiver Kompetenzen und Persönlichkeitseigenschaften im Zusammenhang mit gesellschaftlichen Anforderungen sowie die Veränderungen in den Bedingungen und Anforderungen des Arbeitsmarkts. Marylin Loden und Judy Rosener (1991, 41) unterscheiden zwischen den internen (race, Ethnizität, Geschlecht, Alter, sexuelle Orientierung; physische Eigenschaften) und externen Dimensionen der Persönlichkeit (geographische Verortung, Einkommen, soziale Klasse, Gewohnheiten, Weltanschauungen, Aussehen, Status, Position im familiären Gefüge). Diese werden ergänzt um ‚organisationale Dimensionen‘ wie Ort, Funktion, Senioritätsstatus, Netzwerke, Affiliationen (Parteien/Gewerkschaften) u.a. Damit nimmt nicht nur die Vielzahl an Unterscheidungsmerkmalen zu, sondern ebenfalls die darauf bezogene Reflexivität, die weiter zur Heterogenisierung beiträgt.

4

Die Lehrforschung in den Semestern SS 2014 und WS 2014/15 wurde im Anschluss an das Projekt B2 des SFB 882 durchgeführt.

5

Vgl.

https://sfb882.unibielefeld.de/sites/default/files/SFB_882_WP_0001_Diewald_

Faist.pdf, letzter Zugriff: 12.07.2016.

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‚Heterogenität‘ bedeutet also eine Beschreibung unterschiedlicher Eigenschaften. Noch zentraler ist der Umstand, dass diese zusammenwirken und dass das Wechselspiel jeweils sowohl in der Dynamik sozialer Konstellationen als auch im jeweiligen Kontext betrachtet werden muss. Je nach Kontext spielen unterschiedliche Unterscheidungen eine mehr oder weniger wichtige Rolle; Formen und Wirkungen verändern sich im Lauf der Zeit. Damit stehen neue Heterogenitätsansätze, die Prozessualität, Kontextualität und Reflexivität betonen, in einem frappanten Spannungsverhältnis zu den weitgehend additiven Diversitätsbeschreibungen, die solche Kategorien wie ‚Geschlecht‘, ‚Behinderung‘, ‚Religion‘ oder ‚Migrationshintergrund‘ als kollektive Entitäten voraussetzen und nicht selten die Macht der von ihnen kreierten kollektiven Grenzziehungen (vgl. Lamont/Molnàr 2002) festhalten. Neuere Ansätze der Intersektionalitätsforschung (vgl. Anthias 2011; Yuval-Davis 2011; Walby 2009) weisen auf die multiplen Dimensionen sozialer Kategorisierungen und die damit erzeugten sozialen Grenzziehungen hin, die eine ungleiche Verteilung von Lebenschancen bewirken können. Zentral ist hier die Idee, dass die ungleiche Verteilung von Chancen nicht von einer einzigen Macht (Patriarchat) oder von einem Typus sozialer Beziehungen (Klassenbeziehungen) abhängen kann. Vielmehr gehen unterschiedliche Typen sozialer bzw. kategorialer Teilungen unterschiedliche Verbindungen ein: „[...] each division involves an intersection with the others […]. In this way classes are always gendered and racialized and gender is always classed and racialized and so on, thereby dispelling the idea of homogenous and essential social categories“ (Anthias 2011, 47).

Die Intersektionalitätsforschung, welche den relationalen und prozessualen Charakter der gegenseitigen Durchdringung unterschiedlicher Attribute betont und den dynamischen Charakter sozialer Produktion von Unterscheidungen hervorhebt (vgl. den ‚open-impact‘-Ansatz von Walby 2009), bietet wichtige Anschlüsse für die Betrachtung biographischer Navigation (vgl. Pfaff-Czarnecka 2013) aus der Ego-Perspektive, das heißt so, wie diese von den Betroffenen wahrgenommen und erfahren wird. Wie unterschiedliche Dimensionen symbolischer wie sozialer Grenzziehungen in sozialen Praktiken zusammenwirken, lässt sich durch Mikroperspektiven nachvollziehen, die freilegen, wie unterschiedliche Parameter des Selbst – multiple Zugehörigkeiten, Ressourcen, Aspirationen – in jeweils unterschiedlichen Gewichtungen heterogener Merkmale in lebensgeschichtlichen Ereignissen und Prozessen hervortreten.

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Während die Intersektionalitätsforschung spezifische, als besonders wichtig betrachtete Kriterien sozialer Sortierung (Vester 2009) zum Ausgangspunkt der Analyse nimmt, setzt das Konzept sozialer Navigation bei der Frage ein, welche Facetten des Selbst in einer spezifischen biographischen Situation als zentral bewertet werden und wie die hervorgehobenen Merkmale mit den anderen als bedeutsam gesetzten Facetten zusammenspielen. So kann bei dem Eintritt in die Universität (Studienbeginn) die zentrale Rolle spielen, dass die Rolle einer/s StudentIn angenommen wird. Wird der Prozess des ‚StudentIn-werdens‘ mit solchen Parametern wie Geschlecht, Ethnizität/race oder sozioökonomischer Herkunft in einen besonderen Zusammenhang gebracht? – Das ist eine empirische Frage, ebenso wie jene nach dem Zusammenwirken spezifischer Parameter, oder unter welchen Umständen spezifische Parameter besonders zentral hervortreten (der prozessuale und kontextuelle Charakter dieses Zusammenspiels kommt im Text von Kristina Matveeva besonders prägnant zum Ausdruck). Wie im Aufsatz ‚Multiple Belonging and the Challenges of Biographic Navigation‘ (vgl. Pfaff-Czarnecka 2013) argumentiert, sind Personen heute gleichzeitig und nacheinander in komplexe Konstellationen der Zugehörigkeit eingebunden (zum Konzept der ‚Zugehörigkeit‘ vgl. auch Berdjas in diesem Band). Dazu gehören familiäre und Freundschaftsbande, unterschiedliche Typen von Mitgliedschaften (Staatsbürgerschaft, Universität, Verein, Gang oder Club) und Attributen, die kollektivierende Wirkungen erzielen (können): gender, Ethnizität, Religion, sexuelle oder politische Orientierung u.a. Für den universitären Kontext ist bedeutsam, dass auch im Raum der heutigen Universität Zugehörigkeiten eine große Rolle spielen: Familienbande können den Zugang zu begehrten Universitäten und Fächern ebnen; Familienaspirationen können studentische Wege entscheidend bestimmen, und sozialer Aufstieg qua Bildung kann eine als belastend empfundene Entfremdung vom Herkunftsmilieu zur Folge haben. Mitgliedschaft in Organisationen wird durch Zugehörigkeit verfestigt. Zugehörigkeit hält zusammen. Mitglieder einer Universität entwickeln Beziehungen zueinander (z.B. über Peer-Vergemeinschaftung) und zum Gesamtgefüge – so hierarchisch und konflikthaft diese auch sein können. Es entstehen Vorstellungen eines körperschaftlichen ‚Wir‘ und damit zusammenhängend Unterscheidungen und Grenzziehungen zwischen einem sozialen ‚Innen‘ und ‚Außen‘. Für die biographische Navigation durch die Universität im Rahmen eines Studiums ist besonders wichtig, dass Universitäten einerseits durch klare organisatorische Strukturen, Regeln und Vorgaben festgezurrt sind. Dass sie jedoch andererseits durch die ‚lose Kopplung‘, den Imperativ von Entgrenzungen und Krisen (siehe oben) sowie durch den Umstand, dass der universitäre Raum im wesentlichen Maße durch Menschen hergestellt wird, strukturiert werden. So ge-

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rät der Weg durch die Universität zu einer Bewegung in einer sich bewegenden Welt (vgl. Beitrag von Pfaff und Prekodravac in diesem Band). Diese Koordinaten machen das mit der Zugehörigkeit eng verwandte Phänomen der ‚Passung‘ ausgesprochen voraussetzungsreich. Gemäß Peter Alheit et al. ist „das universitäre Feld […] eine soziale Arena, in der bestimmte (institutionalisierte) Verhaltenserwartungen auf individuelle Ressourcenlagen bei den Studierenden treffen und zu verschiedenen ‚Passungsvarianten‘ führen können. Bei Studierenden aus bildungsfernen Milieus sind prinzipiell geringere Passungschancen eher wahrscheinlich als etwa bei Studierenden aus akademischen Elternhäusern“ (Alheit et al. 2008, 583).

Die AutorInnen sehen die Annahme gleichwohl als plausibel an, dass die Verarbeitung möglicher Passungsprobleme stark variiert und mit den individuellen biographischen Ressourcen zu tun hat. An dieser Stelle zeigt sich das Spannungsverhältnis zwischen kollektivierenden Beschreibungen der Vielfalt/Unterschiede wie sie in Diversitätskonzepten vorzufinden sind und den individuellen Trajektorien besonders deutlich. Mögen Diversitätskonzepte eine sensibilisierende Wirkung erzielen, verstärken sie tendenziell eher eine defizitorientierte Konnotierung spezifischer Kategorien (wie etwa ‚Migrationshintergrund‘) und tragen dem Umstand nicht Rechnung, dass in der modernen Welt Personen Heterogenität unterschiedlich wahrnehmen und bewältigen. Das Sprechen über ‚Heterogenitäten‘ und über ihre Ungleichheit erzeugende Wirkung kann zur Verfestigung kollektivierender Grenzziehungen beitragen. An dieser Stelle zeigt sich eine frappante Ambivalenz der Sozialforschung: Kollektive Kategorien sind einerseits notwendig, um auf Problemlagen hinzuweisen, welche größere Personenkreise betreffen. So bringen die Beiträge von Belma Halkic und Katharina Losch die Wirkungsmacht von Geschlechterordnungen, die entlang kollektiver Grenzziehungen verlaufen, eindrucksvoll zum Ausdruck; ihre subtilen Analysen zeigen, welch umfassende gesellschaftliche Transformationen notwendig sind, um diese Ordnungen zu verändern. Die Ambivalenz kollektivierender Formeln zeigt sich besonders anhand der Forderungen, kollektiven Benachteiligungen entgegenzuwirken. Bekannt ist der Vorstoß Ralf Dahrendorfs, eine Quote für StudentInnen aus bildungsfernen Schichten einzuführen.6 Diskutiert werden gegenwärtig – zum Zeitpunkt der Entstehung dieses Textes – die infolge des Flüchtlingszustroms besonders virulente Möglichkeit, alternative Zugangsvoraussetzungen für StudentInnen zu schaffen, die in Deutschland Asyl

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http://www.spiegel.de/unispiegel/studium/zuwanderer-an-die-unis-soziologe-ralf-dah rendorf-fordert-migrantenquote-a-506940.html, letzter Zugriff: 12.07.2016.

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suchen. Den Bedürfnissen von berufstätigen Personen, darunter auch jungen Eltern soll mit der Flexibilisierung der Präsenzzeiten und einer Verlängerung der Studiendauer entgegengekommen werden. Diese Maßnahmen antworten auf Bedürfnislagen weiter Personenkreise, deren quantizifierbarer Umfang die Dringlichkeit von Problemlagen unterstreicht. Es bedarf einer Kollektivierung der Perspektive, um zur Wahrnehmung individueller Problemlagen zu verhelfen. Kollektivierungen können allerdings eine ‚Übersensibilisierung‘ erzeugen. Die Figur ‚Migrationshintergrund‘ unterliegt ähnlichen kollektivierenden Logiken wie auch Geschlecht und race, indem es in sozialen Praktiken insbesondere in externen Zuweisungen zu symbolischen Grenzziehungen kommt, die benachteiligende Effekte zeitigen können. Höchstwahrscheinlich unterliegen solchen kollektivierenden Symbolisierungen auch die sozioökonomische Herkunft (etwa eine ‚Ethnisierung der Armut‘), ‚Behinderung‘ und sexuelle Orientierung. Die Probleme liegen auf der Hand: Kollektivierende Formeln begünstigen kollektive Grenzziehungen, was soziale Exklusion zur Folge haben kann. Kategorien werden homogenisiert und sie werden mit spezifischen Problemlagen assoziiert. Es kommt zu einer Ausblendung individueller Handlungsräume. Bei solchen Kollektivierungen handelt es sich um stark ausgeprägte Tendenzen zum ‚Gruppismus‘ hin – einer sozialen Disposition, die gemäß Rogers Brubaker der Weltwahrnehmung eine kollektiverende Linse aufsetzt. Kollektivierungen sind Vehikel der Komplexitätsreduktion (vgl. Luhmann 2000) dergestalt, dass soziale Realitäten in einfache und handhabbare Kategorien heruntergebrochen werden. Dass Kollektivierungen hierarchisierenden Praktiken Vorschub leisten können (vgl. Dumont 1966), mit vermachteten sozialen Ordnungen zusammenhängen und interne Differenzierungen ausblenden, ist mittlerweile – etwa in den intersektionalen Forschungsansätzen – mehrfach kritisiert worden. Neuere Forschung diskutiert darüber hinaus, wie „Differenzverhältnisse“ (Mecheril /Klingler 2010) entlang kollektiver Problemlagen zugunsten der Betroffenen etwa in Maßnahmen des ‚Diversity Managements‘, das zahlreiche deutschsprachige Universitäten eingeführt haben, so gestaltet werden können, dass sie nicht weiteren Benachteiligungen entlang kollektiver Unterscheidungen Vorschub leisten. Mecheril und Klingler (2010) plädieren für Reflexivität: Dominanz- und Machtverhältnisse müssen offen gelegt und konfrontiert, mögliche ausschließende Effekte stets antizipiert und berücksichtigt werden. Defizitorientierte Ansätze gilt es zurückzuweisen.7

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Weitere Maßnahmen wie die Forderungen nach unterschiedlichen – die Reflexion fördernden – Lernformen, die Schaffung von Anlaufstellen für Personen, die diskriminierende Erfahrungen machen, neue Typen und Kriterien bei der Vergabe von Sti-

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Kollektivierende Defizitdiskurse verstellen den Blick der Wissenschaft auf brisante Problemlagen: So zeigen Joanna Pfaff-Czarnecka und Milena Prekodravac, dass nicht etwa die ‚MigrantInnen‘ eine Problemkategorie darstellen, sondern dass erst die Korrelation zwischen ethno-nationaler Herkunft mit einer geringen Ressourcenausstattung (ökonomisch, sozial, kulturell) benachteiligend ist. Auch Sven Kathöfer (in diesem Band) zeigt, dass die Figur ‚Migrationshintergrund‘ sich kaum dazu eignet, als ‚Problemkategorie‘ kollektiviert zu werden. Geschlechterdifferenz, sozioökonomische Binnendifferenzierung, differierende Sprachkenntnisse, höchst disparate Werte, Normen und Aspirationen stehen quer zu kollektivierenden Annahmen. Nur die – oftmals in der wissenschaftlichen Literatur portierte – Außenwahrnehmung des ‚Migrationshintergrunds‘ als einer Kollektiv- und meist auch einer Problemkategorie verweist auf eine symbolische Ab- bzw. Ausgrenzung, die im universitären Alltag Interaktionen strukturieren kann. Dazu gehören Normalitätsvorstellungen, etwa die Vorstellung, dass StudentInnen ‚mit Migrationshintergrund‘ in angesehenen Fachrichtungen eine Ausnahme darstellen (Unterstellungen des Nichtdazugehörens) sowie die implizite Erwartung, dass die Lehrenden ‚deutsch‘ zu sein haben (außer sie kommen aus angesehenen Universitäten im westlichen Ausland). Dazu zählen auch Unterstellungen, dass StudentInnen mit „Migrationshintergrund“ keinen oder zu wenig Arbeitsethos an den Tag legen und sich besonders anstrengen müssten (vgl. Beitrag von Pfaff-Czarnecka und Prekodravac). Sprachliche Fehler können besonders hervorgehoben werden, anstatt die Leistung des Spracherwerbs zu würdigen. Manche StudentInnen beklagen, dass ihre ausländischen Namen schlechtere Bewertungen evozieren und fordern eine durchgängige Verwendung von Immatrikulationsnummern zwecks Anonymisierung. Benachteiligende Praktiken entlang der Trennlinie ‚Migrationshintergrund‘ sind im sozialen Raum der Universität heute allerdings nicht Norm, wie Pfaff-Czarnecka und Prekodravac in ihrem Beitrag hervorheben. Die in diesem Band gesammelten Aufsätze thematisieren die kollektivierenden Grenzziehungen im universitären Raum, nehmen zugleich die Komplexität der personae eines/r jeden StudentIn wahr. Individuelle Wege werden in ein komplexes Spannungsverhältnis mit verschiedenartigen kollektiven Grenzziehungen gebracht. So zeigt etwa Kristina Matveeva in ihrem Beitrag, dass Stu-

pendien, (bessere) Unterstützung in der Studieneingangsphase sowie die Forderung, Personen aus „benachteiligten Gruppen“ zur curricular eingebetteten Reflexion über die Chancen und Begrenzungen von Universitäten (vgl. Mecheril/Klingler 2010) einzuladen, brauchen nicht an identitären Differenzkategorien anzusetzen. Solche Formate müssten einer jeden Person zur Verfügung stehen.

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dentInnen russischer Herkunft mit homosexueller Orientierung sich selbst je nach Kontext mehr oder weniger als ‚Russen‘, ‚Homosexuelle‘, ‚Familienangehörige‘ oder ‚AspirantInnen auf eine berufliche Zugehörigkeit‘ wahrnehmen und das Vermögen entwickelt haben, diese Koordinaten des Selbst miteinander zu kombinieren, während sie Reduzierungen ihrer Identität auf eine Dimension zurückweisen. Das Problem des Gruppismus lässt sich für die allermeisten sozialen Forschungsfelder feststellen. Im sozialen Raum der Universität erscheint ein unreflektiertes Festhalten an kollektiven Grenzziehungen als besonders problematisch. Das hängt mit einigen Besonderheiten des universitären Raums zusammen. Erstens ist die Universität ein Ort des Privilegs; es betreten diesen Ort vorwiegend Menschen, die über Ressourcen verfügen. Auch die durch ihre Ressourcenausstattung benachteiligten StudentInnen haben auf ihrem früheren Bildungsweg – etwa bei der Bewältigung von Hürden in der persönlichen Navigation – einen besonderen Grad an Reflexivität erlangt, um sich gegenüber kollektiven Einbindungen zu verhalten. Damit wird nicht behauptet, dass Reflexivität anderswo nicht stattfindet, sondern vielmehr, dass die Beschaffenheit der Universität gerade dazu einlädt, sich mit Projekten auseinanderzusetzen, die verfestigten Kategorisierungen entgegen wirken wollen. Das Stichwort lautet (nochmals): Universität als Krise, die Kreativität freisetzt. Ungeachtet der vielfach beschriebenen Begrenzungen des universitären Raums bietet das Studium ausreichend Raum, sich zu positionieren – sich etwa entlang solcher kollektiven Kategorien wie ‚Religionszugehörigkeit‘ oder ‚internationale/r StudentIn‘ zusammenzuschließen, gleichzeitig verschiedene kollektive Einbindungen einzugehen, oder sich kollektivierenden Einbindungen bewusst zu entziehen. Diese vielfältigen Positionierungen müssen in der Erforschung der universitären Praxis eingefangen werden. Durch die Fächer(kulturen)vielfalt sowie die verschiedenen Möglichkeiten, an bedeutsamen Interaktionen und Vergemeinschaftungen teilzunehmen, steht den StudentInnen zweitens eine große Palette an Möglichkeiten offen, sich zu verorten. Sowohl kollektive Muster als auch individuelle Dispositionen können zum Finden der persönlichen ‚Passung‘ – im Studium wie in den privaten Interaktionen – verhelfen. Die Eigenschaft der Universität, Grenzüberschreitungen in der Wissensproduktion zu wagen, lässt sich drittens auch auf die sozialen Konfigurationen übertragen. Studentische Politisierung bietet einen fruchtbaren Boden, um angestammten Normalitätsvorstellungen neue Entwürfe entgegenzusetzen, Hierarchien zu hinterfragen, kritische Entwürfe zu präsentieren. Die persönlichen ‚Politiken des Selbst‘ fließen in die studentischen Politiken ein, bestimmen und begleiten zugleich die individuellen Trajektorien des universitären Parcours.

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Z UR V ERVIELFÄLTIGUNG W EGE DES S TUDIERENS

DER INDIVIDUELLEN

Die neue Literatur enthält viele Anhaltspunkte, um die studentischen Wege durch die Universität in ihrer Singularität wahrzunehmen.8 So halten Alheit et al. (2008, 578) fest: „Parallel fand gesellschaftlich eine beträchtliche Ausdifferenzierung individueller Lebensentwürfe, der Studienangebote, der Zugangswege sowie der Variation der Motive und Kompetenzen der Studierenden statt, aus der sich eine erhebliche Binnendifferenzierung der Studierenden als sozialer Gruppe ergab (vgl. z. B. Isserstedt et al. 2004)“. Die Ergebnisse empirischer Studien legen eine Korrektur des bislang dominierenden Bildes von einer ‚normalen Studienbiografie‘ nahe. An Ungleichheitsforschung orientierte Ansätze interessieren sich für die von Pierre Bourdieu betonten habituellen Dispositionen, die auf dem Weg durch die Universität ihre Wirkungsmacht entfalten. Teilweise in Anschluss an diese werden Akteurs-zentrierte Perspektiven aufgegriffen, die mit von Paul Willis und der Birmingham School erarbeitetem Instrumentarium Wege eruieren, wie benachteiligte Jugendliche traditionelle Ordnungen herauszufordern versuchen. Erstere heben die fortwährenden Ungleichheiten, Konkurrenz und Bestrebungen zur sozialen Schließung sowie die individuellen Potentiale aber auch Begrenzungen hervor, die auf habituelle Formen zurückgehen. Letztere interessieren sich für die Potentiale kultureller Produktion, um ‚die gesellschaftlichen Institutionen‘ zu verändern, und bringen die Bedeutung des Handelns und sozialer Praktiken zum Ausdruck. Auf den universitären Raum übertragen finden sich darin wichtige Anschlüsse, um die studentische Auseinandersetzung mit den vorherrschenden Fachkulturen, den kulturellen Codes in Interaktionen unter den Peers und zwischen den StudentInnen sowie Lehrenden sowie allgemein mit der

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Zur Vielfalt nicht-traditioneller StudentInnen (vgl. Schuetze/Slowey 2002, 315; Teichler/Wolter 2004a, 72): Sie nehmen ihr Studium nicht direkt im Anschluss an die Sekundarstufe II auf. Sie haben die Studienberechtigung mehrheitlich auf alternativem Wege erworben und kommen eher aus bildungsfernen Schichten. Sie sind älter und haben in der Regel bereits einen Beruf gelernt sowie eine berufliche Tätigkeit ausgeübt. Viele üben diese berufliche Tätigkeit neben dem Studium weiter aus. Einige absolvieren ein Teilzeitstudium. Sie haben Familie und Kinder. Eine genaue Abgrenzung von „traditionellen Studierenden“ lässt sich nach Ansicht von Ulrich Teichler und Andrea Wolter allerdings nicht vornehmen, weil manche StudentInnen in einigen Aspekten als „traditionell“, in anderen dagegen als „nicht-traditionell“ eingestuft werden können (vgl. ebd.).

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universitären Kultur in den Blick zu nehmen. Diese Auseinandersetzungen stehen in einem engen Zusammenhang mit politischen und sozialen Positionierungen, die im universitären Raum nach Innen (Kritik an universitärer Praxis) und nach Außen (gesellschaftliche Problemlagen, welche oftmals die universitäre Einbettung tangieren) gerichtet werden. Neuere Jugendforschung behält den gesellschaftskritischen Duktus, während sie sich auf agency und Praxis junger Frauen und Männer konzentriert, die in ihrem Prozess des Werdens Vorstellungen des Selbst hervorbringen. Eine zentrale Rolle spielt hier Judith Butlers Konzept der Performanz, mit dem eingefangen werden kann, wie Vorstellungen des Selbst im Prozess des Sprechens, des ‚sich Stylens‘, des Handelns entstehen (vgl. auch Jeffrey/Jefferey/Jefferey 2008). In dieser Denkfigur sind Identitäten nichts Stabiles; vielmehr sind sie in einer fortwährenden Bewegung begriffen – entsprechend der Veränderung von Positionen im Prozess sozialer Navigation (vgl. Pfaff-Czarnecka 2013). Gerade aus der Perspektive einer Auseinandersetzung mit sozialem Aufstieg im Rahmen der tertiären Bildung wird die Frage, wie junge Menschen AutorInnenschaft über ihr Leben erlangen, besonders interessant und wichtig. Welche Transformationen (vgl. King 2014) werden vollzogen und zu welchem Preis (sozialer Zugehörigkeit)? Werden vor allem Strategien der Anpassung anvisiert, oder vielmehr solche der Ironie, Subversion und des Spiels (vgl. Butler 1990)? Wie kohärent bzw. partiell und widersprüchlich (vgl. Yon 2000) werden die neuen Bilder des Selbst?

ABSCHLIESSENDE B EMERKUNGEN Gehören solche Überlegungen in das Feld der Universitätsforschung? Ganz gewiss, denn die Universität ist ein sozialer Raum, in dem disparate gesellschaftliche Sphären zusammenwirken. Sie ist ebenso der Ort wissenschaftlicher Innovation und Lehre, wie ein Ort der als sozialen Auftrag begriffenen Bildung und eben auch der (Selbst-)Erziehung. Da mittlerweile die Hälfte eines Jahrgangs den durch Hierarchien und Begrenzungen strukturierten universitären Raum betritt, ist es unvermeidlich, dass im universitären Parcours die individuellen Prozesse der Selbstverortung (über Aneignung und Widerstand), der Herausforderung und der Aushandlung einen wichtigen Bestandteil des sozialen Lebens an der Universität einnehmen. Die moderne Universität ist einerseits ein Ort der Kanonisierung: Hier etablieren sich wissenschaftliche Traditionen, organisatorische Kulturen und Teams. Zugleich ist die Universität so vielen externen Einflüssen (global, international, transnational, national und regional) ausgesetzt,

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dass hier ebenfalls fortwährend (mehr oder minder Kreativität beflügelnde) Entgrenzungen stattfinden. Sind wissenschaftliche Entgrenzungen für die Universität zentral, spielen im studentischen Alltag die Herausforderungen der Vielfalt (auch unter den StudentInnen) eine beträchtliche Rolle. Der soziale Raum der Universität ist gelebte Heterogenität. Die organisatorische Wirklichkeit der Universität hat (auch) subjektive Wurzeln und wird im Prozess des Sensemaking der StudentInnen erzeugt. Das Konzept des ‚universitären Parcours‘ zeigt auf, wie formelle Organisationsstrukturen sowie studentische Interaktionen, Formen der Vergemeinschaftung und symbolische Ordnungen zusammenwirken. Aus der persönlichen Warte heraus müssen die universitären Wege in Bezug auf Teilhabe- und Verwirklichungschancen verstanden werden. Wie fasst man Fuß im universitären Raum? Wie verschränkt sich Wissenserwerb mit persönlicher Entfaltung? Wo(rin) liegen die wichtigsten Begrenzungen? Mehrere Aufsätze dieses Bandes setzen sich mit diesen Fragen auseinander. Nadia Sadrudin beschreibt die Universität als einen wichtigen Rahmen, um dem Weg der Individualisierung richtungsweisende Impulse zu geben, in dem Wissenserwerb und wissenschaftliche Karriere als Ziel andere Möglichkeiten persönlicher Entfaltung (etwa die Elternschaft) in den Schatten stellt. Kristina Matveeva beschreibt die Universität wiederum als einen Ort, an dem Menschen, die der heterosexuellen Norm nicht entsprechen, berufliche Qualifikationen erwerben können, die persönliche Autonomie fördern, und wo zugleich eine Auszeit aus einer Vielzahl an sozialen Einbindungen und Erwartungen genommen werden kann, um sich noch weiter ‚in der Welt‘ zu verorten. Zusammen genommen bringen die hier präsentierten Aufsätze die Heterogenität der an Universitäten Studierender zum Ausdruck. Es kommen auch die unterschiedlichen Konsumchancen zur Sprache und die damit zusammenhängenden Positionierungen von StudentInnen an einer türkischen Universität – mit oder ohne Stipendium, die sich durchaus entlang dieser Unterscheidung wahrnehmen (Ekin Yildiran). Dieser Band thematisiert eine breite Palette an sozialen Grenzziehungen, die an Universitäten wirken: Geschlecht, Ethnizität, Inländer/Ausländer, sexuelle Orientierung. Die meisten Texte greifen das fortwährende Problem äußerst disparater Ressourcenausstattung auf (Frerk Blome; Larissa Bäumer), die Teilhabechancen einschränkt und die Verwirklichungschancen weitgehend tangiert. Fast alle Texte thematisieren die Wirkungsmacht der kollektivierenden Grenzziehungen, während die ‘Antworten‘ individuell ausfallen.

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L ITERATUR Alheit, Peter/Rheinländer, Kathrin/Watermann, Rainer 2008: Zwischen Bildungsaufstieg und Karriere. Studienperspektiven „nicht-traditioneller Studierender, in: Zeitschrift für Erziehungswissenschaft 11 (4), S. 577-606. Bade, Klaus/Bommes, Michael (Hg.) 2004: Migration, Integration, Bildung: Grundfragen und Problembereiche. Institut für Migrationsforschung und Interkulturelle Studien (IMIS), Universität Osnabrück. Bargel, Timo/Ramm, Michael/Multrus, Frank 2008: Studiensituation und studentische Orientierungen. 10. Studierendensurvey an Universitäten und Fachhochschulen. Hg. Vom Bundesministerium für Bildung und Forschung, Bonn/Berlin. URL: http://cms.uni-konstanz.de/fileadmin/gso/ag-hochschul forschung/publikationen/PublikatBerichte/Langbericht2008.pdf (Stand 24. 02.2010). Baumert, Jürgen/Kunter, Mareike 2006: Stichwort: Professionelle Kompetenz von Lehrkräften. Zeitschrift Für Erziehungswissenschaft, 9 (4), 469-520. Bauschke-Urban, Carola 2008: Zwischen den Welten. Eine neue Generation von Wissenschaftlerinnen in transnationalen Räumen?, in: Zimmermann, Karin/Kamphans, Marion/Metz-Göckel, Sigrid (Hg.): Perspektiven der Hochschulforschung, Wiesbaden, 273-290. Berger, Peter A. und Heike Kahlert 2005: Institutionalisierte Ungleichheiten: Wie das Bildungswesen Chancen blockiert. Beltz Juventa, 2005. Boos-Nünning, Ursula 2008: Berufliche Bildung von Migrantinnen und Migranten. Ein vernachlässigtes Potenzial für Wirtschaft und Gesellschaft. Migrations- und Integrationsforschung in der Diskussion, Wiesbaden, 255-286. Bourdieu, Pierre 1990: Was heißt sprechen? Die Ökonomie des sprachlichen Tausches, Wien. Bourdieu, Pierre 2007: Die feinen Unterschiede. Suhrkamp-Taschenbuch Wissenschaft ; 658 (1. Aufl., [Nachdr.].), Frankfurt am Main. Bourdieu, Pierre/Passeron, Jean-Claude 1971: Die Illusion der Chancengleichheit: Untersuchungen zur Soziologie des Bildungswesens am Beispiel Frankreichs, Stuttgart. Bülow-Schramm, Margret 2008: Hochschule als Lebenswelt für Studierende: Ein Ziel des New Public Management?; in: Zimmermann, Karin/Kamphans, Marion/Metz-Göckel, Sigrid (Hg.): Perspektiven der Hochschulforschung, Wiesbaden, 231-250. Butler, Judith 1990: Gender trouble. Thinking gender, New York u.a.

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Die Universität als Soziotop N ABY B ERDJAS

Die Universität ist mehr als die Summe ihrer formalen Teile.1 Unterhalb des Radars von Forschung, Lehre, Drittmitteln und Publikationszahlen zeigt sich ein wahrhaftiges Biotop – oder eher ein Soziotop – in dem sich gesellschaftliche Heterogenität in ihrer Gänze entfaltet. Der soziale Raum Universität hält ein Geflecht verschiedenster sozialer Dynamiken bereit, das nicht nur in seinen formal zugeschriebenen Zügen und Rollenerwartungen an die Akteure aufgeht (vgl. Luhmann 1976, 29). Die formalen Aspekte sind und bleiben tragende soziale Elemente der Universität. Zugangs- und Studienmöglichkeiten, Hochschulberechtigung oder Immatrikulation, Notenvergabe und Teilnahmescheine verkörpern zentrale Rahmungen studentischen Lebens. Publikationen, Lehrevaluationen, Drittmittel- und Forschungsanträge stellen darüber hinaus ein essentielles Standbein professioneller Wissenschaft dar. Die Universität hält jedoch mehr als diese und andere formalisierte Tätigkeitsfelder bereit. So ist die biographische ‚Etappe‘ Studium ein Prozess, in dem sich die Beteiligten in viel mehr eingebunden sehen als in die curricularen Abläufe. Unterhalb dieser offiziellen Ebene kann ein interessierter Blick ein regelrechtes Soziotop aufspüren: Einen sozialen Raum, in dem StudentInnen wie Lehrende in einer Vielzahl von Verhältnissen zueinander und zu sich selbst gesetzt werden. Dabei ist eine emotionale Komponente zentral. Wie das Biotop ein komplexes Geflecht organischen Lebens darstellt, verkörpert das Soziotop Uni-

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Mein Dank gilt vor allem Frau Prof. Dr. Joanna Pfaff-Czarnecka für die intensive Betreuung dieses Beitrags und die spannenden Aufgaben, die mit diesem Sammelband verbunden waren. Des Weiteren danke ich Frau Heike Brandl für ihre Unterstützung bei der Ausarbeitung dieses Beitrags. Zudem sei den AutorInnen für ihre Geduld und ihren Fleiß gedankt.

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versität einen Raum pulsierenden – und vor allem vielseitigsten – sozialen Lebens. Paul Mecheril und Birte Klingler sehen das Moment fachlicher sowie emotionaler Integration von StudentInnen in der Universität als einen Prozess permanenter Neu-Positionierung. Sozialstrukturelle Differenzen, Ethnizität und andere faits sociaux bilden einen maßgeblichen Bestandteil des sozialen Lebens der Universität. Privates und Professionelles stehen nicht in Kontrast, sondern verhalten sich komplementär zueinander. „[Die] Universität […] ist […] ein sozialer Raum, in dem Interaktionspraktiken, Wissen und Erfahrungen lebensweltlich und lebensgeschichtlich verankert sind und in dem soziale und kulturelle Zugehörigkeit erworben wird“ (Klingler/Mecheril 2010, 99).

Dieser Sammelband zeigt, wie StudentInnen und Lehrende ein Verständnis ihrer Verortung an der Universität – oder sogar in der Gesellschaft allgemein – herstellen. Dies wird anhand der Analyse verschiedenster, in unterschiedlichen (u.a. nationalen) Kontexten beobachteter Fach- und Regionalkulturen herausgearbeitet. „Studierende entwickeln ihre soziale und kulturelle Zugehörigkeit zur Universität im Laufe des Studiums, halten diese aufrecht, revidieren und festigen sie“ (ebd., 99). Die in das universitäre Soziotop eingebettete Verortung ihrer Akteure (vgl. Giddens 1995, 32) und die daraus führenden Wege zum Beruf sowie zu sich selbst in einem gesellschaftlichen und gemeinschaftlichen Gefüge stehen dabei im Vordergrund. Die Beiträge verhandeln gelebte „[…] [praktische] Teilhabe an akademischer Kultur“ (ebd.). Dabei ist der strukturellen Dimension Rechnung zu tragen. „Strukturelle Probleme können zu biographisch zu bearbeitenden [Zugehörigkeits-]Problemen für Individuen werden“ (ebd.: 101).

D REI K OMPONENTEN DER Z UGEHÖRIGKEIT Die Beiträge dieses Sammelbandes orientieren sich an der individuellen sowie kollektiven Bedeutung von Zugehörigkeit und stellen auf deren verschiedene Konstellationen an der Universität scharf. Zugehörigkeiten zeigen sich als ein komplexes Geflecht, in dem eine analytische Akzentuierung zugunsten der subjektivierenden und der kollektivierenden Momente dieses Geflechts vorgenommen werden kann. Dies wiederum geschieht, ohne zu behaupten, diese Momente seien empirisch getrennt voneinander beobachtbar – geschweige denn, sie seien faktisch separat voneinander wirksam. Die Beiträge des Sammelbandes le-

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gen auf unterschiedliche Art und Weise Schwerpunkte, ohne das oben genannte Geflecht, aus dem die Konstellationen der Zugehörigkeit bestehen, aus den Augen zu verlieren. Sie zeigen zudem die Wirkmächtigkeit von Grenzziehungen und deren Bedeutung für Zugehörigkeit(en) im sozialen Raum Universität anhand verschiedenster Fälle und Konstellationen. Dabei schaffen sie es, die Kontingenz bestehender Grenzen und Zugehörigkeiten aufzudecken. Gleichsam wird die Bedeutung derselben für die beobachteten und interviewten Akteure unterstrichen. Zudem präsentieren die Beiträge Dynamisierungen von Zugehörigkeiten und Grenzziehungen im Rahmen der Universität auf unterschiedlichste Weise. Es wird illustriert, „[…], was […] passiert, wenn [soziale Orientierungsmarker] […] mobil werden, wenn also infolge der Dynamisierung [der sozialen Einbettung des Akteurs] […] die ‚Weltdinge‘ nicht nur beständig ihren Ort, sondern auch noch ihre Relation und ihre Höhenangaben ändern, wenn die [metaphorische] Landkarte also konstitutiv instabil wird“ (Rosa 2012, 381).

Der Band präsentiert drei Komponenten von Zugehörigkeiten und Grenzziehungen. Diese verhalten sich komplementär zueinander: Der erste Teil dieses Sammelbandes richtet den Blick auf die Organisation Universität. Sie wird als Ort der Reproduktion kollektivierender Grenzziehungen ebenso wie der damit zusammenhängenden sozialstrukturellen Ungleichheiten rekonstruiert. Ökonomisches, kulturelles und soziales Kapital werden hier in ihrer Wirkung auf den universitären Alltag untersucht. Gleichsam wird die Bedeutung von sexueller Orientierung und/oder Geschlecht beleuchtet. Nicht zuletzt findet Migration in ihrer Bedeutung für das soziale Leben der Universität Beachtung. Dabei zeigen die Beiträge des Bandes die verschiedenen darin verorteten Konfliktlinien und situativen ‚Coping‘-Strategien von individuellen Akteuren sowie Gruppen auf. Im zweiten Drittel rücken gruppenbezogene Abgrenzungs- sowie Zugehörigkeitsdynamiken in den Vordergrund. Soziales Kapital, sexuelle Orientierung und Geschlecht, sowie soziale und regionale Herkunft werden hier als strukturierende Faktoren im universitären Milieu untersucht. Hier zeigt sich vor allem die prinzipielle Unsicherheit kollektiver Identitäten. Die Beiträge verdeutlichen, dass Stereotypisierungen ins Leere greifen. Jene sind wiederrum vor allem dort unzureichend, wo sie sich auf einen einzigen identitären Aspekt versteifen und anhand dessen Gruppen oder Akteure eingleisig zuzuordnen versuchen, anstatt der Intersektionalität sozialer Wirklichkeit Rechnung zu tragen (vgl. Degele/Winkler 2009, 28). Vielmehr zeigt sich in diesem Teil, inwiefern kollektive

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Identitäten in einem Netzwerk aus zum Teil widersprüchlichen ‚Diskurssträngen‘ entstehen. Ihre Stabilität ist dabei stets als eine aktive Stabilisierung zu verstehen – und nicht als eine ontologische Konstante. Das letzte Drittel dieses Sammelbandes fokussiert die Politiken des Selbst, wodurch die subjektivierenden universitär angebundenen Sozialisationserfahrungen sichtbar werden. Die gelebten Politiken des Selbst werden über untersuchte Zugehörigkeiten und Grenzziehungen sozial eingebettet. Das schließt sowohl die Stabilisierung von Zugehörigkeitsmustern durch Grenzziehungen als auch deren Destabilisierung durch die Infragestellung ihrer Legitimität ein. Um den drei Komponenten der Zugehörigkeit im universitären Kontext gerecht zu werden, fächert sich der Sammelband in die Abschnitte ‚Drinnen ist Draußen. Nur anders‘, ‚Wir sind die Anderen. Die Anderen sind Wir‘ und ‚In der Krise lebt das Selbst‘, auf. Bevor diese drei Akzentuierungen des sozialen Lebens der Universität vorgestellt werden, wird hier ein Zwischenschritt vorgeschoben. Dieser soll einem tieferen Verständnis der im Sammelband präsentierten und analysierten Empirie dienen. Dieser Zwischenschritt nimmt eine paradigmatische Einordnung der einzelnen Beiträge vor. Dafür wird die Bedeutung ‚symbolischer‘ wie ‚sozialer‘ Grenzziehungen, auf die Praxis gelebter universitärer Zugehörigkeit zugeschnitten, aufgezeigt. Das Grenzziehungskonzept von Michèle Lamont und Virág Molnár ist dabei ein heuristischer Ausgangspunkt, der unverzichtbar ist, um sowohl auf universitäre Zugehörigkeiten als auch auf die ‚Hochschulpolitiken des Selbst‘ einzugehen. Im Anschluss daran wird das Zugehörigkeits-Konzept vorgestellt, das Joanna Pfaff-Czarnecka kritisch auf das universitäre Soziotop ausrichtet und vom Identitäts-Begriff abgegrenzt. Jenes wiederum wird im dritten Schritt dieses paradigmatischen Intermezzos auf den von Michel Foucault vorgetragenen Gedanken, Subjektivierung zeige sich durch verschiedene Politiken des Selbst, bezogen. Mein Beitrag soll zeigen, inwiefern die einzelnen Beiträge dieses Bandes sowohl Grenzziehungs- und Auflösungsprozesse als auch das Moment multipler Zugehörigkeiten oder Politiken des Selbst aus ihrer Empirie heraus sichtbar werden lassen. Wie sie zur Konzeptualisierung dieser wichtigen Konzepte beitragen, wird sich später aus der Lektüre der Texte erschließen.

G RENZEN

ZIEHEN

– G RENZEN

AUFLÖSEN

Grenzziehungen sind eine grundlegende Dynamik für die (Re-)Produktion von Zugehörigkeiten und daraus hervorgehenden Politiken des Selbst. Ein symbo-

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lisch komfortables ‚Innen‘ bedarf eines notwendigen ‚Außen‘. Oder konstruktivistisch gesprochen: Die Beobachtung des Eigenen als Eigenes muss auf einer Unterscheidung zwischen entsprechenden dazugehörigen und als fremd behandelten Elementen erfolgen (vgl. Luhmann 1998, 620 f.). Zugehörigkeit als dynamisierter Ein- und Ausschluss zeigt die „Möglichkeitsbedingungen eines geschlossenen Systems [auf] […]: nur innerhalb eines solchen ist es möglich, […] die Bedeutung jedes Elements zu fixieren“ (Mouffe/Laclau 1991, 164). Über das Herstellen der Möglichkeit eines emotional-symbolischen Raumes, der als soziale Heimat wirkt, werden Attribute bestimmt, voneinander abgegrenzt und zu notwendigen Bedingungen der Zugehörigkeit verdichtet. Wir befinden uns hiermit inmitten dessen, was als Grenzziehung diskutiert wird. Die prinzipielle Prekarität und gleichzeitige soziale Wirkmächtigkeit von Grenzziehungen wird u.a. in Ekin Yildirans „Boundaries at Work: The Habitus at Private Universities in Turkey“ in diesem Band eindrucksvoll dargestellt. Es werden Grenzziehungen und -auflösungen zwischen StipendiatInnen und ‚regulären‘ StudentInnen untersucht. Das Hauptaugenmerkt liegt dabei auf den Konstitutionsmodi von Grenzziehungen und den diesen zugrundeliegenden habituellen Differenzen zwischen den beiden Gruppen. Wie in diesem Sammelband ersichtlich wird, verschränken sich divergente Grenzziehungs-Formen ineinander. Lamont und Molnár treffen eine analytische Unterscheidung zwischen symbolischen und sozialen Grenzziehungen. Während erstere ganz allgemein die individuelle sowie kollektive Organisation von Wahrnehmung und Deutung der Welt meinen (a), handelt es sich bei letzteren um objektivierte soziale Unterschiede (b). Ad a) „Symbolic boundaries are conceptual distinctions made by social actors to categorize objects, people, practices, and even time and space. They are tools by which individuals and groups struggle over and come to agree upon definitions of reality“ (Lamont/Molnar 2002, 168).

Hierbei handelt es sich also um das Spiel der Differenzen, in dessen Rahmen Bedeutung für Akteure und Gruppen erzeugt wird. Über symbolische Grenzziehungen manifestiert sich ein für Akteure wahrnehmbares ‚Wir‘ in Abgrenzung von Anderen: „Symbolic boundaries also separate people into groups and generate feelings of similarity and group membership” (ebd.; vgl. Epstein 1992, 232). Ad b) Soziale Grenzziehungen zeigen sich als objektivierte Formen von Ungleichheiten:

48 | NABY B ERDJAS „Social boundaries are objectified forms of social differences manifested in unequal access to and unequal distribution of resources (material and nonmaterial) and social opportunities“ (Lamont/Molnar 2002, 168).

Es handelt sich dabei also um Grenzen, denen sich Akteure oder Gruppen gegenüber sehen, ohne dass eine voluntaristische Umdeutung symbolischer Interpretationsmöglichkeiten die jeweilige soziale Grenzziehung überwinden würde. Symbolische sowie soziale Grenzziehungen sind ebenso miteinander verquickt wie mit Konstellationen der Zugehörigkeit. Ohne die entsprechende verfestigte symbolische Organisation der Alltagswahrnehmung ist keine Zuschreibung von Zugehörigkeit möglich. Beides bedingt eine Verfestigung sozialer Unterschiede und objektivierter Barrieren. Die Relevanz der zwei Ebenen von Grenzziehungen wird in Larissa Bäumers Beitrag mit dem Titel „Was Förderer fordern – Begabtenförderung und soziale Ungleichheit“ anhand eines bildungspolitisch brisanten Themas deutlich. Sie analysiert und vergleicht die Selektionskriterien zweier Förderungswerke. Dabei zeichnet sie nach, ob und inwiefern ein meritokratisches Verständnis von Leistung sowie eine naturalisierende Vorstellung von Begabung Determinanten sozialer Ungleichheit auf zweifache Weise nicht gerecht wird: Erstens handele es sich dabei um eine fehlende Beachtung sozialisatorisch – und damit schichtspezifisch – gewonnener Fähigkeiten. Zweitens werde so Bildungsungleichheit entsprechend sozialer Herkunft reproduziert, die dem Meritokratiekonzept prinzipiell zuwider steht. Grenzziehungen finden hierbei also permanent – ob von den jeweiligen Organisationen beachtet oder unbeachtet – statt. Nichtsdestotrotz ist das Verhältnis von Begrenzung und Ermöglichung sozialen Wandels ein dynamisches. So können Irritationen und Verschiebungen symbolischer Grenzziehungen soziale Grenzziehungen ins Wanken bringen – mit direkten Auswirkungen auf die stets prekäre Abgrenzung eines ‚Wir‘. In der Analyse von dynamisierten Zugehörigkeitskonstellationen wird die prinzipielle Instabilität von Grenzziehungen deutlich: „The concept of belonging is […] well suited to studying boundary dynamics. But instead of taking social boundaries for granted, it helps us explore the shifting character of borders and frontiers, imagined and real, as well as other possibilities of boundary crossing, boundary shifting, and boundary blurring […]“ (Pfaff-Czarnecka und Gérard Toffin 2011, xiv).

Gleichsam zeigen sich im Fokus auf Zugehörigkeiten die symbolischen und sozialen Stabilisierungsanstrengungen, die sich in Grenzziehungen manifestieren.

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Dieses Verhältnis von Stabilität und Destabilisierung wird in diesem Sammelband beispielsweise in dem Artikel „Binär codiert? Zur Herausforderung männlicher Fachkultur in der Informatik“ von Katharina Losch elaboriert. Der Beitrag demonstriert unter anderem, inwiefern die männliche Dominanz in Fachkulturen trotz bildungspolitischer Anstrengungen im Zuge der englischen Widening Participation – Kampagne aufrechterhalten wird. Es werden die Fälle junger Informatikstudentinnen untersucht. Dabei zeigen sich deren spezifische Herausforderungen in der klassischen Männerdomäne der Informatik. Trotz eines bildungspolitischen Gleichheitsversprechens reproduziert sich unter der Oberfläche performativer Zugeständnisse eine symbolisch verfestigte männliche Dominanz. Gleichzeitig ziehen Studienerfolg und letztlich schlichtweg die Teilhabe der interviewten Frauen an der Fachkultur gewissermaßen ‚Mikro-Erschütterungen‘ nach sich. Die implizit gehaltene männliche ‚Vorherrschaft‘ jener Fachkultur wird an verschiedenen Stellen angekratzt. Grenzziehungen werden also destabilisiert und das Terrain reorganisiert. In diesem Beitrag zeigen sich die Verschränkung von Mikro- und Makroebene unter dem Stern sozialen Wandels. Konstellationen der Zugehörigkeit, Politiken des Selbst und Grenzziehungen sind drei Aspekte, die auf drei Ebenen des sozialen Lebens an der Universität wirken. Erstens auf der Ebene universitärer Subjektivierung und zweitens im Falle von Gruppen, Netzwerken oder Subkulturen an der Universität oder in ihrem ‚Dunstkreis‘. Drittens schließlich werden die drei genannten Aspekte im Rahmen einer Analyse der Universität als Lehr-, Lern- und Arbeitswelt beleuchtet.

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ZUGEHÖRIGE

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Die verschiedenen Beiträge dieses Bandes zeigen deutlich: Die Analyse der an der Universität beobachtbaren Zugehörigkeiten, Grenzziehungen und Politiken des Selbst gleicht einem Kaleidoskop. Es werden verschiedenste Konstellationen sichtbar, in denen sich der Begriff der Zugehörigkeit gewissermaßen als heuristisches Lot zeigt, welches das Wechselverhältnis zwischen Individuum, Gemeinschaft und Gesellschaft in einem Begriff in Rechnung stellt. „Zugehörigkeit bietet eine emotionale soziale Verortung, die durch gemeinsame Wissensvorräte, das Teilen von Erfahrungen oder die Verbundenheit durch Bande von Gegenseitigkeit entsteht und bekräftigt wird, die man nicht explizit zu thematisieren braucht“ (Pfaff-Czarnecka 2012, 8). Beispielhaft kann dafür die Studie von Agata Grodzka genannt werden, die die subjektive Bedeutung für StudentInnen mit massiven körperlichen Einschränkungen, zur Gruppe der StudentInnen zu gehö-

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ren, darlegt (vgl. Grodzka 2015). Im Spannungsfeld von expressivem Selbstentwurf und hegemonial verfassten Normalitätsdiskursen wirkt Zugehörigkeit als Desiderat und subjektiv empfundene Chance.

I DENTITÄT

ALS SOZIOLOGISCHER

P ROBLEMFALL

Wenn der Selbstentwurf von Akteuren sozialwissenschaftlich verhandelt wird, erscheint die Rede von Identität auf den ersten Blick plausibel. Genauer betrachtet zeigt Identität sich jedoch in einer soziologischen Beobachtung begrifflich als nicht gänzlich unproblematisch. Von Identität zu sprechen, kann zu einer vorschnellen Vereinheitlichung verleiten. Schon semantisch zeigt sich: ‚Identität‘ bezeichnet ein ‚Mit-sich-selbst-gleich-sein (oder werden)‘. So leitet sich ‚Identität‘ vom lateinischen ‚idem‘, also ‚dasselbe‘ ab. Identität wird direkt mit ‚Selbigkeit‘ übersetzt. In der formalen Logik stellt sie einen Zustand dar, in dem „jeder Gegenstand zu sich selbst und nur zu sich selbst steht“ (Gessmann 2009, 338). Auch Heidegger hält fest: „Der Satz der Identität lautet nach einer geläufigen Formel: A=A“ (Heidegger 1957, 9). In Abgrenzung vom Identitätsbegriff kritisiert Pfaff-Czarnecka in Anschluss an Rogers Brubaker und Frederick Cooper diesen als zu stark an eine kontrafaktische Kohärenz der Verortung eines Biographieträgers oder einer im Kollektivsingular verhandelten kollektiven Identität gebunden (vgl. Brubaker/Cooper 2000, 2-7). Dementsprechend schwinge hier auch die Gefahr mit, in einen Gruppismus bzw. eine methodologische Ethnisierung zu verfallen (vgl. PfaffCzarnecka 2012, 24). So zeigt beispielsweise Kristina Matveevas Studie „In Search of Belonging: Russian Homosexuals in German Universities“ auf eindrückliche Weise, dass eine deduktive Subsumtionslogik bei der Beschreibung der Selbst-Bestimmung von Akteuren zu kurz greift. Die untersuchten Fälle zeigen deutlich, wie heterogen sich Effekte von Migration einerseits und sexueller Orientierung andererseits zeigen. Weder der Kollektivsingular ‚russisch‘ noch ‚homosexuell‘ oder ‚studierend‘ würden den spezifischen Lebenslagen ihrer Interviewees gerecht werden. Erst ein Blick auf die jeweils individuell beobachtbaren, spezifischen Zugehörigkeiten und Anerkennungserfahrungen als besondere ‚Mischverhältnisse‘ können auf die faktische Komplexität der Fälle abstellen. Die explizite Distanzierung vom Identitätsbegriff hat forschungsprogrammatische Konsequenzen. Schließlich wird hiermit gerade die relationale Verankerung des Akteurs mit Hinblick auf sozialen Zusammenhalt, emotional-symbolische Vertrautheit und konstitutive Grenzziehung behauptet. Im Zugehörigkeits-

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Begriff treffen also subjektive wie kollektive Erwartungshorizonte, Erfahrungsräume (vgl. Koselleck 1979, 350-359) und habituelle Abgrenzungsprozesse aufeinander. Im sozialen Leben der Universität zeigt sich ein Spannungsfeld der Bedeutungsvielfalt: Klassisch bildungsbürgerlicher Habitus trifft auf bildungsferne Sozialisation (vgl. Bäumer, Blome, Yildiran, Kathöfer in diesem Band) und die Bedeutung von Zuschreibungen nach Geschlecht und sexueller Orientierung wirkt sich auf subjektive Selbstbeschreibung, Studienerfolg sowie Fachkulturen aus (vgl. Halkic, Losch, Matveeva in diesem Band). Belma Halkic rekonstruiert beispielsweise in ihrer Studie „Binär codiert?“, inwiefern sich Geschlechterdifferenzen trotz offizieller Gleichstellung in Vietnam im universitären Alltag reproduzieren. Dabei zeigt ihr Artikel mit fast schon erstaunlicher Deutlichkeit, wie stark sich Ungleichheiten entlang der Differenz ‚männliche/weibliche StudentInnen‘ niederschlagen. Dies wiederum geschieht zu Ungunsten der jungen Frauen, obschon diese ein höheres Leistungsniveau an den Tag legen. Chancen, so zeigt sich in Halkics Beitrag, werden nicht nur durch Leistung erstritten, sondern bleiben trotz politischer Anstrengungen in Vietnam ungleich verteilt. Auch Migrationserfahrungen zeigen ihre Effekte bei der Selbstverortung und der Verteilung objektiver Chancen der Akteure an Universitäten. Auswirkungen auf Bildungs- und Karriereverläufe bleiben dabei nicht aus (vgl. Matveeva, Sadrudin, Kathöfer in diesem Band). Die Beiträge legen allerdings frei, dass im universitären Kontext ‚Migrationshintergrund‘ als eine kollektive Problemkategorie eine unterkomplexe und damit unzutreffende Beschreibungsgrundlage liefern würde. Insgesamt zeigen sich Zugehörigkeiten in diesem Sammelband als ein Begriff, in dem das Individuum in seiner und ihrer vergesellschafteten Stellung analytisch erfasst werden kann. Dies jedoch, ohne die individuelle Besonderheit der einzelnen Fälle aus dem Auge zu verlieren und eine essentialistische lediglich mit einer soziologischeren Subsumtionslogik zu vertauschen. Der Akteur ist also nicht primordial gegeben und muss lediglich ‚freigelegt‘ werden (vgl. Rosa 1998, 57 f). Ihn als einen lediglich diskursiv geformten ‚Sozialgolem‘ zu verhandeln, wäre wiederum ebenfalls verkürzt. Vielmehr navigieren AkteurInnen entlang der „[…] bedeutsamen Parameter der Zugehörigkeit, [um diese] miteinander in Übereinstimmung zu bringen“ (Pfaff-Czarnecka 2012, 11).

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Grenzziehungen, -auflösungen und Zugehörigkeiten bilden sozialwissenschaftlich beobachtbare Phänomene, die sich als Bedingungen bestimmter Politiken des Selbst beschreiben lassen. Im Gegensatz zu einem essentialistischen Verständnis von Identität sind Politiken des Selbst in Anlehnung an Foucault zu verstehen. Das ‚Selbst’ der Akteure wird dabei nicht naturalisiert, sondern historisiert: „[The] […] self is nothing else than the historical correlation of the technology built in our history. […] And in this case, one of the main political problems nowadays would be […] the politics of ourselves“ (Foucault, in: Milchman/Rosenberg 2011, 4).

Politiken des studentischen und wissenschaftlich professionellen Selbst umschreiben die soziale Verortung universitär angebundener Subjektivierungen. Dabei ist hier bewusst von Politiken und nicht nur von Technologien des Selbst die Rede. Erstere unterstreichen ein Moment des Politischen als potenziell konfliktgeladenes oder gar antagonistisch verfasstes Verhältnis verschiedener Entwürfe des Selbst (vgl. Marchart 2010, 38-42). Gesellschaftliche Konfliktlinien verlaufen also auch durch die Hochschulpolitiken des Selbst. Vor dem Hintergrund unterschiedlicher Zugehörigkeitskonstellationen und damit einhergehender Grenzziehungen gewinnt eine auf Konfliktpotentiale abgestellte Perspektive an Plausibilität. So kehrt beispielsweise der Beitrag „Da kann man auch gleich Künstler werden“ von Frerk Blome ein Konkurrenzverhältnis verschiedener Milieus in der Biographie eines Akademikers aus bildungsfernem Elternhaus hervor. Selbstbild sowie Lebensführung entsprechen im untersuchten Fall nicht den individuellen Fähigkeiten oder den Leistungen während des Studiums und der Promotion. Vielmehr zeigt sich die bildungsferne Primärsozialisation des Interviewees als derart wirkmächtig, dass sich pragmatisch-risikoaverse Handlungsmuster als Ausdruck seines Habitus beobachten lassen. Den Politiken des Selbst nachzugehen, gehört also zu den erklärten Zielen des Sammelbandes. Ein Fokus auf Zugehörigkeiten zeichnet hier die sozialen Rahmenbedingungen der Subjekt-Werdung im universitären Kontext nach. Auf der Spurensuche des universitär rückgekoppelten Beitrages zu Technologien des Selbst und Formen der Gouvernementalität (vgl. Foucault 2006, 403-406) sind die Beiträge des Sammelbandes eine Analyse „of who we are [not only as students but as] the subjects that we have historically become, and the possibilities of fashioning ourselves differently“ (Milchman/Rosenberg 2011, 4).

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Die sozialen Erfahrungen in der Universität, so wird im Rahmen dieses Bandes immer wieder ersichtlich, schlagen sich letztlich als verschiedene politische Programme des Selbst nieder. Dies wird unter anderem in Sven Kathöfers Artikel „Ethnizität und wissenschaftliche Hochschulkarriere“ deutlich. Der Text kehrt die Bedeutung subjektiver Erfahrung mit Schlüsselpersonen in der eigenen Bildungskarriere hervor. Bei den Interviewees handelt es sich um Lehrende, die selbst wiederum als Schlüsselpersonen für mögliche akademische Karrieren ihrer StudentInnen wirken. Die gemachten Erfahrungen im tertiären Bildungssektor haben im aufbereiteten Sample drei idealtypische Selbst-Positionierungen bezüglich der Bewertung der betreuten StudentInnen hervorgebracht: MeritokratikerInnen, Systemkonträre und Systemkonforme. Es zeigt sich im Rahmen des Sammelbandes zudem durchgehend, inwiefern das ‚Große Ganze‘ gesellschaftlicher Diskursformationen in die Mikropraktiken hineinwirkt. Das gilt sowohl für die studentischen Gruppendynamiken wie ihre jeweiligen Politiken des Selbst. So wird zutage gefördert, dass sich in unterschiedlichsten Teilbereichen des sozialen Lebens der Universität ein politisches Moment manifestiert: Ob bei der Familienplanung von AkademikerInnen mit Migrationshintergrund (Sadrudin), im Falle von bildungsfernen Akteuren, die sich gegen eine universitäre Karriere entscheiden (Blome) oder in einer erlebten Krise lebensweltlicher Selbstverständlichkeiten durch das StudentInnenleben (Pietsch) – in allen Beiträgen werden verschiedene Produktionsbedingungen studentischer Selbst-Formungen ersichtlich.

(S EMINAR -)R ÄUME

MULTIPLER

K RISEN

Die Universität, so kann im Rahmen dieses Bandes festgehalten werden, ist auch ein Raum der Irritation des Vertrauten und Selbstverständlichen (vgl. Mecheril/Klingler 2010, 88). Diese in die Krise geratenen Fraglosigkeiten sind Bestandteile der im Rahmen von Grenzziehungen produzierten Zugehörigkeitskonstellationen. Zugehörigkeit zu einem sozial limitierten und symbolisch verteidigten Raum produziert eine darin verdichtete „relativnatürliche Weltanschauung“ (vgl. Berger/Luckmann 1980, 9)2 Im Umkehrschluss kann behauptet werden: Die Irritation des subjektiv Selbstverständlichen zieht eine Krise der Frag- und Alternativlosigkeit ge-

2

Der Begriff „relativnatürliche Weltanschauung“ geht auf Max Scheler zurück. Vgl. dazu: Scheler, Max 1960: 61.

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wohnter Zugehörigkeit mit sich. Ganz in Schütz’scher Manier zeigt sich die im Krisenfall sichtbare Brüchigkeit des Fraglosen. „Das Fraglose bildet nicht einen geschlossenen, eindeutig gegliederten und übersichtlichen Bereich. Das in der jeweiligen lebensweltlichen Situation Fraglose ist umgeben von Unbestimmtheiten“ (Schütz 2003, 36).

Die Universität zeigt sich durch die Präsenz und Reflexion von Unbestimmtheiten als Erschütterungsraum. Dieses Moment wird beispielsweise in Vanessa Pietschs Beitrag besonders ersichtlich. Das Studium wird als eine krisenhaft verfasste biographische Etappe rekonstruiert, deren Desintegrationserfahrungen teilweise besonders intensive Selbstreflexionen anstoßen. Pietsch hält die SelbstTransformationen als Transformationen der Politiken des Selbst fest. In Beiträgen dieses Bandes zeigt sich die Dynamisierung von Zugehörigkeiten und Grenzziehungen im Rahmen der Universität auf unterschiedlichste Weise. Konstellationen der Zugehörigkeit, Politiken des Selbst und Grenzziehungen sind drei Aspekte, die auf drei Ebenen des sozialen Lebens an der Universität wirken. Erstens im Rahmen einer Analyse der Universität als Katalysator intersektional verschränkter Ungleichheiten. Zweitens im Falle von Gruppen, Netzwerken oder Subkulturen an der Universität oder in ihrem ‚Dunstkreis‘. Drittens auf der Ebene universitärer Subjektivierung als spezifische Politiken des Selbst. Im Folgenden sollen die drei Teile dieses Sammelbandes kurz vorgestellt werden. I. Drinnen ist Draußen. Nur anders. In der Biochemie gilt, dass ein Katalysator chemische Reaktionen mehrfach durchlaufen kann und dabei unverändert bleibt. Das Substrat hingegen wird im Verlauf der Katalyse stofflich verändert. Was hat diese ebenso fachfremde wie unterkomplexe Feststellung mit diesem Buch zu tun? – Ohne in eine Naturalisierung des Sozialen abzudriften, kann das Bild des Katalysators hilfreich sein, um die Reproduktion sozialer Ungleichheiten in und durch Universitäten zum Thema zu machen. Die Beiträge von Larissa Bäumer, Belma Halkic und Ekin Yildiran arbeiten die Wirkungsmacht der Organisation Universität bei der Reproduktion intersektional verschränkter Ungleichheiten heraus. Ob die fortschreitende (Selbst-)Benachteiligung von Frauen an vietnamesischen Universitäten, die Selektivität von „Begabtenförderung“ in Deutschland oder die vielschichtigen habituellen Grenzziehungen zwischen StipendiatInnen und StudentInnen ohne Stipendium an tür-

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kischen Privatuniversitäten – stets wirkt die Universität als ein Katalysator sozialer Ungleichheit. Die StudentInnen durchlaufen die organisationalen Veranstaltungen und werden den Rollenerwartungen ihrer Mitgliedschaft (vgl. Luhmann 1964, 20) gerecht. Von den formalen Rollenerwartungen unabhängige feine Unterschiede wirken jedoch auch innerhalb der universitären Mauern. Dies gilt auch für kulturell verfestigte Muster im Umgang mit Geschlecht im Bildungssektor. Zudem ist eine auf ‚Leistung‘ und ‚Intelligenz‘ ausgerichtete Begabtenförderung nicht unempfindlich gegenüber sozialstrukturellen Unterschieden. Die hier präsentierten Studien zeigen auf, inwiefern die Universität und Förderungswerke die sozialen Ungleichheiten reproduzieren, denen gegenüber sie sich als invariant präsentieren. Zugehörigkeit wird hier gewissermaßen zur Medaille, deren exkludierende Rückseite in den drei letzten Beiträgen dieses Bandes belichtet wird. Dabei leisten die folgenden Studien, wenn man sie zusammen nimmt, eine Analyse der universitären Reproduktion sozialer Ungleichheit auf drei Ebenen: 1. Die Internalisierung sozialer „Anrufungen“ (vgl. Bröckling 2007, 28f.) bzw. die Einschreibung gesellschaftlicher Verhältnisse in die Subjekte selbst (vgl. Foucault 2007, 86); 2. Die reproduktive Bedeutung von Gruppen innerhalb von Universitäten; 3. Die institutionellen Muster des ‚Managements‘ von Universität und studentischem Alltag (vgl. die Rolle der Lehrenden bei Halkic) sowie die institutionalisierten Selektionskriterien von Begabtenförderung (Bäumer). II. Wir sind die Anderen. Die Anderen sind Wir. Die Studien der AutorInnen Katharina Losch, Sven Kathöfer und Kristina Matveeva widmen sich verstärkt dem Thema der Zugehörigkeit zu spezifischen Gruppen, Subkulturen oder professionellen Netzwerken. Dabei stehen insbesondere Komponenten von Zugehörigkeit im Vordergrund, die sich als soziales Kapital in Form intraorganisatorischer Kontakte, der Identifikation mit Familie, Beruf sowie wissenschaftlicher Fachkultur zeigen. Diese stellen ebenso wichtige Zugehörigkeitsfaktoren dar wie Geschlecht, sexuelle Selbstverortung und kultureller Hintergrund. Auch die gemeinsam geteilte Lebenserfahrung der Migration erzeugt bedeutsame Identifikationsschablonen, durch die individuelle Lebenslagen zu einer intersubjektiv erfahr- und artikulierbaren Lebenswelt avancieren. Die Studien von Matveeva, Losch und Kathöfer widmen sich auf sehr unterschiedliche Art und Weise dem spannungsgeladenen Feld der Zugehörigkeit vor dem Hintergrund hochkomplexer trans- und internationaler Verschränkungen.

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Nicht die explizite Gruppenbildung als solche wird dabei hervorgehoben. Vielmehr wird die Bedeutung von ‚objektiver‘ (also außerhalb der subjektiven Wahrnehmung der Akteure) Zugehörigkeit zu einer Gruppe, Schicht, Subkultur, Geschlecht oder Netzwerk in den Vordergrund gerückt. Dabei wird die Komplexität von Zugehörigkeiten deutlich. Sowohl die Zugehörigkeit der Einzelnen zu einer der genannten sozialen Entitäten als auch das Miteinander einer verschieden engmaschigen In-Group (vgl. Schütz 1972, 68) werden beleuchtet. Zugehörigkeit schließt eine Dimension der Wahrnehmung von Gemeinsamkeit und wechselseitiger Anerkennung als irreduziblen Bestandteil des Sozialen ein. Ob in der Verschränkung von LGBT-Community und Migrationserfahrung, im Falle der sozialen Zugangsmöglichkeiten zu Netzwerken in der professionalisierten Wissenschaft oder im Zuge der Subvertierung ‚männlicher Fachkultur‘ in der Informatik: Das menschliche Sein wird anhand der drei untersuchten Fälle empirisch fundiert als Miteinander-Sein stark gemacht. Auf dieser Grundlage wird in Studien von Matveeva, Losch und Kathöfer Zugehörigkeit in heterogenster Form diskutiert. Dabei ist auch hier die Universität das verbindende Element zwischen den untersuchten Akteuren und deren ‚Strukturen der Lebenswelt‘. III. In der Krise lebt das Selbst Nadia Sadrudin, Frerk Blome und Vanessa Pietsch analysieren jeweils verschiedene Formen der Konstitution des Selbst vor dem Hintergrund vergangener und aktueller Irritationen. Sowohl die Desintegrationserfahrungen der StudentInnen als auch die Migrationsgeschichte von PromovendInnen oder die Karriere eines Akteurs aus bildungsfernem Elternhaus an der Hochschule lassen Selbstverständlichkeiten in die Sphäre der Krise abrutschen. Es kommt zwar nicht zwangsläufig zu einer umfassenden existenziellen Entfremdung (vgl. Rosa 2012, 394). Vielmehr stellt sich vor allem eine Erosion der „relativ-natürlichen Weltanschauung“ (Scheler, in: Berger/Luckmann 1980, 9) ein. Die drei Analysen zeigen eindrücklich, dass sich anhand der performativen Konstitution des Selbst an der Universität die Bedeutung von sozioökonomischen Lebenslagen, Migration und ganz allgemein sozialen Mechanismen der Inklusion und Exklusion rekonstruieren lässt. Diese Texte untersuchen die Konstitution des Selbst in der Selbstbeschreibung der Akteure im Rahmen einer doppelten Krise. Erstens ist die prinzipielle und innerhalb der geistes- sowie gesellschaftswissenschaftlich ‚geborene‘ Problematisierung des Selbst (vgl. Foucault 1974, 462; Luhmann 2008, 156) nicht einfach zu ignorieren. Zweitens sind die Lebensumstände der jeweils untersuchten Akteure der drei Studien selbst krisenhaft. Trotz Verspre-

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chen sozialstruktureller und multikultureller Öffnung der Universitäten zeigt sich das Krisenpotential von Migrationserfahrungen oder bildungsferner Primärsozialisation in diesem ersten Teil des Sammelbandes. Sowohl in Frerk Blomes als auch in Nadia Sadrudins Beiträgen stehen regionale bzw. sozioökonomische Herkunft in Bezug auf Studium sowie Arbeit an der Universität im Vordergrund. Vanessa Pietsch hingegen stellt auf die irritierende Wirkung des Studiums selbst scharf. Diese biographische Etappe wird als subjektive Erfahrung der Desintegration an Massenuniversitäten rekonstruiert. Die drei verschiedenen Szenarien, denen sich die AutorInnen widmen, sind gewiss inkommensurable Erfahrungsräume. Da alle untersuchten Akteure jedoch StudentInnen oder PromovendInnen sind bzw. waren, wird ein spezifischer Erfahrungsraum geteilt – die Universität. Vor dem Hintergrund disparater Krisenerfahrungen wird ein Spektrum an SelbstKonstitutionen und damit auch eine Heterogenität an subjektiven „Erwartungshorizonten“ (vgl. Koselleck 1997, 350-359) freigelegt.

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Die Vielseitigkeit der Beiträge dieses Sammelbandes deckt sich mit der Heterogenität des untersuchten Feldes. Die Universität wird als der Ort pulsierenden sozialen Lebens analysiert, der sie ist. Dies zeigt sich unter- und oberhalb des Radars akademischer Inhalte sowie organisationsinterner Verfahren. Die Zugehörigkeit zur Universität – so zeigen alle Beiträge dieses Bandes – ist stets in ein Netzwerk verschiedener Zugehörigkeitskonstellationen eingebettet. Dabei handelt es sich zwar nicht um formal als ‚universitär‘ etikettierte Konstellationen. Jedoch zeigen sich Faktoren wie sozioökonomische, ethnische bzw. regionale Herkunft sowie Geschlecht und sexuelle Orientierung als wirkmächtig. Das soziale Leben der Universität weist also ein sozialstrukturelles Verhältnis von Horizont und Grenze auf, das auch außerhalb ihrer Mauern existiert. Während die alte Universität Humboldts qua formalisierter Mitgliedschaft für Exklusivität gesorgt hat, hat sich die Gemengelage nun in das universitäre Feld selbst verschoben. Der Zugang zu Studium und Universität ist formal geöffnet worden. Die gesellschaftlich wirksamen Differenzen bleiben jedoch bestehen und entfalten sich unter der Oberfläche von Prüfungsordnungen, Publikationslisten, Lehrdeputaten und Modulkatalogen. Das soziale Leben der Universität – das ist also die Anwesenheit von Gesellschaft in der Organisation Universität.

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L ITERATUR Berger, Peter L./Luckmann, Thomas 1980: Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit, Frankfurt am Main. Bröckling, Ulrich 2007: Das unternehmerische Selbst. Soziologie einer Subjektivierungsform, Frankfurt am Main. Brubaker, Rogers/Cooper, Frederick 2000: Beyond „identity“, in: Theory and Society (29), 1-47. Degele, Nina/Winkler, Gabriele 2009: Intersektionalität. Zur Analyse sozialer Ungleichheiten, Bielefeld. Foucault, Michel 1971: Die Ordnung der Dinge, Frankfurt am Main. Foucault, Michel 2006: Die Geburt der Biopolitik I. Geschichte der Gouvernementalität, Frankfurt am Main Foucault, Michel 2007: Ästhetik der Existenz. Schriften zur Lebenskunst, Frankfurt am Main. Fuchs Epstein, Cynthia 1992: Tinkerbells and Pinups: The Construction and Reconstruction of Gender Boundaries at Work, in: Lamont, Michele/Fournier, Marcel (Hg.): Cultivating Differences. Symbolic Boundaries and the Making of Inequalities, Chicago, 232-256. Gessmann, Martin (Hg.) 2009: Philosophisches Wörterbuch, Stuttgart. Giddens, Anthony 1995: Konsequenzen der Moderne, Frankfurt am Main Grodzka, Agata 2015: Creating One’s Own Fate – An Analysis of Disabled Students in Higher Education in Poland, Lehrforschungsprojekt Bielefeld (unveröffentlicht). Heidegger, Martin 1957: Identität und Differenz, Pfullingen. Honneth, Axel 1992: Kampf um Anerkennung. Zur moralischen Grammatik sozialer Konflikte, Frankfurt am Main. Koselleck, Reinhart 1979: Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten, Frankfurt am Main. Laclau, Ernesto/Mouffe, Chantal 2006: Hegemonie und radikale Demokratie. Zur Dekonstruktion des Marxismus, Wien. Luhmann, Niklas 1998: Die Gesellschaft der Gesellschaft, Frankfurt am Main. Luhmann, Niklas 2008: Soziologische Aufklärung 6. Die Soziologie und der Mensch, Wiesbaden. Luhmann, Niklas 1964: Funktionen und Folgen formaler Organisation, Berlin. Mecheril, Paul/Klinger, Birte 2010: Universität als transgressive Lebensform. Anmerkungen, die gesellschaftliche Differenz- und Ungleichheitsverhältnisse berücksichtigen, in: Darowska, Lucyna/Lüttenberg, Thomas/Machold,

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Claudia (Hg.): Hochschule als transkultureller Raum? Kultur, Bildung und Differenz in der Universität, Bielefeld. Milchman, Alan/Rosenberg, Alan 2011: Michel Foucault. An Ethical Politics of Care of Self and Others, in: Catherine H. Zuckert: Philosophy in the Twentieth Century: Authors and Arguments, Cambridge, 228-237. Lamont, Michèle/Molnár, Virág 2002: The Study of Boundaries in the Social Sciences, in: Annual Review of Sociology, 28, 167-195. Pfaff-Czarnecka, Joanna/Toffin, Gérard (Hg.) 2011: The Politics of Belonging in the Himalayas. Local Attachments and Boundary Dynamics, New Delhi, xixxxviii. Pfaff-Czarnecka, Joanna 2012: Zugehörigkeit in der mobilen Welt. Das Politische als Kommunikation, Göttingen. Reckwitz, Andreas 2006: Das hybride Subjekt, Weilerswirst. Rosa, Hartmut 1998: Identität und kulturelle Praxis. Politische Philosophie nach Charles Taylor, Frankfurt am Main. Rosa, Hartmut 2012: Weltbeziehungen im Zeitalter der Beschleunigung: Umrisse einer neuen Gesellschaftskritik, Frankfurt am Main. Scheler, Max 1960: Die Wissensformen und die Gesellschaft, Berlin/München. Schütz, Alfred 1972: Gesammelte Aufsätze II. Studien zur soziologischen Theorie, Den Haag. Schütz, Alfred 2003: Strukturen der Lebenswelt, Konstanz.

Dynamiken des Studierens Zum Konzept des universitären Parcours J OANNA P FAFF -C ZARNECKA /M ILENA P REKODRAVAC

I. E INLEITUNG „Nächstes Jahr ist halt für mich Examensvorbereitung und die zwei Praktika nebenbei machen. Und hoffentlich irgendwann das Examen schreiben und bestehen. Also ich hätte nicht große Schwierigkeiten, aber also der liebe Gott weiß, wie viel ich immer dafür gelernt habe. Und es war für mich auch nicht immer leicht zu lernen, weil ich ja ganz viel meine Geschwister unterstütze […] Das war für mich auch nie schlimm. Aber immer mit Hürden, immer mit Hürden, und irgendwann ist man abgehärtet und kommt relativ gut durchs Leben.“ (JPC2)

Mit diesen Worten beschreibt eine Studentin der Rechtswissenschaft1 ihren Weg durch ihr Studium.2 Sie beschreibt diesen Weg als eine ambivalente Erfahrung –

1

Befragt im Rahmen unserer Studie ‚Ethniziät an der Universität‘ (Projekt B2 im SFB 882).

2

Dieser Text basiert auf einer früheren, wesentlich kürzeren Version, die im Band ‚Soziale Ungleichheiten, Milieus und Habitus im Hochschulstudium‘, herausgegeben von Andrea Lange-Vester und Tobias Sander, Weinheim: Beltz Juventa im Sommer 2016 erscheint. Wir danken Naby Berdjas, Hannah Burger, Isabell Diehm, Andrea LangeVester und Raphael Susewind für ihre kritische Lektüre der früheren Fassung dieses Textes. Die Schwächen dieses Textes sind natürlich nur uns allein zuzuschreiben. Das in diesem Text verwendete Datenmaterial stammt aus Interviews, die Hannah Burger (HB) und Joanna Pfaff-Czarnecka (JPC) in den Jahren 2012 und 2013 an zwei Universitäten geführt haben. Alle Standorte und personenbezogenen Daten werden in den folgenden Ausführungen nur maskiert dargestellt.

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mit vielen Höhen und Tiefen, neuen Allianzen und Perspektiven, die allesamt Einfluss auf den Studienverlauf selbst wie auf die persönliche Entwicklung haben. Als Teil eines größeren Datenkorpus bringt diese Aussage auch zum Ausdruck, dass die Zeit an der Universität als recht dramatisch erfahren wird. Viele StudentInnen sehen sie als eine Phase der Qualifikation und zugleich der Selbsterprobung und -findung. Viele nutzen sie, um persönliche Möglichkeitsräume auszuloten und um die persönlichen Teilhabe- und Verwirklichungschancen zu erweitern. Nicht wenige StudentInnen werden im Studium allerdings mit zahlreichen Hürden und Begrenzungen konfrontiert, die nicht nur die Chancen im weiteren Lebensverlauf einschränken, sondern auch eine positive Einschätzung der eigenen Fähigkeiten, ja, gar die Bewertung des Selbst in Frage stellen können. Gerade weil das Studium Freiräume eröffnet und vielfältige Angebote bereithält, steigen Erwartungen, die enttäuscht werden können und die kontinuierlich den eigenen und äußeren Ansprüchen angepasst werden. Dieser Beitrag schlägt ein analytisches Instrumentarium vor, um die studentischen Wege durch die Universität kartographieren zu können und die Selbstwahrnehmung in dem hochkomplexen Gebilde der Universität als ermöglichende und begrenzende Instanz besser zu verstehen. Als besonders wichtig wird die Frage erachtet, welche Hürden im Verlauf jedes Studiums von Betroffenen als so besonders einschneidend betrachtet werden, dass Teilhabe- und Verwirklichungschancen eingeschränkt werden, und wie mit diesen umgegangen wird. Das hier eingeführte Konzept des ‚universitären Parcours‘ basiert auf der Einsicht, dass der Verlauf des Studierens für die Erweiterung oder Begrenzung der Chancen ausschlaggebend sein kann. In der Bildungsforschung bringen zwei entgegengesetzte Ansätze das Spannungsverhältnis zum Ausdruck, das auch im Studium greift: Zum einen die auf Pierre Bourdieu und Jean-Claude Passeron (1971) zurückgehende These, wonach im Bildungsprozess soziale Ungleichheiten besonders akzentuiert und verschärft werden. Zum anderen Positionen, die dem schulischen und insbesondere dem universitären Bildungsverlauf eine Chancen erweiternde Wirkung zuschreiben (vgl. Pott 2002). Dabei wird betont, dass in Bildungsverläufen der qua Geburt ungleichen Ressourcenverteilung zumindest teilweise entgegen gewirkt werden kann. Wie sich die individuellen Wege durch die Universität gestalten, hängt sowohl mit der formalen Organisation der Universitäten wie auch mit den biographischen Trajektorien der StudentInnen zusammen. Erstere schließen die gesellschaftliche Einbettung, Wissenschafts- und Bildungspolitik und Organisationskultur, letztere Faktoren wie Herkunft, Habitus und persönliche Merkmale sowie vorhergegangene Erfahrungen mit dem Bildungssystem ein. Eine wichtige Rolle spielen zudem – und darüber ist noch wenig bekannt – die universitären

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Konstellationen, in denen formelle Vorgaben sowie studentische Interaktionen, Formen der Vergemeinschaftung und symbolische Ordnungen zusammen wirken. Wir wollen zeigen, wie StudentInnen im universitären Parcours diese Konstellationen mitgestalten und bewältigen. Wir setzen uns mit dem ‚universitären Parcours‘ in Anschluss an etablierte wissenschaftliche Felder – einerseits die Bildungs-, Hochschul- und StudentInnenforschung und andererseits die Ungleichheitsforschung, die verschiedene Heterogenitätsmerkmale aufgreift3 – auseinander. Zugleich nehmen wir neue Gewichtungen vor. Die Forschung konzentrierte sich allzu lange nur auf die großen Übergänge im Bildungsverlauf: Abitur, Aufnahme an die Universitäten, vorzeitiges Ausscheiden aus der Universität oder Studienabschluss, Berufsergreifung, ohne dem dynamischen Charakter des Studierens und den darin bedeutsamen Übergängen gebührend Rechnung zu tragen. Die wenigen Studien zum Studienverlauf interessierten sich hauptsächlich für individuelle Ressourcenausstattung und Dispositionen sowie für organisationale Strukturen. Die sozialen Konstellationen des Studierens, insbesondere die Interaktionen unter den Peers, Interaktionen zwischen StudentInnen und dem Lehrpersonal sowie studentische Vergemeinschaftung schienen bisher keine wichtige Rolle zu spielen4. Unser Parcours-Ansatz bietet auch eine wichtige Abkehr dazu, den Prozess des Studierens als einen linearen Weg wahrzunehmen. Vielmehr kommen hier die teilweise beträchtlichen Spannungsfelder, Zäsuren, Be- und Entschleunigungen zum Ausdruck, die diesen Prozess begleiten. Diese Dynamiken lassen sich am besten einfangen, wenn das soziale Leben der Universität aus der Perspektive der Studierenden in den Blick genommen wird. Unsere Konzeption und Konturierung des ‚Parcours‘-Konzepts basiert auf den Ergebnissen des Teilprojektes (B2) „Ethnizität an der Universität – Prozesse ethnischer Grenzziehungen und Ungleichheitsrelationen im Studiumsverlauf“ (SFB 882 ‚Von Heterogenitäten zu Ungleichheiten‘, 2011-2015). Darin untersuchten wir mit narrativen sowie mit leitfadengestützten Interviews5 studentische Erzählungen ihrer Studienverläufe. Das Sample bestand ausschließlich aus Stu-

3

Diewald und Faist 2011; Anthias 2006.

4

Wichtige Ausnahmen sind Bülow-Schramm (2008) und Bargel/Bargel (2010); Schittenhelm (2012); zur Vergemeinschaftung, vgl. Lange-Vester/Terwes-Krüger (2004); Alheit, /Rheinländer/Watermann (2008).

5

Insgesamt handelt es sich um 24 Interviews, die in den Jahren 2012 bis 2015 geführt wurden.

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dierenden mit dem sogenannten ‚Migrationshintergrund‘6, wobei ein wichtiges Auswahlkriterium war, dass die InterviewpartnerInnen den gesamten Bildungsweg an deutschen Schulen durchlaufen haben. Besonders interessierten uns die wahrgenommenen Krisen, Hürden und Zäsuren sowie die Bewältigungsstrategien aus Subjektperspektive in der Auseinandersetzung mit der komplexen Organisation Universität. Das Konzept des Parcours erwies sich als gut geeignet, um die Wege von StudentInnen mit besonderen Heterogenitätsmarkern (Geschlecht, körperliche Merkmale ‚natio-ethnokulturelle Zugehörigkeit‘7, race, soziale Herkunft, persönliche Orientierungen u.a.) nachzuverfolgen. Ob diese Merkmale zum Gegenstand symbolischer Grenzziehungen werden, ist eine empirische Frage. Wir gehen davon aus, dass unser Konzept sich für alle Studienwege generalisieren lässt, wie wir zeigen werden. In der Darlegung des Parcours-Begriffs zeigen wir zunächst, wie er mit dem Konzept ‚sozialer Navigation‘ korrespondiert. Seine drei zentralen Bausteine: Übergänge, Interaktionen und Vergemeinschaftung führen wir anhand unseres Datenmaterials aus. Die anschließende Analyse wird entlang des ‚sensitizing concepts‘ (Kelle/Kluge 1999, 25; vgl. Blumer 1954) ‚soziale Grenzziehungen‘ vorgenommen, unter die wir auch Ethnisierungen subsumieren. Wir schließen mit Überlegungen, wie im ‚Prozess des Organisierens‘ (Karl Weick) unter den Rahmenbedingungen von Vermachtungen und Ungleichheitsrelationen soziale Grenzziehungen wirken. Wir heben zugleich die Bestrebungen hervor, diesen entgegenzutreten.

II. D ER UNIVERSITÄRE P ARCOURS Der universitäre Parcours wird hier als kompetitiver Prozess verstanden (vgl. Pfaff-Czarnecka/Prekodravac 2016), der aus der Perspektive der Betroffenen durch Schranken und Einbindungen des ausdifferenzierten (z.B. nach Fächern) sozialen Raums einer Universität hindurch führt. Der akademische Bildungsverlauf wird so zu einem konfliktbehafteten, an persönliche Ressourcen gekoppelten, aktiven Prozess des Studierens, der in Interaktionen mit Peers, mit Lehrenden sowie anderen bedeutsamen Personen auf dem Weg zum Beruf durchlaufen wird. Gleichzeitig können wir mit dem Parcours-Begriff die Bedeutung von (ge-

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Dass wir diesen Begriff als problematisch begreifen, wird aus der Diskussion ersichtlich.

7

Vgl. Mecheril (2003).

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sellschaftlichen) strukturellen Rahmenbedingungen und Limitierungen von Teilhabechancen berücksichtigen und reflektieren. Unser Konzept nimmt den dynamischen Prozess des Studierens in den Blick: von der Entscheidung für eine Fachrichtung und Universität, über die Einschreibung, evtl. Fachwechsel, bis zum Studienabschluss oder -abbruch und dem Übergang zur Aufnahme der Berufstätigkeit. Wir begreifen die Universität als sozialen Raum (Bülow-Schramm 2008; Bargel/Bargel 2010). In dessen komplexer Anlage sind die individuellen Studienverläufe – maßgeblich bestimmt durch Übergänge, Interaktionen und Vergemeinschaftungen – durchaus dynamisch. Karl Weicks (1995) Thesen zum Prozess des Organisierens aufgreifend sehen wir das Studium als einen Prozess, den die Akteure – maßgeblich auch die StudentInnen – in fortwährenden sozialen Aushandlungen herstellen. Diese spielen sich im Rahmen formaler Vorgaben, Hierarchien und Prozeduren sowie räumlicher und materieller Anordnungen ab. Zugleich zeigen Handlungen diese Rahmen auf, stellen sie in Frage und gestalten sie, im Sinne eines sensemaking, mit. Die verwendete Hürdenmetaphorik dient der Hinführung zu symbolischen und sozialen Grenzziehungen (Tilly 2004; Lamont/Molnár 2002), In- und Exklusionen, die mit der immer noch beträchtlichen sozialen Ungleichheit in der akademischen Bildung zusammenhängen. Das Konzept des Parcours hat eine synchrone und eine diachrone Dimension. Die synchrone Ebene beschreibt die Vielfalt und Gleichzeitigkeit, aber auch Ausschließlichkeit von Interaktionen und Einbindungen, die Studierende in einer gegebenen Phase ihres Studiums eingehen. Dazu gehören sowohl direkt mit dem Studium verbundene Akteurs- und Interessenkonstellationen wie der Besuch von Lehrveranstaltungen, Teilnahme an Studiengruppen, Entscheidung für Betreuungsverhältnisse sowie Interaktionen mit den Lehrenden und mit den Peers, Engagement in der Hochschulpolitik als auch Interaktionen ‚außerhalb des Klassenraums‘. Private Kontakte und Partnerschaften beeinflussen den Aufbau sonstiger Beziehungen (vgl. Wendt et al. 2008). Dazu gehören Interessengruppen, Freundschaften, Nachbarschaften (auch Wohngemeinschaften), Cliquenbildung, d.h verschiedenartige Formen der Vergemeinschaftung im Rahmen von Freizeitaktivitäten. Auf der diachronen Ebene ist der universitäre Parcours durch einen in mehrere Phasen gegliederten und durch Übergänge wie Prüfungen strukturierten Studienaufbau gekennzeichnet, der von einer Orientierungsphase und in der Regel einem breit angelegten Grundlagenstudium zur Spezialisierung und Herauskristallisierung der beruflichen Vorstellungen und Qualifikationen führt und mit diesen abgeglichen wird. Von Interesse sind hier der Prozess des Zurechtfindens im Studium, die Konkretisierung beruflicher Aspirationen, das Strategizing so-

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wie die dabei erfahrenen Zäsuren und sich eröffnenden Potentiale, welche die Studierenden wahrnehmen. Dass sich das ‚Strategische’ dabei in vielen Fällen kaum über das ganze Studium hinweg in einem stringenten Plan realisieren lässt, dürfte die Erfahrung der meisten widerspiegeln: Es kommt (fast) immer anders, als man denkt. Ansprüche werden auch den Möglichkeiten angepasst. Falsch wäre jedoch zu denken, dass diese Möglichkeiten lediglich ‚von außen’ vorgegeben werden. Die Dynamiken und Prozesse der Inklusion und Exklusion von StudentInnen auf dem Parcours sind in einen strukturellen Kontext aus individuellen Befähigungen, verfügbaren sozialen Netzwerken und daraus resultierenden Berechtigungen eingebunden. Unter Befähigungen werden die individuellen Fertigkeiten der StudentInnen verstanden, welche ein erfolgreiches Durchlaufen des Parcours erst potentiell realisierbar machen. Wirkt im universitären Parcours soziale Heterogenität (etwa ‚Migrationshintergrund‘ – verschränkt mit zentralen Parametern sozialer Sortierung (Vester 2009) wie Geschlecht, Klasse und ‚race‘) als Ungleichheit erzeugender Unterscheidungsmarker, dann ist aus der Sicht der betroffenen StudentInnen sowohl Konfrontation als auch gekonnter Umgang mit Mechanismen sozialer Schließung zentral. Das Verständnis des Studiums als eines Prozesses von Befähigung und Grenzziehung weist Nähe zum Konzept der ‚sozialen Navigation‘ auf: Wir begreifen es als dynamische Auslotung passender Wege, die mit der Überwindung spezifischer Hürden einhergeht. Henrik Vigh definiert die Handlung des navigating als „way agents act in difficult situations, move under the influence of multiple forces or seek to escape confining structures” (2010, 419). Navigation ist damit weniger ein durch Technik begleiteter Plan, noch lässt sich das Konzept allein auf die Handlung beschränken, wie beispielsweise im Manöver. Vielmehr geht es um das Ausloten und die Koordination auf Grundlage von Erfahrungen bei gleichzeitiger Berücksichtigung des sich bewegenden Terrains: „It is the act of moving in an environment that is wavering and unsettled, and when used to illuminate social life it directs our attention to the fact that we move in social environments of actors and actants, individuals and institutions, that engage and move us as we move along.“ (Ebd., 420)

Diese von Vigh betonte motion within motion kann nicht nur auf ‚räumliche Mobilität’, sondern auf verschiedene Bereiche angewendet werden: Erstens lässt sich sagen, dass wir alle navigieren. Allerdings, so das Entscheidende, schwankt die Intensität und Sichtbarkeit der navigatorischen Bemühungen. Zweitens werden in der Navigation Grenzverschiebungen deutlich. Diese Grenzverschiebun-

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gen eröffnen oder verschließen Möglichkeitsräume für Akteure. Sie bringen sozial wirksame Kategorien hervor, die, so Charles Tilly (2004), soziale Ungleichheit begünstigen. Umgekehrt kann auch ihre Macht schwinden. Drittens ist Navigation, ebenso wie die Möglichkeit ihrer Beobachtung, stark situations- und kontextspezifisch. Das heißt, dass sich die soziale Navigation nicht gleichermaßen zeigt; sie ist vielmehr insbesondere in durch Ungleichheit geprägten Kontexten sichtbar. Einer dieser Kontexte ist die Universität, die – so die Befunde der Bildungsberichterstattung (2016) – immer noch maßgeblich Menschen durchlaufen, die einem akademischen Elternhaus entspringen. Diese Überlegungen legen nahe, dass das akademische Milieu als Möglichkeitsraum für den Erfolg und/oder Misserfolg navigatorischer Bemühungen innerhalb des Studiums eine wichtige Rolle spielt: Der Zugang und Besuch einer Universität und das erfolgreiche Absolvieren eines Hochschulstudiums ist nach wie vor nicht allen Menschen gleichermaßen möglich. Mit dem Begriff ‚Navigation’ kommt die doppelte Dynamik ins Spiel: sowohl individuelle als auch organisationale und strukturelle Bewegungen werden sichtbar. Zueinander in Beziehung gesetzt, lassen sich die Prozesse offenlegen, die das Studium ausmachen. Sie zeigen sich in Reflexionen über die Organisation entlang spezifischer Hürden bzw. Zäsuren und den daraus resultierenden Positionierungen, in Aushandlungen hierarchisch angeordneter – und teilweise vergemeinschafteter – Mitglieder, sowie in der Rezeption größerer Veränderungen organisationaler Kontexte.

III. E LEMENTE

DES UNIVERSITÄREN

P ARCOURS

Um die Frage, wie StudentInnen im universitären Raum navigieren, beantworten zu können, betrachten wir die Elemente, die den Parcours begründen. Auf Grundlage des Datenmaterials zeigen sich die Konstellationen insbesondere in: (1) Passagen an die Universität sowie in Übergängen bei Prüfungen und persönlichen Krisen, (2) der Rolle von Lehrenden als Vorbilder, als Akteure ‚sozialer Sortierung‘ und als ‚Negativfolien‘ – wie sie in Interaktionen erzeugt werden, sowie (3) durch Grenzziehungen unter den Peers mit dem Anspruch, etwas Gemeinschaftliches zu begründen oder zu verwehren. So erscheinen Übergänge, Interaktionen und Vergemeinschaftung als die zentralen Bausteine des universitären Parcours, mit denen das Passungsverhältnis in und mit dem jeweiligen Fach und der eigenen Biographie hergestellt wird. Rolf-Torsten Kramer und Werner Helsper (2010, 121) sehen dieses Verhältnis in Anlehnung an Bourdieu als „Zusammenspiel zwischen familialer Habitusbildung, Sozialschichtzugehö-

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rigkeit und biographischer Individuation auf der einen Seite sowie den [...] Ausformungen der Schulkultur auf der anderen Seite“. Diese Definition setzt biographische Merkmale in ein Verhältnis zur Organisationskultur. Peter Alheit, Kathrin Rheinländer und Rainer Watermann (2008, 594) beziehen Elemente mit ein, die im Prozess des Studierens in sozialen Konstellationen relevant werden. So heben sie den mehrdimensionalen Charakter von Passungs- und den dafür wichtigen Selbstbewertungsdimensionen hervor: die soziale Eingebundenheit; Anerkennung von Erfahrungen; kommunikative Distanz; Studienbedingungen; Fähigkeitsselbstkonzept im Studium; Studienabbruchintention. Diese Dimensionen spielen im universitären Parcours eine wichtige Rolle, wie wir gleich zeigen werden. In dem von uns verwendeten Sample überwiegen die Erfahrungen von StudentInnetr der Rechtswissenschaft. Die Rechtswissenschaft – ähnlich wie Medizin, die zweitwichtigste Disziplin im Sample – verstehen wir in Anlehnung an Bourdieu (1976) als ein professionsorientiertes Fach, das als ‚Kräftefeld’ spezifischen Selektionsprinzipien unterliegt und auf diese Weise ‚den Professionellen’ erst hervorbringt (Pfadenhauer 2009, 10)8. Sie wurde wegen dieser professionsbildenden und mit hohem sozialen Prestige verknüpften Selektionsprinzipien lange vornehmlich von Studierenden ‚oberer’ Positionen anvisiert (Engler 2014, 179). In den letzten Jahren weist die Rechtswissenschaft allerdings eine beträchtliche ‚Zuwanderung‘ so genannter nicht-traditioneller Studierenden auf, d.h. solcher ‚fremder‘ ethno-nationalen Herkunft und nichtakademischer Milieus.9 Dadurch kreuzen sich in diesem Studiengang die Wege von StudentInnen mit sehr ungleicher Ressourcenausstattung, unterschiedlichen politischen und sozialen Orientierungen und beruflichen Aspirationen. Darüber hinaus treffen im Rechtstudium weitere Aspekte aufeinander: die Vermittlung der Rechtsprechung in der Lehre, das Recht als Referenz der eigenen Erfahrung innerhalb eines staatlichen Kontextes, und nicht zuletzt auch eigene Vorstellungen von Gerechtigkeit. Die Fachkultur der Rechtswissenschaft wurde von Eckart Liebau und Ludwig Huber in den 1980er Jahren als eine beschrieben, die durch ‚legitime institutionelle Machtausübung in Theorie und Praxis‘ (Liebau/Huber 1985, 330) gekennzeichnet ist, und strategisches Handeln erscheint nicht ungewöhnlich, denn:

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„Die spezifischen Selektionsprinzipien dieses ‚Kräftefeldes‘ erst bringen den Professionellen hervor.“ (Pfadenhauer 2009, 10)

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Vgl. das statistische Datenmaterial der beforschten Universitäten.

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„Nicht eine mögliche inhaltliche Bedeutung des ‚Lernstoffs’ für die persönliche Entwicklung und Bildung, sondern eine möglichst effektive, erfolgreiche Bewältigung der durch das Fachcurriculum gesetzten Anforderungen steht hier im Mittelpunkt.“ (Ebd., 332)

Mit dieser Aussage lässt sich allerdings nicht die Frage beantworten, ob die Bewältigung des Studiums tatsächlich gleichermaßen erfahren wird, oder ob der Umgang spezifisch für die von den Autoren beschriebenen ‚klassischen Ordnungsproduzenten’ gelten. Unsere Befragten finden sich ja nicht (mehr) zwangsläufig in den oberen Positionen des sozialen Feldes vor: Ein zunehmender Anteil an StudentInnen wurde nicht in einem akademischen Elternhaus sozialisiert und können als ‚BildungspionierInnen’ (Schmitt 2010) oder ‚BildungsaufsteigerInnen‘ (El-Mafaalani 2012) bezeichnet werden. Die soziale Mobilität der StudentInnen korrespondiert mit einer beträchtlichen ‚Bewegung‘ gesellschaftlicher Werte und Normen: So verfügen StudentInnen auch heute über ein hohes Maß an Selbstreflexivität und kritischem Potential, so dass die ‚legitime institutionelle Machtausübung‘ manche TeilnehmerInnen der universitären Bildung konfrontativ herausfordert. Kritische Bewertungen hierarchischer Ordnungen in den Fächerkulturen können auch mit Schwierigkeiten zusammenhängen, die bei der Aufnahme und im Verlauf des Studiums zu bewältigen sind. Die Passage an die Universität Das Studium orientiert sich an einem organisatorisch klar strukturierten Verlauf; der Erfolg variiert allerdings mit den persönlichen Ressourcenlagen. Der Prozess der Entscheidungsfindung über das zu studierende Fach und die Wahl der Universität kann über die individuelle Passung entscheiden, die ja den Verlauf des Studiums maßgeblich beeinflusst. Familiäre Traditionen und familiäre Vorbilder sowie die vom sozialen Umfeld zur Verfügung gestellten Informationen können die Entscheidungsfindung für das Fach und die Universität wesentlich erleichtern und verhindern, dass auf die Aufnahme eines Studiums die frustrierende Einsicht folgt, falsch gewählt zu haben, sprich: den Anforderungen nicht zu genügen oder keinen Sinn im gewählten Weg zu sehen. Eine Studentin der Medizin (Int. 7, HB) blickt auf einen umfassenden Prozess von Konsultationen und Abwägungen zurück, den sie eingeleitet hat, um ihr naturwissenschaftliches Interesse optimal abzubilden. Gegen die klinische Psychologie und für Medizin gibt die Aussicht auf ein sicheres Auskommen den Ausschlag, wobei auch die Vielfalt an beruflichen Chancen zugunsten der Medizin positiv ins Gewicht fällt.

70 | J OANNA PFAFF -CZARNECKA/M ILENA P REKODRAVAC „meine Eltern sind beide auch studiert, […] meine Brüder waren beide auf demselben Gymnasium wie ich, […] ich hab mir nie, wirklich die Frage gestellt, soll ich studieren oder nicht; //hm// also für mich war das auf jeden Fall klar, dass ich studieren will, [...] eigentlich von Anfang an klar, dass ich was Naturwissenschaftliches machen will, […] also ich war auch in der Schule eher in den naturwissenschaftlichen Fächern besser, […] und da hab ich auch mit, (.) vielen Studenten geredet, mit vielen Fachschaften geredet, viel mit meiner Familie geredet, viel noch mal in mich selber reingegangen und mir das überlegt, //hm// und; (.) also dann (.) hab ich auch noch mal viele Argumente dafür gefunden; (1) Medizin zu studieren und; ja. (2) ja so bin ich auf das Studium gekommen.“ (Int 7, HB)

Der hier beschriebene Weg erscheint minutiös geplant und durchstrukturiert: Die Studentin geht von ihren sehr gut reflektierten fachlichen Interessen aus und sie wirft einen praktischen Blick auf die Möglichkeiten, die ihr die spezifischen Ausbildungen bieten. Sie greift dafür auf Erfahrungen gezielt ausgewählter Personen zurück. Die zuvor betonte Gedankenlosigkeit der Studienfachwahl wird dadurch nicht nur relativiert, sondern sich zu eigen gemacht: Sie spielt sich im Spannungsfeld von selbst- sowie fremdbezeichneter Begabung (Schule) und erneuter Versicherung ab. Aus der Warte ihres fortgeschrittenen Studiums stellt diese Studentin heraus, eine optimale Wahl getroffen zu haben. Demgegenüber heben gleich mehrere StudentInnen der Rechtswissenschaft problematische Erfahrungen im engsten Familienkreis hervor, die sie bereits früh dazu motiviert haben, Recht zu studieren, um mit den gewonnenen Kenntnissen gegen Unrecht vorzugehen. Kinder kurdischer Geflüchteter thematisieren das Unrecht als Fluchtursache ihrer Familien. Auch die ersten Jahre nach der Ankunft in Deutschland führten den Kindern die Ohnmacht ihrer Eltern in der neuen Umgebung vor Augen – deren geringe Sprachkenntnisse und der Mangel an Wissen über die Verfahren, etwa um sich gegen Willkür zur Wehr zu setzen. Das sich aus diesen Erfahrungen speisende soziale Engagement bietet eine gute Basis für das Studium des Rechts, vor allem wenn es auf die Schwerpunkte des öffentlichen und insbesondere des Sozialrechts zugeschnitten wird. Zugleich kann eine solche Motivation nicht ausreichend mit Vorkenntnissen unterfüttert sein, wie ein arbeitsintensives Studium zu bewältigen und überhaupt wie zu studieren ist (vgl. unten). Das soziale Umfeld unterstützt zwar jeweils vollumfänglich das Vorhaben, Recht zu studieren, ist jedoch meist nicht in der Lage, praktische Information zu geben. Ein Interviewpartner (Int. 1 JPC) spricht von einer Ambivalenz der elterlichen Unterstützung. Der Satz „Was immer Du tust, wir stehen voll hinter Dir“, den er häufig hörte, drückt zugleich den äußerst wichtigen Rückhalt der Eltern (vgl. u.a. Raiser 2007) aus, aber auch eine Hilfslo-

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sigkeit in Anbetracht der Unkenntnis, was alles für ein erfolgreiches Studium zu bewältigen ist. Ankunft an der Universität Die ‚ersten Begegnungen mit der Universität‘ sind häufig schon Bewegungen in der Universität: der Akt der Einschreibung, das heißt die ersten Interaktionen mit der Universitätsverwaltung, die Konfrontation mit den physischen Anlagen der Universität (in dem die Bewegung erst gelernt werden muss) und die ersten Begegnungen mit den KommilitonInnen. Atmosphärische Wahrnehmungen spielen darüber hinaus als Gesamteindruck eines Ortes und seiner ‚Kultur’ eine wichtige Rolle. So erzählt eine Jura-Studentin, dass die StudentInnen des Rechts in einer anderen Stadt ihr als zugeknöpft erschienen, weswegen sie sich für die Universität entschied, an der sie zum Zeitpunkt des Interviews studiert. Immer wieder reflektieren die Interviewten die ‚äußeren‘ Unterschiede zwischen den Fächern, wie sie bspw. in Vorlesungen (vgl. nächsten Abschnitt) vermittelt wahrgenommen werden: Wahrnehmung des an einer Universität herrschenden Klimas über das Verhalten der Lehrenden und spezifisch einer Stereotypisierung als Fremde durch den Lehrkörper. Schon die ersten Schritte in die und an der Uni werden höchst unterschiedlich bewältigt. StudentInnen der Medizin an der Universität Y berichten übereinstimmend, dass ihr Eintritt in die Universität sehr leicht verlaufen ist. Die Erzählungen drücken ein Erstaunen darüber aus, wie gut die Verwaltungsabläufe funktionierten und wie schnell man ‚in der Uni drin‘ war. Bereits bei der Einschreibung begegnete man in den Warteschlangen den AnfängerInnen aus dem eigenen Fach, mit denen gleich Kontakte angebahnt wurden. Studentin 7, HB berichtet, dass sie bereits in diesem Moment Mitstudierende kennenlernte, mit denen sie fortan gemeinsam lernte. Auch fand sie bereits in dieser Warteschlage eine Kommilitonin, mit der sie später eine für sie wichtige Freundschaft schloss. An diesem Beispiel zeigt sich, dass die soziale Eingebundenheit seit Anbeginn eines Studiums das Gefühl der Passung fördern kann. „[…] und da waren jetzt auch nicht irgendwie Eltern anderer Leute oder Freunde oder sowas; also es war irgendwie jeder so für sich, und dann is‘ man auch schnell ins Gespräch gekommen "ja hi, wo kommst du her?" "was studierst du?" oder "hast du dich schon eingeschrieben?" bla bla (.) […] ja ich glaub ich hab dann die Schlange gewechselt und die standen da irgendwie so, und dann war da halt ‘ne Gruppe von (.) vier fünf Leuten, die eben auch alle (1) sich jetzt für Medizin neu einschreiben wollten und ähm (.) ja wir sind da einfach in‘s Gespräch gekommen“ (Int 7, HB).

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Die StudentInnen der Medizin berichten darüber hinaus, dass die Leichtigkeit der Kontaktaufnahme bei der Einschreibung sich in den Anfangssemestern fortsetzte. Sehr schnell bildeten sich Lerngruppen, um die vielen Klausuren zu bewältigen. Das wohl wichtigste Ziel dieser Gruppen sei die inhaltliche Verarbeitung des Lehrstoffs, doch ebenso wichtig sei das Sammeln von Informationen und der für die Prüfung notwendigen Ressourcen, etwa Exzerpte und/oder Frageund Antwortbögen der vergangenen Semester. Ausschlaggebend hierfür sind sowohl der Austausch innerhalb der eigenen Peergruppe (vgl. unten) als auch der Kontakt zu Studierenden in den höheren Semestern, die zunächst Orientierung bieten. Die eingeholten Informationen müssen unter den Peers auf deren Korrektheit und Nützlichkeit hin überprüft werden, da sich, wie Studentin 7, HB betont, Informationen der älteren StudentInnen immer wieder als unkorrekt erwiesen haben. Den Berichten der MedizinstudentInnen steht jener einer StudentIn aus der Rechtswissenschaft gegenüber. Er erlebte keine kommunikativen Momente bei der Einschreibung; das Studium sei weniger durchstrukturiert, so dass man weniger leicht ins Gespräch mit den KommilitonInnen komme und weniger Anreiz verspüre, gemeinsame Lerngruppen zu bilden. Das Studium erfordere mehr Eigeninitiative im Zuschnitt des Studienplans. „Und als mich Uni Z genommen hat, war ich erstmal froh, dass ich die nächstnahe Uni/ Und bin dann sofort dahin, hab mich eingeschrieben und war da zwei Jahre und da gab's ein Problem nach'm andern. Also, ich hab da nicht reingefunden, ich wusste nicht wie man Stu/ Ich, ich hab ja nie einen Menschen gesehen, der studiert hat. (…) Und aber ich wusste ja nicht, wie ‚ne Uni aussieht, wie das funktioniert (…) Ich hab ALLES gelernt, ich war in allen Veranstaltungen, die man in Rechtswissenschaften erstes Semester machen kann und wusste nicht, dass man nur drei Klausuren braucht, weil ich hab ALLES gelernt. Und ich, ich war völlig abgeschottet (…)“ (Int 1 JPC).

Dieser Student führt seine anfänglichen Schwierigkeiten nicht auf die Beschaffenheit des Faches, sondern vielmehr auf sein mangelndes kulturelles Kapital10 einerseits sowie auf die Konfrontation mit StudentInnen andererseits zurück, die dank ihrem Aufwachsen in einem Bildungsmilieu und der Prädominanz der Rechtsprofession im familiären Umfeld zumindest aus der Perspektive dieses Studenten über eine selbstverständliche Passung in ihr Studium verfügten.

10 Nach Bourdieus Einteilung kann hier von inkorporiertem kulturellem Kapital gesprochen werden (vgl. Bourdieu 1976).

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Übergänge im Studium StudentInnen können in Teilen inhaltliche Schwerpunkte im weiteren Verlauf selbst setzen – die Grundlagen eines Studiums sind jedoch meist vorgegeben. Diese Vorgaben wirken mit der Ausdifferenzierung eigener Interessen und der damit einhergehenden Dispositionen – bspw. dem Wunsch, Richter/in, oder (Staats-)Anwält/in werden zu wollen – zusammen. Der Plan ist nicht schon bei der Aufnahme des Studiums oder mit dem Examen fixiert, vielmehr wird diesbezüglich im Laufe des Studiums justiert, d.h. dann auch dem Studienerfolg entsprechend angepasst. Aber wie werden die Bedingungen dieses Erfolgs bewertet? Wie konstituieren sich die Bedingungen des Erfolgs? Eine Jura-Studentin (Int 2, JPC) führt als Bedingung für den Erfolg im Verlauf des Studiums allem voran ‚Fleiß’ an: „[…] ich kam im Gegensatz zu meinen Kommilitonen ziemlich zügig voran. Komme [...] immer noch mit meinem Studium, weil ich viele Klausuren auf Anhieb bestehe, und es ist in Jura immer ganz wichtig, dass man sie/die Module abdeckt“. (Int 2, JPC)

Diese Studentin stellt ihre eigenen Erfolge im Studium kontrastierend zu den Misserfolgen anderer dar und formuliert zugleich einen ‚allgemein gültigen’ Anspruch: das Prinzip der persönlichen Leistungsbereitschaft an der Universität. Die Kontrastierung birgt eine im universitären Alltag allgegenwärtige Dimension: den konstanten impliziten wie expliziten Vergleich unter den Peers. Stellt die Organisation Universität in Form von Prüfungen formelle Zäsuren bereit, so werden diese für die StudentInnen zum Anlass, die eigene Leistung an der der KommilitonInnen zu messen, was in in- und exkludierenden Grenzziehungen – etwa bei der Entstehung studentischer Lerngruppen – resultieren kann. Selbstund Fremdbeobachtungen fördern die Wahrnehmung von Passung – bei sich und bei den anderen. Wie sich entlang der biographischen Erzählung dieser Studentin zeigt, wurde sie in institutionellen Kontexten vor der Aufnahme des Studiums mit abwertenden und diskriminierenden Handlungen konfrontiert – so beispielsweise in der Schule und bei Behörden. Ähnliche Erfahrungen macht auch der bereits zu Wort gekommene Student der gleichen Fachrichtung: Bereits als Kinder sind beide mit qua Aufenthaltsstatus und fehlender Deutschkenntnisse der Eltern mit einschneidenden Grenzziehungen konfrontiert. Die Frage, die wir an diese Schilderungen stellen ist, wie StudentInnen, die auf früheren Bildungsstufen Diskriminierung erlebt haben, mit Erfolgen und Misserfolgen im Studium umgehen.

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Der Student hat nach ‚Problemen in der Schule’11 Schwierigkeiten im Studium, die er allerdings im Verlauf der Erzählung für sich ebenfalls positiv zu deuten vermag. „Ich habe auch immer wieder gesagt, also selbst wenn MIR das persönlich jetzt nichts bringt und ich, ich sollte das hier wirklich völlig in den Sand setzen, dann habe ich immer noch die Erfahrung mitgebracht, dass wenn mein Sohn morgen früh vor der Entscheidung steht "was mache ich jetzt?" ihm zu sagen ‚okay, du kannst dich an den und den Unis bewerben, du kannst das und das studieren, du kannst da und da dich informieren und da kriegst du Infomaterial und so‘“ (Int 1, JPC).

Ferner: „[…] und ich versuche, das Beste aus meiner Situation zu machen, ich habe meinen Freischuss geschrieben, zum Beispiel. Hab den nicht bestanden, war dann in [...] Behandlung, ich war erst wegen Prüfungs/ Und dann kamen so'n paar andere Sachen auch noch, deswegen war ich ein bisschen länger in Behandlung“.

Die biographische Navigation dieses Studenten, der in der Studieneingangsphase völlig auf sich selbst gestellt war, ist demnach besonders hürdenreich. In der Passage wird vor allem Bezug auf eine nähere Vergangenheit genommen, die weiterhin als Schwierigkeit in der Gegenwart wirkt. Anders als die Jura-Studentin 2, JPC steht nicht zwangsläufig ‚Fleiß‘ im Vordergrund, sondern die Fähigkeit, trotz schwieriger privater Verhältnisse immer wieder aufstehen zu können. Nicht zuletzt spielen hier Netzwerke zu anderen StudentInnen und familiäre Konstellationen eine ebenso wichtige Rolle wie die erworbene Bereitschaft, sich im späteren Verlauf seines Studiums, Hilfe zu holen. Zugleich beschreibt dieser Student eindrucksvoll, dass seine KommilitonInnen in der Prüfungsvorbereitungsphase sich nicht mehr gemeldet haben und erst danach wieder Kontakt suchten. Die Prüfungen stellen nicht überraschenderweise eine besondere Hürde dar. Der Studienerfolg wird an deren Bestehen gemessen. Nicht bestandene Prüfungen bedeuten nicht gleich Scheitern, doch solche Misserfolge bedeuten unter Umständen tiefe Einschnitte. Das Vermögen, sich im Studium zu organisieren, wird in den Erzählungen in einen engen Zusammenhang mit dem Vermögen gebracht, sich und die eigenen Fähigkeiten einzuschätzen.

11 Er selbst spricht von ‚Autoritätsproblemen‘.

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„[…] ich musste quasi lernen wie man richtig lernt; und [...] ich musste meine persönlichen (.) Vorlieben fürs Lernen finden; also wie ich irgendwie lern ich lieber in Gruppen, oder mit wie lern ich mit dem Buch und wie viel muss ich für die Klausur lernen?“ (Int 7, HB)

Die Prüfungen sind zugleich Zeitticker: Werden sie in der Regelzeit absolviert, gibt es guten Grund, sich über den Studienerfolg zu freuen. Oft aber dehnen sich die Zeiträume zwischen den Prüfungen, die umso deutlicher spürbar werden, wenn die KommilitonInnen bereits (viel) weiter gekommen sind. Angst, die Prüfungen nicht zu bestehen, ist groß, denn sowohl die Anzahl der Möglichkeiten, sie zu wiederholen als auch die Fristen zur Anmeldung sind begrenzt. Einige Prüfungen sind zudem wichtiger als andere: „Aber ohne das Examen ist das im Grunde genommen alles/ (Pause) Man hat dann im Grunde genommen nichts, also es zählen ja auch nicht die Noten, die man vorher hatte oder die Leistungen, die man vorher erbracht hat. Es zählt letztlich nur das Examen“ Int 1, JPC).

So stellen die Übergänge ein sehr wichtiges Element des universitären Parcours dar. An ihrer Bewältigung zeigt sich die Passung in die universitäre Lernkultur, einschließlich der kommunikativen Fähigkeiten. Ihre Bewältigung oder Nichtbewältigung beeinflusst das Fähigkeitsselbstkonzept (vgl. Alheit et al. 2008) und kann auch darüber entscheiden, ob ein Studienabbruch erwogen wird. Die Kontrastierung der Narrative aus der Rechtsfakultät der Universität X und der Medizin der Universität Y bietet Hinweise auf den Stellenwert von Studienbedingungen, die etwa Bildungsaufsteiger besser auffangen oder aber besonders belasten können. Bisher haben wir die persönlichen Ressourcen im Kontext organisatorischer und kultureller Rahmenbedingungen analysiert. Interaktionen und Vergemeinschaftung sind weitere Elemente, die den universitären Parcours ausprägen. Interaktionen Der universitäre Alltag spielt sich in unzähligen Interaktionen ab, denen StudentInnen unterschiedliche Bedeutung beimessen. Lehrende und insbesondere ProfessorInnen erfüllen meist eine prägnante Rolle für StudentInnen beim Durchlaufen des Parcours: Die Erzählungen oszillieren zwischen bemängelter Abwesenheit, kritischer Bewertung und glorifizierender Präsenz. Lehrende sind Thema vieler Gespräche unter StudentInnen: Dieses Sprechen moderiert Entscheidun-

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gen und Übergänge im Studium über Feedback, Noten und die Abwägung von Vorbildtauglichkeit der Lehrenden, die viele StudentInnen beschäftigt. Nicht zuletzt kommen hier die wahrgenommene Persönlichkeit, die Zugänglichkeit und Nachvollziehbarkeit zum Tragen. Im direkten Vergleich stellt eine JuraStudentin (8, HB) die Problematik in Zusammenhang mit der Fachkultur der Rechtswissenschaft: „ich weiß nicht, sind wir was Besseres als irgendwie Mathematiker, Soziologen oder [...] oder keine Ahnung Mediziner? Natürlich nicht. Aber die Profs hier, die denken die wären‘s.“ (Int 8, HB)

Die Studentin resümiert hier eine Geschichte aus dem Studium, in der ein Professor während der Vorlesung eine herablassende Bemerkung macht, als Studierende den Hörsaal vorzeitig verlassen wollen. Sie thematisiert das erfahrene Unrecht und kommentiert in der erweiterten Passage die ‚fehlende Menschlichkeit’ im Studium. Sie reagiert damit kritisch auf die habituelle Ausprägung der Ordnung, grenzt sich immer wieder davon ab und situiert ihr eigenes Handeln im Kontext des Kampfes gegen benachteiligende Strukturen und Personen.12 Ihre Erzählung drückt nicht nur eine äußerst kritische Reaktion gegen erfahrenes Unrecht (in der Wahrnehmung dieser Studentin) aus, sondern auch Widerstand gegen die Version der fachlichen Kultur, welche dieser Professor verkörpert. Dass Interaktionen mit den Lehrenden auch ganz anders erfahren werden können, zeigt wiederum Studentin 2, JPC: „[…] und ich habe auch eine Seminararbeit bei Professorin A geschrieben gehabt über den Regierungsentwurf. Da hatte ich auch eine ganz tolle Note, und DA hatte ich auch ein ganz/ da habe ich auch Frau A wirklich kennengelernt, und so ist mir sie auch im Gedächtnis geblieben. Weil ich sie ja dann doch persönlich als Mensch ganz toll fand“.

Die persönliche Verbindung ist nicht auf Gleichheit ausgerichtet, aber auf einen Weg hin zur Teilhabe: Die Professorin fungiert als Vorbild und als ‚gate opener’, was den Möglichkeitsraum und verfügbare Ressourcen maßgeblich erweitert und den Prozess positiv beeinflusst. Die Auseinandersetzung mit einer als positives Vorbild wahrgenommenen Professorin erleichtert die Aneignung eines

12 Die Studentin erzählt weiter, dass sich der Professor später bei ihr entschuldigt. Ob es sich damit tatsächlich um eine Veränderung der Organisation oder um eine Stabilisierung handelt, kann nicht ergründet werden.

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persönlichen Stils, der mit der professionellen Expertise bei dieser Spezialisierung verbunden ist. Diese Verbindungen zu Lehrenden fehlen der Studentin (8, HB) – sie sucht sie vielmehr ‚auf Augenhöhe‘ und kritisiert den Umgang im Fach Jura der Universität insgesamt. Zudem stellt sie allen erzählten Interaktionen ein gewisses Milieubewusstsein voran (ersichtlich in der Abgrenzung zu ‚den Profs’). Dies begründet die Studentin nicht zuletzt mit der Erfahrung, die sie entlang der Marker ‚Geschlecht’ und ‚Aussehen’ gemacht hat: So wurde sie von Seiten der Fakultätsleitung darauf hingewiesen, dass sie als Migrantin sich ‚120%ig anstrengen‘ müsste. Wie auch einige andere StudentInnen unseres Samples erzählt sie von diesen und anderen diskriminierenden Erfahrungen an der Universität und nicht, wie die Jura-Studentin 2, JPC, während der Schulzeit. Dies wäre zum einen an die spezifischen Ereignisse zu koppeln, mit denen StudentInnen vor dem Studium konfrontiert waren, zu denen sie insbesondere negative Erfahrungen mit dem deutschen Rechtsystem zählen. Aber auch andere diskriminierende Praktiken in der Schulzeit zeigen ihre Wirkung im Studium selbst: Die beiläufige Adressierung von Armut, Verweise auf Ethnizität und starre Ordnungsmuster, die scheinbar keinen Platz für Alternativen lassen, vergeschlechtlichte Zuschreibungen. So üben die Interaktionen mit den Lehrenden einen maßgeblichen Einfluss auf die Bewertung der eigenen Passung in das Studienfach und gar generell an die Universität aus. In der Suche nach Passung oszillieren die studentischen Erzählungen zwischen Aneignung und Widerstand. Die eigene Positionierung – zwischen stark affirmativ und grundsätzlich kritisch – wird zu einem wichtigen Aspekt der Individualisierung, welche den studentischen Parcours begleitet. Die Spezialisierung im Studienfach steht in einem engen Zusammenhang mit der fortwährenden Auseinandersetzung mit möglichen Lebensentwürfen, die anhand der Auseinandersetzung mit Lehrerenden evaluiert werden können. Es besteht aber ebenso die Möglichkeit, Bündnisse jenseits von Hierarchien zu suchen und den Parcours auf diese Art zu meistern.13 Diese fangen Distanzen zu Lehrenden partiell auf, wie unser Jura-Student 1, JPC zeigt, selbst wenn das gemeinsame Lernen nicht auf der Agenda steht. Als naheliegender Bezugspunkt dienen hier KommilitonInnen, deren Nähe zueinander die Wahrnehmung der Nicht-Passung in der Organisation maßgeblich beeinflusst.

13 Lange-Vester und Terwes-Krüger (2004, 180) betonen, dass das Streben nach ‚Gemeinschaft‘ eine Strategie der ‚Bildungsunsicheren‘ sei.

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Vergemeinschaftung Das letzte Element des universitären Parcours ist deshalb die Vergemeinschaftung, das heißt die Herstellung von Beziehungen der Gegenseitigkeit sowie eines Wir-Gefühls. Menschen, die studieren, erfahren im Laufe des Studiums Vergemeinschaftung, aber auch Verwehrung dieser: Durch Leistungen und Netzwerke, oder eben durch ihr Ausbleiben, durch Zuspruch für sicheres Auftreten. Sichtbar ist dies schon in den vorhergegangenen Beispielen – so erfolgen Abgrenzungen, wie wir gesehen haben, zu ‚Professoren, die denken, sie seien etwas Besseres’ oder zu Lehrenden, die eine Vorbildfunktion erfüllen aber auch zu den anderen Studierenden, die individuell lernen. „Ich hab einmal jemandem meine Notizen gegeben, so 'n Mädel hat mich halt gefragt ‚ja ich war letzte Stunde halt nicht da, hast du Notizen, kann ich die abschreiben?’ Ich so ‚ja, klar, hier’. ‚Ja wie viel willst du denn dafür?’ ich habe das erst nicht verstanden ne, ich so ‚hä, was meinst du jetzt mit wie viel willst du dafür?’ die so, ja die verkaufen ja ihre Notizen hier immer“ (Int 8, HB).

Die Verwunderung, wie sie von der Studentin in der kurzen Episode beschrieben wird, darf dabei nicht als bloßes Unwissen über die Fachkultur verstanden werden, sondern als dezidierte Kritik am Umgang miteinander im Kontext des Faches und seiner Ordnung insgesamt. Dies leitet sich von der größeren Erzählung der Studentin ab: Sie stärkt ihre eigene Position im Fach und beurteilt zugleich die vorherrschende ‚Ungerechtigkeit‘. Jedoch gehen wir auch hier nicht nur eindimensional von einer Abgrenzung aus, sondern von Streben nach Nähe, die zu Peers gesucht wird, ebenso wie nach gegenseitigen Hilfeleistungen und Unterstützung. In der Verwunderung über den Tausch ‚Notizen gegen Geld‘ wird der Versuch einer Gegenerzählung ersichtlich, die unausgesprochene Prämissen der Fachkultur in Frage stellen. Sie vermögen unter Umständen, Erzählungen in der Organisation zu verändern und Prozesse in eine andere Richtung zu lenken. Als Kontrast soll hier die bereits eingeführte Studentin der Medizin dienen, die aus einem akademischen Milieu stammt. Vergemeinschaftung thematisiert sie im gemeinsamen Lernen mit Peers, zu denen sie bereits bei der Immatrikulation Anschluss findet. Im Folgenden skizziert sie eine Situation zu Beginn ihres Studiums. „[… ] da haben wir in meiner Wohnung einfach zu dritt die ganze Zeit gelernt; die haben auch bei mir übernachtet, ich hab teilweise auch aufm Boden übernachtet“ (Int 1, HB).

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Durch das Lernen wird das Durchlaufen des Studiums als gemeinsamer Prozess verstanden. Hierarchien spielen in der Gesamterzählung der Studentin eher eine untergeordnete Rolle, wenn auch Diskrepanzen im Verständnis der Lerninhalte thematisiert werden. Mit der Zeit findet die Studentin auch das richtige Maß, mit anderen bzw. allein zu lernen oder eben nicht lernen zu müssen, weil nicht alle Prüfungen relevant seien. Die navigatorische Bemühung kann auch hier ersichtlich werden: Fleiß und die Abwägung notwendiger Prüfungen spielen eine wichtige Rolle, die Vergemeinschaftung auf der Ebene der Peers wird jedoch als ein Erfordernis gewertet, das einen großen Teil des Studienerfolgs ausmacht und ebenso institutionell gefördert wird. Diese Sicht findet sich in der Rechtswissenschaft in unserem Sample seltener: Das Ziel, an den gewünschten Abschluss zu kommen, weicht mehrheitlich der Konkurrenz und schlägt sich aber genauso im subjektiv empfundenen Leistungsdruck nieder. Die weniger ausgeprägte Struktur des Studiums erschwert das Anknüpfen von Kontakten. So auch Student 1, JPC führt einen Teil seiner Probleme auf die fehlende Unterstützung sowohl der Familie als auch seiner Peers zurück: „Da war ja niemand da für mich. Also, ich hab nie mit jemandem gesprochen, der mir gesagt hat, "okay, du musst deinen Stundenplan/" ich wusste das nicht. Ich wusste nicht, dass ich n Stundenplan selber erstelle. Ich hab einfach nur n Plan ausgedruckt, hier erstes Semester ist so und so, zweites Semester ist so und so. Und hab die dann einfach so belegt.“ (Int JPC 1)

Der Kontrast zwischen ihm und den angenommenen 95 Prozent derjenigen, die über das Jura-Studium Bescheid wissen, besticht in der Erzählung als eine Markierung der Andersartigkeit. Die Anfangsschwierigkeiten erzeugen umso mehr Druck, als die anderen StudentInnen zu einer Vergleichsfolie (s.o.) werden, die als Mehrheit das ganze Fach und deren Kultur zu bestimmen scheinen. Die äußerst disparat verteilten Vorkenntnisse fördern gewiss die soziale Distanz unter den Peers, unter der dieser auf Hilfe angewiesene Student zu Beginn seines Studiums gelitten hat. Die Wahrnehmung eigener Unkenntnis bzw. Defizite kontrastiert er mit der kollektivierenden Unterstellung, dass die anderen ihr Fach praktisch bereits mit der ‚Muttermilch‘ aufgesogen haben und scheinbar problemlos Fuß fassen konnten. Dort, wo man sich den standardisierten Abläufen entzieht, schafft das Herausfallen aus den Koordinaten des Studiums schnell ein Gefühl der Nichtzugehörigkeit. In der durch Erlebnisse des eigenen Unvermögens geprägten Selbstwahrnehmung entsprechen die anderen als ‚fleißig‘, ‚erfolgreich‘ und ‚in-

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formiert‘ erscheinenden Studierenden dem Bild ‚normaler‘ StudentInnen, die – zumindest von außen betrachtet – sich im universitären Alltag sehr gut zurechtfinden und schnell vorankommen. Gegenüber dieser Folie führt bei einigen Studierenden das Erleben des eigenen Werdegangs als ‚nicht beteiligt‘ sowie als unfähig, sich Netzwerken anzuschließen und zum strategischen Wissen zu gelangen, immer wieder – zumindest zeitweise – zu einem problembehafteten Selbstbild, das Leidensdruck verstärkt. Nichtsdestotrotz gibt es auch im Fach Jura Gelegenheiten zu Vergemeinschaftung, die ein differenzierteres Bild des Fachs zeichnen. Studentin 7, JPC ergreift die sich ihr zu Anfang bietende Chance, die in der Erstsemesterwoche geknüpften Kontakte zu verfestigen und auszubauen. Schnell gründet sie eine WG mit zwei KommilitonInnen des gleichen Fachs. „[…] ich (habe) nämlich durch diesen Türkischkurs meine jetzigen Freunde und WGMitbewohner kennen gelernt, Mitbewohnerinnen, und da/, (P) so dass war dann die erste, pure homogene türkische Gruppe, sage ich mal, die hat/, die ich dann halt da gefunden hatte, und (P) und ich weiß nicht wie ich da, also ich ve/, also ich weiß nicht wie ich die ( ) beschreiben soll, aber irgendwie zieht Kultur an.“ (Int JPC 7)

In dieser Wohngemeinschaft gibt es sowohl Freundschaft und starken sozialen Rückhalt, die Möglichkeit zum gemeinsamen Lernen, die aber im Verlauf der Zeit immer seltener genutzt wird, als auch den Genuss, einer ähnlichen türkisch geprägten Kultur anzugehören, die mit der Selbstverständlichkeit in der Alltagsgestaltung und Wärme assoziiert wird. Das Gefühl der Zusammengehörigkeit wird durch ähnlich gelagerte Studieninteressen verstärkt, ebenso wie eine ähnliche Schichtzugehörigkeit. Zugleich verfügt diese Studentin über Netzwerke, die auf ihre Lehrenden sowie auf ihren deutschen Freund zurückgehen, der aus einem anderen Milieu stammt. Die Erzählung dieser Studentin bringt zwei weitere Facetten zum Ausdruck: Erstens thematisiert sie den dynamischen Charakter studentischer Vergemeinschaftung. War sie bereits zu Anfang ihres Studiums in Peer-Gruppen dabei, hat sich deren Zusammensetzung und Gewichtung stark gewandelt, was mit der Justierung der fachlichen und persönlichen Passung zusammenhing. Zweitens bietet sie ein Beispiel einer Studentin, die, aus einer bildungsfernen Familie stammend, sich sowohl den Rückhalt in einer – in ihren Worten – ‚homogenen‘ WG suchte, als auch auf schichtübergreifende Netzwerke zurückgreifen konnte, die sowohl ihre Studienoptionen erweitern, als auch weitere Momente persönlicher Entfaltung bieten. Die Navigation durch das Studium zeigt sich, wie oben ausgeführt, in Reflexionen über das Studieren selbst: Die Benennung persönlicher wie institutionel-

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ler Hürden macht sie besonders prägnant; sie zeigen sich auf der Ebene von Erzählungen zu eben diesen Übergängen, die meist in der Forschung nicht erfasst werden. Sie dienen in gewisser Weise als umfassende Orientierungen und thematisieren Heterogenität als potentielle Quelle von Ungleichheit, die in der eigenen Biographie besonders erfahrbar sind. Das Sprechen über Lehrende und Erfahrungen mit diesen verweist auf eine andere Ebene: die der Hierarchie und der damit einhergehenden symbolischen Grenzziehungen. Demgegenüber stehen Erzählungen, die mit einem anderen Anspruch formuliert werden: die gemeinsame Bewältigung des Studiums als Modus der Vergemeinschaftung.

IV. S YMBOLISCHE

UND SOZIALE G RENZZIEHUNGEN IM UNIVERSITÄREN P ARCOURS

Die sozialwissenschaftliche Forschung hat in den letzten Jahren die Wirkungsmacht symbolischer Grenzziehungen und insbesondere ihren dynamischen und relationalen Charakter freigelegt. Sie hat gezeigt, dass soziale Konstruktionen, darunter Werthierarchien und kategoriale Unterscheidungen, die soziale Wirklichkeit nachhaltig prägen. Gemäß Michèle Lamont und Virág Molnár (2002) verfestigen sich symbolische Grenzziehungen zu objektivierten Formen sozialer Differenzierung (soziale Grenzziehungen), die sich in unterschiedlichem Zugang und in ungleicher Verteilung geschätzter Ressourcen und sozialer Opportunitäten niederschlagen. Andreas Wimmer (2008), der diesen Ansatz auf ethnische Grenzziehungen übertragen hat, betont ihren handlungsintensiven (‚agencyrich’) Charakter, welche die Akteure im Alltag fortwährend herstellen und herausfordern. So können soziale Aushandlungen die Grenzverläufe verstärken, aber auch zu Grenzverwischungen und Umwertungen führen, die in Interaktionen, Netzwerke, Reziprozitätsmuster und Solidaritäten hineinspielen. Damit wird die Beschaffenheit, die Durchlässigkeit bzw. Unüberwindbarkeit der Grenzen bedeutsam. Grenzziehungen, die kollektive Entitäten ein- oder ausschließen, können je nach Kontext enger oder weiter gefasst werden. Diese Prozesse sind untrennbar mit kollektivierenden Wertehierarchien und Repräsentationen verbunden und mit der Frage nach den Mechanismen, welche diesen eine Dauerhaftigkeit verleihen. Tilly (2004) schlägt einige Mechanismen vor, die aus Heterogenitäten soziale Ungleichheiten generieren: Es handelt sich v.a. um Stereotypisierungen; Hierarchisierungen sowie Chancenhortung. Solche Mechanismen wirken im universitären Parcours. Zu wichtigen Stereotypisierungen gehört, dass StudentInnen als ‚gute-r/schlechte-r StudentIn entlang Fachkulturgrenzen oder in Bezug auf ethnisierende Merkmale wie etwa

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ihren ‚Migrationshintergrund‘ wahrgenommen werden. Hierarchisierungen verweisen immer noch auf Kämpfe um und gegen soziale Schließung, wenn ‚meritokratische‘ Attribute (zur Kritik vgl. Solga 2009) mit habituellen Erwartungen (etwa wie ein angehender Jurist zu wirken hat) unterfüttert werden. Narrative über Wettbewerb unter Studierenden weisen auf die Präsenz von Chancenhortung im studentischen Alltag hin. Der universitäre Parcours – die oben präsentierten Fallbeispiele machen es deutlich – ist charakterisiert durch ein Ineinandergreifen formaler organisatorischer Vorgaben, der individuellen Ressourcenausstattung sowie sozialer Aushandlungen, die um symbolische Grenzverläufe ringen. Wie unsere Beispiele zeigen, wird der Parcours nachhaltig dadurch beeinflusst, wie die Beteiligten diese Strukturen, sich und die Peers wahrnehmen und wie die Handlungspraxis im universitären Raum durch die Unterscheidungen, Ein- und Ausgrenzungen, Konkurrenzkämpfe sowie Positionierungen in sozialen Hierarchien bestimmt wird. Das Streben nach Passung – ein Grenzziehungsphänomen schlechthin – nach dem Studieneintritt wird durch Erfahrungen in Interaktionen, Selbst- und Fremdbeobachtung, ja über konstante Vergleiche, begleitet. Diese können den Ausschlag geben, dass StudentInnen Fuß fassen, oder aber in heißen Lernphasen sozialen Ausschluss erdulden müssen. Im universitären Raum greifen unterschiedliche Parameter der Passung ineinander: Studieninteressen, Anerkennung, politische Haltung, habituelle Formen, sozialer ‚Erfolg‘, aber auch (Wahrnehmungen von) Fleiß und Begabung. Lerngruppen erfüllen mehr als den Zweck des gemeinsamen Lernens: Lernen ist zugleich gemeinsames Erleben und zudem ein Prozess habitueller Abstimmung. Einerseits können diese als ‚Schicksalsgemeinschaften‘ verstanden werden; andererseits als exkludierende Konstellationen gegenüber Personen, deren sozio-kulturelle Codes als ‚abweichend‘ bzw. ‚nicht zielführend‘ geringgeschätzt werden. Grenzziehungen entstehen ebenfalls in Interaktionen. Ist das Verhältnis zwischen den Lehrenden und den Lernenden durch soziale Distanz qua Rollen geprägt, kann es zusätzlich durch verhandelte Wertehierarchien und geringen Kontakt beeinflusst werden. Die Beispiele aus der Rechtswissenschaft bringen zum Ausdruck, dass es innerhalb einzelner Fächer zu sozialen Aushandlungen von Fachkulturen kommt: Das traditionell in der sozialen Skala hoch rangierende professionelle Feld der Jurisprudenz ruft heute noch hierarchisierende Haltungen von Lehrenden und StudentInnen auf den Plan, die ‚feine Unterscheidungen‘ entlang kultureller, sozialer und ökonomischer Ressourcenausstattung und deren Zurschaustellung vornehmen. Diese werden gerade in Interaktionen in weitgehend anonymen Vorlesungssälen mobilisiert und resultieren in Unterstellungen

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habitueller ‚Nichtpassung‘, einschließlich von Mutmaßungen, dass es spezifischen StudentInnen an Motivation mangeln würde. Das Beharren auf soziokulturelle Hegemonien innerhalb von Fachrichtungen sowie Gegenpositionierungen treten in Interaktionen deutlich zutage. Ebenso fanden wir Belege für Situationen von studentischem Wettbewerb14 im Streben nach Wohlstand, sozialen Kontakten und kulturellem Kapital, der sich etwa in der Monetarisierung studentischer Austauschbeziehungen niederschlägt. Unsere Beispiele zeigen zugleich, dass es im universitären Raum zu beträchtlichen Differenzierungen gekommen ist. Traditionelle Statushierarchien werden in Frage gestellt; kritische Studierende können heute impliziten oder gar expliziten Widerstand formulieren und dabei sogar von engagierten Lehrenden Unterstützung bekommen. Der universitäre Raum ist mittlerweile so heterogen geworden (vgl. u.a. Bülow-Schramm 2008), dass höchst unterschiedliche symbolische Grenzziehungen hervorgebracht werden. Neben fortwährendem Wettbewerb entlang etablierter Wertehierarchien dokumentieren unsere Daten auch ein beträchtliches Maß an politischem Bewusstsein und sozialem Engagement, mit dem StudentInnen die wahrgenommenen Vermachtungen und Ungerechtigkeiten in Frage stellen. Nur sehr verkürzt können wir hier auf die wichtige Tatsache eingehen, dass die studentische ‚biographische Navigation‘ (vgl. Pfaff-Czarnecka 2013) sich nicht nur im Streben nach Expertise und erfolgreicher Berufsergreifung vollzieht. Für die allermeisten StudentInnen geht der Parcours durch ihr Studium mit persönlichen Transformationen (vgl. King 2009) einher, die mit wichtigen Übergängen zusammenhängen. Mit Blick auf Studierende mit Migrationshintergrund spricht Karin Schittenhelm (2010) von ‚mehrdimensionalen Statuspassen‘. Dazu gehören Statusübergänge im Rahmen der Familie und damit einhergehende Statusveränderungen sowie eine besonders akzentuierte Problematik der Vereinbarkeit (ebd., 41). So greifen die Erweiterung der Fachkenntnisse und Persönlichkeitsentfaltung vielfach ineinander – und das gilt für alle. So schmerzhaft Grenzziehungen erlebt werden können, fordert die symbolische Grenzarbeit vielfach Kreativität heraus und kann auch befreiend wirken. Auf den persönlichen Wegen der Selbstfindung15 treten die unterschiedlichen Facetten des ‚Ich‘ mit un-

14 Auch Bargel und Bargel (2010) heben die starke Konkurrenz unter StudentInnen hervor. 15 Jeffrey/Jeffery/Jeffery (2008, 13) sprechen von Bestreben junger Menschen, ‚Autorenschaft‘ über ihr Leben zu erlangen.

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terschiedlichen Gewichtungen interagierend hervor.16 Die dabei mobilisierten Zuordnungen und Abgrenzungen – etwa das Verhältnis von Geschlecht, ‚ethnonationaler Herkunft‘, körperlichen Merkmalen, sexueller Orientierung und beruflicher Aspiration – können partiell, überlappend, aber auch widersprüchlich sein (vgl. Yon 2000). So stehen den im universitären Raum wahrgenommenen symbolischen Grenzziehungen, die klare Unterscheidungen hervorheben, persönliche Positionierungen gegenüber, die jegliche kollektive Zuordnungen in Frage stellen. Dabei ist der Marker ‚Ethnizität‘, wie er noch im Titel des Projekts konzeptualisiert wurde, durchaus nicht die einzige Wirkungsmacht: Manche StudentInnen sind auf diese Facette ihres Selbst in den Gesprächen gar nicht erst eingegangen. Viele StudentInnen, die teilweise auf umfassende Diskriminierungserfahrungen in Kindheit und Jugend zurückblicken, können im Studium auf erprobte Bewältigungsstrategien zurückgreifen und die an sie gerichteten Kategorisierungen zurückweisen. Der universitäre Alltag ist viel zu herausfordernd und komplex, um in einem homogenen Schema der Selbstverortung verhaftet zu bleiben. Manche StudentInnen scheinen es ‚müde zu sein‘, stets auf die Variable ‚Migrationshintergrund‘ zurückgeworfen zu werden. StudentInnen thematisieren ihren ‚Migrationshintergrund‘ in nur wenigen Fällen als Stigma; Migrationserfahrung als Ressource wird hingegen zum Motiv in manchen Narrativen. Meist wird er als eine der Dimensionen der Persona gesehen, die in Wechselwirkung unterschiedlicher sozialer Parameter in der Navigation durch das Studium reflektiert werden. Student 1, JPC und Studentin 2, JPC (wie auch weitere StudentInnen) legten ferner einen großen Wert auf die Feststellung, dass ihr soziales Engagement, dem sie auch in ihrer künftigen Berufstätigkeit Ausdruck verleihen wollen, universell zu verstehen ist, und sich nicht auf partikulare (migrantische) Gruppierungen oder Problemlagen beschränken soll. ‚Migrationshintergrund‘ wirke ihnen zufolge sensibilisierend für gesamtgesellschaftliche Anliegen. Haben wir unser Konzept des ‚universitären Parcours‘ anfänglich im Zusammenhang mit dem Kollektivmarker ‚Migrationshintergrund‘ konzipiert, so mussten wir im Verlauf der Studie eine doppelte Korrektur vornehmen: Zum einen sind die StudentInnen heute so heterogen, dass es wenig Sinn macht, unser Konzept lediglich auf eine Bezugsgruppe zuzuschneiden. Ins Positive gewendet, sehen wir das Konzept des universitären Parcours als für alle StudentInnen be-

16 Vgl. Konzept der ‚multiplen Zugehörigkeiten und die Herausforderungen biographischer Navigation‘ von Pfaff-Czarnecka (2013), das sich u.a. an performativen und an intersektionalen Ansätzen orientiert.

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deutsam. Zum anderen nehmen wir auf der Grundlage unserer Studie nachdrücklich von Positionen Abstand, die den ‚Migrationshintergrund‘ für eine Problemkategorie halten. Wir wiederholen: Der universitäre Parcours spielt sich in höchst komplexen sozialen Spannungsfeldern ab. In der persönlichen Navigation der StudentInnen werden unterschiedliche Parameter des Selbst mobilisiert. Um es plakativ auszudrücken: Wir haben nach ‚Migrationshintergrund‘ gesucht und ‚Bourdieu‘ gefunden! Nicht spezifische Dimensionen kollektiver Zuschreibungen, sondern vielmehr das mehrdimensionale Modell der unter StudentInnen stark differierenden Ressourcenausstattung ist der Hauptfaktor im voraussetzungsreichen universitären Parcours gerade für StudentInnen, denen es an strategisch wichtigen Kapitalarten mangelt. Zugleich trägt unser Konzept den individuellen Freiräumen und Handlungsmöglichkeiten Rechnung.

V. D IE O RGANISIERUNG VON G RENZZIEHUNGEN IM UNIVERSITÄREN R AUM Betrachten wir die identifizierten Arten der Grenzziehungen im universitären Kontext auf verschiedenen Ebenen, so können diese als sensemaking verstanden werden, die die Universität als Organisation mitunter hervorbringen. Weick et al. (2005) zufolge steht am Anfang eines jeden Organisierens das Chaos, das erst durch das Sprechen und Wiederholen Plausibilität erzeugt. Diese steht für eine der Organisation inhärente Ordnung, die nicht mehr hinterfragt wird und qua Handlungen aufrecht erhalten bleibt. Auch StudentInnen müssen mit dem Eintritt in die Universität für sich selbst, um in der Organisation bestehen bleiben zu können, aus Chaos Ordnung schaffen: Die Prämissen sind dabei nicht für alle gleich, wenngleich doch die Ordnung gleichförmig ist: Bewerbung, Einschreibung, Prüfungen mit unterschiedlicher Relevanz kennzeichnen nahezu alle Studiengänge und -formen. Sensemaking im universitären Parcours bedeutet, mit Mehrdeutigkeit umzugehen: StudentInnen reflektieren diese Mehrdeutigkeit und setzen deren Reflexion in ihren Handlungen um. Beispielsweise indem zwischen Anonymität und Sichtbarkeit abgewogen wird und spezifische Praktiken daraus resultieren: Ausgehend von der eigenen anfänglichen Unwissenheit darüber, wie Universität ‚funktioniert’, dass es beispielsweise einen Fachschaftsrat und einen Asta gibt, schafft sich Student 1, JPC mit der Zeit ein studentisches Netzwerk über eben diese Instanzen der studentischen Vertretung, teilweise einhergehend mit der eigenen Migrationserfahrung. Um potenziellen Diskriminierungen entlang dieses Markers seitens der Lehrenden vorzubeugen, bevorzugt er hingegen bei Klausu-

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ren die Angabe der Matrikelnummer. Als Ordnung betont er aber insbesondere ‚Techniken des Selbst‘ im Sinne einer Plausibilisierung universitärer Strukturen: Zeitmanagement, die Aneignung von Wissen und nicht zuletzt das eigene Aufkommen für den Lebensunterhalt sowie die Vereinbarung von Studium und Familie. Persönliche Krisen sind stark mit Erfolgen und Scheitern im Studium verwoben Dieser Zusammenhang – die ‚Probleme mit (Bildungs-)Autoritäten‘ sowie Maßnahmen, um diesen entgegenzuwirken – ziehen sich geradezu durch seine gesamte Biographie. Wenngleich der Erzählende den ‚Faktor Migrationshintergrund‘ tatsächlich auch als hintergründig darstellt, ist dieser eng verwoben mit der sozialen Herkunft der Eltern. Die Plausibilität der Organisation des Fachs Rechtswissenschaft wird über die Infragestellung umso sichtbarer: Den Anspruch ‚Recht zu tun’ bzw. ‚gerecht zu sein‘ findet Studentin 8, HB weder in dem Fach noch in der deutschen Gesellschaft, in der sie aufgewachsen ist. Ihr Vater, der sich stets eine bessere Zukunft und ein geregeltes Einkommen für seine Tochter wünschte, fungiert als Vorbild. Einige männliche Familienmitglieder, die selbst Rechtshilfe beanspruchen mussten bzw. denen auch Ungerechtigkeit wiederfahren ist, stellen ebenso einen Bezugspunkt dar. Hier sehen wir eine enge Verknüpfung mit der Kategorie Geschlecht sowie sozialer Herkunft. Beide Fälle aus diesem Fachbereich zeigen ein Ringen um Plausibilität im Studiumsverlauf – sichtbar in und durch Grenzen sowie ihrer Verschiebungen: Während Student 1, JPC diese entlang seiner persönlichen Entwicklung im Studium zeichnet, betont Studentin 8, HB die bis zum Studium vollzogene Entwicklung und damit einhergehende Vorstellungen über zwischenmenschliches Verhalten als dem Studium konträr. Plausibilität ist bspw. auf verschiedenen Ebenen von Grenzen durchzogen – Studentin 2, JPC wendet ihren im buchstäblichen Sinne hürdenreichen Werdegang als ‚gelungene Integration’. Das Vermögen, sich dem Fach entsprechend eindeutig artikulieren zu können, wird zum Hauptkriterium der eigenen Bringschuld, die einem Gelingen der Anerkennung im universitären und außeruniversitären Kontext vorgelagert ist. Karl Weick (1985, 15) betont: „Organisationen sind trotz ihrer scheinbaren Inanspruchnahme durch Fakten, Zahlen, Objektivität, Konkretheit, Verantwortlichkeit in Wahrheit voll von Subjektivität, Abstraktion, Rätseln, Erfindung und Willkür“.

Weil Organisationen aus Menschen bestehen, spielen diese „eine entscheidende Rolle bei der Wahrnehmung, Interpretation und Ausgestaltung der eigenen Aktivitäten wie auch bei der Abgrenzung relevanter Umwelten“ (ebd.). Wir plädieren

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für einen Parcours-Begriff im Sinne von sensemaking – das heißt als Sinnstiftung, die Organisationen, wie beispielsweise die Universität, erst hervorbringt. Zentral sind die dafür relevanten Mittel, Strategien und Deutungsmuster im Organisieren der Realisierung von Verwirklichungschancen seitens der Studentinnen.

VI. S CHLUSSBETRACHTUNG Der Begriff ‚universitärer Parcours‘ erweitert bisherige Betrachtungen der Universität um Grenzziehungsprozesse, die auf den Ebenen der Individuen, Kollektive, Symbole und Strukturen ihre Wirksamkeit zeigen. Diese sind konstitutiv für die Fortsetzung sozialer Ungleichheit im Bildungssystem. Bis in die Universität hinein treten sie als Dynamiken auf, die diese Organisation erst herstellen – und gleichsam ambivalent machen. Doch den Universitäten wohnen auch transformative Kräfte inne: Solidarität, Teilhabe, persönliche Erfolge sind ebenso möglich wie die Verwehrungen derselben. Mit dieser individuell und kollektiv organisierten Umsetzung von Verwirklichungschancen geht dabei auch immer die Differenz von unterschiedlichen Graden der ‚Inklusion‘ (eher auf dem Parcours bevorteilt) und der ‚Exklusion‘ (eher auf dem Parcours benachteiligt) einher (Berger/Kahlert 2008; Weiß et al. 2001). Die Parameter der In- bzw. Exklusion lassen sich indes nicht alleine auf den sogenannten ‚Migrationshintergrund‘ einschränken. Unser ‚Parcours‘-Konzept ermöglicht einen präzisen Blick auf die feine Strukturierung des sozialen Raums der Universität. Es werden wichtige Grenzziehungen im universitären Raum freigelegt, die etwa die Übergänge zwischen Studienabschnitten beeinflussen. Es kann nachvollzogen werden, wie in unterschiedlichen Konstellationen StudentInnen ihre Möglichkeiten und Beschränkungen erkennen (und verarbeiten). So haben wir im Kontext der Sinnstiftung die Subjektperspektive der StudentInnen und deren ‚patterns of organizing‘ verfolgt und uns auf kleine Strukturen konzentriert, die große Konsequenzen haben.

L ITERATUR Alheit, Peter/Rheinländer, Kathrin/Watermann, Rainer 2008: Zwischen Bildungsaufstieg und Karriere. Studienperspektiven „nicht-traditioneller Studierender, in: Zeitschrift für Erziehungswissenschaft 11 (4), S. 577-606.

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Grenzziehungen

Was Förderer fordern Begabtenförderung und soziale Ungleichheit L ARISSA B ÄUMER

I. E INLEITUNG Es ist weitgehend bekannt, dass das Problem sozial ungleicher Bildungschancen in Deutschland nach wie vor Bestand hat (vgl. Becker/Lauterbach 2008; Geißler 2008). Junge Menschen aus bildungs- und finanzschwachen Elternhäusern haben signifikant schlechtere Chancen auf eine Bildungskarriere als Jugendliche und junge Erwachsene aus einem finanzstarken Akademikerhaushalt. Dies ist beim Übergang zur Hochschule wie auch an zahlreichen anderen Schnittstellen festgestellt worden. Zunehmende Aufmerksamkeit kommt in diesem Zusammenhang der Rolle von Begabtenförderungswerken zu, die mit staatlichen Geldern fast 26.000 StudentInnen eine Förderung zukommen lassen (vgl. BMBF o.J.). Diese besteht aus einer Vielzahl von materiellen und ideellen Leistungen, die die StudentInnen in ihrer Bildungskarriere substanziell unterstützen. Zugute kommt die Unterstützung jedoch überdurchschnittlich häufig jenen sozioökonomischen Statusgruppen, die ohnehin im besonderen Maße bildungserfolgreich sind (vgl. Stamm 2007; Middendorff/Isserstedt/Kandulla 2009). Sozial ungleiche Chancenstrukturen an Hochschulen werden dadurch zusätzlich verstärkt. Ziel des Aufsatzes ist es, die Auswahlpolitik der Stiftungen einer kritischen Betrachtung zu unterziehen und ihren Beitrag zur sozialen Selektion an Hochschulen nachzuvollziehen. Im Gegensatz zu vielen anderen Ländern wird in Deutschland die Auswahl und Förderung besonders ‚begabter‘ StudentInnen vornehmlich von staatlicher Seite und nicht von privaten Geldgebern initiiert. Dafür stattet der Bund dreizehn Begabtenförderungswerke mit rund 199 Millionen Euro aus (2013), die nach den jeweiligen stiftungsinternen Zielen und Schwerpunkten StudentInnen eine umfangreiche Förderung zukommen lassen (vgl. BMBF o.J.). Jene Werke, so betont

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das Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF), „spiegeln die Vielfalt der deutschen Gesellschaft wider“ (ebd.), indem sie die politische, religiöse und tarifparteiliche Bandbreite der Bundesrepublik Deutschland abbilden. Doch unabhängig davon, wie vielfältig die Stiftungen in religiöser und politischer Hinsicht sein mögen, sozialstrukturell spiegeln sie die Gesellschaft nur sehr bedingt wider. Stattdessen sind sie im hohen Maße von sozialer Ungleichheit geprägt (vgl. Middendorff/Isserstedt/Kandulla 2009). Vor diesem Hintergrund sehen sich die Förderwerke vermehrt mit dem Vorwurf konfrontiert, staatliche Gelder für die Reproduktion einer akademischen Elite einzusetzen (vgl. Michler 2012; Dämon 2013). Die Ursachen und konkreten Mechanismen, die der sozialen Selektion in der Begabtenförderung zugrunde liegen, sind im deutschen Sprachraum bisher wenig thematisiert worden. Die bildungssoziologische Auseinandersetzung mit sozialer Ungleichheit richtet ihre Aufmerksamkeit vorrangig auf Selektionsmechanismen innerhalb des Schulsystems sowie auf verschiedene Bildungsübergänge, während eine Betrachtung der Begabtenförderwerke kaum vorkommt (vgl. Stamm 2007, 231). Dies birgt die Gefahr in sich, zur Erklärung sozialer Ungleichheit in der Begabtenförderung auf den BewerberInnenpool zu verweisen, statt möglichen Ausschlussmechanismen in den Förderwerken auf den Grund zu gehen (vgl. Gomolla 2010, 61). An dieser Stelle setzt die vorliegende Studie an. Angesichts ausgeprägter sozialer Ungleichheit in der deutschen Begabtenförderung sollen die Förderwerke selbst in den Mittelpunkt gerückt werden. Dabei wird in Abgrenzung zu mikrosoziologischen Betrachtungen sozialer Ungleichheit, in denen die Betroffenen Gegenstand der Untersuchung sind, der Fokus auf eine institutionelle Erklärungsebene gerichtet. Das Vorhaben wird von dem Erkenntnisinteresse geleitet, ob und inwieweit die Unterrepräsentation sozial schwacher Gruppen das Resultat einer diskriminierenden Auswahlpolitik der Förderwerke ist. Präzisiert lautet die Frage: Inwieweit führt die Auswahlpolitik der Begabtenförderwerke systematisch zu schlechteren Chancen für BewerberInnen aus sozial benachteiligten Gruppen, als StipendiatInnen aufgenommen zu werden? Die Analyse der Auswahlpolitik wird am Beispiel der beiden größten Begabtenförderungswerke vorgenommen, der Studienstiftung des deutschen Volkes und der Hans-Böckler-Stiftung (HBS). Beide Stiftungen unterscheiden sich nicht nur hinsichtlich ihrer Leitbilder und Auswahlkriterien, sondern weisen auch große Unterschiede in der sozialen Zusammensetzung ihrer StipendiatInnen auf. Während sozial benachteiligte Gruppen einen vergleichsweise niedrigen Anteil in der Studienstiftung ausmachen, zeichnet sich die HBS durch eine überdurchschnittlich hohe Beteiligung dieser Gruppen aus. Die Untersuchung der

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beiden Stiftungen verspricht vor diesem Hintergrund eine vielversprechende Vergleichsgrundlage. Zur Beantwortung der Fragestellung werden in einem ersten Schritt die sozialen Zusammensetzungen der Stiftungen genauer betrachtet und Erklärungsansätze sozialer Selektion in der Begabtenförderung vorgestellt. Daraus leiten sich theoretische Überlegungen zur institutionellen Diskriminierung ab, die Aufschluss über die konkreten Wirkungszusammenhänge geben sollen (Kap.2). Darauf folgt die Vorstellung des Datenmaterials und der Methode (Kap. 3). Auf dieser Grundlage beginnt im Anschluss die empirische Analyse entlang von drei Kategorien (Kap. 4), deren wichtigste Erkenntnisse im Schlussteil zusammengetragen und reflektiert werden (Kap. 5).

II. I NSTITUTIONELLE D ISKRIMINIERUNG IN DER B EGABTENFÖRDERUNG Die soziale Herkunft, als eine der klassischen Ungleichheitskategorien, hat sich trotz Bildungsexpansion als ausgesprochen hartnäckig erwiesen. Insgesamt, so Rainer Geißler, gibt es „mehr Bildungschancen – aber weniger Chancengleichheit“ (Geißler 2008, 75, Hervorhebung im Original). Soziale Herkunft wird dabei als mehrdimensionales Konzept verstanden, welches sowohl den Bildungsals auch den Berufshintergrund des Elternhauses einschließt (vgl. Lörz/Schindler 2011, 462-465). Aufgrund herkunftsspezifischer Ungleichheitsstrukturen beim Übergang zur Hochschule (vgl. ebd., 468-470) ist die soziale Zusammensetzung der Begabtenförderungswerke bereits stark vorstrukturiert. Die ausschlaggebende Vergleichsgruppe bildet vor diesem Hintergrund die StudentInnenschaft selbst, da Unterschiede in der sozialen Zusammensetzung der Geförderten einerseits und der Allgemeinheit der StudentInnen andererseits auf Selektionsprozesse innerhalb der Stiftungen schließen lassen. Mit der Online-Befragung des Hochschul-Informations-System (HIS) wurde im Auftrag des BMBF im Jahr 2008 erstmals systematisch die soziale Zusammensetzung innerhalb der Förderwerke erhoben. In dem Bericht werden bildungs- und berufsbezogene Charakteristika der Eltern von Geförderten in so genannte ‚Soziale Herkunftsgruppen‘ zusammengefasst und in Relation zur Allgemeinheit der StudentInnen gesetzt (vgl. Middendorff/Isserstedt/Kandulla

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2009).1 Die Ergebnisse machen deutlich, dass StudentInnen in den Förderwerken überdurchschnittlich häufig aus akademisch gebildeten und beruflich gut situierten Familien kommen. Bei über 70% der Geförderten haben Mutter oder Vater die Hochschulreife erworben und in zwei Drittel (67%) der Familien hat mindestens ein Elternteil ein Hochschulstudium abgeschlossen. Die Eltern aller StudentInnen weisen hingegen nur zu knapp über 50% ein abgeschlossenes Studium auf. Folgt man der Klassifizierung des Berichts in den Herkunftsgruppen ‚niedrig‘, ‚mittel‘, ‚gehoben’ und ‚hoch’ kommt mehr als jeder zweite Geförderte aus der Herkunftsgruppe „hoch“, während beim Durchschnitt der StudentInnen nur etwa ein Drittel dieser Gruppe entstammt. In Kontrast dazu kommt lediglich jeder zehnte Geförderte aus einer ‚niedrigen‘ Herkunftsgruppe, d.h. aus einem Haushalt, in dem die Eltern keinen Hochschulabschluss erworben haben, sondern ArbeiterInnen oder einfache Angestellte sind (vgl. ebd., 21-29). Im Folgenden wird im Zusammenhang mit den Begabtenförderungswerken von sozial benachteiligten Gruppen oder Schichten gesprochen, womit die – in sich heterogenen – Gruppen der Herkunftskategorie ‚niedrig‘ bis ‚mittel‘ gemeint sind. Als theoretischer Ausgangspunkt dient der Ansatz der institutionellen Diskriminierung. Der Bezug auf das Konzept der institutionellen Diskriminierung ermöglicht es, Selektionsmechanismen in den Blick zu nehmen, die aus den organisatorischen Rahmenbedingungen entstehen und verhindert, dass die Erklärungen für Diskriminierung bei den Betroffenen selbst gesucht werden oder auf individuelle Orientierungen und Absichten beschränkt bleiben. Allgemein bezeichnen Institutionen ein umfangreiches Muster oder Regelsystem, in das Individuen, Gruppen und Organisationen eingebunden sind (vgl. Hasse/Krücken 1999, 8). Zusammenfassend definieren Raimund Hasse und Lucia Schmidt institutionelle Diskriminierung „als andauernde und systematische Benachteiligung von Angehörigen sozialer Gruppen, die – gemäß institutionentheoretischer Weiterentwicklung – in veralltäglichten, routinisierten und nicht in Frage gestellten Praktiken insbesondere in organisatorischen Kontexten begründet ist“ (Hasse/Schmidt 2012, 886).

Wichtig ist bei dem Ansatz der institutionellen Diskriminierung, dass von keiner beabsichtigten Benachteiligung ausgegangen wird. Der Vorteil des Konzepts liegt darin, latente und überindividuelle Formen der Benachteiligung sichtbar zu

1

Mehr zur Form und Durchführung der Untersuchung siehe Middendorff/Isserstedt/ Kandulla 2009, 15-19.

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machen, also diejenigen Ungleichheitseffekte zu erfassen, die auf die Strukturen, Programme, Regeln und Praktiken der Organisationen zurückzuführen sind (vgl. Gomolla 2010, 62, 75f.). Mit Bezug auf Begabtenförderung bieten die Arbeiten von Margrit Stamm (2007) und Mary M. Frasier, Jaime H. Garcia und A. Harry Passow (1995) erste Anhaltspunkte für die Ursachen institutioneller Diskriminierung. Stamm (2007) identifiziert zwei entscheidende Faktoren, die für den hohen Grad an sozialer Auslese in den Förderwerken ursächlich seien: die vorherrschende Konstruktion von Begabung und Leistungsfähigkeit auf der einen Seite sowie die Mittel und Verfahren, diese zu identifizieren, auf der anderen. Demnach ist Hochbegabung in der hiesigen Gesellschaft „akademische, mittel- und oberschichtfixierte Hochbegabung“ (Stamm 2007, 234). Ähnlich argumentieren Frasier et al. (1995), die die Konzeption von Begabung als ursächlich für die problembehaftete Identifizierung von begabten Minoritäten ansehen. Demnach sei die zentrale Frage: „What constitutes giftedness and is it manifested the same in all cultures and groups“(Frasier/Garcia/Passow 1995, 12)? Inwieweit das Konzept von Begabung sowie die Auswahl- und Nominierungsverfahren in der deutschen Begabtenförderung sozial benachteiligte Gruppen diskriminieren, kann im Anschluss an Pierre Bourdieu und Heike Solga genauer nachvollzogen werden. Beide bieten bei der Erklärung institutioneller Reproduktion und Legitimation sozialer Ungleichheit zentrale Bezugspunkte, die in der Analyse der Begabtenförderwerke eine wichtige Rolle spielen. Pierre Bourdieu und Claude Passeron (1971) zufolge hängt Erfolg bzw. Misserfolg im Bildungssystem vom Besitz und Umfang kulturellen Kapitals in der Familie ab. Kulturelles Kapital, welches in und durch die Familie weiter gegeben bzw. erlangt wird, kann im weitesten Sinne mit Bildung umschrieben werden (vgl. Bourdieu 1983, 186f.). Gemeint ist damit die geistige und emotionale Aneignung (Inkorporation) von kognitiven, methodischen sowie sozialen und emotionalen Kompetenzen im familiären Sozialisationsprozess (vgl. El Mafaalani 2012, 69f.). Das Erlangen kulturellen Kapitals setzt einen „Verinnerlichungsprozess“ (Bourdieu 1983, 186) voraus, durch den das kulturelle Kapital „zu einem festen Bestandteil der ‚Person‘, zum Habitus [wird]“ (ebd., 187). Der Habitusbegriff stellt ein komplexes Konstrukt dar, das alles erfasst, was im Verlauf der Sozialisation eines Menschen erlernt und erlebt wurde; von Sprache, Mimik und Umgangsformen bis hin zu sozialen Wertvorstellungen und Leistungsbewusstsein (vgl. El Mafaalani 2012, 78; Bourdieu 1983, 186-188). Der Habitus spiegelt damit die persönliche, vor allem aber die soziale Erfahrungswelt eines jeden wider – er ist die Äußerung von sozialstrukturellen Gegebenheiten in einem System individueller Dispositionen (vgl. El Mafaalani 2012,

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76). Ein Kennzeichen moderner Gesellschaften ist, dass sich Herrschaftsverhältnisse nicht länger offen und für alle sichtbar reproduzieren, sondern sich vermittelt über den Habitus „als symbolische Gewalt in die Individuen und die Institutionen verlagern“ (ebd., 87). Als Gegenkonzept zum Habitus kann der Meritokratie-Begriff verstanden werden, welcher vom britischen Soziologen Michael Young (1961) erstmals verwendet und kritisch geprägt wurde. Allgemein drückt Meritokratie den Anspruch einer modernen Gesellschaft aus, Titel und soziale Positionen unabhängig von der sozialen Herkunft zu vergeben. Die Ursache sozialer Ungleichheit liegt demzufolge in den ‚natürlichen‘ Begabungen und Fähigkeit von Individuen begründet (vgl. Solga 2008, 24-26; Young 1961, 24f.). Dieses Verständnis von Begabung und Leistungsfähigkeit als ‚natürliche‘ und vermeintlich universalistische Kategorie lässt die Rolle des Habitus und die Definitionsmacht status-höherer Gruppen unberücksichtigt; soziale Ungleichheit wird individualisiert, derweil strukturelle Ursachen ausgeblendet werden (vgl. Solga, 29-31). In einer kritischen Auseinandersetzung mit dem Begriff betont Solga, dass es sich bei Meritokratie um eine „normative Selbstdefinition“ (ebd., 23) von modernen Gesellschaften handelt, die in Kontrast zu einer nach wie vor stark herkunftsabhängigen Bildungsungleichheit steht. Trotz dieser Diskrepanz wirkt Meritokratie wie eine Leitfigur, die das institutionelle Handeln der Bildungsakteure maßgeblich beeinflusst. Der Glaube an einen freien Wettbewerb im Bildungswesen legitimiert die Ver- und Zuteilung von Ressourcen und Lebenschancen über den Bildungserfolg und leistet damit einen wichtigen Beitrag zur Stabilität und Reproduktion sozialer Ungleichheit (vgl. Solga 2008, 19-21; Hadjar 2008, 45f.). Zusammenfassend soll in der folgenden Analyse anhand der Konzepte von Habitus und Meritokratie untersucht werden, ob und inwieweit das vorherrschende Konzept von Begabung sowie die Verfahren der Auswahl und Nominierung zu einer institutionellen Diskriminierung von sozial benachteiligten Gruppen in Begabtenförderungswerken beitragen.

III. D ATENMATERIAL

UND

M ETHODE

Grundlage für die Untersuchung der Studienstiftung des deutschen Volkes und der Hans-Böckler-Stiftung bildet eine Dokumentenanalyse. Die Auswertung des Datenmaterials orientiert sich an der qualitativen Inhaltsanalyse nach Udo Kuckartz (2014), der in Anlehnung an Phillip Mayring eine anwendungsbezogene Variante qualitativer Inhaltsanalysen bietet (vgl. Ku-

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ckartz 2014, 5). Die Methode zeichnet sich durch ein mehrstufiges, offen gehaltenes Verfahren der Kategoriebildung und des Codierens aus (vgl. ebd., 77). Diese Form der deduktiv-induktiven Kategoriebildung wird u.a. von Jochen Gläser und Grit Laudel (2009) bei der Auswertung von Experteninterviews empfohlen. Durch das Verfahren verändert sich die Struktur der Informationsbasis und wird „durch die im Material enthaltenen Informationen mit geformt“ (Gläser/Laudel 2009, 201). Eine solche inhaltsanalytische Vorgehensweise erscheint aus diesem Grund gut für die dokumentarische Untersuchung der beiden Stiftungen geeignet. Auf Grundlage der theoretischen Vorüberlegungen wurden folgende sechs Kategorien für die Analyse der Begabtenförderungswerke gebildet: ‚Konzeption von Begabung – wer ist förderungswürdig‘ (Auswahlkriterien der Stiftungen und gewünschte Eigenschaften. Worauf wird Begabung begründet? Ist sie ‚natürlich‘ fundiert, oder im Sinne des Habitus [sozial] differenziert?), ‚Zielgruppenorientierung‘ (Gibt es eine gruppenspezifische Orientierung, oder sind die Stiftungen individualistisch orientiert), ‚Auswahl- und Nominierungsverfahren‘ (Wege und Mittel, über die BewerberInnen in die Stiftung finden bzw. Grenzen und Hürden, die gesetzt werden), ‚Identifikationsinstrumente‘ (Instrumente, durch die Begabung sichtbar und messbar gemacht werden soll) sowie ‚Legitimationsstrategie‘ (Begründung für die Auswahl). Wird soziale Chancengleichheit thematisiert? Gibt es Parallelen zu meritokratischen Legitimationsmustern oder werden habituelle Selektionsmechanismen reflektiert?) und ‚Selbstverständnis‘ (Ziele und Aufgaben der Stiftungen. Wie verorten sie sich im gesellschaftlichen Kontext?). Gegenstand des Datenmaterials sind zahlreiche Internetdokumente, Publikationen und Flyer: Beide Stiftungen präsentieren sich durch einen umfassenden Internetauftritt. Hinsichtlich der Studienstiftung stellt insbesondere der Aufsatz von Annette Julius, Generalsekretärin und Vorstandsmitglied der Studienstiftung, einen wichtigen Analysegegenstand dar. Daneben wurden der Jahresbericht 2013 der Studienstiftung, eine Evaluierung des Auswahlverfahrens2 sowie zahlreiche Informationsflyer ausgewertet. Die Studienstiftung hat sich mit dem Thema Chancengleichheit und Begabtenförderung in den letzten Jahren intensiv beschäftigt, was der Analyse viele Ansatzpunkte bot. Im Fall der HBS sind ebenfalls neben dem Internetauftritt zahlreiche Internetdokumente und Veröffentlichungen in die Analyse eingeflossen, wie z.B. das

2

Die Evaluierung wurde von der Studienstiftung selbst in Auftrag gegeben und ist insofern von Interesse, als dass sie Informationen zu Auswahlkriterien beinhaltet und dazu, wie die Stiftung diese reflektiert. Ansonsten verfolgt die Evaluierung jedoch einen anderen Ansatz zur Begutachtung des Auswahlverfahrens.

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Selbstverständnis der Abteilung Studienförderung, der Jahresbericht 2013 sowie eine Vielzahl von Flyern und Broschüren. Besonders hilfreich bei der Analyse war, dass ich selbst Stipendiatin der Stiftung bin und damit Zugriff auf den ‚Leitfaden zum Schreiben stipendiatischer Gutachten im Rahmen der Auswahlverfahren der Hans-Böckler-Stiftung‘ habe. In der HBS werden StipendiatInnen in den Auswahlprozess eingebunden, indem sie unter anderem Gutachten für die BewerberInnen erstellen. In diesem Gutachten wird eine Empfehlung für oder gegen eine Aufnahme ausgesprochen. Der Gutachtenleitfaden stellt dabei eine (interne) Anleitung für StipendiatInnen dar, nach welchen Kriterien und Maßstäben sie ihre Empfehlungen treffen sollen und bietet einen wichtigen Einblick darin, wie Begabung in der HBS konstruiert wird. Bezüglich beider Stiftungen wurde darüber hinaus angefragt, ob es im Rahmen der Lehrforschung die Möglichkeit gäbe, Interviews mit Personen der Auswahlkommission zu führen. Beide Stiftungen lehnten ab, so dass informelle Aspekte der Auswahl, wie interne Routinen, Normen und Auswahlpraktiken nicht in die Analyse einbezogen werden konnten. Vor diesem Hintergrund bot das Datenmaterial hinsichtlich der Kategorie ‚Identifikationsinstrumente‘ wenige Anknüpfungspunkte. Sie wurde aus diesem Grund weitgehend aufgegeben und wird lediglich knapp im Kapitel ‚Auswahlund Nominierungsverfahren‘ thematisiert. In diesem Aufsatz wird außerdem auf die Darstellung der Kategorie ‚Selbstverständnis‘ und ‚Zielgruppenorientierung‘ als eigenständige Kapitel verzichtet, da sie für die Analyse nicht notwendig erschienen (vgl. Bäumer 2015). Ansonsten erwiesen sich die Kategorien im Rahmen der Untersuchung als ergiebig.

IV. W AS F ÖRDERER FORDERN – E INE ANALYSE DER AUSWAHLPOLITIK IN DER S TUDIENSTIFTUNG DES DEUTSCHEN V OLKES UND DER H ANS -B ÖCKLER -S TIFTUNG Die Studienstiftung des deutschen Volkes Die Studienstiftung des deutschen Volkes wurde 1925 gegründet und fördert heute rund 12.000 StudentInnen sowie 1200 DoktorandInnen. Sie ist damit nicht nur das älteste Begabtenförderungswerk Deutschlands, sondern auch das weitaus größte (vgl. Studienstiftung o.J.a). Unter den dreizehn Begabtenförderungswerken, die sich unter dem Dach des BMBF versammeln, ist die Studienstiftung das einzige ohne eine direkte organi-

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satorische Anbindung. Das bedeutet, dass sie weder parteipolitisch noch konfessionell gebunden ist oder in Verbindung mit den Tarifparteien steht. Die Auswahl und Förderung erfolgt entsprechend „unabhängig von politischen, weltanschaulichen und religiösen Vorgaben“ (ebd.). In der Studienstiftung wird der ehrenamtlich tätige Vorstand vom Kuratorium gewählt, in dem VertreterInnen des Bundesministeriums, der Länderregierungen sowie anerkannte Persönlichkeiten aus Wissenschaft, Kunst, Politik, Schule und Wirtschaft vertreten sind (vgl. Studienstiftung o.J.b). Der Haushalt der Stiftung von etwa 78 Millionen Euro im Jahr 2013 (vgl. Studienstiftung o.J.c) setzt sich zu weit über 90% aus öffentlichen Geldern zusammen (vgl. Zimmermann 2013, 5f.). Infolgedessen wird deutlich, dass die Studienstiftung zwar nicht direkt an eine politische oder religiöse Organisation gebunden sein mag, aber sehr wohl stiftungsübergreifend von Institutionen und Diskursen beeinflusst wird. In den Jahren 2007/2008 hat die Studienstiftung das soziale Profil ihrer StipendiatInnenschaft untersucht und festgestellt, dass 79% mindestens ein Elternteil mit einem akademischen Abschluss haben (vgl. Julius o.J., 117f.). Dieser Anteil übertrifft deutlich den Durchschnittswert aller Begabtenförderungswerke, der vom HIS ermittelt wurde (vgl. Middendorff/Isserstedt/Kandulla 2009, 2129). Die Studienstiftung weist damit sowohl in Relation zur Allgemeinheit der StudentInnen als auch hinsichtlich aller Begabtenförderungswerke einen überdurchschnittlich hohen Grad an sozialer Ungleichheit auf. Auswahl- und Nominierungsverfahren Das Auswahlverfahren der Studienstiftung baut auf einem umfangreichen Vorschlags- bzw. Nominierungssystem auf, welches den Zugang zum Auswahlverfahren der Studienstiftung reguliert. Das Nominierungsverfahren findet auf mehreren Ebenen statt: AbiturientInnen können von der Schulleitung, SchülerInnen im Rahmen von kooperierenden Wettbewerben und schließlich StudentInnen von HochschullehrerInnen oder vom Prüfungsamt vorgeschlagen werden. Daneben gibt es seit 2010 die Möglichkeit, sich selbst zu bewerben (vgl. Studienstiftung o.J.d). Voraussetzung, über diesen Weg am Auswahlverfahren der Studienstiftung teilzunehmen, ist das erfolgreiche Bestehen eines Auswahltests. Die vorgeschlagenen BewerberInnen werden in der Regel ohne weitere Vorauswahl zu einem Auswahlseminar eingeladen (vgl. Studienstiftung o.J.e). Bei diesen Auswahlseminaren führen die Vorgeschlagenen sowie die Testbesten der SelbstbewerberInnen zwei Einzelgespräche mit Mitgliedern der Auswahlkommission, halten einen Kurzvortrag und nehmen an Gruppendiskussionen teil. Auf

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dieser Grundlage wird dann über eine Aufnahme in die Studienstiftung entschieden (vgl. Studienstiftung o.J.f). Alljährlich schreibt die Stiftung die Schulleitungen der zur allgemeinen Hochschulreife führenden Schulen an, wie auch die Universitäten, Fachhochschulen und jeweiligen Prüfungsämter, um sie zur Nominierung ihrer „begabtesten Schülerinnen und Schüler“ (ebd.) bzw. der Jahrgangsbesten der jeweiligen Studiengänge zu bitten (vgl. Studienstiftung o.J.g). Voraussetzung ist dabei stets, dass sich die StudentInnen innerhalb der Regelstudienzeit befinden (vgl. Studienstiftung o.J.h). Die Studienstiftung kooperiert des Weiteren mit einer Reihe von WettbewerbsveranstalterInnen. Die GewinnerInnen der Wettbewerbe gelten als vorgeschlagen und können an den Auswahlseminaren teilnehmen (vgl. Studienstiftung o.J. i). Der weitaus größte Teil der StipendiatInnen findet über den Schulvorschlag ihren Weg in die Stiftung. Von den knapp über 9000 Personen, die am Auswahlverfahren der Studienstiftung im Jahr 2013 teilgenommen haben, wurden über 5000 von einer Schule vorgeschlagen. Danach sind es die Prüfungsämter und HochschullehrerInnen der Universitäten, die die meisten KandidatInnen für das Auswahlverfahren vorschlagen und schließlich die Fachhochschulen (vgl. Studienstiftung 2014, 211). Die Erweiterung des Nominierungssystems durch die Möglichkeit, sich selbst zu bewerben, erfolgte als eine Reaktion auf die starke Unterrepräsentation von SchülerInnen und StudentInnen aus nicht-akademischen Elternhäusern. Im Jahr 2013 machten 762 Personen von dieser Möglichkeit Gebrauch und nahmen an dem Auswahltest teil. Von den TeilnehmerInnen schafften es 291, als „Testbeste“ zu einem Auswahlseminar eingeladen und schließlich 60 in die Stiftung aufgenommen zu werden (vgl. ebd.). Insgesamt liegt es nahe, die starke Unterrepräsentation sozial benachteiligter Gruppen (auch) auf das Nominierungssysten zurückzuführen. Aufgrund zahlreicher Selektionsmechanismen innerhalb des Schulsystems kommen Angehörige benachteiligter Gruppen nur selten für einen Schulvorschlag in Frage. Darüber hinaus gibt es Faktoren, wie die Einhaltung der Regelstudienzeit, die für StudentInnen aus sozial benachteiligten Gruppen erschwerend hinzu-ommen könnten. Auch bei den Auswahlseminaren ist zu fragen, ob BewerberInnen aus sozial benachteiligten Gruppen nicht potentiell Nachteile in ihrer Präsentations- und Durchsetzungsfähigkeit haben sowie habituelle Faktoren in den Einzelgesprächen eine Rolle spielen könnten. Eine abschließende Beurteilung dieses Bereichs bedarf jedoch einer genaueren Untersuchung des Auswahlprozesses und dessen Instrumenten.

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Konzeption von Begabung – wer ist förderungswürdig? Wie die Studienstiftung Begabung konzipiert, zeigt sich wesentlich an den Auswahlkriterien und Erwartungen, die die Stiftung kommuniziert. Auf der Suche danach trifft man auf der Internetseite als Erstes auf die Präsentation des Leitbildes, die wie folgt beginnt: „Leistung, Initiative, Verantwortung: Unter diesem Motto fördert die Studienstiftung des deutschen Volkes junge Menschen mit hoher wissenschaftlicher oder künstlerischer Begabung, die geleitet durch Neugier und Freude an der Erkenntnis, erfolgreich studieren und forschen, die aus eigenem Antrieb Ideen entwickeln und umsetzen, die sich tatkräftig über die eigenen Belange hinaus engagieren – und von denen deshalb (wie es unsere Satzung formuliert) nach ihrer Begabung und Persönlichkeit besondere Leistungen im Dienst der Allgemeinheit zu erwarten sind“ (Studienstiftung o.J.j).

Sehr deutlich wird bei dieser Beschreibung, dass Begabung in der Studienstiftung eng mit persönlichkeitsbezogenen Eigenschaften verknüpft ist. Dieser Eindruck erhärtet sich bei der Betrachtung stipendiatischer Porträts, die auf der Webseite vorgestellt werden (vgl. Studienstiftung. o.J.k). Durchgehend werden Eigenschaften wie Begeisterungsfähigkeit, Kontaktfreude, Einsatz, Initiative, Engagement und auch eine gewisse internationale Ausrichtung hervorgehoben. Darüber hinaus wird die Kommunikations- und Artikulationsfähigkeit in allen Auswahlverfahren als Kriterium erhoben (vgl. Studienstiftung o.J.e). Wie Julius in ihrem Aufsatz betont, werden in der Auswahl und Förderarbeit persönlichkeits- und kompetenzbezogene Kriterien gleichermaßen miteinbezogen (vgl. Julius o.J., 113). Diese Kombination von Kriterien hebt Julius mit Bezug auf das Selbst- und Leitbild der Studienstiftung besonders hervor. Die persönlichkeitsbezogenen Anforderungen an die StipendiatInnen resultieren demzufolge aus dem Anspruch der Studienstiftung, „Individualförderung mit Werteund Gemeinwohlorientierung zu verbinden“ (ebd., 119). Durch diese persönlichkeitsbezogenen Ansprüche an ihre StipendiatInnen verknüpft die Stiftung Begabung implizit mit habituellen Eigenschaften. Daneben beinhaltet Begabung kompetenzbezogene Anforderungen, die auf der Internetseite lediglich abstrakt als besondere oder hohe Form der Begabung und Fähigkeit beschrieben werden (vgl. Studienstiftung o.J.j). Eine der wenigen Stellen, an der konkret auf diesen Aspekt eingegangen wird, findet sich wiederum bei der Generalsekretärin Julius. Hier heißt es:

104 | L ARISSA B ÄUMER „‚Ressource Begabung‘: Diese begriffliche Verknüpfung verweist auf bestimmte Konnotationen von ‚Begabung‘ – etwa, dass Begabung etwas natürlich Gegebenes ist, dass sie zu Tage gefördert werden und ‚entwickelt’ werden muss, bevor sie ihr Potenzial entfalten kann [...]“ (Julius o.J., 112).

Begabung bzw. Kompetenz wird hier als natürlich fundierte, individuelle Eigenschaft aufgefasst. Darüber hinaus wird deren Entwicklungsabhängigkeit betont, jedoch ohne diesen Aspekt sozial oder gruppenspezifisch zu differenzieren. Stattdessen wird das Individuum als Bezugs- und Ausgangspunkt herausgestellt: Begabung ist demnach „untrennbar mit dem begabten Individuum verbunden, dessen Unverfügbarkeit und Autonomie Ausgangspunkt eines jeglichen Ansatzes von Begabtenförderung sein muss“ (ebd.). Des Weiteren wird Begabung eng mit Leistung verknüpft; in Form von Noten, schulischen Titeln oder Auszeichnungen. Ein deutlicher Hinweis darauf ist das Nominierungsverfahren selbst, welches diese Leistungsformen als Voraussetzung für die Bewerbung bei der Studienstiftung macht sowie die Auswahlkriterien, die an die Vorschlagenden vermittelt werden.3 Dabei ist neben den persönlichkeitsbezogenen Auswahlkriterien stets von exzellenten schulischen bzw. Studienleistungen oder schlicht vom Notendurchschnitt die Rede (vgl. Kuhlmann u.a. o.J., 5). So wird beispielsweise beim Hochschulvorschlag an die ProfessorInnen kommuniziert, dass die „Studierenden in der gesamten Breite ihres Studienfachs zur Spitze ihres Jahrgangs zählen [sollten]“ (Studienstiftung o.J.l). In einer Broschüre für vorschlagsberechtigte Lehrende wird zwar betont, dass schulische Leistungen zugunsten von hervorstechenden persönlichen Merkmalen eingeschränkt werden können und sollen, aber die Notenvorstellung scheint dabei trotz allem überdurchschnittlich zu bleiben: „Schlagen Sie uns daher bitte Abiturientinnen und Abiturienten mit sehr guten Leistungen vor, aber nicht unhinterfragt diejenigen mit den höchsten Durchschnittsnoten“ (Studienstiftung o.J.m). Es kann davon ausgegangen werden, dass Leistungsfundierung und der Bezug zu habituellen Merkmalen im Begabungskonzept der Studienstiftung zu einer systematischen Benachteiligung sozial schwacher Gruppen führt, da beide Faktoren – zumindest formal – sozialstrukturell nicht differenziert werden.

3

Die Kriterien, die an die vorschlagenden SchulleiterInnen, Prüfungsämter usw. vermittelt werden, sind der Evaluierung des Auswahlverfahrens entnommen, welche die Studienstiftung in Auftrag gegeben hat sowie der Broschüre zum Schulvorschlag (vgl. Studienstiftung o.J.m; Kuhlmann u.a. o.J., 5).

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Legitimationsstrategie Der Zusammenhang zwischen sozialer Herkunft und der Chance in einem Begabtenförderungswerk aufgenommen zu werden, hat in den letzten Jahren nicht nur Aufmerksamkeit in der Öffentlichkeit gefunden, sondern wird auch innerhalb der Studienstiftung diskutiert (vgl. Zimmermann 2013; Julius o.J., 116). Eine ausführliche Auseinandersetzung mit dem Thema und in vielerlei Hinsicht auch eine Rechtfertigung gegenüber KritikerInnen findet sich bei Julius. Deutlich wird dabei, dass die Studienstiftung durch das ausgeprägte soziale Ungleichgewicht in der Förderung unter Legitimationsdruck steht. So heißt es z.B. bei Julius: „Wer Pluralität und die individuelle Persönlichkeit in den Mittelpunkt des Förderhandels stellt, dessen Glaubwürdigkeit hängt nicht zuletzt davon ab, dass die eigenen Auswahlverfahren fair und offen für Talente und Begabungen aus allen Teilen der Bevölkerung sind“ (Julius o.J., 117).

Ein zentraler Kritikpunkt zielt auf die Auswahlkriterien und insbesondere auf die Einbeziehung persönlichkeitsbezogener Eigenschaften, die zu einer sozialen Sortierung führen würden (vgl. ebd., 118f.). Der Vorwurf wird zurückgewiesen, aber interessanterweise nicht in erster Linie indem man ihm widerspricht oder ihn zu widerlegen sucht, sondern mit Verweis auf das Leitbild der Stiftung. Träfe dieser Vorwurf zu, so heißt es, „wäre wohl auch der die Studienstiftung seit ihrer Gründung prägende Anspruch in Frage gestellt, Individualförderung mit Gemeinwohlorientierung zu verbinden“ (ebd., 119). Und weiter heißt es: „Für die Studienstiftung war es mithin keine Alternative, ihre Ansprüche an Persönlichkeit und Engagement der von ihr geförderten Stipendiaten aufzugeben“ (ebd.). Dieser Sachverhalt macht deutlich, dass die persönlichkeitsbezogenen Ansprüche an die StipendiatInnen nicht bezüglich einer möglichen habitus-basierten Sortierung reflektiert zu werden scheinen, sondern diese vielmehr als universelle Gütekriterien begabter Persönlichkeiten angesehen werden. Dadurch legitimiert die Studienstiftung nicht nur ihr Auswahlverfahren, sondern auch mögliche Ungleichheitseffekte, die sich aus diesem Verfahren ergeben. Eine Abweichung von diesen Kriterien, so wird implizit gesagt, würde eine Abkehr von der Allgemeinwohlorientierung bedeuten. In der Auseinandersetzung mit sozialer Ungleichheit wurden nichtsdestotrotz auch praktische Konsequenzen gezogen, wie die Möglichkeit zur Selbstbewerbung, oder der Versuch, Auswählende durch Schulungen zu sensibilisieren (vgl.

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ebd., 19f.). Auch die Evaluierung des Auswahlverfahrens im Jahr 2012, die von der Studienstiftung extern in Auftrag gegeben wurde, kann als eine Konsequenz dieser Auseinandersetzung verstanden werden. Die Ergebnisse der Evaluierung werden wiederum auf interessante Weise für die Verteidigung des Auswahlverfahrens herangezogen. Die Evaluierung zeigt, wie auch zahlreiche andere Studien, dass soziodemographische Merkmale hohen Einfluss auf die schulischen Leistungen haben, es also weniger Kinder aus sozial benachteiligten Gruppen unter die Abiturbesten schaffen (vgl. Kuhlmann u.a. o.J., 8; Julius o.J., 120f.). Dieser Aspekt wird als Begründung herangezogen, warum diese Gruppe entsprechend gering in der Studienstiftung vertreten ist: „Sehr wohl bieten die Daten [aus der Evaluierung] aber eine Referenzgröße zur besseren Einschätzung der Fairness der Abiturvorschläge: Sie bestätigen einerseits, dass signifikante Korrelationen zwischen den untersuchten soziodemographischen Merkmalen und Leistungsunterschieden zum Zeitpunkt des Abiturs bestehen, andererseits zeigen sie aber auch auf, dass die Studienstiftung 2008 mit einem Anteil von nur 21 Prozent das Potenzial besonders leistungsfähiger, begabter Studierender aus nicht-akademischen Elternhäusern in der Tat unzureichend ausgeschöpft hatte“ (Julius o.J., 121, Hervorhebung durch die Verfasserin).

Diese Argumentationsstrategie ist deswegen bemerkenswert, weil die Korrelation zwischen sozialer Herkunft und Schulerfolg hier als Indiz für die Fairness des Auswahlverfahrens herangezogen wird, obwohl dieser Zusammenhang auch oder gerade ein Argument gegen die Form des Auswahlverfahrens sein kann. Stattdessen wird aber die Verknüpfung von Begabung und Schulleistungen nicht in Frage gestellt. Sie zeigt außerdem, dass die Studienstiftung vorgelagerte Selektionsprozesse außerhalb des eigenen Aufgaben- und Handlungsbereichs ansieht. Ansonsten müsste die enge Korrelation zwischen Herkunft und Schulerfolg Anregung sein, ebenfalls Talente im Auswahlverfahren ausfindig zu machen, die sich im Schulsystem aufgrund ihrer sozialen Herkunft schwerer durchsetzen. Es zeigt sich, dass die Studienstiftung die Legitimierung ihres Auswahlverfahrens bzw. ihrer Auswahlkriterien durchaus entlang meritokratischer Denkfiguren begründet. D.h., sie legitimiert ihre Kriterien mit dem Hinweis darauf, dass es sich dabei um universelle Gütekriterien begabter Individuen handele, an denen sich jeder gleichermaßen messen lassen muss – unabhängig von sozialen Ausgangsbedingungen. Auf die fehlerhafte Vorstellung eines vermeintlich freien und herkunftsunabhängigen Bildungswettbewerbs, wie sie Bestandteil des meri-

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tokratischen Leitbildes ist, wird zwar in der Evaluierung des Auswahlverfahrens verwiesen, jedoch ohne die Verfahren und Kriterien grundsätzlich in Frage zu stellen. Zugespitzt formuliert: Die Studienstiftung ignoriert den Zusammenhang zwischen sozialer Herkunft und Schulerfolg, den sie in ihrer eigenen Studie feststellt und erhebt stattdessen die soziale Zusammensetzung der Abiturbesten zur Referenzgröße für Fairness. Die Stiftung blendet damit soziale Ungleichheit in einem großen Teil ihres Auswahlverfahrens aus. Die Hans-Böckler-Stiftung (HBS) Die HBS ist das „Mitbestimmungs-, Forschungs-, und Studienförderwerk des Deutschen Gewerkschaftsbundes (DGB)“ (Hans-Böckler-Stiftung 2014a, 4) und mit über 2600 StipendiatInnen das zweitgrößte staatlich geförderte Begabtenförderwerk Deutschlands (vgl. Hans-Böckler-Stfitung o.J.a, 48). Gemeinsam mit der Stiftung der deutschen Wirtschaft (sdw) vertritt die HBS die deutschen Tarifparteien und ist damit – anders als die Studienstiftung – organisatorisch klar verortet. Das operative Geschäft der HBS ist in sechs Abteilungen gegliedert, von denen die Abteilung Studienförderung eine darstellt (vgl. Hans-Böckler-Stiftung 2014a, 10). Laut Satzung werden die Leitungsgremien der Stiftung auf Berufung des DGBs zusammengesetzt (vgl. Hans-Böckler-Stiftung 2004, 10f.). Finanziert wird die Stiftung zu einem großen Teil aus Tantiemen von ArbeitnehmervertreterInnen in Aufsichtsräten. Zusammen mit Spenden aus dem Förderkreis der HBS kamen 2012/2013 dabei 41,3 Millionen Euro zusammen. Darüber hinaus stellt das Bundesministerium Gelder in Höhe von etwa 22 Millionen Euro zur Verfügung, die zweckgebunden für die Studienförderung vergeben werden. Trotz dieser Finanzierung flossen 2012/2013 18% der Eigenmittel in die Studienförderung (vgl. Hans-Böckler-Stiftung o.J.a, 10f.). Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass die Stiftung offiziell nicht an die Beschlüsse der DGB Gewerkschaften gebunden, personell und finanziell jedoch von ihnen abhängig ist. Im Wintersemester 2010/2011 führte die HBS eine Vollerhebung unter ihren StipendiatInnen der Grundförderung durch. Ergebnis war, dass fast zwei Drittel der Geförderten aus den Herkunftsgruppen ‚niedrig‘ und ‚mittel‘ kommen (vgl. Dusdal/Houben/Weber 2012, 135).4 Damit weist die HBS einen deutlich höheren Anteil sozial benachteiligter Gruppen in ihrer StipendiatInnenschaft auf als der

4

Die Einteilung wurde aus Vergleichsgründen parallel zu den Herkunftsgruppen in dem HIS-Report gebildet (vgl. Dusdal/Houben/Weber 2012, 135).

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Durchschnitt der Begabtenförderungswerke, sowie in Relation zur Allgemeinheit der StudentInnen. Auswahl- und Nominierungsverfahren Auch in der HBS geht dem eigentlichen Bewerbungsprozess ein Nominierungsverfahren voraus. Dabei können drei Verfahren unterschieden werden: das Gewerkschaftsverfahren, dass ergänzende Verfahren und das BAB-Verfahren (Böckler-Aktion-Bildung). Das älteste und bezüglich BewerberInnen- und Aufnahmezahlen bedeutendste Verfahren ist das Gewerkschaftsverfahren, bei dem in erster Linie die Haupt- und Bundesvorstände der Mitgliedsgewerkschaften Personen vorschlagen (vgl. Hans-Böckler-Stiftung 2014b, 6f.). Von den rund 1240 Bewerbungen (abzüglich Promotionsbewerbungen), die im Jahr 2013 eingegangen sind, entfielen 569 auf das Gewerkschaftsverfahren (vgl. Hans-Böckler-Stiftung o.J.a, 38). StudentInnen, die in keiner DGB-Gewerkschaft Mitglied sind, können sich über das ergänzende Verfahren bewerben. Dafür müssen sie von einer der örtlichen StipendiatInnengruppen oder von einem/einer VertrauensdozentIn (VD) vorgeschlagen werden. In welcher Form sich BewerberInnen für einen Vorschlag bei den StipediatInnengruppen und VertrauensdozentInnen vorstellen und 'auszeichnen' müssen, wird unterschiedlich gehandhabt (vgl. Hans-BöcklerStiftung 2014a, 7). In dem dritten Verfahren unter dem Titel Böckler-Aktion-Bildung können sich AbiturientInnen direkt bei der Stiftung bewerben. Die Bedingungen sind, dass sie Anspruch auf den BAföG-Höchstsatz haben und am Anfang ihrer Studienlaufbahn stehen (vgl. Hans-Böckler-Stiftung 2014b, 8). Es wurde 2007 eingeführt, um jenen Menschen einen Weg in die Stiftung zu ebnen, die „aus sozial schwachen Familien [kommen], häufig mit Migrationshintergrund“ (HansBöckler-Stiftung 2010, 2). Insgesamt wurden seit der Einführung etwa 700 BewerberInnen über dieses Verfahren aufgenommen (vgl. Dusdal/Houben/Weber 2012, 132). Die BewerberInnen aller Verfahren benötigen für eine vollständige Bewerbung ein Gutachten von einem/einer VD und von stipendiatischer Seite, die dem jeweiligen Ausschuss zur Entscheidung vorgelegt werden.5 In allen Auswahlaus-

5

Ob Gutachten im Allgemeinen und stipendiatische Gutachten im Besonderen ein geeignetes Instrument zur Identifizierung von Begabung darstellen, kann hier auf Grundlage mangelnder Daten leider nicht untersucht werden.

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schüssen sitzen mehrheitlich GewerkschaftsvertreterInnen, die für gewöhnlich allein auf Grundlage der Bewerbungsunterlagen über eine Aufnahme entscheiden (vgl. Hans-Böckler-Stiftung 2014b, 6-8).6 Nur im BAB-Verfahren werden die BewerberInnen zu einem persönlichen Gespräch mit den Ausschussmitgliedern eingeladen (vgl. Hans-Böckler-Stiftung o.J.b). Im Ganzen betrachtet wird deutlich, dass GewerkschaftsvertreterInnen den maßgebenden Ton im Auswahlprozess angeben, was sich auch in den Aufnahmezahlen von 2013 widerzuspiegeln scheint. Im dem Jahr war die Stiftung um eine Reduzierung der Neuaufnahmen bemüht, um ihre finanziellen Verpflichtungen einhalten zu können. Insgesamt gab es 1800 Bewerbungen: 569 aus dem Gewerkschaftsverfahren sowie 657 aus dem ergänzenden und dem BAB-Verfahren (die restlichen Bewerbungen stammten aus Promotionsverfahren). Aufgenommen wurden rund 200 BewerberInnen aus dem Gewerkschaftsverfahren und lediglich 50 aus dem BAB- und ergänzenden Verfahren (vgl. Hans-BöcklerStiftung o.J.a, 38).7 Diese Zahlen legen nahe, dass BewerberInnen aus dem gewerkschaftlichen Verfahren Vorrang bei der Aufnahme in die Stiftung haben. Die strukturelle Abhängigkeit der Stiftung von den Mitgliedsgewerkschaften legt diese Vermutung auch dann nahe, wenn dies mit anderen Zielen und Aufgaben der HBS – z.B. der Förderung von sozial benachteiligten AbiturientInnen mit Migrationshintergrund – kollidieren sollte. Dieser Umstand kann als eine Form der institutionellen Diskriminierung bezeichnet werden, die in dem Fall auf dem Besitz bzw. nicht Besitz von sozialem Kapital basiert.8 Es muss jedoch betont werden, dass dieser Zusammenhang an dieser Stelle nicht hinreichend überprüft werden kann.

6

Bei Unstimmigkeiten können BewerberInnen auch zu einem persönlichen Gespräch eingeladen werden.

7

Da in dem Jahr ein Engpass herrschte, wurden außerdem 94 Bewerbungen für die nächste Bewerbungsrunde zurückgestellt. Es ist jedoch nicht klar, aus welchen Verfahren die Bewerbungen kommen (vgl. Hans-Böckler-Stiftung o.J.a, 38).

8

Bourdieu definiert soziales Kapital als die „Gesamtheit der aktuellen Ressourcen die mit dem Besitz eines dauerhaften Netzes von mehr oder weniger institutionalisierten Beziehungen gegenseitigen Kennens oder Anerkennens verbunden sind; oder anders ausgedrückt, handelt es sich dabei um Ressourcen, die auf der Zugehörigkeit zu einer Gruppe beruhen“ (Bourdieu 1983, 190f., Hervorhebung im Original). Bourdieu konzipiert den Begriff des sozialen Kapitals, wie auch den des kulturellen, als analytisches Konstrukt zur Erklärung der Reproduktion sozialer Ungleichheit (vgl. El Mafaalani 2012, 74f.).

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Inwieweit Angehörige sozial benachteiligter Gruppen systematisch schlechtere Chancen bei der Aufnahme in die HBS haben, ist insgesamt uneindeutig. Auf der einen Seite kann davon ausgegangen werden, dass viele abhängig Beschäftigte, die Mitglied einer Gewerkschaft sind, eine unterrepräsentierte Gruppe in der Begabtenförderung darstellen. Diese Personen haben durch die Verbindung zur Gewerkschaft eine höhere Chance, in die Stiftung aufgenommen zu werden. Auf der anderen Seite werden nicht alle sozial benachteiligten Gruppen gleichermaßen durch die Gewerkschaft vertreten. Die Sozialstruktur des Deutschen Gewerkschaftsbundes ist nach wie vor vom männlichen (deutschen) Facharbeiter geprägt (vgl. Frerichs/Pohl 2004, 10). Das heißt z.B., dass prekär beschäftigte Personengruppen ohne Ausbildung oder mit nur einer geringen Qualifizierung durch die gewerkschaftliche Fundierung der Verfahren Nachteile erfahren könnten. Das BAB-Verfahren scheint jedoch mögliche Nachteile für bestimmte BewerberInnengruppen aus sozial schwachen Schichten mit Blick auf die Aufnahmezahlen erfolgreich auszugleichen. Konzeption von Begabung – wer ist förderungswürdig? In der Selbstdarstellung der HBS findet sich eine gezielte Auseinandersetzung mit der Konzeption von Begabung, die die Stiftung z.B. in ihrem Grundsatzpaper vorstellt. Neben dieser allgemeinen Stellungnahme unterscheiden sich BewerberInnenprofil und Kriterien in den jeweiligen Verfahren. Die HBS selbst differenziert bei der Darstellung ihrer Kriterien stark zwischen dem gewerkschaftlichen und ergänzenden Verfahren einerseits und dem BAB-Verfahren andererseits (vgl. Hans-Böckler-Stiftung 2014b). Allgemein äußert sich die Stiftung wie folgt zum Begabungsbegriff: „In diesem Zusammenhang bezieht sich die Hans-Böckler-Stiftung in einer kritischen Weise auf den Terminus der 'Begabung', indem sie die dynamischen Lern- und Entwicklungsprozesse, die der Begriff beinhaltet, in den Mittelpunkt rückt. Dies bedeutet, dass Begabung als ein Faktor verstanden wird, der in hohem Maße durch die eigenen Erfahrungen und durch systematisches Lernen gefördert und entwickelt werden kann. Eine solche Auffassung von Begabung erscheint auch und gerade in Bezug auf jene jungen Menschen höchst angebracht, die in einfachen (d.h. unterprivilegierten) sozialen Verhältnissen aufgewachsen sind und die sich aus eigenem Antrieb heraus und durch hohen Arbeitseinsatz den Zugang zum Hochschulstudium erarbeitet haben. Wenn sich eine solche Leistung mit gesellschaftlichem Engagement verbindet, sieht die HBS darin den Ausweis einer besonderen Begabung [...]“ (Hans-Böckler-Stiftung 2010, 6).

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Demzufolge wird Begabung als ein sozial variabler Begriff verstanden, dessen Erfahrungs- und Entwicklungsabhängigkeit hervorgehoben wird. Im Einklang damit gesteht die Stiftung (Schul-)Noten nur eine relative Aussagekraft zu. Leistung würde sich in der „Balance von Studienleistung, Biographie und gewerkschaftlichem/gesellschaftlichem Engagement“ (ebd.) zeigen. Konkretisiert wird diese Auffassung von Begabung in Abhängigkeit vom jeweiligen Verfahren. Im BAB-Verfahren wird betont, dass es nicht nur auf Noten, sondern auf die Persönlichkeit ankommt: „Wir fördern junge Leute, die lernbereit sind und sich mit ihrer Leistungsbereitschaft auch in schwierigen Verhältnissen nicht unterkriegen lassen“ (Hans-Böckler-Stiftung o.J.c, 5). Der Fokus liegt hier auf der individuellen Bereitschaft zur Leistung vor dem Hintergrund struktureller Benachteiligung (vgl. Hans-Böckler-Stiftung 2014b, 13-17). Darüber hinaus spielt Engagement bzw. die Bereitschaft zum Engagement eine wichtige Rolle (vgl. Hans-Böckler-Stiftung 2012, 2). Im Leitfaden zum Schreiben stipendiatischer Gutachten wird deutlich, dass Engagement im BABVerfahren auf Grundlage von (politischen) Interessen und einer kritischen Selbstreflexion beurteilt werden soll (vgl. Hans-Böckler-Stiftung 2014b, 16f.). Entscheidend ist die Frage, ob der/die BewerberIn politisch aktiviert, oder „aktivierbar“ (ebd. 16) sei. Die starke Verknüpfung von Begabung mit persönlichkeitsbezogenen Merkmalen und Engagement birgt auch hier die Gefahr einer habitus-basierten Selektion. Zentral scheint hier jedoch, dass die Persönlichkeitsmerkmale in Verbindung mit – und zwar ausschließlich mit – einer sozial benachteiligten Zielgruppe verbunden werden. Im gewerkschaftlichen und ergänzenden Verfahren stehen laut dem Richtlinienkatalog die persönliche und fachliche Qualifikation für das Studium einerseits sowie das gesellschaftliche oder gewerkschaftliche Engagement andererseits im Vordergrund (vgl. Hans-Böckler-Stiftung 2011, 7f.). Die Beurteilung der persönlichen und fachlichen Eignung für das Studium orientiert sich konkret an der „Fähigkeit, wissenschaftlich-methodisch zu arbeiten, wie auch […] [daran], ob und inwieweit die Stipendiatinnen und Stipendiaten bereit und fähig sind, ihr Fachwissen für die soziale Gestaltung und Steuerung wirtschaftlicher und technologischer Entwicklungen einzusetzen“ (ebd. 8).

Demnach scheinen weniger überdurchschnittliche Leistungen in Form von Noten im Vordergrund zu stehen, als vielmehr das Vermögen der BewerberInnen,

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einen berufsqualifizierenden Abschluss zu erlangen (vgl. Hans-Böckler-Stiftung 2010, 6). Die persönliche Studienqualifikation besteht dabei in der Bereitschaft, die fachlichen Fähigkeiten im Sinne oder zumindest im Einklang mit der Gewerkschaft einzusetzen. Die Stiftung erwartet von ihren StipendiatInnen, so heißt es im Richtlinienkatalog, dass sie die „Notwendigkeit einer solidarischen Interessenvertretung durch die Gewerkschaften [er]kennen und diese Kenntnisse in das Studium einbringen“ (Hans-Böckler-Stiftung 2011, 9). Begabung wird also nur dann anerkannt, wenn sie in Einklang mit gewerkschaftlichen Grundwerten eingesetzt wird. Engagement wird hier im Gegensatz zum BAB-Verfahren anhand „konkret geleistete[r] Arbeit“ (ebd. 7) sowie der dabei zugrunde liegenden Motivation beurteilt (vgl. ebd.). Interessant ist dabei, dass die Bedeutung des gesellschaftspolitischen Engagements im ergänzenden Verfahren besonders betont wird. Die Förderung eines Nicht-Gewerkschaftsmitglieds scheint hier einer besonderen Legitimation zu bedürfen und rechtfertigt außerordentliche Anforderungen an das gesellschaftspolitische Engagement (vgl. Hans-Böckler-Stiftung 2014b, 15). Die Bedeutung von Engagement im gewerkschaftlichen und ergänzenden Verfahren kann sowohl Vorteile als auch Nachteile für sozial benachteiligte Gruppen mit sich bringen. Während Engagement in der Studienstiftung laut Selbstverständnis vor allem im Sinne einer Gemeinwohlorientierung aufgefasst wird (siehe Kapitel 4.1.3), wird der Schwerpunkt in der HBS auf eine interessenbasierte Beteiligung gelegt. Durch diese Verbindung gelten z.B. Betriebaktive des Zweiten Bildungswegs als besonders förderungswürdig. Engagement im Allgemeinen und der Einsatz für das Gemeinwohl im Besonderen setzen indes Zeit, Ressourcen und einen bestimmten habituellen Wertehorizont voraus. Aus diesem Grund ist anzunehmen, dass Engagement außerhalb gewerkschaftlicher und betrieblicher Interessenvertretungen und insbesondere im ergänzenden Verfahren eher eine Hürde für sozial benachteiligte Gruppen darstellt. Legitimationsstrategie Aufgrund des überdurchschnittlich hohen Anteils von StudentInnen aus sozial benachteiligten Gruppen sieht sich die Stiftung nicht in der Situation, die Zusammensetzung ihrer StipendiatInnen und ihre Auswahlpolitik bezüglich sozialer Chancenungleichheit legitimieren zu müssen. Ganz im Gegenteil: die Legitimierung der Auswahlpolitik in der HBS basiert im Wesentlichen auf eben dieser Ungleichheit. Der Bezug auf soziale Chancengleichheit beruht auf dem Selbstverständnis der HBS als gewerkschaftlicher Studienstiftung. Inwieweit sie diesem Verständ-

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nis gerecht wird, misst sie wesentlich an der sozialen Zusammensetzung der eigenen StipendiatInnenschaft: „Gewerkschaftliche Studien- und Promotionsförderung, die [die] Herstellung von Chancengleichheit als wesentliche Aufgabe beschreibt, muss dies auch in der Sozialstruktur ihrer Stipendiatinnen und Stipendiaten unter Beweis stellen. […] Ein deutliches Korrektiv konnte jedoch in-wischen mit dem Sonderprogramm „Böckler-Aktion-Bildung“ erreicht werden. Mit diesem Sonderprogramm konnte auch die Förderung von Kindern aus Migrantenfamilien ausgebaut werden“ (Hans-Böckler-Stiftung 2010, 8).

Das ergänzende und das gewerkschaftliche Verfahren scheinen demnach nicht (mehr) in der Lage gewesen zu sein, Chancengleichheit bei der Aufnahme in die Studienförderung zu gewährleisten. Auf diesen Umstand hat man mit der Einführung des BAB-Verfahrens reagiert. Dieses Verfahren unterscheidet sich deutlich vom traditionellen, noch immer bedeutendsten Gewerkschaftsverfahren und wird entsprechend als „Sonderprogramm“ betitelt. Im Anschluss daran und unter Berücksichtigung der Aufnahmezahlen 2013 ist zu fragen, ob die HBS das Ziel der sozialen Öffnung in Form des BAB-Verfahrens mit der gleichen Konsequenz verfolgen würde, sollte dies zu Lasten des Gewerkschaftsverfahrens gehen – also zu Lasten der gewerkschaftlichen Nachwuchsförderung. Diese Frage könnte einen potentiellen Zielkonflikt innerhalb der Stiftung beleuchten. Entscheidend für die Legitimationsgrundlage der Förder- und Auswahlpolitik in der HBS ist außerdem, dass sich die Stiftung selbst als (politisch) aktiven Akteur an der Seite der Gewerkschaften versteht. Aus diesem Grund betrachtet die Stiftung vorgelagerte Selektionsmechanismen in Schule und Gesellschaft nicht außerhalb ihres Wirkungsbereiches, sondern beruft sich auf diese: „Die Zugänge zu Bildung und gesellschaftlicher Teilhabe dürfen nicht von sozialer Herkunft anhängig sein. Dies ist in Deutschland jedoch zu häufig der Fall. Deshalb hat die Hans-Böckler-Stiftung es sich als erstes der deutschen Begabtenförderungswerke seit vielen Jahren zur Aufgabe gemacht, auch und gerade Talente aus bildungsbenachteiligten Bevölkerungsschichten zu unterstützen“ (Hans-Böckler-Stiftung o.J.d).

Im Anschluss daran verortet und begründet die HBS ihre Förder- und Auswahlpolitik im BAB-Verfahren sowie bezüglich des zweiten und dritten Bildungswegs (vgl. Hans-Böckler-Stiftung o.J.c, 4; Hans-Böckler-Stiftung 2008, 8; HansBöckler-Stiftung o.J.e).

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V. F AZIT In der vorliegenden Studie wurde die Auswahlpolitik der Begabtenförderung in Deutschland einer kritischen Betrachtung unterzogen. Ziel war es nachzuvollziehen, ob und inwiefern die Förderwerke selbst zur sozialen Selektion auf Hochschulebene beitragen, indem sie die Vorteile eines Stipendiums überproportional häufig sozial privilegierten StudentInnen zukommen lassen. Konkret wurde die Arbeit der Frage gewidmet, inwieweit die Auswahlpolitik der Begabtenförderwerke systematisch zu schlechteren Chancen für BewerberInnen aus sozial benachteiligten Gruppen führt, als StipendiatInnen aufgenommen zu werden. Theoretischer Ausgangspunkt war das Konzept der institutionellen Diskriminierung, das mit Rückgriff auf Bourdieus Habitus-Konzept sowie Solgas Begriff der Meritokratie auf die Begabtenförderungswerke angewendet wurde. Der Habitus-Begriff betont die soziale Bedingtheit individueller Bildungs- und Persönlichkeitsmerkmale und ermöglicht auf dieser Basis, Begabung als ein sozial differenziertes Konstrukt zu erkennen. Meritokratie stellt ein Gegenkonzept dar und wurde im Anschluss an Solga als eine gesellschaftlich wirksame Leitfigur vorgestellt, die Begabung als ‚natürliches‘ und individuelles Merkmal versteht. Es wurde argumentiert, dass der Bezug auf das Konzept der Meritokratie eine institutionelle Diskriminierung begünstigt, da soziale Einflussfaktoren ausgeblendet und Ungleichheit auf individuelles Versagen zurückgeführt wird, während eine Orientierung am Habitus-Begriff die Grundlage für eine sozial differenzierte Auswahlpolitik bereithält. Im Anschluss an Stamm und Frasier et al. wurden die Studienstiftung des deutschen Volkes und die HBS entlang von drei Kategorien untersucht: der Konzeption von Begabung, der Auswahl- und Nominierungsverfahren sowie entlang der jeweiligen Legitimiationsstrategie. Letzteres war wichtig, um nachvollziehen zu können, inwieweit die Stiftungen Begabungskonzept und Verfahren hinsichtlich meritokratischer bzw. habitueller Faktoren begründen. Die Ergebnisse fielen für beide Stiftungen sehr unterschiedlich aus. Bei der Analyse der Studienstiftung zeigte sich, dass sowohl Begabungskonzept als auch Auswahl- und Nominierungsverfahren stark am meritokratischem Leitbild orientiert sind und auf dieser Grundlage legitimiert werden. Wer förderungswürdig ist und damit als begabt gilt, entscheidet die Stiftung auf Grundlage vermeintlich universeller Gütekriterien und sieht Begabung als eine vornehmlich 'natürlich' gegebene Eigenschaft von Individuen an. Auswahl- und Nominierungsverfahren gründen zum großen Teil auf Leistungsanforderungen, die die habituelle Bedingtheit von Schulerfolg ignorieren. Die Stiftung reduziert damit das sozial ungleiche Resultat ihres Auswahlverfahrens auf individuelle Faktoren, statt struktu-

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relle Ursachen in den Blick zu nehmen. Auf dieser Grundlage haben BewerberInnen aus sozial benachteiligten Gruppen einen systematischen Nachteil, in die Förderung der Studienstiftung aufgenommen zu werden. Im Gegensatz dazu hat die Analyse der HBS ergeben, dass der Habitus als wirkungsmächtiger Faktor im Begabungskonzept und in den Auswahl- und Nominerungsverfahren ungleich stärker Berücksichtigung findet, indem die Stiftung die soziale Herkunft ihrer BewerberInnen in Rechnung stellt und die Zugangswege in die Stiftung nicht von universellen Leistungsmaßstäben in Schule und Universität abhängig macht. Anstatt Leistung und Begabung im Vergleich zum Durchschnitt zu bewerten, werden sie im biographischen und sozialstrukturellen Zusammenhang betrachtet. Nichtsdestotrotz ergeben sich auch im organisatorischen Kontext der HBS Einschränkungen für sozial benachteiligte Gruppen. Diese resultieren vor allem daraus, dass die HBS in ihrem Begabungskonzept entlang zwei verschiedener Zielstellungen Schwerpunkte setzt, die sich in zwei verschiedenen Auswahlverfahren niederschlagen. Die Ergebnisse legen jedoch nahe, dass potentielle Hürden für sozial benachteiligte Gruppen im Gesamtkontext der Studienförderung durch die Einführung des BAB-Verfahrens im Jahr 2007 ausgeglichen und sogar in ihr Gegenteil umgekehrt werden konnten. Insgesamt zeigt sich, dass die Konstruktion von Begabung nicht nur für die Kriterien der Aufnahme von entscheidender Bedeutung ist, sondern auch für die institutionelle Ausgestaltung der Zugangswege. Die höchst unterschiedliche soziale Zusammensetzung der HBS und der Studienstiftung gründet demnach im Wesentlichen auf der unterschiedlichen Konstruktion von Begabung. Davon ausgehend ist zweifelhaft, ob die aktuellen Bemühungen der Studienstiftung erfolgreich sein werden, durch eine Verfahrensöffnung für SelbstbewerberInnen die soziale Chancengleichheit zu verbessern, solange die Konzeption von Begabung nicht grundsätzlich überdacht wird. Die Datengrundlage der Analyse war insgesamt sehr umfangreich, lässt gleichwohl an einigen Stellen Fragen offen und müsste perspektivisch durch stiftungsinterne Dokumente und Interviews erweitert werden. Die Analyse bezieht sich vor allem auf formale Kriterien, Regeln und Abläufe und kann nicht nachvollziehen, wie diese in der alltäglichen Arbeits- und Auswahlkultur umgesetzt werden. Die Untersuchung bleibt insofern an manchen Stellen an der Oberfläche, konnte jedoch auf wichtige Zusammenhänge institutioneller Diskriminierung hindeuten. Über die analytischen Kategorien hinaus ist deutlich geworden, dass die Konzeption von Begabung maßgeblich davon beeinflusst wird, in welchen Kontext die Stiftungen eingebunden sind. Die Studienstiftung ist an keine Organisation gebunden, sondern wird von einem renommierten Personenkreis aus

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Politik, Wissenschaft und Öffentlichkeit geleitet. Ihre Ziele, Programme und Regeln entfalten sich auf dieser Grundlage ‚freier‘ in dem Sinne, dass keine Organisation – wie im Fall der HBS – ihre Werte und Interessen zum Maßstab in der Auswahlpolitik machen kann. Sie scheint dadurch jedoch in einem ungleich stärkeren Maße gesamtgesellschaftlichen Denk- und Diskursstrukturen wie die der meritokratischen Leitfigur zu unterliegen. Die HBS hingegen scheint nicht trotz, sondern wegen ihrer organisatorischen Anbindung und strukturellen Abhängigkeit von den DGB-Gewerkschaften eher in der Lage zu sein, meritokratische Bildungsvorstellungen zu hinterfragen und Begabung in Abgrenzung dazu zu definieren. In Anbetracht der höchst unterschiedlichen politischen und religiösen Anbindungen und Ausrichtungen der Begabtenförderungswerke in Deutschland, kann nicht schlechthin von einer institutionellen Diskriminierung sozial benachteiligter Gruppen ausgegangen werden. Kernelement der deutschen Begabtenförderung und demokratischer Selbstanspruch ihrer politischen Gestaltung ist, dass alle Förderwerke die Ziele und Schwerpunkte in ihrer Auswahlpolitik selbstständig bestimmen können; d.h. der Staat gewährt den jeweiligen Religionsgemeinschaften oder Parteien diesbezüglich Freiraum. Es muss jedoch deutlich gemacht werden, dass die StipendiatInnenschaft der Studienstiftung mit ihren 12 000 Personen fast die Hälfte all derjenigen umfasst, die während ihres Studiums ein Stipendium von einem Förderwerk in Deutschland erhalten. Sie ist das einzige Begabtenförderungswerk, das organisatorisch ungebunden ist und damit aus dem pluralistischen Kanon der Förderwerke herausfällt. Die Studienstiftung wird stattdessen maßgeblich von VertreterInnen aus Politik, Wissenschaft und Öffentlichkeit geleitet und ist ausgerechnet dasjenige Förderwerk, das im hohen Maß zur sozialen Ungleichheit in der Begabtenförderung beiträgt. Institutionelle Diskriminierung in der Studienstiftung ist damit nicht Ausdruck pluralistischer Begabtenförderung, sondern Resultat einer fehlgeleiteten Bildungspolitik. Alles in allem bleibt strittig, ob Begabtenförderung in der jetzigen Form ihrer Aufgabe gerecht wird bzw. gerecht werden kann. In einer sozial hoch selektiven Bildungslandschaft wie in der Bundesrepublik, bleiben Begabung und Leistungsfähigkeit ein problematischer Bezugspunkt, wenn diese nicht sozial differenziert angewendet werden. Es handelt sich um eine bildungspolitisch umstrittene Frage, ob Gelder vor diesem Hintergrund in der Begabtenförderung gut aufgehoben sind, oder nicht eher ins BAföG-System fließen sollten (vgl. Kirchherr 2013; Stamm 2007). In den letzten Jahren wurde diese Frage mit der Ausweitung und Erhöhung der Stipendien und Initiativen wie dem Deutschlandstipendium eindeutig beantwortet, jedoch ohne die Konstruktion von Begabung dabei grund-

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sätzlich zu überdenken. Staatliche Begabtenförderung trägt damit, zumindest teilweise, zur Verstärkung sozialer Ungleichheit bei.

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„I Think it’s Equal. We’re Just Students.“1 Zur Bedeutung von Geschlecht an einer vietnamesischen Universität B ELMA H ALKIC

I. E INLEITUNG Während einer ehrenamtlichen Tätigkeit in Vietnam sind mir zwei soziale Muster besonders stark aufgefallen: der verbreitete Glaube an sozialen Aufstieg durch Bildung und eine strikte Einhaltung sozialer Differenzierungen zwischen den Geschlechtern.2 Ein beachtliches formales Merkmal des Bildungssystems in der sozialistischen Republik Vietnam (SRV) liegt – anders als es in den meisten anderen Entwicklungsländern der Fall ist – in der paritätischen3 Geschlechterverteilung beim Zugang zu höherer Bildung (vgl. Weltbank 2008).4 Dennoch kann formale Gleichstellung weder als Beleg für Geschlechtergerechtigkeit in höherer Bildung noch in der gesamten Gesellschaft gedeutet werden. So garantieren gleiche Zugangschancen beispielsweise noch keine ebenso gleichen Chancen auf

1

Interviewausschnitt aus dem Interview mit M1.

2

Dank gebührt Prof. Dr. Joanna Pfaff-zarnecka für die Ermöglichung dieser Forschungsarbeit und die wertschätzende Berücksichtigung im vorliegenden Sammelband. Gleichermaßen danke ich meinen Eltern für ihre Großzügigkeit und ihren Beistand und all jenen, deren Zeit und Arbeit in diesen Aufsatz geflossen ist.

3 4

Im Südosten des Landes herrscht sogar eine „,reverse‘ gender gap“ (UNICEF 2010). Gleichzeitig besteht jedoch nach wie vor eine hohe einkommensabängige Ungleichheit beim Zugang zu Bildung, da alle Bildungsstufen von der Grundschule bis zum Studium kostenpflichtig sind und insbesondere die Kosten für ein Studium – auch an öffentlichen Universitäten – sehr hoch ausfallen (vgl. Giang 2004, 141f.).

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Studienerfolg. Ausgehend von diesen Reflexionen entstand mein Forschungsinteresse, die Relevanz von Geschlechterdifferenzierungen für die individuellen Erfolgschancen vietnamesischer StudentInnen zu untersuchen. Um das herauszufinden, fokussierte ich die Universität als „soziale[n] Raum, in dem Interaktionspraktiken, Wissen und Erfahrungen lebensweltlich und lebensgeschichtlich verankert sind“ (Mecheril/Klingler 2010, 101). Universitäre AkteurInnen sind es, über deren Handeln gesellschaftlich dominante soziale Strukturen auch im universitären Raum wirken. Da sie in der Primärsozialisation nach Geschlecht differenzierte, habitualisierte Verhaltensweisen kaum vollständig abzulegen vermögen, besteht entsprechend auch an der Universität die Gefahr der Reproduktion ungleichheitsrelevanter Strukturen. Dieser Umstand lenkte meine Aufmerksamkeit auf Herstellungsprozesse (vgl. Gildemeister/Hericks 2012, 301) einer ungleichen Geschlechterordnung an der Universität. Dabei wollte ich die sozialen Besonderheiten dieses Ortes nicht außer Acht lassen, so dass mit der Frage der (Re-)Produktion auch ein Interesse an sozialen Möglichkeitsräumen an der Universität einhergeht, die transformative Potentiale zur Überwindung von Geschlechterungleichheit in der Gesamtgesellschaft entfalten.5 Über den Nachweis der (Re-)Produktion hinausgehend habe ich es mir ferner zur Aufgabe gemacht, die universitäre Geschlechterordnung im Hinblick auf ihre Relevanz für die Studienerfolgschancen der StudentInnen zu untersuchen. Daraus ergab sich schließlich die zentrale Forschungsfrage meiner Arbeit: „Inwieweit (re-)produziert und/oder überwindet der soziale Raum ‚Universität‘ Geschlechterungleichheiten und welche Relevanz ergibt sich daraus für den Studienerfolg der StudentInnen?“ Um das im Kontext Vietnams zu untersuchen, reiste ich 2014 nach Ho Chi Minh City und interviewte dort StudentInnen einer staatlichen Universität. Ich lege im nachfolgenden Kapitel zunächst den hier angewandten theoretischen Blick auf Geschlecht dar. Zum besseren Verständnis der Forschungsergebnisse werde ich anschließend, nach Vorstellung meines Forschungsdesigns, einen kurzen Einblick in kulturelle Ursprünge der im gegenwärtigen Vietnam dominierenden Geschlechterordnung im historischen Verlauf geben. Obwohl nachfolgend die Lebenspassage ,Universität‘ im Fokus stehen wird, war ein ebenso wichtiger Bestandteil meiner Interviews die geschlechtliche Sozialisation der StudentInnen. Damit wollte ich dem zuvor genannten Umstand gerecht werden, dass das Studium zwar als Passage lebensgeschichtlich verankert ist, zugleich aber weder nur als Abbild der Gesellschaft noch als biographische Verlängerung erachtet werden kann. Meine Ergebnisse stelle ich schließlich entlang

5

Insofern handelt es sich vorliegend um eine „Kritik der Universität [...]“ (Mecheril/ Klingler 2010, 84).

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von Kernkategorien dar und fasse diese im Hinblick auf die Forschungsfrage zusammen.

II. G ESCHLECHT

ALS SOZIALE

P RAXIS

Die Grundlage meiner theoretischen Perspektive ist die Annahme, dass Geschlecht eine durchweg soziale Kategorie6 ist. Geschlecht gibt es folglich nur, weil es über soziale Praktiken (re-)produziert wird und nicht weil es von Natur aus gegeben ist. Diese sozialkonstruktivistische Perspektive auf Geschlecht teilen verschiedene TheoretikerInnen (z.B. Garfinkel 1967, West/Zimmermann 1987, Goffmann 1977). Meine Forschungsarbeit lehnt jedoch insbesondere an Erving Goffman‘s „Arrangement der Geschlechter“ (Goffman 1994, 105-158)7 an. Statt zu glauben aus einer vermeintlich biologischen Zweigeschlechtlichkeit resultiere eine spezifische soziale Ordnung, fragt Goffman, wie aus der bloßen anatomischen Differenz der Menschen eine soziale Bedeutung entsteht. Der erste „Sortierungsvorgang“ (Gildemeister/Hericks 2012, 143), so lautet seine Antwort, erfolgt nach der Geburt durch die Zuordnung zu einer „Geschlechtsklasse“ (Goffman zit. in ebd.), ausgehend von der anatomischen Beschaffenheit des Körpers.8 Mit jeder Geschlechtsklasse werden ferner „nicht-biologisch bedingte Eigenschaften“ (Gildemeister/Hericks 2012, 143) verbunden und es entstehen ganze ,Kataloge‘ geschlechtsspezifischer Normen. Dieses Wissen ist in Form von institutionellen Ordnungen9 verankert und so auf Dauer gestellt (vgl. ebd.). Indem wir uns in Interaktionen mit Anderen auf diese Ordnungen beziehen („institutionelle Reflexivität“ (Goffman zit. in Gildemeister/Hericks 2012, 143), reproduzieren wir sie auch. Institutionelle Ordnungen stellen dabei keinen Handlungsdeterminismus dar, sondern „helfen [AkteurInnen] lediglich aus einem Re-

6

„Kategorien [...] sind Gruppierungen von Objekten, die aufgrund sozial vereinbarter Kriterien unterschieden werden. Mit der Verwendung des Begriffs kennzeichnen wir, dass Geschlecht nicht ein Merkmal von Personen, sondern ein Merkmal der Sozialorganisation ist“ (Gildemeister/Hericks 2012, 7).

7 8

Im engl. Original: The Arrangement between the Sexes“ (Goffman 1977). Bereits die Definition, welches Geschlechtsorgan ,weiblich‘ und welches ,männlich‘ ist stellt folglich eine soziale Konstruktion dar.

9

Ein Beispiel für instutionelle Ordnungen ist die geschlechtsbezogene Arbeitsteilung, d.h. die Zuordnung der Männer in die nicht-häusliche und der Frauen in die häusliche Sphäre (vgl. Gildemeister/Hericks 2012, 143). Institutionen basieren natürlich nicht nur auf Geschlecht, sondern z.B. auch auf Alter und Ethnie (vgl. ebd.).

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pertoire an Darstellungen auszuwählen“ (zitiert in Gildemeister/Hericks 2012, 139). Über soziale Praxis wird folglich sichergestellt, dass biologische Differenzen sich in die soziale Ordnung einschreiben und zu Ungleichheitsstrukturen werden können. Somit ist es die Wechselbeziehung zwischen Handlung und Struktur an der Goffman die Herstellung sozialer Ungleichheit verortet. Die (Re)Produktion geschlechtlich geprägter Institutionen wird nicht nur über soziale Praxis garantiert, sondern auch veränderbar.10 Wichtig ist, zu beachten, dass beide Geschlechter an dieser Praxis beteiligt sind. Das ,Arrangement der Geschlechter‘, das heißt „die Anordnung der Geschlechter in sozialen Situationen“ (ebd., 142), variiert außerdem je nach sozialer Situation11, da gemeinsam mit institutionellen Ordnungen auch Eigenlogiken der „Interaktionsordnung“ (ebd., 139) strukturierend auf das Handeln einwirken.12 Das soziale Handeln der StudentInnen an der untersuchten Universität ist somit zwar durch institutionelle Ordnungen rund um die Kategorie ,Geschlecht‘ vorstrukturiert, entscheidet sich jedoch erst im sozialen Leben eben dieser Universität.

III. M ETHODOLOGIE

UND

M ETHODE

In Anlehnung an Goffmans „interaktionistisch-konstruktivistische Geschlechtertheorie“ (Meuser 2006, 72) untersucht diese Forschungsarbeit „die Geschlechter(mikro)politik von Identitätszuschreibungen und ritualisierten Darstellungsformen, in und mit denen die Geschlechter die soziale Ordnung ihrer Beziehungen herstellen“ (Meuser 2006, 72).

Den sozialen Ort dieser Herstellung und damit den Untersuchungsgegenstand dieser Arbeit bilden soziale Situationen an der Universität, in denen StudentInnen – und Lehrende – sich gegenseitig wahrnehmen, interagieren und als Geschlechter anordnen (vgl. Gildemeister/Hericks 2012, 142).

10 So mag etwa die Gleichheit der Geschlechter gesetzlich verankert sein, praktisch hingegen ist sie nicht vollständig realisiert. 11 Eine ,soziale Situation‘ „ist dadurch definiert, dass zwei oder mehr Personen physisch präsent sind, sich wechselseitig wahrnehmen und aufeinander reagieren können“ (Goffman 1994, 55 zit. in: Gildemeister/Hericks 2012, 139). 12 Nach Goffman bildet ,Geschlecht‘ die „,Grundlage eines zentralen Codes, demgemäß soziale Interaktionen und soziale Strukturen aufgebaut sind‘ (Goffmann 1994, 105 zit. in: Meuser 2006, 72).

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Für die Erhebung meiner Daten habe ich biographisch-narrative Interviews mit zwei StudentInnen13 jeder Geschlechtsklasse aus dem Studiengang ,Außenwirtschaft‘ einer staatlichen Universität in HCMC geführt.14 Der Vorteil narrativer Interviews liegt darin, dass die InterviewpartnerInnen „subjektiv Bedeutsames“ (Mruck/Mayr 2007, 251) offenbaren, indem sie ihre Erzählung zunächst selbst strukturieren (vgl. ebd.).15 Ich habe die Befragten im Rahmen einer kurzen Vorstellung meines Projekts über das Thema (,Geschlecht‘) informiert und anschließend das Interview mit der Aufforderung „Bitte erzähle mir etwas über die Zeit, bevor du zur Universität kamst“ eingeleitet. Insbesondere diente die biographische Perspektive erstens dazu, die symbolisch-kulturellen Ressourcen bzw. die kulturelle Beschaffenheit der Geschlechterordnung, aus der die StudentInnen schöpfen, zu ergründen.16 Zweitens wurde es so möglich festzustellen, inwieweit sich gesellschaftlich dominante Geschlechterordnungen an der untersuchten Universität als inkonsistent erweisen und letztere entsprechend zum sozialen Möglichkeitsraum wird. Mit Goffmann gesprochen kann der Universität deshalb ein transformatives Potential unterstellt werden, weil auch der soziale Ort das Handeln der AkteurInnen vorstrukturiert. Der zweite Teil des Interviews fokussierte schließlich das Studium als Lebenspassage. Zur Analyse des Datenmaterials nutzte ich das Handwerkszeug der Grounded Theory (GT) nach Anselm Strauss und Barney Glaser (1967) und erarbeitete mir zentrale Kategorien „in Auseinandersetzung mit dem empirischen Material“ (Strübing 2014, 16). Da ,Geschlechterungleichheit‘ als „main theme“ (Corbin/Glaser 2008, 104) bereits zu Beginn meiner Forschung bekannt war, entstand die Kernkategorie ,Geschlechterungleichheit‘ hingegen „nicht [...] aus dem Datenmaterial, sondern aus [der] spezifischen Aufmerksamkeitsrichtung“ (Truschkat u.a. 2005).

13 Die befragten StudentInnen waren zum Zeitpunkt des Interviews mindestens im zweiten Studienjahr. 14 Die Auswahl der Fälle erfolgte sehr pragmatisch, da es sich als überaus schwierig herausstellte StudentInnen einer staatlichen Universität mit ausreichend englischen Sprachkenntnissen zu finden. 15 Durch narrative Interviews in einer nicht-universitären Interviewumgebung (in Cafés) hoffte ich ferner, eine offenere Erzählweise als etwa an der Universität zu generieren. Meine Erfahrung hatte gezeigt, dass vor allem Vietnamesinnen im Vieraugengespräch sehr viel offener mit dem Thema ,Geschlecht‘ umgehen als sie dies an einem öffentlichen Raum wie der Universität und unter Anwesenheit männlicher Peers tun würden. 16 Hinzu kommt, dass sich im biographischen Verlauf Denk- und Handlungsweisen in Zusammenhang mit Geschlecht wandeln, weshalb Geschlecht als eine instabile Kategorie begriffen werden muss (vgl. Bührmann/Diezinger/Metz-Göckel 2014, 171).

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Die Interviews wurden in englischer Sprache erhoben, woraus besondere Umstände für die Erhebung und Interpretation der Daten resultierten. Erstens ist aufgrund des englischen Sprachniveaus als auch der sprachlich manifesten, kulturellen Unterschiede davon auszugehen, dass die Befragten sich sehr viel genauer auf Vietnamesisch ausdrücken können als auf Englisch. Beides kann in Vereinfachungen oder begrifflichen Abweichungen resultieren. Das bedeutet für die Interpretation der Daten – trotz kultureller Vorkenntnisse – ein Risiko kultureller Missverständnisse. Obwohl weiterhin die hier rezipierten Interviewpassagen für einen besseren Lesefluss ins Deutsche übersetzt wurden, ist diesbezüglich von keinem Bedeutungsverlust auszugehen, da die Interpretation am Original erfolgte.

IV. F ORSCHUNGSSTAND Die Universität als Ort der (Re-)Produktion von Geschlechterungleichheit (qualitativ) zu erforschen, ist innerhalb der Soziologie kein ganz neuer Forschungsbereich, weist aber noch einige Lücken auf. So fanden bisherige Untersuchungen größtenteils mit Fokus auf technisch-naturwissenschaftliche Fächer statt (Krais 2000; Münst 2002; Münst 2008). Neben der verbreiteten Schwerpunktsetzung auf Wissenschaft und Lehre gibt es jedoch verstärkt aus dem Ausland Arbeiten, die sich mit der Bedeutung von Geschlechterungleichheit in der Wahrnehmung und im sozialen Leben von StudentInnen befassen (Dandapat/Sengupta 2013; Morrison u.a. 2005; Stevenson/Clegg 2012)17. Im vietnamesischen Kontext handelt bislang nur eine Arbeit von Geschlechterungleichheit an der Universität (Ngan Thi Thuy Le 2011), die sich insbesondere mit Ungleichheitserfahrungen von Professorinnen befasst. Die interaktive (Re-)Produktion von Geschlechterordnungen durch StudentInnen ist insgesamt noch unzureichend untersucht worden (Danielsson 2012)18, so dass die vorliegende Arbeit einen Beitrag zur Fül-

17 Asis Kumar Dandapat und Debjani Sengupta (2013) zeigen, inwieweit Geschlechterstereotype Studentinnen in ihren Studienaspirationen beeinflussen. Morrison u.a. 2005 erforschten die Wahrnehmung von Geschlechterungleichheit an einer traditionsreichen Universität in Großbritannien. Stevenson/Cleggs (2012) Arbeit handelt von der ungleichen Wertschätzung extra-curricularen Engagements bei Studentinnen und Studenten. 18 Anna T. Danielsson (2012) beschränkt sich dabei auf Physikstudentinnen im Kontext der männlich dominierten Fachkultur. Sie reiht sich damit ebenfalls in die dominante Forschung zu MINT-Fachkulturen ein.

„I T HINK IT ’ S E QUAL . W E’ RE J UST S TUDENTS.“ | 129

lung dieser Forschungslücke leistet. Innovativ an meiner Studie ist ferner der Fokus auf einen wirtschaftswissenschaftlichen Studiengang. Anders als in MINT-Fächern herrscht in dem untersuchten Studiengang sogar ein umgekehrtes Geschlechterverhältnis19, was den Ergebnissen meiner Arbeit einen besonderen Rahmen verleiht.

V. K ULTURELLER K ONTEXT Die Geschlechterordnung in Vietnam hat im Laufe der Geschichte verschiedene kulturelle Einflüsse erfahren. Einen hohen Stellenwert nimmt darunter der chinesische Konfuzianismus ein. Obschon die für mehrere Jahrhunderte andauernde Herrschaft des chinesischen Kaiserreichs über das Gebiet des heutigen Vietnams (bis 939 n.Chr.)20 lange zurück liegt, sind gegenwärtig noch Merkmale ihrer konfuzianisch geprägten Geschlechterordnung erkennbar (vgl. Martin 2013, 81f.). Zunächst einmal ist es die „Familie mit ihren hierarchischen Beziehungen [,die den] Träger der Gesellschaft“ (Lee-Linke 1996, 27) bildet. Diese zentrale Bedeutung der Familie ist im gegenwärtigen Vietnam noch sehr deutlich zu erkennen.21 Innerhalb der Familienstruktur wiederum sind auch wesentliche Aspekte der Geschlechterordnung institutionalisiert (vgl. Huy Bich 1999, in Martin 2013, 86). Neben dem Senioritätsprinzip kommt, gemäß der agnatischen Erblinie22, dem Vater und dem ältesten Sohn als dessen legitimen ,Erbträger‘ der höchste soziale Status innerhalb der Familie zu.23 Auch Bildung wurde in der or-

19 Gudrun-Axeli Knapp und Carmen Gransee (2003) haben den ersten MINT-Frauenstudiengang erforscht. 20 Vietnam befand sich vom Jahr 111 v.Chr. an für eintausend Jahre unter chinesischer Herrschaft. 21 Das Fortleben der Institution ,Familie‘ zu gewährleisten hat auch andere Gründe. So stellt die Familie eine wichtige soziale Absicherung im Alter dar und kompensiert so beispielsweise die in Vietnam fehlende staatliche Sozialsicherung. 22 In der konfuzianischen Familie manifestieren sich zwei übergeordnete soziale Innovationen, die kennzeichnend für das feudale China waren: die agnatische Erbfolge und der Ahnendienst (vgl. Lee-Linke 1996, 16f.). Die Etablierung der agnatischen Erbfolge bildet die Grundlage für die Entstehung des Patriarchats (vgl. ebd., 17). Nur Söhne können demnach eine Verbindung zwischen den Ahnen und der künftigen Generation herstellen (vgl. Rydstrom 2004, 75 zit. in Martin 2013, 27). 23 Der „zentrale[...] Gedanke des Konfuzianismus [ist die] Fortführung der Familie durch alle zukünftigen Generationen“ (Sung-Hee Lee-Linke 1996, 42). Die Familien-

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thodox konfuzianischen Familie ausschließlich den Söhnen zuteil, während bei der Erziehung der Mädchen die häusliche Arbeit im Vordergrund stand (vgl. Lee-Linke 1996, 55; vgl. Binh 2004, 50). Entsprechend galt: „Die Frauen für Kinder und Küche, die Männer für Beruf und Geschäfte“ (Lee-Linke 1996, 55). Im Zuge zentraler gesellschaftlicher Entwicklungen in der vietnamesischen Landesgeschichte erodierte jedoch auch die konfuzianisch geprägte Familienund Geschlechterordnung. Während der französischen Kolonialzeit24 etwa brachten erste weibliche Intellektuelle westliche Werte wie Freiheit, Individualismus und Gleichheit in die konfuzianisch geprägte Gesellschaft Vietnams (Bùi Trân Phượng 2014). Auch die KPV (Kommunistische Partei Vietnam), die seit Ende des Vietnamkriegs (1975) das gesamte Land regiert, verfolgte insbesondere unter Ho Chi Minh eine Abkehr von der ungleichen konfuzianischen Geschlechterordnung (vgl. Martin 2013, 72). Während in den Bereichen Bildung25 und Arbeit die Gleichstellung vorangetrieben wurde, stärkte die Partei jedoch auch die Familie als wichtigste Zelle (ebd.) der Gesellschaft. Durch die wirtschaftlichen Reformen „Đổi mới“26 (zu deutsch „Erneuerung“) wurde die geschlechtliche Arbeitsteilung entgrenzt (vgl. Martin 2013, 193)27, da Frauen durch abhängige Erwerbsarbeit oder Selbstständigkeit einen hohen Anteil an der Erwirtschaftung des Familieneinkommens erlangten. Seither ist die Familie ebenfalls, nunmehr als fortschrittsorientierte Trägerin (vgl. Martin 2013, 74) der sozialistischen

gründung wird zur Pflicht der Menschen, weil nur sie die Erbfolge der Ahnen sichert (vgl. ebd., 41). In der Familie bildet der Vater das Oberhaupt der Familie, der Sohn seinen legitimen Vertreter. Die Erbfolge verläuft somit ausschließlich patrilinear. 24 Die eigentliche Kolonie war Cochinchina (1867), Zentral- und Nordvietnam waren französische Protektorate (vgl. Mensel 2013, 128). Der Unabhänigkeitskrieg (19451954) gegen die Franzosen wurde durch das Genfer Waffenstillstandsabkommen beendet und Vietnam in die südliche RV (Republik Vietnam) und einen kommunistisch regierten Norden geteilt, was jedoch durch die Zwangsvereinigung durch den Vietnamkrieg aufgehoben wurde. 25 Artikel 59 der vietnamesischen Verfassung formuliert für alle BürgerInnen das Recht auf und die Pflicht zu Bildung (vgl. Giang 2004, 138). 26 Die Reformen begannen 1986 und zielen auf den Umbau der vietnamesischen Zentralverwaltungswirtschaft zu einer sozialistischen Marktwirtschaft (vgl. Mensel 2013, 26). 27 Philip Martin (2013) stellt in seiner Studie zu Männlichkeitskonzepten junger Männer im gegenwärtigen Vietnam eine zunehmende Abkehr von „Confucian codes and patrilinial kinship systems“ (Martin 2013,194) und sich – insbesondere für eine privilegierte Bevölkerungsgruppe – wandelnde Geschlechterordnungen fest.

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Marktwirtschaft, gestärkt worden. Hinzu kam, dass die KPV verstärkt im Rahmen politischer Propaganda vor den Schattenseiten des Kapitalismus warnt (vgl. Martin 2013, 83; vgl. Bayly 2014, 521) und traditionelle Werte gezielt stärkt. Frauen beispielsweise wären durch die gestiegene Partizipation auf dem Arbeitsmarkt zu selbstbewusst geworden, weshalb es gelte sie, zu „redomestizieren“ (Schafer 2010, 146)28, um die Familie als staatliche Ressource zu erhalten (vgl. ebd.). Im Ergebnis tragen gegenwärtig nicht selten auch hochqualifizierte und berufstätige Frauen nach wie vor die alleinige Verantwortung für den häuslichen Bereich und scheiden deshalb entweder frühzeitig aus dem Beruf aus oder sind enormen Mehrbelastungen ausgesetzt (vgl. Bùi Trân Phượng 2014). Im Zuge gesellschaftlicher Entwicklungen wandelt sich somit die Geschlechterordnung nicht nur, sondern es entstehen auch neue Formen von Geschlechterungleichheit, die es empirisch zu ergründen gilt. Die Beschaffenheit der vietnamesischen Geschlechterordnung ist mannigfaltig, weshalb ihrer gesamten Komplexität kaum Rechnung getragen werden kann. Ich möchte daher im Folgenden näher auf die Familie eingehen und diese anhand der Ergebnisse aus dem ersten Teil meiner Interviews als zentrale Institution geschlechtlicher Sozialisation thematisieren.

VI. G ESCHLECHT

IN DER

F AMILIE

„Keine andere ‚Lebensordnung‘ macht sich die Unterscheidung von Männern und Frauen so nachhaltig zu eigen, wie dies Verwandtschaftsordnungen tun“ (Tyrell 1986, 674 zit. in Gildemesiter/Hericks 2012, 265).29 Auch für meine Befragten stellt die Familie die Hauptquelle geschlechtsbezogener symbolischer Ressourcen dar. Die Ergebnisse aus den Interviews zeigen, dass innerhalb der Herkunftsfamilie eine strenge Erziehung entlang von zweigeschlechtlich-differenzierten Geschlechternormen vorherrscht. Vor allem für Mädchen existieren eine Vielzahl von Verhaltensregeln, die von der Großmutter und Mutter weitergegeben werden. Ein Ausschnitt aus dem ,Regelkatalog‘ weiblichen Verhaltens lautet wie folgt:

28 Übersetzt aus dem engl. Original „redomesticate“ (Schafer 2010, 146). 29 Regine Gildemeister und Katja Hericks (2012) verweisen darauf, dass der Generationenwechsel aber auch einen erhöhten „Legitimationsbedarf“ (Hericks 2012, 262) für etablierte „geschlechtliche Handlungsmuster und Verhaltensweisen“ (ebd.) mit sich bringt.

132 | B ELMA H ALKIC W2: „Du darfst in deiner Familie keine schlechten Worte laut aussprechen. Du darfst keine schlechten Worte gegenüber Älteren benutzen. Und zuhause musst du dich angemessen verhalten. Die Jungs können sich daneben benehmen oder den Eltern widersprechen, aber als Mädchen darfst du das nicht.“

Hier sind Elemente der konfuzianischen weiblichen Tugend „hạnh“30 ablesbar, wie sie im gegenwärtigen Vietnam insbesondere im Rahmen der Erziehung von Mädchen noch verbreitet ist (vgl. Binh 2004).31 Traditionelle Rollenerwartungen und die damit verbundene Zweitrangigkeit weiblichen Erfolgs können in Konflikt mit dem Bildungsaufstieg junger Frauen geraten, wie sich an der Geschichte von W1 zeigt. An den vorliegend untersuchten Bachelor-Studiengang „Außenwirtschaft“ anschließende Berufsbilder sind tendenziell zeitintensiver und harmonieren deshalb nicht mit den künftigen Verpflichtungen als Ehefrau, Schwiegertochter und Mutter, so dass elterliche Widerstände gegen die Bildungsambitionen von W1 entstehen. Durch Beeinflussung der Studienwahl versuchen die Eltern die Ausbildung ihrer Tochter in Einklang mit den genannten Pflichten zu bringen. Begünstigt wird diese elterliche Prioritätensetzung dadurch, dass die Bildungsinvestitionen für die Tochter langfristig als nicht lohnenswert erachtet werden. Denn, im Elternhaus des Ehemannes angelangt, sind Frauen in Vietnam meist nach der Geburt des ersten Kindes gezwungen ihren Beruf aufzugeben. Diese Diskrepanzen zwischen dem Geburtshaus einerseits und dem „patrilokalen“ (Binh 2004, 59) Haus andererseits sowie das daraus resultierende Dilemma beschreibt auch Ngo Thi Ngan Binh als eine spezifische Entwicklung unter Đổi mới. Der Fall W2 zeigt jedoch, dass diese elterliche Perspektive nicht immer gegeben ist und von weiteren Faktoren beeinflusst wird. So ermöglichen W2, im Vergleich zu ihrer älteren Geschwistergeneration, verbesserte ökonomische Lebensumstände eine umfassendere Bildungsförderung durch die Eltern. Höhere Bildung wird so zur Selbstverständlichkeit in ihrer Biographie und zum individuellen Möglichkeitsraum. Während W1 Benachteiligungen aufgrund ihres Geschlechts sehr reflektiert zu kommunizieren vermag, spielt diese Thematik in der Narration von W1 kaum eine Rolle. Zu vermuten ist daher, dass fortbestehende geschlechtsbedingte Benachteiligungen durch die umfassenden Bildungschancen in den Hintergrund ihrer Wahrnehmung gerückt sind.

30 công (Hausarbeit), dung (Erscheinungsbild), ngôn (Rede) und hạnh (Verhalten). 31 Das Verhältnis zwischen Eltern und Kindern ist in der orthodox-konfuzianischen Familie ein hierarchisches, wobei strikter Gehorsam der Kinder die Grundlage der konfuzianischen Pietät war (vgl. Lee-Linke 1996, 49). Aufgrund der Patrilinearität war jedoch der Sohn innerhalb dieser Pietät stets privilegiert.

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Auch bei M1 fällt durch das Zusammenwirken von sozialer Herkunft und Geschlecht der Erwartungsdruck durch die Familie besonders hoch aus. Als einziger Sohn von Arbeitern lastet auf ihm sowohl die Erwartung sozialen Aufstiegs, die damit verbundene Pflicht zur Erfüllung der Familienehre durch die angemessene Erfüllung der Patrilinearität und die künftige Rolle als Familienernährer. Entsprechend würde man annehmen männliche Kinder mit älteren Geschwistern würden bezüglich dieser Erwartungen entlastet. Doch obwohl er nicht alleiniger Hoffnungsträger in der Familie ist, fällt bei M2 als Zweitgeborenem der Leistungsdruck dennoch hoch aus. Grund hierfür ist vor allem die geradezu erdrückende Kontrolle durch seine alleinerziehende Mutter. Eine fallbezogene empirische Betrachtung der Familienverhältnisse erweist sich folglich als von hoher Bedeutung. Für alle Befragten haben sich unerfüllte Studienwünsche der Eltern, Schuldgefühle gegenüber der aufopfernden Mutter32 und die Verbesserung des sozioökonomischen Status’33 der Familie als Lernantrieb erwiesen. Geschlechterungleichheit wird dabei sehr stark im Kontext der Elterngeneration beziehungsweise der Biographie der Mutter reflektiert. W1 sieht mit Verweis auf ihre Mutter, der das Studieren aufgrund ihres Geschlechts verwehrt geblieben war, in ihrem Studium einen Weg zur Verbesserung der eigenen künftigen sozialen Situation als Frau. Auch die männlichen Befragten beleuchten die Biographie ihrer Mutter unter dem Gesichtspunkt von Geschlechterungleichheit, was sich mit den Ergebnissen von Philip Martins (2013) Studie mit jungen vietnamesischen Männern deckt. Ferner zeigt sich, dass trotz Kritik und Widerstand gegen die von der Elterngeneration vertretene Geschlechterordnung traditionelle Geschlechterrollen insbesondere im Hinblick auf die eigenen Zukunftspläne einflussreich bleiben. Im Abgleich mit den individuellen Bildungsaspirationen verweisen die weiblichen Befragten dabei auf ihre familiär-häuslichen Pflichten, die Studenten thematisieren entsprechend die Bedeutung des Bildungserfolgs für die Realisierung ihrer künftigen Rolle als „main person in the family“ (M2).

32 Eine verbreitete buddhistische Weisheit besagt „Life is suffering; suffering is normal/common“ (Bùi Trân Phượng 2014). Dies gilt für Frauen sehr viel stärker als für Männer (vgl. ebd.). 33 Alle Befragten sind Kinder von einfachen Arbeitern.

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VII. E RGEBNISSE ,Invisibilisierung‘ von Geschlechterungleichheit In dem von mir untersuchten Studiengang sind die Studentinnen nicht nur in der Überzahl, sondern erzielen laut aller Befragten auch bessere Studienleistungen als ihre Kommilitonen. Generell neigten „die Mädchen [...] dazu alles exzellent zu machen“ (M1). Dabei könnten sie nicht nur „mehr“, sondern das auch „besser als Männer“ (M1). Einen wesentlichen Grund für die besseren Leistungen sieht M1 darin, dass die Studenten „sehr, sehr faul“ seien, weshalb er die Leistungsstärke seiner Kommilitoninnen als positiven Ansporn sieht, um selbst „nach Exzellenz zu streben“ (M1). Die Studentinnen wissen um ihre besseren Leistungen, sehen aber auch, dass männliche Absolventen nach dem Studium höhere Positionen besetzen und generell „mehr Vorteile“ (W1) hätten. Beide Studentinnen nehmen das als Beleg dafür, dass ihre Kommilitonen „schlauer“ seien. So könnten die Studenten beispielsweise trotz häufiger Fehlzeiten den Studentinnen dennoch bei der Examensvorbereitung helfen. Das erklärt W1 wie folgt: W1: „Ich denke, dass Mädchen sehr fleißig sind, so dass sie sehr viel Energie in alles stecken. Aber [...] die Jungs in meiner Klasse sind sehr schlau. [...] Sie investieren keine Mühe in Dinge, die nicht wirklich wichtig sind.“

Der von den Studenten gelobte Fleiß wird hier von den Studentinnen, in Abgrenzung zu der männlichen Findigkeit, als schlechte Eigenschaft gedeutet. Ergänzt wird dies durch den Glauben an eine physische Überlegenheit der Kommilitonen, der zufolge „die Jungs gesünder [seien], so dass sie alles tun“ (W1) könnten. Fleiß ist in Vietnam essentieller Bestandteil der weiblichen Sozialisation (vgl. Schafer 2010, 147) und wurde von den Studentinnen mit Bezug zu ihrer eigenen Primärsozialisation entsprechend thematisiert. An der Universität führen die Studentinnen diese Tugend fort, so dass sie in allem eifrig engagiert sind, während die Studenten sich gezielter aussuchen können, was sie lernen möchten. Obwohl eine Befragte ihre Doppelbelastung durch Studium und Haushalt in Abgleich mit dem Bruder als Benachteiligung reflektiert, erklärt sie physische Erschöpfung im universitären Kontext zum natürlich weiblichen Mangel. ,Fleiß‘ wird ferner als freie Wahl dargestellt, wodurch eine Kritik des ,Weiblichen‘ erst möglich wird. Daraus resultiert schließlich für eine Befragte folgender Schluss:

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W1: „Ich denke nicht, [dass] ich die Umstände bekämpfen muss, sondern nur [...] mich selbst. [...] Wie ich dir erzählt habe die meisten Dinge kommen von einem selbst. [...] Nur weil die Dinge aus den weiblichen Pflichten heraus entstehen, halten sie einen irgendwie von Führungspositionen fern.“

,Weibliche Pflichten‘ sind bei dieser Befragten derart stark internalisiert, dass sie als selbstgewähltes Schicksal und daraus resultierende Benachteiligungen als selbstverschuldet gedeutet werden. Einen solchen „individualistic dicourse“ (Danielsson 2012, 77), bei dem strukturelle Benachteiligungen als persönliche Hürde wahrgenommen werden, deckte auch Anna T. Danielsson (2012) in ihrer Studie mit Physikstudentinnen als weibliches Wahrnehmungsmuster auf. Im Verlauf des Interviews relativieren letztendlich auch die männlichen Befragten die zuvor konstatierte Leistungsstärke ihrer Kommilitoninnen: M1: „Frauen sind fleißig und neugierig [...]. Das einzige Problem mit den Frauen ist, dass sie zu emotional sind. Sie werden manchmal zu emotional und das beeinträchtigt ihre Fähigkeit zu urteilen.“

Ausgehend von dem weiblichen Stereotyp der ,Empfindsamkeit‘ stellt auch M1 wie die Studentinnen selbst die professionelle Kompetenz von Frauen in Frage. Er bestätigt die zuvor durch die weiblichen Befragten angestellte Unterscheidung, wonach fachliche Leistung nicht zwangsläufig Kompetenz bedeute. Letztendlich erliegt so die Wahrnehmung weiblicher Leistung doch noch einer männlichen von Kompetenz. Ein weiteres Muster der studentischen Wahrnehmung ist der Glaube an eine historische Hinfälligkeit von Geschlechterungleichheit. Die Studenten, die an anderer Stelle im Interview die Benachteiligung von Frauen innerhalb der Elterngeneration durchaus kritisch thematisierten, sehen diese bezüglich ihrer eigenen Generation als überholte Geschichte an, wie sich an nachfolgender Aussage zeigt: M1:„Es ist wirklich eine gute Sache, dass wir in der modernen Zeit leben. Die Leute werden ziemlich gleich behandelt. Ausgenommen von der Sache mit dem Hausfrau-Sein und [...] das ist die einzige Kontroverse, der Kampf zwischen dem Hausfrau-Sein [und] Geschäftsmann-Sein.“

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Der Ausdruck ,modern‘ kann als Verweis auf die unter Đổi mới entstandenen, besseren Lebensumstände der sogenannten ,9X-Generation‘34 gedeutet werden. Diese veranlassen den Befragten zu einem Modernitätsirrtum, der unter dem Vorzeichen ökonomischen Fortschritts automatisch verbesserte Geschlechterverhältnisse impliziert. Der bestehende Rollenkonflikt, den er anspricht, erscheint entsprechend als belanglose „Kontroverse“ (M1), die jedoch nichts mit Ungleichheit zu tun habe. Ein Studiengang, in dem Frauen in der Mehrzahl und zudem leistungsstärker sind, begünstigt eine solche Perspektive. Denn schließlich seien die Studentinnen gleich gut und in Wettbewerben, besonders an [dieser] Universität [gäbe es] so viele gute weibliche Studierende“ (M1). Sie seien „einfach gleich“ (M1) und gleiche Leistung bedeute demnach gleiche Chancen. Im Zusammenhang damit verweist der Befragte auf das Postulat der Leistungsgerechtigkeit: „Die Idee der Gleichheit ist gut, aber wie wir behandelt werden, [...] sollte [...] nach Leistung gehen“ (M1). Die angeblich an der Universität belegbare Gleichheit wird schließlich auch auf andere Lebensbereiche übertragen: „Im Ernst, manchmal glaube ich, dass Frauen erfolgreicher [sind] als Männer“ (M1). Ausgehend von den sozialen Verhältnissen an der Universität werden hier nicht nur Rückschlüsse auf die gesamte Gesellschaft gezogen, sondern durch die explizite, empörende Betonung auch eine Kritik an eben diesem weiblichen Erfolg geäußert. Michael Meuser (2006) verwies bereits auf die „Invisibilisierung“ (Meuser 2006, 34) von Geschlechterungleichheit als Merkmal eines „doing masculinity“ (ebd., 125). Vorliegend ist jedoch auch die „gender awareness“ (Gerson/Peiss 1985, 324f.) der Studentinnen, die wesentlich dazu beiträgt, die bestehende Geschlechterordnung und daraus resultierende Nachteile als individuelles Problem zu relativieren. Eine ,falsche‘ Arbeitseinstellung und physische Schwäche sind Belege für deren „Akzeptanz sozialer Definitionen von Geschlecht als „natürlich und unüberwindbar“35 (Gerson/Peiss 1985, 324). Gestärkt wird diese nicht universitätsspezifische Invisibilisierung durch den akademischen Bereich, der an der untersuchten Universität von den Studentinnen dominiert wird. Im Umkehrschluss bleibt schließlich Leistung als maßgebendes Kriterium für Gerechtigkeit übrig. Das Geschlechterbewusstsein der StudentInnen findet sich als dominantes Deutungsmuster auch in weiteren universitätsspezifi-

34 Die 9X-Generation bezeichnet insbesondere die Gruppe urban ansässiger SchülerInnen und StudentInnen der vietnamesischen Nachkriegsgeneration der 90erJahre, die im Vergleich zur Landbevölkerung, Freizeitkonsum nachgeht und über Kaufkraft verfügt und dadurch verstärkt von kulturellen Fremdeinflüssen unter Đổi mới betroffen ist (vgl. Bayly 2015, 515). 35 Aus dem Englischen „natural and inevitable“ (Gerson/Peiss 1985, 324).

„I T HINK IT ’ S E QUAL . W E’ RE J UST S TUDENTS.“ | 137

schen sozialen Situationen wieder. Einige davon betrachte ich samt ihrer sozialen Folgen im nächsten Kapitel. ,Unterlegenheitssinn‘36 Im Klassenraum sind die Studentinnen, laut der weiblichen Befragten, „langweilig“, „still“ und „nicht so aktiv wie die Jungs“.37 Ein Erklärungsversuch dieses Charakteristikums verweist einmal mehr auf vermeintlich angeborene geschlechtsbezogene Eigenschaften: „Ich denke, das liegt vielleicht in der Natur der Mädchen. Ihre Eigenheit. Sie wurden geboren, um still zu sein“ (W2). In sozialen Interaktionen seien die Studentinnen deshalb nicht in der Lage „das Eis in der Klasse zu brechen“ (W2), so dass „die Atmosphäre stets langweilig“ (W2) sei. Eine andere – weitaus plausiblere – Erklärung lautet, dass die Studentinnen sich nicht trauten, wie ihre Kommilitonen zu sein, weil sie „Mädchen“ (W1) sind. Obwohl dies auf die in Kapitel 3.1 beschriebene geschlechtsspezifische Primärsozialisation hindeutet, die Mädchen zur Zurückhaltung ,erzieht‘, interpretieren die Befragten diese Eigenschaft als natürlich weiblichen Nachteil. Eine Konsequenz aus der Passivität der Studentinnen ist der Wunsch nach einem umgekehrten Geschlechterverhältnis als das im untersuchten Studiengang vorherrschende. So glaubt eine Befragte, „wenn in [der] Klasse mehr Jungs als Mädchen sind, dann wird die Klasse interessanter“ (W2). Das läge vor allem an der „witzigen“ und (W2) „verrückten“ (W2) Art der Studenten in ihrem Studiengang. An Vietnams offiziellem Frauentag haben sie beispielsweise eine Aufführung vor der Klasse inszeniert, wobei sie als Frauen verkleidet einen vietnamesischen Volkssong mit dem Titel „Es ist toll ein Mädchen zu sein“38 sangen. Anschließend verteilten sie kleine Botschaften an ihre Kommilitoninnen. Darunter war auch die Notiz „69“ für eine der Befragten. Diese sexuelle Anspielung ärgert sie zwar ein wenig, ändert aber nichts an ihrer Begeisterung für die Studenten, die sich unter anderem an ihrem herzlichen Lachen während des Erzählens offenbart. Besonders erheitert sie, dass die Kommilitonen durch ihre Darbietung den Lehrenden geschickt ausgetrickst haben und so den Unterrichtsbeginn um 45

36 Übersetzt aus dem engl. Original nach Judith M. Gerson und Kathy Peiss: „sense of inferiority“ (Gerson/Peiss 1985, 326). 37 Dandapat/Sengupta (2013) stellten ähnlich fest, dass StudentInnen Eigenschaften wie „,shy‘ ,passive‘ [and] ,submissiveness‘“ (Dandapat/Sengupta 2013, 88) als typisch weiblich einstufen. Auch die Studentinnen in Danielsson's (2012) Studie beschreiben ihre Geschlechtsgenossinnen als „being slow and passive“ (Danielsson 2012, 30). 38 Der vietnamesische Originaltitel lautet „Là con gái thật tuyệt“.

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Minuten hinauszögern konnten. Beide Befragten erscheinen während ihrer Narration als Zuschauerinnen – sogar als ,Fans‘ – die ihre Kommilitonen als humoristische Unterhalter und Klassenhelden zelebrieren. Die Studenten werden so zum Mittelpunkt der Aufmerksamkeit (vgl. Meuser 2006, 124) des im untersuchten Studiengang vorwiegend weiblichen Publikums. Eine geschlechtsbezogene Auf- und Abwertung findet sich auch bei den Reflexionen von MonitorInnen wieder, die eine kommunikative Mittlerrolle zwischen Lehrenden und StudentInnen einnehmen und die Anwesenheit in Lehrveranstaltungen überprüfen. MonitorInnen haben eine privilegierte Stellung unter den StudentInnen. Wer beispielsweise eingetragene Fehlzeiten wieder rückgängig machen möchte, der müsse sich laut der befragten Studentinnen mit den MonitorInnen gut stellen. Ob das gelingt, hinge mitunter vom Geschlecht des/r jeweiligen StudentIn sowie der sexuellen Orientierung ab: W1: Mein letzter Monitor war ein Junge, aber eigentlich ist er schwul. Also bevorzugt er natürlich Jungs. [...] Er hat also oft, zum Beispiel, wenn ich den Monitor darum bat meine Verspätung zu löschen oder so etwas, würde er die Jungs bevorzugen.“

Im Falle einer heterosexuellen Monitorin würden, laut W1, entsprechend Studenten bevorzugt und andersherum. Das würde insbesondere im untersuchten Studiengang eine Privilegierung der Studenten im Hinblick auf Fehlzeiten bedeuten, da die meisten Monitore weiblich sind, wie die Befragten bestätigen. Am Beispiel der MonitorInnen wird außerdem die Bedeutung von gegengeschlechtlicher Attraktivität als Prägung sozialer Verhaltensmuster erkennbar, die sich in Kapitel 4.5 weiter zuspitzen wird. Sozial manifest wird die Aufwertung des ,Männlichen‘ außerdem bei der bewussten Selektion sozialer Beziehungen. Bereits die geringe Zahl an Studenten führe dazu, dass die Studentinnen ihre Kommilitonen als soziale Kontakte bevorzugen, denn, so konstatiert eine Befragte, „wenn du zu viel von etwas hast, wirst du es nicht schätzen, richtig?“ (W1). Wenn es um gegenseitige Hilfeleistungen unter StudentInnen geht, haben die Studenten daher eine privilegierte Stellung. Deshalb sei es beispielsweise „einfacher für die Jungs danach zu fragen etwas für sie zu tun als für Mädchen“ (W1). Hinzu kommt, dass die Studentinnen ihren männlichen Peers helfen, um „einen guten Eindruck“ (W1) bei ihnen zu hinterlassen. Die Wahrnehmung eines Studenten unterscheidet sich auch an dieser Stelle. So gesteht M2: „es fühlt sich gut an den Mädchen zu helfen und sie mögen es auch sehr“ (M2). Dieses „prosoziale Handelnˮ (Meuser 2006, 125) stellt einen typischen Aspekt des „doing masculinity“ (ebd.) dar, wobei die geschlechtlich bedingte Hilfeleistung als eine Form männlicher symbolischer Ge-

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walt39 gedeutet werden kann (Meuser 2006, 123). Vorliegend aber wird deutlich, dass die Studentinnen – wenn nicht sogar verstärkt – an der Herstellung dieser Ordnung beteiligt sind. Gerade weil sie soziale Beziehungen zu Studenten bevorzugen, handeln sie zugunsten deren sozialer Privilegierung. Die Handlungsmotivation beider Geschlechter unterscheidet sich zwar, das Handeln begünstigt jedoch von beiden Seiten eine bessere Stellung der Studenten im Hinblick auf die Verteilung sozialen Kapitals unter den StudentInnen. Geschlechterhierarchien Das soziale Privileg der Studenten erweist sich im Hinblick auf außerfachliches Engagement als konsistent. „Outside activities“40, wie die StudentInnen entsprechende Aktivitäten bezeichnen, sind an der untersuchten Universität in leistungsbezogene Wettbewerbe und studentische Gruppen unterteilt. Vor allem in letzteren sind die Studenten, laut eigener Aussage, unterrepräsentiert. So kommt es, dass auch die männlichen Befragten verstärkt an Leistungswettbewerben teilnehmen, während die Studentinnen in StudentInnenorganisationen dominierten. Bedenkt man, dass ein Muster studentischer Wahrnehmung ein Konkurrenzdenken zu den leistungsstarken und engagierten Studentinnen ist, dann können Wettbewerbe als Kompensation der so eingebüßten „hegemonialen Männlichkeit“ (Meuser 2006, 123) verstanden werden. Aussagen wie „sie sind Mädchen, aber sie sind besser als du" (M1) verdeutlichen die männliche Überforderung mit diesem umgekehrten Geschlechterverhältnis. Die befragten Studenten sehen ihre soziale Stellung an der Universität gefährdet, da Männer für gewöhnlich in den meisten Bereichen der vietnamesischen Gesellschaft (Privatwirtschaft, Familie usw.) führend sind. Die Befragten verweisen im Verlauf des Interviews immer wieder auf das Können ihrer Kommilitoninnen, wie nachfolgende Aussage beispielhaft veranschaulicht: M2: „All die Aktivitäten in der [Universität]41, all das Singen, Tanzen und Schauspielen, da machen Mädchen mehr mit als Jungs. [...] Mädchen [sind] berühmter als Jungs und Du

39 Der Begriff der ,symbolischen Gewalt‘ bezieht sich auf Pierre Bourdieus Theorie ,Symbolischer Herrschaft‘, wonach erstere „vor allem über Kultur, das heißt die symbolischen Dimensionen des sozialen Lebens, die Sinnbezüge, die Weltansichten und selbstverständlichen Denkweisen vermittelt“ (Moebius 2006, 53) wird. 40 Bezeichnung von den befragten StudentInnen übernommen. 41 Die befragten StudentInnen benutzen stets das englische Wort „school“, wenn sie von der Universität sprechen.

140 | B ELMA H ALKIC hast vielleicht von der neuen Schönheitskönigin in Vietnam gehört. [...] Sie ist von der [Hanoi-Campus der untersuchten Universität].“

Die Aussage dient als vermeintlicher Beleg für eine Besserstellung der Studentinnen, obwohl es sich insbesondere bei dem angesprochenen Schönheitswettbewerb um ein ohnehin ,weiblich‘ konnotiertes Phänomen handelt. Auch in studentischen Gruppen seien die Studentinnen ferner privilegiert, weil sie dort vor allem leitende Positionen besetzten. Das störe die befragten Studenten aber nicht, solange die Betroffene gut „im Arbeiten erledigen“ (M1) ist. Das suggeriert zwar eine gewisse Akzeptanz leistungsbedingter Geschlechterhierarchien, das universitäre Geschlechterverhältnis, in dem Frauen dominanter sind als Männer, können beide Befragten trotzdem nicht akzeptieren. So kritisieren sie, dass Studentinnen in leitenden Positionen sehr „fordernd“ (M1) und „bossy“ (M1) seien und schlichtweg zu viel erwarteten. Diese Kritik verweist auf ein Geschlechterstereotyp, das autoritäres Verhalten als ,unweiblich‘ einstuft. Insbesondere im vietnamesischen Kontext scheint das Bild der selbstbewussten und fordernden Studentin nicht mit dem in Vietnam vorherrschenden Ideal der dezenten, zurückhaltenden Frau vereinbar zu sein. Folglich markiert das ,bossy‘ Verhalten der Studentinnen eine geschlechtsbezogene soziale Grenzüberschreitung (vgl. Gerson/Peiss 1985, 318), die bei den befragten Studenten auf Unbehagen stößt. An dieser Stelle ist auch die Zusammenarbeit in Arbeitsgruppen zu nennen, die ein Beispiel dafür darstellt, dass ein Unbehagen auf studentischer Seite auch in fachlichen Kontexten und Interaktionen aufkeimen kann. Dort ist das quantitative Geschlechterungleichgewicht spürbarer als im Klassenraum, da in der Regel, wie ein Befragter deutlich macht, ein Student auf ausschließlich weibliche Gruppenmitglieder trifft. Doch die Zusammenarbeit ist nicht nur von einem strukturellen Ungleichgewicht gekennzeichnet, wie die nachfolgende Darstellung zeigt: M1: „In Gruppenarbeiten sind die Mädchen sehr gut. Die Jungs sind meist nur Arbeiter. [...] Ich meine, die Mädchen planen die Dinge nur. Zunächst waren wir damit einverstanden. [...] Man arbeitete in mehr und mehr Projekten, doch sie gaben weiterhin Befehle und die Jungs waren genervt, weil sie ständig [die Ergebnisse] vortragen müssen. Und die Mädchen machen nichts. Sie bleiben nur im Hintergrund. [...] Also wenn wir wollen, dass sie präsentieren, lehnen sie meist ab. Und es ist wirklich schwierig, sie umzustimmen.“

Mit Hilfe des ,Arbeiter‘-Begriffs beschreibt der Befragte eine nach Geschlecht getrennte Arbeitshierarchie, in der die Studenten ,nur‘ eine untergeordnete Posi-

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tion einnehmen. Die Kritik an dieser Hierarchie resultiert nicht aus ihr selbst, sondern basierend auf der Beobachtung der Befragten, dass es sich um eine geschlechtliche Arbeitshierarchie zugunsten der Studentinnen handelt. Statt einer allgemeinen Kritik sozialer Hierarchie, handelt es sich somit um eine Infragestellung der Legitimität weiblichen Machtverhaltens. Autoritäres Verhalten außerhalb des Unterrichts einerseits und die weibliche Passivität im Unterricht andererseits stellen sich den Studenten als ambivalent und illegitim dar, wobei sie beides als bewusst gewählten Bestandteil des ,herrischen‘ Verhaltens ihrer Kommilitoninnen deuten. Doch trotz des daraus resultierenden männlichen Unbehagens kann M2 diese Situation zugunsten männlichen Wohlwollens umdeuten: M2: „Letztendlich wird jemand [zum Präsentieren] gewählt. Meist sind das die Jungs. Die Mädchen unterstützen das, Dinge für sie zu tun. Und die Jungs sind so naiv, sie neigen dazu, das immer zu erfüllen. Und wir fühlen uns großartig dabei. [...]. Man sagt, Mädchen sind so zerbrechlich, einfach zu verletzen oder so etwas, so dass sie immer da bleiben und die Jungs die harte Arbeit erledigen lassen (lacht).“

Die Passivität der Studentinnen wird nunmehr als Beleg weiblicher Schwäche und Hilfsbedürftigkeit ausgelegt und das umgekehrte Geschlechterverhältnis so interpretiert, dass letztendlich männliche Dominanz denkbar bleibt. Ähnlich wie in anderen sozialen Situationen zeigt sich auch in ,outside activities‘ eine Tendenz zur Marginalisierung des Weiblichen. So sind die Studentinnen überzeugt, dass ihre männlichen Peers die besseren Führungskräfte in studentischen Gruppen seien. Sie hätten mehr „Arbeitserfahrung“ (W1) und ihre „Motivationen“ (W1) und „Dynamiken“ (W1) seien besser. Die Studenten seien außerdem „kraftvoller“ (W1) und ,positiver‘ gestimmt, Frauen hingegen seien ,schwächer‘ und gerieten daher schnell unter Stress. Die Aussagen werden nicht an Beispielen belegt, so dass der Eindruck entsteht, es handle sich um eine Repetition universeller ,Geschlechterwahrheiten‘, wonach Männer von Natur aus die besseren Führungskräfte seien. Entsprechend verfällt die Rhetorik auch hier in eine dualistische Stereotypisierung, die ,das Weibliche‘ oppositionell zum ,Männlichen‘ betrachtet und so abwertet. Diese negative Selbsteinschätzung führt bei den Studentinnen zur Demotivation. So nimmt eine der Befragten das Angebot, eine leitende Position in einem Kooperationsprogramm der Universität einzunehmen nicht an, da sie glaubt, der Aufgabe nicht gewachsen zu sein: „irgendwie habe ich Angst, dass [...] ich nicht in der Lage sein werde, mit so vielen Aufgaben gleichzeitig fertigzuwerden“ (W2). Als abschreckendes Beispiel dient ihr die jetzige Projektleiterin, die, obwohl sie „für eine Frau“ (W2) ziemlich

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„kraftvoll“ (W2) sei, sehr unter ihrem stressigen Job leide. Auch Dandapat und Sengupta (2013) stellten in ihrer Untersuchung mit StudentInnen heraus, dass Stereotype als Bestandteile der Selbstwahrnehmung Auswirkungen auf die eigene Motivation (Dandapat/Sengupta 2013, 77) und folglich auf die Studienleistung haben können. Doch W2 interpretiert ausgehend von ihrer persönlichen Selbstmarginalisierung die generelle Unterrepräsentation von Frauen in Führungspositionen als freie Wahl. Demnach wollten Frauen aufgrund ihrer vermeintlich natürlichen Nachteile keine entsprechenden Positionen übernehmen. In Frage steht an dieser Stelle nicht, dass es sich tatsächlich um eine freie Wahl handeln kann. Vielmehr ist anzumerken, dass diese sich auf vermeintlich natürliche Geschlechterdifferenzen beziehungsweise angeblich naturgegebene weibliche Kompetenzmängel stützt und insofern unbegründet ist. Innerhalb außerfachlichen Engagements wird die soziale Privilegierung der Studenten als wertvollere Kontakte durch die Bevorzugung männlicher Gruppenleiter ergänzt. „Die würden zu Mädchen nichts Schlimmes sagen, wenn diese einen Fehler begehen“ (W1), lautet dafür die Erklärung einer Befragten. Studentinnen in leitenden Positionen seien hingegen strenger, gewillter, ihre Geschlechtsgenossinnen offen zu tadeln und dabei auch mal weibliche Mitglieder anzuschreien, wenn diese ihre Aufgaben nicht angemessen erfüllen. Nicht nur die aus der eigenen Marginalisierung resultierende Ablehnung von Führungspositionen, sondern auch das Unbehagen gegenüber weiblicher Autorität unterstützt die studentische Perspektive, die ,weibliches‘ Führungsverhalten als illegitim kritisierte. Dennoch äußert eine Befragte auch eine soziale Angst im Hinblick auf männliche Leiter. Begangene Fehler könnten sich ihr zufolge unter den männlichen Peers des Leiters herumsprechen und so zu in einem schlechten Ruf unter den Kommilitonen führen. Die soziale Privilegierung der Studenten geht folglich mit einer höheren Relevanz des männlichen Urteils einher und wirkt so handlungsleitend für die Studentinnen. Der außerfachliche Handlungsraum ist für alle Befragten von großer Bedeutung, da dort, wie sie selbst betonen, das eigentliche ,Leben‘ der Universität stattfindet. Sich zu engagieren und ,aktiv zu werden‘ (W2), steigert nicht nur das Selbstbewusstsein, wie eine Befragte schildert, es ermöglicht auch eine alternative Geschlechterbeziehung, in der Studentinnen führend sein können. Doch wie sich gezeigt hat, wird dieses empowernde Potential außerfachlicher Möglichkeitsräume durch die Reproduktion von Geschlechternormen eingeschränkt, die in der Konsequenz eine bereits kulturell verankerte weibliche Konformität und dadurch auch Passivität hervorrufen. Das gilt verstärkt für solche sozialen Situationen, die eine unmittelbare soziale Beobachtung durch das andere Geschlecht ermöglichen und so geschlechtsbezogene soziale Ängste entstehen lassen.

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In Interaktion mit Lehrenden Zur Betrachtung fachlicher Handlungskontexte fokussiert dieses Kapitel insbesondere die sozialen Beziehungen zwischen StudentInnen und Lehrenden. An der untersuchten Universität treffen diese vor allem im Klassenraum aufeinander. Dort beobachten die befragten Studentinnen, dass „männliche Lehrende mit den Mädchen freundlicher um[gingen] als mit den Jungs, aber weibliche Lehrende die Jungs besser“ (W2) behandelten. Im Unterricht stellten weibliche Lehrende „den Mädchen meist schwierigere Fragen“ (W1), seien „ernster“ (W1), „strenger“ (W2) und sogar „bösartig“ (W2). Deshalb hätten die Studentinnen „Angst“42 (W2) vor ihnen. Dies gelte laut der Befragten umgekehrt auch für Studenten in Bezug auf männliche Lehrende. Wie ich bereits in Kapitel 4.1 herausgestellt habe, misst die soziale Hierarchie der vietnamesischen Gesellschaft Älteren und Männern mehr Bedeutung als anderen Gesellschaftsmitgliedern bei. Da die männlichen Lehrenden im vorliegenden Studiengang im Vergleich zu ihren Kolleginnen sehr viel älter sind, ist eine grundsätzliche Respekthaltung aller StudentInnen erwartbar, während jedoch die spezifische Angst der Studentinnen aus dem geschlechtlich begründeten, autoritären Verhalten der weiblichen Lehrenden resultiert. Hinzu kommt, dass der geschlechtsspezifische Umgang weiblicher Lehrender in der Narration der Studentinnen sehr viel dominanter ist als bei den Studenten – was diese These stärkt. In der Konsequenz hielten sich die Studentinnen im Unterricht zurück, wie es die männlichen Befragten im Zusammenhang mit der Präsentation von Gruppenarbeitsergebnissen bereits thematisiert haben. Die Unterrichtsleistung der Studentinnen wird so durch das geschlechtlich begründete Handeln weiblicher Lehrender eingeschränkt. Ihre auffällige Leistungsstärke erscheint in Anbetracht dessen nicht zuletzt auch als eine Vorbereitung auf deren hohe Erwartungen. Während die Studenten bei männlichen Lehrenden auch mal einen Rausschmiss aus dem Klassenraum riskierten, wenn sie stören, gilt dies für weibliche Lehrende nicht. Stattdessen würden sie Störungen „auf humorvolle Art“ (W1) ermahnen oder schlichtweg „ignorieren“ (W2). Die Studenten bekämen außerdem mehr Gelegenheiten, ihr Wissen zu demonstrieren. „Wenn sie unterrichtet und ein Beispiel braucht, wird sie einen Jungen aufrufen, um das Beispiel vorzutragen“ (W1), klagt eine Befragte. Die Studentinnen nehmen die Ungleichbehandlung durchaus wahr, relativieren sie jedoch, indem sie vermeintlich rationale Erklärungen aufführen. Demnach hätten die Studenten wegen ihrer ,natürlich‘ humorvollen Art ,leichtes Spiel‘ bei weiblichen Lehrenden. „Wenn

42 Die Befragte meint hier, dass Studenten entsprechend männliche Lehrende fürchteten.

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[die Studenten] angeschrien werden, sagen sie etwas Lustiges oder machen lustige Gesichtsausdrücke, und dann wird die [Dozentin]43 erheitert sein und den Ernst reduzieren“ (W1). Weibliche Lehrende erliegen demzufolge ähnlich wie die Studentinnen dem Humor der Studenten und letztere wüssten „intuitiv [...], wie sie die Lehrenden zum Lachen bringen“ (W1). Die Studentinnen hingegen seien „sehr ernst“ (W1), so dass ihnen eine vergleichbare Leichtigkeit nicht gelänge. Sie „trauten [sich] nicht, verrückte Sachen zu machen“, sondern verhielten sich vor allem „angemessen vor weiblichen Lehrenden“ (W2). Die geschlechtsbegründete Ungleichheit wird so als Resultat eines natürlichen, männlichen Vorteils interpretiert und soziale Benachteiligung erneut (siehe 4.1) zum persönlichen Frauenproblem erklärt. Dass die Studentinnen dabei eigentlich gemäß internalisierter Geschlechternormen handeln, wurde bereits herausgestellt. Im vorliegenden Studiengang, in dem weibliche Lehrende und StudentInnen deutlich in der Mehrzahl sind, fällt dieses soziale Muster entsprechend hoch ins Gewicht. Obwohl ungeklärt bleibt, ob sich die Zurückhaltung der Studentinnen in der Notengebung manifestiert, so ist zumindest anzunehmen, dass die Ausbildung und Stärkung rhetorischer Fähigkeiten dadurch eingeschränkt wird. Ausbleibende Erfolgsmomente durch Demonstration individueller Fähigkeiten im Unterricht können wiederum selbstunterschätzende Tendenzen begünstigen, wie sie vorliegend herausgestellt wurden. Die befragten Studenten beschreiben das Verhältnis zu Lehrenden über Vergleiche zur Herkunftsfamilie. Die soziale Beziehung zwischen Studenten und Dozentinnen komme laut M1 einer typischen Beziehung zwischen Bruder und Schwester nahe. Ihr Verhältnis zu männlichen Lehrenden sei hingegen mit einer Enkelsohn-Großvater-Konstellation vergleichbar. Letzteres spiegelt die zuvor identifizierte, kulturell begründete Respekthaltung gegenüber älteren Lehrenden wider und zeigt ausgehend davon nunmehr auch den Unterschied zur studentischen Perspektive auf weibliche Lehrende. Diese seien im Vergleich zu ihren Kollegen „einfühlsamer beim Unterrichten [und] gute Ratgeberinnen“ (M1). Wenn jemand von den StudentInnen Probleme habe, dann würden sie das merken und sich dafür interessieren. Weibliche Lehrende seien auch gewissenhafter beim Unterrichten, da sie wollten, „dass die StudentInnen alles richtig verstehen. [...] Deswegen g[ä]ben sie sich mehr Mühe mit dem Unterricht“ (M2). Die Gewissenhaftigkeit und Fürsorge der weiblichen Lehrenden, erklärt M2, sei typisch für asiatische Frauen. Sie neigten dazu, stets die Hausfrauenrolle zu übernehmen, und auf jedes Detail achtzugeben. Männliche Lehrende hingegen würden

43 Übersetzt und angepasst aus dem engl. Original „teacher“ (W1).

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M2: „eine Distanz zu den StudentInnen [schaffen]. Sie beantworten kaum e-mails [...].Einfach nur Wissen vermitteln und die Pflicht hinter sich bringen und raus. Das ist sozusagen die Rolle des Professors.“

Auffällig ist an den bisherigen Aussagen, dass keinerlei Bezug zur professionellen Rolle weiblicher Lehrender genommen wird. Über den Fokus auf psychosoziale Stärken werden sie vor allem dem privaten, nicht-akademischen Lebensbereich zugeordnet. Ganz konkret heißt es dazu, weibliche Lehrende M1: „haben Enthusiasmus, aber sie wissen nicht wie sie ihren Enthusiasmus vermitteln sollen. Wenn sie unterrichten und du nach dem ,warum‘ fragst, dann stocken sie wahrscheinlich.“

Die Studenten assoziieren folglich akademisch-fachliche Kompetenz mit den Männern und „dissoziier[en]“ (Münst 2002, 193 zit. in Schaeper 2008, 209) sie von den Frauen (ebd.). Der fachlich-akademische Bereich wird so, trotz mehrheitlich weiblicher Lehrender im untersuchten Studiengang, als männlich dominiert reproduziert. Die Lehrenden tragen selbst zur Reproduktion dieser Ordnung bei, indem sie „kulturell eingeübte [Verhaltens- und] Interaktionsmuster“ (ebd., 194) in einen „,weiblichen‘ und ,männlichen‘ Lehrhabitus“44 (Schaeper 2008, 207) übersetzen. Universität als Partnerbörse Bisher standen soziale Situationen in fachlichen und nicht-fachlichen Kontexten der Universität im Vordergrund. Die Familiengründung und ihr vorangestellt die Partnerschaft stellen in Vietnam zentrale soziale Pflichten dar. So kommt es, dass auch an der untersuchten Universität die Partnersuche von hoher Bedeutung für das soziale Leben ist. Eine Befragte thematisiert den Klassenraum als einen Ort, an dem ein spezifisches Muster der Partnersuche erkennbar wird. Demnach finde man in den ersten Reihen insbesondere „die Mädchen mit sehr guten Noten, [die] schlau“ sind (W1), in den hinteren Reihen hingegen sitzen die „faulen Studenten“ (W1). Wenn aber eine Studentin sich doch nach hinten setzt, dann tue sie dies mit der „Erwartung [...] einen Freund [im Original: „boyfriend“] zu finden“ (W1). Die räumliche Bewegung der Studentinnen impliziert demnach

44 Hildegard Schaeper (2008, 207) macht diesen jedoch abhängig von der jeweiligen Disziplin. Das kann hier nicht abschließend beantwortet werden, da keine Vergleichswerte vorliegen.

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eine Statusaufgabe als fleißige und smarte Studentin zugunsten einer weniger schlauen und somit potentiellen Partnerin. Nicht zuletzt, weil im untersuchten Studiengang ein quantitatives Geschlechterungleichgewicht herrscht, geht diese Initiative von den Studentinnen aus, die nur wenige Männer zur Auswahl haben. Die Studenten seien folglich diejenigen, die „den Mädchen die Chance eröffnen neben ihnen zu sitzen“ (W1). Sie würden sich selbst nur dann nach vorne setzen, wenn sie den anderen Studenten demonstrieren wollen, dass sie auf ,Eroberungskurs‘ sind. Denn männliche Peers, so erklärt W1, würden darüber mit Sicherheit sprechen. Obwohl die Studentinnen mehr Initiative bei der Partnersuche zeigen, haben beide befragten Geschlechter weitestgehend klare Vorstellungen davon, wie ihre PartnerIn sein sollte. Während die Studenten es als positiv erachten, wenn ,Mann‘ talentierte und schlaue Frauen um sich herum hat, von denen er im Studium profitieren kann, so sind es zugleich auch diese leistungsstarken Studentinnen, die als Partnerin nicht in Frage kommen: M2: „Wenn man befreundet ist, ist das akzeptabel. Sie kann exzellent sein und du kannst, du weißt schon, nicht so gut sein. Und wenn du wirklich nicht gut in einer Sache bist, ist das okay. Es ist eine Freundschaft und sie kann dir helfen und du kannst ihr helfen. Aber wenn man diese intime Ebene erreicht hat, dann geht das laut den Männer nicht mehr.“

Während die Überlegenheit der Studentinnen im fachlich-akademischen Kontext als weitestgehend legitim erachtet wird, ist sie innerhalb der Partnerschaft nicht mehr akzeptiert. Ein Machtungleichgewicht, in dem die Frau dominant ist, führe laut M2 zu einer Bloßstellung des Mannes. Eine wirklich „smart[e]“ (M2) Frau trete daher in einer Partnerschaft zurück und verhalte sich lediglich als „Beraterin“ (M2). Auch wenn sie etwas besser weiß als der Mann, solle sie das nicht offen demonstrieren, denn „das ist es, was das Glück aufrechterhält“ (M2). Die Wahrung der sozialen Harmonie in Partnerschaft und Familie als weibliche Verantwortung findet sich hier wieder. Dazu gehört es auch, den familiär institutionalisierten männlichen Überlegenheitsanspruch als zentrales kulturelles Merkmal der heteronormativen Partnerschaft zu wahren, auch wenn die Überlegenheit faktisch nicht belegbar ist. Gleichwohl muss an dieser Stelle angemerkt werden, dass M2 sich in seiner Aussage zum Teil von der beschriebenen Anschauung „der Männer“ (M2) distanziert. Er konstatiert, dass es falsch ist, sich in Abhängigkeit vom Geschlecht mit der Partnerin zu messen, kann sich jedoch nicht gänzlich davon lösen, da „die Leute [...] einen mit diesem negativen Denken beeinflussen“ (M2). ,Leute‘ meint hier auch die männlichen Peers an der Universität, die, wie zuvor geschil-

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dert, die Rolle einer ,sozialen Aufsicht‘ bei der studentischen Partnersuche einnehmen. Philip Martin (2013) zeigt, dass die Wahrnehmung der unter Đổi mới um den ökonomischen Aspekt erweiterten Rolle der Mütter innerhalb der Familie eine Einflussvariable für die männliche Wahrnehmung von Frauen der eigenen Generation darstellt (vgl. Martin 2013, 193). M2 wurde von seiner alleinerziehenden Mutter großgezogen, die er, wie in unserem Interview immer wieder deutlich wird, sehr für ihre Stärke bewundert. Ein Motiv für seine Unschlüssigkeit bei der Ablehnung seiner kompetenten Kommilitoninnen als potentielle Partnerinnen könnte folglich in dieser biographischen Prägung liegen. Neben sozialer Erwünschtheit gibt es für die Studenten auch einen weiteren Grund für die Einhaltung eines asymmetrischen Qualifikationsverhältnisses. So bevorzugten laut einem Befragten Frauen einen Partner, der in einer höheren professionellen Position als sie selbst ist, wobei bereits die Studienleistung als Erfolgsausblick dient. Entsprechend schwer sei es, die Erwartungen der Kommilitoninnen zu erfüllen, deren Maßstab bei der Partnerwahl aufgrund ihrer überragenden Studienleistungen hoch ausfalle. Die Erfahrung bei einer großen Zahl von Studentinnen, dennoch keine Partnerin zu finden, empfindet M1 als „schmerzhaft“. Auch diese Selbstzweifel und Ängste, den traditionellen Erwartungen als Mann nicht gerecht werden zu können, spiegeln einen Wandel individueller Männlichkeitskonzepte wider. Das traditionelle Männlichkeitskonzept der befragten Studenten wird zwar durch das akademische Geschlechterverhältnis aufgebrochen, zu einer Auflockerung der gesellschaftlich dominanten Geschlechterordnung kommt es jedoch auch hier nicht. Begünstigt wird dies im untersuchten Studiengang zum einen von dem quantitativen Verhältnis der Geschlechter und zum zweiten von dem kulturellen Anpassungsdrang der Studentinnen, der im Rahmen der Partnersuche ähnlich wie die bisher rekonstruierten Verhaltensmuster ausfällt. So stellen sich auch die Studentinnen bei der Partnersuche erneut die Frage „nach der richtigen Weiblichkeit“ (Gildemeister/Hericks 2012, 275). Dass ,Frau‘, um potentielle Partnerin sein zu können, „süß“ (W1) sein müsse und nicht „schlau“ (W1), hat W1 erkannt und akzeptiert. Obwohl sie selbst nicht nach einem Partner sucht, ist ihr das Urteil ihrer männlichen Peers trotzdem wichtig, um sich zu vergewissern, dass sie „nicht schlecht“ sei. Die bereits im vorausgehenden Kapitel thematisierte Bedeutung des ,männlichen Urteils‘ findet sich hier wieder. Die Aussage der Befragten verdeutlicht rückblickend darauf, dass auch jenseits der Partnersuche der Maßstab für jenes Urteil nicht die erbrachte Leistung oder das Engagement der Studentinnen, sondern Kriterien ,richtiger’ Weiblichkeit sind, die sich vor allem auf die Eignung einer Studentin als Partnerin und ,ideale Frau‘ bezie-

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hen. Die Partnersuche wirkt sich entsprechend auf Interaktionen im universitären Alltag aus: W1: „Wenn du einen Freund [original: „boyfriend“] in der Klasse haben willst, dann wirst du die Jungs besser behandeln. Zum Beispiel hatte ich dir erzählt, wenn die Jungs sie darum bitten, etwas zu tun, dann sind sie gewillt das zu tun.“

Die Aussage verdeutlicht, dass sich die soziale Privilegierung der Studenten durch ihre Kommilitoninnen im Rahmen der Partnersuche fortsetzt. Zusätzlich stellt W1 auch ihre Leistungsstärke in Frage: „Wenn [die Studenten] ein Mädchen mit einer sehr hohen Position sehen, dann werden sie sich fühlen, als könnten sie dieses Mädchen nicht erreichen“. Beide Befragten sind ferner der Ansicht, dass es an ihnen liege, die eigenen Erfolgsaspirationen im Studium und der späteren beruflichen Karriere gering zu halten, um einen Partner zu finden. Kommt es im Studium zu einer Partnerschaft, dann verhandeln Paare noch an der Universität das berufliche Geschlechterverhältnis der Zukunft. W2 etwa befindet sich in einer solchen Situation: W2: „Ich denke, da wir Mädchen sind [...] kann die Position niedriger sein als seine. Das ist okay. Aber was meinen Freund angeht, er will nicht in einer niedrigeren Position arbeiten als ich.“

Doch auch für W1, die keinen Partner im Studiengang hat, ist die Einhaltung der Geschlechterhierarchie im Hinblick auf ihre private Zukunft von Bedeutung: W1: „Ich möchte nicht [in] einer sehr hohen Position sein wie zum Beispiel eine Vorstandsvorsitzende. [...] Mein Ziel ist nur Geschäftsführerin, maximal. [...] Denn wenn ich Vorstandsvorsitzende bin, dann muss ich einen anderen Vorstandsvorsitzenden finden und das ist wirklich schwierig“.

Je höher die berufliche Position einer Frau, umso weniger Partner kommen demnach in Frage. Es ist davon auszugehen, dass das sozial erwünschte Zurücktreten vor dem Mann und das Zurückhalten eigener Fähigkeiten nicht nur zur Anpassung beruflicher Wünsche führt, sondern auch Erfolgsaspirationen im Studium hemmt. Zwar wird der Partnersuche an der Universität von allen Befragten eine hohe Bedeutung beigemessen, doch die Zugeständnisse sind auf der Seite der Studentinnen zu verzeichnen. So wägen die Befragten bereits im Studium zwischen Erfolg und Partnerschaft sowie der damit verbundenen „women‘s mission“ (Gerson/Peiss 1985, 319) beziehungsweise traditionellen „women‘s re-

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sponsibilities“ (W1) ab. Ihre akademische Leistungsstärke erscheint ausgehend davon als Bestandteil eines weiblichen Konformismus und weniger als ernst zu nehmende Investition in eine selbstbestimmte Zukunft.

VIII. S CHLUSS Die Ergebnisse der vorliegenden, empirischen Untersuchung konnten zeigen, dass die Kategorie ,Geschlecht‘ für das soziale Leben der untersuchten vietnamesischen Universität von hoher Bedeutung ist. Auf Seite der befragten Studenten entsteht durch die zahlenmäßige und akademische Dominanz der Studentinnen ein Unbehagen, dem eine Bedrohung ihrer privilegierten sozialen Stellung als Männer zugrunde liegt. Dabei dient die akademische sowie außerfachliche Überlegenheit der Studentinnen den männlichen Peers nicht nur als Beleg überwundener Geschlechterungleichheit an der Universität, sondern in der gesamten Gesellschaft. Doch die nähere Betrachtung des sozialen Lebens an der Universität lindert diese ,Besorgnis‘. Denn trotz ihrer Stärken halten die Studentinnen selbst an einer vermeintlich natürlichen, physischen wie geistigen Unterlegenheit des weiblichen Geschlechts fest. Für soziale Beziehungen erweist sich deren Selbstmarginalisierung und entsprechende Aufwertung des Männlichen als wahrnehmungs- und handlungsleitend. Eine Konsequenz dessen sind erhöhte Chancen auf Akkumulation sozialen Kapitals für die Studenten und ausgehend davon die (Re-)Produktion einer privilegierten männlichen Minderheit in dem mehrheitlich weiblich besetzten Studiengang. In außerfachlichen Handlungsräumen, in denen Studentinnen beispielsweise Führungsqualitäten entfalten, führt eine studentische Kritik weiblicher Autorität sowie die Infragestellung von (Führungs-)Kompetenz durch die Studentinnen selbst, schließlich doch noch zur Reproduktion einer männlich dominierten Geschlechterhierarchie. Im Unterricht halten die Studentinnen ihr außerfachlich entwickeltes Selbstbewusstsein und bedauerlicherweise auch ihre fachliche Leistung weitestgehend bedeckt. Während die Studenten seitens der mehrheitlich weiblichen Lehrenden soziale Vorzüge genießen, führt deren geschlechtsbedingte Autorität gegenüber Studentinnen zu einem passiven Unterrichtsverhalten. Habitualisierte Geschlechterrollen der Lehrenden tragen außerdem zur Reproduktion einer Geschlechterordnung bei, die den StudentInnen suggeriert, fachliche Kompetenz sei grundsätzlich männlich, Empathie und Soziabilität hingegen seien weibliche Attribute. Die Universität hat sich nicht zuletzt auch als Ort der privaten Partnersuche herausgestellt. Dabei werden die Studentinnen im vorliegenden Fall zu Initiatorinnen der Partnersuche und sind gewillt, ihr Kön-

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nen und ihre Erfolgsbestrebungen zu reduzieren, um das gesellschaftliche Ideal männlicher Überlegenheit nach außen hin zu wahren und so einen Partner zu gewinnen. Der Wunsch nach einer Partnerschaft überlagert so die emanzipatorischen Potentiale ihres Bildungserfolgs. Das männliche Unbehagen aufgrund der Mehrzahl leistungsstarker Frauen führt auch hier dazu, dass die Studentinnen sich anpassen und eine Überwindung der sozialen Geschlechterhierarchie im universitären Raum nicht nachhaltig realisiert wird. Welche Bedeutung haben diese Ergebnisse konkret für die Erfolgschancen im Studium? Die hier betrachtete Universität verleitet aufgrund einer hohen Zahl akademisch leistungsstarker Studentinnen zu der Annahme, Geschlechterungleichheit sei für die gegenwärtige Generation junger AkademikerInnen nicht länger von Bedeutung und schafft so einen legitimierenden Rahmen für (fort)bestehende Ungleichheiten. Durch soziale Benachteiligungen bedingte Chancenungleichheit gilt dann, unter Rückbezug auf die ,weibliche Natur‘, als individuelles Problem. Das herausgestellte, im Vergleich zu den Studenten stärkere Geschlechterbewusstsein der Studentinnen führt zur Marginalisierung ihrer akademischen Kompetenz und zur Demotivation, beispielsweise verantwortungsvolle Leitungsaufgaben in nicht-fachlichen Handlungsräumen zu übernehmen. Bestätigt wird ihr „sense of inferiority“ (Gerson/Peiss 1985, 326) durch die Studenten, die an der gesellschaftlich erwarteten Überlegenheit ihrer Geschlechtsklasse festhalten. Autoritäre statt fördernde weibliche Lehrkräfte tragen außerdem dazu bei, dass eifriges Lernen und akademischer Erfolg universitäre Formen lediglich den gewünschten weiblichen Gehorsams repräsentieren und nicht als emanzipatorische Kräfte wirken. Entsprechend führt der Fokus sozialen Handelns weg von Erfolgsaspirationen hin zur Erfüllung idealer Weiblichkeit und damit verbundenen Normen. Das Aushandeln des Geschlechterverhältnisses im Rahmen der Partnersuche schließlich verdeutlicht die Durchlässigkeit der Universität im Hinblick auf bestehende Geschlechterungleichheiten am Beispiel der Tabuisierung weiblichen Studienerfolgs. Mit Verweis auf den methodologischen Ansatz dieser Arbeit ist noch einmal zu betonen, dass die Studentinnen den zum Teil starren Geschlechterordnungen nicht nur ohnmächtig gegenüber stehen, sondern auch aktiv an der Reproduktion ihrer eigenen Marginalisierung mitwirken. Obwohl im vorliegenden Studiengang eine quantitative und akademische Dominanz der Studentinnen gegeben ist, so dass nicht nur gleiches Potential unabhängig von Geschlecht belegbar wird, sondern auch sozial internalisierte Männlichkeitskonzepte angreifbar werden, scheitert eine Gleichstellung durch die an der Universität verhandelten Geschlechterarrangements. Die formale Realisierung gleichen Zugangs bedeutet zwar begünstigende Rahmenbedingungen für die Überwindung von Geschlech-

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terungleichheit an der Universität, bietet jedoch keine Garantie für die Übersetzung dieser Strukturen in das soziale Leben der Universität oder außerhalb davon. Aus den Ergebnissen resultiert außerdem die Anregung, dass die Nachhaltigkeit gleichheitsbegünstigender Wirkungen höherer Bildung im Kontext nichtuniversitärer sozialer Räume wie Beruf, Partnerschaft und Familie gedacht werden muss. So erweisen sich diese Lebensbereiche doch bereits an der Universität als einflussreich. Ausgehend davon wären Interviews zu einem späteren Zeitpunkt mit den Befragten sinnvoll, um beispielsweise festzustellen, inwiefern die akademische Leistungsdominanz der gegenwärtigen Generation von Studentinnen in späteren Lebensbereiche Wirkungen entfaltet.

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Boundaries at Work The Habitus at Private Universities in Turkey E KIN Y ILDIRAN

I. I NTRODUCTION Our financial situation is not bad. However, I am a scholarship student. This might prove that I am a bit successful.1 BLACK/INTRODUCING HIMSELF

With more than six million students in Turkey today2, universities are the ‘crossroads’ where students with different social backgrounds meet, share experiences and have the chance to observe each other. Private universities in particular constitute rich social sites for researchers, since they host complex relationships between students based on their scholarship status, academic success and financial situation. Even though the scholarships for high-achieving students in need of financial support are portrayed as providing equal opportunities, there are still social inequalities and boundaries embedded within university life. This mismatch between what is proclaimed and what actually occurs as the consequence of scholarships raises an academic interest. In this paper, I try to understand how

1

I would like to express my sincere gratitude to my interview participants. In addition I am thankful to Prof. Dr. Joanna Pfaff-Czarnecka for her precious guidance and supervision all through the process, to Layal Khodr, Robert West, Ines Ewerszumrode and Kristina Matveeva for their support and comments.

2

This information is from the academic year 2014-15 and has been collected from https://istatistik.yok.gov.tr/ (as consulted online 2016-07-14).

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social boundary work, particularly around scholarship status, unfolds within private universities. By investigating cases from my fieldwork at Uchbey3 University, I analyse how scholarship and non-scholarship students perceive the scholarship issue and interact with it in their everyday life. The main aim of this paper is to understand private university culture and the inequalities between scholarship and non-scholarship students embedded in it. In the following sections, I give a brief introduction of Turkish higher education system, Uchbey University and a review of the literature on Turkish universities and students. Later, I elaborate on entering the research field, the profiles of the interview participants and the subsequent analysis of the interviews. The analysis shows three levels of boundary work regarding the ‘scholarship issue’ that the students at this specific private university deal with, and it points to how boundary-making strategies should be considered with Bourdieu’s notions of ‘distinction’ and ‘habitus’. Finally, a few key conclusions are drawn from the insights derived from the analysis.

II. T HE T URKISH H IGHER E DUCATION S YSTEM Even though there were higher education institutions during the Ottoman Empire, the modern Turkish university was founded in the 1930s, taking its basic characteristics from German, French and American university models. Given the development of a vibrant free-market economy and a growing population in the 1960s, attempts were made to satisfy the rapidly increasing demand for higher education with for-profit higher education institutions (Gürüz 2007; Mizikaci 2011). Private provision was legislated in 1984, such that privately-owned higher education institutions must be non-profit and cannot be owned by businesses; hence, the term ‘foundation universities’ was introduced, giving these institutions the status of ‘corporate public body’.4 The government enforced strict standards concerning curricula as well as financial support for students. For instance, all private universities are required to admit scholarship students (The

3 4

‘Uchbey’ is a pseudonym. Even though the legal term for private universities is ‘foundation universities’, it is not commonly used. Hatakenaka argues that Turkey has a private sector in higher education through foundation universities (ibid., 33). In most of the articles about the Turkish higher education system, the terms are used interchangeably, and 12 of my 13 interviewees also used the term ‘private university’. Therefore, in this paper, I use this term.

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Observatory on Borderless Higher Education 2005). The number of private higher education institutions was only two in 1986, seven in 1999, 24 in 2005, and 51 in 2010 (Mizikaci 2011). As of 2014, the number has reached 72 private universities among 176 universities in total (The Council of Higher Education 2014). The rapid and ongoing increase is explained by the introduction of privatisation into the market economy, and it is widely argued that the number and importance of private universities will continue to grow.5 Finally, it is also stated that apart from three outstandingly high-achieving Turkish private universities (Uchbey University not being one of them), private universities share a lot of similarities.6 Overall, because of the advent of private universities in higher education, the obligation of these universities to provide scholarships for certain students, differing scores being required from the university entrance exam for scholarship and non-scholarship students, and the isomorphism observed among private universities, there has been a new culture forming at private universities that is neither university nor department specific. Due to the forces of globalisation, the educational expansion at the university level in Turkey is not a surprise. This expansion needs a closer look, however, adding regional and national dynamics. Güngör and Tansel (2007) list high population growth rate, massive rural to urban and urban to urban migration, the social value attributed to university education by Turkish families to gain upward social mobility and prestige, and the assumption of better economic achievement as the reasons for the expansion and high demand of higher education institutes. Admission to universities in Turkey is based on an annual nationwide single multiple-choice exam called Öğrenci Seçme Sınavı (ÖSS hereafter) that is taken after completing 12 years of school education. Before taking this exam, students spend a significant amount of time and financial means on private tutoring. Students with limited financial resources are at a distinct disadvantage; consequently, many of them opt out of higher education (Hatakenaka 2006; World Bank 2007; Bilecen 2009). The students who can make it into university study at either a public university or a private university. Superficially, there are these two groups, but there are further dissections to be made that would offer a more elaborate look at the variety of students. There are scholarship-holding students at private universities who explicitly differ from regular students at these universities in terms of the amount of tuition fees they pay and presumably in terms of

5

This information is as of 2013 and was collected from http://topuniversities.com/ and http://studyinturkey.org.tr/ on 03.03.2015.

6

See the articles by Mizikaci about isomorphic and diverse features of Turkish private higher education (2010, 2011).

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their academic achievements on the ÖSS, since earning a scholarship requires a higher score.

III. R ESEARCH ON H IGHER E DUCATION : S PECIFICS THE F IELD AND M ETHODS

OF

Research investigating the reasons and/or effects of privatisation of higher education has been mostly quantitative so far, and it mainly addresses the differences between private and public universities but not within the private university (Spake 2010). The differences mentioned in the literature basically revolve around human capital output (Güngör 1996), academic quality (Arslan 2001; Gürüz ibid.), efficiency provision (Cahan 2005), efficiency of quality management (Bayraktar/Tatoglu/Zaim 2013), students’ satisfaction and loyalty (Anil/İcli 2013), and the inequality of educational opportunity regarding the differences between private and public universities in Turkey (Senses 2007; Gürüz ibid.). As for scholarships, private funds as financial aid have been addressed for (public) universities (Speck 2010), but this does not cover scholarship students at private universities. In the literature, scholarships are discussed widely, but in most of the articles, the focus is on the impact scholarships have on student participation, demand and degree outcomes (Harrison/Hatt 2012), and enrolment (Hillman 2012). Moreover, the relationship between scholarship and ‘persistence and attainment’ (Heller 1997; Long 2004; St. John et al. 2000), ‘persistence and completion’ (Miller 2011), achievement (Berlanga/Figuera/Ernest 2013), and success and academic performance (Wang 2013) are the other notions pointed out. Finally, the changing level of satisfaction (Arslan/Akkas 2014; Mark 2013) according to the variable of receiving a scholarship (Özdemir et al. 2013) has also been examined. However, potential conflicts and inequalities between scholarship and non-scholarship students at private universities have not been studied. Therefore, this research contributes to the literature by filling this gap through a deep understanding of social boundaries and social boundary work within private universities. This chapter’s theoretical framework aims to bring different trains of thought together; hence, the social boundary work and Bourdieu’s ‘distinction’ and ‘habitus’ (see Bourdieu 1984/1979; Bourdieu 1980/1990) are viewed in conversation with one other. Richard Alba’s analysis of social boundary processes is utilized vastly in addition to the theories suggested by scholars like Tilly (2004), Wimmer (2008), Zolberg and Long (1999), and Bauböck (1994). Alba defines blurred boundaries as boundaries that involve ambiguity about membership in societies

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and sharp boundaries as boundaries that do not. He claims that the strategy of boundary blurring is the clouding of the clarity of social distinction (2005). Finally, Stefan Hirschauer’s concept of ‘Un/Doing Differences’ (2014) is brought in to show the oscillations and fluidity of social boundary processes and social distinction. The backbone of the conceptual and methodological framework of this research paper follows two approaches. The first approach is ‘studying through’ (Robertson et al. 2012) which examines anthropological/cultural insights in conversation with a political economy of globalisation. ‘Studying through’ is an approach exploring the ‘events and interactions in a process of change that ranges across several scales and through time, and through which to see wider transformation in ordering concepts and forms and mechanisms of governance and rule’ (Robertson et al. 2012, 50). The historical and developmental processes of Turkish higher education cannot be thought of separately from the globalisation that the world faces. Moreover, the everyday lives of private university students, their relationships with each other and with the university itself, and their emotions, problems and aspirations are also intertwined with these macro-level forces. The second approach is ‘grounded theory’ (Glaser/Strauss 1967), which is ‘an inductive, theory discovery methodology that allows the researcher to develop a theoretical account of the general features of a topic while simultaneously grounding the account in empirical observations or data’ (Martin/Turner 1986, 141). Especially the methodology applied for data generation and analysis of this research is based on Birks and Mills (2015).

IV. E NTERING THE S TUDY F IELD I conducted in-depth interviews and participant observations at Uchbey University in Turkey in August and September 2014 to gain insights about boundary work in the student culture. The in-depth interviews in Turkish language with both scholarship holders and regular students were supplemented by participant observations on campus. I conducted 13 interviews with students who varied in terms of age, gender, year of study, department and scholarship status. Considering the limited scope of this chapter, I make use of four interviews which are transcribed, and the relevant parts are translated from Turkish to English. All interview participants have been given pseudonyms and were asked to sign an informed consent sheet. Uchbey University is located in one of the biggest cities in Turkey. Established in 2001, it offers more than 60 degree programmes to 7,525 students, and

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almost 40% of them have a scholarship. There are several types of scholarship possibilities with which students can avoid paying the full tuition fee: • Education Grants (ÖSYM Scholarship): These are given according to the

grade received from ÖSS. Students can keep this scholarship as long as their cumulative GPA (grade point average) is a minimum of 2.30 out of 4.00 points. • Academic Success Scholarship: The Board of trustees decides to give thistype of scholarship, and the scholarships are given according to a student’s success at the end of the academic year. Students have to apply for this scholarship every year. • Aptitude Scholarship: Students who are successful in art, sports and the like are given this scholarship, provided that they maintain their success.7 No official title can be found on the university’s official website for students who do not have a scholarship of any type. Therefore, I use the terms ‘regular students’ and ‘non-scholarship students’ to refer to these students. The tuition fees (including VAT) are approximately 10,000 USD per year, and it is the same amount for every department.8 I had already known my contact at Uchbey University personally, so before I entered the field, I asked her for help in terms of introducing me to the university and students. Because she agreed, I was privileged with a ‘gate opener’ (O’Reilly 2005, 91) which helped a great deal in terms of ‘making the strange familiar’ (O’Reilly ibid.) in the end. Even though I also completed my bachelor’s degree in Turkey at a public university, Uchbey University was ‘strange’ to me because it was a private one. I was on campus from nine o’clock in the morning until five o’clock in the evening on weekdays, trying to get familiar with the culture of the university and to meet as many people as possible, ranging from students, academics and administrative staff to other university personnel.

7

This information is taken from the university’s official webpage, and it is in line with what my interviewees have explained. The link to the website is not provided due to reasons of anonymity.

8

The exact amount of the tuition fees and a link to the university’s ‘Tuition Fees & Scholarships’ webpage are not given for reasons of anonymity.

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V. I NTRODUCING THE I NTERVIEW P ARTICIPANTS This section consists of profiles of interview participants whose inputs are the backbone of this research. I chose these specific four interviews from the rest because I wanted to have two scholarship students and two non-scholarship students; I also wanted them to represent a range in terms of department, age, year of study and gender in order to minimize intersectionality effects. The interviewees also differ in terms of their motivations for success, plans or dreams for the future and relationships with their families. Getting to Know Red Red is a 22-year-old woman studying at the Department of Radio, Television and Cinema. She is a regular student. Her parents are divorced, and she is living with her mother, step-father and two step-brothers. Her father is a professor at a public university, and her mother is a teacher of English at a private high school. She has a distant relationship with her family even though she lives with them. She wants to move out and gain independence from them. She says she mostly spends time on schoolwork and with friends. Her closest friend is also a regular student. Among her other friends there are full-scholarship, half-scholarship and no-scholarship students. She classifies herself as ‘middle class’. She is a fourth-year student in the department, meaning she is in her senior and final year. When I ask what motivated her most at the university, she answered as follows: ‘What motivates me for success most is totally my own dreams. I have always been very interested in being independent. I want to leave the life I have with the family.’ (Red)

As for plans and dreams, she wants to live in Canada. She does not elaborate on what she wants to do there and why that country specifically, but she plans to go there with an educational coaching programme. Her alternative plan is to go to İstanbul, where she can find work with the help of an acquaintance who is a television/film producer. However, since she is graduating, nothing is fixed yet concerning her plans for the very next year. She does not seem to be worried about this uncertainty. She remarks: ‘These are my plans for now. I actually do not think much and deeply about it because nothing is fixed yet. But I have two plans: Either Canada or Istanbul.’ (Red)

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Getting to Know Black Black is also 22 years old and a fourth-year student studying at the department of Radio, Television and Cinema. He lives with his family. His parents are retired civil servants, and he has one older brother who studied graphic design, which is similar to what Black studies. He has a very close relation to his family. He makes many decisions regarding the university and his degree choice with his family, especially with his brother. Black even consults his extended family for advice. He has a group of core friends which he refers to as his ‘crew’ in the interview. The crew consists of seven students who are all from the same department and in the same year. Three of the students in this crew were non-scholarship students. In time, one of the non-scholarship students managed to get an academic success scholarship, and then the crew became smaller because two students, the only non-scholarship students, dropped out of it. At the end they were only scholarship students in the crew. Along with some of his friends from the group, Black had mini-jobs as a cameraman or film editor over the summer holidays. When he started university, he only had a 50% scholarship (ÖSYM), but after the first year of his bachelor’s degree, he then received an academic success scholarship. He is now a full-scholarship student. Turning his half-scholarship into a full one was one of his main goals in the first years, after which he turned his focus to maintaining this full scholarship. He said his motivation in his university life was for his dad to pay less money for his studies. He does not want to be a financial burden on his family, so he keeps his grades high in order to maintain the full-scholarship. Black is very clear about what he wants to do in the future. He plans to seek an academic career, so he wants to earn a master’s degree, abroad if possible. He already has some knowledge about the opportunities for such degrees. As an alternative plan, he says he can go to İstanbul because friends of his brother can help him find a job there. Getting to Know Pastel My third interviewee, Pastel, is 20 years old. He is a first year student in his degree programme, which means he has not yet taken any departmental courses. However, he spent a year at the university in preparatory school learning English. He graduated from a vocational high school, and he states that it is problematic to enter university from such schools. He highlights that he earned a high score on the ÖSS and that he has a full ÖSYM scholarship. Even though he mentions his fears about being unsuccessful, he seems to be very self-confident. He

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wants to be the best in his department, and he is quite ambitious and clear about his short-term goals. Like Red and Black, Pastel also lives with his family. He differs, however, from other interviewees in terms of his family’s class position and their professions. He says that his father did not have a fixed job and is now retired. His mother is a housewife, and his older brother (aged 23) is an electrician. In addition to his immediate family, his extended family is also very involved in his life, even regarding his choice of which university to attend. A couple of times during the interview, he emphasized that the financial situation of his family (and therefore his own financial situation, since he is financially dependent on the family) is not good. He describes the neighbourhood where he lives as ‘a bit of an industrial district’, which comes with some negative connotations. His friends are mixed in terms of both scholarship status and department, but he says that scholarship students and students of Radio, Television and Cinema Department are dominant among his friends. Like Black, Pastel’s motivation for university education and success is related to the financial resources of the family. However, he is different than Black in that Black does not focus on ‘a better life’. On the other hand, Pastel has high motivation for upward mobility and sees university education as a phase along the way to ‘the better life’. Pastel very much aspires to be the best and to differentiate himself from others, and he says that people always tell him that he is very ambitious. However, when it comes to long-term plans, he still has not decided on any. He says he is planning to orient himself when he gets to know the department better, and he doesn’t want to boast by saying such things as, ‘I wanna be a director’. For the short-term he wants to obtain a proper university education and success in both international and national contests for students within the Faculty of Communication. Getting to Know Brown In contrast to Pastel, Brown is the oldest student I interviewed. He is 25 years old and is in his sixth and ‘extra’ year. He has so far studied one year in preparatory school and five years in his department. He is not sure when he will be finished, but he foresees two or three more semesters. He studies in the International Trade and Finance Department. He does not have a scholarship, and even though he does not work and his family pays for the university in addition to his living costs, he says he is not on good terms with them. His father is a retired food engineer. His mother is a housewife, and he has one older sister who is an accountant. He lives in a shared flat with one non-scholarship student from the

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same university. His other friends (apart from his childhood friends who are in Bursa) are all non-scholarship students from different departments, also studying extra years. Brown is very different from the other three interviewees. He opened up more during the interview and questioned himself and Uchbey University. He was also different in terms of his attachment to the university. He says he almost never visited the university during the first two years of his bachelor’s degree, and in the last three years, he has not been going to university regularly or properly; instead, he stays at home playing computer games, listening to music, watching movies, reading books and doing other such activities. He has little interest in his major and no interest in academic success. When I ask him about what motivates him in university life, he talks about his motivation to stay at the university, but not about any motivation to achieve any academic or practical ends. He does not think he has succeeded in anything academically, and the university has become boring after all this time. However, his friends motivate him not to drop out of the university. He also adds that he has not dropped out because he does not want to regret it later on. For the short-term, he wants to finalize his degree, and regarding the future, he has generic dreams and aspirations such as travelling the world; he does not, however, mention how he could realize them.

VI. ANALYSIS – S OCIAL B OUNDARIES L EVELS OF B OUNDARY W ORK

AND

T HREE

In this section, I very briefly introduce the interrelation between culture, inequalities, boundaries and boundary work. Let me start with a quotation from Black talking about his experiences as a scholarship student: ‘Something like ‘This is a scholarship student, I will treat him better!’ never happened. But, for example, I know this: if we [scholarship students] get involved in a fight, then we lose our scholarships. Therefore I do not even argue with people, I am very careful with that.’ (Black)

While stating he is not treated differently because of his scholarship status, Black stresses that his status as a scholarship student shapes and even limits his everyday behaviour with his peers and teachers. It becomes obvious that this status puts some pressure on him. In other words, his scholarship builds some social boundaries around him in his everyday life. Constantly trying to ‘hold his

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tongue’ might cause him to accumulate anger, frustration and a sense of unfairness. This predicament leads into the heart of my topic of how symbolic boundaries work at Turkish universities. DeNora’s review on Michele Lamont and Marcel Fournier’s work ‘Cultivating Differences: Symbolic Boundaries and the Making of Inequality’ is very useful for understanding how they conceptualize the relationship between culture and boundaries, and it is referred to here in order to make better sense of how Black deals with social boundaries and the inequality that comes with them. As explained by DeNora (1994), culture not only facilitates but also constrains action and experience in terms of what an individual can do and who can do what. Culture is always about inclusiveness and exclusiveness, which ultimately associates cultural practices with boundaries. She states, ‘if culture is the expressive medium of social difference and social hierarchy, it follows that we should be able to explore the ways in which tastes, practices, and objects provide resources for doing boundary work’ (DeNora, ibid.). Since the milieu for daily activity is provided by culture and its associated status signals, and since boundaries define the parameters of motivation and behaviour in the everyday and in the life course (DeNora ibid.), applying these ideas to the university space is a logical extension. By doing so, one can scrutinise how boundary work is valid for which type of students (scholarship and regular students in the case of Uchbey University) in order to understand the contextual culture and the embedded inequalities that are experienced and reproduced by actors. My data reveals that there are three levels of boundary work present for both scholarship and non-scholarship students. The first level is concerned with the rumours that students had already heard of before they attended the university and with the prejudices which had already been shaped in the minds of the students according to these rumours. These prejudices evoked by rumours, however, are challenged and negotiated in the everyday experiences once the students entered university. The second level is the blurring of boundaries (Wimmer ibid.; see also Bauböck ibid.; Zolberg/Long ibid.; Alba ibid.) where the importance and the distinction of scholarship-holding status as a determinant of categorization and social organization is reduced by (1) focusing on similarities, (2) focusing on other differences, and (3) simply not talking about it, which all make the location of students with respect to the boundary appear indeterminate and unclear. The third level, however, is the restoration of these blurred boundaries as students make these boundaries salient (or bright) again.

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Rumours and Prejudices Both types of students say they had negative impressions about private universities before they started studying at Uchbey University, especially in terms of the conflict between scholarship and non-scholarship students or between ‘rich kids’ and ‘poor kids’. These prejudices arose because of certain rumours that they had heard from family members, friends and acquaintances, some TV programmes and series9, and their own presumptions. The formation of these prejudices in students’ minds is the first step in which students begin to imagine the social boundaries at private universities and the social conflicts and inequalities related to these boundaries, to think of ways to deal with them, and to build potential strategies for boundary work. This happens before they decide to study at a private university. Nonetheless, I consider this level to be part of boundary work, since they all face a process in which they chose to study at Uchbey University despite all of the negative rumours and prejudices. To begin with, both Brown and Red expected a lot of ‘unengaged’ students. Brown thought it would be the case because these students would have big egos due to their ‘money’, while Red thought there would be an imbalance between scholarship and regular students, since they are different in terms of school success, ÖSS score, knowledge and financial situation. Black has a cousin who studied at another private university. His cousin’s friends, however, ‘were not similar to Black at all’, in his own words. He also adds: ‘I did not have many ideas [about private universities], there were only the nonsense stereotypes that you always hear. ‘They are rich! The girls are very gorgeous, but they would not even consider going out with you if you don’t have a car.’ That kind of stuff.’ (Black)

Pastel also had negative prejudices about what kind of difficulties and problems he might come across at a private university. He was told that scholarship students were pushed very hard so that they would lose their scholarships and have to pay. Therefore, the decision of whether or not to study at a private university was very tough for him because he did not have the financial resources to pay the tuition in case his scholarship was cancelled. At the end, he still chose Uchbey University.

9

Indeed during the national TV series boom after 1998, the conflicting relationship between rich and poor people was a major topic in popular series. These series also involved private education institutions as sites of social interaction (Yildiran Önk 2011).

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This first level of boundary work that occurs before entering university is a one-time experience, since the prejudices and presumptions disappear in the presence of first-hand experiences. In contrast to the first level of boundary work, the blurring of boundaries and the unblurring of boundaries are ongoing processes that are not mutually exclusive. The students swing back and forth between these two strategies of boundary work. There is no final point where the process ends or saturates. Given the fact that Brown has already spent six years at the university and that he is still experiencing such oscillations between these two strategies, it can be concluded that the length of time spent at the university does not change this continuous boundary-making process. The Blurring of Boundaries in Everyday Situations Both types of students say they had negative impressions about private Over the course of their individual experiences, students reconsider, negotiate, and even reject negative prejudices. These experiences are usually relational ones coming into effect through interactions with friends, peers and academics. The stories they had heard turned out to be ‘just rumours’, ‘stupid prejudices’ or ‘urban legends’, as they put it. The rumours and prejudices regarding the social boundaries at Uchbey University lose salience and importance, and the boundaries simply blur due to the encounter of the actor with the social site. At this point of the analysis, it is important to note that boundaries are actively being blurred by the students. The agency of students should definitely be taken into account. There is a tendency among the interviewed scholarship students to become friends with other scholarship students, usually from their department, and there is a similar tendency among the non-scholarship students as well. Nonetheless it is not the case for all. It is surely not the norm either. Therefore, it can be said that the boundaries between two types of students disappear when friendships are formed. Since circles of friends are mixed, students have the chance to challenge the ‘imagined’ sharp boundaries between scholarship and non-scholarship students, which were created by rumours and prejudices, by sharing daily experiences. These notions of entering the social site and sharing the daily experience (Tilly ibid.) are akin to Tilly’s formulation of ‘encounter’ (a boundary change which happens ‘when members of two previously separate or only indirectly linked networks enter the same social space and begin interacting’) and ‘conversation’ (a boundary change which includes ordinary talk as well as a wider range of similar interactions among social sites) as mechanisms that precipitate social boundary change. However, he misses the point that these boundary lines might be-

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come visible again over the course of the friendship. This was the case among my interview participants and will be elaborated later on. Blurring Boundaries: Focusing on Common Grounds ‘I mean there is no such thing as scholarship students one side, regular students the other side. Everybody is together: regular and scholarship students. It is mixed generally. This is what I observe with the people I know and with the people I have met.’ (Red)

As Red suggests, sharp boundaries around the scholarship issue do not prevail in the case of forming friendships. The first strategy used to erase or to blur the boundaries is the act of moving the focus away from their differing scholarship status (which is often associated with financial status, class position, success and intelligence) and instead focusing on their similarities. These common grounds, my interviewees mention, have a ‘we are all the same’ nature. They all comment on how ‘we are studying together, taking classes together and doing projects together’ or ‘we all like having fun’. In addition to ‘studying the same’ and ‘having fun the same’ as common grounds, there is the proposed argument that the students are all members of the middle class, apart from some insignificant extreme cases of very rich people. They all use the notions of class and wealth interchangeably and believe that they are in the middle. Moreover, they say they are not the extreme cases of the lower end of class scale at Uchbey University.10 Overall, the formula of ‘all being members of the middle class’ provides the interviewees with a common ground where boundaries around being a scholarship or non-scholarship student can easily be overlooked given the association of scholarship status with class position. Pastel does not conform to this narrative, since he mentions seeing his family as part of the working class instead of the ‘middle class’. He talks about his aspirations of getting out of this class and reaching better positions, and he sees university education as a means to realizing these ambitions. Even though he cannot share that common ground (yet), he still describes students’ everyday lives as a shared destiny: ‘Of course now we are here. We will have friends. We will have fun and all. We are all young in the end.’ (Pastel) As a result, one way or another, Pastel also manages to find or create a common ground to focus on, which enables him to blur social boundaries.

10 This can be explained by the fact that the extremely poor in Turkey do not participate in higher education, as was stated earlier (see Hatakenaka ibid.; World Bank 2007).

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Blurring Boundaries: Focusing on ‘Other’ Differences Some similarities and/or differences are said to be due to the fact that the scholarship status boundary intersects with another boundary, such as a certain way of talking inherent in female regular students. The tendency among the students, however, is to focus on the other boundary. These other dimensions are mainly gender, family structure, department and faculty, and formation of personality/character. The following anecdotes illustrate this point. During the interview, Pastel asserts that his male friends whose financial situations were different were not trying to look different; however, he adds that ‘Even scholarship-holding girls generally strive for fitting in to that setting, to that way of dressing, to that kind of behaviour.’ From what he says, it can be read that he thinks the differences in style and behaviour among students are caused by gender and financial situation (which relates to both scholarship status and social class position), but the latter does not have such a strong effect. Even though the conflict of ‘fitting in’ is experienced differently between scholarshipholding and regular female and male students, it is interesting to see that Pastel focuses much more on the gender rather than the scholarship dimension. Moreover, Black claims that the family structure of students explains why scholarship and non-scholarship students act differently. Both Red and Brown talked a lot about how students from different departments were very different. Red mentioned in the earlier phase of the interview that while the film design and graphic design students have wide visions and expanded points of view, business administration students study just to earn an easy degree, and art faculty students are very successful. For half of the interview, she did not make any connections between scholarship status and differing levels of success, and instead she focused on the department and faculty. Brown told me a story of a student who is ashamed of being a scholarship student and therefore hides it. Brown suggested that this student’s character is not yet formed and that is why he hides his scholarship status. Brown thought this was nonsense. While telling this story, he focused more on the aspect of the formation of character rather than scholarship status. In all of the aforementioned examples, the scholarship issue is omitted or other aspects are given primary importance in explaining a certain set of behaviours. Therefore, drawing on Richard Alba’s notion of bright and blurred boundaries (ibid.), my interviewees do not clearly recognize the boundaries associated with scholarship status, and these boundaries are blurred by the sharpening of other boundaries.

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‘Most of the time we don’t even know who is what!’ In addition to the strategy of ‘we are all the same’ and ‘our differences are due to other things’, the last strategy that my interview participants apply is to simply avoid the whole topic in daily talk and conversations. ‘People already do not talk a lot about ‘I am scholarship student. You are a scholarship student’. Most of the time we don’t even know who is what.’ (Red) ‘When this scholarship topic would turn up during a conversation, it would be changed quickly.’ (Black) ‘I once witnessed an absurd situation in which a scholarship student was ashamed of his scholarship. [...] the lecturer asked who had a scholarship, and a couple of people raised their hands. The friend whom I knew to be a scholarship student did not raise his hand. I guess he did not want to be included. I don’t know why.’ (Brown)

In sum, they neither ask nor tell anyone if they are scholarship students or regular ones. Brown’s friend, on the other hand, even decides not to get involved in a discussion about this issue in order to avoid being labelled. Any voice talking about it is silenced intentionally by the actors. It is especially interesting when Black talks about ‘changing the topic’, because even though neither side has ever actually agreed upon avoiding this topic, they somehow still reach a mutual consensus that they should not include scholarship-related matters in their daily communication. Conceptualising the notions of ‘social and cultural consensus’, James W. Fernandez (1965) shows an area where effective communication is resisted for the sake of achieving cohesiveness, solidarity and social integration (ibid. 922). This is an opposing argument to that of Park’s understanding of communication as an integrating and socialising principle (1938, 195). Fernandez’s approach fits into the story of my interviewees, since they also seek and/or reach a consensus by ignoring the differing ideas and meanings surrounding scholarship status. These differing ideas and meanings will be elaborated later. In general, having a scholarship is associated with greater academic success, intelligence and hard work, along with associations to fewer financial resources or a poorer financial situation. Whereas being a regular student is associated with a lack of engagement, less academic success and intelligence, greater financial support from the family and a better financial situation. These associations are directly related to the differing levels of economic capital and cultural capital that the students have; they are therefore related to class inequalities (see Tabb 2011). Experiencing inequalities and being constantly aware of them is not very

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helpful when people have to share a social space for a long time. Black, for example, tells me how scholarship students ‘turn the tables’ by erasing the differences in terms of appearance, electronic devices, etc. so that they cannot be patronized by the ‘those rich, non-scholarship students’. In a similar manner, Red tells me that regular students also study hard and are also academically successful. By saying so, she suggests that scholarship status does not have much to do with one’s level of hard work and academic success. Hence, the obscuring of social boundaries at hand helps circumvent potential conflicts, and this function serves both types of students. When there are salient asymmetries in social status and power, it is unlikely for boundaries to be blur-able. On the other hand, when the asymmetries are not salient, they are already blurred or are at least blur-able (Alba ibid.). Based on my findings, this argument should be partially dismissed. Although it definitely has truth and relevance, this argument is too static, since it looks only at the nature of asymmetries and assumes they are rigid. It does not talk about the possibility in which asymmetry can be shaped and reshaped by actors essentially affecting the nature of the boundary. Red and Black, in the above examples, make these asymmetries more symmetric by buying upscale clothes and electronic devices or by studying hard and being successful. Distinctions – The Unblurring of Boundaries ‘The people who have money are separable from the ones who do not. You can feel that. Power due to money... I have never seen anyone who would lord it over, but you can still feel it when you look at them from a distance.’ (Brown, talking about the categorization at the university)

In direct contrast to the blurring of boundaries, the third level of my analysis is about how students at Uchbey University actively recognize, observe and engage with differences in their daily life in order to distinguish themselves from each other. The ‘scholarship status issue’ is not a taboo; however, as pointed out, it is being made a hush-hush topic, something to be avoided in conversations. Unlike gender, race, age, and so on, scholarship status (and the unequally distributed financial resources associated with it) is not that easily observable and cannot simply be asked about. However, they can still feel it, as exemplified by Brown in the quotation above. They have to grope around these ‘blurred’ boundaries in the dark. Therefore, they develop a few strategies to ‘unblur’ them. Michele Lamont, Sabrina Pendergrass, and Mark C. Pachucki advise sociologists to be ‘concerned with analysing precisely how boundary work is ac-

172 | E KIN YILDIRAN

complished, i.e. with what kinds of typification systems, or inferences concerning similarities and differences, groups mobilize to define who they are’ (Lamont/Pendergrass/Pachucki 2015, 7). Taking their advice, I direct my interest towards how boundaries work by looking at some observations made by the interviewees about the similarities and differences between the two types of students. ‘On one hand, individuals must be able to differentiate themselves from others by drawing on criteria of community and a sense of shared belonging within their subgroup. On the other hand, this internal identification process must be recognized by outsiders for an objectified collective identity to emerge’ (ibid.) Thus, I asked all of the interview participants about both ‘themselves’ and the ‘others’, with respect to scholarship status. The interviewees told me that they look at certain distinctive elements to be able to guess scholarship status. This boundary-work level comes up when I ask them whether they can guess the scholarship status of any student, how they would guess (what would be their criteria), what comes to their minds when they think of a scholarship student (and a non-scholarship student), and, finally, what the distinctions between them are. There is definitely a benefit to including Bourdieu’s notion of ‘distinction’ (1984/1979) when analysing what students see as ‘different’ between one another, because he points out that the distinctions are not caused by or processes of innate, individualistic choices of humans, but that they are rather socially conditioned and reflect a symbolic hierarchy (Allen/Anderson 1994). The following table elaborates on the elements of these socially conditioned and hierarchy-related distinctions voiced by my interview participants. Table 1: Typology Distinctions for Scholarship students

Distinctions for Nonscholarship students

Consumption Items

Books, textbooks, backpack

Purse, lighter, car, car key, latest model smart phone, cigarette, wallet, Zippo, iPhone, BMW, Chanel, better outfit

Behaviours, Attitudes and Values

Knowledge about politics, respectful, hardworking, higher GPA, ambitions, sense of re-

Aimless life, being spoiled, slapdash, disrespectful, shallow, outgoing, extrovert, social,

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sponsibility, determination, modesty, naivety, wider world-view, goalorientation, lack of social life, introversion, talking a lot about the courses

lack of engagement in class, playing truant, laziness, showing off, loose family relations

Taste and Style

Slovenliness, messy hair Caring a good deal about appearance

Concern for the future

Anxious

Relaxed

The problem with having distinctions is that they are sometimes not tolerated and they affect students’ relationships. To illustrate, I recall that Black’s crew was divided because the regular students did not respect the schoolwork when they needed to study as a group. Red also mentioned that scholarship students go out with friends less because they prefer studying for classes instead. In such occurrences, the boundaries which were blurred are sharpened by addressing certain distinctions. Partially contradicting Alba’s notion of ‘bright vs. blurred distinction’ (ibid., 39), I argue that it cannot be claimed that one boundary is bright and another is blurred, according to the findings of my field study. The very same boundary can be both, because a boundary is of a relational nature, and whether it is bright or not depends on the standpoint. Boundaries are fluid, leaky, negotiated and reconfigured by actors within the course of relationships. For example, Black tells the story of his friend who did not have a scholarship in the past. After getting the scholarship, his friend started to announce that he was a scholarship student, although he never used to mention being a regular student before. This can be read as a regular student attempting not to mention the scholarship issue to a scholarship student. It is also an indication of how the boundary became brighter only after both students were on the same side of the boundary. How bright the boundary is depends on the stand point of Black’s friend. Finally, drawing from my analysis, I would like to contribute to Hirschauer’s framework of Un/Doing Differences (ibid.). In his work, he develops an analytical framework for the research of how cultural distinctions are created, overlapped and invalidated.

174 | E KIN YILDIRAN ‘Each instance of doing difference is a meaningful selection from a set of competing categorizations, creating a difference that makes a difference. Un/doing differences designates an ephemeral moment of undecidedness and non-differentiation between the relevance and irrelevance of social differentiations’ (Hirschauer ibid., 170).

If one part of my analysis can be considered ‘doing difference’ and another ‘un/doing difference’, then the ‘unblurring of boundaries’ can also be grasped by the notion of ‘re/doing’. Hirschauer’s analytical framework helps the investigation of the production, overlap, and repeal of several cultural differences. Including the re/doing of differences is useful for a deeper understanding of how people negotiate social categorization differences and for the enrichment of analytical analysis of boundary work. When the distinctions are examined even more closely, it can be seen that the picture is not two-dimensional. It is not the case that having a scholarship is associated with negative connotations by the regular students nor that being a regular student is said to be negative by the scholarship students. Therefore, it cannot simply be concluded that there is a plain and fixed dominant-dominated relationship. Depending on the standpoint within a relationship (being friends, peers or just classmates) or on which distinction is being addressed, the actor deemed to be holding the dominant position changes, and this is clearly observable through boundary processes. This makes social boundary work a multi-dimensional phenomenon in which processes of blurring and sharpening of boundaries are intertwined. These boundary processes can be thought of in relation to Bourdieu’s concept of habitus in the sense that they can be described as the processes of the reproduction and transformation of the habitus. According to Bourdieu, confronting a person with a new ‘field’ or a new position within his/her well known ‘field’ (i.e., university or scholarship status in this case) can, with time and effort, lead to changes in the habitus, the systems of structured and structuring dispositions. Since this change does not happen immediately, there is always something left of the old habitus causing oscillations between the ‘old me’ and the ‘new me’ (Bourdieu 1980/1990). The shifts between making boundaries disappear, and bringing them up can be reconstructed as an internal clash of habitus. The dynamics of the (un)blurring strategy might point here to a new perspective on the tensions between reproduction and transformation (statics vs. dynamics) of the habitus. This strategy might even be seen as temporalized and fundamentally unstable movements of boundary visibility/invisibility within actors’ social realities and actions. These movements can be seen as both stabilizing and disturbing for a given social order.

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VII. C ONCLUSION This study took place within the framework of macro-level forces of structural transformations in the Turkish higher education system and in the private university culture. It is argued here that social boundaries between scholarship and non-scholarship students at Uchbey University do exist. However, the main argument here is not simply about the existence of the boundaries, but about how the students deal with and reconfigure them. In the analysis, I indicated three levels of boundary work emerging from my field study. The first level is concerned with rumours and prejudices, and it shows how students become familiar with the boundaries even before being confronted by them. The second level concerns how students blur boundaries by applying certain strategies. The third level is concerned with how students also clarify boundaries by applying other strategies. At the end of the discussion of the analysis, it is also argued that the last two levels are intertwined. All of my interviewees made ever-changing and inconsistent statements with respect to scholarship issues. They say there are no big differences among students caused by scholarship status, but then in some other parts of the dialogue, they would remark hesitantly on the distinctions, or they would put an effort to justify the differences beyond scholarship status. This is particularly interesting, as these inconsistencies, hesitance, and justifications show that the scholarship issue is latent and sensitive. This discomfort might point to a deeper emotional relevance of the issue. ‘I’d focus on material things. In the simplest term, you look at what they wear. But then I would feel very bad putting them in such status. Why do I feel bad?’ (Brown, talking about differences between scholarship and regular students)

This very illustrative fragment shows how Brown questions himself about the scholarship issue and his respective emotions after I had asked him how he would guess whether a student had a scholarship or not. He looks at material differences, but this makes him very uncomfortable. He sees a conflict because the scholarship issue relates to the materialised inequalities between students and, thus, social class perception. Neither Brown nor the other participants are the exception. Other students experience such conflicts, too. Would balancing the material differences be enough to solve this conflict, though? Although at first glance it looks like private universities in Turkey help decrease inequalities in higher education because they provide scholarships to academically high-achieving students who might be financially disadvantaged, a

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closer look reveals other social realities. In order to achieve equality, it is not enough for private universities to provide certain resources such as scholarships and equal access to courses, to academic and practical material, and the like. They provide these resources as ‘developmental projects’ to overcome (or to balance) the difference in financial capacities and to obscure the observed social boundaries by improving the financial resources of high-achieving students. Regarding these developmental projects, Arjun Appadurai suggests that they ‘should develop a set of tools for identifying the cultural map of aspirations’ (2004, 194) instead of solely focusing on material deprivation. From my observations, there is little or no effort from the government or private universities to investigate the unevenly distributed capacities to aspire among their students. As elaborated in the analysis, students at private universities do have to deal with inequality by applying boundary-making strategies, which shows that the promise of progressing equality through ‘developmental projects’ in higher education cannot flourish by material aid alone. The culture at Uchbey University is the outcome of the same structures affecting all private universities in Turkey.11 This indicates that the inequality problem is actually a nation-wide issue. Therefore, this research does not only offer new perspectives on the modalities of boundary work, making a conceptual contribution, but it also provides insights to those who are influential in setting higher education policies in Turkey. It will hopefully invite them to recognize the persisting inequalities buttressed by social boundary work among students.

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11 See articles by Mizikaci about the structures affecting private universities in Turkey, including Uchbey University (2010, 2011).

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Zugehörigkeiten

Ethnizität und wissenschaftliche Hochschulkarriere S VEN K ATHÖFER

I. E INLEITUNG Immer noch erweist sich Chancengleichheit im Bildungssystem als Illusion (vgl. Bourdieu 1971), was die analytische Betrachtung sozialer Ungleichheiten in diesem Bereich zu einer der bedeutsamsten Aufgaben der Sozialwissenschaften insgesamt macht (vgl. Diewald/Faist 2011, 92).1 Neben Armut, Prekarisierung und Arbeitslosigkeit als fortwährende Problemkonstellationen (Butterwegge 2010; Ludwig-Meyerhofer/Kühn 2010) werden verstärkt Partizipationsmöglichkeiten von MigrantInnen in Bildungskontexten als essentielles Arbeitsfeld der Ungleichheitsforschung begriffen (vgl. Beck 2010 u.a.; Barz 2010 u.a.; Diefenbach 2010; Gomolla/Radtke 2009). In der Folge produzieren Forschung, Praxis und Diskurs immer komplexere (Un-)Gerechtigkeitsbegriffe (vgl. Brettschneider 2007, 365) sowie Theorien und Modelle zur Genese sozialer Ungleichheit (vgl. Diewald/Faist 2011; Degele/Winker 2011), um vorhandene mehrdimensionale Verschränkungen von Diskriminierungsformen mit Blick auf ‚ethnicity‘ und ‚race‘ (vgl. Acker 2010; Becker-Schmidt 2007) angemessen und präzise erklären zu können. Im Ergebnis verweisen aktuelle Erkenntnisse verstärkt auf institutionelle Hürden, Diskriminierungen sowie negative Determinanten im Bildungssystem (vgl. Beck u.a.

1

Ein besonderer Dank geht an Joanna Pfaff-Czarnecka und Naby Berdjas für die äußerst hilfreiche Diskussion des gesamten Textes. Ich bedanke mich zudem bei der ARESO Arbeitsstelle für regionale Sozialarbeitsforschung und Jochem Kotthaus, die alle zur Erhebung und Auswertung benötigten Soft- und Hardwarekomponenten zur Verfügung gestellt haben.

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2010; Gomolla/Radtke 2009; Juhasz/Mey 2009; Geißler 2008; Farrokhzad 2008; Thole/Cloos 2005) und zeigen Handlungsstrategien (vgl. Farrokhzad 2010; Sauer/Halm 2009), vorhandende oder fehlende Kapitalien (Nohl u.a. 2010; Schittenhelm 2010; Schmidtke 2010 u.a.) und Transformationsanforderungen auf (vgl. King 2009), die den Bildungserfolg – oder eben -misserfolg – nachhaltig beeinflussen. Angelehnt an Andreas Potts (2009) Ausführungen über bildungserfolgreiche MigrantInnen fokussiert der vorliegende Beitrag ‚akademische MitarbeiterInnen mit Migrationshintergrund‘ aus den Arbeitsfeldern von (Fach-)Hochschulen. Hier finden sich vermehrt Biographien, die defizitorientierte und mitunter kulturalistische Verständnisse von Migration in Bildungskontexten durchaus widerlegen können, obgleich die Ansprüche, Schwierigkeiten und Irritationen im Kontext einer wissenschaftlichen Berufskarriere für MitarbeiterInnen mit Migrationshintergrund, die mit Diskriminierungserfahrungen in der gesamten Bildungsbiographie konfrontiert werden, potentiell besonders herausfordernd sein können. Diese Betrachtungsweise ist relevant, da Bildungsbenachteiligungen von MigrantInnen immer wieder mit dem sozioökonomischen Status (vgl. Diefenbach 2011, 463) und/oder kulturell bedingten Irritationen in Verbindung gebracht werden, was einerseits die Betrachtung von Potentialen und Aufstiegsprozessen im Bildungssystem verzerrt (vgl. Pott 2009, 47) und andererseits zu forschungsperspektivisch inadäquaten Einschätzungen führt, die sich auch in wissenschaftlichen Publikationen wiederfinden und vermehrt als inadäquat kritisiert werden (vgl. Diewald/Faist 2011, 93f.; Pott 2009, 47). Die hier dargestellte Studie gibt innerhalb der zuvor skizzierten Rahmung Hinweise auf die Wirkungskraft von Gatekeepern und ZugangswärterInnen, also Schlüsselpersonen2, denen im Kontext von Bildungsbiographien und wissenschaftlichen Karrieren große Bedeutsamkeit zuzumessen ist. Ebenso relevant ist der Zusammenhang zwischen individuellen Erfahrungen mit bildungsrelevanten Schlüsselpersonen und der eigenen Handlungspraxis als (potenzielle) Schlüsselperson der nächsten Generation. Wissenschaftliches Personal mit Migrationshintergrund bewegt sich dabei in einem Spannungsfeld zwischen reflexiv-bewussten, erfahrenen und als bedeutsam empfundenen Erlebnissen mit Schlüsselpersonen sowie aktuellen formellen und relationalen Partizipationsanforderungen im ‚Arbeitsfeld Hochschule‘ im Rahmen der jeweiligen Bil-

2

In dieser Arbeit wird die Terminologie des Gateopeners/Türöffners/der Türöffnerin (vgl. Whyte 1996) mit der auf Arbeiten von Kurt Lewin (1958) zurückgehenden Begrifflichkeit des Gatekeepers und des Zugangswärters, der Zugangswärterin (vgl. Struck 2001) durch den Begriff ‚Schlüsselperson‘ aggregiert.

E THNIZITÄT

UND WISSENSCHAFTLICHE

HOCHSCHULKARRIERE | 185

dungs- und Berufsbiographie. Ersichtlich wird hier vor allem ein Wechselspiel zwischen individuellen biographischen Erfahrungen und individueller Handlungspraxis. Datengrundlage der folgenden Ausführungen sind sechs biographisch-narrative Interviews mit hochqualifizierten HochschulmitarbeiterInnen3 in unterschiedlichen Positionen und aus verschiedenen Fachbereichen, deren biographische Werdegänge und Bildungsverläufe hinsichtlich ‚selbsterfahrenen Praktiken von Schlüsselpersonen und selbstgelebten Praktiken als Schlüsselperson‘ im Zuge einer strategisch verstandenen Grounded Theory untersucht und ausgewertet wurden (vgl. Strauss 1998). Im Sample befanden sich sechs Befragte4, die alle oder zur Berufsqualifikation wesentlichen Bildungszertifikate in der Bundesrepublik Deutschland erlangt haben.

II. M IGRATION , B ILDUNG

UND

B ERUF

Dass sich ungünstige strukturelle und herkunftsbezogene Ausgangssituationen negativ auf die Bildung und den Bildungserfolg in Form einer mehrdimensiona-

3

Die Begrifflichkeit ‚hochqualifiziert‘ beschreibt hier MitarbeiterInnen im Hochschuldienst, die losgelöst vom Fachgebiet und Arbeitsschwerpunkt mindestens zwei Hochschulabschlüsse erworben haben (zum Beispiel Bachelor und Master).

4

Sample [wiss.MA1] wissenschaftliche Mitarbeiterin A (Rechts- und Sozialwissenschaften, Anfang 30, verheiratet, kinderlos, Herkunft: Osteuropa, Eltern: ArbeiterInnen, Migrationsgrund: Familiennachzug) [wiss.MA2] wissenschaftlicher Mitarbeiter B (Informatik, Mitte 30, ledig, Kinder, Herkunft: Nordafrika, Eltern: Angestellte, Migrationsgrund: Arbeitsmigration der Eltern) [Vprof1] Vertretungsprofessorin A (Ingenieurswissenschaften, Mitte 30, verheiratet, Kinder, Herkunft: Osteuropa, Eltern: AkademikerInnen, Migrationsgrund: Familiennachzug) [Vprof2] Vertretungsprofessor B (Wirtschafts- und Sozialwissenschaften, Ende 30, ledig, Kinder, Herkunft: Nordafrika, Eltern: AkademikerInnen, Migrationsgrund: Arbeitsmigration der Eltern) [Prof1] Professorin A (Sozialwissenschaften, Mitte 50, ledig, kinderlos, Herkunft: Mittlerer Osten, Eltern: Angestellte, Migrationsgrund: Fluchtmigration) [Prof2] Professor B (Sprach- und Sozialwissenschaften, Anfang 40, verheiratet, Kinder, Herkunft: Westasien, Eltern: ArbeiterInnen, Migrationsgrund: Arbeitsmigration der Eltern)

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len sowie interdependenten Benachteiligung auswirken können, wurde bereits in den 1960er Jahren von Ralf Dahrendorf (1966) thematisiert und mit der stets aktuellen Forderung nach ‚Bildung als Bürgerrecht‘ verknüpft (vgl. Dahrendorf 1966; Geißler 2008; Weber 2009, 213). In den Sozialwissenschaften lassen sich im Geflecht von Bildungserfolg, sozialer Ungleichheit und Migration tradierte und inadäquate Generalisierungen erkennen, die eine Einwanderung in ein unbekanntes und zuweilen ‚fremdes‘ Land mit problematischen ‚Kulturkonflikten‘ verbinden und diese zu einem Erklärungsansatz für Bildungsmisserfolge kumulieren (vgl. Baros 2009, 156). Für den Nexus zwischen Bildungserfolg und Migration bedeutet dies, dass Schieflagen im Bildungssystem (vgl. Auernheimer 2010) auf Spezifika der MigrantInnen, deren Immigrationsintentionen, familiäre Strukturen bzw. fehlende ökonomische, soziale und kulturelle Ressourcen verkürzt werden (vgl. Hummrich 2009, 105; Farrokhzad 2010, 305), so dass im Umkehrschluss Erfolge in den Bereichen Bildung und Beruf insgesamt als wenig aussichtsreich postuliert werden (vgl. Juhasz/Mey 2009, 87; Farrokhzad 2010, 305). Derartigen Ausführungen wird entgegengesetzt, die Ursachen von mangelnder Teilhabe, Misserfolg und Ungleichheit im Bildungssystem seien eben auch in den Institutionen und Organisationen des Bildungs- und Berufssystems zu suchen und dort vielfach anonym in strukturierte Handlungen und Operationen integriert (vgl. Gomolla/Radtke 2009). Demnach trägt beispielsweise das Personal in schulischen Kontexten häufig zum Erhalt von defizitorientieren und kulturalistisch geprägten Diskursen bei, indem beständig auf mangelhafte Unterstützungsleistungen auf Seiten der Familien verwiesen wird (vgl. Hummrich 2009, 105; Farrokhzad 2008, 241). Problematisch ist dies, wenn sich hier die Grundlagen für den Umgang mit Bildungsinstitutionen insgesamt fundieren (vgl. Hummrich 2009, 10-13). Auf Hochschulebene werden verstärkt Aufstiegsprozesse von StudentInnen und AkademikerInnen in der zweiten MigrantInnengeneration dokumentiert, die eine erhöhte soziale Mobilität und wachsende Bildungsaspirationen aufweisen (vgl. El-Mafaalani 2012; Pott 2002, 12). Auf- und Abstiege sind hier eng in Zusammenhang mit Merkmalen des institutionalisierten Lehr- und Lernkontextes zu betrachten, in dem neben strukturellen Faktoren (Räumlichkeiten, Einzugsbereich, Curriculum) und didaktischen Dimensionen (Lehr-Lern-Konzepte) vor allem auch Erwartungen von Lehrenden an die Lernenden sowie Fach(bereichs)erstkulturen zu bedeutsamen Kriterien avancieren (vgl. Diefenbach 2011, 458; Münst 2008, 179f.; Read u.a. 2003). Die anschließende Positionierung auf dem Arbeitsmarkt basiert auf einem Aggregat von zugänglichen und herkunftsspezifischen Ressourcen sowie erworbenen Bildungszertifikaten. MigrantInnen sehen

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sich hier erneut mit Barrieren konfrontiert, so dass selbst Hochqualifizierte in vielen Fällen nicht nach Kriterien der fachlichen Ausbildung ausgewählt werden (vgl. Nohl u.a. 2010, 21; Schittenhelm 2010, 40). Die Frage nach den spezifischen Ressourcen und Kapitalien, die MigrantInnen zum Bildungs- und Berufserfolg verhelfen, gerät hier immer wieder aus dem Blick. In diesem Zusammenhang nehmen sozialwissenschaftliche Erklärungsmodelle, unter Bezug auf die Kapitaltheorie Bourdieus, soziale Beziehungen und Netzwerke stärker in den Fokus. Die Wirkungsmacht und Bedeutsamkeit von Schlüsselpersonen, die als Türöffner und Gatekeeper bildungs- und berufsspezifische Übergänge besetzen, ist für die Analyse von migrationsimmanenten Erfolgsbiographien nutzbringend (vgl. Schittenhelm 2010; Stocke 2010; Farrokhzad 2008; Raiser 2007).

III. S OZIALKAPITAL

UND

S CHLÜSSELPERSONEN

Bourdieu (1983) bestimmte neben den zentralen Dimensionen des ökonomischen und kulturellen Kapitals das soziale Kapital als wesentlichen Bestandteil der Ausstattung von Akteuren (vgl. Bourdieu 1983, 184f.). Mit Sozialkapital lassen sich im weitesten Sinne soziale Beziehungen und Kontakte beschreiben, die auf eine Gruppe oder ein Netzwerk bezogen sind und inhärente Synergie- und Verstärkungseffekte aufweisen, die letztlich im Zusammenspiel mit den übrigen Kapitalsorten die individuelle Position im sozialen Raum bestimmen (vgl. Abels 2010, 210). Sozialkapital kann als dauerhafte Ressource dienen (vgl. Offe/Fuchs 2001, 417) und Profite produzieren bzw. reproduzieren (vgl. Bourdieu 1983, 183). Wer über entsprechend einflussreiche soziale Beziehungen verfügt, wird andere Kapitalien anregen können, um beispielsweise Hürden im Bildungssystem oder auf dem Arbeitsmarkt flexibler zu umlaufen. Sozialkapital beinhaltet alle „[...] aktuellen und potentiellen Ressourcen, die mit dem Besitz eines dauerhaften Netzes von mehr oder weniger institutionalisierten Beziehungen gegenseitigen Kennens oder Anerkennens verbunden sind: oder, anders ausgedrückt, es handelt sich dabei um Ressourcen, die auf der Zugehörigkeit zu einer Gruppe beruhen“ (Bourdieu 1983,191).

In Bildungskontexten werden Zusammenhänge zwischen Kapital und reputationslastigen Bildungszertifikaten besonders offensichtlich (vgl. ebd.) und denjenigen, die bereits früh über entsprechende Ressourcen verfügen, wird ein uneinholbarer Vorteil zugeschrieben (vgl. Abels 2010, 215), da u.a. Netzwerke und

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Beziehungen zu einflussreichen Erfolgsfaktoren zählen können (vgl. Röhrle 1994, 2). James S. Coleman (1988; 1991; 2000) und Robert D. Putnam (2001) richten hier den Blick spezifischer auf Beziehungen zwischen AkteurInnen und auf Wirkungskräfte innerhalb von sozialen Netzwerken. Ihr Grundgedanke besagt, dass Netzwerke Effekte erzeugen, welche für die in ihnen eingebundenen AkteurInnen in unterschiedlichen Kontexten und Intensitäten von Wert sein können (vgl. Putnam/Goss 2001, 20). Sozialkapital „[...] ermöglicht die Verwirklichung bestimmter Ziele, die ohne [dasselbe] nicht zu verwirklichen wären. [...] Anders als andere Kapitalformen wohnt soziales Kapital den Beziehungsstrukturen zwischen zwei und mehr Personen inne. Es ist weder Individuen noch materiellen Produktionsgeräten eigen“ (Coleman 1991, 392).

Es beschreibt zudem Prozesse zwischen Menschen, die nur über bestimmte Indikatoren (zum Beispiel Meinungsäußerungen, Verhalten) sowie resultierende Wirkungen und Ergebnisse zu ermitteln sind (vgl. Cox 2001, 246). Die Intention, sich zu ‚vernetzen‘, und die damit einhergehende Orientierung an sozialen Gruppen geschehen dabei durchaus interdependent und planvoll, weil AkteurInnen in der Regel auf den Zugang zu Ressourcen hoffen, die von anderen kontrolliert werden (vgl. Coleman 1991, 389). Eine weitere Problematik generiert sich aus den Netzwerken selbst, indem dort exklusive und normative Ausgrenzungsprozesse angestoßen werden, die Dazugehörige fortdauernd bevorzugen, Außenstehende hingegen deutlich benachteiligen und damit Ungleichheiten vergrößern (vgl. ebd., 24). Gleichzeitig werden innerhalb dieser unterschiedlich exklusiven Netzwerke Verpflichtungen und Verbindlichkeiten geschaffen, die Kapitalien unterschiedlichster Ausformungen zurückfordern (vgl. Coleman 1991, 400f.). Da hier häufig Individuen „gleicher sozialer Position und gleicher symbolischer Verhaltensformen in Kontakt treten“ (vgl. Putnam/Goss 2001, 28f.; Abels 2010, 215), bestärken sie sich in ihren Einstellungen und Selbstbildern kontinuierlich und wechselseitig. Sozialkapital ist vor allem für die Karriereentwicklung moderner WissensarbeiterInnen von entscheidender Bedeutung und hat einen essentiellen Anteil an dort beobachtbaren Auf- und Abstiegsprozessen (vgl. Tymon/Stumpf 2003, 12f.). Mit Blick auf die Qualität der Verbindungen in Netzwerken lassen sich im Sinne Mark Granovetters (1973) signifikante Unterschiede hinsichtlich der Intensität, Dauer sowie Interaktionsdichte verschiedener AkteurInnen feststellen (vgl. Granovetter 1973, 1361-1365). Während ‚strong ties‘ mittels arbeits- und zeitintensiver Netzwerkpflege langfristig Solidarität, Vertrauen und sozialen

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Einfluss generieren, können ‚weak ties‘ eher zur Informationsbeschaffung herangezogen werden. Sie überwinden dabei erhebliche Distanzen, bilden Brücken (vgl. Thomsen 2010, 261) und gelten als Garant für „Mobilitäts-, Modernisierungs-, Innovations- und Diffusionsprozesse“ (Jansen 2000, 39f.). ‚Strong ties‘ dagegen können nur zu wenigen Personen aufrechterhalten werden und führen durch ihre exklusive Ausgestaltung immer wieder zu Prozessen sozialer Schließung. Zugleich wird ein erheblicher sozialer Druck impliziert, der kollektive Identitäten fördert, aber auch Ausstiegsszenarien deutlich erschweren kann (vgl. Jansen 2000,39f.). In Anlehnung an Granovetter (1983) sind es auch für Hochschulkarrieren vor allem die schwachen, weniger dauerhaften und intensiven Kontakte, die im Kontext des Sozialkapitals große Wirkungen für das Individuum entfalten können. „The fewer indirect contacts one has the more encapsulated he will be in terms of knowledge of the world beyond his own friendship circle; thus, bridging weak ties (and the consequent indirect contacts) are important in both ways“ (Granovetter 1983, 1370).

‚Weak ties‘ fungieren als Brückenverbindungen. Sie führen AkteurInnen aus unterschiedlichsten Kreisen zusammen und lassen Modernisierungs- und Leistungshoffnungen entstehen (vgl. Jansen 2000, 40). Die Einflussnahme und Förderung durch Dritte ist dabei von entscheidender Bedeutung (vgl. Abels 2010, 209), da sie als Schlüsselpersonen den Zugang zu Ressourcen, Kapitalien und Informationen kontrollieren. In Anlehnung an William F. Whyte (1996) und Kurt Lewin (1958, 199) sind Schlüsselpersonen strategische Informations-, Zugangs-, Verteilungs- und Selektionsfunktionen zuzuschreiben. Olaf Struck (2001) konkretisiert und spezifiziert diese Funktionen im Zusammenhang mit Übergangssystemen sowie -strukturen in Organisationen und Institutionen. Auf institutioneller Ebene sind Rahmenbedingungen und Handlungsvollzüge vorgegeben, die das Verhältnis in der Regel eindeutig hierarchisieren und formalisieren (vgl. Grundmann 2011, 67). Schlüsselpersonen können hier unmittelbaren Einfluss auf die individuelle Biographie derer nehmen, die (zwangsläufig) mit ihnen in Kontakt kommen (vgl. Klein 2010, 275), da sie institutionelle Vorgaben anwenden, kontrollieren und durchsetzen sowie Strukturen langfristig konstituieren (vgl. Struck 2001, 33f.). Sie verfügen über Entscheidungsautorität und werden daher ebenfalls für den Wechsel, Auf- oder Abstieg in und aus diesen Räumen heraus bedeutsam (vgl. ebd., 37). Sowohl in Bildungsbereichen als auch auf dem Arbeitsmarkt haben Schlüsselpersonen durch ihre institutionelle Machtposition Einfluss auf den Erwerb und die Zuteilung von (Bildungs-)Zertifikaten und Ressourcen (vgl. Schittenhelm 2010, 41; Struck 2001, 45f.).

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IV. D IE B EDEUTUNG VON S CHLÜSSELPERSONEN IN DER B ILDUNGSBIOGRAPHIE Der Kontakt zu Schlüsselpersonen zeigt sich im Kontext von Bildungsbiographien als unausweichliches Ereignis, wobei der Institution Schule eine vorrangige Bedeutung beigemessen wird (vgl. Farrokhzad 2010; Thomson 2010; Gomolla/Radtke 2009; Geißler 2008; Struck 2001 u.a.). Diese biographischen Erfahrungen tragen zur Modulation weiterer biographischer Abschnitte bei und beeinflussen Handlungsorientierungen (vgl. Farrokhzad 2010, 243f.), was im Folgenden exemplarisch an einigen Auszügen des zugrunde liegenden Datenmaterials aufgezeigt werden soll. Das Datenmaterial verweist mit Blick auf die jeweiligen familiären Schlüsselpersonen darauf, dass zunächst konträre soziale Lagen, kapitalbezogene interdependente Ausstattungen, habituelle Orientierungen und Passgenauigkeiten in Bezug auf die Institution Schule Bildungserfolge entscheidend beeinflussen, sollten Bildungsaspirationen familiär gefördert oder nicht gefördert werden (vgl. hierzu u.a. Soremski 2010, 54f.). Vprof2 betont in diesem Zusammenhang exemplarisch das große Engagement seines Vaters. „Aber er hat immer, wenn ich dabei war, den Lehrern schon deutlich gemacht, dass er von ihnen mittelmäßig viel hält und dass er nicht mit sich so reden lässt. [...] Also, das war klar, dass, wenn zwei, drei Lehrer meinten, mir eine Fünf geben zu wollen, dass die damit rechnen mussten, dass mein Vater da erst mal einläuft und mit denen redet, ne?“ (Vprof2)

Im Falle von Vprof2 gehörte der akademische Bildungsweg zum festen Erziehungsrepertoire der Eltern. Die Hochschulreife und ein anschließendes Studium waren stets und persistent im Fokus der Familie. Prof2 stammt dagegen aus einem bildungsfernen Elternhaus, welches mit dem vorliegenden Schulsystem vollständig überfordert war, so dass der Befragte bereits beim Eintritt in das deutsche Schulsystem ohne konsekutive Unterstützungsleistungen auskommen musste. Dezidiertes Einwirken von familiären Schlüsselpersonen auf die Bildungsorientierung der Kinder kann auch das Resultat sozialstruktureller Unterschiede oder eines als ungenügend empfundenen sozialen Status der Familie sein und ambivalente Wirkungen entfalten. Der Werdegang der Kinder soll Statusgewinne produzieren oder den Zugang der gesamten Familie zu einem höheren sozioökonomischen Milieu sicherstellen (vgl. Soremski 2010, 61). WissMA2 beschreibt diese Intentionen, die von Teilen seiner Familie ausgegangen sind, als äußerst belastend.

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„Ja, das darf man heute keinem mehr erzählen, aber [es war] schon so, dass ich so als [...] Kind bis [zur] Oberstufe und eigentlich [auch darüber hinaus] so einfach bestimmte Vorstellungen von Eltern, aber auch Verwandten erfüllen sollte. Das war schon irgendwo Zwang. Da war dieser Vetter, der es auch geschafft [hat], und das hieß: ‚Ja, hier kann man es schaffen! Also mach!‘ Hochschule ist in [meinem Heimatland] nicht für jeden.“ (WissMA2)

Kontraproduktiv zeigte sich die familiäre Ausgangssituation ebenfalls bei WissMA1, die ihrem zuvor ausgewanderten Ehemann nach Deutschland folgte. Tatsächlich angekommen ist sie jedoch nie und schreibt den Grund für ihren Aufenthalt maßgeblich ihrem Ehemann zu. „Ne, also wenn mir jetzt [jemand] sagen würde, du bekommst jetzt den alten Job, alles wird so wie damals sein: Ich würd sofort zurückgehen. Er nicht. Er hat sich hier total eingelebt und er fühlt sich wie zu Hause. [Mich] kostet [das] auch diese innere Überwindung. Ich kann das einfach nicht. Ich bin hier wegen ihm.“ (WissMA1)

In der Konsequenz kam es zu einer beruflichen Dequalifizierung, da der im Heimatland einschlägig berufstätigen Rechtswissenschaftlerin beim Übergang in den deutschen Arbeitsmarkt entsprechende Bildungszertifikate aberkannt wurden. Infolgedessen entschied sie sich für ein neues Studium im Sozial- und Gesundheitswesen. Der Einfluss des Ehemannes als Schlüsselperson war derart groß, dass es auch zu einer regionalen Sesshaftigkeit in der Nähe seines Arbeitsplatzes kam. WissMA1 wurde folglich durch diese Entscheidung zusätzlich berufsperspektivisch eingeschränkt. Bei der anschließenden Wahl ihres Arbeitsplatzes stellte sie eigene Interessen und Schwerpunkte vollständig zurück. Auch der Kontakt zu Schlüsselpersonen in Institutionen des Bildungswesens kann langfristige Folgen für den Bildungserfolg haben. So agieren in den Narrationen der Befragten verstärkt LehrerInnen als Zuteilungsinstanzen. MigrantInnen können mitunter den Anforderungen des deutschen Bildungssystems somit kaum allumfassend entsprechen, da der Migrationshintergrund stets als Beeinträchtigung wahrgenommen wird. Scheinbar objektive Bewertungsprozesse in Schulkontexten werden immer wieder durch soziale Kriterien irritiert (vgl. Geißler 2008), wobei das Lehrerverhalten ursächlich auf kulturalistischen Grundannahmen basiert und Leistungsdefizite auf Merkmale/Eigenschaften der SchülerInnen oder ihrer Familien zurückgeführt werden (vgl. Diefenbach 2011, 455). Dabei inkorporieren – oder zumindest repräsentieren – Schlüsselpersonen hier einen intransparenten und auf hegemonialen Ansprüchen der Institution basierenden Lehrplan (vgl. Hummrich 2009, 216). Derartige Grundhaltungen ver-

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deutlichen, dass „[...] auch die Ich-Ideale und die Idealisierungen in Bezug auf das eigene Handeln der LehrerInnen durch die Wahrnehmung von Fremdheit [...]“ (Hummrich 2009, 218f.) gestört sein können. Prof1 beschreibt für die Lehrer der gymnasialen Oberstufe einer ländlichen Schule große Irritationen beim Umgang mit migrationsspezifischer Heterogenität. „Für manche [LehrerInnen] war [es] gut, das ging alles und hat auch im Unterricht nicht so für die gestört. Andere hingegen, da war das totale Chaos. Die wussten nicht, wie sie nun [mit mir] umgehen sollen. [...] Da war es nur so, dass man nicht ins Bild passte.“ (Prof1)

Der Migrationshintergrund führt hier in unterschiedlichen Ausprägungen zu einer durchaus dauerhaften defizitären Klassifizierung (beispielsweise unter Verweis auf fehlende Sprachkenntnisse) und fördert institutionelle Bildungsbenachteiligungen, da vorherrschende Machtverhältnisse die Kategorie Ethnizität innerhalb der bestehenden sozialen Ordnung des Schulkontextes problematisieren und somit auch Verteilungsmechanismen anstoßen (vgl. Weber 2009, 223). VProf1 stammt aus einem akademischen Elternhaus. Beide Elternteile beeinflussten ihren Bildungsweg maßgeblich hin zu einer universitären Laufbahn, jedoch verweist VProf1 an vielen Stellen auf die große Sorgfalt der Eltern bei der Wahl der Schule. Hier wurden zum Beispiel umfangreiche Erkundigungen bezüglich des Lehr- und Lernklimas eingeholt. Nach Negativerfahrungen kam es auch zum Schulwechsel auf Initiative der Eltern. Infolgedessen gestaltete sich der Umgang mit Lehrpersonen in der Regel problemlos. Auch an Hochschulen nehmen institutionelle Schlüsselpersonen Einfluss auf Selektionsprozesse und Statuszuweisungen oder -distributionen, die Qualifikationen, Kompetenzen, Bildungsperspektiven sowie Bildungszertifikate bereitstellen oder verschließen (vgl. Müller u.a. 2011, 289). Neben tradierten und unreflektierten Lehrpraktiken wird der Verlauf universitärer Bildung durch exklusive Hochschul- oder Fachbereichskulturen und eine selektive Rekrutierung der StudentInnennschaft noch weiter erschwert (vgl. Münst 2008, 179f.; Read u.a. 2003). Die Befragten betonen hier Förderungen durch Schlüsselpersonen, die letztlich berufsperspektivisch Einfluss auf individuelle Schwerpunkte genommen haben. An diesen Stellen produziert bildungsspezifisches Sozialkapital arbeitsmarktrelevante Ressourcen. „Ja, es war klar, welche Schwerpunkte der [Professor] hatte, und ich habe mich dann schon daran orientiert, weil in dem [Schwerpunkt], der mich eigentlich am meisten interessierte, kannte ich gar keinen. [...] Daher bin ich dann halt etwas gewechselt und habe

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mich [auf den Arbeitsschwerpunkt der professoralen Schlüsselperson] konzentriert.“ (VProf1)

Für den Erwerb notwendiger Bildungszertifikate ist folglich verstärkt die Fähigkeit relevant, eigene Netzwerke zu knüpfen, um so soziales Kapital aufzubauen (vgl. Klein 2010, 273f.). So wurden die Zugänge der Befragten zu universitären Beschäftigungsverhältnissen überwiegend durch dort bereits Tätige gefördert und begünstigt, indem diese zum Beispiel Empfehlungen aussprachen, Kontakte herstellten oder die Befragten durch eigene Förder- oder Graduiertenprogramme individuell unterstützten. Als erstes Resümee ist auffallend, dass der individuelle Lebenslauf aller Befragten immer wieder von Institutionen (Familie, Schule, Universität) und hier verorteten Schlüsselpersonen (zum Beispiel Eltern, LehrerInnen, ProfessorInnen etc.) reguliert sowie geprägt wurde und wird. Je nach Intensität lassen sich Zusammenhänge feststellen, bei denen vorangegangene Phasen für zukünftige maßgeblich prägend sind. Im Zusammenspiel dieser beiden Einflussfaktoren erweisen sich Bildungszertifikate ebenfalls als ein Resultat von Aushandlungsprozessen (vgl. Nohl u.a. 2010, 12). Schlüsselpersonen sind äußerst ambivalent strukturiert und mitunter Fördernde, Hemmende, Bewertende und Zertifizierende zugleich. Es lassen sich darüber hinaus Handlungsschemata extrahieren, in deren Verlauf erfahrene negative Erlebnisse im Rahmen der eigenen Berufstätigkeit nachträglich legitimiert werden. Demgegenüber werden förderliche Verhaltensweisen reflexiv betrachtet und systemkonträr, meritokratisch oder systemkonform inkorporiert. Damit wirken biographische Erfahrungen mit Schlüsselpersonen mittelbar in eine spätere Berufs- und Handlungspraxis hinein. Systemkonträre Die Wirkungsweisen biographischer Erfahrungen in Bezug auf die berufliche Handlungspraxis sind mehrdimensional und nur vorsichtig in einen Kausalzusammenhang zu bringen. Dennoch lassen sich Handlungstypen aggregieren, darunter so genannte Systemkonträre (Prof1 und VProf2), die Handlungspraktiken auf ihrer Wahrnehmung eines umfänglich defizitären Bildungssystems gründen und dadurch begründen. Die Befragten verweisen dabei auf negative Erfahrungen mit Schlüsselpersonen vor allem auf schulischer Ebene (vgl. hierzu auch Farrokhzad 2008, 258). Obwohl Prof1 und VProf2 aus einem bildungsnahen Elternhaus stammen, sahen sie sich im Laufe ihrer Schullaufbahn mit Barrieren und Hürden konfron-

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tiert, denen auch elterliche Interventionen und Ressourcenaufwendungen nur bedingt kompensatorisch entgegenwirken konnten: Grundsätzlich gelang es ihnen zwar, zum Beispiel den Verbleib in der gymnasialen Schullaufbahn zu sichern und zum Teil herausragende Leistungszertifikate zu erzielen, jedoch mussten die Leistungsansprüche, diskriminierende Lehrpraktiken und alltägliche Irritationen durch Fremdheitserfahrungen eigenständig bewältigt werden. Diskriminierungstendenzen von tradierten und auf homogene Leistungsgruppen zielenden Bildungsinstitutionen finden beide Befragten makroperspektivisch vor allem in gesellschaftlichen Diskursen und in ihrem eigenen Tätigkeitsfeld Hochschule wieder. Neben schichtspezifischen Zuschreibungen, Klassenzugehörigkeiten und kulturalistischen Denkweisen sowie Disparitäten zeigen sie vor allem fehlende Toleranzen gegenüber Sprechweisen (Akzent, Sprachklang etc.) als wesentliche Quelle für stereotypisierende und diskriminierende Prozesse im eigenen Berufsfeld auf. „Ich finde dies schon sehr problematisch, dass, wenn sowas immer im Raum steht und sich gesellschaftlich auch in vielen Bereichen findet. Belohnt wird, wenn Leistung da ist und wenn Vorschriften, formalen Vorgaben und dies[en] Standards, Gesellschaftsstandards entsprochen wird. Dann ist zum Beispiel Sprache immer ein Problem, da man Akzent und dergleichen nicht wegbekommt ohne Weiteres. Dann ist man erst einmal irgendwo besonders, aber auch nicht generell im Positiven. Man entspricht nicht, was so gesellschaftliches Bild von Bildungsbürger ist. Man ist oder man hat in gewisse[n] Bereich[en] einfach eine Auffälligkeit, Sprache nur ein Beispiel.“ (Prof1)

Im (Hoch-)Schulsystem nehmen die Befragten zuvorderst sprachliche Konformität als Partizipationsgrundlage wahr. Im Sinne einer meritokratischen Bildungsordnung nach Maßgabe der Begabung und Leistungsfähigkeit des Einzelnen – entgegen beispielsweise askriptiven Merkmalen (vgl. Becker/Hadjar 2011, 39) – wird Sprache von den Befragten zudem als eine Art Qualifikationskriterium für die grundlegende gesamtgesellschaftliche Teilhabe dargestellt. Hier geht es keinesfalls um Sprachkompetenz, sondern lediglich um den Verweis auf eine existente und vorherrschend legitime Sprache sowie um die Bekräftigung von Machtverhältnissen gegenüber denjenigen, die von der dominanten Sprache abweichen (vgl. Mecheril/Hoffarth 2009, 250). Sprache wird und wurde, so bewerten es die Befragten, zu einem universellen und omnipräsenten Beurteilungskriterium für Schlüsselpersonen. In ihrer eigenen Handlungspraxis stützen sich beide stringent auf pädagogische Grundsätze:

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„Die [Schlüsselpersonen] haben ganz andere Zielsetzungen, [...] dieses [...] permanente und ununterbrochene Bewerten von allem. [...] Was so ein Hochschuldozent oder Lehrer, der zweihundert Lernende im Semester oder Halbjahr durchjagen muss, wie sehr der das korrekt machen kann?“ (VProf2)

Rückblickend auf die eigenen Erfahrungen als Schüler und seine eigene lehrbezogene Tätigkeit in Schul- und Universitätskontexten kritisiert VProf2 diese Agitation im Sinne einer Systemkonformität entgegen pädagogischer Verantwortung scharf. In ihrer aktuellen Berufspraxis sehen beide Befragten jene Verhaltensweisen als förderlich, die grundsätzlich institutionell tradierten Selektionen und Vorgaben entsprechen, lern- und lehrhomogene Gruppen schaffen und damit exklusiv wirken, da alle Abweichungen eines für den Bildungserfolg notwendigen Status quo exkludiert werden. Die Bewertung von Leistung ist in diesem Zusammenhang für beide Befragten stets nur bedingt durch Lehrpläne kontrollier- und steuerbar, da sich soziale Bewertungskriterien (vgl. Geißler 2008) immer wieder als feste Größen etablieren. „[...] Die Noten und diese Selektionsflut find ich schon interessant, aber vielleicht ist das auch dieses Symptom oder Syndrom der Ordnungswut, die man Deutschland ja häufig unterstellt. [...]Es gibt für alles eine Lösung, und zwar keine Lösung, die man durch die pädagogische Verantwortung irgendwie bewältigt, sondern dafür gibt es eine andere Lösung, [ein] anderes Fließband, wo wir den nur hinschicken müssen.“ (VProf2)

In der eigenen Praxis in Hochschulkontexten greift sowohl Prof1 als auch VProf2 entgegen tradierter Prüfungsformen und Bewertungsschemata zu flexibleren Leistungsmessungen. Das heißt, beide schließen gewisse Kriterien aus der Bewertung bestimmter StudentInnengruppen kategorisch aus und gehen dazu über, nach eigener Einschätzung angemessene Richtlinien in der Bewertungspraxis einzusetzen, wobei Prof1 durch ihre gesicherte institutionell-strukturelle Position im Hochschulsystem deutlich größere Freiräume für sich beanspruchen kann als viele der übrigen Befragten. Dies legitimiert Prof1 an mehreren Stellen mit dem Verweis auf Art. 5 Abs. 3 GG (Freiheit der Lehre). „Ich [vertrete die Ansicht], dass ich nicht so [nicht einheimische] Studierende bewerten kann wie zum Beispiel bei Einheimischen. Das geht nicht und das wäre auch nicht korrekt. [...] Das ist nicht immer möglich, aber grundsätzlich muss es bei [der] Bewertung immer so sein, dass bestimmte Sachen wegfallen [Anmerkung: Benannt werden auf Nachfrage zum Beispiel Sprache, Formalien, Rechtschreibung und der Verzicht auf oder die

196 | S VEN K ATHÖFER Modifikation von bestimmten Prüfungsformen (Referat, mündl. Prüfungen, Hausarbeit)]“. (Prof1)

Grundsätzlich fühlen sich beide institutionellem Druck in Form von Bewertungsund Leistungsstandardisierungen ausgesetzt, das heißt mit teils relationalen (kollegial-bilateralen Absprachen), teils formalen Richtlinien (Modulrichtlinien) konfrontiert, die entsprechende Alternativhandlungen durch eine bestehende Fachbereichskultur (vgl. Read u.a. 2003) oder akkreditierte Prüfungsordnungen einschränken5. Dementsprechend berichten die Befragten über Erfahrungen, in denen Eigenengagement und Reformwille von anderen KollegInnen eher kritisch bis ablehnend betrachtet wurden. Zumeist zeigte sich auch, dass Mehr- und Konzeptionierungsarbeiten grundsätzlich von den Initiatoren derartiger Innovationen (zum Beispiel flexiblere Prüfungsformen, Bewertungsschemata oder Unterstützungsangebote) umgesetzt werden mussten: „[...] weil allen klar war, dass das schon sinnvoll ist, dass der das macht. [Vor allem] wenn man es selber nicht machen möchte“ [VProf2].

Darüber hinaus kam es bei beiden Befragten im Rahmen ihrer gefestigten Position zu einer Umdeutung der eigenen obligatorischen Beratungspraxis im Kontext der Hochschullehre, in der sie heute eher als „Mentor statt Berater“ [Prof1] agieren. Dies führt zu einer deutlich sensibilisierten Beratungs- und Betreuungspraxis, in der „[…] man selber das Gespräch auch ein bisschen [...] so gestaltet, dass man auch was rausbekommt, weil bisher [außerhalb der universitären Vollzeitanstellung] ist es doch tatsächlich so [gewesen], dass die Initiative von denen [hilfesuchenden Studierenden] ausgehen musste.“ (VProf2)

In diesem Zusammenhang wirken auch soziale Kriterien, die ebenfalls mit der eigenen Lern- sowie Lehrbiographie korrelieren und durchaus als positive Diskriminierung eingestuft werden können, da gewisse Merkmale (zum Beispiel ein Migrationshintergrund, fehlende Sprachkenntnisse, defizitäre soziale Lage) zu einer Verhaltensänderung in der Beratung und Bewertung führen.

5

Beide benennen hier beispielsweise das in vielen Studiengängen obligatorische Kolloquium, in dem mündlich umfassend Stellung zur eigenen Abschlussarbeit genommen werden muss.

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„Hundertprozentig geb ich denen in der Regel zwei Noten besser, als man eigentlich nach Aktenlage geben sollte: [In diesem Fall] bin ich der positive Diskriminierer überhaupt.“ (VProf2)

Hier wird ein ‚Nachteilsausgleich‘ konstruiert, der bei kritischer Betrachtung durchaus negative Folgen bereithalten kann (zum Beispiel Fehleinschätzungen der Lernenden in Bezug auf die eigenen Leistungen, Unverhältnismäßigkeit bei der Bewertung und Vergabe von Leistungsnachweisen für Prüfungen, ungleicher Betreuungsschlüssel). Während VProf2 die Betreuung von förderbedürftigen Lernenden um zusätzliche Beratungsangebote und Unterstützungsleistungen ergänzt, beschreibt Prof1 eine Konzentration auf Bedarfsfälle innerhalb ihrer regulären Arbeitszeit. „Es gibt Fälle, die haben Vorrang, werden vorrangig behandelt, weil [es] da Bedarf gibt, und da muss mehr Zeit [ein]geplant werden, weil es notwendig ist. Andere Fälle haben günstigere Ausgangslagen, sind nicht so fremd im System, kennen sich aus.“ (Prof1)

In diesem Kontext erwähnt Prof1 auch, dass sie bewusst und aktiv Hilfskräfte und MitarbeiterInnen nach dem Kriterium eines vorhandenen Migrationshintergrunds auswählt. Im Umkehrschluss ist dies ein unüberwindbares Ausschlusskriterium für übrige BewerberInnen und im Falle öffentlicher Ausschreibungen durchaus problematisch zu sehen, da diese Stellen durch nicht offensichtliche Ordnungs- bzw. Zulassungskriterien tatsächlich nur eingeschränkt verfügbar sind. Zudem schreibt Prof1 einheimischen Lernenden generell eine bestimmte Kenntnis des Bildungssystems zu und geht von einem gesicherten „Level, auf dem die [Einheimischen] sich befinden“ (Prof1), aus. Potentiell einhergehende Benachteiligungen werden damit ausgeklammert. MeritokratikerInnen Im Gegensatz zu den zuvor beschriebenen kritischen Haltungen und Handlungen von Systemkonträren im Rahmen von Hochschultätigkeiten fokussieren MeritokratikerInnen (Prof2) das Grundideal eines leistungsbezogenen Verhaltens- und Bewertungsprinzips in ihrem Arbeitsfeld. Im Fall von Prof2 begründet sich diese Haltung zum einen auf sehr positive Erfahrungen (ausschließlich) im Zusammenhang mit der eigenen universitären Bildungsbiographie und zum anderen auf erfahrene leistungsbezogene Aufstiegschancen. Dies bedeutet keinesfalls, dass ausschließlich positive Erfahrungen mit strukturellen und personellen Instanzen in Bildungskontexten gemacht wurden. Vielmehr stellten sich gerade auf schuli-

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scher Ebene massive Probleme durch exkludierende Praktiken ein, die den Erwerb von qualifizierenden Bildungszertifikaten zunächst unmöglich machten. Anders als die zuvor beschriebenen Befragten verfügte Prof2 in seinem biographischen Werdegang kaum über bildungsrelevantes Kapital oder Netzwerke, so dass defizitäre und strukturell-diskriminierende Ereignisse sowie Irritationen im schulischen Rahmen nicht durch entsprechende Schlüsselpersonen kompensiert werden konnten, da beispielsweise seine Eltern weder über eine ausreichende Kenntnis des deutschen Bildungssystems verfügten noch einen hochqualifizierten Bildungsabschluss als vornehmliches Migrationsziel der eigenen Kinder anvisierten. „Bei mir ist ja die Biographie in der Hochschule ohne Ausnahme eigentlich nur positiv verlaufen. Ich war total überrascht. [...] Weil, ich wurde ja bis dahin nie gefördert [...] ich hätte das Zeug dazu, mehr hat er [der Professor] auch nicht gesagt. Den Rest hab ich natürlich selber in die Wege geleitet. [...] Das hat mein Bild von Uni schon sehr geprägt.“ (Prof2)

Prof2 verweist an vielen Stellen des Interviews auf seine profiliert meritokratische Grundeinstellung. Diese resultiert zum Teil aus positiven Erlebnissen mit flexiblen und offenen universitären Strukturen, in denen er sich als Bildungsaufsteiger, der zunächst über keine nennenswerten ökonomischen, kulturellen und symbolischen Kapitalien verfügte, kontinuierlich bewähren konnte und somit letztlich auch in Kontakt mit Schlüsselpersonen und entsprechenden Netzwerken kam. Neben der Hervorhebung von einzelnen Schlüsselpersonen verweist Prof2 immer wieder auf seinen hohen Eigenanteil am persönlichen Bildungserfolg und das hierzu notwendige Engagement. Letzteres beinhaltet für ihn heute, trotz seiner zum Teil krisen- und konfliktbehafteten Bildungsbiographie, die unbedingte Notwendigkeit einer intrinsischen Leistungsorientierung sowie einer Annäherung an vermeintlich formale universitäre Anforderungen. In diesem Zusammenhang thematisiert Prof2 die Unentbehrlichkeit der (angemessenen) Beherrschung der deutschen Sprache in Universitätskontexten, wobei er selbst erhebliche Defizite aufzuarbeiten hatte. Rückblickend erinnert Prof2 sowohl positive als auch negative Diskriminierungserfahrungen, die in seiner derzeitigen beruflichen Tätigkeit handlungsleitend sind. „Der [Dozent] hat mir bei einer Hausarbeit – im ersten Semester war es, glaub ich – hat er mir eine Drei gegeben und hat gesagt: ‚Na ja, man kann auch sowas, man kann auch ruhig eine Vier oder sogar eine Fünf geben.‘ Ich hab gesagt: ‚Wieso haben Sie das nicht ge-

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macht?‘ Dann sagte er: ‚Ja, ich dachte, Sie sind Ausländer.‘ Damals hat man sogar den Begriff benutzt [...] Und: ‚Ich wollte, dass Sie durchkommen!‘“ (Prof2)

Derartige Ereignisse begleiteten Prof2 kontinuierlich und werden von ihm an vielen Stellen als Bestandteil seiner Hochschulausbildung und Berufslaufbahn beschrieben. „Ich habe [auch] bei Bewerbungen so positive Diskriminierung erfahren. [Teilweise] war ich auch stinksauer, weil [in einem Fall] hat [jemand] gesagt: ‚[Prof2], du bekommst die Stelle, weil du Migrant bist.‘ Und ich habe gesagt: ‚Wenn ich die Stelle bekomme, weil ich Migrant bin, dann WILL ich sie auch gar nicht!‘ Deshalb sollte der mich nicht nehmen. [Das] hätte ich [...] an der Stelle von diesem Kollegen in diesem Zusammenhang auf dieser Ebene NICHT erwartet.“ (Prof2)

In seiner berufspraktischen Beziehung zu StudentInnen in Lehre und Forschung herrscht heute ein am Leistungsprinzip orientiertes Verhalten vor, bei dem Migrationshintergründe weitestgehend ausgeblendet werden. Als erklärtes Ziel geht es ihm darum, positive Diskriminierungen – also eben solche, die er im Zuge seiner universitären Karriere immer wieder selbst erfahren hat – und ‚unprofessionelle‘ sowie leistungsunangemessene Verhaltensweisen auszuschließen. In diesem Zusammenhang erwähnt Prof2 wiederholt die Begrifflichkeit „Migrationsbonus“, den es zu verhindern gelte, da dadurch eine fachliche und qualifikatorische Angleichung von MigrantInnen und Nicht-MigrantInnen niemals möglich sei sowie faktische Kompetenzen stets intransparent blieben. „Also, ich sag mal so: Wenn eine Studentin oder ein Student gut ist, wo ich dann das Gefühl habe, der ist förderungswürdig, dann betreue ich die intensiv und unabhängig davon, ob jemand einen Migrationshintergrund hat oder nicht. [...] Aber wenn sie schlecht sind, dann ist es mir egal, was sie sind. [...] Darauf achte ich schon. Aber nicht, weil sie Migranten sind, sondern [...] weil sie die LEISTUNG bringen, dass ich dann sage: ‚Ja, man kann ja schauen, ob man die fördern kann.‘“ (Prof2)

Anders als für die Systemkonträren sind für Prof2 eine umfassende Sprach-, Schreib- und Artikulationsfähigkeit in der Landessprache des Aufnahmelandes fundamental für eine erfolgreiche Bildungslaufbahn. Darüber hinaus forciert er diese Fähigkeiten als Qualifikationsmerkmale und Nachweise, die überhaupt erst eine intensivere universitäre Förderung rechtfertigen. Generell gilt für ihn: Gefördert werden jene, die nachweislich und eigeninitiativ Leistungen erbringen, die sich im universitären Arbeitsbereich aus der Masse herausheben. Im Umgang

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mit MigrantInnen wird dieses Grundprinzip zum Bestandteil seiner selbstgelebten Praxis als Schlüsselperson. Für Lernende mit Migrationshintergrund ergeben sich so zusätzliche Anforderungskriterien, die Prof2 immer wieder mit seinen eigenen Erfahrungen im Umgang mit entwicklungsförderlichen Schlüsselpersonen auf universitärer Ebene in Verbindung bringt. „Natürlich versuche ich sie zu fördern, aber was ich nicht mache ist, dass sie einen Migrationsbonus haben. [...] ich habe das Gefühl, bei Migranten schaue ich sogar noch kritischer drauf, was Sprache und Schreibstil angeht, damit ich dann zurückmelden kann, dass sie darauf achten.“ (Prof2)

Wie bereits exemplarisch an VProf2 dargestellt, werden auch an Prof2 zahlreiche zusätzliche Beratungsanfragen herangetragen, die mittel- oder unmittelbar mit einem Migrationshintergrund in Verbindung stehen. Da Prof2 darüber hinaus im Kollegium für einen strikten Leistungsbezug und ein stets vergleichbares Bewertungsschema für alle StudentInnen wirbt, wird er immer wieder – teils eigeninitiativ, teils ungewollt – in Beratungskontexte anderer KollegInnen involviert bzw. übernimmt diese umfänglich. „Zum Beispiel, ich sage auch Studierenden, wenn Kollegen sich das nicht trauen, sage ich das lieber, wenn das mit Deutsch nicht funktioniert. Also, das sage ich denen, und das nehmen sie von mir eher an, als [wenn] zum Beispiel ein urdeutscher Kollege das sagt. Und das nehmen sie mir auch ab, weil ich sage, ich habe dasselbe Problem auch gehabt. Wir müssen darauf achten, und wenn das nicht funktioniert, dann funktioniert das Studium auch nicht [...].“ (Prof2)

Anders als Prof1 und VProf2 empfindet Prof2 die universitären Strukturen für die darin befindlichen StudentInnen mittels Leistungsbereitschaft und Eigenengagement als beherrschbar. Damit negiert er zum Teil strukturelle Defizite von Hochschulen und schreibt Schieflagen sowie Probleme innerhalb des Studiums anderen Ursachen zu. Die Schlussfolgerung aus dieser Kenntnis von Bildungsbenachteiligung und Problemlagen einhergehend mit Migration ist ein weiterer Verweis auf die notwendige Leistung und das notwendige Engagement von Lernenden. Aufgedeckte Problemlagen sollen demgemäß weniger strukturell abgemildert oder kompensiert, sondern primär durch Eigenleistungen aufgearbeitet werden.

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Systemkonforme Systemkonforme (WissMA1, WissMA2, VProf1) agieren sehr stark im Sinne der formal vorgegebenen Fachbereichsordnungen und orientieren sich dabei an den vorgefundenen Fachbereichskulturen – obwohl die Befragten zum Teil emotional belastende Erfahrungen mit migrationsspezifischen Problemlagen in ihrer Biographie beschrieben haben, in denen Grenzziehungserfahrungen, Ausschluss, gesellschaftliche Abwertung, Isolation und Ablehnung elementare sowie fortlaufende Bestandteile ihrer Immigrations- und Bildungsgeschichte darstellten. Während WissMA2 und VProf1 in allen relevanten Phasen der institutionellen Bildungslaufbahn Kontakt zu schulischen und universitären Schlüsselpersonen hatten und sämtliche Bildungszertifikate von ihnen in Deutschland erworben wurden, stellt sich die Situation im Fall von WissMA1 anders dar: Die Befragte absolvierte neben der Schulausbildung auch eine erste universitäre Laufbahn im Bereich der Rechtswissenschaften in ihrem Heimatland und entschied sich dann für die Auswanderung nach Deutschland. Im Zuge des deutschen Anerkennungsverfahrens für ausländische Hochschulabschlüsse wurden WissMA1 alle bereits erworbenen Bildungszertifikate abgesprochen, so dass ein erneutes Studium erforderlich wurde. Die Orientierungsphase der Studienwahl kennzeichnete sich vor allem durch mangelhafte und teilweise abwertende Beratungen an den favorisierten Hochschulen. „Ich bin da manchmal total frustriert rausgekommen. Sie [die Beratungsstellen] wissen eigentlich, was das [für einen] bedeutet, wenn man da hinkommt und man ist gerade aus [einem anderen Land] gekommen. Und dann wird man so schlecht beraten oder gar nicht [beraten]. Ich hätte mehr kämpfen können und dann hätte es doch irgendwie [eine Lösung gegeben], aber da war ich schon [zu] sehr entmutigt.“ (WissMA1)

Zur damaligen Zeit sah sich WissMA1 dazu gezwungen, einen Studiengang in einem anderen Fachgebiet aufzunehmen, da ihr der Zugang zu rechtswissenschaftlichen Fachbereichen gänzlich verwehrt wurde. Nach einer Phase der Frustration entschied sich die Befragte für eine strikte Orientierung an den Vorgaben und Regelungen des deutschen Bildungswesens: „Ich habe mich also damit abgefunden und das so gemacht, wie es vorgegeben war“ (WissMA1). Dieses hier beschriebene ‚Sich-Abfinden mit den Gegebenheiten‘ begleitet und bestimmt alle bildungsbiographischen Passagen im Lebenslauf der Befragten (WissMA1, WissMA2 und VProf1) und beeinflusst darüber hinaus auch ihre aktuelle Handlungspraxis in universitären Kontexten. Alle drei Befragten schildern in den Interviews negative Erfahrungen mit Schlüsselpersonen und strukturelle Benach-

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teiligungen, jedoch werden diese als Bestandteile des Bildungssystems akzeptiert, relativiert und aufgrund ihrer vermeintlich formalen Fundierung (zum Beispiel durch Gesetze oder Prüfungs- und Zulassungsverordnungen) als gerechtfertigt empfunden. Systemkonformität bedeutet auch, die Beziehung zu ehemaligen und aktuellen Schlüsselpersonen im akademischen Werdegang teilweise vollkommen neu zu interpretieren. Infolgedessen wird ebenfalls die gesellschaftlich wahrgenommene und selbsterlebte Argumentationslogik entschuldbar, die von einer stets defizitären Ausgangssituation von MigrantInnen (zum Beispiel aufgrund sprachlicher Defizite) im Bildungssystem insgesamt ausgeht. „Es kommt immer wieder vor, aber nicht so häufig, wie ich schon sagte. Kann sein, dass Menschen einfach so unangemessen reagieren wegen meinem Akzent zum Beispiel oder so. Das ist ja halt normal. Ich würd vielleicht mal auch so reagieren, wenn es in [meinem Heimatland] wäre.“ (WissMA1)

Diskriminierungen und Benachteiligungen auf universitärer Ebene, die ursächlich auf den Migrationshintergrund zurückzuführen sind, werden in dieser Argumentationslinie (und dies zeigt sich in Ansätzen bei allen Befragten) um eine Inkompatibilität auf Seiten der MigrantInnen zentriert. „Es ist ja doch nun [der Fall], dass das deutsche [Hochschulsystem] eben für Deutsche gemacht ist, und wenn ich da hinwill, dann ist es halt so. Dann muss ich mich da orientieren und mich da dran auch richten. Wenn jemand [in mein Heimatland an die Universität] geht, dann muss der das genauso machen. Da gibt es auch andere Strukturen.“ (WissMA2)

Bildungsspezifische Konflikte und Problemlagen sind gemäß dieser Argumentationslinie eine Folge von fehlender oder mangelhafter struktureller Anpassung. Die Befragten sehen diese Auffassung durch die eigene Bildungs- und Berufskarriere bestätigt. Systemkonformität geht dabei nicht unmittelbar mit einem defizitären Verständnis von Migration einher. Vielmehr wird diese zunächst als Chance und Ressource begriffen und erst bei ausbleibenden Anpassungsbestrebungen der MigrantInnen als problematisch beschrieben. In allen drei Erzählungen fällt auf, dass gegenüber universitären Bildungseinrichtungen (vgl. MeritokratikerInnen) sehr positive Einstellungen vorherrschen. Das deutsche Bildungssystem wird, obwohl nur WissMA1 biographische Vergleichsmöglichkeiten hat, als vorbildlich hervorgehoben. Im Kontext der vorliegenden Beschäftigungsverhältnisse sind derartige Aussagen natürlich immer im strukturellen Zusammenhang zu sehen, da sich die Befragten am Beginn

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ihrer wissenschaftlichen Laufbahn befinden und weder Schlüsselpersonen noch Fachbereichskulturen widersprechen möchten – auch dies wird anhand des Datenmaterials ersichtlich. Vor allem mit Blick auf exkludierende Praktiken von Schlüsselpersonen in Institutionen wird hier die Wirkungsmacht von sozialen Netzwerken erkennbar, in denen sich die Befragten bewegen und von denen sie eine Sanktionierung von oppositionellem Verhalten befürchten, die der eigenen Berufskarriere entgegenstehen könnte. Alle drei InterviewpartnerInnen geben hierzu Hinweise auf existente und beeinflussende Macht- und Hierarchiestrukturen an ihren Fachbereichen, die sie zu Handlungen nach Weisung zwingen. Die Anpassungsleistung und Systemkonformität sind im Fall von VProf1 und WissMA2 derart inkorporiert, dass sie den eigenen Migrationshintergrund – nicht nur in Arbeitskontexten – „wie eine zweite Haut abgelegt“ (VProf1) oder „fast völlig verdrängt“ (WissMA2) haben. Natürlich ist nie auszuschließen, dass Berufskarrieren mit einer schrittweisen rollenspezifischen Eingliederung und Anpassung an vorherrschende institutionelle Normen einhergehen, jedoch liefern die Befragten VProf1 und WissMA2 an vielen Stellen Hinweise darauf, dass ein derartiges Verhalten für gesamtgesellschaftliche Kontexte insgesamt gilt und im Sinne einer migrationssoziologisch gefassten Assimilation beschrieben werden kann (vgl. Aumüller 2009, 42f.). Für beide ist beispielsweise eine Rückkehr in das jeweilige Herkunftsland undenkbar: „Das ist für mich nur noch Erinnerung. Nicht mehr. Das war ein anderes Leben“ (VProf1). Wie bereits geschildert wurde, war der Umgang mit Schlüsselpersonen vor allem durch intrinsische „Strebsamkeit“ (VProf1) und aktive „Anpassung“ (WissMA2) problemlos zu gestalten. Damit wurden beide Befragten frühzeitig gewahr, dass systemkonformes Verhalten und die Orientierung an standardisierten Leistungsansprüchen mit Bildungserfolg und Anerkennung einhergehen. Fehlverhalten (zum Beispiel Alltagsrassismus, Diskriminierung), institutionelle und strukturelle exklusive Gegebenheiten (zum Beispiel exklusive Fachbereichskulturen) sowie intransparente soziale Kriterien (zum Beispiel positive oder negative Diskriminierung bei der Bewertung von Leistungen) werden im Zuge dessen als institutionelle Statuten des Bildungswesens hingenommen. „Ich würde [in der Situation von Diskriminierung und Ungleichbehandlung] mal einfach den Studierenden raten, [...] das persönlich [mit dem betroffenen Dozenten zu] klären. In der [Situation] sind mir einfach die Hände gebunden. Ich kann es einfach nicht. Ich kann selber diese Situation nicht regeln. Ich würd das gerne tun, also, das ist eine Unverschämtheit, finde ich. Aber ich kann das nicht machen und ich würd das auch nicht.“ (WissMA1)

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Obwohl die drei Befragten in unterschiedlichen Fachbereichen und Schwerpunkten arbeiten, sind u.a. der Kontakt zu Lernenden, einhergehend mit Beratungs- und Bewertungsaufgaben, sowie die Einbindung in einen bestehenden Lehrkörper mit entsprechenden Kontakten zu KollegInnen gegeben und vergleichbar. Die Möglichkeit eigener Einflussnahme in Fällen personeller und struktureller Diskriminierung im Rahmen der eigenen Tätigkeit halten alle drei für unrealistisch. Eine rollenspezifische Verantwortung als Schlüsselperson in (potentiellen) Konfliktfällen wird unter Bezugnahme auf strukturelle und hierarchische Gegebenheiten teilweise bzw. gänzlich abgelehnt oder ‚wegdelegiert‘. Gleichzeitig wird die Eigenverantwortung von StudentInnen mit Migrationshintergrund deutlich hervorgehoben. Die Befragten projizieren Bildungsmisserfolg, sprachliche Defizite und mangelnde Integration in die gesellschaftlichen sowie institutionellen Strukturen verstärkt auf die betroffenen StudentInnen. „Die Studis, die sind auch so in Watte gepackt. Wirklich. Also, sie bekommen Hilfe aus allen Richtungen, aus allen Ecken und Enden. Sie müssen nur signalisieren, dass sie [einen] Bedarf haben, dann bekommen sie schon wenigstens da zwei Personen oder drei Personen [an die Seite gestellt].“ (VProf1)

Parallel werden die Barrieren, die der Einmündung ins deutsche Hochschulsystem im Weg stehen, als zu niedrig bewertet. Dies geschieht nicht allein durch den Verweis auf spezifische Mindeststandards (zum Beispiel Sprachkompetenzen in der Amtssprache, interkulturelle Kompetenz), sondern auch durch die Berufung auf die exklusive Positionierung von Hochschule allgemein. Damit einhergehend wird die Forderung nach einer stärkeren Selektion der StudentInnen ersichtlich, die gleichzeitig elitäre fachbereichsspezifische Strukturen verstärkt reproduzieren würde, womit sich die Befragten wiederum Haltungen aneignen, die im Rahmen ihrer beruflichen Netzwerke Bestätigung finden.

V. ABSCHLIESSENDE B ETRACHTUNG Alle Befragten erinnerten sich dezidiert an Diskriminierungserfahrungen im Zusammenhang mit ihrer spezifischen Biographie (vgl. Farrokhzad 2008, 258) und das Datenmaterial verweist auf Kausalitäten zwischen selbsterlebten und selbstgelebten Praktiken als Schlüsselpersonen im Sinne der skizzierten Ansätze zum Sozialkapital. Zudem bestätigt sich, dass personelle und institutionelle Hürden (vgl. Gomolla/Radtke 2009) von Befragten aus kapitalstarken Herkunftsmilieus deutlich unproblematischer überwunden werden konnten.

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Vor allem für den Kontext der Schule und Hochschule schilderten die Befragten Negativerfahrungen bis hin zu erlebten Diskriminierungen, Isolierungen und Ausgrenzungen. Diese Erfahrungen werden in Bezug auf die Hochschule in der Regel als weniger schwerwiegend dargestellt. Die Befragten begründen dies damit, dass universitäre Strukturen zumeist durch Wahlfreiheit und Freiwilligkeit charakterisiert werden könnten. Zugleich ist die Kontaktfläche zwischen StudentInnen und einzelnen Schlüsselpersonen geringer und weniger intensiv als in schulischen Kontexten. Alle Befragten frequentierten verstärkt Schlüsselpersonen, denen sie positive bzw. förderliche Eigenschaften zuschrieben. Befragte aus bildungsnahen und kapitalstarken Herkunftsfamilien nahmen den sozialen Raum der Hochschule innerhalb ihrer jeweiligen Fachgebiete insgesamt deutlich weniger befremdlich war (vgl. Read u.a. 2003), was Zugangs- und Vernetzungsbestrebungen wesentlich vereinfachte. Inwieweit die zunehmende ‚Verschulung‘ und ‚Modularisierung‘ universitärer Strukturen diese Möglichkeiten und Ausgangslagen beeinflussen, ist offen und empirisch unerschlossen. Der Wechsel von Bezugs- bzw. Schlüsselpersonen und zugehörigen Netzwerken bedeutet einen erheblichen sowie ressourcenintensiven Mehraufwand. Zu reell erscheint die Gefahr, den Zugang zu bereits bestehenden Beziehungsstrukturen sowie sozialen Kapitalien zu verlieren (vgl. Putnam/Goss 2001, 2427) und damit die eigene Ausgangssituation ggf. nachhaltig zu destabilisieren. Alle Befragten bewegen sich bezeichnenderweise bis heute primär in Netzwerken, gegenüber denen bereits langjährige Verbindlichkeiten bestehen (vgl. Coleman 1991, 400f.). Besonders auffallend ist hier zudem, dass die von Bourdieu und Jean-Claude Passeron angeführten Orientierungs- sowie Entsprechungsversuche von Lernenden gegenüber Lehrenden, die zu einer stetigen Reproduktionsrate innerhalb der Disziplinen beitragen (vgl. Bourdieu/Passeron 1971, 97-101), eben auch im Rahmen einer wissenschaftlichen Berufslaufbahn fortlaufend präsent sind: „Man hat, was man mag, weil man mag, was man hat“ (Bourdieu 1982, 286). Diese Formel bildet die prägnante Schnittmenge in den vorliegenden Narrationen, da in vielen Passagen der dargestellten Bildungs- und Berufsbiographien Interessen, Mobilität und Innovationen zugunsten von sozialkapitalstarken Netzwerken zurückgestellt wurden (vgl. Granovetter 1973; Jansen 2000, 39f.; Thomsen 2010, 261). Dies ist ebenfalls darauf zurückzuführen, dass herkunftsspezifisches Sozialkapital hier in keinem Fall konsekutiv verwertbar war (vgl. Putnam/Goss 2001, 23). Trotz all dieser Hürden und Herausforderungen entwickelten sich alle sechs dargestellten Biographien zu dezidierten Bildungs- und Berufsaufstiegsbiogra-

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phien. Die Befragten bewährten sich im Kontext eines gesellschaftlich höchst angesehenen Bildungsraums (vgl. Darowska/Machold 2010, 23), in dem ein enormer Konkurrenz- sowie Qualifikationsdruck besteht und eher habituell Zugehörige in aussichtsreiche berufliche Positionen gelangen (vgl. Hartmann 2002, 62). Bei der Darstellung der eigenen beruflichen Laufbahn und der Agitation als Schlüsselperson stellten alle Befragten einen Bezug zur individuellen Bildungsbiographie her und aggregierten diese Erfahrungen zu einer Argumentationsstrategie bezüglich der eigenen berufspraktischen Handlungen und Verhaltensweisen. Im Ergebnis sind drei wesentliche Handlungstypen aus dem Datenmaterial hervorgetreten: Systemkonträre nehmen das selektive und auf Homogenität ausgelegte Bildungssystem, das für (ethnische) Minderheiten kontinuierliche Benachteiligungen produziert, als durchweg defizitär wahr. Das eigene Verhalten ist in der Folge kompensatorisch ausgelegt und wird um individuelle Erfahrungen mit Schlüsselpersonen ergänzt. Der hierzu notwendige Handlungsspielraum ergibt sich grundlegend aus einer institutionellen Entscheidungsautorität und Machtposition (vgl. Struck 2001, 37). Erklärtes Ziel ist es, systemische Schließungsprozesse aktiv zu verhindern und bezugsgruppengerechte Unterstützungsangebote zu forcieren – auch dann, wenn dies den Interessen bestehender Fach(bereichs)kulturen entgegenläuft. Ein derart oppositionelles Verhalten ist in der Regel nur dann zu realisieren, wenn eine entsprechende Einbindung in soziale Netzwerke und/oder strukturelle Sicherheiten gegeben ist, die normativen Ausgrenzungsprozessen entgegentreten kann (vgl. Putnam/Goss 2001, 24). Problematisch sind in diesem Zusammenhang Tendenzen von Personal in Entscheidungs- und Schlüsselpositionen, Ressourcen und Güter in selektiven Verteilungsprozessen – basierend auf eigenen Wahrnehmungs-, Bewertungs- und Handlungsschemata – letztlich primär an in ihren Augen förderungswürdige sowie -bedürftige StudentInnen weiterzugeben oder gruppenspezifische Bedarfe einseitig zu fördern. Bei diesem Typus ist auffällig, dass die eigene Funktion und Bedeutung als Schlüsselperson im Übergangssystem Hochschule umfänglich anerkannt wird (vgl. Struck 2001). Besonders prägnant ist, dass es sich hierbei unter den Befragten ausschließlich um Personen handelt, die den Sozialwissenschaften zuzuordnen sind, was möglicherweise eine fachspezifische Sensibilität für (institutionelle) Diskriminierungen im Bildungswesen hervorhebt. MeritokratikerInnen orientieren sich in ihrer Rolle als Schlüsselperson möglichst strikt am Leistungsprinzip und verfügen durch ihre Zugangs- und Verteilungsfunktion (vgl. Whyte 1996; Lewin 1958, 199) über entsprechende Machtmittel, um Förderungsberechtigte adäquat zu unterstützen (vgl. Abels 2010,

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209). Förderungsberechtigt sind in ihrem Sinne diejenigen, die sich durch herausragende Leistungen profilieren, etablierten Leistungsstandards entsprechen und über spezifische Leistungsskills (zum Beispiel dezidierte Sprachkompetenzen in der hauptamtlichen Landessprache) verfügen. Ein ‚Migrantenbonus‘ (Prof2), eine Bevorzugung und ‚entgegenkommende‘ Bewertungsschemata werden grundsätzlich abgelehnt. Die Maxime der MeritokratikerInnen ist eine egalitäre Handlungspraxis, die letztlich großes Potential in sich birgt, bestehende Fach(bereichs)kulturen sowie symbolische Verhaltensformen verstärkt zu reproduzieren (vgl. Abels 2010, 215). Systemkonforme schließlich fundieren ihre Handlungspraxis in Anlehnung an eigene Erfolge auf der Anpassung an die Gegebenheiten des Bildungswesens. Selbsterfahrene sowie einschneidende Diskriminierungs- und Ausschlusserfahrungen werden dabei relativiert bzw. rückblickend akzeptiert. Systemkonforme reproduzieren Fach(bereichs)kulturen wahrscheinlich am ergiebigsten, da sie sich stark an diesen orientieren, sich hierarchisch ein- bzw. unterordnen und vorgegebenen Handlungsvollzügen und Rahmenbedingungen vollumfänglich entsprechen (vgl. Grundmann 2011, 67). Die individuelle Rolle und Bedeutung als Schlüsselperson wird in der Berufspraxis auf eine unverbindliche Informationsfunktion reduziert. Hilfeleistungen und Einflussnahmen erfolgen nicht, da Systemkonforme eigene Handlungsspielräume als gering und äußerst unsicher einschätzen. Während die systemkonträr positionierten und handelnden Befragten aktiv soziale Netzwerke bilden, um tradierte und systemkonforme Netzwerke aufzuheben bzw. auszugleichen, handeln und interagieren Systemkonforme in ihren sozialen Netzwerken möglichst loyal und unkritisch. Im Fokus stehen die individuelle Karriereentwicklung und die Vermeidung von Abstiegsprozessen, die vor allem systemkonforme Befragte ursächlich mit netzwerkeigenen Sozialkapitalien in Zusammenhang bringen (vgl. Tymon/Stumpf 2003). Die Spannweite der Handlungspraktiken von Schlüsselpersonen in universitären Kontexten ist, wie dargestellt, äußerst breit, sie können jedoch anhand der vorliegenden Daten den drei zuvor skizzierten Handlungstypen zugeordnet werden. Diese Typen stellen eher eine intentionale Maxime dar, die sich wiederum durch differenzierte, in die Strukturen universitärer Fachbereiche eingebettete Handlungen nuanciert. Das bedeutet, dass Systemkonträre nicht zwangsläufig positive Diskriminierungen von StudentInnen mit Migrationshintergrund durch eine Ausschöpfung bzw. Abweichung von Prüfungsrichtlinien anstreben. Alternativ kann beispielsweise auf eine gesteigerte Beratungsintensität oder die Implementierung von außercurricularen Angeboten zurückgegriffen werden. Die Zusammenhänge und Wirkungen von selbsterfahrenen und selbstgelebten Prak-

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tiken als Schlüsselperson zeichnen sich gemäß den vorliegenden Daten auch im weiteren Bildungs- und Berufsverlauf von wissenschaftlichem Personal an Hochschulen ab. Schlüsselpersonen sind einerseits Orientierungsmodelle für StudentInnen und den wissenschaftlichen Nachwuchs, andererseits prägnante Größen im Reproduktionsgefüge der Fach(bereichs)kulturen.

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E THNIZITÄT

UND WISSENSCHAFTLICHE

HOCHSCHULKARRIERE | 213

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Binär codiert? Zur Herausforderung männlicher Fachkultur in der Informatik K ATHARINA L OSCH

I. E INLEITUNG Mit dem politischen Programm der ‚widening participation‘ zur sozialstrukturellen Öffnung der Universitäten Ende der 60er Jahre wurde europaweit das Ziel verfolgt, die Partizipation nicht-traditioneller StudentInnen an Universitäten zu fördern.1 Zusammenhängend damit sind Fragen nach der Transformation der traditionellen Universitätskultur zur universitären Einbindung dieser StudentInnengruppe aufgekommen (vgl. Read/Archer/Leathwood 2003). Im Fokus standen insbesondere StudentInnen aus Nicht-Akademikerfamilien, StudentInnen mit Migrationshintergrund und weibliche Studierende (vgl. Geißler 2008; Read/Archer/Leathwood 2003). Auch wenn – als ein wichtiges Ergebnis der widening participation – weibliche Studierende heutzutage ebenso stark an Universitäten partizipieren wie männliche (vgl. Geißler 2008, 95), strukturiert eine weiterhin bestehende Geschlechterordnung die geringe Partizipation von Frauen in technischen Fächern (vgl. Powell/Bagilhole/Dainty 2009; Barnard u.a. 2012). Geschlechterordnung bezieht sich auf eine kulturell definierte Arbeitsteilung zwischen Frauen und Männern (vgl. Krais/Gebauer 2002, 48). Dieser unterliegt ein (symbolisches) Herrschaftsverhältnis (vgl. ebd.), das Pierre Bourdieu (2013) mit seinem Konzept der ‚männlichen Herrschaft‘ zum Ausdruck bringt. Insbesondere die Informatik steht als männlich codiertes Fach exemplarisch für die westliche Ge-

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Ein besonderer Dank gilt an dieser Stelle Frau Prof. Dr. Pfaff-Czarnecka, Frau Brandl und Naby Berdjas, die mich mit wertvollen Kommentaren bei der Fertigstellung des Artikels unterstützt haben.

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schlechterordnung2 (vgl. Lagesen 2008, 5f.). Vorstellungen, denen zufolge Frauen in technischen Fächern, hier der Informatik, von Natur aus weniger fähig seien als Männer (vgl. Barke/Siegeris 2014, 203), entsprechen der Logik dieser Ordnung. Dem sozialen Geschlecht (gender) wird dabei unterstellt, dass dieses kausal aus dem biologischen Geschlecht (sex) hervorgehe und binär verfasst sei (vgl. Butler 1991, 22f.). Auf diese Weise wird in der Informatik eine männliche Fachkultur aufrechterhalten, in der Männlichkeit die Norm darstellt. Weiblichkeit ist hiervon ausgeschlossen. Entgegen dieser Makroperspektive auf eine Selbst-Stabilisierung der männlichen Fachkultur durch die (angesichts der bestehenden Geschlechterordnung) geringe Partizipation von Frauen in der Informatik, wendet dieser Artikel den Blick auf diejenigen (wenigen) Frauen, die im Studium der Informatik angekommen sind. Dabei wird angenommen, dass der Erfolg dieser Frauen die männliche Dominanz in Frage stellt, was eine Herausforderung der traditionellen männlichen Fachkultur darstellt. Erste Hinweise auf dieses Phänomen geben Klaus Hurrelmann und Erik Albrecht (2014) mit ihrer These „der Generation Y als heimliche Revolutionäre“. Die Autoren behaupten, dass gerade in der selbstverständlichen Verbindung von zuvor noch als widersprüchlich geltenden Konzepten die Stärke dieser Generation liege (vgl. Hurrelmann/Albrecht 2014, 7, 206).3 Der Weg zum Erfolg im Informatikstudium bedeutet für die Frauen jedoch zunächst, sich angesichts der männlichen Dominanz bewähren zu müssen. Der Begriff der ‚Passung‘ bringt die teilweise voraussetzungsvollen Abstimmungsprozesse individueller Dispositionen, die im Habitus eingelagert sind, an die (männlichen) Strukturen zum Ausdruck (vgl. Friebertshäuser 1992, 77; Bourdieu 1976, 164f.). Zur Förderung der Herstellung von Passung der Frauen in die Informatik wird die Mobilisierung besonderer Ressourcen erforderlich. ‚Zugehörigkeit‘ zu Kollektiven stellt dem Individuum einen Zugang zu Ressourcen in Aussicht. Gleichzeitig fordern Kollektive Gegenleistungen vom Indi-

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In anderen Kulturräumen kann sich das Verhältnis zwischen Gender und Informatik durchaus anders darstellen. So zeigt Vivian Anette Lagesen (2008) am Beispiel von Malaysia, wie die dort bestehende Geschlechterordnung vor allem den Zugang von Frauen in die Informatik befördert.

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Die Generation Y bezieht sich auf die aktuell 15- bis 30- Jährigen (vgl. Hurrelmann/Albrecht 2014, 24). Gesellschaftliche Veränderungen im Zusammenhang mit Globalisierung, Digitalisierung und einer Transformation der Arbeitswelt stellen diese Generation vor neue Herausforderungen (vgl. ebd., 8). Die „Frage nach dem Sinn“ (ebd.) wird zum Kennzeichen dieser Generation.

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viduum ein. Gemeinsamkeit mit Bezug auf das Teilen gemeinsamer Wertvorstellungen, Gegenseitigkeit über den Aufbau sozialer Tauschbeziehungen und Anbindungen „an materielle und immaterielle Welten“ (Pfaff-Czarnecka 2013, 17) gelten als zentrale Dimensionen von Zugehörigkeit (vgl. ebd., 14-17). In der Moderne hat Zugehörigkeit zunehmend multiple Bedeutung gewonnen; Kollektive haben für die Gesamtgesellschaft weitgehend ihre Monopolstellung verloren (vgl. ebd., 20f.). Auf dem Weg der Passung von Frauen in der Informatik steht insbesondere die Zugehörigkeit im Kontext von Elternhaus, Schule und Studienumfeld im Fokus. Vor diesem Hintergrund analysiert dieser Artikel die Suche nach Passung von Frauen im Informatikstudium – unter Berücksichtigung der Bedeutung multipler Zugehörigkeit – und fragt nach dem Potential einer Herausforderung männlicher Fachkultur. Der Analyse liegen die Erfahrungen britischer Studentinnen im Bachelorstudium (‚undergraduate study‘) zugrunde. Hierzu führte ich von Mitte September bis Anfang November 2014 eine qualitative Studie an einer mittelgroßen britischen Universität, der East Midlands Universität4, durch. Der Artikel beginnt mit der Darstellung der Fragestellung im Forschungskontext und des methodischen Vorgehens. Das daran anschließende Kapitel stellt fünf ausgewählte Fälle dar. Während sich die ersten vier auf die Suche nach Passung britischer Studentinnen in der Informatik beziehen, handelt es sich beim fünften Fall um eine Frau aus dem Oman. Dieser Fall dient der Aufdeckung des kulturell Spezifischen. Im nächsten Schritt erfolgt auf der Basis gemeinsamer Muster der vier britischen Studentinnen die Beantwortung der Fragestellung. Das abschließende Fazit kondensiert die wichtigsten Forschungsergebnisse.

II. T HEORETISCHER R AHMEN Geschlecht ist eines der „frühesten Schemata sozialer Differenzierung“ (Krais/Gebauer 2002, 49), das einem Kind vermittelt wird. Die Herausbildung des Habitus ist bestimmt von der kontinuierlichen Orientierung „an einem binären Code, bei der ständig ‚die andere‘ von zwei Möglichkeiten des Seins verworfen und aus dem Bereich der eigenen Möglichkeiten ausgeschlossen wird“ (ebd., 50).

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Sämtliche Namen, wie der Name der Universität, die Bezeichnung der Studiengänge sowie die Namen der Interviewpartnerinnen, liegen in diesem Artikel anonymisiert vor.

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Vivian Anette Lagesen (2008, 20f.) verweist für den westlichen Raum darauf, wie die geschlechtsbezogenen Ordnungsvorstellungen hinsichtlich der technischen Fachbereiche der Entwicklung von Einstellungen bei Frauen entgegenstehen, durch Fleiß und Selbststudium fachbezogene Probleme selbstständig lösen zu können. Das männliche Bild steht der Entscheidung für ein Technikstudium entgegen (vgl. Gale 1994, 8). Zusammenhängend damit kann das Wissen um die männlich konnotierte Fachkultur Befürchtungen mit sich bringen, in ein solches Umfeld nicht hineinzupassen (vgl. Read/Archer/Leathwood 2003, 261). Bei der Entscheidung für ein Studium im Technikbereich – entgegen geschlechtsbezogener Ordnungsvorstellungen – stellen Sarah Barnard, Tarek Hassan, Barbara Bagilhole und Andrew Dainty (2012, 200f.) den Einfluss von Familie, Schule und Freundeskreis als bedeutsam heraus. Dabei kommt insbesondere der Familie eine wichtige Rolle zu. Angeführt werden hierbei familiäre Unterstützung und Familienmitglieder, die in einem technischen Bereich berufstätig sind. Der Erwerb von Wissen über technische Berufe hat einen wichtigen Einfluss auf die Entscheidung eines daran anschließenden Studiums (vgl. Gale 1994, 11f.). Für das Studienumfeld zeigen Abigail Powell, Barbara Bagilhole und Andrew Dainty (2009, 413f.), die zu britischen Studentinnen im Ingenieurbereich geforscht haben, wie Weiblichkeit in der männlichen Fachkultur generell als das Andere kategorisiert wird. Angesprochen sind Probleme der Zugehörigkeit (vgl. Pfaff-Czarnecka 2013, 21f.), wobei Frauen nicht als Teil der männlichen Gruppe angesehen werden und es darum schwer haben, Zugang zu bestimmten Ressourcen, vor allem fachlicher und emotionaler Art5, zu bekommen. Eine häufig angewandte Strategie der Frauen, sich Akzeptanz zu verschaffen, ist die Anpassung an die männliche Fachkultur, z.B. die Duldung von diskriminierend wirkenden Kommentaren in Bezug auf die Geschlechtszugehörigkeit (vgl. Powell/Bagilhole/Dainty 2009, 418f.). Strategie meint in Anlehnung an Bourdieu „eine (implizite) Vernünftigkeit der Handlungspläne, wie sie (…) ganz selbstverständlich aus dem Habitus des Individuums“ (Fuchs-Heinritz/König 2005, 171) hervorgeht. Eine direkte Herausforderung der männlichen Fachkultur wird hingegen oftmals vermieden, da hiermit Risiken von sozialem Ausschluss oder Isolation verbunden werden (vgl. Powell/Bagilhole/Dainty 2009, 418f.). Trotz der Anpassung der Studentinnen an die männliche Fachkultur, wie Barnard u.a. (2012, 201) feststellen, schwingt ihr Status als Andere immer mit und kann von den männlichen Lehrkräften oder Studienkollegen jederzeit thematisiert

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Während sich hier fachliche Ressourcen auf Informationen über Studieninhalte beziehen, wird unter emotionalen Ressourcen psychologischer Rückhalt verstanden.

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werden. Weiblichkeit kann in solch einem Kontext aber auch als Ressource dienen. So wurde herausgestellt, wie einige Frauen zusammenarbeiten, um sich gegenseitig zu helfen und zu unterstützen (vgl. ebd.). Als weitere Strategie verweist Barbara Bagilhole (2007, 26) auf erhöhte Arbeitsanstrengung, die durch eine Abwendung von der Gruppe vom Individuum selbstständig aufgebracht wird. Diese Form der Positionierung von Frauen in technischen Studiengängen deutet die bisherige Forschung als Reproduktion männlicher Fachkultur (vgl. Powell/Bagilhole/Dainty 2009; Barnard u.a. 2012). Dem wird die direkte Herausforderung männlicher Fachkultur als einzig mögliche Form eines kulturellen Wandels gegenübergestellt (vgl. Powell/Bagilhole/Dainty 2009, 421). Erfolg von Frauen in solch einem Fachbereich verfehle seine Wirkung als Rollenmodell für andere Frauen (vgl. Greed 2000). Eine solche Sichtweise ist mit Bezug auf Gayatri Chakravorty Spivak jedoch kritisch zu betrachten. Ein offenes Vorgehen gegen die bestehenden Herrschaftsverhältnisse – unter Rückbezug auf essentialistische Identitätskonzepte – steht demnach vor dem Risiko, jene in der Gegenwehr zu bestärken (vgl. Castro Varela 2005, 62). Daran anknüpfend erklärt Spivak: „The rupture shows itself to be also a repetition“ (Spivak 1996, 211). Darüber hinaus bestehende geschlechtsbezogene Zuschreibungen erschweren es insbesondere Frauen, Geschlechterungleichheiten zu thematisieren: Während Männern eher universalistische Orientierung im Sinne eines Bemühens um Inklusion zugeschrieben wird, wird Frauen eher partikularistische Orientierung im Sinne der Sicherstellung eigener Interessen unterstellt (vgl. Müller 2010, 308). Im Gegensatz zu der zum Teil problematischen Thematisierung von Geschlechterungleichheiten sieht Spivak das Potential in einer Destabilisierung bestehender Herrschaftsverhältnisse von innen (vgl. Castro Varela 2005, 62). Den vielfältigen Identitätsentwürfen von Seiten des unterdrückten Individuums kommt hierbei eine bedeutende Rolle zu. Spivak betont jedoch die strategische Anwendung essentialistischer Identitätskonzepte, wodurch Emanzipationsbewegungen aus bestehenden Herrschaftsverhältnissen befördert werden können (vgl. ebd., 71). Angesichts dieser neuen Sichtweise auf Frauen in männlichen Technikstudiengängen, die eine Destabilisierung der männlichen Herrschaft bewirken können, fragt dieser Artikel nach dem Potential einer Herausforderung männlicher Fachkultur in der Informatik. Des Weiteren verfolgt diese Forschung das Ziel, Befunde aus der bisherigen Forschung zur Thematik, insbesondere hinsichtlich der Bedeutung der familiären und schulischen Sozialisationserfahrungen sowie die Positionierung im Studium, stärker auszudifferenzieren. Wichtige Vorabka-

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tegorien waren: die Rolle primärer Sozialisationsinstanzen, Handlungsstrategien im Studienumfeld und Effekte auf die männliche Fachkultur.

III. M ETHODISCHES V ORGEHEN Die methodologische Grundlage der Studie bildet die Grounded Theory nach Anselm L. Strauss.6 Die mit der neuen Forschungsperspektive einhergehende Notwendigkeit von Offenheit im Forschungsfeld ließ diese Methodologie als besonders geeignet erscheinen. In diesem Sinne wurde das Erhebungsinstrument, ein offenes Leitfadeninterview mit narrativen Elementen, gewählt. Die Bewahrung von Offenheit bei dieser Interviewform ermöglicht den GesprächspartnerInnen Relevanzstrukturen (weitgehend) selbst zu entfalten (vgl. Rosenthal 2005, 127). Bei der Erstellung des Leitfadens dienten vorangehende Studien über Frauen in männlichen Fachbereichen als Orientierung. Insbesondere sei hier auf die Forschungen von Powell/Bagilhole/Dainty (2009) und Barnard u.a. (2012) zu britischen Frauen in den Ingenieurwissenschaften verwiesen. Die Relevanz der Berücksichtigung narrativer Elemente, in Anlehnung an das narrative Interview nach Fritz Schütze, ergibt sich aus der Tatsache, dass insbesondere Erzählungen es möglich machen, dem Erlebten der Interviewpartnerinnen nahe zu kommen (vgl. Rosenthal 2005, 139). Zudem wurde auf einen flexiblen Umgang mit dem Interviewleitfaden in der Erhebungssituation geachtet. Die Kontaktaufnahme zu den potentiellen Interviewpartnerinnen erfolgte auf elektronischem Weg sowie über direktes Ansprechen nach Vorlesungen. Die Anfrage war offen an die Studentinnen aus dem Informatikbereich gerichtet. Eine Eingrenzung nach spezialisierten Informatikstudiengängen wurde nicht vorgenommen. Gerade in der Anfangsphase der Datensammlung ging es zunächst darum, möglichst unterschiedliche Personen für ein Interview zu gewinnen. Im weiteren Verlauf wurde spezifischer nach Daten gesucht, die „die bereits (vorläufig) entwickelten Kategorien der Theorie bestätigen bzw. differenzieren“ (Böhm 2000, 476) konnten. Hinsichtlich meiner Rolle als Interviewerin werte ich die Tatsache, fremdsprachig zu sein und aus einer fachfremden Domäne zu kommen, als förderlich für das Gespräch. Durch diese Konstellation wurden Aussagen im Interview er-

6

Entgegen einer starken Betonung empirischer Offenheit im Ansatz nach Barney G. Glaser wird bei Strauss bzw. in Zusammenarbeit mit Juliet Corbin dem Vorwissen der Forschenden eine größere Rolle zugeschrieben (vgl. Strübing 2008, 59, 69).

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klärungsbedürftig, die ansonsten als selbstverständlich angenommen werden konnten.7 Es ist auffallend, dass die Interviewpartnerinnen Geschlechterdifferenzen kaum explizit thematisierten und ihre Erfahrungen im Studium größtenteils als geschlechtsneutral darstellten. Mit Bourdieu (2013, 8) lässt sich dieser Umstand damit erklären, dass die männliche Herrschaft dem Bewusstsein der AkteurInnen in der Regel nicht zugänglich ist, woraus sie gleichzeitig ihre Wirkkraft entfaltet. Das für die Studie ausgewählte Sample umfasst zehn Interviews mit britischen Bachelorstudentinnen aus dem Informatikbereich und einer Doktorandin der Informatik aus dem Oman. Das letztgenannte Interview war mit der Frage verbunden, wie es dazu kommt, dass im Vergleich zu den britischen Frauen viele Frauen arabischer Herkunft Zugang zur Informatik finden, was ich insbesondere unter den DoktorandInnen der Informatik an der East Midlands Universität beobachtete.8 Die Mehrheit der britischen Studentinnen des Samples studiert zur Zeit der Datenerhebung im zweiten oder dritten Jahr. Eine Studentin des Samples promoviert in Informatik. Im Fokus steht bei dieser Studentin die retrospektive Sicht auf das Bachelorstudium, das sie zuvor an derselben Universität absolvierte. Von den britischen Studentinnen studieren fünf Wirtschaftsinformatik (‚Computer Science and Business‘, drei klassische Informatik (‚Computer Science‘) und zwei eine Kombination aus Informatik und Mathematik (‚Computer Science and Mathematics‘). Zur Darstellung der Forschungsergebnisse wurden in diesem Artikel fünf Interviews des Samples ausgewählt, die möglichst unterschiedliche Aspekte hinsichtlich der Suche nach Passung von Frauen im Informatikstudium deutlich machen (Kriterium der maximalen Kontrastierung). Die ersten vier Fälle beziehen sich auf Interviews mit britischen Studentinnen. Davon bilden die ersten beiden Fälle die Erfahrungen von zwei Studentinnen, die Doktorandin Susan und die Bachelorstudentin Amelie, aus der klassischen Informatik ab. Die weiteren beiden Fälle stellen die Erfahrungen von zwei Bachelorstudentinnen, Caroline und Nicole, aus dem Studiengang Wirtschaftsinformatik dar. Bis auf Nicole, die aus

7

Siehe hierzu den Aufsatz ‚Der Fremde‘ von Alfred Schütz (1972). Der Autor zeigt darin, wie für den Neuankömmling das Alltagswissen fraglich wird, das den Mitgliedern der Eigengruppe als selbstverständlich und beständig erscheint (vgl. Schütz 1972, 58f.).

8

Daran anschließend stellt Maria Charles (2011, 24) in ihrer Untersuchung zum internationalen Vergleich von Frauen in STEM-Fächern (‚Science, Technology, Engineering and Mathematics‘) im Hochschulbereich fest, dass im Oman vor allem Frauen im naturwissenschaftlichen Bereich repräsentiert sind.

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Wales kommt, sind die britischen Studentinnen aus England. Der fünfte Fall bezieht sich auf das Interview mit der Doktorandin Rawya aus dem Oman.

IV. D AS P OTENTIAL EINER H ERAUSFORDERUNG MÄNNLICHER F ACHKULTUR Suche nach Passung Susan (26 Jahre alt) Susan promoviert in Informatik an der East Midlands Universität, wo sie auch ihren Bachelor in klassischer Informatik absolviert hat. Familiäre Erfahrungen in Zusammenhang mit ihrem Interesse für Informatik schildert sie keine. Auch Schulerfahrungen stellt Susan als wenig förderlich für ihren Weg in die Informatik dar. An ihrer Schule wurde ein optionaler Computerkurs (‚Computing‘) angeboten, der Susans Interesse weckte. Eine Mitschülerin riet ihr jedoch davon ab, den Computerkurs zu besuchen, da dieser ihrer Ansicht nach kein interessantes Wissen vermittelt hätte. Einziger Schulaspekt, den Susan mit Blick auf ihr späteres Informatikstudium als förderlich beschreibt, sind ihre (sehr) guten Leistungen in Mathematik. Mit dem Schulabschluss war sich Susan unsicher, in welche Richtung sie beruflich gehen sollte. Sie entschied, ihr Hobby zum Beruf zu machen und Musik zu studieren. Ihr Interesse für Informatik begann sich durch die zunehmende fachliche Auseinandersetzung mit Computern während der Zeit ihres Musikstudiums zu entwickeln. Sie schildert eine Schlüsselerfahrung mit der Arbeit am Computer für eine Freundin: „I was working on excels spreadsheets for a friend and started working with functions and that kind of thing. And also, previously, I taught myself how to build websites, and I realized that was something I enjoyed doing, and that I would enjoy possibly doing as a career for a living. So yeah, when I finished the foundation degree I started programming a bit more just to see if it was something that I really did enjoy, and I did.“9

Dieser Umstand traf auf bereits bestehende Zweifel, die sie im Zusammenhang mit dem Musikstudium verspürte, wobei ihr schließlich klar wurde, dass sie Musik nicht zum Beruf machen wollte. Sie führte das Musikstudium zu Ende und

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Zur besseren Lesbarkeit der Zitate wurde an einigen Stellen grammatikalisch angepasst.

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bewarb sich für ein Informatikstudium. Im Entscheidungsprozess für ein Informatikstudium entzog sie sich dem Einfluss des sozialen Umfeldes, indem sie mit kaum jemandem darüber sprach. Ihr Vater war der einzige, den sie in ihre Entscheidung mit einbezog und der sie dabei bestärkte. Im Bachelorstudium der Informatik wurde Susan mit Problemen der Zugehörigkeit als Frau in einem männlich dominierten sozialen Raum konfrontiert: „One thing that is obvious is there is a lot of, it’s very male-dominated, so, it’s maybe me and two other girls when I did the undergraduate. I guess I kind of expected that, and I always had interests which were more popular with boys, so I’ve always kind of been the only girl or the minority in that sense. So, that’s not unusual for me.“

Vorerfahrungen in einer Männerdomäne über männliche Interessen werden in dieser Textstelle als hilfreich für die Bewältigung von Zugehörigkeitsproblemen im Studium angedeutet. Angesichts der Wahrnehmung, dass ihr Interesse nicht der Norm entspricht, bleiben dennoch Konflikte bestehen. Des Weiteren verspürte Susan eine Verunsicherung hinsichtlich der eigenen Fähigkeiten zu Beginn des Studiums. Dies veranlasste sie dazu, sich in intensiver Weise anzustrengen, worüber sie besonderen Erfolg im Studium erzielte: „Since I did music the two years and taking two years out, first I was a bit worried maybe because I hadn’t been to school and studying maths for so long that I might not be, that it might give me a disadvantage. But after first year I guess that made me work harder to compensate, and so I ended up getting the best mark in the year. So, I think after first year I had the confidence knowing ‘Okay, I am good enough for this, I do have the right kind of brain.‘“

Im Zusammenhang mit ihren guten Leistungen erfuhr Susan verstärkt Anerkennung von Seiten der Kommilitonen, die sie bei Problemen oftmals um Hilfe baten. Darüber hinaus übernahm sie in der Gruppenarbeit häufig die Rolle der Gruppenleiterin. Susans Erfahrungen aus dem Musikstudium – Susan zufolge ebenfalls eine Männerdomäne – können als förderlich für die Herstellung von Passung im Informatikstudium gedeutet werden: So konnte ihr eine Vertrautheit in der Interaktion mit Männern dazu verhelfen, Probleme der Zugehörigkeit in der Informatik leichter zu bewältigen. Sich bereits im Musikstudium bewährt zu haben, konnte darüber hinaus die Entwicklung von Einstellungen bestärken, im ebenfalls männlich dominierten Informatikstudiengang erfolgreich sein zu können und sich nicht von den bestehenden Geschlechterbildern abschrecken zu lassen.

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Susan machte innerhalb ihres Studiums eine Erfahrung mit einem Dozenten, bei dem sie das Gefühl hatte, nicht anhand ihrer persönlichen Leistung, sondern aufgrund ihrer Geschlechtszugehörigkeit behandelt worden zu sein. Sie setzt das Verhalten des Dozenten in Verbindung mit einer Vorstellung von Weiblichkeit und vermeintlicher Hilfsbedürftigkeit bzw. Leistungsschwäche in der Informatik: „I remember asking him something like ‘Oh is that in the lecture notes’ and he said ‘Yes’. But a point was that every single lecture following that he would come up to me and ask me if I had my lecture notes in a kind of way that was, I don’t know, it was kind of, it was like sort of picking on me in a way. And before the exam […] he said ‘Oh I expected an email with lots of questions on the exam coming up’ […], and I thought it was strange that he assumed I would have asked many questions about the course.“

Susan stand dieser Situation passiv gegenüber. Sie erkannte zwar die Geschlechterproblematik, thematisierte diese jedoch nicht. Die Vermeidung eines offenen Konfliktes kann so gedeutet werden, dass sie ihre Anerkennung im Studium von Seiten der Kommilitonen nicht gefährden wollte. Nichtsdestotrotz erkennt Susan auch Vorteile in ihrem Status als Frau in einer Männerdomäne. Diese bezieht sie darauf, als Frau besser identifizierbar zu sein, worüber ihr einfacher Kontaktmöglichkeiten mit Dozenten oder Kommilitonen in Aussicht gestellt würden: „So, I guess when you just got a group of boys you might not remember exactly which one is which. But then you have got one girl that’s like ‘Oh that’s a girl, I remember her and my interaction with her ‘cause there is no other girl so it must be her’ (laughing).“

Amelie (21 Jahre alt) Amelie studiert im letzten (dritten) Jahr klassische Informatik im Bachelor an der East Midlands Universität. Als Kind hatte sie über ihr Elternhaus Zugang zu Computern und entwickelte hierüber ihr Interesse. Familiäre Geschlechtervorstellungen standen einer Förderung Amelies Interesse an Computern im Gegensatz zu ihrem Bruder jedoch entgegen: „My oldest brother always had a computer and I used to get quite jealous ’cause I wasn’t allowed to use it. I’d sneak in his doors, sitting and playing on it, and then I get told off here ‘cause they are like ‘It’s not yours’, but I like computers, they just make my life easier (laughing).“

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Verbote bewirkten, dass Amelies Neugierde wuchs. So beschäftigte sie sich heimlich mit Computern. In der Schule folgte sie ihrem Interesse weiter und wählte schließlich ICT (‚Information and Communication Technology‘) im Alevel. Die Schule kann für Amelie dabei als Freiraum betrachtet werden, in dem sie unabhängig von familiären geschlechtlichen Normvorstellungen ihren Interessen nachgehen konnte. Insgesamt zeigt sie sich jedoch vom ICT-Kurs enttäuscht, der kaum technisches Wissen vor allem im Hinblick auf Programmieren vermittelt habe. Amelie war sich zunächst unsicher, welche berufliche Richtung sie einschlagen sollte. Sie entschied sich schließlich dafür, klassische Informatik zu studieren. Ausschlaggebend hierfür waren ihr Interesse sowie ihre sehr guten Schulleistungen in ICT und Mathematik (beide im A-level). Dennoch war sie sich unsicher, ob ihre Vorkenntnisse für das Informatikstudium ausreichend wären. Weitere wichtige Aspekte für ihre Studienwahl waren berufliche Sicherheit und Karrieremöglichkeiten. Ihre Eltern unterstützten sie in ihrer Entscheidung für ein Informatikstudium. Diese hatten, Amelie zufolge, vor allem die Erwartung, dass ihre Tochter ihr Studium erfolgreich abschließt. Dem Freundeskreis kommt bei Amelie in Bezug auf das Informatikstudium keine besondere Rolle zu. Relevanter ist hingegen die Tatsache, dass sie im Gegensatz zu vielen ihrer FreundInnen an einer Hochschule studiert. Mit der Aufnahme des Informatikstudiums sah sich Amelie vor besonders hohe Leistungsanforderungen gestellt: „First year was a good pick me up ’cause I did go through stages of ,I cannot do this ’cause it’s difficult and everyone else has got more experience than me.‘“

In diesem Zitat deutet sich gleichsam eine Bewältigung des Konfliktes an. Darauf bezogen motivierten negative Schulerfahrungen sie dazu, ihre Fähigkeiten im Studium besonders unter Beweis stellen zu wollen. Zudem spricht Amelie Probleme der Zugehörigkeit in einer Männerdomäne an. Dem stellt sie den unkomplizierten Umgang mit Frauen im Studium gegenüber: „Girls are easier to work with sometimes, and it’s just nicer to kind of, if you are the only girl in the group of, you know, five guys, you feel it and you are like ,Okay let’s just work out first if they think it’s okay that I am on this course kind of thing‘, ,Okay I know they are fine with it, good‘, and it’s just a bit, girls are just like ,Oh look, we study the same thing, cool.‘“

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Durch ihr Hobby Bowling hat sie Erfahrungen als Minderheit unter Männern in ihrem Team gesammelt. Es ist zu vermuten, dass diese Erfahrungen ihr dabei helfen, Zugehörigkeitsprobleme im Studium zu bewältigen. Steht im Umfeld gemeinsamer Freizeitaktivitäten der spielerische Aspekt im Vordergrund, stellt der Studienkontext, bei dem es um berufliche Zukunftschancen geht, die Zugehörigkeitsproblematik jedoch in einer anderen Dimension dar. Angesichts der teilweise erlebten Konflikte im Studienumfeld stellt für Amelie insbesondere der Kontakt zu Kommilitoninnen wichtige emotionale Ressourcen bereit. Gleichzeitig betont sie durch die Hinwendung zu anderen Frauen den Austausch wichtiger sachlicher Ressourcen. Amelie erlebte einen diskriminierenden Vorfall zu Beginn ihres Studiums: „We were trying to do something, and I didn’t really know what was happening like I generally didn’t understand the subjects. So, I was kind of like (laughing), I asked this, what was a stupid question by the time, I was like ‘Oh I genuinely don’t know this’, and got the response ,Shh, you are a girl, go away‘, and […] I kind of went away, did the course so I can get back to my hazy answers.“

Sie ignorierte den Kommentar, was mit zu Anfang des Studiums bestehenden Unsicherheiten hinsichtlich der eigenen Fähigkeiten einherging. Eine offene Auseinandersetzung, die das Risiko von sozialem Ausschluss mit sich bringt, wurde vermieden. Im Nachhinein legitimiert sie sogar die Reaktion des Kommilitonen, indem sie ihre Frage als „dumm“ bezeichnet. Das Stellen einer Frage, insbesondere von Seiten einer Frau, wird im männlich dominierten Umfeld des Informatikstudiums als nicht passendes Verhalten angesehen. Der Vorfall zu Beginn des Studiums hat ihr dies bewusst gemacht und stellt für sie dahingehend eine Lernerfahrung dar. Im Hinblick auf den weiteren Studienverlauf verweist Amelie auf das Vorherrschen von harmloseren „Neckereien“10. Über Erfolg im Studium und durch die Erfahrung von Anerkennung von Seiten der Kommilitonen hat sie bei Anspielungen auf ihren weiblichen Status im Studienumfeld das Selbstbewusstsein erworben, eigenständig ihre Position zu verteidigen. Die gelockerte Atmosphäre im Kontext von Neckereien schafft dabei einen Raum, in dem der allgegenwärtige Konflikt von Frauen in der männlichen Fachkultur der Informatik in legitimer Weise, ohne größere Konflikte zu erzeugen, thematisiert werden kann:

10 An dieser sowie an einigen weiteren Textstellen handelt es sich um Aussagen der Interviewpartnerinnen, die ich ins Deutsche übersetzt habe.

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„The same way back ’cause, you know, joking round a bit like ,Oh well, I am a girl, I think things differently to you, so obviously I am gonna do better in this‘, ,How did you get that?‘, ,Ah, ’cause my brain just works better than yours‘ (laughing).“

Caroline (22 Jahre alt) Caroline studiert im letzten Jahr Wirtschaftsinformatik im Bachelor. Ausschlaggebend für die Entwicklung ihres Interesses an Computern war der Umgang mit Computern im Elternhaus in Zusammenhang mit dem Einfluss ihres Vaters, der als Designingenieur arbeitet. Die Eltern förderten ihr Interesse. Bereits mit fünf Jahren bekam sie ihren ersten eigenen Computer. An der Schule wählte Caroline IT als Kurs und schließlich im A-level. Die Schulerfahrungen mit Blick auf die spätere Entscheidung für ein Informatikstudium bewertet sie jedoch als insgesamt negativ: „I would say that my school, my secondary school and six form, tried very hard to make me NOT want to do computing. The stuff that they teach you is, the quality of it is just so bad.“

Zum einen führt sie die mangelnde Qualität an, wobei kein technisches Wissen vermittelt worden sei. Zum anderen verweist sie auf die Schulform einer katholischen Mädchenschule, wo eine negative Grundhaltung gegenüber Informatik vorgeherrscht habe. Insbesondere an einer Stelle wird der soziale Einfluss auf Caroline über eine ihr persönlich nahestehende Person deutlich: „One of my closest friends from home, she did IT with me at GCSE but didn’t continue it. And it’s just, it wasn’t interesting at all (laughing). I just did it ’cause I was good at it (laughing) and I liked computers, I got to spend time with them so that was worthy for me.“

Trotz sehr guter Leistungen im ICT-Kurs und Interesse an Informatik war sie sich ihrer Fähigkeiten für ein Informatikstudium nach dem Schulabschluss unsicher. Um Klarheit zu gewinnen, absolvierte sie ein einjähriges Praktikum in einer IT-Firma. Die aus dem Praktikum erworbene Sicherheit hinsichtlich der eigenen erweiterten Fachkenntnisse veranlasste sie danach zur Entscheidung für ein Informatikstudium. Carolines Eltern wirkten dabei unterstützend. Auch ihre Freundinnen bestärkten sie dahingehend. Gleichsam erkennen diese ihre technischen Fähigkeiten an, indem sie sich bei technischen Problemen an Caroline wenden. Da Carolines Schulnoten in Mathematik im A-level aufgrund formaler Gründe für einen direkten Einstieg in das Studium der klassischen Informatik

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nicht ausreichend waren, musste sie zunächst ein Vorbereitungsjahr (‚Science Foundation Year‘) absolvieren. In dieser Zeit stellte sie jedoch fest, dass sie „schlecht“ im Programmieren sei, was zur Folge hatte, dass sie ihre Studienentscheidung von klassischer Informatik zu Wirtschaftsinformatik änderte. Aufgrund ihres ursprünglichen Interesses am Studium der klassischen Informatik ist sie dem Studium der Wirtschaftsinformatik gegenüber ambivalent eingestellt: Auf der einen Seite nimmt Caroline Vorteile in Bezug auf Karrierechancen im Wirtschaftsinformatik-Studium wahr. Auf der anderen Seite sieht sie sich gegenüber KommilitonInnen, die klassische Informatik studieren, im Nachteil. So könnten diese sich über ihr fachspezifisches Curriculum ein größeres Wissen im IT-Bereich aneignen. Caroline stellt sich als Informatikstudentin zweiter Klasse dar, wobei sie des Öfteren betont, dass sie „nur“ Wirtschaftsinformatik im Gegensatz zu klassischer Informatik studiert. Im Studium zieht Caroline Informatik dem Wirtschaftsbereich vor, während dies bei ihren KommilitonInnen umgekehrt der Fall sei. Durch den erhöhten Anteil von Frauen im Studiengang Wirtschaftsinformatik stellt Caroline ihre Situation als „nicht so schlimm wie erwartet“ dar, wodurch dennoch Probleme der Zugehörigkeit angesprochen werden. Ihre Mitgliedschaft im Computer-Club der Universität, in dem sie mit KommilitonInnen einen Teil ihrer Freizeit verbringt und gemeinsame Interessen teilt, verhilft ihr, Zugehörigkeit aufzubauen: „And then we have like LAN parties every three weeks […]. We all go to [name of student hall] from Friday to Sunday and bring our computers and play them for three days, playing three days straight. Yeah LAN parties, there is like a hundred of us, hundred and twenty or something like that, but it’s a lot of fun.“

Außerdem stellt Caroline den Austausch von Fachwissen und gegenseitige Hilfestellung im Computer-Club heraus, was wiederum für die Bewältigung des Studiums wichtige Ressourcen bereitstellt. Während sie in ihrem Herkunftsort ausschließlich mit Frauen befreundet ist, vermeidet sie im Studium den Kontakt zu anderen Frauen. Hierüber kommen Ordnungsvorstellungen von Informatik und Männlichkeit zum Ausdruck. Dementsprechend stellt der Kontakt zu anderen Frauen im Studium ein Risiko dar, Anerkennung von Seiten der Kommilitonen einzubüßen. Dennoch nimmt Caroline auch Vorteile als Frau in einer Männerdomäne wahr. Sie erfuhr besondere Förderung von Seiten eines Dozenten:

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„He is a computer science lecturer. He took especial interest in me and the other two girls that I was friends with, and he would try to push us forward, and that was always good. He was like, gave us extra things to do and gave us really good marks, that’s good.“

Darüber hinaus sieht Caroline Vorteile bei der zukünftigen Berufsfindung, wobei insbesondere die Nachfrage nach Frauen in technischen Berufen hoch sei. In diesem Zusammenhang erwähnt sie die vielen speziell für Frauen organisierten Events in technischen Fachbereichen. Nicole (21 Jahre alt) Nicole befindet sich im letzten Jahr ihres Wirtschaftsinformatik-Studiums. Ihr Interesse an Computern entwickelte sie als Kind. Ein zentraler Einfluss ging dabei von ihrem Vater aus, der als IT-Manager arbeitet. Während an der Schule ein ICT-Kurs zunächst obligatorisch war, wählte sie ihn als optionalen Kurs im Alevel weiter. Im Zentrum ihrer Entscheidung für ein Studium im IT-Bereich standen, neben dem Interesse und sehr guten Leistungen im ICT-Kurs, die guten Jobaussichten. Als problematisch für das Studium der klassischen Informatik erwiesen sich jedoch die Zulassungsbedingungen. Hierfür wurde Mathematik im A-level vorausgesetzt, was Nicole nicht vorweisen konnte. Darüber hinaus nahm sie Probleme im Zusammenhang mit ihrem Vorwissen wahr, wonach im ICT-Kurs keine Kenntnisse im Programmieren vermittelt worden wären, die sie jedoch als zentral für das Studium der klassischen Informatik ansieht. Nicole sah den Studiengang Wirtschaftsinformatik als Chance, ihrem Interesse an Informatik folgen zu können, jedoch in einer Form, die ihren Fähigkeiten besser entsprechen würde. Nicoles Eltern unterstützten die Entscheidung, ein Studium im Informatikbereich aufzunehmen. Neben der positiven Haltung von Seiten des Vaters als ITManager, verweist Nicole auf die Unterstützung durch ihre Mutter in ihrer Rolle als Bauingenieurin. Nicoles Freundinnen bestärkten sie ebenfalls bei der Studienentscheidung. Gleichsam nehmen diese ihre Hilfe bei computerbezogenen Problemen in Anspruch, was eine Anerkennung Nicoles technischer Fähigkeiten zum Ausdruck bringt. Zu Beginn des Informatikstudiums sah sich Nicole vor hohe Leistungsforderungen gestellt. Hinsichtlich ihres Vorwissens nahm sie gegenüber ihren KommilitonInnen Nachteile wahr. Gleichzeitig verweist sie auf Probleme der Zugehörigkeit als Frau in einer Männerdomäne:

230 | K ATHARINA LOSCH „Everyone sort of had a bit of a perception ,Typical girly girl‘ and not gonna actually grasp the subject because I think everyone has a preconception, and obviously it’s very male-dominated and ,Oh girls doing it.‘“

Durch erhöhte Bemühung gelang es Nicole, das Lernpensum zu bewältigen. Die Erfahrung, dass erhöhte Arbeitsanstrengung in der Schule zum Erfolg führte, war für sie dahingehend bedeutsam. Insbesondere verweist sie auf ihre schulischen Erfahrungen im ICT-Kurs, wo sie bereits Erfahrungen als Frau in einer Männerdomäne gesammelt hat. Zudem können Nicoles Erfahrungen im männlich dominierten ICT-Kurs als förderlich hinsichtlich der Bewältigung von Zugehörigkeitsproblemen im Studienumfeld gedeutet werden. Ein weiterer Faktor beim Umgang mit Problemen der Zugehörigkeit ist Nicoles Auslegung eines als konfliktgeladen empfundenen Klimas als Motivation zur Steigerung der eigenen Leistung. Dem gegenüber stellt sie ein starkes Gefühl von Wohlbefinden bei der Zusammenarbeit mit Frauen als wenig förderlich für die eigene Leistungsmotivation dar: „I think, as well, if I once work with a girl we probably end up nattering and just talking and going completely off the point (laughing), which I find usually happens, just having general gossip or something with each.“

Erfolg im Studium bestärkte sie hinsichtlich der Wahrnehmung ihrer Kompetenzen. Gleichsam verschaffte ihr der Erfolg Anerkennung unter den Kommilitonen: „When I actually got some exam results back and I found I did achieve higher than some of these boys, they are like ,Oh right okay‘ like ,You can actually do well at it‘ […]. A lot of them they appeared very clever to me, so I almost looked up to them, and then when I actually did better than them they sort of looked up to me as well (laughing), so it’s very nice.“

Zum Ende ihres zweiten Studienjahres gewann sie eine Auszeichnung der Fakultät für Informatik für die am stärksten verbesserte Leistung, was für sie eine weitere Bestätigung ihrer Fähigkeiten bedeutete. Neben der Strategie erhöhter Arbeitsanstrengung im Studium stellt Nicole das Fragen um Hilfe bei Kommilitonen als bedeutsam heraus. Hier zeigt sich implizit, inwiefern der Status als Frau – vor dem Hintergrund eines zugeschriebenen weiblichen Kompetenzdefizits gegenüber Männern – für den eigenen Erfolg genutzt werden kann. Nicole verweist auf weitere Vorteile als Frau in einer

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Männerdomäne. So deutet sie weiblich konnotierte Eigenschaften als eine besondere Ressource bei der Gruppenarbeit, die ihr dazu verhelfe, Anerkennung von Seiten der Kommilitonen zu gewinnen. Gleichzeitig profitiere sie von den männlich konnotierten Qualitäten: „I’m a very organised person and I like the time management and things like that. So, I brought skills to the table that some of them didn’t have ’cause, you know, boys sometimes are not very organised. And they appreciated that, and then I appreciated the more technical side of things that they gained skills through previous work and things like that.“

Rawya (32 Jahre alt) Rawya promoviert in Informatik an der East Midlands Universität, wo sie auch ihren Master absolvierte. Zwischen dem Master und ihrer Promotion arbeitete sie für sechs Jahre als Dozentin in ihrem Herkunftsland, dem Oman. Sie plant, dort ihre wissenschaftliche Karriere nach der Promotion fortzusetzen. In ihrer Kindheit sowie in ihrer Schulzeit hatte Rawya keinen Zugang zu Computern. Im Elternhaus gab es keinen und auch in der Schule wurde kein ITKurs angeboten. Die technische Modernisierung im Computersektor habe sich zu dieser Zeit erst allmählich zu entwickeln begonnen. Nach der Schule nahm sie ein Hochschulstudium auf. Sie wählte ein Studienprogramm, in dem sie im ersten Jahr verschiedene naturwissenschaftliche Fächer studierte. Sie nennt Informatik, Chemie und Biologie. Danach hatte sie die Möglichkeit, ein Fach für ein vertieftes Studium zu wählen. Auf diese Weise kam sie zum ersten Mal in direkten Kontakt mit Informatik und entdeckte dabei ihr Interesse: „So, when I go there I just know about computer science […]. But when I go to university there is a lot of labs, a lot of computers, a new world. When I start to get the first subject of computer science I feel like I like this topic. Then, I just take my Bachelor in computer science.“

Während sie aufgrund ihrer sehr guten Schulleistungen in Chemie zunächst dazu tendierte, dieses Fach zu studieren, erschien es ihr im Vergleich zur Informatik jedoch auf einmal unmodern: „I like chemistry, no, but I feel myself in here on the computer science route, yeah, this is more interesting, like a new thing. Chemistry is kind of a traditional subject (laughing), yeah, this is what I felt.“

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Die Tatsache, kein Vorwissen in Informatik zu haben, stellte kein Hindernis für sie dar. Vielmehr wurde ihre Neugierde auf den neuen Fachbereich der Informatik geweckt: „But at that time, I even don’t know how the mouse is by the way, when I started my university (laughing), I don’t know how to touch it. But that, it’s like a, give me like a ,I want to explore this area‘. So, I got ahead and I got good marks as well because computer science serves to maths somehow. I am good at maths, so that’s why I didn’t struggle with computer science, so that’s why.“

Gute (Schul-)Kenntnisse in Mathematik bedeuteten für Rawya im Informatikstudium weniger hart arbeiten zu müssen, was andernfalls aber kein Hindernis für das Studium dargestellt hätte. Über ihr Interesse hinaus nennt sie die guten Jobmöglichkeiten im IT-Sektor in ihrem Herkunftsland. Die Eltern unterstützten Rawyas Entscheidung, Informatik zu studieren. Der Vater kaufte ihr schließlich einen Computer, um sie im IT-Bereich zu fördern. Darüber hinaus wurde sie bei ihrer Entscheidung für ein Informatikstudium von einer Freundin ermutigt, die bereits Informatik studierte. Die positive Reaktion des sozialen Umfeldes sowie ihre eigene Haltung gegenüber Informatik stehen im Zusammenhang mit kulturell spezifischen Normvorstellungen in Bezug auf das Geschlecht. Denen zufolge erscheint Informatik als besonders geeignet für Frauen, da hiermit verbundene Tätigkeiten in Büroräumen stattfinden: „Computer science means mostly working in an office, you don’t go outside, so that maybe females prefer to have IT jobs to engineering, to go in the field. Maybe this is one of the reasons.“

Gleichzeitig verweist Rawya für ihr Herkunftsland darauf, dass es innerhalb der technischen Fachbereiche eine Differenzierung gibt, was als weiblich oder männlich gilt. Daran anschließend charakterisiert sie den Ingenieurbereich, der Tätigkeiten im Freien voraussetzt, im Gegensatz zur Informatik als männliches Fach.11

11 In gleicher Weise stellt Lagesen (2008, 5) für Malaysia heraus, dass Informatik insbesondere für Frauen als passend angesehen wird. Ebenfalls ist dort die Vorstellung verbreitet, dass mit der Informatik verbundene Tätigkeiten in Büroräumen einen geschützten Raum für Frauen bieten würden. Hingegen stellt sich die Arbeit im Freien, beispielsweise im Ingenieurbereich, als wenig passend für Frauen dar.

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Rawya verdeutlicht am Beispiel ihres Herkunftslandes, dass Frauen in der Informatik durchaus die Norm darstellen können. Sie verweist auf den Einfluss der spezifischen strukturellen und kulturellen Bedingungen. Der Zugang Rawyas zur Informatik entspricht den Normalitätsvorstellungen des Herkunftslandes und bringt damit weniger Konflikte als bei den britischen Frauen mit sich.

V. P ASSUNG UND H ERAUSFORDERUNG MÄNNLICHER F ACHKULTUR Bei den britischen Studentinnen des Samples ist insgesamt ein Einstellungswandel zu beobachten: Sind zu Beginn des Studiums teilweise noch starke Unsicherheiten in Bezug auf die eigenen Fähigkeiten vorherrschend, gewinnen sie im Studienverlauf verstärkt an Selbstvertrauen als Ausdruck einer Festigung der eigenen Passung. Im Folgenden wird die Analyse der Herstellung von Passung mit der anschließenden Beantwortung der Frage nach dem Potential einer Herausforderung männlicher Fachkultur dargestellt. Vorab werden bedeutsame Erfahrungen im Kontext multipler Zugehörigkeit erläutert, die den Frauen Wege in die Informatik ebnen und die Entwicklung von Dispositionen im Habitus befördern, die zur (späteren) Herstellung von Passung im Studium hilfreich sind. Hinsichtlich der Entwicklung des Interesses an Computern erwies sich bei den britischen Frauen dieser Studie ein Zugang zu Computern im Elternhaus bereits im frühen Alter als bedeutsam. Caroline und Nicole betonen den besonderen Einfluss ihres Vaters, der im IT-Bereich arbeitet. Weitere wichtige familiäre Ressourcen, die mit Blick auf die spätere Entscheidung für ein Informatikstudium von den vier Frauen genannt werden, sind: Wissen um Karrieremöglichkeiten im IT-Bereich, die Bestärkung der eigenen Fähigkeiten und die Unterstützung bei der Studienentscheidung, ohne dass geschlechtstypisierende Bewertungen vorgenommen werden. Des Weiteren verweisen Caroline und Nicole auf den Freundeskreis, wobei die Bedeutung von Unterstützung bei der Verfolgung eigener Interessen sowie der positive Einfluss von Anerkennung technischer Fähigkeiten zum Ausdruck gebracht werden. Im Gegensatz dazu entzog sich Susan bei ihrer Entscheidung für ein Informatikstudium dem sozialen Einfluss. Es liegt die Vermutung nahe, dass ihr dies angesichts der bestehenden geschlechtsspezifischen Normvorstellungen innerhalb des sozialen Umfeldes dazu verhalf, ihren eigenen Weg zu gehen. Im Elternhaus entwickeltes Interesse an Computern wirkte sich bei Amelie, Caroline und Nicole förderlich für die Wahl des Computerkurses an der Schule aus. Darauf bezogen beschreiben diese die Motivation zur Auseinandersetzung

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mit fachlichem Wissen im IT-Bereich an der Schule. Hierbei wurden sie vor die Herausforderung gestellt, einem sozialen Einfluss in Bezug auf vorherrschende Ordnungsmuster nach Geschlecht standzuhalten. Dies wird insbesondere über Caroline veranschaulicht, die sich einem allgemein geschilderten Desinteresse gegenüber Computern an ihrer Schule, einer katholischen Mädchenschule, nicht anschloss, sondern ihrem Interesse an Computern folgte. Im Gegensatz dazu schildert Susan den Einfluss einer Mitschülerin, die sie darin beeinflusste, den Computerkurs, der an der Schule angeboten wurde, nicht zu belegen. Dies legt die Vermutung nahe, dass sich geschlechtsbezogene Ordnungsvorstellungen von Seiten des sozialen Umfeldes insbesondere dann negativ auf den Zugang von Frauen in die Informatik auswirken, wenn ein Interesse an Computern aufgrund mangelnder Vorerfahrungen weniger entwickelt ist. Anders als bei Caroline, Amelie oder Nicole kann Susan keine besonderen Erfahrungen im Elternhaus vorweisen, die ihre Neigung zur Informatik beförderten. Erst über die selbstständige Tätigkeit mit Computern entdeckte sie später ihr Interesse daran und baute ihre Fähigkeiten aus. Über diesen selbst erarbeiteten Zugang zum Informatikstudium wird ein schulisches Defizit bezüglich der individuellen Förderung im IT-Bereich deutlich. Ein weiterer Punkt, auf den von den Studentinnen in Bezug zum Schulkontext kritisch verwiesen wird, ist die mangelnde Qualität bei der Vermittlung von technischem Wissen in den Computerkursen. Die Bedeutung von sehr guten Schulnoten im Computerkurs im Zusammenhang mit einem positiven Wissen um die eigenen Fähigkeiten wurde bei den Frauen darüber teilweise wieder entkräftet. Insbesondere beziehen sich die Studentinnen auf fehlendes Vorwissen im Programmieren. Neben der Bedeutung von Kenntnissen im Programmieren erwiesen sich (sehr) gute Mathematikkenntnisse in der Schule als wichtig in Bezug auf die spätere Entscheidung für ein Informatikstudium. Es lässt sich die Hypothese formulieren, dass Vorwissen die Funktion erfüllt, Vertrauen und Sicherheit hinsichtlich der eigenen Fähigkeiten zu schaffen, insbesondere wenn das Studium in einer Männerdomäne stattfindet. Besonders deutlich wird die Gewichtung der Bedeutung von Vorwissen für die britischen Studentinnen im kulturellen Kontrast zu Rawya aus dem Oman. So hatte sie vor Studienbeginn keinerlei Vorwissen, was ihr Interesse und ihre Neugierde an der Informatik sogar beförderte. Gute (Schul-)Kenntnisse in Mathematik hatten für sie lediglich die Bedeutung, im Studium weniger hart arbeiten zu müssen. Ein weiterer Aspekt bei Nicole ist, dass sie über den Computerkurs an der Schule bereits erste Erfahrungen als Frau in einer Männerdomäne sammeln konnte. Insbesondere für Frauen, die anderweitig keinen typisch männlichen Interessen nachgehen, können Schulerfahrungen mit Blick auf einen ersten Erfah-

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rungsgewinn in einer Männerdomäne eine wichtige Bedeutung für das spätere Informatikstudium darstellen. Über den familiären und schulischen Einfluss hinaus verweisen die vier Frauen auf die Bedeutung weiterer Erfahrungen für die spätere Entscheidung. So konnte ein Praktikum in einer IT-Firma Caroline dazu verhelfen, Unsicherheiten in Bezug auf die eigenen Fähigkeiten abzubauen und die Entscheidung für ein Informatikstudium bestärken. Des Weiteren können – wie bereits angesprochen – Vorerfahrungen in einer Männerdomäne als förderlich in Bezug auf ein Informatikstudium gewertet werden. Dies kann sich zum einen auf ein bereits gewonnenes Selbstbewusstsein hinsichtlich der eigenen Kompetenzen beziehen, wie Susan veranschaulicht, die sich im männlich dominierten Musikstudium als erfolgreich erwies. Zum anderen kann sich dies auf eine vertraute Interaktion mit Männern beziehen, was einen positiven Einfluss auf die Bewältigung von Zugehörigkeitsproblemen im Studienkontext darstellt. Darüber hinaus spielt hinsichtlich der Studienfachwahl der Studiengang Wirtschaftsinformatik eine wichtige Rolle für Caroline und Nicole. Beide waren zur Zeit ihrer Studienentscheidung der Auffassung, dass ihre Fähigkeiten für ein Studium der klassischen Informatik nicht ausreichend seien. Das Wirtschaftsinformatik-Studium erschien ihnen hingegen als passend. Dieser Studiengang weist neben einer thematischen Variation, die sich vom Schwerpunkt Programmieren löst, einen verhältnismäßig höheren Frauenanteil auf als das klassische Informatikstudium.12 Im Informatikstudium werden die vier Frauen auf ihrem Weg zum Erfolg angesichts der bestehenden männlichen Fachkultur mit Herausforderungen konfrontiert. Angesprochen ist zum einen eine Verunsicherung hinsichtlich der eigenen Fähigkeiten. So schildern Amelie und Nicole Nachteile in Bezug auf ihr Vorwissen. Zum anderen sehen sich die Frauen vor Probleme der Zugehörigkeit als Frau in einer Männerdomäne gestellt. Auf der Suche nach Passung der Studentinnen können drei Typen von Handlungsstrategien bestimmt werden, die eine jeweils unterschiedliche Positionierung gegenüber der männlichen Fachkultur zum Ausdruck bringen: (1) Anpassung, (2) Abgrenzung und (3) direkte Herausforderung. Die (1) Anpassung an die männliche Fachkultur bezieht sich auf Strategien, die aus dem Bestehen männlicher Fachkultur Ressourcen für den eigenen Erfolg schöpfen. Hierzu können zunächst Strategien einer Identifikation mit Männlich-

12 Während das Verhältnis Frauen/Männer im Studium der klassischen Informatik bei 1/8 liegt, misst dies im Studiengang Wirtschaftsinformatik 1/3 (Diese Zahlen entstammen der Universitätsstatistik für das Herbsttrimester 2014.).

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keit bei gleichzeitiger Desidentifikation mit Weiblichkeit identifiziert werden. Strategien, die diesbezüglich genannt wurden, sind: die Herstellung von Zugehörigkeit im Studienumfeld; eine Mitgliedschaft im Computer-Club; die Demonstration von Kompetenz, wobei das Stellen von Fragen in den Veranstaltungen das Risiko in sich birgt, als unfähig zu gelten; die Deutung eines konfliktgeladenen Klimas als motivationsfördernd sowie das Ignorieren von Kommentaren, die auf ihre Geschlechtszugehörigkeit anspielen. Strategien, die den weiblichen Status zum eigenen Vorteil nutzen, stellen eine Unterkategorie von Anpassung dar. Angesprochen wurden in diesem Zusammenhang: einfachere Kontaktmöglichkeiten, da leichter identifizierbar; Vorteile bei Dozenten, bei der Berufsfindung, hinsichtlich der Erfahrung von Hilfestellung sowie die Deutung weiblich konnotierter Eigenschaften, z.B. eine organisierte Arbeitsweise, als wertvolle Ressource. Im Gegensatz dazu, bezieht sich die (2) Abgrenzung von der männlichen Fachkultur auf Strategien, die aus der Abwendung von der männlichen Fachkultur Ressourcen mobilisieren. Strategien, die hierbei ermittelt werden können, sind eine Distanzierung von den KommilitonInnen im Zusammenhang mit einer erhöhten individuellen Arbeitsanstrengung oder ein Zusammentun mit anderen Studentinnen, um sich im Studium gegenseitig zu unterstützen. Die (3) direkte Herausforderung männlicher Fachkultur stellt eine Bestärkung der eigenen Handlungsmacht dar und kommt über die aufgelockerte Atmosphäre im Kontext von „Neckereien“ zum Ausdruck. Die meisten Studentinnen nutzen Strategien der Anpassung – vor allem in Form einer Identifikation mit Männlichkeit bei gleichzeitiger Desidentifikation mit Weiblichkeit sowie teilweise durch die Nutzung von Vorteilen als Frau – und Strategien der Abgrenzung, insbesondere über das Aufbringen einer erhöhten Arbeitsanstrengung bei einer gleichzeitigen Distanzierung von KommilitonInnen. Die Strategie des Zusammentuns mit anderen Frauen findet scheinbar nur im Fall von Amelie Anwendung. Demgegenüber kommt bei Caroline und Nicole eine Inkompatibilität dieser Strategie auf der Suche nach Passung in einer Männerdomäne zum Ausdruck. Nicole bewertet den Einfluss von Frauen als wenig förderlich für ihre eigene Arbeitsmotivation. Caroline deutet hingegen die Problematik dieser Strategie im Hinblick auf die Bewahrung von Anerkennung von Seiten der Kommilitonen an. Eine direkte Herausforderung männlicher Fachkultur wird ebenfalls nur von Amelie angesprochen. Als legitime Form erweist sich hierfür eine aufgelockerte Atmosphäre im Kontext von „Neckereien“, was der Selbststärkung – im Gegensatz zu einer Duldung von Anspielungen auf die Geschlechtszugehörigkeit – dient. Insgesamt erscheint die Strategie der Herausforderung männlicher Fachkultur, die das Risiko von sozialem Ausschluss birgt,

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für die Studentinnen als wenig förderlich für die Mobilisierung von Ressourcen im Studium. Der Zugewinn an Selbstsicherheit sowie Anerkennung von Seiten der Kommilitonen als weitere Effekte von Erfolg stellen wiederum Ressourcen für zukünftigen Erfolg bereit. Die mit Hilfe der Handlungsstrategien erworbenen emotionalen und fachlichen Ressourcen stellen eine wichtige Grundlage für den Erfolg der Frauen im Studium dar. Erzielter Erfolg befördert den Aufbau eines Gefühls von Sicherheit hinsichtlich der eigenen Fähigkeiten. Die damit zum Ausdruck gebrachte Passung stellt die männliche Dominanz in Frage, die Frauen symbolisch von einem Ringen um Einfluss im Fachbereich der Informatik fernhält. Neben dem Wandel im Selbstverständnis der Studentinnen, im Zusammenhang mit dem neu gewonnen Selbstbewusstsein, ist ein Wandel im männlichen Studienumfeld auszumachen, demnach eine Irritation früherer Einstellungen gegenüber den sich als erfolgreich erweisenden Frauen sichtbar wird. Über die Stärkung der Positionierung der Frauen in der Informatik wird eine fachkulturelle Dynamik in Richtung einer Öffnung für Frauen befördert.13 Darüber hinaus kann die Etablierung weiblicher Vorbilder im (näheren) sozialen Umfeld bewirken, dass die Fähigkeiten von Frauen in der Informatik sichtbarer werden und weiteren Zustrom von Frauen in die Informatik auslösen, wodurch weitere fachkulturelle Dynamiken im Informatikstudium angestoßen werden. Der Erfolg der Frauen setzt die Entwicklung von Handlungsstrategien im Studium voraus, die im Einklang mit der männlichen Fachkultur stehen. Die Frauen können hierüber wichtige Ressourcen für ihr Studium mobilisieren. Insbesondere Strategien der Anpassung, die ihnen Zugehörigkeit zu den männlichen Kommilitonengruppen verschaffen, spielen hierfür eine wichtige Rolle. Eine direkte Herausforderung männlicher Fachkultur, im Zusammenhang mit einer offenen Kritik an der Norm der Männlichkeit, stellt für die Studentinnen hingegen ein Risiko dar, den Zugang zu wichtigen Ressourcen zu gefährden. Das Erzielen von Erfolg bringt notwendigerweise zum Teil eine Reproduktion der männlichen Fachkultur mit sich. Zugleich stellt die Passung der Frauen die männliche Fachkultur jedoch in Frage. In dem Sinne stellt die Suche nach Passung der Frauen ein Potential zur indirekten Herausforderung der männlichen Fachkultur dar, d.h. von der Anpassung an die männlichen Strukturen hin zu einer Infragestellung männlicher Dominanz.

13 Siehe weiter hierzu die Auseinandersetzung mit dem Konzept der ‚kritischen Masse‘ nach Sarah Childs und Mona Lena Krook (2008).

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VI. F AZIT Vor dem Hintergrund des ‚widening participation‘-Programms zur sozialstrukturellen und geschlechtsspezifischen Öffnung der Universitäten wurde über eine Analyse der Suche nach Passung von Frauen im Informatikstudium, unter Berücksichtigung der Bedeutung multipler Zugehörigkeit, nach dem Potential einer Herausforderung männlicher Fachkultur gefragt. Hierzu führte ich eine qualitative Forschung mit Studentinnen der Informatik in Bezug auf den Bachelor als Erfahrungshorizont an einer britischen Campus-Universität durch. Neben Interviews mit britischen Studentinnen, von denen vier zur Darstellung in diesem Artikel ausgewählt wurden, führte ich zur Kontrastierung der Daten ein Interview mit einer Doktorandin aus dem Oman. Als wichtiger Einfluss auf die Entscheidung für ein Informatikstudium – entgegen einer weiterhin bestehenden Geschlechterordnung, der zufolge Informatik als männlich codiert wird – erwiesen sich bei den britischen Studentinnen Elternhaus und Schule. Der Freundeskreis oder Räume, in denen über Hobbies oder in Form einer vorangegangenen Ausbildung bereits Erfahrungen in einer Männerdomäne gesammelt wurden, stellen für die Frauen weitere wichtige Ressourcen für das Informatikstudium dar. Im Studienumfeld stehen die Frauen vor der Herausforderung, sich angesichts einer männlichen Fachkultur, in der ausschließlich Männlichkeit als Norm gilt, zu bewähren. Auf der Suche nach Passung können vordergründig (1) Strategien der Anpassung – insbesondere durch die Identifikation mit Männlichkeit bei gleichzeitiger Desidentifikation mit Weiblichkeit und teilweise im Nutzen des weiblichen Status zum eigenen Vorteil herausgestellt werden. Ebenfalls relevant sind (2) Strategien der Abgrenzung, wie das Aufbringen erhöhter Arbeitsanstrengung als Folge einer Distanzierung vom sozialen Austausch im Studienumfeld. Erfolg bringt, insbesondere mit Bezug auf die Bedeutung von Strategien der Anpassung an die männliche Fachkultur zur Mobilisierung wichtiger Ressourcen, eine Reproduktion der männlichen Fachkultur mit sich. Indem die Frauen erfolgreich sind, stellen sie gleichzeitig jedoch die männliche Dominanz in der Informatik in Frage. Dies könnte eine fachkulturelle Dynamik bewirken, die zur weiteren Öffnung des Fachgebiets für Frauen führt. Die bisherige Forschung, die eine direkte Herausforderung männlicher Fachkultur durch Frauen als einzige Möglichkeit für Wandel ansieht, muss zwangsläufig immer wieder zu dem Ergebnis kommen, dass sich die männliche Fachkultur reproduziert. Die Perspektive dieser Studie, die von dem Potential der in-

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direkten Herausforderung männlicher Fachkultur ausgeht, zeigt hingegen, dass eine Subversion bereits stattfindet.

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B INÄR

CODIERT ?

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In Search of Belonging Russian LGBT people in Germany K RISTINA M ATVEEVA

I. I NTRODUCTION Migration from Russia has attracted academic attention in the last 20 years (Helen Kopnina, 2005). Scholars have particularly focussed on migrants having either German or Jewish roots (Ewa Morawska 2004, Julia Lerner et al. 2007). Little attention has been dedicated to the experiences of LGBT people who have migrated to Germany, however. This topic is gaining in importance because of the growing levels of homophobia in Russian society (Gessen/Huff-Hannon 2013). The aim of this research is to observe the way LGBT people who moved from Russia to Germany find their way in life in a new country. The analysis includes different aspects of their lives, from sexual identity to educational or professional pathways. It illuminates the process of creating belonging, revealing the ways young migrants attune their sense of belonging in a new environment. In this vein, this inquiry accentuates the necessity to include different types of belonging emerging in various spheres of young people’s everyday life into the analysis. It combines such layers as their educational experience, family affiliation, network of friends and work environment. In recent years, there has been an increasing amount of literature written on sexual identity and sexuality. For the most part, this research strand, for instance queer theory (Renn 2010), analyses the identity development of various LGBT people like gay or transsexual people (Bilodeau/Renn 2005), examines social movements and organizations supporting LGBT rights (Zamani-Gallaher/Choudhuri 2011), studies student attitudes toward homosexuals (Lehman/Thornwall 2010; Worthen 2012; Stotzer 2009), and examines discriminatory experiences of LGBT students within the university (Friedman/Leaper 2010).

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Some research has also concentrated on problems regarding the professional and career development of homosexual people. For instance, some scholars investigate the influence of campus climate or university experience on LGBT performance (Rankin 2004; Burleson 2010; Longerbeam et al. 2007); others examine the development and differences in the career paths of LGBT individuals (Gedro 2009); and some examine the influence of career counseling (Chojnacki/Gelberg 1994; Schmidt et al. 2010). Other strands of interest focus on the influence of sexual orientation on academic and career decisions (Nauta et al. 2001, Strayhorn et al. 2008). There have been relatively few recent LGBT studies in Russia, but the ones that have been conducted have mainly been concerned with the everyday experiences of LGBT people since the launch of anti-LGBT campaigns in Russia (Soboleva/Bakhmetjev 2015; Kondakov 2013). The prominent aspect of these studies is the difficulties that LGBT people face during their educational experiences. As a result, initially, this study was biased towards the idea that the way LGBT people create their belonging is an exceptional process accompanied by many difficulties and complications. It influences their lives and particularly influences their educational choices. During the research, it became obvious that in the way they live their lives young people’s actions were also influenced by other factors such as family support and personal interests. Hence, the goal of this paper is to understand how young LGBT people with migrant backgrounds organize their lives and create their belonging. The concept of belonging emerged from interviews about educational choices, which made this theme the most prevalent one. Different aspects of participants’ lives were analyzed to understand the process of creating belonging. As a result, this analysis pays attention to such aspects as migration to Germany, family relations, education in German universities, professional career, being lesbian, gay or transgender, and participation in the organized LGBT community

II. C ONCEPTUALIZATION According to Joanna Pfaff-Czarnecka, belonging, as a social location, combines three different dimensions: commonality, a sense of mutuality, and attachment (2011, 3-4). Looking from the perspective how to create belonging commonality is the process by which newcomers incorporate the experience and culture of a group or community that they want to join. This dimension usually becomes the central issue for the analysis of boundary-creation and exclusion. The second dimension is the sense of mutuality, whereby a person or a collectivity is considered to be part of the the larger collective because they fulfill internal require-

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ments. As a third dimension, attachment implies the extensive link to a community or a group. This understanding of belonging assumes not only a boundarymaking process, but also offers the opportunity to analyze the process of becoming (Pfaff-Czarnecka 2011, 5). A bounded and exclusive understanding of belonging is more often applied to the analysis of situations that are problematized by gender, racial or migrant background experiences (Bell 1999, 3). This conceptualization of belonging employs a macro-level analysis that relates more dimensions such as citizenship and belonging to a nation (Christensen 2009, 27-28). However, the analysis of interviewees’ multidimensional experiences shows that the micro level of belonging, such as creation of commonality and development of selves (Bell 1999, 1), is more applicable for analyzing belonging to local communities and everyday life experiences (Christensen 2009, 27-28). Furthermore, some parts of the interviews include also meso-level belonging associated with communities of social movements and organizations. In our case, the development of belonging is to some extent connected with the LGBT community, which provides young gay, lesbian, and transgender people with support and allows them to communicate with like-minded individuals. As a result, the multidimensional nature of belonging is expressed not only in terms of country of origin, gender, or sexuality, but also in different types of groupings to which people feel they belong (May 2011, 370). According to Vanessa May, the picture of such a complex belonging can be seen as hostile and competitive when different identities contradict each other. However, the multidimensional nature of belonging allows a person to create a composite sense of belonging and even combines two seemingly contradicting dimensions. Consequently, it is important to synthesize several layers and dimensions of belonging into the analysis, because concentrating only on the level of inclusion or exclusion will make the analysis of these cases insufficient.

III. M ETHODOLOGY The grounded theory approach was employed, as it enables all steps of research from data collection to analysis and production of theory to be conducted in a very sensitive and deep manner, which is important for the analysis of such an intimate theme as sexual identity (Birks/Mills 2010, 65). The interviewing phase was carried out over one month in Germany with Russian speaking people living in Germany who identify themselves as members of the LGBT community. Access to these people was achieved by the help of the members of an LGBT or-

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ganization that is based in Germany and works with the Russian-speaking LGBT community. In the beginning, contact with one of the organization co-founders was established, and then a recruitment email was sent via the community newsletter, and, as a result, research participants were found. If a person did not live in the same city as the researcher, the interview was done by Internet via Skype. Three individual semi-structured interviews were conducted: one with a gay man (Roman), one with a lesbian (Olga) and one with a transgender individual (Mikhail)1. Interviews lasted between 80-130 minutes each and were digitally recorded. The spoken language of all of the interviews was Russian, which helped in gaining access to a specific group of students and made communication easier and more open because conversation was conducted in their mother tongue. During the interview analysis, three different core categories appeared. The first idea of ‘an escape’ as a core category appeared after the analysis of the first two cases was done. In the first case, ‘an escape’ is one from something challenging everyday life, and in the second case, ‘an escape’ operates through parental control and an unfriendly environment towards homosexuals in Russian society. However, this concept could not be applied to the third case of the transgender individual, whose story includes other more prominent categories such as self-acceptance of gender identity. In this way, the second idea of the core category as ‘an identity' emerged. However, the concept of identity as a settled phenomenon does not include the possibility of development or change (Anthias 2006, 20), although from the interviewees’ experiences, it is noticed that the process of personal transformation is ongoing. Moreover, the concept of identity could not cover the multiple nature of the ‘self-acceptance’ process reflected when interviewees speak not only about their sexual orientation but also about professional development and family relations. Conversely, the categories of ‘self-acceptance’ or ‘identity’ were also excluded from possible core categories. As a result, during discussions, revision of interviews, and ongoing analysis, the idea of multiple belonging as a core category for the research appeared. In this case, the belonging concept works, because interviewees’ narratives tell us not only about their feelings and internal concerns but also about their social interaction within different types of communities and about social navigation (Pfaff-Czarnecka 2013, 8) through life and the educational process. This category is relevant because the concept of belonging assumes a person’s location in

1

The names of participants, institutions and other telling details were changed and cannot be recognized.

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the social structure is defined by attachment and commonality to it (PfaffCzarnecka 2013, 13). This concept was integrated into the analysis in a natural way and easily brought together all other categories. In the context of the research, the concept of belonging is represented in different variations: belonging to Germany as a country of choice; the sense of belonging to a university; belonging to a profession, such as engineering or photography; belonging to LGBT people; belonging to a LGBT community; and belonging to a gender. The dimensions of belongings can vary in ways that are diverse and, as a result, provide the opportunity to analyze data collected during research in a comprehensive way. As a result, the quest for belonging stood out as the most significant category for understanding the educational path of Russian-speaking homosexual people in Germany.

IV. P ORTRAITS Olga: ‘It [studying] is an escape from an adult life, a little bit more prolongation’ The first story describes the experience of Olga, a twenty-seven-year-old married lesbian who moved to Germany with her father in 2001 when she was 14 years old. Olga was born in one of the Soviet Republics. When she was a child, her parents divorced, and her mother started a new family where a new child was born. At a result, Olga decided to join her father, whom she had previously visited only on weekends, and moved with him to Germany. Neither of them was ready for this demanding experience, and, as a result, they faced several difficulties. ‘My mother was married a second time. She lived with a man, and I was a redundant child who lived with grandmother. In that moment, I thought that I did not have anything to lose. If I do not need my mother, so I can try and move with father.’

Now, Olga is married and studying at a German University and is preparing to become a self-employed photographer. She graduated from a German Gymnasium, did her practical part of her Abitur outside of school, and finished an Ausbildungprogramm as an illustrator. Olga describes her experience of integrating into German society in terms of a challenge that was also complicated by problems with her father. However,

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Olga’s narrative reveals that even in such a challenging situation, she felt at home in Germany. “When I moved to Germany, I had thoughts that of course I could pack my stuff and come back. But maybe it would be better to stay and see. Then I went to school, and it was too late. I could not drop out of school and come back. It had already been my home. It does not matter how bad it is, but you are living here and cannot leave.”

Her desire to belong to a new country was her attempt to compensate for the absence of parental support and family affiliation. Her mother had a new family, whereas her father had high expectations that she should act as a provider and supporter and organize their new life. As a result, Olga stayed in Germany with her father, but as soon as it was possible, she moved out of his house and started an independent life. As a result, when she moved away from her father and their ensuing conflicts, Olga’s life became less stressful. In addition, adaptation to a new life in Germany became easier because she limited contact with her ethnic community. On the one hand, Olga adjusted to the new conditions and culture on her own and without parental support or help. Because she lived alone, she did not experience any negative influence from her father, who did not take any action to adjust to a new life. During that time, she had a lot of new contacts at school that helped her to familiarize herself with rules and norms of the new environment. As such, she does not think of herself as a person who is ‘out of norm’ being a lesbian, or ‘specific’ because of the migrant background in the new society which became her home. Her desire for family support and belonging is revived later on in Olga’s decision to start her own family. While in school, she fell in love with a girl who lived in Russia. This fact can be seen as an attempt not only to build a family but also to find a partner who was raised in the same environment and thus has a more similar background to her. They started to communicate with each other frequently over the Internet, organized several personal meetings, and finally went beyond friendship. Neither of them had ever had a homosexual relation before. In order to live together in Germany, they had to get married for legal reasons. The marriage symbolically divides Olga’s life into two parts, a before and an after. The past is considered a negative experience full of challenges and instability, but after marriage, in Olga’s eyes, life became stable and ‘as it should be’. She recalls this period with pleasure, because it is the period during which she began feeling confident about the future. In this way, Olga considers stability to be a time when there is no need to make life choices.

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“It was a feeling that nothing is going to happen. I have a flat, I have a job, and my wife will soon come. I had distinctness. When you are studying at school and do not know what is next, this is frightful. When you do not have parents and do not have anybody to give you advice. But when we married and I started to work, I had no time, everything was difficult, but everything was determined, and it was great!”

Strong relationships within her family and the positive response of her parents regarding her sexual orientation make her life easier. As a result, she does not feel the necessity to participate actively in any social movements of the LGBT community. Another reason why she does not actively participate in such organizations is that she does not feel pressure from society regarding her sexual orientation. In her life, she does not need to take into account such variables as the gay-friendliness of a university or company. Thus, Olga sees the LGBT community only as a provider of rights and some privileges. “LGBT community always does something, but it is something that I am not really in. I am not an active participant in social organizations. I do not attend any organizations in the University. I just know how leaders of it look like, but they (…) do not know about me.”

To extend this time of stability, Olga decided to prolong her education and applied to a university. She describes her university experience again in terms of stability and as an escape from challenges of adult life. However, she does not recognize her marriage as a part of being adult. “Studying for us is another structure that provides stability, where everything is clear, distinct and apparent. It is an escape from an adult life, a little bit more prolongation.”

The university, for Olga, is not only a place where she studies; it is also a place where she tries to understand herself and to develop her professional interests. Even though she always knew that she wanted to pursue the visual arts, she still feels the necessity of education, not because education provides her with additional knowledge, but because it helps her find her place in life. “I have one year before I graduate from the university. Actually, I am at the same place where I was before I enrolled in the university. My education actually cannot give me anything, like a good salary, stability or something else. Studying gave me understanding of what I actually do not want to do.”

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We can see that constant stress and chaos in Olga’s private life do not always connect to the fact that she is a lesbian. However, all of these stresses and insecurities had an influence on the way she made her choices. She is always looking for safety, security and protection. As a result, the different educational institutions such as school and university became a shelter, a safe place for her, which helped her to avoid or delay some difficult decisions. Moreover, these institutions provide her stable and fixed patterns of life. Therefore, she prefers studying longer and to be safe over starting to look for a job or develop her private enterprise. Roman: ‘It [university] was a period of my personal development.’ The story of Roman, a twenty-eight-year-old gay man who has been living in Germany for seven years, differs, however, from the experiences of the other research subjects. One of the reasons is that Roman moved to Germany alone to study, whereas the others came with their parents and at a younger age. In addition, Roman realized his homosexuality when he lived in Russia and had to hide it from his family, friends and community. As a result, the experience that he has had in Germany has significantly changed his life and the way in which he perceives himself. It divides his life into two different parts. Before Roman moved to Germany, he received a Bachelor of Engineering degree in Russia, and he moved to Germany to begin a master’s program. After the university, he stayed in Germany, and he has been working in the commerce sector in Germany for 3-4 years. During his education in Germany, he became part of a social organization that provides help and support to the Russian LGBT in Germany. Now, he is an active member of this organization. In the future, he wants to become more independent and start his own business. His educational path can be characterized by a high level of motivation and the ability to adapt to changes in pursuing his dream of becoming a professional. For instance, when he studied at school, he and his mother decided to change schools, and he applied to a lyceum with a more advanced educational program in physics and mathematics. This attribute of determination often repeats in Roman’s story. As a high-achiever, he finished university with a degree of distinction. In addition, during his studies, he learned German, which later helped him move to Germany. During his education, he always had direct and indirect support from his mother, who motivated him to strive for more.

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“She always supports me. She always gives me the opportunity to choose what I want. Maybe she does not like some of my decisions, but I can always rely on her. I just explain to her why I want this, and that this is not just a whimsical idea. I always have a motivation or explanation, and I know that my family will support me.”

He studied German for five years, was familiar with the country, and had relatives there who could support him. However, while his mother wanted a good education for her son, he considered studying in Germany as an opportunity to escape from his mother’s control and to start a new life being openly gay. “One of the reasons why I moved to Germany was unwillingness to be under mother’s control. When you are far you do what you want, and no one knows about it. You go away because you are afraid to tell your parents that you are gay.”

According to his perspective, his education at a German university was more of an opportunity to understand the world and himself than to improve his educational knowledge. He describes this time as a time of gaining self-acceptance as a homosexual. During his education, he did not push himself to graduate sooner even though he had limited finances. He extended his education by refusing to pass exams and by not attending classes. This was his way of prolonging life in Germany. It was important to him because the time during which he studied in Germany was the time he explored himself and began to accept himself as a homosexual. “I had personal goals. It was a period of my personal development. I met new people, made friends, and understood myself. During my education I started to communicate more with gays.”

Before Germany, he lived in oppression and hid his sexuality. This part of his interview shows, through his memories, that during his time in Russia, he medicalized and criminalized his homosexuality, and he felt like he had to hide his ‘abnormal’ sexual orientation. “At the beginning you do not realize that something abnormal is happening. (…) When I first had access to the Internet, the first thing that I did is I searched everything about homosexuality. What it is and how to cover it. I was really afraid.”

During the time when he studied in Germany, he became more active and started to participate in the LGBT community. It was his way of coming out. It is inter-

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esting that when he says something about his sexual identity, these stories usually go together with stories about a social organization that he participated in. For him, participation in the LGBT community is more of a matter of being an activist than a matter of being a gay person. It also can be seen as an attempt to substitute the family he had left. “I read that some people would organize Russian gays for a gay-parade. I wrote them and joined. So, I participated in my first gay-parade. It was my personal coming out, and it was very important for me. I did not know anyone in that moment.”

As a result of his active social life, he involuntarily disclosed his identity to his mother when she found his photo from a gay pride parade. However, it was easier to open up at that moment because he was ready, because he had already accepted himself as gay with the help of LGBT friends and the community. Mikhail: ‘Education increased my chances to find a job.’ The third participant of the research is Mikhail. Mikhail is a thirty-two-year-old who started his transition from female to male two years prior to the interview. At the time of the interview, he had been undergoing hormone therapy for four months. Telling his story, he represents himself as a man and uses masculine pronouns. The analysis of this case will represent his story in the way he did. Mikhail (previously Maria) has a migrant background. He moved to Germany at the age of 14 with his family, and he received all of his degrees in Germany (Ausbildung, B. Eng., M. Eng.). His profession was engineering, and at first he tried to combine it with social science and then later with medicine. He is now working in a medical company. Mikhail’s first migration was with his family within Russian territory. Afterwards, they migrated to Germany. As Jews, they had two opportunities for migration: Israel or Germany. Germany answered their request faster. Right after school, he chose to do an apprenticeship. He preferred to pursue psychology at the university, but his grades were not high enough for this major. Due to the way the German education system works, he had the opportunity to improve his grade by waiting more than ten semesters. He preferred, however, to study another specialty, choosing engineering. “It was very important for me that in engineering there are more men than women. It was one of the important parameters for my choice. I was interested in social science but I

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knew that 80% of the students studying there are women. (…) I thought that it would be easier for me to study with men than with women.”

However, from our further discussions it is evident that several other reasons affected Mikhail’s choice. The first reason was family influence and pressure. Both of his parents are engineers who consider it better to go study than to start work earlier, and they consider engineering to be a proper specialty that eases entry into the job market. Taking this position was also strengthened by their migrant experience, whereby they felt insecure as migrants. Secondly, Mikhail chose engineering because this profession was more suitable for a man. This point was important to him because its fulfilment would help him to position himself as a man and thus to separate from women. Although he refuses to categorize professions by this attribute, when he describes his choice, he explains that this specialty is usually more popular among men and that he did not want to study psychology with women. As such, he uses gender as a main reason for the study subject choice. Finally, he chose a profession to which he feels he can belong according to his preferred gender and which is at the same time in demand in the labour market. After his apprenticeship, he continued his professional development. He decided to pursue a bachelor’s degree and enrolled at a university. During that time, he did not stop working, because it gave him both financial and spatial independence from his family. His bachelor’s thesis gave him the opportunity to become closer to his desired speciality. After obtaining a Bachelor of Science (BS), he tried to find a job or educational program that would allow him to combine engineering with his favourite major, although it did not happen because of financial problems. As a result, Mikhail decided to study further. He finished his Master of Science (MS) abroad to combine his specialty with medicine, as a way to meet the market demand. This education gave him the opportunity to find his current job. His professional development simultaneously goes together with his self-acceptance as a man. Mikhail felt himself to be a boy all of his life, but he made the decision to change his sex only two years ago. Before that time, living in female body, he always had relations with women. For him, these relations with women were heterosexual in which he acted as a man. Now, he has started hormone therapy, and even after 3.5 months, he can already see the results of it on his body. These visual results help him to strengthen his identity as a man.

254 | K RISTINA M ATVEEVA “I always felt myself a man. However, in school, I had relations with boys because I tried to meet society’s requirements. Later, at 21 I had my first relations with a woman. (…) In my eyes was a man, however, may be for that girl I was not.”

It is interesting that Mikhail finally made his decision to change his sex from female to male right after he found a permanent job. In this period, his life became stable, not needing to continuously search for a career in which he could both implement his knowledge and satisfy his interests. Additionally, when he had professional doubts, he did not consider the transition to a man as his next goal. Thus, his long educational path and desire to get a stable job were barriers to his self-acceptance. ‘I realised that it could not prolong more and that I spent a lot of time in my life thinking why I am not a man?’ Now that he is on hormone therapy, he is learning how to live in a new body and within a new role. For example, even if before that time he used to go to the men’s bathroom, it is still difficult for him to start a new practice. He would also like to finish his sex transition while he is in his current place of work, because he wants to be regarded only as a man in the case that he were to change jobs. ‘It is difficult time when two different worlds are thrown together. One world where people perceive me as a man, call me by my man’s name and so on. These are my friends and others. And another world at my job where people did not know before or parents. It is kind of two parallel worlds.’

Mikhail’s educational path went together with his process of self-acceptance and shaping of himself. However, the most important events connected with his sexual understanding of himself happened to him recently. What is most interesting is that it happened right at the moment when he graduated from university, found a job, and became completely independent. These steps can be seen as prerequisites of gender-transition. Finally, when Mikhail somehow finished his search for himself in his profession, he flung himself into the transformation completely.

V. F INDINGS : INTEGRATION , AND SELF - ACCEPTANCE

BECOMING

There is an important theme which appears throughout all of the interviews and is shared in the migrant experiences of the participants. When Olga, Roman and Mikhail were in the process of integrating in a new country, they were facing

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multiple challenges. The most obvious challenge for all of them was the language deficit. Usually, language is considered to be very important, as without it assimilation is impossible. Hence, participation is restricted to the confines of the migrant’s native community. In this study, Olga and Mikhail had limited knowledge of German. However, with the help of special language courses and schools for migrants, they improved their skills. It resolved their language problem, which was one of the barriers in their joining the new society. “At the beginning I studied in an international school for learning language and then entered Gymnasium. After studying at the language school where everything was easy, it was a difficult transition time because you have to study in a normal school where everyone speaks German – their mother tongue.”

On the other hand, Roman, who migrated to study at a German university, also had language problems. These problems made him feel insecure and uncomfortable in a new place, and even now, after seven years living in Germany, he is still facing similar challenges. In addition, language problems overlapped with other difficulties that he faced in the first days after moving, further complicating his integration. “When I came to Germany I knew the language but not enough, for example, to discuss rare problems. I did not know many terms because I could not find them in books.”

The example of language as an instrument of exclusion has a flipside. At the same time that the lack of language is a boundary for participation in society, it also gives young migrants the opportunity to create a community that helps them understand who they are. In this way, the Russian language was an instrument that helped them create alternative attachment. This community allowed them to communicate in their common language, to discuss their common problems with people who understood them and, as a result, to compensate for difficulties of integration into the society. Integrating into a new country is more than just acquiring the knowledge of the language. In this case, even when lacking language skills, young migrants could still feel at home in Germany. From Olga’s description of her experience in Germany, for instance, we can see that her feelings of attachment to Germany appeared much earlier than when she began to learn German. “It [Germany] had already been my home. It does not matter how bad or difficult it is, but you are living here and cannot leave.”

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Meanwhile, for both Olga and Mikhail, the integration into German society was accompanied with the impossibility of going back to their previous lives. Neither of them had places that they could go back to or call home. This made it easier for them to construct attachments to a new place. Roman did not have such an experience, but his internal desire to find himself and to start a new life as an openly gay also had a positive influence on his process of integration into German society. Integration into a new society is a mutual process. It means not only that newcomers look for a way to integrate but also that members of a host society either accept the newcomers or not. At the same time, the interviewees’ experiences did not show any explicit practices or evidences of rejection, discrimination, hostility, or exclusion. However, it is rather possible that exclusive practices had an implicit form and that these young homosexuals did not recognize them as such. Another explanation is that these young persons had created their own forms of attachment to the host country which helped them to avoid or overlook discriminatory or hostile experiences. In our cases, Mikhail and Roman had very strong family ties that provided them with direct and indirect support, on the one hand, but prohibited the formation of their identity on the other. As a result, both of these men moved out of their homes in order to prevent interference in their lives and to become more independent. For instance, Mikhail moved not only from Russia to Germany but also away from his mother. In his understanding, it allowed him to become independent and to start a new life as openly gay, while Roman moved away from his parents as soon as he finished school and has never returned since. This helped him protect his independence and to make the decision about his transition from a woman to a man without parental input. “First time I told them [parents] that I [Mikhail] when he perceived himself as a woman] fell in love with a girl when I was 21. (…) I was already not living together with them and was not dependent on them. I just told them. They did not believe at the beginning, then they were scared, but they had to accept it.”

Olga’s experience shows us a different side of this issue, because she felt a lack of support from her family. Consequently, she felt insecure, uncertain, and unstable. To compensate for the lack of parental support and to achieve a feeling of safety, she decided to start her own family. Therefore, again, we can see the example that young LGBT persons created new forms of attachment to a place or group of people, in this case to a family, to cover what a person lacked most.

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“It was difficult. I would like to have someone who would tell me: ‘Now, you do this’. And take away from me all responsibilities. But I was alone and had to do all this by myself.”

Beside the problems mentioned, the family might also have an influence on the professional choices of young people. The rejection of parental opinion can thus be seen as a refusal to share family values and interests. In this case, Mikhail was a person who, at the beginning, accepted parental input about his future profession. However, he later restricted his communication with them to avoid further influence on his decisions. Moreover, Olga, Roman and Mikhail did not face mentionable exclusivity in German universities. They did not need to prove their educational competence because of their sexual orientation or because of their migrant background. For instance, the practice of avoiding discussions about their personal lives rendered their educational paths easier because they could easily dissemble their otherness. What is also important is that all participants noted that their ‘coming out’ was usually received by classmates or acquaintance from a university without a strong reaction. Refusals to discuss intimate themes with friends and classmates, for instance in Roman’s case, helps hide their sexuality. However, through the interviews, it can be seen that this indifference and avoidance of talking about sexual orientation of these research participants makes this attitude discriminatory, because people avoid discussing topics that are important for young LGBT people. As such, as gay, lesbian, and transgender people, they realise the lack of people with whom they can discuss their problems. To compensate for the lack of emotional support, some of them took part in the LGBT community. However, at the same time, even a positive reaction is somewhat discriminatory, because it somehow excludes them from community and makes them different and ‘not equal’. “I [Olga] introduce my wife to everyone. (…) I introduce her and say that this is my wife. ‘Nice to meet you’. That is all. No reaction at all. The same would be if I introduced my husband. I do not know what they are thinking about it in their heads, but I do not see any reaction.”

Speaking in more detail about the university, it is interesting to mention that none of the participants showed signs of an extensive level of attachment to their universities, professors, or classmates. For instance, Olga was more attached to her own family, Roman to the social movement that he participated in, and Mikhail to his interest in his professional development. One reason for this is that

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Olga, Roman, and Mikhail experienced the German university as not providing an environment for the creation of emotional attachment. Students do not face lists of obligatory classes that everyone has to visit. Students are not organized into study groups; instead, they only periodically see each other in the different seminars they attend. As a result, the participants preferred to make friends with other Russians who studied in the university or from the LGBT community. This happened not because of their shared sexual or migrant identities but because of the distant environment of German universities which made making connections with others difficult. As such, they prefer to make friendships with people to whom they can create emotional attachment based on shared experience and background. At the same time, the German university system allows students to combine education with personal development because of the flexible amount of semesters and lack of strict deadlines, while in the Russian education system, this is impossible. Roman used his university time not only to obtain knowledge but also to meet people, to make friends and to participate in the LGBT community. These activities helped him to understand what he likes and has attachment to. As a result, this flexibility gave Roman an opportunity to work on his personality while he was studying. “University time was very relaxed. When I wanted, I did not do anything, no one forced me to pass exams the way they do in Russia where if you did not come to an exam you will be dropped out of university. (…) I used a lot of this time for development of my personality.”

As a result, for the research participants, the university played the role of an intermediate place that gave young people time and resources to solve other problems. For instance, for Olga, the university helped her to understand her professional preferences and to think about her professional perspectives. For Roman, however, the university was more of an opportunity to accept himself as a gay man and to work with his gay identity. However, even for him, education in a German university was a means of gaining professional development, because it helped him find his first job in Germany. Mikhail had a more complex situation in figuring out his profession, while he, at the same time, had to work with his gender identity. The challenge of professional development is another actively discussed theme in the narratives of Olga, Roman and Mikhail. All three participants of the study were preoccupied by thoughts about their professional development and concerns about their professional careers. The process of university education, in

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their eyes, was about finding themselves as professionals. Even if they knew what they wanted to do in the future, they were still full of doubts and fears. Because of these doubts, all three of them chose more or less independent professions that would not require a lot of teamwork or personal communication while at the same time have a high hiring demand. Olga is a photographer, Roman is a programmer, and Mikhail is an engineer. These choices might be the result of migrant experience and sexual struggle, as they had to find professions that would provide them independence and stability but would not be affected by their otherness. In addition, the question of professional choice of LGBT people is often associated with gender stereotypes. However, in our case, only Mikhail, who all of his life felt to be a man living in a woman’s body, chose a male-dominated profession. As he explained, he chose engineering not because this profession is more suitable for a man than a woman but because there were more men studying together with other men. This choice allowed him to associate himself with a male community. When participants of the research could not navigate the labour market and could not find their place in a profession, they turned back to the education system as something stable that was capable of providing them shelter. For instance, Mikhail returned to the university when he could not find a job he wanted. Olga had similar feelings when she was thinking about what to do next after an apprenticeship and could not find an appropriate option: “When I finished Ausbildung, I thought what to choose: to start working as a private entrepreneur or to stay in the company. (…) My wife suggested I study more. I said: ‘Good idea!’ Why not go and study! Then we decided that I would prolong my education. I wanted to have some protection and safety but not like in an office because I was sick of it.”

As we can see, the creation of a professional identity starts much earlier than when a person enters a professional field. Moreover, this process has an ongoing character, even for those who have already successfully entered the professional field. For instance, not only Olga, who is still studying and has not entirely entered the labour market, is unsure about her professional career. Mikhail and Roman, despite successfully navigating their professional fields, are also still looking for future prospects. Thus, this has more connection to the nature of the contemporary labour market than to the individuals being LGBT or migrants. Furthermore, some of them thought about starting private enterprises that would allow them to become even more independent and to combine their per-

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sonal interests with the profession they chose as a major. For instance, in Roman’s case, a private enterprise would guarantee him more independence in his decision-making processes, which he first struggled for with his mother and now struggles for with his boss. Moreover, as we can see, he drew the motivation and aspiration for professional development from his attachment to the LGBT community, where he could communicate with like-minded people and express himself without false pretenses. Mikhail had a similar situation with his music band, which became his own community to which he felt attachment. “In Germany you feel yourself as a small detail in a big mechanism, and I [Roman] want more independence. Now I find distraction in our organization. Here I have independence and I can make decisions. So, I reduce my demands to a workplace. [...] Without it (organization) I would have already had depression because I want something that will be in my heart, my own business.”

A depersonalized work environment and a cold attitude among colleagues, who limited communication to only those topics related to work, provoked these feelings. These young people felt alone and even excluded. However, this exclusion again has a more general character and does not have a connection to their being LGBT. Nevertheless, these feelings do not help them create emotional attachment to an organization, which is important for the creation of professional identity. This situation instead makes them feel uncomfortable in a work environment. As a result, all of them had the idea of changing their place of work in the future in order to have more free time for the things that they had feelings of attachment to. Consequently, the process of becoming a professional addresses several layers of analysis in our study. It not only includes their interest in a major subject chosen at the university, but also feelings of attachment to a professional collective, desires of professional development, and self-realizations within it. In addition, professional development does not only connect with the place of occupation but also overlaps with other forms of social activities. Following the topics that have been mentioned, it is obvious that for some participants of the research, engagement in a LGBT community is very important. This type of community provides access to congenial people with whom they can easily communicate and who can understand their problems. For Roman, who did not grow up in Germany, meeting Russian LGBT people in Germany was a trigger that helped him ‘come out for himself’ and ‘to accept his sexual orientation’. Meeting people who shared his interests and had the same problems divided his life into two periods: before and after. Whereas this time

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‘before’ was a difficult period during which he hid his sexual orientation and was afraid that someone would find out, ‘after’ was a time in which he came to accept himself and started to live a full life without any fears. “It (gay pride) was my internal ‘coming out’ that was very important to me. It was important to me that I was there. So, it also was the moment when my mother figured out that I am a gay. So, now I participate in everything, so I am not afraid of anything. But in that time I was afraid.”

Secondly, the LGBT community is a group of people that provides lesbian, gay, bisexual, and transgender people with support. For instance, the first people Mikhail informed about his decision to transition to another gender were fellow community members. As a result, he not only tested his own feelings but also received emotional support and positive responses that he could not rely on his work colleagues or parents to provide. “I [Mikhail] started the transition process from woman to man one year ago and first spoke of it to an organization for Russian LGBT people. (…) It was my test for myself to understand how it is to live in a man’s role. And they replied to me. (…) They said: ‘Do it, we are with you!”

In addition, Roman mentioned many times that sometimes the LGBT community he participates in helped him solve his problems. For instance, they discussed whether or not he should inform his boss about his affiliation to the social movement because a new law required informing the employer about additional social activities that could distract workers. In contrast to these two cases, Olga did not actively participate in this type of community. This might be explained by the fact that she had a stable relationship with her wife and, as a result, did not feel the necessity of extensive support. She preferred to use this community as a base of contacts and as a recourse for obtaining additional information that is profitable or of interest to her. As a result, participation in a LGBT community provides the members with an understanding of themselves as a ‘group’ and additionally creates emotional attachment to collectivities that can help them overcome difficulties in other spheres of their lives. However, participation in this community might not be constant because of its replaceable nature. People take part in it to substitute the lack of emotional attachment to their family or working team. To sum up, the findings of this chapter are concerned with the practices of Olga, Roman and Mikhail in their quests to acquire attachment to and engage-

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ment with such social spaces like a nation, an organization, or to a group of people. At the centre of all of these stories are ideas of attachment, connection and membership that are parts of the concept of belonging.

VI. C ONSTRUCTING BELONGING

AS A LIFELONG GOAL

The creation of belonging in their lives is one of the most important objectives of young LGBT people. From the analysis, we can see that belonging has different types of functionality in the lives of these young people. First of all, belonging helps them understand and accept themselves. From the interviews, we can see that becoming can take different forms. In this case study, LGBT people were looking for opportunities to integrate into German society, to become professionals, and to realize their sexuality. Communication with people who have the same problems and have overcome them helps individuals recognize who they are and accept their circumstances. Additionally, the attachment to a group of people or community provides young LGBT people with social support. It comes about as a result of reciprocal “recognition” (Honneth 2001, 48) when people provide each other with acceptance and encouragement because they trust and recognize each other as equals. Social support provided in their constellations of belonging includes direct and indirect types of help. An example of direct support was the substantial financial contribution that Roman received from his family during his first years of education, without which his education in Germany would have been impossible. The emotional support of the LGBT community given to all of it members can be seen as a kind of indirect support. Since belonging creates feelings of stability, security, and confidence, it is something that is very important for young LGBT people who are looking for their place in life. Without ties of belonging, the young migrants felt insecure, while the possibility to forge new belonging changed their lives and feelings significantly. Consequently, we can infer that creation of belonging is very important for young LGBT people in their specific circumstances because it not only helps them understand themselves but also provides them with emotional or financial resources for the realization of their personal goals. In addition, as shown in the analysis, all dimensions of belonging are interrelated with each other; they are interconnected. On the one hand, professional belonging might be strongly connected to attachment to family when parents have an influence on the children’s professional choices, both in positive and negative ways. On the other hand, though, it is impossible to imagine that be-

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longing to a country might be achievable without any relational dimension. Another example of intersections of belongings is when belonging to a gender or LGBT community interferes with the belonging to a family or professional choice. It allows us to understand that belonging has multiple characteristics. One’s development in one sphere goes together with his development in another. Considering the multiple character of belonging also provides us with the insight that the development of personalities of young LGBT people is a process that takes many different directions. This means that their lives are not overloaded only by issues connected to their sexual orientation but that there are also a lot of other issues in the center of their attention. Consequently, the intersecting character of belonging provides influence of one type of belonging on another. However, this has two opposite effects, because, on the one hand, belonging might provide emotional support to maintain complicated processes of development, but, on the other hand, problems in one sphere of life might interfere with one’s belonging. It is also important to mention that belonging is not something that is evident, that young people can rely on. Even if we speak about belonging to something so seemingly obvious as belonging to a family or belonging to a gender, the creation of it requires a lot of internal work. In this way, it is possible to speak about “politics of the self” (Pfaff-Czarnecka 2013, 7-8) like, for instance, when a person makes efforts to achieve something even in such a delicate matter as creation of belonging. From the research, we have several examples that show how participants had to work to achieve desirable attachment. Moreover, in situations where belonging to a group of people or an organization is impossible, young people prefer to create their own forms of alternative belonging. For instance, when participants felt they could not integrate into German culture, they created their own belonging to people who were in the same situation as they were. The lack of emotional attachment to the work environment and to the professional collectivities is usually compensated by activities in other spheres of life. These complex practices help young LGBT people with migrant backgrounds to more easily navigate the German education system and the labour market and, most importantly, leads them to professional success.

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Individuelle Wege

Das Selbst im Wandel Persönlichkeitsveränderung zwischen Desintegration und Zugehörigkeit an Universitäten V ANESSA P IETSCH

I. E INLEITUNG Mit dem Beginn eines Studiums an der Universität ist für StudentInnen der Wechsel in eine neue, überwiegend unvertraute soziale Umwelt verbunden.1 Zu ungewohnten Lehr- und Lernstrukturen, unbekannten Lehrinhalten und einem anders strukturierten Tagesablauf kommt in der Regel der Umzug aus dem Elternhaus in eine neuartige Wohnsituation und Umgebung, mit weitgehend unbekannten Personen. Mit dem Beginn dieses Lebensabschnitts verknüpft sich für viele AnfängerInnen somit zeitgleich die Abnabelung vom Elternhaus. Die Aufnahme des Studiums bedeutet eine elementare Umstrukturierung des Lebenslaufs und der neue Lebensabschnitt ist an zusätzliche, tertiäre Sozialisationsprozesse gekoppelt (vgl. Wild 2013, 2). Zu den zentralen Aspekten, die bis zum Abschluss des Studiums eine bedeutende Rolle für StudentInnen spielen, zählen angestrebte Ziele, die Verarbeitung von Misserfolgen und die Studienzufriedenheit allgemein. Bei vielen StudienanfängerInnen besteht zudem die Schwierigkeit, eigene Zukunftsentwürfe von den Wünschen und Erwartungen der Eltern abzugrenzen. Einen individuellen Bildungs- und Lebensweg zu finden, erfordert daher zahlreiche Entwicklungsprozesse, während derer viele StudienanfängerInnen das Bildungsmilieu der Herkunftsfamilie verlassen und sich von Beziehungen und soziokulturellen Praktiken der eigenen Herkunft trennen. Dies zeigt sich insbesondere im Zuge eines Bildungsaufstiegs (vgl. King 2006, 28).

1

Ich bedanke mich bei Prof. Dr. Joanna Pfaff-Czarnecka, bei Naby Berdjas sowie bei Marina Walters für ihre Unterstützung.

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In diesem Beitrag gehe ich der Frage nach, wie StudentInnen das Leben innerhalb des universitären Umfeldes wahrnehmen. Es werden die – primär sozialen – Funktionen beleuchtet, welche die Universität für sie in der Studienphase übernimmt. Das Ziel dieser Studie ist, mehr über das subjektive Erleben hinsichtlich fachlicher Anforderungen und über individuelle Entwicklungsprozesse von StudentInnen herauszufinden. Es wurden Personen aus zwei Studienfachrichtungen daraufhin befragt, wie sich das Studium auf Veränderungen in ihrer Persönlichkeit und in Bezug auf soziale Aspekte ihres Lebens, vordergründig auf Beziehungen zu Freunden und zu den Eltern, auswirkt. Das Projekt wurde an der Universität realisiert, an der ich selbst studiere. Dadurch bot sich mir eine lebensweltliche Nachvollziehbarkeit des Untersuchungsgegenstands. Durch das Einnehmen einer Beobachterposition, konnte ich zudem eine Ethnologie der eigenen Kultur im Sinne von Michel Foucault betreiben und die Forschung zusätzlich kulturwissenschaftlich unterfüttern (vgl. Lavagno 2011, 47). Nach einer Einbettung des Forschungsthemas in einen theoretischen Kontext im zweiten Kapitel, wird im dritten Kapitel dieses Beitrags auf die Forschungspraxis eingegangen und das Forschungsdesign sowie die methodische Vorgehensweise erläutert. Anschließend stelle ich die Interviewees der Studie vor. Im vierten Kapitel werden die empirischen Ergebnisse entlang der Themen ‚Zugehörigkeit und Identifikation‘, ‚Abgrenzungen‘, ‚Umgang mit dem eigenen Migrationshintergrund‘ und ‚sozialer Aufstieg‘ geschildert und mit charakteristischen Zitaten aus den qualitativen Interviews gestützt. Der Schlussteil dieses Beitrags enthält ein Fazit des Forschungsprojekts und einen kurzen Ausblick.

II. E INBETTUNG IN DEN THEORETISCHEN K ONTEXT – P OSITIONEN ZUM , W ESEN ' DER U NIVERSITÄT Ort der Sozialisation Da die Gesamtheit aller Umweltbedingungen, die auf die Entwicklung des sozialen Akteurs Einfluss nimmt, zum Gegenstandsbereich der Sozialisation zählt, kann die Universität, parallel zur Wissensvermittlung und der Ermöglichung individueller Karrieren und Bildungswege als ein Ort der Sozialisation verstanden werden (vgl. Tillmann 2010, 15). Diese wird hier begriffen als die „Vergesellschaftung des Menschen im Sinne der Übernahme und Internalisierung von soziokulturellen Werten, Verhaltenserwartungen und sozialen Rollen“ (Hillmann 2007, 818). Individuen können sich den Umweltsystemen, die sie umgeben,

D AS S ELBST

IM

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nicht entziehen. Sie werden im Zuge ihrer Partizipation an ihnen, durch sie geformt. Steffen Wild (2013, 1) geht aufgrund dessen davon aus, dass die Akteure an der Universität dem Einfluss der Universität allgemein und speziell dem ihrer unterschiedlichen Fachbereiche unterliegen, dessen Fachbereichskulturen sich hinsichtlich ihrer „Arbeitsweisen, Kommunikationsstile, ihrer Wahrnehmungs-, Denk- und Handlungsmuster und [...] Verhaltensweisen“ (ebd.) voneinander differenzieren. Die Aneignungsprozesse der universitären Kultur, werden gemäß des Bourdieu'schen Habituskonzepts auf die Einverleibung gesellschaftlicher Strukturen im Individuum zurückgeführt. Der Habitus gilt als die Präsenz des Sozialen im Individuellen. Er wird als „inkorporierte Sozialität“ (Fröhlich, Gerhard 1999, 1) ebenfalls durch die ‚Hexis‘ körperlich zum Ausdruck gebracht. Während der Begriff der ‚Hexis‘ aber erworbene, lediglich äußerlich sichtbare Körperhaltungen und -bewegungen eines Individuums beschreibt, versteht Pierre Bourdieu (2014, 105) unter dem ‚Habitus‘ die verinnerlichten, soziokulturellen Strukturen und die „einverleibte, zur Natur gewordene Geschichte“ (Bourdieu 2014, 105) im sozialen Akteur. Dieser stellt mittels seines Habitus zugleich die Präsenz der gesamten Geschichte dar, welche den Habitus erzeugt hat: „Als Produkt der Geschichte produziert der Habitus individuelle und kollektive Praktiken, also Geschichte, nach den von der Geschichte erzeugten Schemata; er gewährleistet die aktive Präsenz früherer Erfahrungen, die sich in jedem Organismus in Gestalt von Wahrnehmungs-, Denk- und Handlungsschemata niederschlagen und die Übereinstimmung und Konstantheit der Praktiken im Zeitverlauf viel sicherer als alle formalen Regeln und expliziten Normen zu gewährleisten suchen.“ (Ebd., 101).

Gemäß Bourdieu, wird der Habitus fundamental durch die Stellung des Individuums in der Sozialstruktur bestimmt und grundlegend durch die familiäre Umgebung sowie dessen materieller Ausstattung geprägt (vgl. Fuchs-Heinritz/König 2011, 120). Die Universität ist kein Ort, an dem ausschließlich Wissen vermittelt wird. Vielmehr bauen StudentInnen ihre individuelle, universitäre Lebenswelt im Zuge des Studiums auf. Sie geraten in die soziale und kulturelle Lebenswelt der Universität hinein und werden durch ihre eigene Teilhabe in universitäre Praxen eingeführt. Wie gut StudentInnen diese Teilnahme gelingt, entscheidet sich nach dem Verhältnis zwischen ihrem Habitus und der akademischen Kultur, da das Funktionieren ihrer Eingliederung in das universitäre Leben davon abhängt, wie vertraut, oder wie fremd ihnen diese ist (vgl. Mecheril/Klingler 2010, 100). Zwischen der akademischen Struktur einer Bildungsinstitution und den verfügbaren

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Kenntnissen des Individuums über soziokulturelle Praktiken und Routinen besteht folglich ein „Passungsverhältnis“ (Mecheril/Klingler 2010, 93), auf das seine soziale Herkunft und seine kulturelle Zugehörigkeit Einfluss nehmen. Infolgedessen kann sich der Habitus durch Veränderungen in sozialen Feldern modifizieren (vgl. Grendel 2012, 87). Nicht-Ort oder anthropologischer Ort Einst wurde die Universität als ‚Alma Mater‘ bezeichnet. Diese traditionelle Benennung ist auf eine Zeit zurückzuführen, in der StudentInnen mit ihren ProfessorInnen unter demselben universitären Dach arbeiteten, wohnten und Mahlzeiten gemeinsam einnahmen (vgl. Ahlers-Niemann 2007, 1). Mit den ursprünglich lateinischen Begriffen ‚alma‘ und ‚mater‘, welche übersetzt ‚nährend‘ und ‚Mutter‘ bedeuten, wurden der Universität fürsorgende, schützende und unterstützende Funktionen zugeschrieben. Sie sollte ihren StudentInnen Wachstum und Entwicklung ermöglichen (vgl. ebd.). Diese historische Bezeichnung trifft heutzutage weniger zu, als vor einigen Jahrzehnten und Jahrhunderten, da zu einem der Ausdrucksmomente der gegenwärtigen Universität eine hohe Ökonomisierung zählt: Neben Strukturreformen und einer komplexeren Bürokratie, die von Gesetzen und Rechtsverordnungen durchzogen ist, scheint eine ihrer wesentlichen Aufgaben darin zu bestehen, StudentInnen auf die Arbeitswelt vorzubereiten und Abschlusszahlen zu erhöhen (vgl. Kaube 2010, 227). In der Planung von Lehre und Lehrmitteln sind darüber hinaus finanzielle Knappheiten zu berücksichtigen, die Wirtschaft etabliert sich zu einem elementaren Referenzsystem für die Universität und in internationalen Diskussionen wird zudem von einer Stärkung der Wettbewerbsfähigkeit der Hochschulen gesprochen (vgl. Pfadenhauer/Enderle/Albrecht 2015, 314). Zeitgleich zu dieser Ökonomisierung zeigen sich Tendenzen der Vermassung aufgrund allgemein hoher StudentInnenzahlen, die u.a. durch eine zunehmende Demokratisierung des Hochschulzugangs ausgelöst wurden (vgl. Ahlers-Niemann 2007, 3-4). Die Kennzeichen von Unpersönlichkeit und Vermassung der gegenwärtigen Universität finden sich in den Ausführungen über Nicht-Orte nach Marc Augé (vgl. 1994, 48) wieder: „[Es handelt sich um einen] Raum, der keine Identität besitzt und sich weder als relational noch als historisch bezeichnen lässt [...]“ (Augé, 1994, 92). Weitere Merkmale von Nicht-Orten sind nach Augé ein transitiver Charakter, Anonymität, ‚Unmenschlichkeit‘ und unpersönliche Interaktionen (vgl. Augé 1994, 48). Dies macht sie vergleichbar mit öffentlichen Transitorten wie Flughäfen und Bahnhöfen.

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Dem Nicht-Ort steht gemäß Augé der anthropologische Ort gegenüber, der „[...] die Möglichkeit der Wege, die dort hindurchführen, der Diskurse, die dort stattfinden, und der Sprache, die ihn kennzeichnet [enthält und] Organisch-Soziales [hervorbringt]“ (ebd., 97). Er wird erzeugt durch die Identität der an und in ihm partizipierenden Akteure sowie durch symbolisierte Räume, die ihn mit Leben und mit Sinn füllen. Sie verleihen dem anthropologischen Ort, im Gegensatz zum Nicht-Ort, eine eigene Identität und Geschichte sowie einen Bezug zu dieser (vgl. Ahlers-Niemann 2007, 97). Das Bild des Nicht-Ortes kann als ein Gegenstück zum Konzept der ‚Alma Mater‘ gesehen werden. Dass die heutige Universität in der Wahrnehmung der StudentInnen zunehmend zum ‚Nicht-Ort‘ wird, geht aus dem hier präsentierten Datenmaterial hervor. Ort der Krise und Transformation An der Universität findet gemäß Paul Mecheril und Birte Klingler (2010, 85) eine fortlaufende Infragestellung von „Welt- und Selbstverhältnissen“ (ebd.) statt, welche StudienanfängerInnen mit Prozessen der Irritation und Beunruhigung konfrontiert und auf diese Weise Bildungsprozesse fördert. Einsichten und Ideen des Menschen werden erkundet und problematisiert. Der Prozess der stetigen Irritation des Bestehenden löst das Aufbrechen alter und die Erzeugung neuer Orientierungsstrukturen aus: „Die Universität ist Krise [und die] Gesamtheit kollektiver Orientierungsmuster [an der Universität, ist] einer alltäglichen Praxis [ausgesetzt, mit dem Zweck,] eine Transformation der Orientierungsmuster“ (ebd., 86) zu bewirken.

Mecheril und Klingler beziehen sich überwiegend auf fachspezifische Lern- und Bildungsprozesse sowie auf die Weitergabe, die Vermittlung und die Aneignung von Fachwissen und sprechen von einer Umorientierung und Transformation bisher verinnerlichter Wissensmuster an der Universität (vgl. ebd., 84). Weiterhin thematisiert Vera King (2006, 28) eine Neustrukturierung internalisierter Muster im Kontext ihrer Forschung über den Bildungsaufstieg Jugendlicher mit Migrationshintergrund. Gegenstand ihrer Betrachtung sind die „Transformationsanforderungen“ (King 2006: 28) für die Persönlichkeit, die Adoleszente im Verlauf von Bildungsaufstiegen zu bewältigen haben: „Gesteigerte Transformationsanforderungen ergeben sich zudem daraus, dass der Sinnund Praxishorizont der generationalen Tradierungen und eingeschliffenen Lebensprakti-

274 | V ANESSA PIETSCH ken der Herkunftsfamilie und des Herkunftsmilieus, vertraute Beziehungs- und Deutungsmuster in einigen Hinsichten aufgegeben, oder transzendiert werden müssen“ (ebd.).

Voraussetzung für die Verwirklichung von Aufstiegsprozessen im Bildungsniveau seien dabei insbesondere: „[...] psychosoziale Motivationen und Kompetenzen, zum Beispiel ausreichende Fähigkeiten, sich abzulösen, verinnerlichte Muster umzugestalten, (intergenerationale) Differenz anzuerkennen, aber auch Schuldgefühle, Neid und Rivalität zu verarbeiten“ (ebd.).

Bildungsaufstiegsprozesse können, so King, innerhalb von Familien zu intergenerationalen Ambivalenzen führen, die sich unter ungünstigen Bedingungen hemmend auf individuelle Bildungslaufbahnen auswirken. Ferner ist King der Auffassung, dass die Bewältigung von Transformationsanforderungen im Rahmen eines Bildungsaufstiegs, zum einen hauptsächlich von Ressourcen und Belastungen in den Generationenbeziehungen innerhalb der Familie abhängt und zum anderen von den Möglichkeiten der Umgestaltung gewonnener Erfahrungen in unterschiedlichen sozialen Feldern außerhalb eben dieser (vgl. King 2006, 28).

III. F ELDFORSCHUNG Forschungsdesign und InterviewpartnerInnen Die Auswahl der InterviewpartnerInnen erfolgte nach den Kriterien Studienfach, Fachsemester und Migrationshintergrund. Mit der Wahl der Fachrichtungen Rechtswissenschaften und Philosophie, wurden Studienfächer gegenübergestellt, die in ihren Inhalten und der Studienatmosphäre tendenziell gegensätzlich sind. Darüber hinaus wurden sie aufgrund der Annahme ausgewählt, dass das Studium der Rechtswissenschaften StudentInnen eindeutigere Orientierungsstrukturen im Hinblick auf potenzielle Karrierewege vorgibt. Vermutet wurde ferner, dass sich PhilosophiestudentInnen entscheidend stärker um einen ‚roten Faden‘ für einen Bildungs- und Karriereweg bemühen müssen. Interessant erschien die Gegenüberstellung auch, da StudienanfängerInnen ihre Wahl für das jeweilige Fach, im Wesentlichen aus unterschiedlichen Motiven treffen und verschiedenartige berufliche und allgemeine Lebensziele verfolgen. Aufgrund ihres umfassenderen Studienerfahrungsschatzes im Vergleich zu StudentInnen in Anfangssemestern, wurden Personen ab dem fünften Fachse-

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mester befragt. Darüber hinaus sollte herausgefunden werden, ob ein Migrationshintergrund einen Einfluss auf das Studium ausübt und ob er von Vorteil, oder von Nachteil für das Studium ist. Obwohl eine Unterscheidung der Geschlechter im Hinblick auf die Forschungsfrage keine zentrale Rolle spielte, wurden absichtlich männliche und weibliche Studierende in das Projekt einbezogen. Die Tabelle zeigt eine Übersicht der Interviewees mit ihren individuellen, forschungsrelevanten Merkmalen. Zum Zeitpunkt der Interviews waren die StudienteilnehmerInnen zwischen 22 und 32 Jahre alt. Sie wurden anonymisiert. Tabelle 1: Interviewees Name

Studienfach

(Alter)

(Semester)

Sara (22)

Philosophie

Migrationshintergrund

ja

Bildungsabschluss der

Verhältnis zu

Eltern

den Eltern

keinen

Mutter: positiv

(6/BA) Gregor (24)

Philosophie

Vater: negativ,

ja

Diplom/Fachabitur

sehr positiv

nein

Realschulabschluss

sehr positiv

nein

Hauptschulabschluss

sehr negativ

nein

Realschulabschluss

sehr positiv

nein

Abitur/Realschulabschluss

positiv

Ja

Abitur

positiv

Nein

Abitur/Realschulabschluss

sehr positiv

(9/BA) Marcel (26)

Philosophie (14/MA)

Christopher

Philosophie

(29)

(12/MA)

Jens (26)

Philosophie (8/BA)

Stefanie (29)

Rechtswissenschaften (11)

Salih (27)

Rechtswissenschaften (13)

Marc (23)

Rechtswissenschaften (6)

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Andreas (32)

Rechtswissen-

ja

Grundschulabschluss

durchschnittlich

schaften (14)

Feldzugang Aufgrund meiner eigenen Universitätszugehörigkeit war der Zugang zum Feld problemlos möglich. Geeignete InterviewpartnerInnen in den Rechtswissenschaften zu finden, erwies sich als unkompliziert. Persönliche Beziehungen dienten als Einstieg in die Forschungspraxis, wobei beachtet werden musste, dass Bekanntschaften das Antwortverhalten der Interviewees nicht beeinflussten (vgl. Küsters 2009, 49). Die Fachschaften der beiden Studienfächer hatten 'Gateopener'-Funktionen inne: E-Mail-Anfragen führten zu ersten Interview-InteressentInnen aus den Rechtswissenschaften. Weitere Kontakte entstanden über bereits interviewte StudentInnen. Hinsichtlich des erwünschten Zugangs zu PhilosophiestudentInnen, gestalteten sich hingegen weder Anfragen an die Fachschaft per E-Mail, noch via des online-Netzwerks facebook erfolgreich, der Zugang gelang hier über face-to-face Kontakte innerhalb des Fachbereichs der Philosophie. Weitere Personen fanden sich für eine Projekt-Beteiligung über den E-Mail-StudentInnenverteiler der Philosophie. Interviews wurden in der Teeküche der Abteilung Philosophie, in den Büroräumen der studentischen Hilfskräfte sowie in den Arbeitsräumen der Universitätsbibliothek geführt. Methodologie, Forschungspraxis und Auswertung Da sich die an dem Interview teilnehmenden Personen im Voraus für gewöhnlich unbekannt sind, ist es speziell von Bedeutung, eine Umgebung für das Interview zu wählen, die für alle InterviewteilnehmerInnen vertrauenerweckend ist und eine angenehme Atmosphäre bietet. Für die Schilderung eines selbst erlebten Ereigniszusammenhanges, eignet sich die narrative Interviewform (vgl. Küsters 2009, 30). Aufmerksames Zuhören und die Motivation durch Anschlussfragen, schaffen die konstruktive Basis für den erwünschten Redefluss der interviewten Personen. Da die Interviewsituationen jeweils so identisch wie möglich gestaltet werden sollten, wurde in jedem Interview die gleiche Stimulusfrage für den Einstieg genutzt (vgl. ebd., 45). Ferner bestimmen zahlreiche Faktoren eine solche Situation mit: Wird das Interview in einem Raum durchgeführt, der einer hohen Fre-

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quentierung durch Personen ausgesetzt ist, beeinträchtigt dies die Qualität der Aufnahme, denn Störgeräusche können GesprächspartnerInnen irritieren und Aufnahmequalitäten verschlechtern (vgl. ebd., 50). Aufnahmen in einem ruhigen Arbeitsraum in der Bibliothek, gewährleisten hingegen bessere Tonqualitäten. Nachteile für ein Interview können sich ebenfalls ergeben, da die Situation in der Regel ungewohnt und damit potentiell irritierend ist. Die Interviewees wussten vorab, dass sie über eigene Erfahrungen berichten sollen, jedoch mussten Unsicherheiten im Antwortverhalten und eine Verschlossenheit gegenüber manchen Fragen in Betracht gezogen werden. Diese Faktoren wirken sich gelegentlich auf die Aussagekraft der empirischen Daten aus, was bei der Analyse und Auswertung des Materials berücksichtigt werden musste. Insgesamt wurden neun Interviews aufgezeichnet mit einer durchschnittlichen Dauer zwischen 20 und 60 Minuten. Bereits während der Phase der Transkription, wurden Notizen und Memos angefertigt, um Zusammenhänge zwischen Äußerungen festzuhalten. In die gesamte Auswertung wurden die von den StudentInnen ausgefüllten Fragebögen, die transkribierten Interviews sowie Aufzeichnungen und Bemerkungen aus im Nachhinein angefertigten Interviewprotokollen einbezogen. Die analytische Bearbeitung des empirischen Materials folgte der Grounded Theory nach Barney Glaser und Anselm Strauss (vgl. Strübing, 2013, 118-124).

IV. D IE E RGEBNISSE

DER

S TUDIE

Zugehörigkeit und Identifikation Der Einbezug der StudentInnen in die Universität, geschieht über ihre Teilhabe am gewählten Studienfach und an dessen Fachbereichskultur, weshalb sie sich in die verschiedenen sozialen Räume der Universität eingliedern müssen, um fachliches Wissen zu erlangen (vgl. Mecheril/Klingler 2010, 99). Möglichkeiten dieser Integration in die Universitätskultur zu finden, kristallisierte sich für die StudentInnen als ein elementarer Prozess heraus, der nicht selten Schwierigkeiten bereitete. Personen, Gruppen und Kontexte zu finden, zu denen soziale Beziehungen aufgebaut und Zugehörigkeiten entwickelt werden können, spielte bei allen Interviewees eine zentrale Rolle in der Phase ihres bisherigen Studiums. Mit sozialer Zugehörigkeit meinen Gérard Toffin und Joanna Pfaff-Czarnecka „[...] ties to one’s elementary group or to a group of persons with which we feel we belong to and are indepted to [...]“ (Pfaff-Czarnecka/Toffin, 2011, 12). Aus anthropologischer Perspektive impliziert der Wunsch nach sozialem Anschluss das

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Streben nach Gefühlsbindungen und wird ausgelöst durch die Angst vor Exklusion und sozialer Isolation. Die Zugehörigkeit zu sozialen Gruppen erfordert emotionale Investitionen und erzeugt Gefühle kollektiver Identität. Sie ermöglicht die Teilhabe am sozialen Leben und soziale Mobilität (vgl. ebd., 14). Es handelt sich folglich um Aspekte, die für StudentInnen im Hinblick auf ihre spätere berufliche und soziale Platzierung in der Gesellschaft, einen sehr hohen Stellenwert erhalten. Als prägend zum Beginn des Studiums, nannten die Interviewees Gefühle des 'Allein-Seins'. Wie beispielsweise die Philosophiestudentin Sara, waren sie an der hier untersuchten Universität, mit der Anonymität der sie umgebenden Personen konfrontiert. Sara studierte zum Zeitpunkt des Interviews im sechsten Semester. Sie hatte Philosophie als ihr Hauptfach und Literaturwissenschaft als Nebenfach gewählt. Im Interview betonte sie: „[...] kaum hier an der Uni angekommen ist mir eigentlich aufgefallen, dass es keineninteressiert, wo du ab bleibst. Es interessiert keinen, ob du irgendwas gemacht hast, oder nicht, man ist vollkommen eigenverantwortlich für alles, was man macht.“ (Sara)

Zu dem als mangelhaft empfundenen Interesse des sozialen Umfelds ihrer eigenen Person gegenüber, erhielt sie den Eindruck, vollständig auf sich allein gestellt zu sein. Mit dieser für sie neuen, ungewohnten Situation, musste sie sich zunächst arrangieren: „[...] in der Philosophie war das für mich dann eine komplett neue Welt und da musste ich mich erst mal einfädeln“ und erläuterte ebenfalls: „[...] unsere Halle in der Universität; kaum schreitet man durch das Tor, hat man sowieso das Gefühl, man ist eigentlich so eine kleine Ameise in einem riesigen Haufen und jeder zieht an einem vorbei. Also ich weiß nicht, ob unfreundlich das richtige Wort ist, das ist alles so total unpersönlich.“ (Sara)

Sie nahm das Hauptgebäude der Universität wie einen lieu de passage – einen Transferort wahr und schrieb ihr Attribute zu, die sie ähnlich wie eine Bahnhofshalle erscheinen lässt. In einer solchen halten sich Menschen in der Regel im zeitlich begrenzten Rahmen auf. Sie stellt einen Übergangsort für Reisende dar, die sich größtenteils fremd sind und anonym bleiben. Saras Schilderungen beinhalten somit Hinweise auf die bereits angesprochene Vermassung: Sie erfuhr die Universität vorerst als einen Ort des transitorischen Durchschleusens ohne konkretere Bezugspunkte, sie fühlte sich als Individuum nicht wahrgenommen und die Anonymität der sie umgebenden Personen verstörte sie. Diese Äußerungen

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weisen zudem Charakteristika von Nicht-Orten nach Augé auf (vgl. AhlersNiemann 2007, 50). Die Studentin sprach ferner von mangelnden Vorkenntnissen hinsichtlich der Philosophie „[...] alles, was ich mir darunter vorgestellt habe, war nicht der Fall. Sowohl inhaltlich, als auch von dem Verhältnis zwischen Dozent und Student.“ Dies erzählte auch Jens, der ebenfalls Philosophie studiert: „[...] man kommt in die Philosophie, jetzt insbesondere und weiß eigentlich nicht so genau, was einen erwartet.“ Im Vergleich zu Sara, gelang es ihm jedoch leichter, Kontakte in seinem Fachbereich aufzubauen: „[...] meine ersten Noten waren gar nicht so gut und dann habe ich so ein bisschen gezweifelt, ob das Studium hier das Richtige ist und bin dann in ein Gespräch mit einem Dozenten gegangen, der mich dann so ein bisschen aufgebaut hat. Also ich hatte gezweifelt, aber durch die Abteilung hier, wurde ich [...] aufgefangen, was mir am Anfang des Studiums geholfen hat.“ (Jens)

Jens’ Leistungen verbesserten sich infolge der zunehmenden Integration in den Fachbereich der Philosophie, bei der sich persönliche Gespräche mit den DozentInnen als förderlich erwiesen. Wie die PhilosophiestudentInnen, erzählten einige der Interviewees aus den Rechtswissenschaften von überwiegend als negativ wahrgenommenen Gefühlen am Beginn ihres Studiums. Marc studierte zum Zeitpunkt des Interviews im sechsten Semester Rechtswissenschaften und beschrieb: „Ich war völlig überfordert, konnte das gar nicht, bin voll vor die Wand gelaufen. [...] weil ich so völlig desillusioniert war und weil ich auch gar nicht so gewusst habe, wohin jetzt mit mir.“ An dieser Stelle schilderte der Student eine Situation der Orientierungslosigkeit und verdeutlichte ein zu dieser Zeit vorhandenes Gefühl der Ratlosigkeit und des ,Verloren-Seins‘ an der Universität, da auch ihm eindeutige Bezugs- und Identifikationspunkte fehlten. Stefanie, die ebenfalls Rechtswissenschaften studiert, erklärte, dass die StudentInnen ihrer Fachrichtung infolge einer fehlenden Nähe im Verhältnis zwischen DozentInnen und StudentInnen, wenig persönliche Hilfe während des Studiums erhalten, „[...] es ist auch nicht, dass man Gruppenarbeiten hat, oder so was. Also man hat die Vorlesung und dann gibt es halt zu den Vorlesungen begleitend noch Tutorien, das aber auch nur in den ersten drei, oder vier Semestern. Also die Tutorien sind dann natürlich kleiner, irgendwie mit 15 bis 20 Leuten und danach wird man allein gelassen [...] man wird insgesamt viel allein gelassen.“ (Stefanie)

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Angesichts des hier präsentierten Datenmaterials leite ich die These ab, dass das Auffinden von Bezugspersonen und -orten, welche die Integration der StudentInnen in den jeweiligen Fachbereich erleichterten und ihnen auf diese Weise halfen, sich besser mit ihrem Studienfach identifizieren zu können, für alle der Interviewees elementar wichtig war, um Orientierungsschwierigkeiten zu bewältigen, jedoch nicht allen zuteil wurde. Obwohl sie als Person von anderen wahrgenommen werden wollten und nach Identifikationsmöglichkeiten suchten, erfuhren die meisten von ihnen die Universitätskultur insbesondere zu Beginn des Studiums als von Beziehungslosigkeit und Anonymität geprägt, sodass Gefühle der Orientierungslosigkeit, Desillusionierung, Überforderung sowie des 'Fremd- und Allein-Seins' entstehen konnten (vgl. Ahlers-Niemann 2007, 1). Diejenigen, die sich in dieser Phase in Eigeninitiative um Unterstützung bemühten, wie der Philosophiestudent Jens, hatten Erfolg. Die Bedingungen im Jurastudium beschrieb Marc wie folgt: „[...] im Grunde ist das ja so ein richtiges Einzelkämpfer-Studium.“ Derartige Voraussetzungen lieferten den StudentInnen der Rechtswissenschaften hingegen keine ausreichende Grundlage für die Inanspruchnahme von Hilfs- und Unterstützungsangeboten. Abgrenzung Neben sozialer Zugehörigkeit, die im studentischen Leben der ForschungsteilnehmerInnen hoch signifikant ist, zeigen sich Abgrenzungsprozesse als ein weiterer, essentieller Bestandteil ihrer Lebenswelt. Ein Dilemma zwischen dem Wunsch, sich einerseits KommilitonInnen aus dem Studienfach anzuschließen und dem Bedürfnis, andererseits individuellen Interessen nachzugehen, offenbarte sich beispielsweise bei Stefanie, die zwar häufig mit KommilitonInnen Zeit verbrachte, der jedoch Fachdiskussionen, insbesondere während Phasen der Klausurvorbereitung, widerstrebten, „[...] wenn man mit denen in die Mensa geht und die dann mit irgendwelchen Fragen kommen, 'Ja, wie ist das denn so und so juristisch?' und man schon weiß, dass die über inhaltliche Sachen sprechen wollten; dass ich da nicht so viel Lust zu hatte, also gerade auch in dieser Examensphase. [...] ich bin einmal in der Woche mit denen in die Mensa gegangen und sonst habe ich mich von denen ziemlich fern gehalten.“ (Stefanie) „[...] gerade wenn ich aus einer Vorlesung gekommen bin, brauchte ich einfach ein Gespräch über Musik, über Hobbys und dann sitzen da diese Kommilitonen und unterhalten sich über die und die Vorlesung und man hält sich dann aus dem Gespräch raus.“ (Stefanie)

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Stefanie eröffneten sich unterschiedliche Identifikationskontexte, zwischen denen sie sich entscheiden musste. Sie strebte einerseits kontinuierlichen Kontakt zu den StudentInnen ihrer Fachrichtung an und nahm auf der anderen Seite eine Abgrenzung von ihnen vor, um persönliche Individualisierungswünsche zu verfolgen. Die Möglichkeit, eigene Ideen und Interessen in Gespräche und Beziehungen zu KommilitonInnen einzubringen, fehlte ihr im Studienalltag. Auch Jens beschäftigten im Verlauf des Studiums verstärkt Fragen bezüglich der persönlichen Meinung und der Abgrenzung von seinem sozialen Umfeld: „,Was empfinde ich denn jetzt als richtig und was ist jetzt meine Perspektive und wie grenze ich mich von anderen ab? Was ist jetzt eigentlich meine Meinung und wie kann ich die vertreten?‘“. Bei Christopher, der ebenfalls Philosophie studiert, bewirkten soziale Abgrenzungsprozesse eine Stabilisierung seiner persönlichen Ansichten und sie führten dazu, dass er zunehmend eigene Interessen verfolgte, „[...] dadurch dass ich anfange, alles zu reflektieren und dem Nonsens so ein bisschen aus dem Weg zu gehen versuche, umgebe ich mich eigentlich nur noch mit Elementen, die meine Kenntnisse über die Welt irgendwie fördern und weiterbringen. Und das ist garantiert Verschulden des Philosophiestudiums.“ (Christopher)

Fachliche Methoden seiner Studienrichtung veranlassten ihn dazu, im Alltag „alles zu reflektieren“. Als Folge davon, wählte er sein soziales Umfeld zunehmend nach Kriterien der persönlichen 'Passung' sowie nach Möglichkeiten der geistigen Entwicklung und grenzte sich von gesellschaftlichen Kontexten, die ihm diese Optionen nicht boten, ab: „[...] auf Familienfeiern gehe ich drauf, ganz salopp gesagt. Also ich kann das nicht stemmen, denn es ist ausschließlich Stammtisch Parole […]. Und ich bin dem überdrüssig geworden und zieh mich deshalb aus diesen ganzen Angelegenheiten zurück, was ich persönlich dann als Entlastung empfinde.“ (Christopher)

Das vorliegende Datenmaterial gibt preis, dass Abgrenzungsvorgänge einen elementaren Bestandteil der Transformationsprozesse von den StudentInnen in den hier untersuchten Fachrichtungen bilden. Bei der Mehrheit der StudentInnen aus der Philosophie, sind Abgrenzungen überwiegend den Pflichtanforderungen ihres Studienfaches zuzuschreiben, die es zur Folge hatten, dass ein selbstreflexives Verhältnis aufgebaut werden konnte und eine gesteigerte Sensibilisierung für ein 'Infrage-Stellen' des Selbstverständlichen entwickelt wurde. Bei den StudentInnen der Rechtswissenschaften sind diese Prozesse dagegen tendenziell auf

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Phasen des Prüfungsdrucks und auf die soziale Wirklichkeit ihres Studienfaches zurückzuführen, die sich durch einen vergleichsweise hohen Leistungsdruck, durch Wettbewerb und darüber hinaus, durch eine unzureichende Hilfs- und Kooperationsbereitschaft seitens der KommilitonInnen und Lehrenden charakterisiert. Individuelle Selbstfindungs- und Passungsprozesse, die von neuen Lebensinhalten und sozialen Kontakten im Rahmen des Studiums hervorgerufen wurden, bewirkten zudem Abgrenzungen vom familiären Herkunftsmilieu, wie beispielsweise bei Christopher. Bildungsaufstieg Maßgeblich für den Bildungsaufstieg der StudentInnen ist der Wechsel des sozialen Feldes mit dem Studienbeginn an der Universität. Im Rahmen der Studie konnte ich unter den neun befragten Personen acht BildungsaufsteigerInnen identifizieren: Bis auf den Philosophiestudenten Gregor, offenbarten sich alle der Interviewees als diese. Ein Migrationshintergrund bereitete einigen Schwierigkeiten beim sozialen Aufstieg, beispielsweise Andreas, der in der Türkei geboren wurde und dessen Eltern bezüglich der von ihm gewählten Bildungslaufbahn wenig Verständnis zeigten: „[...] meine Eltern haben Grundschulabschluss [...], die wollten nicht, dass ich Abitur mache, die wollten auch nicht, dass ich irgendwie studiere.“ Häufig löste dies Konflikte innerhalb der Familie aus, weil er sich gegenüber den Eltern für das Studium rechtfertigen musste. Infolge ihrer Verständnislosigkeit, zweifelte er zudem mehrfach an den eigenen Fähigkeiten bezüglich des Studiums, „[...] wenn man halt im Studium nicht weiterkommt, denkt man schon darüber nach, ob die Eltern vielleicht Recht hatten, ob man das überhaupt schafft, oder sonst, zwischendurch kommen auch solche Gedanken.“ (Andreas)

Das unterschiedliche Bildungsniveau zwischen ihm und dem Herkunftsmilieu, stellte sich für Andreas demzufolge als ein Nachteil dar. Er reagierte auf die ausbleibende Unterstützung der Eltern mit einer Änderung seiner offiziellen Konfession und seines amtlichen Namens, wie er im Interview erläuterte und distanzierte sich auf diese Weise entscheidend von ihnen: „Das heißt, ich habe mir die Frage gestellt, wozu brauche ich die?“. In Verbindung mit der Reflexion der Gefühle in Bezug auf die Eltern, suchte Andreas auch zunehmend nach Kontexten, die seinen persönlichen Ansichten und Interessen wesentlich eher entsprachen:

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„Ich habe halt danach geguckt, was zu mir passt und was zu mir nicht passt. Zum Beispiel kann ich nicht irgendetwas aufnehmen, oder irgendetwas sein, was ich gar nicht bin. Dann kann ich auch nicht mit Leuten zusammen sein, mit denen ich gar nicht zusammenpasse.“ (Andreas)

Dieser empirische Befund unterstützt die These nach King, dass BildungsaufsteigerInnen Motivationen, Kompetenzen und Fähigkeiten aufbringen müssen, um sich vom Herkunftsmilieu abzulösen und verinnerlichte Orientierungsmuster neu zu gestalten (vgl. King 2006, 28). Im Zusammenhang mit der Abgrenzung von der Familie findet King zufolge ebenfalls häufig eine Vereinbarung zwischen den Erwartungen der Eltern und den eigenen Vorstellungen des zukünftigen Bildungs- und Lebenswegs statt, sodass BildungsaufsteigerInnen individuelle Zukunftsentwürfe in Abstimmung mit den Ansprüchen der Eltern für sich selbst „ausloten“ (ebd.). Bei Andreas war der Wunsch zum Studium hingegen biografisch früh angelegt, denn für ihn stand bereits in der Schulzeit fest, dass er studieren möchte, wie er im Interview erklärte. Er traf seine Entscheidung für das Studium somit überwiegend unabhängig von den Erwartungen der Eltern und widersetzte sich ihren Forderungen, um den gewünschten Bildungsweg verfolgen zu können. Salih ist ebenfalls Student der Rechtswissenschaften. Er wurde in Bulgarien geboren und lebt seit neun Jahren in Deutschland. Obwohl er vor dem Studium einen Sprachkurs absolviert hatte und sich seine Deutschkenntnisse im Verlauf des Studiums verbesserten, bereitete ihm die deutsche Sprache Schwierigkeiten, etwa bei den administrativen Komponenten des Studiums, zum Beispiel in Bezug auf Klausuren: „[...] in den ersten Semestern hatte ich Schwierigkeiten in den Klausuren, alles formulieren und so.“ Somit gestaltete sich der Migrationshintergrund auch bei Salih als nachteilig in der Anfangsphase des Studiums. Gregor ist Student der Philosophie und wurde in Russland geboren. Er zog bereits im Alter von drei Jahren mit seiner Familie nach Deutschland. Der Migrationshintergrund hatte jedoch – wie er sagte – keine negativen Auswirkungen auf sein Studium. Genauso wenig war das bei Sara der Fall, die in Deutschland geboren worden ist. Insbesondere bei den BildungsaufsteigerInnen zeigt sich deutlich, dass die neuen soziokulturellen Einflüsse an der hier untersuchten Universität zu einer Umgestaltung verinnerlichter Strukturen und Kenntnisse, sowohl in Bezug auf fachliches Wissen, als auch hinsichtlich der Facetten ihrer Persönlichkeit, führten. Speziell bei Andreas lässt sich die Distanzierung vom Herkunftsmilieu, auf eine intensive und wesentliche Auseinandersetzung mit den eigenen Gefühlen in Bezug auf die Herkunft, zurückführen.

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Gemäß Bourdieu, schlagen sich im Habitus eingelagerte Klassifikationen und Denkschemata in den Praxen der Lebensführung nieder. Soziale Unterschiede und die Zugehörigkeit zu sozialen Gruppen, werden der Umwelt auf diese Weise über den Habitus angezeigt (vgl. Krais/Gebauer 2002: 37). Mit dem Wechsel des sozialen Feldes durch den Beginn ihres Studiums, veränderte sich der Habitus der BildungsaufsteigerInnen aufgrund neu hinzugekommener Umwelteffekte, den Einflüssen der Universitäts- und Fachbereichskultur sowie jenen der an der Universität neu geknüpften Kontakte. Vor diesem Hintergrund wird schlussgefolgert, dass sich der Habitus der BildungsaufsteigerInnen zunehmend von jenem der Personen ihres sozialen Herkunftsmilieus entfremdete und sich derweil vermehrt dem Habitus der Akteure an der Universität anglich. Effekte auf das soziale Umfeld und auf die Persönlichkeit In der lebensweltlichen Realität der Interviewees nahm das Studium einen breiten, zeitlichen Raum ein. Dadurch geschah es mehrfach, dass es andere Situationen ihres täglichen Lebens beeinflusste, etwa dann, wenn Studieninhalte zu Gesprächsthemen in Freizeitangelegenheiten wurden. Eine persönliche Distanzierung vom Studium in anderen Lebensbereichen der Interviewees, war somit überwiegend unmöglich. Jens schilderte am Beispiel der philosophischen 'Denkweise', inwiefern sich Methoden der Philosophie auf sein Gefühlsleben auswirkten: „[...] ich zumindest habe viel angefangen zu rationalisieren. Und das war erst mal für viele in der Umgebung schwierig und für mich auch schwierig, weil ich nicht wusste, 'Wie kriege ich jetzt dieses ganze Rationale und diese ganzen Argumente und Gründe, die nicht auf Emotionen beruhen, in Einklang mit meinem Gefühlsleben und mit dem Gefühlsleben anderer?'“ (Jens)

Hier formulierte er ein Differenzierungserlebnis: Die spezifische Kommunikation der wissenschaftlichen Disziplin Philosophie und die Alltagskommunikation als Person stimmten nicht überein, was zum einen seine eigenen Gefühle aus der Balance brachte und zum anderen negative Effekte auf die Personen seines sozialen Umfelds auslöste. Christopher schilderte ebenfalls, in welchem Umfang ihn die Philosophie in seinem Alltag beeinflusste: „Die Kernkompetenz, die ich in der Philosophie sehe, ist das kritische Reflektieren von allem, was in der Welt ist. Und das habe ich für mich fast auf die Spitze getrieben in dieser

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Zeit hier. […] ich habe während des Studiums angefangen, immer mehr zu reflektieren. Dinge, die ich selbst tue, Entscheidungen, die ich treffen will, Dinge, die meinen Alltag betreffen, Dinge, die ich aus den Nachrichten höre, die ich in der Zeitung lese [...].“ (Christopher)

Darüber hinaus erläuterte er, wie sich diese Herausforderungen des Philosophiestudiums in Bezug auf soziale Beziehungen, im Nachhinein als konstruktiv gestalteten, „[...] ich bin vielleicht eine schwierige Person in Beziehungsfragen [...], so bin ich glaube ich vor allem durch das Studium geworden, denn dann habe ich einfach gemerkt, wenn man diese Dinge beim Namen nennt, wirkt es zwar oft so, dass die Menschen erst mal brüskiert sind, aber es hat den besten Outcome.“ (Christopher)

In der Regel wirkten sich fachliche Anforderungen folglich in einem hohen Maß auf das soziale Leben bei der Mehrheit der Interviewees aus. Sara beschrieb, wie sie sich kontinuierlich zum Lernen animieren musste: „,Du setzt dich einfach hin, du klopfst dir das irgendwie in den Kopf rein, vergisst deine Leute, die du jetzt in der Stadt kennengelernt hast, konzentrierste dich einfach komplett auf das Studium.‘“ (Sara)

Auch sie erläuterte, inwiefern ihr Studienfach krisenartige Zustände hervorrief und sie im Hinblick auf emotionale Aspekte veränderte: „[...] kaum war ich in der Uni, wurde ich zum regelrechten Stubenhocker, also entweder Stubenhocker, oder Universitätshocker [...] ich habe jeden morgen in den Spiegel gesehen und sagte ,Was ist los mit dir? Warum tust du dir das an? Brich doch ab, mach doch irgendeine Ausbildung, verdiene ein bisschen Geld [...].‘, weil es war für mich sowohl körperlich, als auch psychisch eine extreme Belastung [...] das wurde immer schlimmer von Semester zu Semester [...], weil ich irgendwie in so eine Spirale reingekommen bin, wo ich das Gefühl hatte ,Ich weiß nicht, wo man da wieder rauskommt‘.“ (Sara)

Sie sprach daraufhin im Interview von ihrem Entschluss, einen Psychologen aufzusuchen: „Aber ich saß dann wirklich dreimal da und bin dann wieder gegangen, weil ich mir gedacht habe ,Nee, das schaffst du auch ohne. ‘“. Die StudentInnen der Rechtswissenschaften konnten eine Trennung von privaten und universitären Situationen effizienter vollziehen. Dennoch führte die Bewältigung des zeitintensiven Prüfungsstoffes häufig zu einer Kontaktminimie-

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rung von Freunden und zu einer Vernachlässigung von Freizeitaktivitäten. Andreas schilderte: „Und während des Studiums ist das auch bei mir aufgefallen, dass ich wenig Zeit für andere Sachen habe. Dadurch, dass ich viel lernen muss, viel organisieren, ich mich auch von Leuten, von Freunden distanziere; von Hobbys, die macht man erst mal nicht.“ (Andreas)

Die Interviewees schrieben Hobbys und Freizeitinteressen dennoch eine sehr wichtige Bedeutung für ihr Wohlbefinden und ihre Lebenszufriedenheit während der Studienzeit zu. Einige der TeilnehmerInnen erläuterten, dass ihnen Freizeittätigkeiten die Möglichkeit gaben, sich mit anderen Personen und Kontexten zu identifizieren. Sie nutzten sie ebenfalls zur Abwechslung und Entlastung von Studieninhalten. Sara bemerkte über ihre Freizeit mit Freunden aus der Literaturwissenschaft: „[...] wir haben uns vielleicht einmal im Monat getroffen, dann hieß es ,Ja komm, Samstag können wir irgendwo feiern gehen, [...] einmal das Ganze ab tanzen.‘“. Freizeitbeschäftigungen bewirkten zudem gesundheitliche Verbesserungen und eine Steigerung der Leistungsfähigkeit während des Lernens. Andreas erzählte: „[...] dementsprechend habe ich meinen Alltag verändert, so dass ich tagsüber lerne und abends raus gehe, tanze, Sport treibe und seitdem ich das gemerkt habe, läuft es auch besser, das heißt ich kann besser lernen und bin gesundheitlich fitter als vorher.“ (Andreas)

Infolge fehlender universitärer Kontakte und Identifikationsmöglichkeiten, spielten obendrein die Eltern einiger der StudentInnen, insbesondere zu Beginn des Studiums, eine Schlüsselrolle. Für Marc wirkten sie als ,Zufluchtsort‘: „Das komplette zweite Semester war ich quasi nur bei meinen Eltern, war vielleicht pro Monat einmal in der Uni oder so [...]“. Jens betonte, der regelmäßige Kontakt zu den Eltern ermöglichte es ihm, über Probleme zu sprechen: „Auch diese Phase, in der ich selbst verwirrt war [...], das haben die natürlich gemerkt und haben mir gesagt ,Ja, irgendwie scheinst du ein bisschen Out-of-Balance zu sein‘ und als ich dann den Dreh raus hatte, wie ich damit umgehen kann, kam auch positives Feedback. Und das war schön zu hören.“ (Jens)

Die StudentInnen, die ihr Verhältnis zu den Eltern bereits als positiv empfanden, hielten dieses während des Studiums aufrecht. Ein geringer, fehlender, oder als negativ empfundener Kontakt zu den eigenen Eltern wiederum, wie bei Christo-

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pher und Andreas, wirkte demotivierend auf die Studenten. Die fehlende Unterstützung seitens der Eltern beeinträchtigte ihre Leistungsfähigkeit im Studium und hatte eine Verzögerung des Studienverlaufs zur Folge. Ihr Verhältnis zu ihnen wendete sich auch während der bisherigen Studienzeit nicht zum Positiven. Christopher fühlte sich stattdessen zu einem Kontaktabbruch bestärkt: „Ja, dass ich tatsächlich final gesagt habe, ich möchte den Kontakt nicht mehr haben, das war während des Studiums und dass ich gesagt habe sogar ,Ich gehe rechtlich vor‘, das ist erst eine sehr junge Entscheidung [...]“ (Christopher)

Auf der Grundlage dieser Ausführungen lässt sich die These ableiten, dass es sich im Alltag für viele der befragten StudentInnen durchaus als sehr kompliziert erwies, fachliche Herausforderungen des Studiums mit anderen Lebensangelegenheiten zu vereinbaren und in eine Balance zu bringen, die sie selbst als ideal empfinden konnten. Konflikte in Beziehungen zu Freunden und zu der Familie ergaben sich bei den PhilosophiestudentInnen als Konsequenz ihrer Irritation und Verwirrung, die durch anspruchsvolle Fachinhalte und -methoden ausgelöst wurden. Hobbys zu pflegen und Kontakte zu Personen mit ähnlichen Freizeitinteressen aufzubauen, war ferner für die JurastudentInnen aufgrund zeitintensiver Lerninhalte mehrheitlich schwierig. Viele der Interviewees beschäftigten sich im Zuge der veränderten Lebenssituation an der Universität, mit ihren individuellen Gefühlen und Meinungen. Im Zuge dessen wurden persönliche Werte zunehmend wahrgenommen und bestimmten verstärkt ihr Verhalten sowie zukünftige Handlungen. Christopher schilderte seine Sicht der Weltanschauung, zu der er während des Philosophiestudiums gelangte: „Ich komme zu dem Ergebnis, [...] dass Dinge in der Welt eher schlecht sind, umso schöner sind aber dafür dann die Dinge, die tatsächlich gut sind.“ Eine grundlegende Distanzierung vom Herkunftsmilieu während des Studiums, zeigte sich bei Christopher und bei Andreas. Dass sich ihr Verhältnis zu den Eltern in dessen Verlauf maßgeblich veränderte, ist vorrangig ihrem Bildungsaufstieg zuzuschreiben: Im Zuge der Beschäftigung mit persönlichen Meinungen, Werten und Gefühlen, erfolgte eine Abgrenzung vom Herkunftsmilieu. Außerdem sorgten neu hinzugekommene Eindrücke und Erfahrungen für eine Umgestaltung bisher internalisierter Strukturen. Andreas strebte den Bildungsaufstieg zwar gezielt an, stieß jedoch, bedingt durch das mangelnde Verständnis der Eltern, während dessen fortlaufend auf Hindernisse, sodass sein sozialer Aufstieg mit der Loslösung und einer essentiellen Distanzierung von den Eltern

288 | V ANESSA PIETSCH

einherging. Dadurch verzichtete er, ebenso wie Christopher, auf bereits akkumuliertes soziales Kapital in Form der Herkunftsfamilie (vgl. Alheit /Rheinländer/Watermann 2008, 584). Bei den anderen StudentInnen zeigt sich, dass sie ihr soziales Herkunftskapital nicht aufgaben. Sie pflegten ihre Herkunftskontakte, griffen auf sie zurück und reicherten sie mit neu gewonnenen Studienerfahrungen an. Sara, Marcel und Gregor aus der Philosophie sowie Stefanie und Marc aus den Rechtswissenschaften, hielten grundsätzlich eine räumliche und milieuspezifische Distanz zur Universität. Sie pflegten auch regelmäßigen Kontakt zu den Eltern sowie zu Freunden außerhalb ihrer Studienfachrichtung, oder ganzheitlich fernab der Universität. Ihnen diente das Studium primär dazu, den eigenen lebensweltlichen Horizont zu erweitern. Soziale Zugehörigkeiten bauten sie infolgedessen an der Universität auf, jedoch zum Großteil ebenso außerhalb des universitären Umfeldes (vgl. ebd.). Deutlich war bei Sara festzustellen, dass ihre persönliche Krise durch den Einstieg in das Studium ausgelöst wurde. Sie stellte im Rahmen des Philosophiestudiums „Auffassungen, Bilder und Darstellungen des Menschen“ (Mecheril/Klingler 2010, 84) in Frage und vollzog diese Infragestellung ebenso bei sich selbst. Gleiches gilt für die Philosophiestudenten Jens und Christopher sowie für den Jurastudenten Andreas. Die Universität präsentiert sich demzufolge nicht ausschließlich als ein Ort, an dem „Bewegung auf der Grenze zum (Un)üblichen und über diese Grenze hinweg“ (Mecheril/Klingler 2010, 86) im Zuge von fachlichem Lernen und Wissen stattfindet, sondern gleichermaßen als ein Ort, der Grenzbewegungen im Subjektivierungsmodus von den StudentInnen auslöst und begleitet. Angst In der lebensweltlichen Realität der StudentInnen stellt Angst einen dominierenden Faktor dar, der während des Studiums stets präsent war und sich im universitären Zusammenhang in unterschiedlichen Bereichen zeigte. Ängste entstanden bei den hier befragten StudentInnen durch fehlende Unterstützungs- und Identifikationsmöglichkeiten. Die durch das 'auf sich selbst gestellt sein' erzeugte faktische und gefühlte Vereinsamung trug dazu bei, dass sich die Ängste verstärkten. Viele der Interviewees fühlten sich mit persönlichen Defiziten konfrontiert und stießen dann an eigene Grenzen, wenn sie mit der Wahrnehmung und Reflexion der Defizite nicht zurecht kamen, wenn etwa die Menge der Lerninhalte nicht bewältigt werden konnte, oder wenn bestimmte Lerninhalte nicht verstan-

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den wurden. Dies führte zu der Befürchtung, Prüfungen und Klausuren nicht zu bestehen, von DozentInnen und ProfessorInnen nicht anerkannt zu werden und ferner, mögliche Erwartungen der Familie nicht erfüllen zu können. Die Ängste waren bei einigen der Interviewees, beispielsweise bei Sara, eng verbunden mit der Entstehung persönlicher Krisen (vgl. Ahlers-Niemann 2007, 2). Bei allen der im Rahmen der Studie befragten StudentInnen aus den Rechtswissenschaften, führte die Aussicht darauf, das Staatsexamen erfolgreich absolvieren zu müssen, zu einem hohen Leistungsdruck, der sich mit zunehmender Anzahl ihrer Semester aufbaute. Stefanie erzählte von ihren KommilitonInnen, die das Staatsexamen aus Angst aufschieben würden, wodurch nicht nur ihre Fachsemesterzahl, sondern auch die Angst vor dem Examen weiter anstieg. Neben der Angst, fachlich zu versagen, äußerten einige der Interviewees die Befürchtung, in der Masse der StudentInnen 'unterzugehen'. Diese Angst zeigte sich insbesondere bei Sara, die der Universität mit einer Aussage furchteinflößende Attribute zuschrieb: „Am Anfang hatte ich das Gefühl, man wurde vollkommen allein in dieses, eigentlich ins Haifischbecken geworfen und musste dann sehen, wo man bleibt.“ In der studentischen Lebenswelt der befragten StudentInnen waren folglich sowohl Ängste um die eigene Individualität und Person, etwa nicht zur Kenntnis genommen und allein gelassen zu werden, als auch Befürchtungen davor, in Bezug auf Studienleistungen zu scheitern, vorhanden. Individuelle Ziele Eine Identifikation mit individuell gesetzten Zielen trug dazu bei, dass sich die Mehrheit der Interviewees stärker verpflichtet fühlte, ihre Ziele durch eigene Leistungen zu verfolgen und die dazu erforderlichen Anstrengungen aufbrachte (vgl. Brunstein, Joachim C. u.a. 2008, 177f.). Insbesondere für Sara waren Zielbindungen für das Studium relevant. Sie betonte in Bezug auf die Philosophie: „'Das kann doch nicht so anstrengend sein, jetzt hab dich nicht so, klar die Themen sind alle fade und langweilig und öde, aber kämpf' dich da mal durch.'“. Das persönliche Ziel, mit dem sie sich identifizieren konnte, fand sie in der Literaturwissenschaft und erklärte im Interview, ihren zukünftigen Masterabschluss darin absolvieren zu wollen. Somit konnte sie die ursprünglich empfundene Unzufriedenheit mit dem Fach Philosophie, in Motivation und Durchhaltevermögen für ihr neues Ziel umwandeln:

290 | V ANESSA PIETSCH „[...] ich hatte das Gefühl es war lebendig, es war abwechslungsreich, es war nicht so strohtrocken. [...] für mich ist Philosophie sozusagen dieser riesige Berg, der zwischen mir steht und dem, was ich gerne machen würde.“ (Sara)

Den Überblick über berufliche Optionen zu erlangen, die durch das jeweilige Studienfach ermöglicht werden, spielte bei allen Befragten eine wichtige Rolle. Im Hinblick auf das Staatsexamen erläuterte Andreas: „[...] mit drei plus, vollbefriedigend im Staatsexamen, kann man Professor werden, man kann promovieren, man kann Staatsanwalt werden, Richter, man kommt also in alle Bereiche rein.“ Jens schilderte ebenfalls berufliche Möglichkeiten des Philosophiestudiums: „[...] dadurch, dass wir eben dieses Mindset haben und die unterschiedlichen Perspektiven einnehmen können, sind wir oft in beratenden Positionen [...]“. Günstige Realisierungsbedingungen für das Erreichen individueller Ziele liegen vor, wenn eine Person genügend Gelegenheiten besitzt, Zeit für das Erreichen ihrer Ziele im Alltag aufzubringen, wenn sie zielrelevante Einflussfaktoren selbst kontrollieren und die Unterstützung ihres sozialen Umfelds in die Verfolgung ihrer Ziele ebenfalls mit einkalkulieren kann (vgl. Brunstein u.a. 2008, 178). Eine Unterstützung der Eltern, kann die Bedingungen für die Realisierung von Zielen daher deutlich verbessern. Die StudentInnen der hier betrachteten Studienfächer waren in der Lage, Anforderungen ihres Studiums zudem effektiver zu bewältigen, je eher sie ein Bewusstsein für persönliche Ziele entwickelten und sich ihre Zielbindung nach individuellen Bedürfnissen richtete (vgl. ebd.). Auf diese Weise konnte auch die persönliche Lebenszufriedenheit während des Studiums, wie etwa bei Sara, durch eine präzise Zielsetzung gesteigert werden.

V. F AZIT

UND THEMATISCHER

AUSBLICK

Mit dem Einstieg in das Studium an der betrachteten Universität, suchten die StudentInnen der hier präsentierten Studie, nach einem sinngebenden und identitätsstiftenden Ort (vgl. Ahlers-Niemann 2007, 2). Zu Beginn des Studiums gestaltete sich die Universität für die Mehrheit der Befragten hingegen zu einem Ort der Krise, der eher eine „Verwirrung [und eine] Störung des Bestehenden“ (Jungwirth 2007, 149) hervorrief. Die Krise äußerte sich ferner primär im Zuge einer anfänglichen Phase der Orientierungs- und Kontaktlosigkeit, in der die StudentInnen nach Identifikations- und Zugehörigkeitsmöglichkeiten suchten. Viele der Befragten empfanden ihren Einstieg in das Studium als eine De-Plat-

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zierung wie sie für einen Nicht-Ort nach Augé typisch ist. Sie nahmen das universitäre Umfeld als transitorisch und anonym wahr. Um den daraus entstehenden negativen Gefühlen der Desintegration und des 'Allein-Seins' sowie weiteren Ängsten zu entgehen, verbrachten einige von ihnen eine bestimmte Zeit des Semesters bei den Eltern. Andere versuchten zunehmend Kontakte zu DozentInnen und ProfessorInnen sowie in der Fachschaft aufzubauen und Freundschaften außerhalb des universitären Kontextes herzustellen. Neben der anfänglichen Orientierungs- und Kontaktlosigkeit, erlebten die StudentInnen Herausforderungen bei der Studienorganisation und empfanden die fachliche Unterstützung seitens der Lehrenden oftmals als ungenügend. Durch die veränderte Lebenssituation ereigneten sich darüber hinaus Konflikte mit dem sozialen Umfeld, so dass sich einige von der eigenen Familie distanzierten, oder den Kontakt zu ihr vollständig abbrachen. Der Beginn des Studiums stellte sich für die StudentInnen, die hier zu Wort kamen, folglich als eine Phase persönlicher Transformationen dar, die zusätzlich zu den zahlreichen Studienanforderungen, durch Veränderungen in sozialen und persönlichen Bereichen hervorgerufen wurden. Im Zuge der dadurch ausgelösten Entwicklung ihrer Persönlichkeit, konnte sich die Mehrheit der Interviewees verändern und entfalten sowie neue Orientierungsstrukturen für ihren zukünftigen Bildungs- und Lebensweg finden. Zudem gewannen sie neues Handlungswissen in Bezug auf intellektuelle und emotionale Aspekte. Zunächst wurde die Universität von den StudentInnen als ein Ort wahrgenommen, der Elemente eines Nicht-Ortes aufweist. Später wurde er für viele zu einem Ort, der persönliche Krisen und Entwicklungen auslöst und rahmt. Da es sich bei der Universität folglich um einen affektiv und symbolisch aufgeladenen Ort handelt, schreibe ich ihr an dieser Stelle eindeutige Charakteristika eines anthropologischen Ortes getreu Augé zu. Angesichts der Wahrnehmungen der befragten StudentInnen, bezeichne ich die Universität zudem als einen Transitort mit sozialisatorischen Elementen. Unter den neun TeilnehmerInnen der Forschungsstudie weisen acht einen Bildungsaufstieg auf. Dieser ist größtenteils auf den Wechsel des sozialen Feldes mit dem Beginn ihres Studiums zurückzuführen und wurde durch die Wahrnehmung und Verarbeitung ihrer Empfindungen und Eindrücke in Bezug auf die eigene Herkunft sowie die zeitgleiche Auseinandersetzung mit persönlichen Werten und Standpunkten begünstigt. Insbesondere auf die TeilnehmerInnen mit Migrationshintergrund trifft dies zu. Die Mehrheit der BildungsaufsteigerInnen distanzierte sich von ihrem Herkunftsmilieu. Mit dem Bildungsaufstieg ging folglich eine Veränderung ihres intergenerationalen Status einher, da sie ihr herkömmliches Bildungsniveau und den damit verbundenen soziokulturellen Status

292 | V ANESSA PIETSCH

ihrer Familie, verließen. Im Rahmen der Studie wurde zugleich aufgezeigt, dass der Bildungsaufstieg nicht zwingend parallel zu einer Distanzierung vom Herkunftsmilieu erfolgt: Drei Personen unter den BildungsaufsteigerInnen gelang es, neben ihrer Zugehörigkeit im Zusammenhang mit der Universität, auch jene zu ihrer Familie sowie zu Freunden unabhängig des universitären Kontextes aufrechtzuerhalten und die unterschiedlichen Zugehörigkeiten wirkungsvoll miteinander zu verbinden. Weitgehend ist die Universität als Lebenswelt der StudentInnen zu betrachten, in der sich ihre lebensweltliche Realität durch ein Nebeneinander mehrerer Bereiche charakterisiert. Das Studium, die Familie, der Freundeskreis, die persönliche Freizeit und eventuell eine Nebentätigkeit spielen eine Rolle in ihrem Leben. Viele der in dieser Studie befragten StudentInnen beabsichtigten, ihre Freizeitinteressen und Hobbys in den regulären Studienalltag zu integrieren, was sich aber aufgrund der zu bewältigenden Anforderungen als ein Balanceakt offenbarte. Auch die Chancen auf soziale Bindungen waren dadurch reduziert. Dies betrifft primär das Studium der Rechtswissenschaften, das den hier befragten Interviewees zufolge, in einem großen Umfang nach den Erfordernissen des Arbeitsmarktes auszurichten war, wodurch wenig Zeit für persönliche Interessen im Allgemeinen blieb. Die untersuchte Universität kann ferner als Beispiel dafür dienen, dass sich moderne Universitäten in Deutschland zu Massenorganisationen entwickeln, die durch hohe StudentInnenzahlen und eine wahrnehmbare Ökonomisierung charakterisiert sind. In diesem Zusammenhang lässt sich spekulieren, ob der soziale Raum der hier betrachteten Universität durch einen Mangel an Solidarität gekennzeichnet ist, da die Einhaltung formaler Kriterien wie auch das Lernen fachlicher Themen zentral sind und viel Zeit erfordern, was der Etablierung sozialer Zugehörigkeiten und zwischenmenschlicher Bindungen im Weg steht. Im Studiengang Rechtswissenschaften war, gemäß den befragten StudentInnen, eine weitaus geringere Bereitschaft zur Unterstützung und Hilfe von Seiten der Lehrenden und der KommilitonInnen zu erkennen, als im Fach Philosophie. Neben einer tendenziellen universitären Vermassung trug ein hoher Leistungsdruck dazu bei. Infolgedessen wurde das Studium der Rechtswissenschaften nahezu von der Hälfte der Interviewees aus den Rechtswissenschaften nicht als etwas Gemeinsames erlebt, sondern als „Einzelkämpfer-Studium“ wahrgenommen. Die Individuen der in diesem Beitrag präsentierten Studie, benötigten speziell zu Beginn ihrer Studienzeit an der Universität Bezugspunkte, die ihnen bei aufkeimender Unsicherheit und Orientierungslosigkeit, Unterstützung und Hilfe hätten bieten können. Da Wissensaneignung durch formalisierte Formen grund-

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legend darauf angewiesen ist, dass es StudentInnen gelingt, sich als aktive TeilnehmerInnen in die universitäre Welt „hineinzufinden“ (Mecheril/Klingler 2010, 99), liegt es im Kompetenzbereich der Universität, ihrer möglichen Aufgabe nachzukommen, den StudentInnen konkrete Orientierungs- und Entwicklungsoptionen anzubieten und ihnen dadurch im Hinblick auf ihr Studium sowohl Identität, als auch Sinn zu vermitteln.

L ITERATUR Ahlers-Niemann, Arndt 2007: Das Unbehagen in der Universitätskultur. Sozioanalytische Reflektionen zum Unmöglichkeitsraum Universität, in: Freie Assoziation – Das Unbewusste in Organisationen und Kultur, 11 (2), 23-45. Alheit, Peter/Rheinländer, Katrin/Watermann, Rainer 2008: Zwischen Bildungsaufstieg und Karriere. Studienperspektiven „nicht-traditioneller Studierender“, in: Zeitschrift für Erziehungswissenschaft, (11), 577-606. Augé, Marc 1994: Orte und Nicht-Orte. Vorüberlegungen zu einer Ethnologie der Einsamkeit, Frankfurt am Main. Bergmann, Joachim E. 1967: Die Theorie des sozialen Systems von Talcott Parssons. Eine kritische Analyse, Frankfurt am Main. Bourdieu, Pierre 2014: Sozialer Sinn. Kritik der theoretischen Vernunft, Frankfurt am Main. Brunstein, Joachim C./Dargel, Anja/Glaser, Cornelia/Schmitt, Clemens H./Spörer, Nadine 2008: Persönliche Ziele im Studium. Erprobung einer Intervention zur Steigerung der Zieleffektivität im Studium, in: Zeitschrift für Pädagogische Psychologie, 22 (3-4), 177-191. Fuchs-Heinritz, Werner/König, Alexandra 2011: Pierre Bourdieu. Eine Einführung, Konstanz und München. Fröhlich, Gerhard 1999: Habitus und Hexis. Die Einverleibung der Praxisstrukturen bei Pierre Bourdieu, in: Grenzenlose Gesellschaft? (2), 100-102. Grendel, Tanja 2012: Bezugsgruppenwechsel und Bildungsaufstieg. Zur Veränderung herkunftsspezifischer Bildungswerte, Wiesbaden. Hillmann, Karl-Heinz 2007: Wörterbuch der Soziologie, Stuttgart. Jungwirth, Ingrid 2007: Zum Identitätsdiskurs in den Sozialwissenschaften. Eine postkolonial und queer informierte Kritik an George H. Mead, Erik H. Erikson u. Erving Goffmann, Bielefeld. Kaube, Jürgen 2010: Die Universität als Unternehmen – zur Ökonomisierung der Hochschulen, in: Heidbrink, Ludger/Seele, Peter (Hg.): Unternehmertum.

294 | V ANESSA PIETSCH

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Zwischen Wissenschaft und Kinderwunsch Zur Familienplanung bei PromovendInnen mit ‚Migrationserfahrung‘ N ADIA S ADRUDIN

I. E INLEITUNG Familienplanung im Zusammenhang mit beruflichen Aspirationen und Arbeitsleben ist ein aktuelles und viel diskutiertes Thema.1 Der seit ca. 25 Jahren beobachtete stetig ansteigende Verzicht auf Elternschaft wird auch im Fachdiskurs als ein an Bedeutung gewinnendes Phänomen der heutigen Gesellschaft thematisiert (vgl. Bundesinstitut für Bevölkerungsforschung 2016; Ruckdeschel 2007). Generell verweist die Literatur in diesem Zusammenhang auf einen Wandel des ehelich/partnerschaftlich familiären Verhaltens innerhalb westlicher Industriegesellschaften (vgl. Nave-Herz 2010, 40; Geissler/Oechsle 1990, 26). Ein solcher Verlust der exklusiven Monopolstellung der Familie wird als Deinstitutionalisierung gewertet (vgl. ebd., 40; vgl. Beck 1997). Nichtsdestotrotz beschreibt der Begriff lediglich eine Reduktion der institutionellen Qualität der Familie, nicht etwa ein gänzliches Verschwinden. Die Deinstitutionalisierung des Lebenslaufes sowie eine Pluralisierung von Lebensformen werden als Konsequenzen eines solchen Wandels gesehen (vgl. Beck-Gernsheim 1989, 394). Der bisherige Diskurs konstruiert die Doppelbelastung der Vereinbarkeit von Beruf und Familie zunehmend als „Frauenproblem“ (Oechsle 2008, 228; Schubert 2010; vgl. O’Laughlin 2005, 83). Männer sehen sich jedoch oftmals in einem ähnlichen Konflikt von Beruf und Familie (BZgA 2005, 47; Vedder 2008).

1

Frau Prof. Dr. Joanna Pfaff-Czarnecka danke ich für die Unterstützung zur Durchführung dieser Publikation. Allen MitarbeiterInnen danke ich für die gute Zusammenarbeit und ihre Hilfe.

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Besonderes Augenmerk der Diskussionen liegt auf Akademikerinnen, da bei ihnen eine besonders hohe Kinderlosigkeit festgestellt wird (vgl. Wirth 2004). Institutionelle Hürden, die sich durch eine längere Verweildauer in Bildungsinstitutionen einstellen sowie persönliche Lebenskonzepte, die den Schwerpunkt auf Karriere und Beruf richten, werden als Erklärungsansätze genannt (vgl. ebd., O’Laughlin 2005). Der Verzicht auf Kinder ist dann eine Strategie, beruflichen Erfolg zu ermöglichen (vgl. Hess 2011). Demgegenüber werden aber auch positive Begleiterscheinungen von zunehmenden Individualisierungsprozessen genannt, die wiederrum besonders Frauen mehr Chancen einräumen (vgl. NaveHerz 2010, 40). Der vorliegende Artikel diskutiert eine neue Perspektive auf die Work-LifeBalance2 von AkademikerInnen, indem er Einflüsse von Diasporaerfahrungen3 auf das Verständnis von Familie, Elternschaft und Beruf betrachtet. Indem Vereinbarkeit von beruflicher Karriere und Familiengestaltung (vgl. Hess 2011) im Kontext von Migration und Ethnizität (vgl. Herwartz-Emden 1999) betrachtet wird, soll der Einfluss dieser Aspekte auf Familienplanung, Geschlechterrollenorientierungen sowie Individualisierungsbestrebungen analysiert werden. Meinem Forschungsinteresse liegt die Annahme zugrunde, dass Entscheidungen für oder gegen eine Elternschaft neben sozio-ökonomischen Faktoren auch von Migrationserfahrungen und unterschiedlichen kulturellen Hintergründen geprägt sind (vgl. BZgA 2011). Migrationserfahrungen sowie damit verbundene Selbstverwirklichungsbestrebungen scheinen neben wissenschaftlicher Karriere wesentlich für das Ausbleiben von Elternschaft zu sein.

2

Der Begriff Work-Life-Balance „bezeichnet eine komplexe Gemengelage von Problemen, Diskursen und Praktiken im Spannungsfeld von Erwerbsarbeit und Privatleben“ (Oechlse 2008, 227).

3

Der Begriff Diaspora kann eine soziale Form, eine Art des Bewusstseins oder eine kulturelle Produktionsweise bezeichnen (vgl. Binder 2000, 7). Als ‚klassisches Modell‘ wird die jüdische Diaspora angeführt, die für traumatische Verbannung aus einem Heimatland, gewaltsame Vertreibung, Verstreuung, Entfremdung und Verlust steht. Heutzutage wird der Begriff auch verwendet, um Lebenswelten von z.B. global zerstreuten ethnischen Personen zu beschreiben, die eine kollektive Identität besitzen und mit Gefühlen der Entfremdung und des Ausgeschlossenseins im neuen Aufenthaltsland umgehen (vgl. ebd.). Autoren führen jedoch an, dass es Zeit und wiederholter Migration über Generationen hinweg bedarf, um aus einfacher Migration Diaspora entstehen zu lassen (vgl. King 2010, 172).

ZWISCHEN W ISSENSCHAFT

UND

K INDERWUNSCH | 297

Diese Studie gliedert sich in sechs Abschnitte. Einleitend wird die Relevanz der Fragestellung im Kontext von Migration und Familie aufgezeigt. Anschließend kommen die genutzten Methoden der Datenanalyse zur Sprache. In einer darauf folgenden Interpretation präsentiere ich die Kernergebnisse und komme auf Theorien sowie relevante Literatur zur Vereinbarkeit von Wisschenschaft und Familienwunsch zurück. In der Zusammenfassung der Ergebnisse zeige ich, wie die unterschiedlichen Dimensionen der Analyse zusammenwirken und welche Konsequenzen sie aufdecken.

II. M ETHODEN Die Grounded Theory nach Barney Glaser (1978) und Anselm Strauss (1991) bzw. Strauss und Juliet Corbin (1990; 1996) bildet die methodologische Grundlage dieser Untersuchung (vgl. Alheit 2009). Der Studie liegt folgendes Kategorienschema zugrunde: Sprache, Migration, Religion, Finanzen, Bildung, Lesen, Wissenschaft, Klasse(n)-unterschiede/sozialer Prestigeverlust, Kinderwunsch, Familienkonzept, Unabhängigkeit und politische Situation. Dabei wird deutlich, dass bestimmte Kategorien in besonder Beziehung zueinander stehen. So ist der starke Zusammenhang zwischen Migration und Unabhängigkeit fallübergreifend erkennbar. Unabhängigkeit stellt die „Kerntheorie“ (ebd. 16) im Spannungsfeld von Migration und Elternschaft dar. Darüber hinaus wurde ein leitfadengestütztes Interview mit einer an dem gewählten Graduiertenkolleg bauftragten Expertin für Genderfragen geführt und analysiert. Der Fokus richtet sich dabei auf deren persönliche Einschätzungen und Erfahrungen. Dies ermöglicht ein besseres Verständnis der angebotenen institutionellen Hilfestellungen des Kollegs sowie von Hindernissen bei deren Nutzung für die Vereinbarkeit von Wissenschaftskarriere und Familie. Für das Forschungsvorhaben erwies sich das Erhebungsinstrument biographisch-narrativer Interviews als besonders vorteilhaft. Es erlaubt eine individuelle Relevanzbestimmung von narrativen Darstellungen der Biographie, die hauptsächlich auf subjektive Erfahrungen und Einschätzungen abzielt (vgl. Rosenthal 2002, 8). Die Biographien der Interviewees werden im Gesamtkontext des Lebensverlaufes betrachtet und kontextualisiert (vgl. ebd., 11). Das Sample besteht aus fünf Narrativen von DoktorandInnen eines in Nordrhein-Westfalen gelegenen Graduiertenkollegs. Neben seiner internationalen Reputation verortet sich dieses als familienfreundliche Einrichtung. Als besonderes Merkmal wird die Hilfestellung bei der Vereinbarkeit von Familienleben mit wissenschaftlicher Karriere aufgezeigt.

298 | NADIA S ADRUDIN

Vier der dort angeworbenen InterviewpartnerInnen wurden aufgrund ihrer Migrationserfahrungen ausgewählt. Ein fünfter Gesprächspartner, Promovend und Vater, weist keinen dementsprechenden Hintergrund auf, dient jedoch der Kontrastierung der Familiensituation. Das Phänomen der Kinderlosigkeit soll in Beziehung zu Faktoren wie Migration gesetzt werden, um Muster, Prozesse, und Generalisierbarkeiten (vgl. Elliot 2005, 26) aufzudecken.

III. ANALYSE

UND I NTERPRETATION

Tabelle 1: Interviewees Partnerschaft/Ehe

Kinderwunsch

Südosteuropa (seit dem

Verheiratet (seit 10 Jah-

Elternschaft

13. Lebens-

ren)

ablehnend

Verheiratet (seit 8 Jahren)

Elternschaft

Interviewee (Al-

Herkunft

ter)

(Zeit in Deutschland)/Wertung Migrationserfahrung

Ada (37)

jahr)/überwiegend positive Erfahrungen Masud (30)

Vorderasien (seit 4 Jahren)/negative Erfahrun-

ausgeschlossen

gen Miguel (30)

Südamerika (seit

In Partnerschaft lebend

dem Masterstu-

Elternschaft ausgeschlossen

dium)/positive Erfahrungen Arezoo (30)

Vorderasien (seit

Verheiratet (seit 10 Jah-

Elternschaft

2011)/ambivalente Er-

ren)

ablehnend

fahrungen Richard (30)

Mitteleuropa/kein Migrationshintergrund

Ehe (seit Schulzeit)

Ein Sohn; anhaltender Kinderwunsch

ZWISCHEN W ISSENSCHAFT

UND

K INDERWUNSCH | 299

Familienplanung versus Individualisierung im biographischen Verlauf Fünf anonymisierte Biographien von PromovendInnen in den Geisteswissenschaften werden im Folgenden dargestellt. Besonderes Interesse der Gespräche gilt den Themenkomplexen Migrationserfahrungen, Wissenschaftsverständnis sowie dem Einfluss des kulturellen Hintergrundes auf Familienplanung. Im Vordergrund stehen die zentralen Kategorien von Herkunft und Migrationserfahrungen, Vorbilder, Bildungsverständnis, Selbstverwirklichung und Unabhängigkeit sowie Familienkonzept und Einstellung zur Elternschaft, da diese sich fallübergreifend bei den PromovendInnen mit Migrationserfahrung ähneln. Die Beispiele verweisen auf die Leitidee von Individualisierungsbestrebungen (vgl. Beck 1997) und ‚Individualisierungsstrategien’. Als Individualisierung wird eine Auflösung etablierter Lebensformen sowie die Entstehung neuer Verbindungen durch Institutionseinbettung innerhalb der modernen Gesellschaft bezeichnet (vgl. Diewald 1990; Beck 1997; 1986). Beck bezeichnet diese sozialen Voraussetzungen als „industrielle Risikogesellschaft“, die im Gegensatz zur „klassischen Industriegesellschaft [steht]“ (Beck 1986; vgl. Beck 1997, 20). Als zentrale Konsequenzen gelten „Bedeutungsverlust und Destabilisierung zwischenmenschlicher Beziehungen“ (Diewald 1990, 165), besonders im Rahmen familiärer Beziehungsstrukturen (vgl. ebd., Beck 1986, vgl. Beck 1997, 32). Der Erwerb von Handlungskompetenzen, um das „individuelle Projekt“ (Geissler 1990, 2) persönlicher Lebensplanung zu meistern, ist ein zentraler Aspekt. Ein Vergleich von Interviewauszügen zeigt, wie einschneidende Lebenserfahrungen Familienkonzepte prägen können und illustriert Selbstverwirklichungstrategien innerhalb individueller Statuspassagen (vgl. Beck 1997). Migrationserfahrung und Individualisierung Migration bezieht sich auf eine Verlagerung des Lebensmittelpunktes von Individuen oder Gruppen und impliziert immer einen längerfristigen Perspektivwechsel (vgl. Klinke 2005, 5). Die Interviewees berichten von Migration als Krisenerfahrung4 (vgl. Schäfer 2012, 72) und als Ursache von Fremdheitsempfinden

4

Krisenerfahrung wird in diesem Zusammenhang als Verlust der emotionalen Ordnung und Sicherheit von Personen verstanden. Eine Migration kann zur Folge haben, dass weitere Prozesse von Isolation, sozialem Rückzug und Unbestimmtheit empfunden werden (vgl. Themenpapier der Deutschen Gesellschaft für Soziologie 2014, 1).

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durch kritische Auseinandersetzungen mit dem eigenen Selbstbild (vgl. ebd., 70). Aufgrund der Anforderungen, sich mehrheitlich anpassen zu müssen, ist ein starkes Bedürfnis von Autonomie im späteren Lebensverlauf der Befragten entstanden. Dieses Bedürfnis steht in einem komplexen Verhältnis zum Streben nach Zugehörigkeit. So wird im Falle der ersten Doktorandin – Arezoo – das Gefühl der Heimatlosigkeit besonders durch fehlende sinnstiftende und verbindende Gemeinschaft gestützt (vgl. Pfaff-Czarnecka 2013, 22). Das ‚Zugehörigkeits‘ Konzept, das hier als Erklärungsansatz dient, wird folgendermaßen definiert: „Belonging is an emotionally-charged social location“, durch welche ‚Kommunalität‘, ‚Gegenseitigkeit‘ sowie ‚Treue‘ und ‚Bindungen’ vereint sind (vgl. Pfaff-Czarnecka 2011, 201). Zugehörigkeit aus Ego-Perspektive beschreibt eine durch ein Kollektiv geformte kollektive Teilhabe, wohingegen Zusammengehörigkeit für ein gemeinsames Wir-Gefühl steht (vgl. ebd. 205). Das Konzept stellt die Schwierigkeiten von Kontaktknüpfung nach erfolgter Migration anschaulich dar. Handlungskompetenzen der Akteure ermöglichen häufig ungeachtet anfänglicher Fremdheitserfahungen eine Aneignung neuer Umgebungen und besetzen sie mit persönlichem Wert (vgl. Pfaff-Czarnecka 2013, 22). Auch Webers Konzept des Öffnens und Schließens sozialer Beziehungen verweist auf den Prozess der Identifikation durch Generierung von Zugehörigkeit und Ausschlusskriterien (vgl. Bös 1996, 10). Individuelle Indentitätsbildung kann erst durch Ausdifferenzierung von wechselseitiger Anerkennung entwickelt werden (vgl. Honneth 1994; Morel 1997, 60). Fehlende intime soziale Kontakte führen dazu, sich selbst in Frage zu stellen (vgl. Rosa 2012, 10) und erschweren neue Beziehungen (vgl. Schäffter 2009, 5). Arezoo stellt diesen Zusammenhang folgendermaßen dar: „[…] everybody says it is much easier to migrate with your family but first of all, my husband didn’t have a community to speak of, it was only me [...] So for me it was the end of finding a good friend [...] I was always an outsider.“ (Arezoo)

Sie berichtet von verschiedenen Strategien, welche ihr die Sicherheit eines Zuhauses vermitteln. Die Tatsache, in ihrem eigenen Zuhause über einen festen Telefonanschluss erreichbar zu sein, gibt ihr das Gefühl, verwurzelt zu sein. Peter Geschiere beschreibt diesen Prozess als „anchor[ing] one’s belonging“ (2011, 207) 5.

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Die Metapher der Wurzel in Abgrenzung von der des Ankers spielt auch in den Arbeiten Zygmunt Baumans eine bedeutende Rolle (vgl. Bauman 2011: 434). Er differen-

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“[...]we have a phone number [home phone] now [...] it just felt like this is one more addition for our home which makes it feel like well we have a home here [...]” (Arezoo)

Eigens ausgewähltes Mobiliar vermittelt ihr das Gefühl von Beheimatung. Sie seien Beweis, dass das Zurücklassen persönlicher Wertgegenstände im Heimatland nicht gleichbedeutend mit dem Verzicht auf persönliche Entfaltung sein muss. „The home was furnished […] Everything was just nice, but it felt like a hotel […] We bought our own furniture and it was this moment that finally we felt like […] it is our home here.“ (Arezoo)

Die Entscheidung, den Lebensmittelpunkt gewechselt zu haben, wird von Arezoo sowie Masud als Hindernis persönlicher Entfaltung verstanden und bereut. Neben neoklassischen Bestrebungen wirtschaftlicher Optimierung (vgl. Currle 2006, 9) wurde Entfaltung der eigenen Persönlichkeit als Hauptgrund für eine wissenschaftliche Karriere im Ausland genannt (vgl. Dietz 2013, 48). Erlebte Schwierigkeiten, individuelle Nutzenmaximierung umzusetzen (vgl. Picot 1996, 145), führten hier ebenfalls dazu, die Entscheidung zur Migration anzuzweifeln. „So ya, I sometimes feel like what if I turn 60, and my life would be a sigh. You, I just look back and I feel I lost so much.“ (Arezoo)

Masuds Darstellungen seiner Lebenserfahrungen als Migrant stellen sich als noch negativer heraus. Sein Wunsch nach Selbstverwirklichung durch Aufnahme einer wissenschaftlichen Karriere sei ihm durch institutionelle Exklusionsmechanismen verwehrt gewesen. Die damit einhergehenden Entfremdungserfah-

ziert zwischen „rooted“ und „anchored belonging“ (ebd., 433), wobei er letztere als charakteristisch für moderne Gesellschaften benennt. Er führt an: „the metaphor of anchors captures what the metaphor of ‘uprooting’ misses or keeps silent about: the intertwining of continuity and discontinuity in the history of all or at least a growing number of contemporary identities“ (ebd., 434). Wie Geschiere stellt er den geschichtlichen Kontext und Mobilität in den Fokus und die damit verbundenen Veränderungen im individuellen Verständnis von ‚Zugehörigkeit‘.

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rungen und Gefühle von Missachtung verdichteten sich mitunter zu misslingender „Weltaneignung“6 (Rosa 2012, 9). „But compared to my education in [home country] […] I have wasted my whole life in the past three and a half years being in Germany.“ (Masud)

Masud zeichnet ein Bild von Welterfahrung in Deutschland, in der sich existenzielle Unsicherheiten verstärken. Mit Harmut Rosas Worten: Die Welt zeigt sich ihm als „stumm, kalt und indifferent“ (vgl. ebd., 8). Selbst Bildung und intellektueller Austausch haben für ihn vor diesem Hintergrund keinen Wert, da „Resonanzbeziehungen“ (ebd., 16) ohne feste emotionale Basis gehemmt sind (vgl. Honneth 1994). „But I loose this sense this kind of intuition that you need to reflect on something but if you are cut off from your own environment […] you will not be productive […] like an insect without senses.“ (Masud)

Beide Interviewees erwägen eine Remigration7 ins vertraute Heimatland und versprechen sich bessere Verwirklichungschancen ohne finanzielle Notlagen und sprachliche Hürden. „There were so many things that made me feel like it is a mistake […] I should have waited a bit more and gone to an English speaking university.“ (Arezoo)

Ungeachtet dieses Bewusstseins ist Remigration in ein politisch unfreies Land für Arezoo keine Option, denn auch dort fühle sie sich ausgeschlossen und benachteiligt. Im Anschluss an ihr Masterstudium in Deutschland kehrte Arezoo in ihr Heimatland zurück. Diese Rückkehr bestätigte ihre Meinung, dass ihr Heimatland ‚unterentwickelt‘ und nicht mit dem weitestgehend ‚unkomplizierten‘

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Hartmut Rosa unterscheided zwischen passiver Welterfahrung und aktiver Weltaneignung. Letzteres beschreibt das autonome und selbstbestimmte Handeln von Individuen (vgl. Rosa 2012, 9).

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,Remigration‘ und ,Rückkehr‘ bezeichnen Teilbereiche von Migrationsprozessen. Es wird zwischen freiwilliger und erzwungener Rückkehr unterschieden. Im Falle einer Rückkehr von im Ausland ausgebildeten Fachkräften ist von für das Heimatland vorteilhafter ‚Innovation durch Rückkehr‘ die Rede. In den meisten Fällen lässt die Statistik jedoch keinen Rückschluss auf die Motive von Migration zu (vgl. Currle 2006, 7).

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Leben in einem westlichen Land zu vergleichen ist. Deshalb nimmt sie ihr Schicksal, sich zwar nicht beheimatet zu fühlen, jedoch im wissenschaftlichen Diskurs offen ihre Meinung äußern zu können, hin. „[…] he [father] so much believes that we have to return to [home country], that eventually we will […] But I am sure its true, but at the same time, because I am in humanities I don’t want to return to [home country] […] there is always too much politics involved, so you can’t really be free to talking about what you want to talk about.“

Masud gibt an, sich aufgrund von Perspektivlosigkeit und nicht erreichten Migrationszielen (vgl. Picot 1996, 10) für eine Remigration entschieden zu haben. Seine voraussichtliche Migrationsbiographie lässt sich demnach als „Return of conservatism“ (ebd., 10) mit der Vorstellung eines qualitativ wertvolleren Lebens im jeweiligen Heimatland bezeichnen. „We had this plan to go back home when we came here and we still have this plan […] I will not stay here. I always have this in mind to go home. And to do something for my own country.“

Finanzielle Missstände sowie ein Konflikt zwischen materiell notwendiger Erwerbsarbeit und wissenschaftlicher Karriere sprechen ebenfalls für eine Rückkehr (vgl. ebd.). Die soziale Situation von MigrantInnen in Deutschland gilt generell als prekär. 2011 lag der Anteil armutsgefährdeter Personen mit Migrationshintergrund bei 26,6 %. Bei Personen ohne Migrationshintergrund jedoch nur bei 12,3 % (vgl. bpb 2013). Obwohl vielfach auf einen Zusammenhang von Armutsgefährdung und Bildungsstand aufmerksam gemacht wird, beschreiben die hier gezeigten Beispiele, dass auch gute Qualifizierungen nicht zwangsläufig die finanzielle Situation absichern (ebd., 557). „I am another person compared to the one who came to Germany […] Till now we could survive but now it is not reasonable to stay here.“ (Masud)

Die Migrationschilderungen von Ada und Miguel sind im Vergleich weniger schmerzbesetzt, zeigen jedoch auch die Verknüpfung von Migrationserfahrungen mit Individualisierungsbestrebungen auf. Miguels Erfahrungen als Migrant reichen weiter in die Kindheit zurück und die Verlagerung des Lebensmittelpunktes nach Deutschland hatte ausschließlich individualistische Gründe – er wollte sich selbst verwirklichen. Miguel fühlt sich in Deutschland wohl, da in

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seinem Herkunftsland ähnliche Wertkonzepte vorzufinden sind (vgl. Schäfer 2012: 72). „So I have always been a migrant in a way and my family has been also been very mobile geographically. […] So it’s something we are used to deal with […] it’s a part of our family in a way.“ (Miguel)

Trotz dieser angesprochenen Normalität und regem Kontakt zum zurückgelassenen Familienkreis benennt er eine seit frühester Kindheit erfahrene Zerrissenheit und Unsicherheitserfahrungen durch fehlende Verwurzelung (vgl. Reichertz 2006; vgl. Bauman 2011, 321). Es zeigt sich exemplarisch ein Stadium der Entwurzelung Zugereister als ein Merkmal zunehmender Flexibilität und Mobilität (vgl. Sennet zit. in Reichertz 2006, 177). „There was like this very active connection to this other city and at the same time we had this very active life in the new city […] it was like living in two places at the same time.“ (Miguel)

Er berichtet, dass die Erfahrung als „Transnationaler Migrant“ (vgl. Currle 2006, 14) mit starken Bindungen zum sozialen Netzwerk des Heimatlandes von besonderer Bedeutung erlebt wurde. Die Gewissheit, einen festen Rückzugspunkt zu haben, ermöglichte es ihm, sich emotional von der Kernfamilie zu lösen. Ihm ist es wichtig, sich nicht ausschließlich nach der Familie zu richten und Entscheidungen für eine wissenschaftliche Karriere – analog zu jener für die Migration – selbständig zu treffen. „Well I would describe myself as someone that’s very independent and autonomous and so for me it was great to live abroad […] to have all these […] possibilities to do a lot of things [...]“ (Miguel)

Nichtsdestotrotz kann er sich ein Leben in andauernder Diaspora nicht vorstellen. Miguel benennt einen Konflikt von Selbstverwirklichung und Aufgabe des privaten Kontextes und lässt ihn eine Rückkehr in sein Heimatland andenken. Idealerweise möchte er jedoch die persönlichkeitserweiternden Möglichkeiten, die eine Arbeit im Ausland mit sich bringt, weiterhin genießen. Ya, so living here I came to the conclusion that I don’t want to lose these strong bonds to my home country. And I see the risk involved in living abroad for too long, too far away.” (Miguel)

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Auch Adas Migrationserfahrungen werden vermehrt als positiv reflektiert. Auffällig ist jedoch, dass für sie Bildung nicht den ausschlaggebenden Migrationsgrund darstellte und somit nicht Hauptindividualisierungsstrategie ist. Da sie erst nach dem Systemwechsel in ihrem Heimatland die Möglichkeit hatte, andere Länder zu bereisen, entstand früh der Drang nach dem, was sie als ‚Freiheit‘ auffasst. In diesem Kontext von physischen sowie psychischen Grenzen wird Freiheit von ihr als gleichbedeutend mit Migration bewertet. Ihr Verständnis von Freiheit lässt sich auf westlich definierte Werte von Freiheit, Gleichheit und Rechtsstaatlichkeit zurückführen. An ihrem Beispiel wird deutlich, wie Selbstverwirklichung durch Familie und intime Beziehungen signifikant beeinflusst werden kann. Ihre Migrationsentscheidung wurde im Nachhinein aufgrund der als erfüllend wahrgenommenen Beziehung zum Partner nicht in Frage gestellt. „I am dividing my life in [three] phases. […] Before 13, after 13 and after I got married, 26. […] And I can say that, since I am married, I am a happy person.“ (Ada)

Die Beziehung zu ihrem Mann spielt eine übergeordnete Rolle. Ihre Selbstverwirklichung führt sie auf ihn zurück. Das aufgrund der Familiensituation entwickelte Minderwertigkeitsgefühl konnte so kompensiert werden. „So we are married for 10 years. I am very proud of that because we have a very happy and harmonious marriage, and I feel that somehow he saved my life.“ (Ada)

Obwohl Selbstbewusstsein in der Beziehung zum Partner entstehen konnte, haben Migration sowie das Leben in der Diaspora Erfahrungen von Ablehnung und Ausgrenzung mit sich gebracht. Ada berichtet von Exklusionsmomenten innerhalb der Familie ihres Mannes, welche sie bis heute aufgrund von ‚Klassenunterschieden‘ nicht als ‚würdige‘ Schwiegertochter akzeptiert. Solche Verschränkungen sozialer Merkmale sind besonders in Debatten der Frauenforschung viel diskutiert. Im Zentrum stehen indentitätsrelevante „Schnittpunkt[e] unterschiedlicher Macht- und Ungleichheitsstrukturen“ (Kley 2013, 197) wie Geschlecht, Klasse und Ethnizität. „I am not relating to his family because we could never connect […] There were difficulties to accept me. It is not about not German, it is about class again [...]“ (Ada)

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Familienkonzept, Einstellung zu Elternschaft und Individualisierung Die PromovendInnen wie auch der Experte beschreiben eine generelle Ablehnung von Elternschaft. Es zeigt sich ein generalisierbarer Zusammenhang zwischen Diasporaerfahrungen, den damit verbundenen Bestrebungen, sich selbst zu verwirklichen, und einem kinderlosen Familienkonzept. Die Schilderungen verweisen auf eine geschlechtsunabhängige Rückführbarkeit von ausbleibender Elternschaft und Migrationserfahrungen. Diese, so zeigt sich hier, lassen Individualisierung zum zentralen Lebensgegenstand werden. Bildung sowie wissenschaftliche Karriere lassen Elternschaft als zentrales Mittel zur Selbsterfüllung und persönlicher Sinnstiftung in den Hintergrund rücken (vgl. Ehrhardt 2011). Die Fallbeispiele zeigen zudem auf, wie akademischer Betrieb und Familie miteinander konkurrieren können. Individuelle Erfahrungen und Elternschaft Adas und Arezoos Biographie beschreiben eine Relation von Lebensereignissen der Kernfamilie und persönlichem Familienkonzept. Die Alkoholabhängigkeit des Vaters bestimmte Adas gesamte Familiendynamik und hinderte sie daran, sich kindgerecht zu entwickeln. „My father […] became a kind of psychopath. That means he got home drunk and he yelled […] But then they also started to fight in that way that they were hitting each other […] I am getting angry that how come, that they allowed, that a nine year old child to get such kind of consciousness about life.“ (Ada)

Wie sie selbst angibt, vermisst sie noch heute, wirklich Kind gewesen zu sein. Aufgrund ihrer krisenhaften Familienstrukturen und fehlender positiver Identifikationspersonen könne sie sich selbst nicht mit der Mutterrolle identifizieren. Für ihre Mutter, so beschreibt es Ada, hatte die Anwesenheit ihrer Tochter therapeutische Wirkung. Ihrem Mutterschaftsideal der „guten Mutter“ (Schrupp 2008, 5) entsprechend, solle die Beziehung zu einem Kind nicht als Lösung eigener Probleme dienen, sondern eine harmonische Eltern-Kind Beziehung darstellen. Sie definiert die Erziehung von Nachkommen im Sinne der „responsible parenthood“ (Ehrhardt 2011, 43) als große Herausforderung und empfindet Elternschaft aufgrund ihrer Vergangenheit als unattraktiv und riskant. Ada bezieht diesbezüglich Stellung:

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„And of course I am also afraid to reproduce what my parents were doing to me. And I am afraid that I might do the same thing to my children. So that is also another issue.“ (Ada)

Ein weiterer wichtiger Aspekt von Adas Biographie ist ‚Trotz‘ gegen von außen herangetragene Erwartungen. Fremdbestimmung und das Gefühl von Autonomieverlust erinnern sie an die frühe Kindheit in einem unfreien Regime. Daraus folgt eine generelle Verweigerung, sich bestimmenden Normen und Werten zu fügen. Die Tatsache, dass das gesellschaftliche Umfeld nach einigen Jahren einer bestehenden Ehe natürlicherweise eine Schwangerschaft erwartet (vgl. ebd., 44) und anderenfalls das Glück des Paares in Frage stellt, verärgert sie. „But the other thing is, that after a certain age and after a certain years of marriage society gets more and more demanding to have children […] I lived so many years in coercive structures, that I am not allowing anybody to tell me what to do.“ (Ada)

Darüber hinaus empfindet sie die skeptische Haltung, die an sie herangetragen wird, als verletzend in Bezug auf ihre Weiblichkeit. Ihrem Verständnis nach ist Weiblichkeit in keiner Weise durch Mutterschaft definiert. Sie ist sich bewusst, dass sie biologisch in der Lage ist, Kinder zu bekommen und verweist auf die reflektierte Entscheidung, dies nicht zu tun. Im Umkehrschluss zieht sie das gesellschaftliche Verständnis von Mutterschaft als „gesellschaftliche[n] Nutzen“ (Schrupp 2008, 3) in Zweifel und verweist auf Frauen, die körperlich nicht im Stande sind, sich zu reproduzieren (vgl. Rupp 2005, 39). „And then after a certain age people start to ask in a way if I want children and why I dont have children as if it would be a problem with me. If they would put my womanhood into question.“ (Ada)

Arezoos Biographie ist durch die Erfahrung, ein Geschwisterkind verloren und die damit verbunden Familiendynamiken erlebt zu haben, gekennzeichnet. Traumatische Ereignisse der Kindheit können sich, wie in Ihrem Fall, im Alter als Spätwirkung der früheren Psychogenese zeigen und das Vertrauen in sichere Bindungen erschweren (vgl. Schulz-Hageleit 2012, 1). Sie verzichtet deshalb auf die emotionalen Vorzüge einer eigenen Famile und widerspricht vorherrschenden Verhaltensidealen von Mutterschaft (vgl. ebd., 3). „My brother died and my parents never got over the pain […] nothing is greater and graver than the loss of a child. And you can’t really control […] So, I find it too risky because it seems to me that children are a part of you but just outside of you.“ (Arezoo)

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Aufgrund ihrer Lebenserfahrung definiert sie Kinder als risikobesetzte ‚Investition‘. Es wird deutlich, dass sie Mutterschaft als etwas begreift, was ihr Selbst angreifbar macht und ihre emotionale Unabhängigkeit gegebenenfalls in Frage stellen könnte. Die Tatsache, dass eigene Kinder zwar immer eine natürliche Verbindung zu ihren Eltern aufweisen, schützt nicht vor der Gefahr, wie Arezoo es bezeichnet, „Opfer“ zu werden. Sollte ihren potentiellen Kindern etwas zustoßen, könne sie kein erfüllendes Leben mehr führen. „But at the same time it’s just my life experience has shown me that you shouldn't invest in anything external too much […] So ya, experience tells me children are vulnerable and they make you, as their parents, even more vulnerable. I don’t wanna risk that.“ (Arezoo)

Einen wichtigen Punkt, welchen Ada wie auch Arezoo ansprechen, ist, dass sie Kinder generell als wohltuend empfinden, was auf ein positives Verständnis des Konzeptes von Mutterschaft verweist (vgl. Herwartz-Emden 1999, 888). Beide Frauen geben an, dass sie aufgrund von Kindern in ihrem sozialen Umfeld mütterliche Gefühle und Zuwendung ausleben können und sich ihrer Selbsteinschätzung nach auch für authentisch in der Ausübung reproduktiver Tätigkeiten halten. „I see a beautiful child or I am in a certain period of the month I feel the biological urging but it is just a flame and it goes away […] I am the aunty of [four] wonderful children […] so I am experiencing this kind of mother role through different channels[…]“ (Ada) „Well I’m good with kids […] I just know how to handle them […] I really enjoy looking at them and seeing how silly sometimes or how simple sometimes they are.“ (Arezoo)

Obwohl die Entscheidung gegen Kinder bislang eine stabile Konstante bildet, stellen beide ihre Entscheidung gegen Mutterschaft im Verlauf des Gespräches in Frage. Sie deuten an, ihre Ansichten zu Elternschaft in einigen Jahren gegebenenfalls zu überdenken und können somit der Gruppe der „Unentschiedenen“ (Rupp 2005, 30) zugeordnet werden. Marina Rupp führt an, dass jede(r) zweite Unentschiedene eine zukünftige Elternschaft für wahrscheinlich halte (vgl. ebd, 33). Besonders Arezoo schildert ihre Einsicht, dass sie unter Umständen ihre heutige Entscheidung für die Kinderlosigkeit bereuen wird, dieser Beschluss jedoch dann aufgrund biologischer Faktoren für sie nicht mehr revidierbar sei. Rupp fügt hierbei an, dass zu dem Faktor verminderter Fertilität eine sinkende Bereitschaft zur Umstellung persönlicher Lebensverhältnisse kommt (vgl. ebd., 24).

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„Even before we got married my husband knew that I don’t wanted to have kids […] And he, every once in a while he would just say, probably you will change your mind and I was sure that I won’t. I mean still I am sure that you know that probably in two years you will see and I have a kid. I don’t know. But at the moment I am just sure that it won’t happen […] I sometimes myself feel like what if in 5 years I want to have kids and then it is too late […]“ (Arezoo)

Im Gegenteil zu Ada und Arezoos Darstellungen verweisen Masud und Miguel auf eine erfüllte Kindheit ohne Ereignisse, welche ihre Überzeugung gegen Elternschaft geprägt hätten. In Masuds Fall stellt der Vater, obwohl dieser trotz wissenschaftlicher Karriere eine Familie mit Kindern gründete, im Verlauf des Lebens eine zentrale Figur dar. Die Hingabe des Vaters zur Philosophie und klarer Prioritätensetzung zugunsten der akademischen Laufbahn ruft Respekt in Masud hervor. Er ist sich jedoch auch über Problematiken der Selbstverwirklichungsbestrebungen des Vaters bewusst, welche seine Mutter oft unglücklich zurück ließ und familiäre Aktivitäten erschwerte. „My father’s life is totally occupied with his intellectual interest […] I really like this way of living. If you leave me, I can really enjoy this way of living. But it is very difficult“. (Masud)

Vergleichbare Problematiken wie die in der Ehe seiner Eltern erfährt Masud in der Beziehung zu seiner Ehefrau. Diese resultieren in erster Linie aus seiner umfassenden Hingabe zu wissenschaftlichen Thematiken und eingeschränkter Kommunikation mit seiner Frau. „[…] I try to spend one day a week with my wife […] But still, if you are married to someone who is totally devoted to intellectual life, you should be ready […] to accept these challenges, these problems […] Is he/she still in love with me? Or is she thinking about someone else? It takes time that they understand no he is not thinking about another person, she is thinking about an idea, an abstract idea.“ (Masud)

Für Masud ist Selbstentfaltung gleichbedeutend mit wissenschaftlicher Karriere und im Gegensatz zu seinem Vater schließt dies Kinder für ihn aus. Da schon die Beziehung zu seiner Ehefrau darunter leidet, kann er sich nicht vorstellen, wie er seine Zeit bei weiteren Anforderungen aufteilen sollte. In diesem Fall scheint sich die gesellschaftliche Tendenz zu bestätigen, dass die Kinderfrage in den Partnerschaften zumeist diskutiert und ausgehandelt wird (vgl. BZgA 2005, 37). Gegenteilig argumentiert Masud, dass die Entscheidung

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gegen Elternschaft seine persönliche war und er diese auch für seine Frau getroffen hat. Er schätzt es Wert, dass sie aus Liebe zu ihm das Thema nicht weiter angreift, jedoch weiß er um das Opfer, das sie für ihn bringt. Für ihn bedeutet der Verzicht auf Kinder Selbstverwirklichung sowie ein autonomes und freies Leben, worin er sich als Familienvater eingeschränkt sehen würde. „Of course not we but I as a selfish person, I do not want to have a child, but my wife now has been convinced in a way that it is not good to have a child […] I see and I know that it’s a matter of self-sacrifice, it’s a matter of ignoring your own wishes and desires for the sake of a person that you love. I am really thankful, I really appreciate that.“ (Masud)

Außer der Tatsache einer frühen Migration, welche eine Entwurzelung der ganzen Familie zur Folge hatte, schildert Miguel keine negativen Familienerlebnisse. Miguels Darstellungen verdeutlichen jedoch eine weitere, spezifischere Perspektive auf Vaterschaft. Im Verlauf des Interviews nimmt er mehrfach Bezug auf seine Person und definiert sich selbst wiederholt als eigenständig. „I can do without my family in a way, so I am very independent […] I mean I grew up in this other place, very modern city where people are more individualistic and the way we live our lives there was in a way […] not in direct contact with this very strong family values […]“ (Masud)

Dieses Selbstbild sei für ihn und sein Verständnis von Elternschaft von besonderer Bedeutung. Für Miguel schien früh fest zu stehen, dass Kinder kein Teil seines Familienkonzeptes sind. Obwohl er großen Wert auf familiäre Beziehungen lege und diese auch wichtiger Bestandteil seiner Ursprungsfamilie seien, möchte er dieses Modell von Eltern-Kind Beziehungen nicht wiederholen. „I don’t really want to have a family […] children. So of course it’s nice to have a girlfriend, to have a partner but not children.“ (Miguel)

In Miguels Fall wird besonders deutlich, dass sich Ideale von Autonomie und Individualisierung auf Kinderwünsche auswirken und entsprechende Vorstellungen eine Elternschaft ausschließen. Ein Familienkonzept, das nicht auf beidseitigem Einverständnis beruhe, sei für ihn nicht tragbar. Deshalb versucht er diese ‚Schuld‘, welche er empfinden würde, aus egoistischen Gründen Kinder in die Welt gesetzt zu haben, zu umgehen.

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„[…] for me family is the people you choose to be a part of that something. And this choice has to be mutual […] So I don’t like this cohesive side of family where you are just born into something, […] thrown into the mid of this group of people and that is something that I want to avoid.“ (Miguel)

Durch das Zusammensein mit Personen, die sich gegenseitig frei ‚gewählt‘ haben, generiert er persönliche Befriedigung und das Gefühl von Autonomie. Seine Darstellung verweist auf eine aktiv gewählte und kollektiv gebundene Zugehörigkeit (vgl. Pfaff-Czarnecka 2011, 205). „I would build family with autonomous, independent human beings that can decide whether they want to be a part of that or not and so I like this freedom of choosing your relationships so that is why my concept of family is somehow different.“ (Miguel)

Das ungleiche Machtverhältnis von Eltern-Kind Beziehungen (vgl. Schrupp 2008, 4) macht Vaterschaft vor diesem Hintergrund der spezifischen Definition von Selbsterfüllung irrelevant. Die Befriedigung, die er aus einem solchen Verwandtschaftsverhältnis ziehen würde, wäre für ihn dauerhaft unbefriedigend. „[…] you are the one deciding not the other being who does not exist so of course he or she cannot say anything about it and this unilateral decision making is what I don’t like, and I guess I don’t like it today, and I wont like it tomorrow and the day after that […]“ (Miguel)

In Masuds wie auch Miguels Interview wird deutlich, dass die Entscheidung gegen Vaterschaft, anders als bei Ada und Arezoo, aufgrund persönlicher Überzeugung und nicht aufgrund traumatischer Kindheitserfahrungen gefällt wurde (vgl. Schulz-Hageleit 2012). Entscheidungen, welche bewusst und autonom getroffen werden, werden als beständiger klassifiziert als solche, die durch Normen oder andere äußere Beweggründe entstanden sind (vgl. Ehrhardt 2011, 38). Beide Männer stellen ihren Entschluss gegen Kinder als gänzlich kompromisslos und beständig dar und begründen ihn mit ihrem Verständnis der Verkörperung des Ideals eines Wissenschaftlers. „No, I am very clear from the beginning, so that’s kind of my no negotiable clause in the contract [relationship] so.“ (Miguel)

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Wissenschaft versus Familie Daten zur demographischen Lage in Deutschland verweisen deutlich auf einen Anstieg von Kinderlosigkeit unter AkademikerInnen (vgl. Schubert 2010), welcher besonders mit gesellschaftlichen Individualisierungsbestreben begründet wird (vgl. Schraps 2006, 3, Kuhn 2013). Die durch Kinder entstehende andauernde „bindende Verpflichtung im Leben des modernen Menschen“ (Ruckdeschel 2007, 212) wird als Behinderung persönlicher Selbstentfaltung verstanden. Demgegenüber steht eine hohe Karriereorientierung, die in diesem Fall das Mittel zur Selbstverwirklichung darstellt und Elternschaft – wenn überhaupt – erst verspätet attraktiv macht (vgl. Nave-Herz 2010, 39; vgl. Geissler 1990, 17). Die Fallbeispiele zeigen einen empfundenen Konflikt zwischen Wissenschaft als freiheitsbringend und Familie als fordernd (vgl. Schrupp 2008, 3; vgl. Kuhn 2013). Die „Trennung zwischen der konkreten Mutterschaft – also Schwangerschaft und Geburt – und der daraus folgenden Fürsorgearbeit“ (Schrupp 2008, 3) wird als Option angeführt, feste Arbeitsverhältnisse zu gewährleisten (vgl. ebd., 23). „And I have the fear that if I get out from the job, even if only for a few months to deliver a child, I will never get back. Because the competition is almost unbearable. It is almost inhuman in science.“ (Ada)

WissenschaftlerInnen werden in den Interviews wiederholt nach Max Weber definiert, wonach Wissenschaft als Leidenschaft verstanden wird, was als Unterscheidungskriterium von schlichtem Beruf und Berufung zu sehen sei (vgl. Weber 1919, 482). Besonders Masud verweist auf den Gedanken einer umfassenden wissenschaftlichen Berufung und stellt somit den privilegierten Charakter der Tätigkeit in den Vordergrund. Denn nur wer die Zeit und Mittel hat, sich am Diskurs zu beteiligen, könne auch effektiv diese Stellung ausfüllen und Freude aus ihr ziehen. „This kind of intellectual life is like; it devours your whole life. When you step on this way of life you should satisfy the requirements of this life. And it’s not easy for many people. That’s why even many academics stop leading an intellectual life after even some years. They treat their own field of research or their own program like the way that an employee treats his work.“ (Masud)

Die PromovendInnen verweisen auf die Unsicherheit des Berufes, der oftmals durch den Zufall geprägt sei und materielle Instabilität mit sich bringe (vgl.

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O’Laughlin 2005, 83). Weber argumentiert ähnlich, indem er den Gelehrten sowie den Lehrenden als „akademische Schicksale“ (Weber 1919, 479) bezeichnet. Er hält fest, dass an WissenschaftlerInnen eine Vielzahl von Erwartungen herangetragen wird, die sie überfordern und verunsichern kann. Diese Charakterisierung des Wissenschaftsbetriebs wird als ein Grund angegeben, sich Elternschaft nicht vorstellen zu können (vgl. Rupp 2005, 23). „I do see how academia works, and I can imagine that if you wanted to start a family during or immediately after PhD that you have a lot of problems […] if someone starts a family in that period that would make things extremely extremely difficult. Not only financially […] but just to manage all this and practical things […]“ (Miguel)

Richards Fallbeispiel dient in meiner Forschungsarbeit als Vergleichsfolie. Seine Biographie verweist auf ein differenziertes Verständnis von wissenschaftlicher Karriere sowie Familie und Elternschaft (vgl. Vedder 2008). Seine Schilderungen zu Elternschaft und Selbstverwirklichungsaspirationen stützen die Vermutung, dass Migrationserfahrungen einen entscheidenden Einfluss auf den persönlichen Kinderwunsch haben. Anders als die PromovendInnen mit Migrationshintergrund versteht Richard Elternschaft nicht „als Hindernis menschlicher Selbstverwirklichung“ (Kuhn 2013, 137), sondern sieht in ihr schon seit frühester Jugend seinen Lebenssinn. Vaterschaft stelle somit ein alternativloses Lebensmodell für ihn dar. Primäre Quelle individuellen Glücks sieht Richard in seinem Sohn, weshalb er seine berufliche Karriere der Familie unterordnet (vgl. Vedder 2008). „Also im Moment da habe ich kein großes Interesse daran mich selbst zu verwirklichen. Da hab ich Interesse daran ner Arbeit nachzugehen die ich gut kann und die mir Spaß macht und Familienarbeit zu leisten wenn man das so kapitalistisch ausdrücken will, oder Zeit mit meinem Sohn zu verbringen. Und zwar auch völlig unverzweckte Zeit.“ (Richard)

Das neue Vaterschaftsmodell eines „modernen Performers“ oder „aktiven Vaters“ (BZgA 2008, 4; Vedder 2008, 39), das besonders in oberen Schichten vorzufinden ist, wird vorrangig mit Individualisierungsbestrebungen begründet. Geschlechterrollen spielen in diesem Kontext männlicher Neuorientierung eine geringe Bedeutung und normative Erwartungen werden persönlichen Wünschen untergeordnet (vgl. ebd., 5). Richard unterstützt diese gleichberechtigte, partnerschaftliche Aufteilung elterlicher Pflichten (vgl. ebd., 27).

314 | NADIA S ADRUDIN „Das heißt es war für mich eigentlich immer klar, dass ich Familie will, dass ich Kinder will. Und dass ich dass in ner irgendwie partnerschaftlichen Aufteilung machen will, dass ich aktiv Vater sein will.“ (Richard)

Darüber hinaus ist anzumerken, dass sein Verständnis des wissenschaftlichen Betriebes weniger negativ ist und weniger in Konkurrenz zur Familie steht als bei den übrigen InterviewpartnerInnen (vgl. BZgA 2005, 50). Er verweist auf die Freiheit des Wissenschaftlers, sich seine Zeit selbst einteilen und somit Familienarbeit flexibel wahrnehmen zu können. Nichtsdestotrotz nimmt er das wissenschaftliche System als von Unsicherheiten bestimmt wahr und kritisiert die erschwerte Kompatibilität der Lebenswünsche von Elternschaft und Beruf. Obwohl Richard anführt, dass Forschung nach wie vor eine erfüllende Tätigkeit für ihn darstellt, würde er seine akademische Karriere im Notfall für seine Familie aufgeben. „Gleichzeitig macht mir der Job soviel Spaß, Forschung und Lehre, das ist mein Ding. Auch die Freiheit die da drin ist, machen zu können was ich, im Konkreten machen zu können was ich will ... Trotzdem ist es das erst mal.“ (Richard) „Ich meine das System ist offensichtlich völlig falsch konzipiert, jetzt gerade in der Phase wo Menschen in der Regel Familie gründen und Teilzeit machen, wenig Flexibilität, ist der Druck am höchsten, die Unsicherheit am größten. Genau. Das ist ein unauflösbarer Wiederspruch, den wir auch noch nicht aufgelöst haben.“ (Richard)

IV. S CHLUSSBETRACHTUNGEN Die hier analysierten Fallbeispiele von AkademikerInnen mit Migrationserfahrungen legen einen bisher noch nicht beachteten Aspekt von Elternschaft dar: Anders als oftmals angenommen spielen in der Entscheidung für oder wider Familie nicht nur der Wunsch nach wissenschaftlicher Karriere, sondern ebenso Migrationserlebnisse eine wichtige Rolle. Die Analyse zeigt den engen Zusammenhang zwischen Migration, Elternschaft und Individualisierungsstrategien. PromovendInnen mit Migrationserfahrungen benennen Individualisierungsbestrebungen durch Bildung und akademische Karriere als zentrale Themen. Die Daten legen nahe, dass in den hier gezeigten Fällen ein fehlender Migrationshintergrund neben wissenschaftlicher Karriere auch Elternschaft zum wesentlichen Bestandteil von Selbsterfüllung machen kann.

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Es wird ferner deutlich, dass Autonomie für alle InterviewpartnerInnen relevant ist. Die Interviewees wünschen sich insbesondere durch die prägenden, teils gar traumatischen Migrationserfahrungen ein frei planbares Leben. Das Streben nach Selbsterfüllung bringt für diese jungen AkademikerInnen häufig eine Auflösung etablierter Lebensformen mit sich. Mutterschaft und Vaterschaft können neue Bedeutungen erhalten und werden im Kontext von Selbstverwirklichung weniger zentral. Der hier analysierte Fall ohne Migrationserfahrung, in welchem stabile famililäre und finanzielle Zustände herrschen, zeigt Gegenteiliges: die Rückbesinnung auf Familienwerte und Kinderwunsch. Dabei wird die Rolle des Vaters als sinnstiftend beschrieben und steht für Richard nicht im Widerspruch zu Individualisierung. Darüber hinaus wurden weitere intersektional verschränkte8 ‚Diskriminierungsformen‘ sichtbar. Gender, sozio-ökonomischer Status sowie die soziale Einbettung wurden mehrfach angesprochen und als äußerst maßgebend beschrieben. Zum Faktor Gender bleibt anzumerken, dass sich die Kinderfrage nur für das weibliche Geschlecht ‚unter Zeitdruck‘ stellt. Männer haben im Gegensatz zu Frauen die Möglichkeit, Entscheidungen aus der Promotionsphase zu überdenken und gegebenenfalls zu ändern, um im späteren Leben eine Elternschaft einzugehen. Frauen stellt sich diese Frage ab einem gewissen Alter aufgrund ihrer biologischen Entwicklung nicht mehr. Diese Tatsache macht die Verneinung von Mutterschaft zum Zeitpunkt der Promotion und in der (im Falle von Arezoo und Ada) kurzen Zeit danach zu einer unwiderruflichen Entscheidung. Ein weiterer signifikanter Aspekt ist die soziale Position von PromovendInnen (Klasse und Schichtzugehörigkeit). Sozio-ökonomische Faktoren wurden wiederholt als auschlaggebend dafür benannt, sich gegen Elternschaft zu entscheiden. Eine akademische Karriere wurde als finanzielle Herausforderung, Kinder als Hürde von beruflicher Verwirklichung angesehen. Unter dem Gesichtspunkt sozio-ökonomischer Determinanten stellen die Fallbeispiele klare Gegensätze dar. Masud und Arezoo beklagen die finanzielle Situation, welche durch den Entschluss zur Migration entstanden ist. Auch Ada hatte im Verlauf ihrer Biographie unter Armut zu leiden. Im Rahmen der Gespräche zeigte sich jedoch auch der Effekt eines Sicherheit bietenden Familienhintergrundes ohne

8

Das Konzept ist auf Juristin Kimberlé Crenshaw zurückzuführen. Ihre Arbeiten stellten die Auswirkungen eines gleichzeitigen Zusammenspiels verschiedener Kategorien im Kontext von Gewalt gegen farbige Frauen dar. Der Fokus dieser Betrachtung liegt auf der Verbindung sozialer Ungleichheiten und wie diese miteinander wirken (vgl. Walgenbach 2012).

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Migrationserlebnisse, so wie in Richards Fall, der diese Unterstützung als ausschlaggebend für seinen Kinderwunsch ansieht. Diese privilegierte Familiensituation kann Partnerschaft stabilisieren und den Kinderwunsch existentiell als weniger riskant erscheinen lassen. Außerdem zeigt sich die große Relevanz der Wirkung von Migration und räumlicher Trennung von der Großfamilie im Heimatland. Notwendige Hilfestellungen bei Haushalt und Kinderbetreuung oder anderen reproduktiven Tätigkeiten können seitens der Familie oft also nicht geleist werden. Familie wird oftmals als hemmender Faktor für die Selbstentfaltung genannt, wobei zu beachten ist, dass ein sicherer existentieller Rahmen auch Persönlichkeitsentwicklung fördern kann, wenn Freiräume bezüglich familiärer Verantwortungen bestehen. Der teils mit negativen Emotionen besetzte Wechsel des Lebensmittelpunktes sowie traumatische Erlebnisse oder dauerhaft belastende Zustände in der familialen Sozialisation scheinen in den hier analysierten Fällen eine relativ eindeutige Schwerpunktsetzung erzeugt zu haben: Die migrierten Interviewees streben individuelle Selbstverwirklichung über ihre wissenschaftliche Tätigkeit an – und nicht etwa über die Gründung einer Familie. Meine Arbeit zeigt die fachliche Relevanz des Zusammenhanges von Migration sowie damit einhergehender individueller Effekte, Primärsozialisation und sozioökonomischem Status für die Migrations-, Gender-, sowie Ungleicheitsforschung. Es besteht die Hoffnung, dass mein qualitativer Zugang dazu beiträgt, dem Zusammenspiel von Migration, Elternschaft und wissenschaftlicher Karriere auch zukünftig vermehrt Beachtung zukommen zu lassen.

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„Da kann man auch gleich Künstler werden.“ Selbstausschluss und habituelle Verläufe von Personen aus hochschulfernem Elternhaus in akademischen Karrieren F RERK B LOME

I. E INLEITUNG Im deutschen Bildungssystem werden Erfolgschancen nach wie vor maßgeblich durch die soziale Herkunft beeinflusst.1 Daran haben auch die politischen Debatten und Reformbemühungen der 1960er Jahre und des frühen 21. Jahrhunderts grundsätzlich nichts geändert. Herkunftseffekte wurden auf den unteren Bildungsstufen bedingt abgebaut, haben sich aber auf spätere Stufen verlagert (vgl. Lörz/Schindler, 2011, 472f.). Trotz des aktualisierten Interesses an der sozialen Herkunft und der Vielzahl an großangelegten bildungssoziologischen Forschungsprojekten und Studien (vgl. Becker/Solga 2012, 7) bleibt der Zusammenhang zwischen dem Einfluss der sozialen Herkunft sowie dem (Miss-)Erfolg akademischer Karrieren unterbelichtet. Einzelstudien zeigen, dass wissenschaftliche Laufbahnen vornehmlich einer sozial höchst selektierten Gruppe vorbehalten sind (Lenger 2008; BMBF 2008; Möller 2015). An dieser Stelle setzt die nachfolgend vorgestellte Studie an. Während ihr am Anfang die offene Frage nach der Unterrepräsentation von Personen aus hochschulfernem Elternhaus zugrunde lag, verengte sich das Interesse im Forschungsverlauf auf die Fragestellung: Welche biographischen Verläufe im Kon-

1

Ich bedanke mich herzlich bei meinen InterviewpartnerInnen für ihr Vertrauen und ihre Offenheit. Zudem danke ich Rixta Wundrak und der Herausgeberin für hilfreiche Kommentare sowie Freya Paulsen für anregende Diskussionen.

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text der sozialen Herkunft und gesellschaftlicher Exklusionsmechanismen führen zum Selbstausschluss aus akademischen Karrieren in Deutschland? Der Begriff ‚Selbstausschluss‘ beschreibt ein vermeintlich freiwilliges Verlassen akademischer Laufbahnen. In Abgrenzung dazu steht ein Scheitern akademischer Karriereverläufe. Sowohl der Selbstausschluss als auch das Scheitern können als Folge der sozialen Herkunft gedeutet werden (vgl. Bourdieu/ Passeron 1971, 35 u. 44). Über einen biographieorientierten Ansatz2 werden hier – anhand eines Fallbeispiels – Selbstausschlussentscheidungen hochschulferner Biographen in den Blick genommen. Dafür werden zwei theoretische Instrumentarien herangezogen. Zur Rekonstruktion des den Bildungs- und Karriereentscheidungen zugrundeliegenden Handlungsmusters des Biographen wird auf die Wert-Erwartungstheorie von Raymond Boudon (1974) zurückgegriffen. Seine Theorie wird vornehmlich zur Erklärung von Bildungsentscheidungen angewandt (exemplarisch Baumert/ Maaz/Trautwein 2010), erscheint hier aber anschlussfähig, da insbesondere Bildungs- und Qualifikationsentscheidungen untersucht werden. Nach Boudon treffen Akteure bewusste Entscheidungen auf der Grundlage subjektiver Erwartungen über Kosten, Nutzen und Risiken. Demnach basiert die Entscheidungsfindung auf einer rationalen Kosten-Nutzen-Analyse, in welcher diejenige Alternative gewählt wird, welche den größten subjektiven Nutzen verspricht. Die Analyse wird durch einen habitustheoretischen Zugang ergänzt.3 Habitus bezeichnet ein von Akteuren durch Erfahrungen inkorporiertes System von Denk-, Wahrnehmungs- und Handlungsdispositionen (vgl. Bourdieu 1987a, 112). Durch vergleichbare Existenzbedingungen verinnerlichen Mitglieder einer „gesellschaftlichen Klasse“ (ebd., 111f.) ähnliche Dispositionssysteme (Klassenhabitus). Der den Praxisformen und Wahrnehmungen zugrundeliegende Habitus wirkt vornehmlich präreflexiv und strukturiert die Welt „nach den Kategorien des (für uns) Möglichen und des (für uns) Unmöglichen“ (ebd., 120). Damit werden objektiv mögliche Handlungsalternativen als unmöglich oder undenkbar verworfen. Für die Fallanalyse wird vor allem die von Lars Schmitt aus dem Konzept der kulturellen Passung (Bourdieu/Passeron, 1971; 1973) entwickelte Heuristik des Habitus-Struktur-Konflikts herangezogen. Darunter werden Konflikte zwi-

2

Biographie wird hier als soziales Konstrukt verstanden, welches „auf kollektive Regeln, Diskurse und gesellschaftliche Rahmenbedingungen verweist“ (Rosenthal 2014a, 511) und damit zugleich kollektives und individuelles Produkt ist.

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Zur Verknüpfung von Pierre Bourdieu und Boudon siehe Vester (2006) und Glaesser/Cooper (2014).

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schen „von Akteuren verinnerlichten kulturellen Mustern [Habitus] und solchen der Umgebung“ (Schmitt 2010, 11f.) verstanden. Zwischen Habitus und Struktur können unterschiedliche Passungskonstellationen vorliegen, die sich zwar nicht binär auflösen lassen, idealtypisch aber in ‚Passung‘ und ‚Nichtpassung‘ unterschieden werden können (vgl. ebd., 51). Akteure reagieren auf ‚Nichtpassung‘ unterschiedlich, etwa mit Anpassung (Habitustransformation), Auflehnung oder Resignation (vgl. Wittpoth 1994, 112). In diesem Aufsatz wird argumentiert, dass sich der Selbstausschluss des Biographen nur bedingt als Ergebnis punktueller oder rationaler Entscheidungsstrukturen verstehen lässt. Sowohl die subjektiven Handlungszwecke als auch die wahrgenommenen Handlungsalternativen sind durch seinen Habitus strukturiert. Eingangs wird der Forschungsstand über den Zusammenhang von sozialer Herkunft und Bildungserfolg auf höheren Bildungsstufen skizziert (2.), dann das methodische Vorgehen erläutert (3.). Der Darlegung des Fallbeispiels (4.) folgt eine Typenbildung am Einzelfall im Hinblick auf Handlungsmuster bezüglich Bildungs- und Karriereentscheidungen und dem im Bildungsaufstieg entwickelten Habitus (5.). Abschließend werden die Ergebnisse zusammengefasst und forschungsprogrammatische Anschlussmöglichkeiten dieser explorativen Studie diskutiert (6.).

II. F ORSCHUNGSSTAND Die soziale Selektion auf unteren Bildungsstufen – vor allem die Übergänge in die Sekundarstufe I und II – sowie der Hochschulzugang sind Gegenstand zahlreicher Untersuchungen (vgl. Baumert/Maaz/Trautwein 2010; Becker/Solga 2012). Mit der Bildungsexpansion wurde der Einfluss der sozialen Herkunft auf den unteren Stufen zwar abgebaut, beim Übergang zum Studium hingegen hat sich die Ungleichheit verschärft (vgl. Lörz/Schindler 2011, 472f.). StudentInnen privilegierter sozialer Herkunft beginnen – auch bei gleicher Schulleistung – häufiger ein Studium (vgl. Autorengruppe Bildungsberichterstattung 2012, 124f.), sie brechen das Studium seltener ab (vgl. Müller/Schneider 2013, 232), entscheiden sich für renommiertere Universitäten (vgl. Weiss/Schindler/Gerth 2015, 379) sowie Studienfächer (vgl. Lörz 2012, 316) und beginnen häufiger ein Masterstudium (vgl. Lörz/Quast/Roloff 2015, 150f.; Auspurg/Hinz 2011, 93). Mit Blick auf die Promotion, die als Startpunkt wissenschaftlicher Karrieren angesehen werden kann (vgl. Beaufaÿs/Engels/Kahlert 2012, 10), ergibt sich ein ähnliches Bild. Tino Bargel und Tobias Röhl (2006) zeigen, dass die Promo-

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tionsabsicht in erheblichem Maß von der sozialen Herkunft abhängt. Mit 36% streben fast doppelt so viele StudentInnen aus akademischem Elternhaus eine Promotion an wie StudentInnen aus hochschulfernem Elternhaus (vgl. ebd., 5). Regula J. Leemann erklärt am Beispiel des schweizerischen Hochschulsystems die stärker ausgeprägte Promotionsabsicht von StudentInnen aus akademischem Elternhaus über die Nähe zum akademischen Umfeld, aus dem heraus eher der Wunsch zur Promotion entwickelt werde (vgl. Leemann 2002, 198f.). Steffen Jaksztat belegt einen deutlichen Effekt der Bildungsherkunft auf die Wahrscheinlichkeit der Promotionsaufnahme und nennt dafür die herkunftsspezifische Fachrichtungsauswahl, häufigere studentische Hilfskrafttätigkeiten und Leistungsunterschiede als Gründe (vgl. Jaksztat 2014, 298f.). Auch Christian Schneickert argumentiert, dass eine häufigere Tätigkeit als studentische Hilfskraft die ungleiche Präferenz zur Promotion verstärke (vgl. Schneickert 2013, 21f.). Zudem belegt er mit seiner Studie eine starke Überrepräsentation von hochschulnahen sowie ökonomisch privilegierten StudentInnen unter den studentischen MitarbeiterInnen (vgl. ebd., 113-115). Während die sozialstrukturelle Zusammensetzung der StudentInnen in der Sozialerhebung des Deutschen Studentenwerkes jährlich ausgewiesen wird, werden Statistiken zu PromovendInnen in nur unregelmäßigen Abständen veröffentlicht (vgl. Möller 2015, 45). Von den PromovendInnen, die ein Promotionsstudium an einer deutschen Universität belegten, stammten im Jahr 2009 nur 9% aus der niedrigsten Herkunftsgruppe. Die Herkunftsgruppe ‚hoch‘ stellte 54% der PromovendInnen, 20% kamen aus der ‚gehobenen‘ und 17% aus der ‚mittleren‘ Herkunftsgruppe (vgl. Isserstedt et al. 2010, 133). Schätzungen über Abbruchquoten von PromovendInnen variieren zwischen 17% (vgl. Fabian 2013, 31) und zwei Drittel (vgl. BMBF 2008, 47). Eine Studie des Statistischen Bundesamtes zeigt, dass in 2011 48% der in Deutschland Promovierten aus Akademikerhaushalten kamen. In den jüngeren Kohorten verschärft sich dieser Trend. Bei den unter 45-Jährigen sind 56% in AkademikerInnenfamilien aufgewachsen (Statistisches Bundesamt 2013, 28). Insgesamt ist die Datenlage zur sozialen Herkunft von PromovendInnen und Promovierten defizitär (vgl. Graf 2015, 80; Möller 2015, 48). Hinsichtlich der nächsten Karrierestufen, der Habilitation und der Professur, sind kaum sozialstrukturelle Daten vorhanden. Untersuchungen von Jürgen Enders und Lutz Bornmann (2001) sowie von Monika Jungbauer-Gans und Christiane Gross (2012; 2013) ergeben, dass der Einfluss der sozialen Herkunft nach Abschluss der Promotion bei gleicher formaler Qualifikation nur geringen Einfluss auf den weiteren Karriereverlauf hat. Die Ergebnisse variieren allerdings zwischen den Fachdisziplinen. In der Mathematik habe die soziale Herkunft auf

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die Berufung einer Professur durchaus Einfluss, in Jura sei dieser im Kohortenvergleich rückläufig und in der Soziologie scheint die soziale Herkunft nach der Promotion keinen signifikanten Einfluss zu haben (vgl. Jungbauer-Gans/Gross 2013, 87). Von Christina Möller veröffentlichte Ergebnisse über die Sozialstruktur der ProfessorInnenschaft in Nordrhein-Westfalen 4 belegen eine starke Überrepräsentation sozial privilegierter Bevölkerungsgruppen. Während ein Drittel der Gesamtgruppe der ProfessorInnen aus der höchsten Herkunftsgruppe stammt,5 gelingt nur 11% aus der niedrigsten Herkunftsgruppe der soziale Aufstieg zur Professur (Möller 2015, 308). Ihre Ergebnisse verweisen zudem auf eine Abdrängung von Personen niedrigerer sozialer Herkunft auf statusniedrige Professuren (vgl. Möller 2015, 238-240), ein Befund, mit dem sie die Annahme, dass die soziale Herkunft nach der Promotion nur geringen Einfluss auf die wissenschaftliche Karriere habe, relativiert (vgl. Möller 2016, 299). Angela Graf präsentiert auf Grundlage ihrer Studie zu den Werdegängen der deutschen Wissenschaftselite zwischen 1945 und 2013 noch eindeutigere Ergebnisse. Ihre Zahlen zeigen, dass zwei Drittel der Wissenschaftselite einen bürgerlichen Hintergrund6 hat, jede/r Vierte sogar einen großbürgerlichen. ArbeiterInnenkinder sind mit lediglich 2,4 % vertreten, die Mittelschichten kommen auf fast 30 % (vgl. Graf 2015, 117). Die Wissenschaftselite operationalisiert Graf einerseits über sogenannte Positionseliten (PräsidentInnen und Vorsitzende der zentralen Intermediärgremien) und andererseits über Prestigeeliten (GewinnerInnen des Leibniz- und Nobelpreises). Untersuchungen, die sich mit dem Einfluss der sozialen Herkunft im Bildungssystem beschäftigen, nehmen bei steigender Qualifikationsstufe ab. Für die Phase der Promotion, der Habilitation und der Professur gibt es kaum sozialstrukturelle Daten und wenige empirische Studien, welche die Bedeutung der sozialen Herkunft für den (Miss-)Erfolg der wissenschaftlichen Karriere thematisieren. Die unter diesen Studien dominierenden quantitativen Zugänge verweisen auf eine starke Überrepräsentation von Personen privilegierter sozialer Herkunft, qualitative Studien sind noch seltener (Ausnahmen sind Lange-Vester/Teiweis Kügler 2013 und die historisch ansetzende Studie von Schmeiser 1994). Vergleiche zwischen den Studien werden durch unterschiedliche Operationalisierungen der sozialen Herkunft erschwert. Zu vermuten ist, dass die Selbstthematisierung

4

Weitere Forschung müsste zeigen inwiefern die für Nordrhein-Westfalen veröffentlichten Ergebnisse für andere Bundesländer gelten.

5

Zur Operationalisierung der Herkunftsgruppen vgl. Möller 2015, 172-175.

6

Zur Operationalisierung der Herkunftsgruppen vgl. Graf 2015, 113f.

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der Wissenschaft als Erkenntnisobjekt, zumal wenn es um das Aufdecken von Ungleichheiten geht, einem Thematisierungstabu7 unterliegt (vgl. Lenger 2008, 14).

III. M ETHODISCHES V ORGEHEN Aufgrund der wenigen Studien und des zu vermutenden Thematisierungstabus wurde in dieser Studie ein qualitativer Zugang gewählt, der sich zur Untersuchung von Unbekanntem besonders eignet (vgl. Rosenthal 2014b, 18). Zudem wurde mit der biographischen Fallrekonstruktion (vgl. ebd.) eine Methode ausgewählt, die es ermöglicht, sowohl dem spezifischen Charakter von Bildungsprozessen zu entsprechen, als auch tabuisierten Phänomenen nachgehen zu können (vgl. Kaya 2009; Loch 2006). Bildungsprozesse werden hier verstanden als interaktiv hervorgebrachte, sinnhafte Phänomene, die sich langfristig im Kontext lebensgeschichtlicher Entwicklung vollziehen. Deren angemessenes Verständnis setzt die Rekonstruktion der Bedeutungszuschreibung der daran beteiligten Akteure voraus (vgl. Koller/Wulftange 2014, 8). Insgesamt wurden fünf biographisch-narrative Interviews (vgl. Rosenthal 2014a, 512-514) mit Personen aus nichtakademischem Elternhaus und unterschiedlichen Karriereverläufen geführt: zwei promovieren, zwei verließen nach der Promotion die akademische Karrierelaufbahn und einer besetzt eine Professur. Für diesen Beitrag wurde der Fall ausgewählt, der für die Analyse des Selbstausschlusses am aufschlussreichsten ist. Dieser Biograph entschied sich trotz guter Chancen auf eine akademische Karriere für andere Optionen. Dem Forschungsansatz entsprechend orientierte sich die Auswahl der InterviewpartnerInnen am Konzept des theoretischen Samplings (vgl. Rosenthal 2014b, 83-86). Der Auswahl von InterviewpartnerInnen nach theoretischen Kriterien konnte wegen Problemen beim Feldzugang nur bedingt entsprochen werden. Soziale Herkunft ist nicht unmittelbar sichtbar und darauf abzielende Fragen können als unangenehm empfunden werden. Deshalb wurden über Arbeiterkind.de – eine Organisation, deren Ziel die Förderung von Personen nichtakademischer Herkunft ist (vgl. Miethe et al. 2014) – InterviewpartnerInnen rekrutiert. Trotzdem gestaltete sich der Zugang zu ProfessorInnen besonders

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Auf die Probleme, die mit einer Thematisierung des wissenschaftlichen Feldes einhergehen, verweist schon Bourdieu (vgl. Bourdieu 1992, 31-38).

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schwierig. Während es absolut keinen Kontakt mit Professorinnen8 gab, konnte schließlich über eine persönliche Beziehung ein Interview mit einem Professor geführt werden. Ähnliche Probleme gab es bezüglich prestigeträchtiger Fächer wie der Medizin, für diese konnten keine InterviewpartnerInnen gewonnen werden. In der Soziologie variieren Konzepte sozialer Herkunft erheblich. Das erhobene Datenmaterial weist im Hinblick auf die soziale Herkunft der Biographen deutliche Differenzen auf, wie bei einem umfassenden Kriterium wie ‚nichtakademische Herkunft‘ zu erwarten ist. Der Biograph des Fallbeispiels argumentiert in seinen Ausführungen mit einer gesellschaftlichen Dichotomie zwischen den Arbeitern beziehungsweise Arbeiterkindern ‚unten‘ und den Bürgerlichen ‚oben‘. Da diese Unterscheidung für seine Weltsicht grundlegend ist, werden hier den Relevanzstrukturen des Biographen entsprechende Begrifflichkeiten verwendet. Solche dichotomen Gesellschaftsbilder waren in Arbeitermilieus, zu denen der Biograph seine Familie zuordnet, bis in die 1980er Jahre recht weit verbreitet (vgl. Fröhlich 1981, 307).

IV. F ALLBEISPIEL T HORSTEN Anhand von Thorstens9 Lebensgeschichte werden sein Bildungsverlauf und die Anfänge seiner Karriere rekonstruiert.10 Im Mittelpunkt der Analyse stehen drei Übergänge: die Aufnahme des Studiums, die Entscheidung, nach dem Diplom eine Promotion aufzunehmen, und schließlich das Verlassen der Universität nach der Promotion, um in die ‚freie Wirtschaft‘ zu wechseln. Diese Bildungs- und Karriereentscheidungen werden im Sinne biographietheoretischer Ansätze als langfristige Prozesse im Kontext ihrer lebensgeschichtlichen Entwicklungen sowie der gesellschaftlichen Bedingungen und nicht im Sinne einzelner Handlungssituationen verstanden (vgl. Fuchs-Heinritz 2010, 97).

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Dies könnte auch auf die Unterrepräsentation von Professorinnen aus nichtakademischen Elternhäusern zurückzuführen sein. Sind schon Professorinnen unterrepräsentiert, so verschärft sich diese Tendenz unter Berücksichtigung der sozialen Herkunft (vgl. Möller 2015, 247).

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Der Name wie auch andere Merkmale des Biographen wurden aus Datenschutzgründen geändert.

10 Bei der hier vorgelegten Falldarstellung und Typenbildung handelt es sich um eine ergebnisorientierte Darstellung, die sich auf die sich als plausibel erwiesenen und verifizierten Interpretationen beschränkt.

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Thorstens Biographie Thorsten ist zum Zeitpunkt des ersten Interviews 65, beim zweiten Interview 66 Jahre alt und arbeitet in Altersteilzeit in der Versicherungsbranche. Er wird 1949 in einer größeren Stadt des Ruhrgebiets als erster Sohn einer Familie geboren, die er als „klassische Arbeiterfamilie“ (Interview 1) bezeichnet. Vier Jahre später kommt seine Schwester als zweites und letztes Kind der Familie zur Welt. Beide Großväter, spätere Bergbauinvaliden, waren früher im Bergbau, die Großmütter als Hausfrauen tätig. Sowohl die Familie des Vaters als auch die der Mutter waren kinderreich. Der Vater war, nach der Rückkehr aus britischer Kriegsgefangenschaft, als Montageschlosser tätig. Die Mutter begann eine Ausbildung zur Einzelhandelskauffrau, beendete diese aber aufgrund ihrer Schwangerschaft mit Thorsten nicht und war seit der Heirat 1948 als Hausfrau tätig. Obwohl ihr später von einer befreundeten Familie eine halbtägige Aushilfstätigkeit im Einzelhandel angeboten worden sei und sie auch Interesse an einer solchen geäußerte habe, sei aus der Anstellung – so präsentiert es Thorsten im ersten Interview – auf Intervention des Ehemanns nichts geworden, weil der die Berufstätigkeit seiner Frau mit Verweis auf die Außenwirkung als Affront gegen seine Männlichkeit wertete und ablehnte. Die damalige Wohnungsnot und das geringe Einkommen nötigte die Familie dazu, für ein Jahr bei Thorstens Großeltern väterlicherseits zur Untermiete zu wohnen, um dann bei den Großeltern mütterlicherseits einzuziehen. Im Alter von drei Jahren kommt Thorsten in einen Kindergarten der Arbeiterwohlfahrt und wird mit sechs Jahren eingeschult. Mit zehn Jahren und kurz vor dem Abschluss der Grundschule zieht seine Familie in das Obergeschoss einer Zechenwohnung. Deren Bezug erforderte das Erbringen von fünfhundert Stunden Eigenleistung durch den Vater. Trotz des Umzugs schließt Thorsten die Grundschule in der alten Schule ab und wechselt zum nächsten Schuljahr aufs Gymnasium. Mit dem Schul- und Ortswechsel verändert sich die Zusammensetzung seines Freundeskreises. In seiner Schulklasse auf einem Jungengymnasium sind nur wenige – wie er sie bezeichnet – „Arbeiterkinder“. Seine engsten Freunde kommen aus Akademikerfamilien. Auf Anraten eines an Thorsten herantretenden Vertrauenslehrers beantragt er eine „Bücherspende“, wodurch ihm für drei Jahre die Kosten für die Schulbücher erlassen werden. Im Alter von 14 beginnt Thorsten damit, den Kindern eines in die Nachbarschaft gezogenen Unternehmers Nachhilfeunterricht zu geben, eine tägliche Arbeit, die er zehn Jahre lang ausüben wird. Im gleichen Jahr wird sein Vater von einem neuen Arbeitgeber am selben Arbeitsplatz übernommen. Damit erhöht sich dessen Einkommen um mehr als das Doppelte. Infolgedessen sind die schwierigen finanziellen Zeiten,

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wie Thorsten es formuliert, vorbei. In der neunten Klasse entscheidet er sich für den neusprachlichen Zweig des Gymnasiums, nach eigenen Angaben aber nicht der Fächer wegen, sondern weil er mit der Entscheidung seinem Freundeskreis folgt. Nach, wie zu der Zeit in Nordrhein-Westfalen üblich, achteinviertel Jahren Gymnasium, beendet Thorsten 1967 sein Abitur mit einer Durchschnittsnote von 1,9. Wegen einer Sehschwäche wird er von der Bundeswehr ausgemustert und nimmt zum Wintersemester desselben Jahres ein Studium an der Universität seiner Heimatstadt auf. Er entscheidet sich für Mathematik als Haupt- und Ökonomik als Nebenfach. Ab dem dritten Semester, bis zum Erreichen des Diploms, arbeitet Thorsten als studentische Hilfskraft außerhalb seiner Fachdisziplin und gibt damit seine Nachhilfetätigkeit auf. Für die Besetzung der Hilfskraftstelle ist der Vater eines Freundes, Professor an der Universität, verantwortlich. Mit 21 Jahren heiratet Thorsten eine Finanzbeamtin gleichen Jahrgangs, zieht aus dem Elternhaus aus und mit der Ehefrau zusammen. Nach Abschluss des Großteils der Diplomprüfungen wird Thorsten von einem seiner Professoren das Angebot unterbreitet, in der Ökonomik zu promovieren. Voraussetzung dafür ist das Erbringen weiterer ‚Scheine‘. Um die deswegen entstehende längere Promotionsdauer von fünf Jahren finanzieren zu können, wird Thorsten über Vermittlung seines Professors Forschungsstipendiat und arbeitet als wissenschaftliche Hilfskraft. Nach fünfeinhalb Jahren promoviert er 1979 in der Ökonomik. Im selben Jahr kommt seine Tochter, sein einziges Kind, zur Welt. Nach der Promotion nimmt er einen Job in der Versicherungswirtschaft seiner Heimatstadt auf, vorerst als Trainee im Außendienst. Innerhalb der Versicherungswirtschaft steigt er in den folgenden Jahren weit auf. „Da kann man auch gleich Künstler werden“: Die Entscheidung zum Studium In den sechziger Jahren stehen Thorsten nach dem Abitur mit einer Durchschnittsnote von 1,9 bezüglich Studienorts- und Fachentscheidung fast alle Türen offen. Dadurch, dass ein Studium für seine engeren Freunde als Selbstverständlichkeit gilt, ist auch für ihn die Entscheidung zum Studium naheliegend:11 „Dass es zum Studium gekommen ist, lag einfach an der Umgebung und der Mitschüler und der Freunde. Da war überhaupt keine Frage, dass irgendeiner so was machen würde,

11 Die angeführten Zitate wurden, mit Ausnahme derjenigen, in denen die hörbare Textgestalt wiedergegeben wird, der besseren Lesbarkeit wegen angepasst.

332 | FRERK BLOME das war selbstverständlich […] Numerus Clausus war für mich und meine Kollegen kein Problem [...] so dass die einzige Frage die sich mir gestellt hat darauf kapriziert war: was studiere ich?“ (Interview 1: 26.06.2014)

Mit der Entscheidung zum Studium stellte sich für Thorsten die Frage der Studienfachwahl. Akademische Berufsbilder waren ihm keine bekannt, mit Ausnahme des Oberstudienrates und in Grundzügen des Staatsanwaltes. Die Möglichkeiten, sich über diese Berufsbilder zu informieren seien damals – im Gegensatz zu heute, wie er betont – begrenzt gewesen. Thorsten orientiert sich bei seiner Studienfachwahl an einem IBM-Prospekt12 und seinen Kenntnissen über den Beruf des Oberstudienrates. Mit der Fächerkombination Mathematik und Ökonomik entsprach er den Anforderungen des IBM-Prospektes und hielt sich die Möglichkeit offen, Lehrer an berufsbildenden Schulen zu werden. Ein „sozusagen dreifach abgesicherter Weg“ (Interview 1). Diese Sicherheits- und Praxisorientierung entspricht durchaus der Erwartungshaltung seiner Eltern: „Ich habe mein Studium so aufgebaut, dass ich jederzeit mit der Fächerkombination Lehrer an beruflichen Schulen hätte werden können. Ich hätte nie einen Beruf ergriffen oder ein Studium ergriffen bei dem unklar ist, was man damit machen kann. Also Kunstgeschichte, Sozialwissenschaften oder sowas ähnliches. Erstens wusste ich nicht was man damit macht. Meine Eltern wären in Ohnmacht gefallen. Sogenannte brotlose Kunst, da kann man auch gleich Künstler werden oder Klavierspieler werden wollen oder sonst was. Das war nie Gegenstand einer Überlegung.“ (Interview 1)

Die Auswahl und der Aufbau des Studiums folgten zum einen den Erwartungen seiner Eltern und zum anderen dem eigenen Anspruch darauf, einen „vernünftigen und gut bezahlten Beruf“ (Interview 1) zu ergreifen. Die nicht zufällig erwähnte Kunstgeschichte hätte dem eigenen Interesse zwar stärker entsprochen, kollidierte aber mit seiner und der elterlichen Erwartungshaltung an einen zukünftigen Beruf und wird ohne weitere Prüfung damit verbundener Perspektiven ausgeschlossen. Das Studium im Heimatort war für die Familie zudem mit geringeren Kosten verbunden. Neben den finanziellen Vorteilen stellt Thorsten die fachlichen Vorzüge der Heimatuniversität heraus. Das dort angebotene Studium kam den spezifischen Anforderungen des IBM-Prospektes sehr nahe. Erst der mit der Bil-

12 IBM ist weltweit eines der größten IT- und Beratungsunternehmen und war im Bereich der EDV, damals noch bei der Be- und Verarbeitung von Lochkarten, auch deutschlandweit, eines der führenden Unternehmen.

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dungsexpansion einhergehende Ausbau der Hochschullandschaft, im Zuge dessen die Universität einige Jahre vor Thorstens Schulabschluss gebaut wurde, ermöglichte das Studium in der Geburtsstadt. Als erste Alternative zum Studium nennt Thorsten eine duale Ausbildung im damals noch jungen EDV-Bereich bei einem größeren Unternehmen außerhalb des bisherigen Wohnortes. Diese Ausbildung, argumentiert Thorsten, wäre finanziell attraktiv gewesen und hätte bei guten Leistungen anschließend die Förderung mittels Studienstipendien geboten, womit exzellente innerbetriebliche Aufstiegsmöglichkeiten verbunden gewesen wären. Gegen diese Überlegungen intervenierte seine Mutter, da ihr, wie Thorsten sie zitiert, die Vorstellung, dass ihr Sohn in einer fremden Stadt und einem „dubiosen Werksheim mit gemischter Besetzung“ (Interview 1) leben würde, missfallen hätte. Die zweite Alternative wären klassische Ausbildungsberufe im Bankenwesen oder beim Finanzamt gewesen, welche Thorsten angesichts der damit verbundenen Verdienstmöglichkeiten wenig attraktiv erschienen. Im Vergleich zum Beruf des Vaters waren die genannten Berufe jedoch prestigereicher und finanziell attraktiver. Für die Entscheidung zum Studium, die Studienfach und -ortswahl sind vor allem drei ineinandergreifende Kriterien entscheidend: ökonomisch-rationale Überlegungen bezüglich der Kosten des Studiums und der mit dem Studienabschluss verbundenen Verdienstmöglichkeiten, ein ausgeprägtes Sicherheitsbedürfnis hinsichtlich der Verwertbarkeit des Studienabschlusses und die Nähe des Standortes zur eigenen Familie. Die Selbstverständlichkeit mit der ein Studium innerhalb seines Freundeskreises angestrebt wird, verstärkt auch bei ihm die Neigung zum Studium. „Und dann kam die Überraschung meines Lebens“: Die Entscheidung zur Promotion Thorsten beginnt etwa ein halbes Jahr vor den Abschlussprüfungen mit der Jobsuche. Seine ursprüngliche Überlegung, bei IBM anzufangen, entfiel, wie er begründet: „Und ich habe mir die Stadt angeguckt und die sah so völlig anders aus als das Ruhrgebiet //(lacht)// Und die Leute sprachen irgendwie auch kein Hochdeutsch, geschweige denn Ruhrgebietsdeutsch. Und die Vorstadtsiedlungen sahen so etwas gutbürgerlich aus, die fuhren damals schon etwas größere Autos.“ (Interview 1)

Obwohl Thorsten mit seinem Ausbildungsprofil gute Möglichkeiten auf die Anstellung hatte, entschied er sich gegen den potentiellen Arbeitgeber. Deutlich

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wird in dem vorangestellten Zitat die Fremdheit, die er gegenüber der Region empfand. Sowohl sprachliche als auch milieuspezifische Differenzen nennt er als Grund für die Ablehnung dieser Jobmöglichkeit. Weder im Ruhrgebiet, geschweige denn in seiner Heimatstadt gab es im EDV-Bereich, an dem er sich mit seiner Ausbildung primär orientierte, Arbeitsplatzangebote. Den „einzige[n] theoretischen Arbeitgeber“ (Interview 1), Aral, schließt Thorsten wegen des ständisch organisierten Personalaufbaus aus seinen Überlegungen aus. Im Zuge der letzten Diplomabschlussprüfungen wird Thorsten von dem Professor, bei dem er seine Abschlussprüfungen ablegt, auf seine Zukunftspläne angesprochen. Nachdem Thorsten ihm erzählt, er werde vermutlich als Lehrer arbeiten, unterbreitet ihm der Professor das Angebot, in der Ökonomik zu promovieren und bei gleicher Vergütung wie der eines Berufsschullehrers, A13,13 eine Assistenzstelle zu übernehmen. Eine Promotion hatte Thorsten zuvor zu keinem Zeitpunkt erwogen, das Angebot bezeichnet er als „Überraschung meines Lebens“ (Interview 1). Da er aber einige Scheine nachholen muss, ist eine längere Promotionsdauer absehbar. Erst nachdem ihm sein Professor eine Stelle als Forschungsstipendiat zusichert, nimmt er das Promotionsangebot an, ein weiterer Hinweis für Thorstens Sicherheitsorientierung. Mit der Eingruppierung in A13 und dem Forschungsstipendium bot die Promotion kurzfristig dieselben finanziellen Spielräume wie die Tätigkeit als Lehrer an berufsbildenden Schulen, die einzige von Thorsten angeführte Wahlmöglichkeit und langfristig bessere Berufsperspektive. Thorsten betont ökonomisch-rationale Kriterien und stellt die Promotion vornehmlich als Entscheidung mangelnder Alternativen dar. Die Promotion selbst befindet sich außerhalb seiner Wahrnehmung und wird erst durch das Angebot seines Professors zur Handlungsalternative. Andere Optionen werden wegen ihrer regionalen Lage oder habitueller Differenzen verworfen, wodurch der Entscheidungsspielraum stark eingeschränkt wird. „In letzter Konsequenz war es das Geld [...]“: Der Weg in die Versicherungswirtschaft Nach der Promotion stellt sich für Thorsten die Frage der weiteren beruflichen Entwicklung. Als naheliegend beschreibt er den Weg in die Stahlindustrie, mit der Perspektive, nach einigen Jahren beruflicher Tätigkeit als Gruppenleiter auf eine Fachhochschulprofessur berufen zu werden. Die Chancen auf eine Berufung

13 A13 meint die Höhe der Besoldungsgruppe von BeamtInnen und ArbeitnehmerInnen des öffentlichen Dienstes.

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in Norddeutschland bewertete Thorsten wegen der damalig „aufblühenden Landschaft an Fachhochschulen“ (Interview 1) als sehr realistisch. Vor allem wegen der Verbindungen seines Doktorvaters in die Stahlindustrie und der sich daraus ergebenen Berufsmöglichkeiten wäre diese Entscheidung stringent gewesen. Aus damaliger Sicht stellt Thorsten die Fachhochschulprofessur allerdings als wenig attraktiv dar. Weder das Gehalt noch die aus heutiger Perspektive verlockend erscheinende Pension des Beamtentums reizen ihn. Im Interview kalkuliert Thorsten mit damaligen und heutigen Zinssätzen die notwendigen Rücklagen, die es bräuchte, um über eine berufliche Tätigkeit die Höhe einer Beamtenpension zu erreichen, um zu belegen, wie schwierig dies heutzutage wäre. In der Versicherungswirtschaft hingegen habe Thorsten die Aussicht auf wesentlich höhere Verdienstmöglichkeiten, eine planbare Karriereentwicklung und eine üppige Pension gehabt. Schon die Assistenztätigkeit sei in der Versicherungswirtschaft besser bezahlt als die Fachhochschulprofessur und durch die sich bietenden Aufstiegsmöglichkeiten war ein noch wesentlich höheres Gehalt absehbar. Er konstatiert: „Ja, also es war in letzter Konsequenz das Geld, das die wissenschaftliche Karriere, die ohnehin nur bedingt eine wissenschaftliche Karriere gewesen wäre, nicht hat zu Stande kommen lassen.“ (Interview 1)14

Einschränkend fügt er dieser Argumentationslinie folgend hinzu, dass er damals nicht über weitere mit der Fachhochschulprofessur verbundene Verdienstmöglichkeiten informiert war. Gerade durch den Vergleich der Verdienstmöglichkeiten und durch das Vorrechnen der erreichbaren Altersversorgung entsteht der Eindruck, Thorsten folge einem ökonomisch-rationalen Kalkül. Der Bezug auf die Altersvorsorge kann als weiteres Indiz für ein sicherheitsorientiertes Denken herangezogen werden. Neben ökonomischen Vorbehalten werden in seinen Ausführungen weitere Argumente sichtbar: „Und dafür jetzt laufend nach Flensburg oder Lübeck oder Ostfriesland rauf zu fahren ist schlicht und ergreifend einfach eine Frage ob man das will, eine Frage der Leidenschaft.“ (Interview 1)

14 Als begrenzt wissenschaftliche Karriere wird die Fachhochschulprofessur bezeichnet, während die ‚richtige‘ wissenschaftliche Karriere eine Karriere an der Universität gewesen wäre.

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Wie bei der Promotionsentscheidung spielte bei der Berufswahl die Standortverbundenheit eine wichtige Rolle. Erste Assoziation ist dabei nicht ein Wohnortswechsel, sondern das Pendeln zwischen Wohn- und Arbeitsplatz. Sichtbar wird zudem der leidenschaftslose Bezug zur Wissenschaft. Die Entscheidung, nach der Promotion in der Versicherungswirtschaft zu arbeiten, war keineswegs nur in dem finanziellen Anreiz begründet, auch wenn der Biograph der Darstellung eines ökonomischen Kalküls in der Erzählung wesentlich mehr Raum einräumt. Vielmehr war es: „Schlicht und ergreifend die Möglichkeit eine Bewerbung bei einer vielversprechenden Versicherungstochter in (Heimatstadt) abzugeben. Das heißt also vor der Haustür. Wenn ich nun diese Bewerbung nach (Stadt in der Umgebung) oder (andere Stadt in der Umgebung) hätte schicken sollen, wäre ich im Zweifel nicht in die Versicherungswirtschaft gegangen.“ (Interview 2: 03.03.2015)

In der ‚Stegreiferzählung‘ erscheint auch bei der Berufswahl das ökonomischrationale Kalkül als dominantes Kriterium. Erst auf Nachfrage nach der augenscheinlichen Konsistenz des Standortes bei den Bildungs- und Karriereentscheidungen wird dem Kriterium der Standortverbundenheit in der Erzählung ausführlich Raum gegeben. Aus heutiger Sicht sei die Fixierung auf die Heimatstadt nicht mehr begreiflich, damals hingegen habe Thorsten nicht erwogen, die Heimatstadt zu verlassen. Dabei rekurriert er auf heute dominante Mobilitäts- und Flexibilisierungsdiskurse. Während Karriereentscheidungen zum Zeitpunkt seines Übergangs in die Versicherungswirtschaft langfristige Entscheidungen gewesen seien, habe sich ihm später im Rahmen von betriebsinternen Rationalisierungsmaßnahmen gezeigt, dass man flexibel und mobil sein müsse. Auch im weiteren Karriereverlauf spielt die Nähe zum Geburtsort eine wichtige Rolle. Mit 38 Jahren nimmt Thorsten eine Stelle als Filialdirektor in einer 80 km von seiner Heimatstadt entfernten Stadt an und zieht dorthin um. Ein sehr attraktives Jobangebot aus Norddeutschland lehnt er nach dem Besuch der Stadt mit dem Verweis auf die konservativ bis rechtspopulistische Umgebung sowie den im damaligen Wohnort erfolgten Hauskauf ab. Habituelle Differenzen sind demnach auch im weiteren Karriereverlauf für Thorsten ein Ausschlusskriterium. Zudem wäre ein Karriereaufstieg beim damaligen Arbeitgeber planbar gewesen. Dem finanziell attraktiveren Jobangebot standen damit die Sicherheit des damaligen Postens, die Standortverbundenheit und, mit letzterer an dieser Stelle weitgehend deckungsgleich, die Vermeidung von Habitus-Struktur-Konflikten gegenüber.

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V. T YPENBILDUNG Der Darstellung von Thorstens Entscheidungsfindung folgt in einem ersten Schritt die Rekonstruktion eines den Entscheidungen zugrundeliegenden Handlungsmusters (5.1). Im zweiten Schritt wird dieser Entscheidungstypus15 durch die Perspektive auf Habitus-Struktur-Konflikte erweitert. Dafür wird das Verhältnis des Biographen zum Herkunftsmilieu über die Einstellung zur „Hochkultur“ und die direkte Auseinandersetzung mit „bürgerlichen“ Milieus dargestellt (5.2). Pragmatismus und Risikoaversion: Übergangsentscheidung im Zeichen der sozialen Herkunft Der Biograph stellt seine Berufs- und Karriereentscheidungen vornehmlich als Ergebnis ökonomisch-rationaler Überlegungen dar. Diese Selbstdarstellung ist vermutlich auch Folge seiner Sozialisation als Ökonom und dient vornehmlich der Legitimation getroffener Entscheidungen. Mit den immer wiederkehrenden Verweisen auf seine zum damaligen Zeitpunkt begrenzte Informiertheit soll die Entscheidungsfindung im Nachhinein plausibilisiert werden. Hier wird jedoch die These vertreten, dass es eine risiko- und mobilitätsaversive Rationalität ist, welche den Übergangsentscheidungen zugrunde liegt. Es wird argumentiert, dass diese subjektive Rationalität Ergebnis biographischer Erfahrungen ist. Thorstens Bedürfnis nach materieller Sicherheit resultiert aus den in der Herkunftsfamilie gemachten Mangelerfahrungen. Erst durch den Kontakt zu den privilegierten Familien seines Freundeskreises und seiner Mitschüler wird ihm die verhältnismäßig schlechte finanzielle Ausstattung der Herkunftsfamilie deutlich. Anhand des folgenden Interviewausschnittes, welcher auf die Beschreibung seines engeren Freundeskreises während der Schulzeit folgt, wird die Bedeutungszuschreibung des Biographen gegenüber dem Medium Geld verdeutlicht:16

15 Unter einem Typus wird ein Idealtypus im Sinne Max Webers verstanden. Er ist eine gedankliche Konstruktion, welche den Sachverhalt in ‚reiner‘, übersteigerter Form beschreibt, um die Wirklichkeit trennscharf analytisch erfassen zu können. Insofern gibt er das Besondere im Einzelfall nur unzulänglich wieder (vgl. Rosenthal 2014b, 82). 16 Auf eine vollständige Darstellung des Analyseprozesses wird an dieser Stelle wegen des Umfangs verzichtet. Entgegen der Darstellung der anderen Zitate wird an dieser Stelle die hörbare Textgestalt (mit Pausen usw.) ungeachtet grammatikalischer Satzzeichen wiedergegeben, um latente Sinnstrukturen sichtbar zu machen.

338 | FRERK BLOME „Wenn ich diesen besonderen, Fall mit dem (2s) ähm: Tennisunterricht oder so (wenn ich den außen vor lasse) das ist auch derjenige gewesen der mich in die Tanzschule verpflichtet hatte äh mhm=äh wie ich dann hinterher erfahren habe da kriegt man A:, fünf Euro o– oder fünf Mark dafür wenn man äh: bei Jungenmangel (fünf äh Leute aus einer Klasse) Interviewer: (lachen) Abwirbt //ja// und noch ein paar äh (Tanzstilkarten) umsonst und sowas, äh: äh gut sei es ihm gegönnt ein Jahr später äh Halbjahr später als er nicht mehr da war hab ich das dann für ihn gemacht“ (Interview 1).

Geld war für Thorsten zum damaligen Zeitpunkt – so lässt sich festhalten – ein relevantes Thema. Zum einen ist Geld der Ausgangspunkt für ein konfliktreiches Verhältnis, welches sich über die auch zynischen sprachlichen Bezüge zu seinem Freund äußert, und zum anderen wird die Summe sowohl betont als auch an erster Stelle der folgenden Aufzählung benannt. Zudem wirbt Thorsten später neue Tanzschüler, um selbst die fünf Mark – während der 1960er Jahre für einen Schüler verhältnismäßig viel Geld – zu verdienen, womit eine ironische Lesart ausgeschlossen werden kann. Auch die ökonomischen Aufstiegserfahrungen der Familie sind für Thorsten und seine Familie prägend. Erst in den 1960er Jahren ändert sich deren ökonomische Situation durch die drastische Gehaltserhöhung des Vaters und beendet bei Thorsten das Gefühl der Bedürftigkeit. Zudem konstituieren diese Erfahrungen die Erwartungshaltung der Eltern gegenüber Thorsten. Ihrer Ansicht nach sollte der Bildungsaufstieg ihres Sohnes für ihn mit finanziellem Nutzen verbunden sein. Thorsten versteht Lohnarbeit als eine Notwendigkeit, weniger als Möglichkeit der Selbstverwirklichung. Die Flexibilität, die sein Beruf in der Versicherungsbranche verlangt und dazu führt, eigene Interessen zurückstellen zu müssen, wurde gewissermaßen durch „Schmerzensgeld“ (Interview 2) ausgeglichen. Es dominiert ein pragmatisches Verhältnis zum Beruf, welches sich über die eigene Lebensgeschichte hinaus sowohl in der Biographie der Tochter als auch in Ratschlägen gegenüber anderen „Arbeiterkindern“ (Interview 1) zeigt. Während er seiner Tochter nach dem Abitur zur Ausbildung rät, empfiehlt er letzteren, gerade wenn die finanzielle Situation kaum Spielraum lässt, ein duales Studium. Damit plädiert er für die risikoarme Variante etwa gegenüber Studienkrediten oder Bafög.

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So lässt sich die vom Biographen dargestellte Entscheidungsfindung nicht per se als ökonomisch-rationales Kalkül verstehen. Es geht Thorsten nicht um eine ökonomische Rationalität im Sinne eines ‚Immer-mehr-haben-Wollens‘, andere finanziell attraktivere Berufsangebote werden im späteren Karriereverlauf ausgeschlossen, sondern darum, die Situation des Mangels zu vermeiden und einer sicheren beruflichen Tätigkeit nachzugehen. Sicherheit bedeutet für ihn sowohl finanzielle Absicherung als auch Planbarkeit der beruflichen Karriere und Standortverbundenheit. Dieses verinnerlichte Handlungsmuster ist Produkt biographischer Erfahrungen und strukturiert den Rahmen, innerhalb dessen objektive Handlungsoptionen vom Biographen wahrgenommen werden. Was bedeutet dieses Handlungsmuster nun für die Frage nach dem Selbstausschluss aus dem Hochschulsystem? Thorstens Selbstausschluss aus der akademischen Karriere lässt sich nur im Kontext seiner lebensgeschichtlichen Entwicklung – nicht als Ergebnis punktueller Entscheidungsstrukturen – verstehen und ist Resultat des verinnerlichten pragmatischen Zugangs zur Berufswahl. Er wählt schon seine Studienfächer weitgehend nach pragmatischen Kriterien aus und ordnet eigene, „brotlose“ (Interview 1) Interessen unter. Damit entspricht er der Erwartungshaltung seiner Eltern, welche zugleich – wenn auch nicht widerspruchsfrei, wie in Kapitel 5.2 dargestellt wird – von ihm verinnerlicht wurde. Die weiteren Bildungs- und Karriereentscheidungen stehen in Pfadabhängigkeit zur Studienentscheidung und folgen diesem Handlungsmuster. Der weitgehend indifferente Bezug zum eigenen Fach zeigt sich nicht erst mit der Promotion, sondern schon bei der Studienfachwahl. Der Startpunkt seiner wissenschaftlichen Karriere, der Beginn der Promotion, ist dabei nicht Ausdruck eines wissenschaftlichen Interesses, sondern Ergebnis der sich vor dem Hintergrund seiner Mobilitätsablehnung darbietenden subjektiven Rationalitätsüberlegungen sowie der im folgenden Kapitel dargestellten Vermeidung von Habitus-Struktur-Konflikten. Die sich im Zuge der Bildungsexpansion mit dem Ausbau der Fachhochschulen als realistisch darstellende Möglichkeit, eine Fachhochschulprofessur zu besetzen, erscheint Thorsten wenig attraktiv, weil er einen weitgehend leidenschaftslosen Bezug zur Ökonomik hat und sich finanziell attraktivere Berufsaussichten in der Region darbieten. Viele sich aus heutiger Sicht vorteilhaft darstellende Aspekte einer Professur, die Jobsicherheit und eine vergleichsweise hohe Pension, waren für den Biographen vor dem Hintergrund der damaligen Wirtschaftssituation in der BRD weniger relevant als heute. Dieser Biograph repräsentiert einen Typus, dessen Bildungs- und Karriereentscheidungen von dem Handlungsmuster risikoaversiver Rationalitätsüberlegungen bestimmt werden. Eingebettet sind diese Überlegungen in eine stark aus-

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geprägte Standortverbundenheit mit der Geburtsstadt, welche den Rahmen für die Wahrnehmung von Handlungsoptionen vorstrukturiert. Ambivalenz im Aufstieg, habituelle Verläufe und die Thematisierung der sozialen Herkunft Durch den frühen Orts- und damit verbundenen Schulwechsel ändert sich die Zusammensetzung von Thorstens Freundeskreis grundlegend. Der Kontakt zu den MitschülerInnen der Grundschule bricht vollkommen ab, sein Freundeskreis auf dem Jungengymnasium setzt sich fast ausnahmslos aus Jungen akademischer und ökonomisch privilegierterer Herkunft zusammen. Dadurch, dass Thorsten Kindern aus ‚bürgerlichen‘ Haushalten täglich Nachhilfeunterricht erteilt, kommt er schon früh mit Personen in intensiven Kontakt, die anderen Milieus entstammen und bewegt sich seit dem Schulwechsel „in zwei Welten“ (Interview 1). Der von Thorsten im Milieu der Herkunftsfamilie ausgebildete Habitus unterscheidet sich vom im Klassenverbund vorherrschenden. Während diese habituellen Differenzen bei den beiden anderen „Arbeiterkindern“ seiner Gymnasialklasse dazu geführt hätten, dass ihnen kaum Anschluss an die Peer-Group gelang, habe Thorsten Freundschaften geschlossen. Das Einkommen aus dem Nachhilfeunterricht ermöglicht es ihm, manche der kulturellen Praxen der Peers zu übernehmen. Dies lässt sich als Anpassungsversuch an deren Milieu verstehen. Ferner wird die Inklusion in den Freundeskreis über seinen männlichen Habitus erleichtert, der sich in einer „etwas raufigeren Art“, „dem breiteren Kreuz“ und einer „kessen Schnauze“ (Interview 1) manifestiert. Indessen die Anpassung zur Schul- und Studienzeit weitgehend gelingt, wird Thorsten bei der Berufswahl mit Habitus-Struktur-Konflikten konfrontiert. Weitgehend deckungsgleich erscheinen Habitus-Struktur-Konflikte mit Thorstens Standortverbundenheit, indem er auf sprachliche („die Leuten sprachen irgendwie auch kein Hochdeutsch, geschweige denn Ruhrgebietsdeutsch“) und milieuspezifische Differenzen („die Vorstadtsiedlungen sahen so etwas gutbürgerlich aus, die fuhren damals schon etwas größere Autos“) am Standort potentieller Arbeitergeber der IT-Branche verweist. Im Fall der in Süddeutschland angesiedelten IT-Branche führen diese habituellen Differenzen zwischen der dort ansässigen Bevölkerung und derjenigen des Ruhrgebiets zum Selbstausschluss, obwohl IBM jahrelang als Orientierungspunkt für die eigene Studienausrichtung diente. Über die regionalen Differenzen hinaus wird mit Aral ein potentieller Arbeitergeber und mit der Stahlindustrie eine ganze Branche mit dem Verweis auf

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deren „ständische Organisationsstruktur“ (Interview 1) ausgeschlossen. Obwohl Thorsten mit seinen formalen Qualifikationen in das Profil von Aral gepasst hätte und dies ein regional angesiedelter Arbeitgeber war, habe er sich dort aufgrund herkunftsspezifischer Rekrutierungsverfahren nicht beworben: „Der einzige theoretische Arbeitgeber den ich damals kannte war Aral. Aral stellt aber für den Nachwuchs keine Arbeiterkinder ein, sondern Leute die vom (Gesellschaftsclub) kamen, die in den Villengegenden großgeworden waren und sich als Assistenten und sonstige Leute auf dem Parkett glatt bewegen konnten. Ich hatte sicherlich nie das Problem zu mundfaul zu sein und mich nicht ausdrücken zu können. Aber in Bezug auf gesellschaftliche Sprünge, also ich war weder beim Ruderring noch auf Galopprennbahnen noch auf den großen Events.“ (Interview 1)

Wegen seines milieuspezifisch ausgeprägten Habitus resigniert Thorsten angesichts der Anforderungs- und Anerkennungsstrukturen von Aral. Zwar erfüllt er mit seinem abgeschlossenen Studium die formalen Anforderungskriterien, es mangelt ihm aber nach eigenem Verständnis an über professionelle Sachbezogenheit hinausgehenden Wissensbeständen. Auftreten, Manieren, Geschmack, Selbstsicherheit oder das Verhältnis zur Sprache sind Bestandteile eines Wissens, das sich nach sozialer Herkunft unterscheidet (vgl. Kramer 2013, 120) und Thorsten in der von Aral geforderten Ausprägung nicht „in die Wiege gelegt“ (Interview 2) wurde. Während die Aneignung dieser Wissensbestände bei Personen, die in entsprechenden Milieus aufwachsen, „Ergebnis unbewusster Lernprozesse“ (vgl. Bourdieu 1987b, 56) ist, muss Thorsten diese mühevoll erlernen. Während er an dieser Stelle auf die Grenzen seines sozialen Aufstiegs verweist, betont er an anderer Stelle, mit Einschränkungen, die Möglichkeiten der Aneignung entsprechenden Wissens: „Die Umgebung hätte mich sicher nicht ins Herz geschlossen, wenn ich versucht hätte da reinzukommen. […] Aber Vieles kann man eben lernen, das ist kein Problem. Ich war an der Uni zuständig für unsere Ausflüge, wir sind dann immer in die Weingebiete gefahren. Von den 100 führenden Weingütern Deutschlands die es in den 70er Jahren gab, kannte ich dann 50 persönlich [...] Also zu sagen: Ich bin klein und bescheiden und ich bleibe das auch so und mit dem Rest habe ich nichts zu tun, man muss eben gucken wenn einem Musik Spaß macht, dann muss man sich auch mal für drei Euro mehr in die Oper setzten.“ (Interview 1)

Thorsten weiß um die Notwendigkeit der Auseinandersetzung mit der ‚Hochkultur‘ und damit verbundenen Attributen (Weinkultur, klassische Musik) für

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den sozialen Aufstieg. So lassen sich diese Ausführungen als Handlungsanweisung für den Interviewer beziehungsweise Arbeiterkinder, für die der Interviewer stellvertretend steht, lesen. Obwohl sich der Biograph kulturelle Wissensbestände der ‚bürgerlichen‘ Milieus aneignet, auf welche er mit „die Umgebung“ rekurriert, macht er die Erfahrung, nicht akzeptiert zu werden. Die Aneignung dieser Wissensbestände hat dementsprechend für Thorsten vornehmlich instrumentellen Charakter. Auch wenn er in seinen Ausführungen auf Spaß verweist, so dominieren jedoch Aspekte der Nützlichkeit, wie folgendes Zitat eindrücklich belegt: „Es ist nicht schlimm wenn man nur lieblichen Wein trinkt, wenn man ihn überhaupt trinkt. Aber wenn man ganz offensichtlich auch die gröbsten Dinge nicht unterscheiden kann, dann ist das nicht so wirklich förderlich um einen guten Eindruck zu hinterlassen. [...] Das sind so ein paar Dinge die sind nicht w- die sind in Wirklichkeit nicht wirklich wesentlich. Aber die an der einen oder anderen Stelle den Unterschied ausmachen, ob man nach einem einstündigen Bewerbungsgespräch ein Jahr später angerufen wird.“ (Interview 1)

Weinkenner zu sein ist Thorsten primär deswegen wichtig, weil damit berufliche Vorteile verbunden sind. Er investiert während des Studiums viel Zeit in Ausflüge in Weingebiete – weiterer Beleg für die Intensität des Aneignungsprozesses –, kennt sogar die BesitzerInnen von fünfzig Weingütern persönlich und das, obwohl er selbst keinen Wein trinkt. Bereiche der ‚Hochkultur‘ wie beispielsweise klassische Musik oder Weinkultur entsprechen Thorstens Interessen nur in geringem Maß. Kenntnisse auf solchen Gebieten sind aber notwendig, um „mitsprechen zu können“ und werden von ihm als Teil von „Sozialkompetenz“ (ebd.) beschrieben. In den vorangegangenen Zitaten, insbesondere am Beispiel von Aral, werden die Grenzen der theoretischen Unterscheidung von Fremd- und Selbstausschluss deutlich. Mit dem Selbstausschluss antizipiert der Biograph einen vermeintlichen Fremdausschluss durch den Arbeitgeber. Zwar entspräche Aral den vom Biographen genannten Kriterien (regionale Lage, gute Verdienst- und Aufstiegsmöglichkeiten), der von ihm durch die Erfahrungen der Zurückweisung verinnerlichte „Sinn für Grenzen“ (Bourdieu 1987b, 734) hält ihn aber davon ab, Aral als Handlungsalternative zu erwägen. Die Wahrnehmung von Handlungsoptionen orientiert sich damit nicht nur an den inkorporierten Handlungszwecken (vgl. Kapitel 5.1). So wird Aral oder die Stahlindustrie als undenkbar verworfen. Der Verweis auf Habitus-Struktur-Konflikte geht sodann über individuelle Entscheidungsstrukturen hinaus. Grundlage des antizipierten Selbstausschlusses

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sind dann auch soziale Beziehungsgeflechte, nicht individuelle Entscheidungsstrukturen. Zur Malerei hat Thorsten einen leidenschaftlichen Bezug, wodurch sich dieses Verhältnis fundamental vom instrumentellen Bezug auf die anderen Praxen ‚bürgerlicher‘ Milieus unterscheidet. Vor Beginn des ersten Interviews präsentiert Thorsten dem Interviewer einige von ihm angefertigte im Hausflur hängende Bilder. In seiner künstlerischen Tätigkeit bezieht er sich vornehmlich auf Strömungen Warhols und der Pop Art, demonstriert auch fundierte Kenntnisse über andere Richtungen. Interessant ist dieser Bezug, weil innerhalb der Pop Art der Anspruch vertreten wurde, die Grenzen zwischen ‚Hochkultur‘ und kommerziell angewandter Kunst zu überwinden. Erwägungen, diese vornehmlich durch seinen damaligen Kunstlehrer geförderte Leidenschaft in den Beruf zu übersetzen, scheiterten schließlich an der pragmatisch-risikoaversiven Handlungsorientierung, die sich auch als Sinn für die eigenen Grenzen interpretieren lässt. Thorsten bezieht sich leidenschaftlich auf Elemente der ArbeiterInnenkultur. Er bezeichnet den Fußballverein seiner Herkunftsstadt als „geliebten (Name des Vereins)“ (Interview 1), hatte dort eine Stellung als Vorstandsvorsitzender und bedauert, dass die Flexibilität seines Berufes eine regelmäßige Zurückstellung des Vereins zur Folge hatte. Bis heute ist ihm Fussball wichtig, so bestand er bei der Interviewplanung darauf, dass die Zeiten sich nicht mit denen der Fussballspiele überschneiden. Die Kunst ist eine seiner großen Leidenschaften, ansonsten hat er zur ‚bürgerlichen‘ Kultur ein eher instrumentelles Verhältnis. Seine Beschäftigung mit der „legitimen Kultur“ (Bourdieu 1987b, 56) entspringt weniger einer Vorliebe, wie bei Personen aus ‚bürgerlichen‘ Milieus, deren Präferenzen und Geschmack weitgehend der ‚legitimen Kultur‘ entsprechen (vgl. ebd.), als dem Wissen um die Notwendigkeit des Erwerbs dieser Kompetenzen für den sozialen Aufstieg. Ähnlich ambivalent ist sein Verhältnis zu Personen aus „bürgerlichen“ Milieus, wie nachstehendes Zitat verdeutlicht: „Was geht was nicht geht, was man aber äh eben nicht vermeiden sollte äh ich bin eben sehr wohl mit, ein zwei dieser Leute die mir sehr, durchaus suspekt war. äh hab ich mich in elitärsten äh: Tennisclub in (Heimatstadt) mitnehmen lassen, und mich dann da hingesetzt und mal ne Cola mit ihm getrunken und so geguckt alleine schon um zu wissen, äh äh hab ich doch gewusst dass das nicht meine Welt //ja// und die Mädels die hier rumlaufen äh (lachen) mögen ja ganz nett sein aber äh das war dann auch so das die tatsächlich zum Abitur schon Freunde hatten, äh die auch damals schon mitm Cabrio vorgefahren kommen //mhm// zur Strafe sind ein zwei davon auch schwanger geworden äh noch äh

344 | FRERK BLOME während der Schulzeit 'Pille gabs ja damals noch nicht' das war dann sozusagen die äh heimliche Strafe das die so, elitär gutaussehende 22 23 jährige Schönlinge, als Freund hatten.“ (Interview 1)

Auch diese Ausführung lässt sich als Handlungsanweisung für ‚Arbeiterkinder‘ lesen. Selbst wenn einem Personen privilegierter sozialer Herkunft suspekt sind, sollte man sich auf den Kontakt einlassen. Während der damit verbundene Nutzen in diesem Abschnitt nicht erkenntlich wird, so aber Thorstens Ambivalenz gegenüber Teilen der ökonomisch Privilegierten. Im „elitärsten Tennisclub“,17 damals Sinnbild bürgerlicher Kultur, fühlt er sich unwohl. Mitgenommen wird er von einem seiner Mitschüler am Gymnasium. Deutlich wird ein neidischer Bezug auf die ökonomisch privilegierten „Schönlinge“, die wegen ihres Geldes schon damals Freundinnen hatten. Untermauert wird das Gefühl des Neides durch den zynischen Kommentar der Schwangerschaft als Strafe für den Erfolg in sexuellen Beziehungen. Während er auf anderen Ebenen durch seine Intelligenz und seinen Fleiß konkurrenzfähig ist, lässt sich die ökonomische Unterprivilegierung dadurch nicht ausgleichen. Auch an anderer Stelle, wenn es z.B. um die Studienfachwahl geht, lässt sich erahnen, dass Thorsten ungleiche ökonomische Startbedingungen als Benachteiligung empfunden hat: „Und danach habe ich eigentlich naheliegenderweise aus Finanzgründen ja auch mein Studium ausgerichtet. Also so was [ein] wohlsituierter Sohn gemacht hat, Kunstgeschichte in (Wohnort) zu studieren mit Nebenfach [...] Da habe ich mich damals schon, und das ist jetzt immerhin fast 40 Jahre her, gefragt was wird man damit eigentlich?“ (Interview 2)

Thorsten argumentiert, dass die finanziellen Rahmenbedingungen seiner Herkunftsfamilie ein Studium nach Interesse nicht zugelassen und ihn zur pragmatischen Ausrichtung des Studiums genötigt hätten. In dieser Argumentation werden seine habituellen Dispositionen (Pragmatismus, Risikoaversion) sichtbar. Im Gegensatz zur pragmatischen Ausrichtung steht für ihn der „wohlsituierte Sohn“, welcher bei der Studienfachwahl eigenen Interesse folgen könne und Kriterien der Verwertbarkeit nicht gerecht werden müsse. Die vom Biographen kategorisch ausgeschlossene Kunstgeschichte („sogenannte brotlose Kunst“) unterliegt zu keinem Zeitpunkt einer Überprüfung. Der Pragmatismus des Biographen wird

17 Tennis hat sich ab Mitte der 1970er für breite soziale Gruppen geöffnet. Zur Entwicklung des Tennis von einer elitären Sportart zu einem Volkssport am Beispiel Österreichs siehe Norden 2004.

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auch daran deutlich, dass er, trotz des Bedauerns, nicht nach Interesse studiert haben zu können, anderen Personen zu ebenjener pragmatischen Herangehensweise rät. Selbst wenn finanzieller Spielraum zur Verwicklung eigener Interessen bestanden hätte, wie bei seiner Tochter. Thorsten positioniert sich eindeutig als Arbeiterkind. In beiden Interviews äußert er sich durchweg positiv über Personen des Herkunftsmilieus. Ergebnisungleichheiten werden nicht über das Heranziehen von Stereotypen der ‚Unterschichten‘18 oder Biologismen erklärt. Und auch das Engagement innerhalb der Organisation Arbeiterkind spricht dafür, dass er sich trotz des sozialen Aufstiegs dem Herkunftsmilieu stärker zugehörig fühlt als ‚bürgerlichen‘ Milieus. Dennoch – und diese Ambivalenz lässt sich nicht auflösen – schwingt, im immer wiederkehrenden leidenschaftlichen Bezug auf die Kunst, der Vorwurf mit, wegen der ökonomischen Zwänge der Herkunftsfamilie als Künstler verhindert worden zu sein. Dementsprechend kümmert sich Thorsten bei seinen Enkeln um eine frühe künstlerische Förderung sowohl im musischen als auch im malerischen Bereich, damit die Potentiale seiner Enkelkinder anders als in seinem Fall ausgeschöpft werden können beziehungsweise seine eigenen Potentiale bei den Kindern ausgelebt werden können. Der Biograph repräsentiert einen Typus, welcher im Bildungsaufstieg ein ambivalentes Verhältnis zum Herkunfts- und Ankunftsmilieu entwickelt. Zwar fühlt er sich dem Herkunftsmilieu stärker zugehörig, seine ökonomische Lebensrealität und viele seiner kulturellen Praxen entsprechen aber ‚bürgerlichen‘ Milieus. Trotz intensiver Anpassungsbemühungen macht er die Erfahrung, vom Ankunftsmilieu zurückgewiesen zu werden.

VI. F AZIT In diesem Aufsatz konnte durch das Nachzeichnen der Genese eines herkunftsspezifischen Handlungsmusters gezeigt werden, dass sich der Selbstausschluss aus akademischen Spitzenpositionen nicht ausschließlich über individuelle oder gar punktuelle Entscheidungsstrukturen erklären lässt. Die Bildungs- und Karriereentscheidungen des gezeigten Typus folgen einem pragmatisch-risikoaversiven Handlungsmuster, welches in Auseinandersetzung mit biographischen

18 Innerhalb anderer Interviews lassen sich Erklärungsmuster für Bildungsungleichheiten finden, die an solche Stereotype anschließen. Dies verwunderte im Kontext von Arbeiterkind.de, da nach dem Selbstverständnis der Organisation Bildungsungleichheiten Resultat ungleicher Ausgangsbedingungen sind.

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Erfahrungen entsteht. Sowohl die Herkunftsfamilie, die bis zum sozialen Aufstieg des Vaters unter prekären finanziellen Bedingungen lebt, als auch der Biograph vertreten den Anspruch, mit dem Bildungsaufstieg ökonomischen Nutzen zu verbinden. Als Kind dieser Herkunftsfamilie werden die prekären finanziellen Bedingungen durch den permanenten Vergleich mit seinem ökonomisch und kulturell privilegierten Freundeskreis als zu überwindender Mangel erlebt. Im sozialen Aufstieg entwickelt sich ein ambivalentes Verhältnis zum Herkunftsund Ankunftsmilieu. Das pragmatisch-risikoaversive Handlungsmuster schließlich führt zum Selbstausschluss aus der wissenschaftlichen Laufbahn. Die instrumentelle Haltung zu kulturellen Werten der ‚bürgerlichen‘ Milieus – Bildung wird als Mittel, weniger als Selbstwert begriffen – bestärkt seine Entscheidung wie auch die Erfahrung der Ablehnung durch ‚Bürgerliche‘. Die biographische Fallrekonstruktion zeigt zudem, dass Selbstausschlussentscheidungen in strukturelle Rahmenbedingungen mit ihren jeweiligen sozialhistorischen Kontexten eingebettet sind. Der mit der Bildungsexpansion einhergehende Ausbau der Hochschullandschaft ermöglicht dem hier vorgestellten Biographen das Studium in der Heimatstadt. Mit Blick auf seine regionale Verbundenheit und seinen ökonomischen Pragmatismus schafft der Hochschulausbau günstige Voraussetzungen für das Studium. Der Biograph stellt den Beginn seiner wissenschaftlichen Karriere als Zufallsprodukt dar. Bis zum Promotionsangebot, welches aus seiner Tätigkeit als studentische Hilfskraft resultiert, bewegt sich eine akademische Karriere außerhalb seiner Wahrnehmung. Auch die durch den Hochschulausbau geschaffenen Professuren führen später zur Einschätzung, dass die Fachhochschulprofessur eine berufliche Alternative darstellt. Der Biograph bewertet die akademische Karriere vor dem Hintergrund seiner Handlungsorientierung und der damaligen ökonomischen Situation der Bundesrepublik als nicht attraktiv. Entscheidend für diese Einschätzung ist das begrenzte Wissen um mit der Fachhochschulprofessur verbundene zusätzliche Verdienstmöglichkeiten. Sowohl die Bewertung der Attraktivität als auch die Einschätzung der Realisierbarkeit einer akademischen Karriere finden im historischen Kontext statt. Die Analyse des Handlungsmusters zeigt, dass Entscheidungsprozesse des Biographen durchaus von Kosten-Nutzen-Analysen begleitet werden. Sowohl die subjektive Rationalität wie auch die wahrgenommenen Handlungsoptionen werden durch den Habitus strukturiert. Über den biographischen Zugang ließ sich die Genese des Handlungsmusters rekonstruieren. Durch das Bourdieu‘sche Habituskonzept schließlich ist der relationale Charakter sozialer Ungleichheit in den Blick genommen worden. Während die Habitusgenese bei Bourdieu „weitgehend vom familiären Binnenraum abhängig ist“ (Kramer 2013, 127), wurde in

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diesem Aufsatz auf die Bedeutung der Peer-Group verwiesen. Der Biograph empfindet seine ökonomische und kulturelle Unterprivilegierung vor allem in Relation zur privilegierten Peer-Group als Mangel. Dadurch verstärkt sich seine pragmatische Handlungsorientierung. Die Selbstverständlichkeit, mit der seine Peers nach dem Abitur studieren, verstärkt auch beim Biographen die Studienneigung. Als anschlussfähig erweist sich in diesem Zusammenhang die Studie von Peter Büchner und Anna Brake (2006), in welcher auf die für die Habitusgenese gewichtige Bedeutung des schichtspezifischen Umfelds sowie des gesamten sozialen Raums verwiesen wird. Auch das Konzept der kulturellen Passung scheint für weitere Forschung vielversprechend. Studien zur kulturellen Passförmigkeit des primären Habitus mit dem sekundären Schulhabitus verweisen auf Anforderungsdifferenzen innerhalb des Bildungssystems (vgl. Grundmann 2010). Für die Anforderungs- und Anerkennungsstrukturen im Hochschulsystem liefert die Fachkulturforschung Hinweise auf fächerspezifische Differenzen (vgl. Engler 1993; Schmitt 2010). Für die Frage nach dem Selbstausschluss aus akademischen Karriereverläufen bedeutet das, dass im akademischen Feld nicht von einheitlichen Anforderungsund Anerkennungsstrukturen ausgegangen werden kann. Um die primären Habitusstrukturen mit denjenigen des akademischen Feldes in Beziehung zu setzen, sind allerdings fundierte Kenntnisse über akademische Strukturen notwendig. Akademische Karrieren sind vor allem einer sozial privilegierten Bevölkerungsgruppe vorbehalten. Das Konzept des Selbstausschlusses kann zum Verständnis dieser Ungleichheiten beitragen. Die hier erfolgte Typenbildung am Einzelfall ist allerdings nicht als generalisierte Aussage über den Selbstausschluss aus akademischen Karrieren von Personen hochschulferner Elternhäuser zu verstehen. Herausgearbeitet wurde ein Typus; eine differenzierte Typologie des herkunftsspezifischen Selbstausschlusses würde weitere Forschung erfordern.

L ITERATUR Auspurg, Katrin/Hinz, Thomas 2011: Master für Alle? Der Einfluss sozialer Herkunft auf den Studienverlauf und das Übertrittsverhalten von Bachelorstudierenden, in: Soziale Welt 62, 75-99. Autorengruppe Bildungsberichtserstattung 2012: Bildung in Deutschland. Ein indikatorengestützter Bericht mit einer Analyse zur kulturellen Bildung im Lebenslauf, Bielefeld.

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Rosenthal, Gabriele 2014b: Interpretative Sozialforschung. Eine Einführung. 4. Aufl., Weinheim/Basel. Schmeiser, Martin 1994: Akademischer Hasard. Das Berufsschicksal des Professors und das Schicksal der Universität 1870-1920. Eine verstehende soziologische Untersuchung, Stuttgart. Schmitt, Lars 2010: Bestellt und nicht abgeholt. Soziale Ungleichheiten und Habitus-Struktur-Konflikt im Studium, Wiesbaden. Schneickert, Christian 2013: Studentische Hilfskräfte und MitarbeiterInnen. Soziale Herkunft, Geschlecht und Strategien im wissenschaftlichen Feld, Konstanz. Statistisches Bundesamt 2013: Hochqualifizierte in Deutschland 2011: Erhebung zu Karriereverläufen und internationaler Mobilität von Hochqualifizierten, Wiesbaden. Weiss, Felix/Schindler, Steffen/Gerth, Maria 2015: Hochschulrankings als Kriterium für neue soziale Ungleichheit im tertiären Bildungssystem?, in: Zeitschrift für Soziologie 44, 366-382. Wittpoth, Jürgen (1994): Rahmungen und Spielräume des Selbst. Ein Beitrag zur Theorie der Erwachsenensozialisation im Anschluss an George H. Mead und Pierre Bourdieu, Frankfurt am Main. Vester, Michael 2006: Die ständische Kanalisierung der Bildungschancen. Bildung und soziale Ungleichheit zwischen Boudon und Bourdieu, in: Georg, Werner (Hg.): Soziale Ungleichheit im Bildungssystem. Eine empirisch-theoretische Bestandsaufnahme, Konstanz, 13-54.

AutorInnen

Bäumer, Larissa studiert an der Universität Bielefeld Soziologie (MA). Sie hat einen Bachelor of Arts in Soziologie sowie Wirtschafts- und Sozialgeschichte an der Georg-August Universität in Göttingen abgeschlossen. Dort hat sie als wissenschaftliche Hilfskraft am Institut für Wirtschafts- und Sozialgeschichte gearbeitet. In ihrer BA-Arbeit hat sie sich mit der Revitalisierung von Gewerkschaften am Beispiel von Organizing beschäftigt. Sie ist seit 2011 Stipendiatin der Hans-Böckler-Stiftung. Über das Erasmus-Programm studierte sie 2015 für ein halbes Jahr an der Lund University in Schweden am Fachbereich Politikwissenschaft. Ihre Studienschwerpunkte sind Arbeits- und Wirtschaftssoziologie sowie Wohlfahrtsstaatsforschung. Berdjas, Naby studiert Soziologie (MA) an der Universität Bielefeld. Vorher studierte er Soziologie und Philosophie (BA) an der Friedrich-Schiller-Universität Jena. Er ist seit Oktober 2010 Stipendiat der Rosa-Luxemburg-Stiftung. Seit März 2015 ist er wissenschaftliche Hilfskraft bei Prof. Dr. Joanna PfaffCzarnecka. Seine Studienschwerpunkte sind Medizin- und Professionssoziologie. Seine Masterarbeit schreibt er über den Einfluss des neurobiologischen Konstruktivismus auf die psychiatrische Diagnostik. Blome, Frerk studiert Soziologie (MA) an der Universität Bielefeld. Seine Bachelorarbeit „Der Aufstieg des Nationalsozialismus aus soziologischer Perspektive. Vergleich zweiter Klassiker der NS-Forschung“ schrieb er an der Universität Bielefeld. Aktuell arbeitet er als wissenschaftliche Hilfskraft bei Prof. Dr. Wilhelm Heitmeyer. Seine Studienschwerpunkte sind Historische Soziologie und Soziologie sozialer Ungleichheit. Er schreibt seine Masterarbeit über Bildungsaufstiege von ProfessorInnen aus hochschulfernem Elternhaus. Halkic, Belma studierte Sozialwissenschaften (BA) an der Universität Augburg und den Soziologie (MA) an der Universität Bielefeld. Ihr Studienschwerpunkt war ‚Soziologie der globalen Welt‘. Während eines Forschungsaufenthaltes in

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Vietnam verband sie ihr Interesse an ost- und südostasiatischen Gesellschaften mit geschlechtersoziologischen Perspektiven. Ihre Masterarbeit widmet sich mittels wissenssoziologischer Diskursanalyse dem Mediendiskurs über die Frauenquote in Deutschland. Derzeit engagiert sie sich in Berlin für ‚Kiron‘, eine elearning Bildungsplattform für Geflüchtete. Kathöfer, Sven studierte Angewandte Sozialwissenschaften sowie Soziologie in Dortmund und Bielefeld. Aktuell ist er wissenschaftlicher Mitarbeiter am Fachbereich Angewandte Sozialwissenschaften der Fachhochschule Dortmund. Auswahl bisheriger Publikationen: Kathöfer, Sven/Kotthaus, Jochem. (Hg.) (2013): Block X – Unter Ultras. Ergebnisse einer Studie über die Lebenswelt Ultra in Westdeutschland. Weinheim, Beltz ; Kathöfer, Sven/Kotthaus, Jochem.(2015): Formen Sozialer Arbeit mit Jugendlichen unterschiedlicher sozialer Herkunft und Lebenslagen am Beispiel von Fanszenen. Losch, Katharina studiert im Master Soziologie an der Universität Bielefeld, wo sie auch ihren Bachelor in Soziologie (Kernfach) und Psychologie (Nebenfach) absolvierte. Von Oktober 2014 bis September 2015 war sie Stipendiatin der Stiftung Studienfonds OWL. Ein zentraler Bestandteil ihres Studiums ist das Thema Diversität, insbesondere in Bezug auf Gender und Ethnizität. In ihrer Masterarbeit untersucht sie aus einer relationalen Perspektive weiter, inwiefern die Passung weiblicher Studierender ein Potenzial zur Herausforderung männlicher Fachkultur in der Informatik darstellt. Matveeva, Kristina is currently enrolled in the MA Sociology program at Bielefeld University. She graduated from the Udmurt State University in Russia in 2009 as a sociologist having a diploma with distinction. As a graduate student (2009-2012) she put emphasis on anthropology and took part in a research project offered by Prof. Dr. Joanna Pfaff-Czarnecka. The title of her master thesis is: “From emotions to online communities: a computer-based and grounded theory analysis of sympathy expressed on Twitter”. Pfaff-Czarnecka, Prof. Dr. Joanna ist Professorin für Sozialanthropologie an der Fakultät für Soziologie, Universität Bielefeld. Ihre aktuellen Forschungsprojekte beschäftigen sich mit der Bedeutung und den Effekten sozialer Zugehörigkeit(en) sowie dem Spannungsfeld von Heterogenität und Ungleichheit(en) an deutschen bzw. südasiatischen Universitäten. Ihre regionalen Schwerpunkte liegen auf der Himalaya-Region, dem südasiatischen Raum und zentraleuropäischen Zuwanderungsgesellschaften. Des Weiteren ist sie als Ko-Direktorin des Zentrums für interdisziplinäre Forschung (ZiF, Universität Bielefeld) aktiv.

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Pietsch, Vanessa studiert Soziologie (MA) an der Universität Bielefeld. Zuvor absolvierte sie ihren Bachelor in Soziologie und Pädagogik an der ChristianAlbrechts-Universität zu Kiel. Das Thema ihrer Bachelorarbeit lautete: „Chancengleichheit im Bildungssystem am Beispiel Schweden“. Im Masterstudium konzentriert sie sich auf die Schwerpunkte Migration, Transnationalisierung und Entwicklungszusammenarbeit. Ihre Masterarbeit schreibt sie über „Fluchtursachen im Sudan im Kontext neuerer Migrationstheorien“. Vanessa Pietsch arbeitet ehrenamtlich für das Ressort „International“ beim Campusradio der Universität Bielefeld. Prekodravac, M.A. Milena studierte Sozialpsychologie/-anthropologie und Gender Studies an der Ruhr-Universität Bochum. Bis 2015 arbeitete sie an der Universität Bielefeld. Sie ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Soziologischen Forschungsinstitut (SOFI) in Göttingen im DFG-Projekt "Grenzüberschreitende Bildungsverläufe". Ihre Forschungsinteressen liegen in den Bereichen der qualitativen Methoden, Bildungsbiographie und Migration(en) sowie Geschlechterforschung. Sadrudin, Nadia absolvierte ihren Bachelor of Arts im Kernfach Anglistik, Profil British Studies. Ihren Master of Arts studierte sie im Fachgebiet Soziologie mit dem Profil Soziologie der globalen Welt sowie einer Vertiefung in Geschlechtersoziologie an der Universität Bielefeld. Ihre Interessensgebiete sind Geschlechter- und Migrationssoziologie sowie Einflüsse verschiedener kultureller Kontexte auf Frauen und Körperbilder. Aktuell ist sie ehrenamtliches Mitglied des AKEB (Agakhan Education Board) London. Yildiran, Ekin studied Business Administration at Middle East Technical University (METU). She studied also at Neu-Ulm University of Applied Sciences for one semester with the ERASMUS program. In 2013, she graduated with a high honour roll, and in the same year she was awarded with the master’s degree scholarship for Germany by Deutscher Akademischer Austauschdienst (DAAD) and Turkish Education Foundation (TEV). She is enrolled in MA Sociology – International Track at Bielefeld University. Yildiran’s academic interests centre on inequalities in higher education. For her master’s thesis, she currently investigates the dynamics of belonging and disciplinary boundaries at higher education institutions.

Science Studies Cheryce von Xylander, Alfred Nordmann (Hg.) Vollendete Tatsachen Vom endgültig Vorläufigen und vorläufig Endgültigen in der Wissenschaft März 2017, ca. 320 Seiten, kart., ca. 34,99 €, ISBN 978-3-8376-2542-4

Anna Froese, Dagmar Simon, Julia Böttcher (Hg.) Sozialwissenschaften und Gesellschaft Neue Verortungen von Wissenstransfer Februar 2016, 342 Seiten, kart., 39,99 €, ISBN 978-3-8376-3402-0

Manfred E.A. Schmutzer Die Wiedergeburt der Wissenschaften im Islam Konsens und Widerspruch (idschma wa khilaf) 2015, 544 Seiten, Hardcover, 49,99 €, ISBN 978-3-8376-3196-8

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Science Studies Diego Compagna (Hg.) Leben zwischen Natur und Kultur Zur Neuaushandlung von Natur und Kultur in den Technik- und Lebenswissenschaften 2015, 272 Seiten, kart., 33,99 €, ISBN 978-3-8376-2009-2

Thomas Etzemüller Auf der Suche nach dem Nordischen Menschen Die deutsche Rassenanthropologie in der modernen Welt 2015, 294 Seiten, kart., zahlr. z.T. farb. Abb., 29,99 €, ISBN 978-3-8376-3183-8

Anna-Sophie Jürgens, Tassilo Tesche (Hg.) LaborARTorium Forschung im Denkraum zwischen Wissenschaft und Kunst. Eine Methodenreflexion 2015, 336 Seiten, kart., zahlr. Abb., 34,99 €, ISBN 978-3-8376-2969-9

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Science Studies Wiebke Pohler Schär Innovationen in der Nanomedizin Eine ethnografische Studie Januar 2017, 292 Seiten, kart., zahlr. Abb., 39,99 €, ISBN 978-3-8376-3647-5

Christian Dieckhoff, Anna Leuschner (Hg.) Die Energiewende und ihre Modelle Was uns Energieszenarien sagen können – und was nicht November 2016, 170 Seiten, kart., 29,99 €, ISBN 978-3-8376-3171-5

Sabine Könninger Genealogie der Ethikpolitik Nationale Ethikkomitees als neue Regierungstechnologie. Das Beispiel Frankreichs August 2016, 344 Seiten, kart., 39,99 €, ISBN 978-3-8376-3286-6

Dania Achermann Institutionelle Identität im Wandel Zur Geschichte des Instituts für Physik der Atmosphäre in Oberpfaffenhofen Februar 2016, 312 Seiten, kart., zahlr. Abb., 39,99 €, ISBN 978-3-8376-3142-5

Christian Kehrt Mit Molekülen spielen Wissenschaftskulturen der Nanotechnologie zwischen Politik und Medien 2015, 276 Seiten, kart., zahlr. z.T. farb. Abb., 39,99 €, ISBN 978-3-8376-3202-6

Hildegard Matthies, Dagmar Simon, Marc Torka (Hg.) Die Responsivität der Wissenschaft Wissenschaftliches Handeln in Zeiten neuer Wissenschaftspolitik 2015, 268 Seiten, kart., 29,99 €, ISBN 978-3-8376-3298-9

Christian Dieckhoff Modellierte Zukunft Energieszenarien in der wissenschaftlichen Politikberatung 2015, 284 Seiten, kart., 34,99 €, ISBN 978-3-8376-3097-8

Fabian Karsch Medizin zwischen Markt und Moral Zur Kommerzialisierung ärztlicher Handlungsfelder 2015, 256 Seiten, kart., zahlr. Abb., 32,99 €, ISBN 978-3-8376-2890-6

Matthias Groß Experimentelles Nichtwissen Umweltinnovationen und die Grenzen sozial-ökologischer Resilienz 2014, 202 Seiten, kart., 29,99 €, ISBN 978-3-8376-2855-5

Gert Dressel, Wilhelm Berger, Katharina Heimerl, Verena Winiwarter (Hg.) Interdisziplinär und transdisziplinär forschen Praktiken und Methoden 2014, 366 Seiten, kart., 34,99 €, ISBN 978-3-8376-2484-7

Oliver Ibert, Felix C. Müller, Axel Stein Produktive Differenzen Eine dynamische Netzwerkanalyse von Innovationsprozessen 2014, 234 Seiten, kart., 32,99 €, ISBN 978-3-8376-2699-5

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