Das Reich der Normen 9783495860755, 9783495485118


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Table of contents :
Inhalt
Vorrede
1. Allgemeine Normenlehre
2. Verbindlich geltende Normen
2.1 Evidenz
2.2 Recht
2.2.1 Die Quellen des Rechts
2.2.2 Das Gefühl in anthropologischer und ontologischer Sicht
2.2.3 Die Gefühlsbasis des Rechts
2.2.4 Der Rechtszustand
2.2.5 Die Rechtsordnung
2.2.6 Das Rechtsvolk
2.2.7 Die Rechtskultur
2.2.8 Die Rechtsfindung
2.2.9 Die Strafe
2.2.10 Das Unrecht des Verbrechens
2.2.11 Freiheit als Voraussetzung der Schuld
2.2.12 Die Schuld des Verbrechers
2.3 Die Moral
2.4 Die Religion
2.4.1 Göttliche Atmosphären
2.4.2 Götter
2.4.3 Gott
2.4.4 Epigonale Religion
2.5 Ästhetoide Normen
2.5.1 Ästhetische Normen
2.5.2 Werte
2.5.3 Gesundheit
3. Unverbindlich geltende Normen
3.1 Die Sprache
3.1.1 Sprache und Rede
3.1.2 Formanten
3.1.3 Der Spracherwerb
3.1.4 Der Ursprung der Sprache
3.1.5 Typen von Sprachen
3.1.6 Sinn
3.2 Institutionen und Organisationen
3.3 Der Staat
3.3.1 Der Staat als Zwecksetzungsorganisation
3.3.2 Diachrome Verfassungslehre
3.3.2.1 Die Verfassung
3.3.2.2 Der antike (imperiale) Staat
3.3.2.3 Der Staat des Mittelalters
3.3.2.4 Souveränität und Gewaltenteilung
3.3.2.5 Der moderne Parteienstaat
3.3.3 Staat und Recht
3.4 Das Geld
3.4.1 Begriff des Geldes
3.4.2 Quantifizierung des Geldes
3.4.3 Kritik der Wirtschaftswissenschaft
3.4.4 Dynamik des Geldes
3.4.5 Kredit, Zins und Profit
3.5 Institutionen der Macht
Personenregister
Sachregister
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Das Reich der Normen
 9783495860755, 9783495485118

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Hermann Schmitz

Das Reich der Normen

VERLAG KARL ALBER

https://doi.org/10.5771/9783495860755

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B

Hermann Schmitz Das Reich der Normen

VERLAG KARL ALBER

A

https://doi.org/10.5771/9783495860755 .

Eine Norm ist ein Programm für möglichen Gehorsam. Das Buch betrifft außer der Evidenz die großen Lebensordnungen der Menschen, die teils Systeme einzelner Normen, teils ganzheitlich als Nomos sind. Am Anfang steht die allgemeine Normenlehre. Ihr folgt das Kapitel über verbindlich geltende Normen: Evidenz, Recht, Moral, Religion, ästhetische Normen, Werte. Außer bei der Evidenz ist hier die Autorität von Gefühlen maßgeblich. Das dritte Kapitel betrifft die unverbindlich geltenden Normen, nämlich die Sprache, Institutionen und Organisationen und die Institutionen der Macht: den Staat und das Geld, dieses im Gegenzug gegen die herrschende Wirtschaftswissenschaft. Der Autor: Hermann Schmitz, geb. 1928 in Leipzig, promoviert 1955, habilitiert 1958, 1971–1993 ordentlicher Professor für Philosophie an der Universität Kiel. Begründer der Neuen Phänomenologie, die bestrebt ist, die Abstraktionsbasis der Begriffsbildung tiefer in der unwillkürlichen Lebenserfahrung zu verankern. Seine systematischen und historischen Publikationen (46 Bücher, gegen 120 Aufsätze) sollen dazu dienen, den Menschen ihr wirkliches Leben begreiflich zu machen, indem nach Abräumung geschichtlich geprägter Verkünstelungen der Besinnung ein begrifflich gestützter Zugang zur unwillkürlichen Lebenserfahrung geöffnet wird.

https://doi.org/10.5771/9783495860755 .

Hermann Schmitz

Das Reich der Normen

Verlag Karl Alber Freiburg / München

https://doi.org/10.5771/9783495860755 .

Originalausgabe © VERLAG KARL ALBER in der Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau 2012 Alle Rechte vorbehalten www.verlag-alber.de Satz und PDF-E-Book: SatzWeise GmbH, Trier ISBN (Buch) 978-3-495-48511-8 ISBN (PDF-E-Book) 978-3-495-86075-5

https://doi.org/10.5771/9783495860755 .

Inhalt

Vorrede 1.

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7

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Allgemeine Normenlehre

2. Verbindlich geltende Normen . . . . . . . . 2.1. Evidenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2. Recht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.1. Die Quellen des Rechts . . . . . . . 2.2.2. Das Gefühl in anthropologischer und ontologischer Sicht . . . . . . . . . 2.2.3. Die Gefühlsbasis des Rechts . . . . . 2.2.4. Der Rechtszustand . . . . . . . . . . 2.2.5. Die Rechtsordnung . . . . . . . . . 2.2.6. Das Rechtsvolk . . . . . . . . . . . 2.2.7. Die Rechtskultur . . . . . . . . . . 2.2.8. Die Rechtsfindung . . . . . . . . . . 2.2.9. Die Strafe . . . . . . . . . . . . . . 2.2.10. Das Unrecht im Verbrechen . . . . . 2.2.11. Freiheit als Voraussetzung der Schuld 2.2.12. Die Schuld des Verbrechers . . . . . 2.3. Die Moral . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.4. Die Religion . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.4.1. Göttliche Atmosphären . . . . . . . 2.4.2. Götter . . . . . . . . . . . . . . . . 2.4.3. Gott . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.4.4. Epigonale Religion . . . . . . . . . . 2.5. Ästhetoide Normen . . . . . . . . . . . . . 2.5.1. Ästhetische Normen . . . . . . . . . 2.5.2. Werte . . . . . . . . . . . . . . . . 2.5.3. Gesundheit . . . . . . . . . . . . .

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49 59 73 78 88 91 97 104 112 120 133 140 149 149 170 178 182 188 188 192 198

5 https://doi.org/10.5771/9783495860755 .

Inhalt

3. Unverbindlich geltende Normen . . . . . . . . . 3.1. Die Sprache . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1.1. Sprache und Rede . . . . . . . . . . . . 3.1.2. Formanten . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1.3. Der Spracherwerb . . . . . . . . . . . . 3.1.4. Der Ursprung der Sprache . . . . . . . . 3.1.5. Typen von Sprachen . . . . . . . . . . . 3.1.6. Sinn . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2. Institutionen und Organisationen . . . . . . . . 3.3. Der Staat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.3.1. Der Staat als Zwecksetzungsorganisation 3.3.2. Diachrone Verfassungslehre . . . . . . . 3.3.2.1. Die Verfassung . . . . . . . . . 3.3.2.2. Der antike (imperiale) Staat . . . 3.3.2.3. Der Staat des Mittelalters . . . . 3.3.2.4. Souveränität und Gewaltenteilung 3.3.2.5. Der moderne Parteienstaat . . . 3.3.3. Staat und Recht . . . . . . . . . . . . . 3.4. Das Geld . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.4.1. Begriff des Geldes . . . . . . . . . . . . 3.4.2. Quantifizierung des Geldes . . . . . . . 3.4.3. Kritik der Wirtschaftswissenschaft . . . . 3.4.4. Dynamik des Geldes . . . . . . . . . . . 3.4.5. Kredit, Zins und Profit . . . . . . . . . . 3.5. Institutionen der Macht . . . . . . . . . . . . .

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207 207 207 224 230 235 249 259 275 281 281 287 287 289 292 295 303 314 316 316 325 328 333 337 339

Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Sachregister

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6 https://doi.org/10.5771/9783495860755 .

Vorrede

Eine Norm ist ein Programm für möglichen Gehorsam. Der Mensch kann nicht anders als unter Normen leben, weil er in Situationen lebt, in denen Programme enthalten sind, die seine Gefolgschaft herausfordern. Das gilt schon für das elementare affektive Betroffensein in Lust und Leid, wofür ich auf mein Buch Bewusstsein S. 111 f. verweise, und noch für das entspannteste Genießen, das der Verlockung zur Hingabe gehorcht. Über solche zerstreuten und augenblicklichen An- und Aufregungen hinweg zieht sich das Reich der Normen zu großen Lebensordnungen mit langer Tradition zusammen. Diesen großen Ordnungen ist dieses Buch hauptsächlich gewidmet. Es beginnt mit der allgemeinen Normenlehre, die auf knappem Raum die Grundbegriffe über Normen überhaupt und ihre Geltung sowie die formalen Gesichtspunkte für die Einteilung in Normtypen bereitstellt. Die wichtigste Einteilung, nach der sich der Aufbau des Buches richtet, ist die in verbindlich oder unverbindlich geltende Normen. Die Behandlung der verbindlich geltenden Normen beginnt mit der Evidenz, die den Menschen die Erfahrung der Tatsächlichkeit gibt. Nur Windelband und Rickert haben bisher gesehen, dass sie normativ ist. Diese für menschliches Erkennen nicht nur, sondern Überlebenkönnen grundlegende Erfahrung ist in diesem Buch das einzige Thema, das nicht eine Lebensordnung, sondern ein Ereignis betrifft. Die folgende Darstellung großer Lebensordnungen im Gebiet verbindlicher Normgeltung – Recht, Moral, Religion, ästhetische Normen, Werte – verbessert meine früheren Darstellungen dieser Themen; ich erwähne besonders den Abschnitt über Freiheit (2.2.11), der mir als Rekapitulation dieses von mir vielfach behandelten Themas besonders eingängig gelungen scheint, und dem über Gesundheit (2.5.3). Das folgende Kapitel über unverbindlich geltende Normen enthält wichtige neue Ergebnisse in Fortführung früherer Darlegungen zu den großen Lebensordnungen Sprache, Staat und Geld; auch der kurze Abschnitt 7 https://doi.org/10.5771/9783495860755 .

Vorrede

über Institutionen und Organisationen verdient einen Hinweis auf seine Begriffsklärungen. Die Art und Weise, wie ich an die Lebensgebiete herantrete, ist wie stets die phänomenologische, über die ich mich in meinem Büchlein Kurze Einführung in die Neue Phänomenologie geäußert habe: der Versuch, immer auf die unwillkürliche Lebenserfahrung – d. h. auf das, was Menschen merklich widerfährt, ohne dass sie es sich absichtlich zurechtgelegt haben – zurückzugehen und alle Konstrukte daran zu messen. Auf Recht, Moral, Religion und ästhetische Normen lässt sich diese Methode voll anwenden; für sie besteht die unwillkürliche Lebenserfahrung in der Autorität von Gefühlen. Sie passt auch auf die Sprache, nicht ebenso glatt aber auf Staat und Geld, die Institutionen der Macht, denn die haben sich die Menschen ja irgendwie absichtlich zurechtgelegt, aber nicht frei konstruierend, sondern mit ihren Konstruktionen hineingeraten in etwas, das ihnen widerfuhr, von dem sie sich aber nur unzulänglich Rechenschaft geben konnten. Hier ist es meine Aufgabe, treffende Begriffe in scharfe Definitionen zu fassen und von da aus die Thematik an Hand empirischer oder auch historischer Gegebenheiten zu durchdringen. Es trifft sich gut, dass, während ich dieses abschließe, ein anderes Buch von mir mit dem Titel »Der Leib« kurz vor dem Erscheinen steht. Beide Bücher ergänzen sich. Aus dem Leib stammt das affektive Betroffensein, das Mitschwingen, die Empfänglichkeit für die binnendiffuse Bedeutsamkeit der Situationen und die Kraft, aus ihrer Fülle gestaltend zu schöpfen. Aus der Sprache, die in diesem Buch behandelt wird, stammt die Vereinzelung, die Fähigkeit, zu isolieren und zu kombinieren, Netze zu schaffen, aus denen einerseits wieder Situationen hervorgehen, andererseits Konstruktionen im leeren Raum. Die großen Lebensordnungen, die in diesem Buch behandelt werden, schützen zwar vor der Ausartung des konstruierenden Denkens und Tuns in Beliebigkeit, sind ihr aber auch ausgesetzt durch Preisgabe an die Arroganz der Setzungen, die Ansprüche auf absolute Geltung an die Stelle von Erfahrungen und Evidenzen treten lassen. Das Recht, die Religion, die Moral, der Staat sind seit Jahrtausenden Opfer solcher Setzungen geworden. Hier setzt die Phänomenologie an. Sie vollbringt das Werk kritischer Aufklärung, indem sie der Hybris der Setzungen die Erfahrungen entgegenhält, die von diesen Setzungen ausgenützt, überzogen und verdeckt werden. Den voreiligen Ansprüchen auf absolute Richtigkeit normativer Setzungen für immer und alle die Spitze zu nehmen, 8 https://doi.org/10.5771/9783495860755 .

Vorrede

ohne die Unbedingtheit dem bloß Beliebigen zu opfern, ist Aufgabe dieses Buches. Die Manipulation des affektiven Betroffenseins durch die Arroganz normativer Setzungen gipfelte in den Machenschaften totalitärer Parteien des 20. Jahrhunderts, die ich als Knabe unter der Herrschaft der Nationalsozialisten so eindringlich zu spüren bekam, dass ich mir (nicht gleich voll bewusst) das philosophische Ziel setzte, das Denken für die unwillkürliche Lebenserfahrung begriffsfähig zu machen, um das affektive Betroffensein vor solcher Vergewaltigung besser schützen zu können. Dazu gehört ein geklärtes Verhältnis zur Macht; deshalb bedürfen der Staat und das Geld, die wichtigsten Institutionen der Macht, philosophischer Reflexion in besonderem Maße, wozu dieses Buch beitragen möge. Inzwischen scheint die Versuchung, das affektive Betroffensein massenhaft für überzogene Ansprüche auf absolute Geltung zu mobilisieren, ihre Kraft verloren zu haben, als sei ein Gewitter abgezogen. Statt dessen scheint die Perfektion der Beliebigkeit des Wählens der Bahn des eigenen Weges in einem riesigen Schienennetz von Angeboten den Mut zum Unbedingten, die aus leiblicher Empfänglichkeit stammende Gestaltungskraft, zu lähmen. Der Menschheit droht eine Versteifung, die kein Schöpfen aus dem Vollen noch ungeformter Möglichkeiten mehr zulässt. Das Seil einer ohne neue Inhalte sich immer mehr verdichtenden Kommunikation schlingt sich um die Hälse der Menschen und nimmt ihnen den langen Atem. Das affektive Betroffensein bedarf nun eines anderen Schutzes als noch in meiner Knabenzeit: nicht mehr des Schutzes gegen die Verschwendung im Dienst überzogener normativer Geltungsansprüche, sondern des Schutzes gegen die Verschüttung durch überwuchernde Konstruktionen, die die aus dem leiblich-affektiven Betroffensein reaktiv entspringende Gestaltungskraft, das Formen von Situationen, ersticken. Abermals ist dazu eine Besinnung erforderlich, die das konstruierende Denken auf die es tragenden unwillkürlichen Erfahrungen zurücklenkt. Das ist Phänomenologie, das ist die Aufgabe, die ich mir gestellt habe. Hermann Schmitz

9 https://doi.org/10.5771/9783495860755 .

https://doi.org/10.5771/9783495860755 .

1. Allgemeine Normenlehre

Eine Norm ist ein Programm für möglichen Gehorsam. 1 Ein Programm ist eine Richtlinie für die Eigenführung eines Bewussthabers. Eigenführung ist das Gegenteil von Fremdführung durch eine dem Geführten nicht zugehörige Macht. Eine Macht ist Steuerungsfähigkeit, d. h. das Vermögen, einen Vorrat beweglicher Etwasse in Bewegung zu setzen, die Bewegung im Verlauf zu führen und anzuhalten, sowie der Träger solcher Macht, der sie ausübt. Die Eigenführung kann willkürlich und unwillkürlich sein. Das Programm verlangt von ihr einen Impuls, dessen Erfolg aber vereitelt werden kann. Es betrifft entweder das Verhalten des Bewussthabers und ist dann eine Norm oder sein affektives Betroffensein und ist dann ein Wunsch. Ein Wunsch ist ein Programm der Verpfändung des affektiven Betroffenseins von jemand an die Realisierung (Vertatsächlichung) eines Sachverhaltes in der Weise, dass die Realisierung ihm lustvoll nahe geht, Ausbleiben der Realisierung dagegen leidvoll, und zwar in Kraft schon bestehender entsprechender Verteilung seines affektiven Betroffenseins in Lust und Leid auf die betreffenden Vorstellungen und verbunden mit seiner Unkenntnis über die Entscheidung der Alternative; diese Entscheidung darf aber schon gefallen sein. Eine Norm kann einzeln sein. Einzeln ist, was eine Anzahl um 1 vermehrt oder – logisch gleichwertig 2 – Element einer endlichen Menge ist. Es gibt aber unzählig viele Normen, die nicht einzeln, sondern in Alle sprachüblichen Redeweisen über Normen, insbesondere Gebrauchs- und Idealnormen und Direktiven aller Art, passen unter diesen Begriff, nur nicht immer die Verwendung von »normal« im Sinn von »gewöhnlich«, wohl aber, wenn sie etwa als Tadel gemeint ist wie in der Wendung: »Du bist wohl nicht mehr ganz normal.« 2 Jedes Element einer endlichen (nicht: einer unendlichen) Menge vermehrt deren Anzahl um 1, und alles, was eine Anzahl um 1 vermehrt, ist Element einer endlichen Menge, nämlich mindestens derjenigen, deren einziges Element es selber ist (der Menge dessen, was mit ihm identisch ist) 1

11 https://doi.org/10.5771/9783495860755 .

Allgemeine Normenlehre

die binnendiffuse Bedeutsamkeit einer Situation eingeschmolzen sind. Eine Situation ist Mannigfaltiges, das zusammengehalten und nach außen mehr oder weniger markant abgehoben wird durch eine binnendiffuse Bedeutsamkeit aus Bedeutungen, die Sachverhalte, Programme oder Probleme sind. Ein Sachverhalt ist etwas, das sich vorsprachlich (d. h. unabhängig davon, ob gesprochen wird) dazu eignet, so in Frage zu stehen (zum Problem zu werden), dass eine zutreffende oder unzutreffende Entscheidung der Frage nicht ausgeschlossen ist, wobei über das Zutreffen das Sein (die Wirklichkeit) entscheidet. So ist z. B. eine grüne Wiese nichts, das in Frage stehen kann, wohl aber der Sachverhalt, dass sie grün ist, sowohl, wenn sie wirklich grün ist, als auch, wenn sie gelb und verdorrt ist. Ein theoretisches Problem ist das zugehörige wirkliche Infragestehen; ein praktisches Problem gleicht dem theoretischen mit der Ausnahme, dass die entscheidende Instanz nicht das Sein, sondern das Gelten eines Programms für jemand ist. Ein Problem ist ein theoretisches oder praktisches Problem. Die Bedeutsamkeit einer Situation ist binnendiffus in dem Sinn, dass nicht alle (sehr oft gar keine) Bedeutungen in ihr einzeln sind. Dramatische Beispiele sind schlagartig erfasste akute Gefahren, die sofort bewältigt werden müssen, wenn kein Unglück geschehen soll. Dann bleibt keine Zeit zur vollständigen Vereinzelung der relevanten Sachverhalte, der Programme möglicher Rettung und der Probleme des zunächst drohenden Unglücks und weiterer, die bei ungeschickter Reaktion hinzukommen könnten, aus der binnendiffusen Bedeutsamkeit der Gefahrensituation, und doch muss die ganze Bedeutsamkeit mit allen diesen Bedeutungen schlagartig erfasst und berücksichtigt werden, damit das Entkommen aus der Gefahr gelingt. Weitere Beispiele sind für Sachverhalte und Programme glatt ablaufende zweckmäßige Körperbewegungen, die von einer Situation mit binnendiffuser Bedeutsamkeit geführt werden müssen, damit sie weder in Apraxie entgleiten noch steif und zögerlich ausgeführt werden, und für Probleme und Programme Schäden, nach deren Quelle gesucht werden muss, wie bei einer aus unklarer Ursache im Ablauf gestörten Maschine und bei Neurotikern, deren Störungen auf verdeckte Konflikte sich durchkreuzender Programme zurückgehen. Diese Beispiele erweisen, dass Sachverhalte, Programme und Probleme in der Tat vorsprachlich im angegebenen Sinn vorkommen. Der Nachweis wird im folgenden Kapitel (2.1) ausgebaut werden. Für die Normenlehre ist es wichtig, den Anteil der Programme an der binnendiffusen Bedeutsamkeit von Situationen besonders hervor12 https://doi.org/10.5771/9783495860755 .

Allgemeine Normenlehre

zuheben. Daher definiere ich: Ein Nomos ist der Gehalt einer Situation an Programmen (Normen und Wünschen). Die angeführten Beispiele betrafen aktuelle Situationen. Eine Situation ist aktuell, wenn ihr Verlauf in beliebig kurzen Abständen verfolgt werden kann. Nicht geringer ist der Anteil des Nomos an zuständlichen Situationen, d. h. solchen, die erst nach längeren Fristen eine sinnvolle Prüfung gestatten, ob sich etwas und, wenn ja, was sich verändert hat (abgesehen von plötzlichen Umschlägen in aktuellen Ausnahmesituationen, z. B. bei radikaler Entlarvung einer grundlegenden Illusion). Von dieser Art zuständlicher Situationen sind komplexe Standpunkte, z. B. das Christentum oder vielmehr eines der vielen geschichtlichen Christentümer. Der Christ weiß habituell, was er glaubt, wie er sich zu verhalten hat, was er hofft und worum er sich sorgt; diese Sachverhalte, Programme und Probleme sind ihm ohne Aufzählung in binnendiffuser Geschlossenheit bewusst. Ein anderes Beispiel ist eine gesprochene Sprache, eine zuständliche Situation, die bloß in einem Nomos aus Normen besteht. Diese Normen sind die Sätze, die Rezepte für Sprüche. Diese Rezepte liegen in der Sprache dem kompetenten Sprecher nicht einzeln vor, wie dem Koch seine Kochrezepte vor dem kochenden Gehorsam, sondern als ganzheitliche, binnendiffuse Bedeutsamkeit, in die der Sprecher blind (ohne Musterung des Vorrats), aber treffsicher so hineingreift, dass er ihnen gemäß die zu seiner Sprechabsicht passenden Sprüche formen kann. Eine solche Situation wie eine Sprache ist segmentiert, d. h. sie kommt nie in einem Augenblick ganz zum Vorschein. Situationen, die nicht segmentiert sind, sondern wie schlagartig erfasste akute Gefahren ihre Bedeutsamkeit augenblicklich ganz darbieten, sind impressiv oder vielsagende Eindrücke. Eine wichtige Untergattung der Normen sind die Regeln. Eine Regel ist eine Norm, die offen lässt, wie oft ihr gehorcht werden kann. Viele Regeln sind einzeln, aber zum größten Teil sind sie eingeschmolzen in den Nomos von Situationen wie die Sätze der Muttersprache. Einzeln werden sie dann dadurch, dass sie sprachlich aus der binnendiffusen Bedeutsamkeit entbunden werden. Schon vorher können sie das Verhalten führen. Die Problematik eines gleichsam stotternden Vorauswissens bei der Regelbefolgung, an der sich Wittgenstein und als dessen Interpret Kripke abgemüht haben, ist daher an den Haaren herbeigezogen. Von den Normen sind die Appelle zu unterscheiden. Ein Appell ist 13 https://doi.org/10.5771/9783495860755 .

Allgemeine Normenlehre

die empfehlende oder befehlende Mitteilung von Normen in einem Medium, namentlich durch Stimme oder Schrift. Eine Norm ist ein Programm für möglichen Gehorsam. Damit sie zum Programm für wirklichen Gehorsam wird, muss sie gelten. Von den bloßen Normen komme ich daher jetzt zur Geltung. Eine Norm gilt für jemand, d. h. in seiner Perspektive, wenn er zum Gehorsam gegen sie oder einen Nomos, aus dem sie expliziert werden kann, entweder bereit ist oder sich solcher Bereitschaft wenigstens nicht nach Belieben entziehen kann. Außer der Geltung in der Perspektive von jemand gibt es noch eine andere Art der Geltung für jemand, nämlich für ihn als Adressaten der Norm. Beides braucht nicht zusammenzufallen. In der Perspektive anständiger Menschen gilt die Norm, dass alle Menschen anständig sein sollen, aber nicht alle Menschen haben diese Perspektive. In der Perspektive gläubiger Christen gilt die Norm, dass alle Menschen Christen sein sollen, auch die Moslems, die deswegen missioniert werden, aber die teilen diese Perspektive nicht und fühlen sich belästigt. Der Kreis der Adressaten kann also größer sein als derjenige der Menschen, in deren Perspektive die Norm gilt. Ich bezeichne diese Menschen als Sichthaber der betreffenden Geltung statt (ohne Neologismus) als Inhaber, weil man mit diesem Wort die hier abwegige Vorstellung einer Verfügungsgewalt verbinden könnte. Das Gelten einer Norm für jemand im zweiten Sinn, für ihn als Adressaten, ist unabdingbar an das Gelten für jemand im ersten Sinn, in dessen Perspektive, gebunden. Man hat diese perspektivische Relativität jedes Geltens oft verkannt, namentlich in allen Ideologien, die auf absolute Geltung ihrer Normen pochen, und in der Morallehre, z. B. von Kant und Scheler. Solche Absolutisten sprechen, als seien ihre Vorschriften über jeden besonderen Standpunkt erhaben, und doch nur aus ihrer persönlichen Perspektive, Kant z. B., indem er an die ihm vertraute moralische Sensibilität, die leider nicht alle teilen, appelliert. Die Strafe für diese anmaßende Ausnützung der zweideutigen Rede von Geltung für jemand ist das Verfallen in den sogenannten naturalistischen Fehlschluss vom Sein auf das Sollen. Man beruft sich auf eine angeblich unbestreitbare Tatsache, Kant etwa auf das Faktum der Vernunft, und schließt daraus mit einem logischen Sprung auf das Gelten einer Norm, unabhängig von jeder Perspektive. Das perspektivische Gelten in meinem Sinn ist dagegen selbst eine empirisch prüfbare Tatsache ohne Sprung vom Sein zum Sollen. Mit dieser Relativierung will ich keiner ängstlichen Zurückhal14 https://doi.org/10.5771/9783495860755 .

Allgemeine Normenlehre

tung das Wort reden. Es geht nicht darum, Moral zur Privatsache zu machen. Das wäre ein ebenso großer Fehler wie das naive Pochen auf absolute Geltung. Der anständige Mensch hat alles Recht, Anstand von allen Menschen zu verlangen und sie, wenn sie nicht wollen, zu schelten oder, wenn er die Macht hat, zu strafen, aber er hat es nur in seiner Perspektive. Wenn unverträgliche Perspektiven zusammentreffen, drohen im schlimmsten Fall unversöhnliche Konflikte, die aber bei gutem Willen oft umgangen werden können, weil die Situationen, die über die Perspektive bestimmen, dehnbar und für Verständigung im gegenseitigen Lernen zugänglich sind. Obendrein führt die Relativierung nicht immer zu einer Partikularisierung der Geltung. Eine Norm kann in der Perspektive jedes Menschen gelten. Bei logischen Schlussregeln scheint das der Fall zu sein. Wer die beiden Sätze »Alle Menschen sind sterblich« und »Caius ist ein Mensch« für wahr hält und Wahres erschließen will, darf nicht schließen, dass Caius nicht sterblich ist, sondern nur das Gegenteil. Entsprechend verhält es sich mit den Sätzen »Wenn ich lebe, habe ich ein Herz«, »Ich lebe«, »Ich habe (k)ein Herz«. Jeder, der den Sinn der Worte versteht, muss diese Verbote für sich gelten lassen. Im Fall der Moral ist die Lage leider nicht so einfach. Von der Geltung im Allgemeinen komme ich nun zu den Arten der Geltung. Die oberste Einteilung ist die in automatische und flexible Geltung. Die Geltung von Normen ist für den Sichthaber automatisch, wenn ihm in seiner Perspektive kein Spielraum zur Abweichung vom Gehorsam bleibt, z. B. bei Säuglingen und Tieren. Ihnen ist jedes Programm im Nomos von Situationen gebunden und noch keine Norm einzeln geworden; daher fehlt ihnen die Fähigkeit zur Kritik als Stellungnahme zu einzelnen Normen. Auch für den Erwachsenen ist die Geltung von Normen automatisch, wenn sie ihm durch einen Reiz oder ein Thema, die ihn so faszinieren und hinreißen, dass er die Fähigkeit zur Kritik verliert, vermittelt wird. Dann ist es aber immer noch sein eigener Impuls, der ihn führt, indem er mitmacht und zustimmt; er wird nicht mechanisch getrieben und gezogen wie von einem Orkan. Also gehorcht er immer noch einem Programm, einer Richtlinie der Eigenführung. Alternativ zur automatischen Geltung ist die flexible. Flexibel ist die Geltung einer Norm für den Sichthaber, wenn er in seiner Perspektive einen Spielraum hat, dem Gehorsam auszuweichen. Dabei kommt es nicht darauf an, ob dieser Spielraum tatsächlich besteht. Nach dem 15 https://doi.org/10.5771/9783495860755 .

Allgemeine Normenlehre

Dogma des allgemeinen Determinismus hat niemand jemals einen Spielraum seines Verhaltens. Damit habe ich mich an anderen Stellen kritisch beschäftigt 3 ; hier brauche ich nicht darauf einzugehen. Es genügt, dass der Sichthaber in seiner Sicht einen Spielraum hat. Flexible Geltung einer Norm ist für den Sichthaber entweder unverbindlich oder verbindlich. Sie ist unverbindlich, wenn es bloß von seinem Belieben abhängt, ob die Norm in seiner Perspektive für ihn gilt. Der Beispiele sind unzählige, z. B. Kochrezepte, Spielregeln und irgend welche Zwecke, die sich jemand nach Belieben setzt und wieder fallen lassen kann. Ein Zweck ist eine Norm der Realisierung, d. h. Vertatsächlichung, eines Sachverhaltes durch die Adressaten dieser Norm, zu denen mindestens der Sichthaber (oft er allein) gehört, wenn er sich den Zweck mit unverbindlicher Geltung setzt. Jedes Mitmachen in irgend welchen Betriebsabläufen aus bloßer Gewohnheit oder Opportunität folgt unverbindlich geltenden Normen. Verbindlich gilt eine Norm für jemand, dem sie die Bereitschaft zum Gehorsam exigent abnötigt. Die Nötigung ist exigent, wenn der Genötigte dem Gehorsam zwar ausweichen kann, aber nur zwiespältig, halbherzig, befangen, unsicher, nicht in voller Übereinstimmung mit sich. Ermöglicht wird solcher Zwiespalt durch einen Typ von Mannigfaltigkeit, der sich sowohl vom numerischen Mannigfaltigen (aus lauter Einzelnem, das nichts als es selbst ist) als auch vom chaotischen Mannigfaltigen (in dem es an Einzelheit, eventuell auch an Identität und Verschiedenheit fehlt), unterscheidet. Das zwiespältige Mannigfaltige – ich habe es auch »instabil«, »ambivalent«, »multivalent« genannt – besteht aus Einzelnem wie das numerische, hat aber im Gegensatz zu diesem eine Schwierigkeit mit der Identität: Es steht nicht fest, womit es identisch ist, weil mehrere verschiedene Sachen (im allgemeinsten Sinn von »etwas überhaupt«) um Identität mit ihm konkurrieren; in diesem Sinne ist es mannigfaltig. Statt der etwas abseitigen Beispiele, die ich auch angegeben habe 4 , berufe ich mich jetzt auf Freiheit, Freiburg i. Br./München 2007, S. 88–94, verbessert in: Jenseits des Naturalismus, ebd. 2010, S. 54, und s. u. 2.2.11 4 Husserl’sche Puppe (Schrödinger’sche Katze), kapierter Witz, Wasserfallillusion, vgl. zuletzt von mir: Bewusstsein, Freiburg i. Br./München 2010, S. 70–74. Eine gute Charakteristik zwiespältiger Mannigfaltigkeit entwickelt E. T. A. Hoffmann (Prinzessin Brambilla, 7. Kapitel) am phantastischen Beispiel zweier Prinzen, die siamesische Zwillinge sind: »War der eine Prinz traurig, so war der andere lustig, wollte der eine sitzen, so wollte der andere laufen, genug – nie stimmten ihre Neigungen überein. Und dabei 3

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ein Beispiel, das jeder am eigenen Leben nachprüfen kann. Er hat jedenfalls verschiedene Lebensphasen durchlaufen. Ich bin ein Mann, der einmal ein Säugling war, dann ein Kind, ein Mann in den besten Jahren und dergleichen mehr. Jetzt bin ich ein alter Mann. Das sind viele, deutlich unterschiedene Individuen, und doch bin ich sie alle. Sie konkurrieren um Identität mit mir. Im Fall des Zwiespalts bei exigenter Nötigung konkurrieren nicht verschiedene Individuen, sondern verschiedene unvereinbare Zustände um Identität mit dem Zustand des Zwiespältigen. Das ist der Fall, wenn jemand gleichsam neben oder über sich steht, z. B. in heftigem Zorn oder anderer Erregung sich kühl kontrolliert, wenn er in der Scham, die er nicht los wird, sich selbst belächelt 5 , humorvoll leidet, sich über sich selbst ärgert usw. Bei einer anderen Art von Zwiespalt entfällt solche Überlegenheit, wenn nämlich jemand etwas sich vormacht, sich über sein schlechtes Gewissen oder sonstiges affektives Betroffensein hinwegzusetzen versucht, es vor sich selbst zu verbergen sucht usw. Von dieser Art ist der zwiespältige Spielraum, der dem exigent Genötigten zum Ausweichen vor der für ihn verbindlichen Geltung einer Norm bleibt. Er kommt auf beide Weisen vor, meist aber wohl ohne das Darüberstehen. In beiden Fällen kann der Sichthaber der ihm verbindlich geltenden Norm seine Bereitschaft nicht nach Belieben verweigern. Die verbindliche Geltung einer Norm für den Sichthaber beruht gewöhnlich auf einer Autorität. Autorität ist die Macht, einem Betroffenen die verbindliche Geltung einer Norm oder eines Nomos in seiner Perspektive so aufzuerlegen, dass ihm die Auferlegung durch diese Macht unverkennbar ist. Sie bewegt ihn zu einhelligen oder im angegebenen Sinn zwiespältigen Stellungnahmen. Es gibt zwei Arten von Autorität: die in der Evidenz offenbar werdende Autorität des Seins, konnte man durchaus nicht behaupten, der eine sei dieser, der andere jener bestimmten Gemütsart, denn in dem Widerspruch eines ewigen Wechsels schien die eine Natur hinüberzugleiten in die andere, welches wohl daher kommen musste, dass sich, nächst dem körperlichen Zusammenwachsen, auch ein geistiges offenbarte, das eben den größten Zwiespalt verursachte. Sie dachten nämlich in die Quere, so dass keiner jemals recht wusste, ob er das, was er gedacht, auch wirklich selbst gedacht oder sein Zwilling; und heißt das nicht Konfusion, so gibt es keine. Nehmt ihr nun an, dass einem Menschen solch ein in die Quere denkender Doppelprinz im Leibe sitzt, als materia peccans: so habt ihr die Krankheit heraus, von der ich rede und deren Wirkung sich vornehmlich dahin äußert, dass der Kranke aus sich selber nicht klug wird.« 5 Im Godwi von Clemens Brentano heißt es über Haltung und Ausdruck einer Statue: »Sie schämt sich, ihrer Nacktheit sich zu schämen.«

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die einen Sachverhalt als Tatsache auszeichnet, und die Autorität der Gefühle, die auf autorisierte Träger (z. B. Menschen, Götter, Fahnen) übergehen kann, gleichsam von den an ihnen verdichteten Gefühlen geliehen. Auf der Autorität der Gefühle beruht die verbindliche Geltung rechtlicher, moralischer und religiöser Normen sowie der intimen erotischen Normen in einem Liebesverhältnis von hinlänglicher Tiefe. Während die Autorität des Seins in der Evidenz für alle Menschen in deren Perspektive die verbindliche Geltung von Normen stiftet, gelten die von der Autorität der Gefühle mit verbindlicher Geltung bewaffneten Normen nicht ebenso homogen; denn die Macht der Gefühle beruht auf der Ergriffenheit von ihnen, und darin unterscheiden sich Individuen wie Kollektive. Die verbindliche Geltung von Normen oder eines Nomos, und entsprechend die sie stiftende Autorität, kommt in zwei Stufen vor: als Verbindlichkeit (bzw. Autorität) mit bedingtem oder mit unbedingtem Ernst. Dieser Unterschied beruht darauf, dass die Person auf verschiedenen Niveaus personaler Emanzipation stehen kann. Um zu erklären, worum es sich dabei handelt, muss ich kurz und stichwortartig auf die Grundlagen der Personalität eingehen, die ich seit 1980 (System der Philosophie Band IV: Die Person) vielfach erörtert habe, zuletzt knapp und in dem gegenwärtigen Stand meiner Überlegungen entsprechender Weise in Kurze Einführung in die Neue Phänomenologie (3. Auflage 2012) und Bewusstsein (2010). Identität (verstanden als absolute Identität, dieses und von anderem verschieden zu sein, noch nicht als relative Identität 6 ) und Subjektivität (in meinem Fall: ich zu sein) sind nicht selbstverständlich, sondern müssen dem verschwommenen Ergossensein in Dauer und Weite, dem gleitenden Dahinleben und Dahinwähren (etwa im Dösen oder in gedankenloser Routine), durch einen Einschnitt abgewonnen werden, der im plötzlichen Einbruch des Neuen Dauer zerreißt, Gegenwart exponiert und die zerrissene Dauer ins Vorbeisein (NichtmehrMan hat Identität immer nur als relative verstanden (als Beziehung der Identität von etwas mit etwas), obwohl relative Identität die absolute voraussetzt: Dass ein A mit einem B identisch ist, wird nur dadurch möglich, dass dieses Selbe sowohl ein Fall von A als auch ein Fall von B ist. Umgekehrt setzt absolute Identität nicht die relative voraus: Etwas kann es selbst (dieses selbst) und von anderem verschieden sein ohne Rücksicht darauf, womit es identisch ist (ohne als Fall mehrerer Gattungen in Betracht zu kommen). Im eben betrachteten instabilen oder zwiespältigen Mannigfaltigen ist die absolute Identität gestört, nur im Gefolge davon die relative.

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sein) verabschiedet. Diese Gegenwart ist die primitive, in der die fünf Momente hier, jetzt, sein, dieses, ich verschmolzen sind. Sie wird dem Betroffenen von der Engung in seinem vitalen Antrieb, in dem Engung und Weitung als Spannung und Schwellung verschränkt sind, vorgehalten. Diese Verschränkung spreizt sich auf zur leiblichen Kommunikation in der Einleibung, in der mehrere Teilnehmer (darunter auch leiblose, durch leibnahe Brückenqualitäten Leibern verbundene) durch einen gemeinsamen vitalen Antrieb zusammengeschlossen sind. So entsteht ein Leben aus primitiver Gegenwart, das Tiere und Säuglinge sowie Personen in flüssiger Routine und in Zuständen der Fassungslosigkeit führen. Es ist von der primitiven Gegenwart her mit absoluter Identität und Verschiedenheit ausgerüstet und dadurch vor Verwechslungen geschützt. Außerdem ist es voll von Situationen, die mit Rufen und Schreien angesprochen, heraufbeschworen, modifiziert und beantwortet werden. Ein ontologisch bedeutsamer Sprung entsteht, wenn menschliche, satzförmige Rede einzelne Bedeutungen aus der binnendiffusen Bedeutsamkeit der Situationen entbindet, darunter Sachverhalte, die Gattungen 7 , und solche, die die Bestimmtheit als Fall von Gattungen sind. Dadurch entstehen einzelne Sachen, indem sich absolute Identität mit Bestimmtheit als Fall von Gattungen bereiIn Bewusstsein (2010) S. 16–18 habe ich dem Begriff der Gattung eine mich jetzt völlig befriedigende Gestalt gegeben. Sie umfasst drei Vorklärungen: 1. den Begriff des Attributes: Attribut ist die Bestimmung einer Sache, wenn sie für deren Identität von Bedeutung ist, so dass eine Sache, die das Attribut nicht besitzt, nicht diese sein könnte. Daraus folgt, dass jede Sache ihre Attribute mit logischer Notwendigkeit besitzt. (Das gilt allerdings nur, sofern der Besitz eine objektive Tatsache ist, die jeder aussagen kann, wenn er genug weiß und gut genug sprechen kann, s. u. 2.1). 2. den Begriff der logischen Folge. 3. den Verweis auf meinen Nachweis, dass es korrekt ist, Existenz direkt von der Sache, die als existierend ausgegeben wird, zu prädizieren. Darauf habe ich definiert: »Wenn für einen Gegenstand G die Behauptung, dass G existiert, für ein Attribut a (falls G nicht existiert: für ein Attribut a von G) die Behauptung, dass mindestens ein Gegenstand mit dem Attribut a existiert, zur logischen Folge hat und diese Behauptung einen tatsächlichen oder untatsächlichen Sachverhalt S darstellt, dann ist G ein Fall von S und S eine Gattung von G.« Die Einführung der Existenz in die Definition ist dadurch begründet, dass Existenz als das fundamentale Existenz-Inductivum kein Attribut ist, s. u. 2.1 und Kurze Einführung in die Neue Phänomenologie S. 57–60. Der Klammerzusatz »(falls G nicht existiert: für ein Attribut a von G)« geht darauf zurück, dass, wenn G nicht existiert, diese Tatsache zusammen mit der Behauptung, dass G existiert, einen Widerspruch erzeugt, aus dem jeder beliebige Satz, also auch jeder partikulär quantifizierte, logisch folgt, so dass dann G zum Fall jeder beliebigen Gattung würde, wenn dem nicht durch den Klammerzusatz vorgebeugt wird.

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chert. 8 Dank dieser Vereinzelung entfalten sich die fünf in der primitiven Gegenwart verschmolzenen Momente zur Welt als dem Rahmen oder Feld möglicher Vereinzelung: Das Hier der Enge, der absolute Ort, wird zum Ortsraum, wo etwas an relativen Orten mit Lagen und Abständen untergebracht sein kann; das Jetzt des Plötzlichen, der absolute Augenblick, entfaltet sich zum System relativer Augenblicke, zur modalen Lagezeit mit Fluss der Zeit; das abgerissene Sein der exponierten primitiven Gegenwart entfaltet sich zum Gegenteil des Nichtseins in dessen voller (nicht mehr auf den Abschied vom Nichtmehrseienden eingeschränkter) Breite; die absolute Identität entfaltet sich zur relativen, die eine Sache unter vielen Gesichtspunkten, in vielen Hinsichten, zu betrachten erlaubt; die Subjektivität, selbst betroffen zu sein, entfaltet sich zur Person mit Gegenüberstellung des Eigenen und Fremden. 9 Dazu kommt es in folgenden Schritten: Der erst nur absolut identische Bewussthaber des Lebens aus primitiver Gegenwart wird zum einzelnen Subjekt durch Selbstzuschreibung, sich als Fall von Gattungen aufzufassen, und damit zur Person, d. h. zum Bewussthaber mit Fähigkeit zur Selbstzuschreibung. Diese ist ein identifizierendes Sichbewussthaben, das zur Bereitstellung des Relats, womit die betreffenden Gattungsfälle identifiziert werden, eines nicht identifizierenden Sichbewussthabens bedarf, weil sonst durch fortlaufende Identifizierung nur Gattungen gehäuft würden, in denen der Bewussthaber keinen Grund zu der Annahme finden könnte, dass es sich um ihn selbst handelt. Dieses nicht identifizierende Sichbewussthaben wird bereitgestellt von den subjektiven Tatsachen seines affektiven Betroffenseins, die höchstens er im eigenen Namen aussagen kann. Um sich als den, für den sie subjektiv sind, identifizierungsfrei zu finden, bedarf er des Zusammenfalls von absoluter Identität und Subjektivität im Ereignis der primitiven Gegenwart, selbst betroffen zu sein. Die primitive Einzeln ist, was eine Anzahl um 1 vermehrt, d. h. Element einer endlichen Menge ist (s. o.). Mengen sind Mengen der …, d. h. Umfänge von Gattungen. Daher kann einzeln nur sein, was Fall einer Gattung ist. (Es ist nicht statthaft, Mengen anders, nämlich als Ganze mit Teilen, aufzufassen, denn die einzelnen Elemente einer Menge stehen fest, nicht aber die Teile eines Ganzen, das auf viele verschiedene Weisen eingeteilt werden kann.) 9 Zur Entfaltung der primitiven Gegenwart zur Welt vgl. Kurze Einführung in die Neue Phänomenologie S. 47–70, zur Zeit auch Jenseits des Naturalismus (Freiburg/München 2010) S. 24–37 8

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Gegenwart wird ihm im Leben aus primitiver Gegenwart vorgehalten durch die Engung im vitalen Antrieb. Selbstzuschreibung und Person sind also nur möglich durch Rückgang in das Leben aus primitiver Gegenwart (personale Regression). In Gegenrichtung führt die personale Emanzipation durch Neutralisierung von Bedeutungen aus dem Leben aus primitiver Gegenwart heraus. Im Leben aus primitiver Gegenwart sind alle Bedeutungen für jemand subjektiv, so dass höchstens er sie sagen (aussagen) kann. Im Zuge der Vereinzelung fällt diese Subjektivität teilweise ab. Übrig bleiben objektive oder neutrale Sachverhalte, Programme und Probleme, die jeder sagen kann, sofern er genug weiß und gut genug sprechen kann. Ihnen gegenüber gewinnt die Person den Spielraum zu unbefangenem Prüfen und Vergleichen, der ihr im affektiven Betroffensein von für sie subjektiven Bedeutungen versagt bleibt. Den neutralen Bedeutungen stehen die für die Person subjektiv gebliebenen mit breiten Grauzonen zur Neutralität hin gegenüber. Aus ihnen und den Sachen, die Fälle solcher subjektiv gebliebenen Bedeutungen vom Typ der Gattung sind, bildet sich eine Sphäre des Eigenen in Gestalt der zuständlichen persönlichen Situation (der Persönlichkeit) einer Person und ihrer persönlichen Eigenwelt gegenüber ihrer persönlichen Fremdwelt. Fremd wird etwas für die Person, wenn der (auch eventuell untatsächliche) Sachverhalt, dass es existiert, für sie neutral geworden ist; eigen bleibt oder wird es, sofern der betreffende Sachverhalt für sie subjektiv ist (wenn sie in Zuneigung oder Abwehr daran »hängt«). Die Grenze zwischen beiden Teilwelten der persönlichen Welt kann sich ständig verschieben und lässt breite Grauzonen zu. Die Abhebung des Eigenen der Person vom durch Neutralisierung Entfremdeten, mit mehr oder weniger breiten Grauzonen, ist personale Emanzipation. Die personale Emanzipation bildet Niveaus von verschiedener Höhe aus. Ein Niveau ist höher als ein anderes, wenn es dem Leben aus primitiver Gegenwart durch stärkere Neutralisierung und weniger Verschwimmen in den Grauzonen weiter entrückt ist. Von einem höheren Niveau aus ist ein weniger hohes ein Niveau personaler Regression auf dem Wege zum Leben aus primitiver Gegenwart ohne Scheidung des Eigenen vom Fremden. Die Person kann zugleich auf mehreren Niveaus stehen. Dann ergeben sich Zwiespälte der vorhin beschriebenen Art, wobei die Person gleichsam über und unter sich selbst steht. Ein Beispiel dafür ist die Akrasie, etwa des faulen Bettgenießers, der auf einem höheren Niveau personaler Emanzipation weiß und anerkennt, 21 https://doi.org/10.5771/9783495860755 .

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dass er jetzt aufstehen müsste, auf einen niedrigeren, mit weniger Abspaltung der Subjektivität vom Neutralen und Fremden, es aber so schön warm und wohlig findet, dass er trotzdem liegen bleibt. Die Perspektive, in der Normen für Personen gelten, ist relativ auf ein Niveau ihrer personalen Emanzipation; das gilt auch für die Verbindlichkeit und die diese stiftende Autorität. Eine Norm kann für eine Person auf einem Niveau verbindlich gelten, obwohl auf einem gleichzeitigen höheren Niveau die Verbindlichkeit entfällt. Ein Beispiel ist die heftige Scham, die entstehen kann, wenn man sich in Gesellschaft eine Blöße (im übertragenen Sinn) gegeben hat, so dass man einen Geltungsanspruch zurücknehmen muss, obwohl man sich auf einem höheren Niveau bewusst ist, dass es sich um eine Äußerlichkeit handelt, die man eigentlich nicht so wichtig zu nehmen brauchte. In solchen Fällen hat die verbindliche Geltung der Norm für die Person bedingten Ernst, ebenso die Autorität der konventionellen Scham, die ihr dann die verbindliche Geltung auferlegt. Im Fall von echter Gewissensscham, die z. B. im Philoktetes des Sophokles den Neoptolemos treibt, dem betrogenen Philoktetes den durch gemeine List entwendeten Bogen zurückzugeben, gibt es kein solches höheres Niveau. Die Person kann sich dann nicht auch nur teilweise von der exigenten Nötigung durch die ihr verbindliche Geltung auflegende Autorität zurückziehen. Dann hat diese und die verbindliche Geltung unbedingten Ernst für die Person. Unbedingten Ernst hat auch die Autorität des Seins in der Evidenz. Unbedingten Ernst hat die Autorität der Gefühle, auf denen die Moral, die Religion (als echte Ergriffenheit von Göttlichem) und die tiefe Liebe zu einer anderen Person beruhen. Durch die Autorität mit unbedingtem Ernst wird die Abhängigkeit der verbindlichen Geltung von der Perspektive einer Person gesteigert, weil nicht für alle Personen ein gleiches Niveau personaler Emanzipation das höchste erreichbare ist, vielmehr dessen Art und Höhe von Person zu Person schwanken kann. Auch lassen sich Personen denken, für die kein Niveau personaler Emanzipation das höchste erreichbare ist. Solche Personen leben dann im Paradies oder der Hölle vollendeter Frivolität, wo Max Stirner den Einzigen angesiedelt hat; wenn dieser allerdings die Frivolität von der Autorität der Gefühle auf die des Seins in der Evidenz ausdehnt, endet er schnell im Kranken- oder Irrenhaus. Der Zwiespalt bei Autorität mit bedingtem Ernst entsteht durch die Möglichkeit der Steigerung personaler Emanzipation auf ein höheres Niveau. In die Gegenrichtung, nämlich auf den Verlust der Per22 https://doi.org/10.5771/9783495860755 .

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sonen vorbehaltenen flexiblen Geltung an die automatische hin, führt ein Zwiespalt, der sich bei anankastischen (zwanghaften) Störungen auftut. Solche Störungen entstehen nach personaler Emanzipation, wobei sich die Gegenüberstellung des Eigenen und Fremden ausgebildet hat, durch eine paradoxe Überschiebung, indem das Fremde im Eigenen auftaucht und dadurch eine unerbittliche Hartnäckigkeit gewinnt. Weil die Macht des Zwanges sich im Eigenen abspielt, hängt die Person daran mit der Subjektivität ihres affektiven Betroffenseins; sie kommt nicht davon los und kann das Zwingende auch nicht in die persönliche Fremdwelt abschieben, weil es fremd schon ist, in sich das Fremde und das Eigene vereinigend. Die anankastisch zwingende Macht haftet entweder an einer Norm oder an einem Wunsch. Im ersten Fall ergibt sich eine Zwangsneurose (z. B. Waschzwang, Zählzwang oder Zwang, hässliche Worte auszustoßen), im zweiten Fall eine Sucht. In beiden Fällen ist es schwer, zu entscheiden, ob noch ein Spielraum da ist, der zur Flexibilität der Geltung einer Norm und der Besessenheit vom Wunsch genügt, oder ob die Geltung und das, was ihr beim Wunsch entspricht, schon automatisch geworden ist.

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2. Verbindlich geltende Normen

2.1 Evidenz In der Evidenz fällt einem Menschen eine Überzeugung so unwiderstehlich zu, dass er sich ihr nicht anders als zwiespältig und halbherzig entziehen kann; das ist ein Prototyp verbindlicher Geltung einer Norm im unter 1 beschriebenen Sinn. Was er dann zugeben muss, ist bei theoretischer Evidenz die Tatsächlichkeit eines Sachverhaltes, bei praktischer Evidenz die Geltung eines Programms. Hier interessiert primär die theoretische Evidenz. Dass diese sich auf Tatsachen (tatsächliche Sachverhalte) bezieht, ist nicht unbestritten. Viele denken statt dessen an Wahrheit. Husserl schreibt: »Evidenz ist vielmehr nichts anderes als das ›Erlebnis‹ der Wahrheit.« 10 Das ist nicht richtig. Von den Tatsachen, auf die sie zunächst stößt, wird die Evidenz erst sekundär auf die Wahrheit von Behauptungen umgelenkt, wenn es z. B. darauf ankommt, die Wahrheit eines Berichtes, etwa einer Zeitungsnachricht, zu prüfen, und ein evidentes Ergebnis der Prüfung wird gegebenenfalls an den berichteten Tatsachen gewonnen und auf die Wahrheit des Berichts nur übertragen; auch dann handelt es sich nicht um die Wahrheit in irgend einer Hinsicht, z. B. ob sie bequem ist oder worin ihr Begriff besteht, sondern um die Tatsache der Wahrheit des Berichts. Wahrheit hat für Evidenz also nur nebensächliche und untergeordnete Bedeutung. Evidenz ist Evidenz von Tatsachen. Tatsachen sind eine ausgezeichnete – wohl die wichtigste – Untergruppe der Sachverhalte. Außer den tatsächlichen Sachverhalten gibt es die untatsächlichen. Der Unterschied lässt sich an jeder Realisierung, an jedem Tun, an jeder Verwirklichung eines Zweckes als Übergang, als Vertatsächlichung eines zuvor untatsächlichen Sachverhaltes beobachten, übrigens auch Logische Untersuchungen Band I, 6. Auflage Tübingen 1980 (2. Auflage Halle 1913) S. 190

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Evidenz

am Ausbleiben der Realisierung, wenn sich eine Erwartung, z. B. eine Befürchtung, in nichts auflöst. Zur Tatsache erhebt einen Sachverhalt das Sein (die Wirklichkeit), das in der Evidenz als Autorität hervortritt. Das folgt daraus, dass für den Sachverhalt als Fragbares (d. h. als etwas, das in Frage stehen kann, s. o. 1) das Sein die entscheidende Instanz ist. Diese Entscheidung setzt voraus, dass der Sachverhalt einzeln ist. In der binnendiffusen Bedeutsamkeit von Situationen sind Tatsachen, denen die Einzelheit noch fehlt, von untatsächlichen Sachverhalten nicht zu unterscheiden. Das Sein ist den Menschen ursprünglich und unmittelbar als ein Moment der primitiven Gegenwart (s. o. 1) vertraut; in der Evidenz hat es eine zweite Erscheinung, aber, dass diese das Sein ist, weiß man nur aus der unmittelbaren Berührung mit ihm in der leiblichen Engung, ursprünglich aus der primitiven Gegenwart, vorgehalten durch die Engung im vitalen Antrieb, besonders durch die ausgeprägte Engung in Angst, Schmerz, Beklommenheit usw. Diese leibliche Erfahrung des Seins ist unverkennbar, dessen sekundäre Erscheinung in der Evidenz dagegen verkennbar. Deswegen ist die Unterscheidung zwischen echter und scheinbarer Evidenz nie ganz sicher. Als besonders evident imponiert das schließliche Einfallen eines Namens, den man lange gesucht hat, aber wer möchte dafür bürgen, dass der so Überzeugte sich nicht doch geirrt hat? Gern wüsste man Näheres über das Sein, aber leider ist dieser Wunsch unerfüllbar. Nur die unmittelbare Erfahrung macht mit ihm vertraut; es gibt keine Möglichkeit seiner abstrakten Kennzeichnung, denn es gilt der Satz: Es kann kein Kriterium des Seins geben, d. h. keine zirkelfrei (ohne das Sein vorauszusetzen) angebbare notwendige und zureichende Bedingung dafür, dass etwas ist (d. h. wirklich ist). Ich komme schon unter 2.1 darauf zurück. Die Nötigung durch das Sein in der Evidenz ist die exigente, nicht die automatische. Ich zeige den Unterschied gern an der Verbindung beider Nötigungen im erdachten Beispiel eines leichtsinnigen Läufers, der sich im Vertrauen darauf, dass ihm nichts passieren könne, einen gefährlichen Laufstil angewöhnt hat. Wenn er sich damit ein Bein bricht, unterliegt er erstens der automatischen Nötigung, sein Laufen wenigstens zeitweise zu unterlassen, als auch der exigenten Nötigung der Evidenz, sich eingestehen zu müssen, dass ihm eben doch etwas passieren kann; er hat Spielraum, sich davon abzulenken oder gar das Gegenteil einzureden, aber dahinter kann er nicht ganz stehen, sondern nur brüchig und zwiespältig. 25 https://doi.org/10.5771/9783495860755 .

Verbindlich geltende Normen

Was Überzeugung ist, wird seit Humes Erörterung des belief in der Philosophie zum Thema gemacht. Meine Beantwortung der Frage, die beansprucht, eine eindeutige, die Überzeugung von anderen Haltungen abgrenzende Kennzeichnung zu gehen, habe ich seit 1980 mehrfach vorgetragen. 11 Jetzt will ich nur den Grundgedanken wiederholen. Ein Mensch kann zu allem Möglichen, darunter auch zu Sachverhalten, auf viele Weisen Stellung nehmen. Diese Einstellungen können mehr oder weniger unbefangen oder befangen sein, vom Extrem der Unbefangenheit, dass er sie nach Belieben ändern kann, bis zum Extrem der Befangenheit, dass er ganz darin gefangen ist, ohne Chance der Änderung. Auf den Grad solcher Befangenheit kann das Einfluss nehmen, was ihm bewusst wird, was er erwägt. Unter allen Einstellungen von Menschen zu Sachverhalten gibt es genau eine, die in Bezug auf einen Sachverhalt S immun ist gegen Einflüsse der Erwägung der kontradiktorischen Alternative entweder S oder nicht S auf den Grad der Befangenheit des Menschen in dieser Einstellung auf S, und das ist seine Überzeugung von S. Durch seine volle, hundertprozentige Überzeugung von S ist er sich darin nämlich so sicher, dass die bloße Aussicht auf die logische Möglichkeit der Negation dessen, wovon er so überzeugt ist, der Überzeugung nichts anhaben kann. Die Überzeugung fällt dem Betroffenen in der Evidenz zu. Sie kann aber nicht der Gehorsam sein, der ihm durch die Autorität des Seins mit exigenter Nötigung abgefordert wird, denn mit dem, was einem bloß zufällt, kann man nicht gehorchen. Der Gehorsam muss vielmehr in einer dem von Evidenz betroffenen Menschen auferlegten Zustimmung zu etwas bestehen. Es fragt sich, wozu sie Zustimmung ist. Die übereinstimmende These der traditionellen Urteilslehre von den Stoikern über die Scholastiker, Descartes, der sich in der 4. Meditation damit besonders hervortat, und die deutschen Logiker des 19. Jahrhunderts behauptet: Dem Geglaubten, wovon der Betreffende überzeugt ist, wird zugestimmt, hier also dem Sachverhalt S. Das kann nicht richtig sein. Zustimmung ist auf viele Weisen möglich, z. B. emotional und wertend oder bei der Zweck- und Mittelwahl. Das kommt hier nicht in Betracht, sondern nur kognitive Zustimmung, die sogar System der Philosophie Band IV: Die Person (1980) S. 564–570; Der unerschöpfliche Gegenstand (1990) S. 226–228; Neue Grundlagen der Erkenntnistheorie (1994) S. 247– 250; Der Spielraum der Gegenwart (1999) S. 69–71; zu letzt und bündig: Logische Untersuchungen (2008) S. 74–76

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Evidenz

mit Abscheu und Widerwillen einhergehen kann. Kognitive Zustimmung zu einem Sachverhalt S besteht aber in Zustimmung zu dem Sachverhalt S*, dass S eine Tatsache ist. Wenn die von exigenter Nötigung in der Evidenz abverlangte Zustimmung diese kognitive Zustimmung wäre, müsste sie also als Zustimmung zu einem Sachverhalt Zustimmung zu einem weiteren Sachverhalt sein, so dass sich die Verdoppelung bei diesem wiederholen würde, und so weiter ad infinitum, so dass der von Evidenz Getroffene gar nicht der Autorität gehorchen könnte, ohne unendlich oft zuzustimmen, was unmöglich ist. Die Richtung seiner Zustimmung muss anders bestimmt werden. Dazu hilft der Vergleich der Evidenz mit der Scham, die ebenso wie jene dem Betroffenen mit exigenter Nötigung die verbindliche Geltung einer Norm zustimmenden Gehorsams auferlegt. Wer von brennender Scham befallen ist, erfährt so etwas wie einen über ihn verhängten Richtspruch, der seinen Stolz knickt, aber, so sehr er ihn auch notgedrungen akzeptiert, für ihn nicht, wie für den entrüsteten Zuschauer der peinlichen Szene, das eigentliche Thema ist, sondern das ist er selbst, indem er seine Gebeugtheit mit geknicktem Stolz zustimmend gelten lassen muss. Diese introvertierte Komponente der Scham ist das Analogon der in der Evidenz dem Betroffenen abgenötigten Zustimmung. Er kann im Bann der Autorität der Wirklichkeit nicht ohne zwiespältige Gebrochenheit umhin, sich als einen Überzeugten zustimmend hinzunehmen. Das exigent Abgenötigte ist in beiden Fällen nicht die Anerkennung eines Urteils oder einer Tatsache, sondern eine Selbstzuwendung, die in gewisser Weise daraus die Konsequenz zieht. Eigentlich ist die Reihenfolge eher umgekehrt: Erst durch die abgenötigte Selbstzuwendung des Beschämten bekommt das vom Gefühl über ihn verhängte Urteil die emotionale Rechtskraft der Beschämung, und erst durch die abgenötigte Selbstzuwendung des evident Überzeugten, etwas zugeben zu müssen, tritt der Sachverhalt in Kraft der Wirklichkeit als unbestreitbare Tatsache hervor. Diese Autoritätstheorie der Evidenz steht in der philosophischen Überlieferung ziemlich einsam da. Als Vorläufer kommen vielleicht die südwestdeutschen Neukantianer Windelband und Rickert in Betracht. Rickert bezeichnete in der 1. Auflage seines Buches Der Gegenstand der Erkenntnis 1892 ein transzendentes Sollen als diesen Gegenstand, in späteren Auflagen – meines Erachtens weniger glücklich – einen Wert. Brentano bekämpft an einer solchen Theorie den Gedanken der Nötigung: »Die Eigentümlichkeit der Einsicht, die Klarheit, Evidenz 27 https://doi.org/10.5771/9783495860755 .

Verbindlich geltende Normen

gewisser Urteile, von der ihre Wahrheit untrennbar ist, hat wenig oder nichts mit einem Gefühle der Nötigung zu tun. Mag es sein, dass ich augenblicklich nicht umhin kann, so zu urteilen: in dem Gefühle einer Nötigung besteht das Wesen dieser Klarheit nicht: und kein Bewusstsein einer Notwendigkeit, so zu urteilen, könnte als solches die Wahrheit sichern. Wer beim Urteilen an keinen Indeterminismus glaubt, der hält alle Urteile unter den Umständen, unter denen sie gefällt werden, für notwendig, aber – und mit unleugbarem Rechte – darum doch nicht für wahr.« 12 Offensichtlich ist ihm der Unterschied zwischen automatischer und exigenter Nötigung entgangen. Mit seinem Ausspielen der Klarheit gegen die Nötigung greift er Descartes’ Wahrheitskriterium auf und optiert damit für eine kontemplative Theorie der Evidenz, die diese der Betrachtung des Gegebenen überlässt. Diese kontemplative Theorie setzt sich zu völliger Geltung in der älteren Phänomenologie durch, bei Husserl, Scheler und Heidegger; ihre wohl glücklichste Formulierung durch Husserl lautet: »Das adäquat Wahrgenommene ist nicht bloß ein irgendwie Gemeintes, sondern, als was es gemeint ist, auch im Akte originär gegeben, d. i. als selbst gegenwärtig und restlos erfasst. So ähnlich ist das evident Geurteilte nicht bloß geurteilt (in urteilender, aussagender, behauptender Weise gemeint), sondern im Urteilserlebnis gegeben als selbst gegenwärtig – gegenwärtig in dem Sinne, wie ein Sachverhalt in dieser oder jener Bedeutungserfassung und je nach seiner Art, als einzelner oder allgemeiner, empirischer oder idealer u. dgl. ›gegenwärtig‹ sein kann. (…) Das Erlebnis der Zusammenstimmung zwischen der Meinung und dem selbst Gegenwärtigen, das sie meint, zwischen dem aktuellen Sinn der Aussage und dem selbst gegebenen Sachverhalt ist die Evidenz, und die Idee dieser Zusammenstimmung die Wahrheit.« 13 Evidenz ist für Husserl die als solche erfahrene Selbstgegebenheit (statt bloßer Dargestelltheit) des Gemeinten. Diese kontemplative Theorie der Evidenz halte ich aus drei Gründen für falsch: 1. Sie versagt vor der Evidenz der Wahrheit negativer Sätze. Selbstgegeben kann nur sein, was da ist, nicht, was nicht ist. Dass jetzt nicht alles still ist, wenn ich laut rede, ist genau so evident wie die Verschiedenheit von zwei Farben, wenn ich auf ein schwarz beschrie12 13

Franz Brentano, Wahrheit und Evidenz, Leipzig 1930, S. 63 Wie Anm. 10, S. 190 f.

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benes weißes Blatt Papier blicke. 14 Ganz besonders für das, was auf Grund eines logischen Widerspruchs ganz unmöglich ist, kommt Selbstgegebenheit nicht in Frage; die evidenten Beweise solcher Unmöglichkeit bilden die Hauptmasse der Glanzstücke der Mathematik. Man kann in solchen Fällen auch nicht die Selbstgegebenheit der bloßen negativen Tatsache genügen lassen, wie Franz v. Kutschera will 15 , denn was könnte das sein als Evidenz oder für Evidenz geeignete Umstände, und was Evidenz ist, wird ja erst gefragt und kann nicht durch Hinweis auf Evidenz beantwortet werden. Husserl will das Nichtsein durch einen »Widerstreit« ersetzen 16 , aber weder hat das Nichtsein des deutschen Volkes vor 100000 Jahren noch das Nichtsein meiner Allmacht (oder der Allmacht eines Hundes) mit Widerstreit zu tun, noch genügt Widerstreit zum Nichtsein, wie das unter 1 besprochene instabile oder zwiespältige Mannigfaltige zeigt, in dem mehrere Sachen um Identität mit derselben Sache konkurrieren. 2. Es gibt aber auch eine sehr wichtige Klasse affirmativer, d. h. in affirmativen Behauptungen darstellbarer, Evidenzen, vor denen die kontemplative Theorie versagt. Dabei handelt es sich um die Evidenzen der Existenz von etwas. Um das Versagen der kontemplativen Theorie einzusehen, muss gezeigt werden, dass Existenz kein Attribut ist. Ein Attribut einer Sache ist eine Bestimmung, die für die Identität der Sache wesentlich ist, so dass eine Sache, die diese Bestimmung nicht besitzt, nicht diese Sache (mit ihr nicht identisch) sein kann. Für einen Menschen zu gegebener Zeit sind z. B. die Zahl der Haare auf seinem Kopf und der Umstand, dass er gerade sitzt, solche Attribute. Offenbar kommt jedes Attribut einer Sache ihr mit logischer Notwendigkeit zu, bei Strafe des Widerspruchs, diese und nicht diese Sache zu sein. Davon gibt es allerdings eine Ausnahme für Bewussthaber. Ich exemplifiziere an mir; das Ergebnis kann auf jeden anderen übertragen werden. Aus keinem Besitz eines Attributes durch irgend eine Sache folgt, dass ich diese Sache bin, wenn dies nicht schon vorausgesetzt wird. 17 Eine solche Voraussetzung ist aber nur in den subjektiven Tatsachen meines Evidenzbeispiel von Joseph Geyser, Auf dem Kampffelde der Logik, Freiburg i. Br. 1926, S. 202 15 Franz v. Kutschera, Sprachphilosophie, 2. Auflage München 1975, S. 74 Anm. 74, b 16 Edmund Husserl, Logische Untersuchungen Band II Teil 2, 5. Auflage Tübingen 1980 (= 2. Auflage Halle 1921), S. 112: »Jedes nicht drückt einen Widerstreit aus.« 17 Hermann Schmitz, Kurze Einführung in die Neue Phänomenologie S. 29 f.; Bewusstsein S. 22, 29 f. 14

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affektiven Betroffenseins, die höchstens ich im eigenen Namen aussagen kann, enthalten, nicht in den objektiven Tatsachen, die jeder über mich aussagen kann, sofern er genug weiß und gut genug sprechen kann; darüber siehe gleich. Der Satz, dass Attribute logisch notwendig zukommen, gilt also nur für objektive Tatsachen. Bewussthaber mit affektivem Betroffensein sind auf ihre Attribute also nicht mit logischer Notwendigkeit festgelegt. Sie sind aber durch objektive Tatsachen faktisch festgelegt. Hermann Schmitz hat seine Attribute mit logischer Notwendigkeit, und ich bin Hermann Schmitz; ich hätte aber auch ein anderer sein können. Die folgende Argumentation hält sich im Rahmen der objektiven Tatsachen. Jede Sache besitzt ihre Attribute mit logischer Notwendigkeit. Wäre Existenz Attribut einer Sache, wäre also logisch notwendig, dass diese Sache existiert. Dann wäre auch logisch (bei Strafe eines Widerspruchs) notwendig, dass irgend eine Sache existiert. Das ist aber nicht logisch notwendig. Kein Widerspruch folgt aus der Annahme, dass gar nichts existiert. Andernfalls müsste unter den Bedingungen dieser Annahme mindestens eine Sache mit Sein und Nichtsein zugleich belegt sein. Das ist nicht der Fall. Dass alles Erdenkliche existiert, ist unmöglich, weil viele Sachen so unverträglich bestimmt sind, dass sie nicht zusammen existieren können. Für den Fall, dass gar nichts existiert, gibt es keine Gelegenheit zu solcher Kollision. Mit der Existenz sind alle Existenz-Inductiva keine Attribute. Ein Existenz-Inductivum ist eine Bestimmung einer Sache, für die aus der Annahme, dass sie Attribut der Sache wäre, die Existenz irgend einer Sache logisch folgt. Existenz-Inductiva sind Existenz, Vergangenheit, Gegenwart, Zukunft, Erzeugerschaft, Wahrheit von Existenzsätzen. Aus dem Satz, dass Existenz kein Attribut ist, folgt logisch der schon erwähnte Satz, dass es kein Kriterium des Seins (d. h. der Wirklichkeit, der Existenz) gibt. Ein solches Kriterium müsste jede existierende Sache von jeder nicht existierenden unterscheiden lassen. Wenn Existenz kein Attribut ist, kann jedoch jede existierende Sache mit einer nicht existierenden Sache identisch sein (weil Existenz dann nicht für Identität wesentlich ist). Dazu kommt es tatsächlich, wie sich an dem Existenz-Inductivum Vergangenheit zeigen lässt: an einer vergangenen Sache, verglichen mit ihr, wie sie einmal gegenwärtig war. 18 Die Anwendung dieser Ergebnisse auf die kontemplative Theorie 18

Vgl. Kurze Einführung in die Neue Phänomenologie S. 63 f.

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besteht darin, dass Existenz nicht mit und in der existierenden Sache selbstgegeben sein kann, denn, was nicht dazu gehört, dass eine Sache sie selbst ist, kann nicht mitgegeben werden, wenn die Sache selbst gegeben wird. Nur für die subjektiven Tatsachen des affektiven Betroffenseins gilt diese Einschränkung nicht, weil sie von der Ableitung des Satzes, dass Existenz kein Attribut ist, nicht betroffen werden, aber der riesig große Bereich aller Existenzsätze, die sich auf objektive Tatsachen beziehen, verschließt sich der kontemplativen Theorie. Wenn Husserl, wie doch anzunehmen ist, seine Evidenztheorie auch auf Existenz erstreckt, macht er denselben Fehler wie Platon, dessen Figur Sokrates glaubt, das Sein an einer Sache so gut wie Farbe und Stimme ablesen zu können. 19 3. Nicht nur Tatsachen können evident sein, sondern auch geltende Normen. Einem Menschen kann mit völliger Evidenz gewiss werden, dass eine Norm für ihn gilt, sei es auf Grund eines Gefühls, des Pflichtbewusstseins oder im Fall einer logischen Schlussregel. Diese Evidenz kann aber nicht in Selbstgegebenheit des Gemeinten bestehen, denn eine evident ungültige Norm kann genau so selbstgegeben sein wie eine evident gültige. Wer Wahres erschließen will, erkennt mit Evidenz, dass er aus den Prämissen, dass alle Menschen sterblich sind und Caius ein Mensch ist, zu schließen hat, dass Caius sterblich ist, während er auf der falschen Fährte wäre, wenn er schließen wollte, dass Caius unsterblich ist, aber als bloßes Programm für möglichen Gehorsam ist ihm die evident ungültige Schlussregel, der er dann folgen würde, genau so gut gegeben wie die evident gültige. Hiermit ist meine Darstellung der Evidenz eigentlich abgeschlossen. Ich will mich aber noch, ehe ich das Kapitel beende, für meine Berufung auf Tatsachen rechtfertigen, da diese in der Philosophie umstritten sind. Brentano, der zwischen Sachverhalten und Tatsachen nicht unterschied, verwendete sie anfangs in seiner Urteilstheorie, verschmähte sie dann aber als bloße Gedankendinge und versuchte sich an einem Neuaufbau der philosophischen Sprache, in der nur noch »Reales« als Gegenstand zugelassen werden sollte; sein polnischer Gefolgsmann Kotarbin´ski schränkte das Reale auf Körper ein und nahm Einfluss auf polnische Logiker wie Les´niewski und Tarski. Auch in der angelsächsischen analytischen Philosophie wurden Tatsachen als Gegenstände oft nur mit großem Vorbehalt aufgenommen oder ganz ab19

Kratylos 423e

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gewiesen, von anderen aber aufgegriffen. Das Vorurteil gegen sie geht dahin, sie als künstliche, abstrakte, konstruierte Gegenstände zu verdächtigen, als »überflüssige Wesenheiten«, die mit »Occams Rasiermesser« (Hans Hahn) abgeschnitten werden sollten. Eine solche nominalistische Opposition beruht nach meiner Meinung auf einem Missverständnis, wodurch das Verhältnis des Konkreten und Abstrakten, des Vorgegebenen und Hinzugedachten verdreht wird. Konkret und elementar sind Situationen mit binnendiffuser Bedeutsamkeit aus Sachverhalten, Programmen und Problemen, wodurch Mannigfaltiges aller Arten zusammengehalten wird. Diese Situationen können einzeln werden und als einzelne auffallen, doch ist das nicht die Regel. Menschen gehen flüssig durch aktuelle Situationen hindurch und leben in zuständlichen, ohne dass diese sich Stück für Stück, jeweils eine Anzahl um 1 vermehrend, abheben. Aus der binnendiffusen Bedeutsamkeit setzt satzförmige Rede einzelne Bedeutungen frei, unter diesen die Gattungen, die (oft mit Programmen und/oder Problemen gefüllte) Sachverhalte sind.7 Erst mit Bezug auf Gattungen, als deren Fälle, können beliebige Sachen einzeln sein.8 Gerade das Einzelne ist also vom Konkreten, den ursprünglichen Situationen, durch einen Umweg entfernt, der über die insofern der Konkretion näheren Bedeutungen und über gedankliche Verarbeitung in Gestalt satzförmiger Rede führt. Nicht der Inhalt ist an einzelnen Häusern, Bäumen, Menschen, Farbflecken, Geräuschen, Sekunden usw. das Abstrakte, aus dem unmittelbar Vorgegebenen Herausgezogene, sondern die Form der Einzelheit, die ganz zu Unrecht von Singularisten, denen alle Nominalisten zugehören, als ubiquitär und selbstverständlich vorausgesetzt wird. Ich will aber nicht mit diesen Worten meinen Gegnern die Sichtweise aufdrängen, sondern sie mit Gründen überzeugen, die nicht von dem hier festgestellten Standpunkt abhängen. Ein schlagender Grund für die Annahme vorsprachlich existierender Tatsachen ergibt sich aus der Aufdeckung des Unterschiedes zwischen den subjektiven und den objektiven Tatsachen. Tatsachen des affektiven Betroffenseins, d. h. solche, die einem Betroffenen nahe gehen, sind für ihn subjektive Tatsachen, die gleichsam seinen Stempel tragen, mit der Folge, dass höchstens er sie aussagen kann. Wenn mir etwas nahe geht, können andere höchstens über Hermann Schmitz sagen, dass das ihm nahe geht, aber das reicht nicht zu meinem affektiven Betroffensein, wenn nicht hinzukommt, dass ich der Hermann Schmitz bin, dem das nahe geht, und das kann kein anderer sagen, wenn er auch 32 https://doi.org/10.5771/9783495860755 .

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noch so viel weiß und noch so gut sprechen kann, denn er ist nicht ich. Ohne diese Nuance der Subjektivität, die höchstens ich sagen kann, ist das Nahegehen im hier gemeinten Sinn nur ein Schatten ohne Gewicht. Der Unterschied besteht nicht nur für mich, sondern auch für die anderen in der Außenperspektive, im Hinblick auf mich. Das zeigt sich an einer Besonderheit der Verwendung des Wortes »ich«. Meist fungiert es als Pronomen der ersten Person des Singulars. Als solches ist es bloßer Vertreter eines Namens, also überflüssig und nur zur Abkürzung nützlich. Wenn es aber auf ein Bekenntnis affektiven Betroffenseins ankommt, wird das Wort unentbehrlich, um den anderen die Subjektivität der Tatsache des affektiven Betroffenseins für den Betroffenen mitzuteilen. Ich fingiere, um das zu demonstrieren, ein Individuum namens »Peter Schulze« statt des Hermann Schmitz. Mein erstes Beispiel ist die Liebeserklärung. Mann: »Peter Schulze liebt dich.« Frau: »Warum sagst du nicht: ›Ich liebe dich‹ ?« Mann: »Das ist doch ganz überflüssig.« Frau: »Aber gerade darauf kommt es mir an.« Schulzes Liebeserklärung ist missglückt, die Frau verstimmt. Mein zweites Beispiel ist eine Szene im Beichtstuhl. Beichtkind: »Peter Schulze hat gesündigt.« Beichtvater: »Sprich: ›Ich habe gesündigt.‹.« Beichtkind: »Das ist doch ganz überflüssig.« Darauf verweigert der Beichtvater die Absolution. Anschließend ertönt ein Schrei aus dem Wasser: »Hilfe, Peter Schulze ertrinkt, das bin übrigens ich.« Der hilfsbereite Mitmensch, der auf den Ruf »Hilfe, ich ertrinke« hin sofort eingegriffen hätte, wird erst einmal neugierig nachsehen, was eigentlich los ist. Schulzes Fehler besteht in allen drei Fällen darin, das Wort »ich« als Pronomen der ersten Person des Singulars zu verstehen, während es hier vielmehr die Funktion hat, dem Hörer die Subjektivität der mitgeteilten Tatsache für den Sprecher zu signalisieren. Den für jemand subjektiven Tatsachen stehen die objektiven oder neutralen gegenüber, die jeder aussagen kann, sofern er genug weiß und gut genug sprechen kann. Sie werden frei durch bloßes Abfallen der Subjektivität. Schulzes Irrtum war, nur objektive Tatsachen gelten zu lassen. Diese stimmen mit den entsprechenden subjektiven im Inhalt völlig überein. Dass ich traurig bin, dass Hermann Schmitz traurig ist, sagt das Selbe von demselben Mann. Der Unterschied besteht nur in der Tatsächlichkeit. Diese ist bei den objektiven Tatsachen zu arm für das affektive Betroffensein. Wenn es aber verschiedene Tatsächlichkeiten gibt, muss es auch verschiedene Tatsachen geben. Diese können nicht aus Gegenständen anderer Art (Sachen, Dingen) als deren bloße Konfiguration 33 https://doi.org/10.5771/9783495860755 .

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zusammengesetzt werden, wie die Sachverhalte, deren Bestehen die Tatsache sei, nach Wittgenstein 20 , denn diese Bestandteile wären dieselben in beiden Fällen. Die Tatsachen als Unterklasse der Sachverhalte haben also eine von keinen Dingen und Sachen geborgte Eigenart und sind auch nicht Epiphänomene der Sprache; denn Tatsachen des affektiven Betroffenseins sind ersichtlich nicht auf das Sprechen angewiesen, schon gar nicht bei Tieren und Säuglingen, die nicht sprechen können, und ein anderer als der Betroffene kann sie gar nicht aussagen (wohl aber über sie sprechen). Ein anderer Zugang zu den Tatsachen kommt vom Wahrheitsbegriff her. Wahrheit im eigentlichen Sinn ist eine Eigenschaft von Sprüchen, d. h. (z. B. stimmlichen oder schriftlichen) Niederschlägen der Erzeugung von Aussprüchen von Sätzen, die zu bestimmter Zeit an bestimmten Orten geschehen. Im übertragenen Sinn sind Sätze wahr, wenn jeder ihrer Sprüche wahr ist, und Kognitionen wie Überzeugungen, Vermutungen, Annahmen, wenn, falls die ausgesprochen würden, der Spruch wahr wäre. Ich vertrete einen faktizistischen Wahrheitsbegriff: Ein Spruch ist wahr, wenn er eine Tatsache darstellt. (Ich setze dabei voraus, dass er nicht durch mehrfachen Sinn Wahres mit Falschem oder Unsinnigem mischt.) Dieser faktizistische Begriff wird meist als Korrespondenzbegriff der Wahrheit bezeichnet; das mag noch angehen, solange man Korrespondenz nicht als Adäquation versteht, denn an eine Passung oder Strukturgleichheit von Spruch und Tatsache ist nicht zu denken. Wenn sich die Wahrheit der Sprüche nach Tatsachen richtet, muss es solche wohl geben, und zwar vorsprachlich, nicht erst aus dem Sprechen und dem sprachlichen Regelsystem, dem es gehorcht, durch irgend welche Abstraktionen hergeleitet. Meine Rechtfertigung für den faktizistischen Wahrheitsbegriff ist ein Exklusionsbeweis. Ich führe die rationalistischen Wahrheitstheorien ad absurdum und entwerte die Redundanztheorie der Wahrheit. Anschließend wende ich mich gegen einen Versuch, auch die faktizistische Wahrheitstheorie durch das sogenannte Steinschleuderargument zu entwerten, auf das ich gleich zurückkommen werde. Die meisten und wichtigsten Versuche, den faktizistischen Wahrheitsbegriff zu ersetzen, haben Platz unter dem Titel des rationalistischen Wahrheitsbegriffes; ich verstehe darunter Bestimmungen der Wahrheit, die der Rede vorgegebene Tatsachen umgehen und an deren 20

Logisch-philosophische Abhandlung 2. 01, 2. 0272, 2

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Stelle die Rechtfertigung aus Gründen setzen. Dazu gehören alle Kohärenztheorien, ferner etwa die Konsensustheorie von Habermas, die die Rechtfertigung des Anspruchs auf Wahrheit in die Aussicht auf Einigung im fairen, vernünftigen Gespräch verlegt (eine sozialistische Spielart der Kohärenztheorien), und die pragmatischen Theorien, die den Grund, eine Rede für wahr zu halten, in der Nützlichkeit für den Fortschritt der Erfahrung oder anderer Weisen lebendiger Entfaltung suchen. Sehr präzis pointiert Stegmüller die rationalistische Theorie in Wendung gegen die faktizistische. Dieser hält er entgegen, »dass Wahrheit ein epistemischer Begriff ist. Wahrheit muss als so etwas wie begründete Behauptbarkeit oder rationale Akzeptierbarkeit aufgefasst werden.« 21 »Wahrheit ist rationale Akzeptierbarkeit unter idealen Bedingungen.« 22 Ich will zeigen, dass diese Auffassung undurchführbar ist. Nicht alle Sprüche, die Aussagen sind, sind für die Wahrheit von Belang; in Witzen, Liedern und Romanen erheben sie gar nicht erst den Anspruch auf Wahrheit. Nur die Behauptungen kommen für diese in Betracht. Von einer Wahrheitstheorie ist zu fordern, dass sie die Abgrenzung dieser ihrer Domäne in der größeren Klasse der Aussagen vornehmen kann. Für die faktizistische Theorie ist das ganz einfach: Als Auszeichnung der Behauptungen bestimmt sie deren Anspruch auf Tatsächlichkeit des Ausgesagten (Behaupteten). So darf sich der Wahrheitsrationalist nicht erklären, ohne in die Meinung seines Gegners zu verfallen. Vielmehr muss er sagen: Die Behauptung ist eine Aussage mit Anspruch auf Wahrheit im Sinne der Existenz eines vernünftigen Grundes für sie, sei das nun die Kohärenz oder der erwartbare Konsensus oder die Nützlichkeit oder eine andere Spielart von Grund. Vernünftig kann der Grund aber nur sein, wenn erstens er selber wahr ist und zweitens wahr ist, dass die begründete Aussage aus ihm folgt. Die Wahrheit dieser beiden Voraussetzungen kann vom rationalistischen Standpunkt nicht durch Rückfall in den faktizistischen Wahrheitsbegriff, also als Tatsächlichkeit des Ausgesagten, erklärt werden, sondern in Konsequenz des rationalistischen Ansatzes wieder nur als vernünftige Begründbarkeit, und schon zeichnen sich unendliche Wolfgang Stegmüller, Evolutionäre Erkenntnistheorie, Realismus und Wissenschaftstheorie, in: Evolutionstheorie und menschliches Selbstverständnis, hg. v. R. Spaemann u. a., Weinheim 1985, S. 5–34, hier S. 22 22 Ebd S. 24 21

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Regresse ab, die nach zwei Seiten mit exponentiell wachsenden Verästelungen durchlaufen werden müssen, um sagen zu können, was eine Behauptung ist. Der rationalistische Wahrheitsbegriff lässt das nicht zu. Daran scheitert er. Ein besonders entschlossener und sogleich berühmt gewordener Versuch, eine rationalistische Wahrheitstheorie gegen die faktizistische durchzusetzen, ist seit kurzem das dickleibige Buch von Robert B. Brandon Making it explicit 23 , das mir zur exemplarischen Veranschaulichung meines Verdikts besonders geeignet scheint. Brandon erklärt den Gebrauch der Ausdrücke »wahr« und »Tatsache« in Begriffen sozialer Praktiken des Gebens und Nehmens von Gründen24 , wobei Wahrheit auf Fürwahrhalten reduziert wird 25 , in folgendem Sinn 26 : Die Angehörigen der betreffenden sozialen Gruppe führen gegenseitig Konten über ihre Erkenntnisperspektiven, indem sie einander behauptbare Überzeugungen zuschreiben und diese an ihren eigenen Überzeugungen hinsichtlich der Konsequenzen prüfen, auf die die geprüften Genossen durch deren Überzeugungen festgelegt sind, auch wenn diese Genossen nichts davon wissen; so entsteht ein potentieller Behauptungsvorlauf der Kontoführer vor den Geprüften, der dazu ausreicht, dass beide, da sie gegenseitig Kontoführer sind, sich Konsequenzen ihrer Überzeugungen als Gründe für und gegen das Festhalten an solchen Überzeugungen vorhalten können. Man sieht leicht, wie diese Reduktion von Wahrheit auf Fürwahrhalten aus Gründen zu einem regressus in infinitum führt. Auch die Zuschreibung eines Fürwahrhaltens (einer Überzeugung) an einen Genossen kann dann nicht einfach mehr wahr sein (im Sinne der Tatsächlichkeit), sondern nur für Cambridge [Mass.] 1994, ins Deutsche übersetzt unter dem Titel Expressive Vernunft von E. Gilmer und H. Vetter, Frankfurt a. M. 2000, 1014 Seiten 24 Making it explicit S. 330: »the use of expressions such as ›true‹ and ›false‹ can then (as the chapter shows) be explained in terms of the same social practices of giving and asking for reasons.« (deutsch S. 473) 25 S. 515 (deutsch 716): »What is it that there corresponds to the truth conditions on knowledge? For the scorekeeper to take the attributed claim to be true is just for the scorekeeper to endorse that claim. That is: Third, the scorekeeper must undertake the same commitment attributed to the candidate knower.« (Die Angehörigen der von Brandon konstruierten Gruppe führen gegenseitig Konten, scores, über ihre Überzeugungen.) 26 S. 568 (deutsch S. 789): »Treating a claim as true is attributing one doxastic commitment while undertaking another which shares or anaphorically inherits its propositional content.« 23

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wahr gehalten werden, mit Angabe von Gründen, deren Zureichen auch nicht mehr einfach als tatsächlich unterstellt werden darf, sondern durch Bereitstellung weiterer Gründe gerechtfertigt werden muss, die derselben Begründungspflicht unterliegen usw. ad infinitum. Keiner der Diskursgenossen kann unter diesen Voraussetzungen je beanspruchen, wahres Wissen von den Überzeugungen eines Genossen zu besitzen, denn dazu müsste er einen unendlichen Stammbaum von Gründen durchlaufen haben. Ein weiterer unendlicher Baum dieser Art ergibt sich bei Ermittlung der Konsequenzen, an denen die Überzeugungen des Genossen geprüft werden sollen. Da statt gewusster Tatsachen nur noch ein Fürwahrhalten aus Gründen, die mit anderen Gründen geprüft, kritisiert und revidiert werden können, zur Verfügung steht, ist die Überzeugung, richtig ermittelt zu haben, ebenso nur nach unendlich langer Prüfung von Gründen vertretbar wie die Annahme, dass der Genosse dies und das für wahr hält. Die Reduktion der Wahrheit auf Fürwahrhalten und des Fürwahrhaltens auf Begründbarkeit im Austausch von Gründen führt also dazu, dass niemals eine gegenseitig kontrollierbare Überzeugung zu Stande kommt. Ganz gesichert ist eine Überzeugung vielleicht niemals, aber unter den von Brandon gesetzten Bedingungen wird es unmöglich, ihrer gehofften Wahrheit einen erreichbaren Sinn zu geben. Dieses Scheitern ist ein Musterfall des unvermeidlichen Endes jeder rationalistischen Wahrheitstheorie, die Wahrheit als Rechtfertigbarkeit aus Gründen statt als Korrespondenz mit Tatsachen versteht, an unendlichen Regressen. Ein weiterer Versuch, den faktizistischen Wahrheitsbegriff zu umgehen, ist die von Ramsey aufgebrachte Redundanztheorie, wonach die Qualifizierung als wahr nur den Sinn einer bestätigenden Stellungnahme hat, also nur über den Sprecher, nicht über die Aussage und ihren Inhalt etwas sagt. Vielleicht verrät die Herkunft aus England das Motiv für sie, denn der Engländer bestätigt mit »that’s true«, wo der Deutsche »das stimmt« sagt. Die Redundanztheorie scheitert ebenso wie die rationalistische Theorie an der Unfähigkeit, zu sagen, wodurch sich eine Behauptung von einer bloßen Aussage (wie in Romanen und Witzen) unterscheidet. Eine Behauptung erhält ein besonderes Gewicht durch einen Anspruch, der mehr mit der Wirklichkeit zu tun hat als Romane und Witze, nicht durch eine bloße Billigung oder Bestätigung, die auch dem Roman zugute kommen kann; hier handelt es sich vielmehr um diejenige Bestätigung, die den Anspruch auf Wirklichkeitsnähe betrifft, und dieser wird also von der Redundanztheorie 37 https://doi.org/10.5771/9783495860755 .

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vielmehr vorausgesetzt als erläutert. Ein anderer Einwand betrifft die sogenannten Halbwahrheiten. Im Alltag hat man oft mit unzuverlässigen Mitteilungen zu tun, die Anlass zu der Frage geben: Was ist wahr daran? Den Sinn dieser Frage kann ich mit der faktizistischen Theorie leicht so umschreiben: Welche Tatsachen liegen der fraglichen Behauptung zu Grunde, so dass diese, ohne völlig von ihnen abzuweichen, sie doch nur mit Entstellung wiedergibt? Eine nicht faktizistische Theorie, sei es die rationalistische oder die Redundanztheorie, muss eine andere Umschreibung suchen, aber das wird schwer fallen. Eine Behauptung, die ohne Rücksicht auf Tatsachen als wahr ausgegeben werden könnte, ist bei dem Versuch, halbwahren Mitteilungen auf den Grund zu gehen, nämlich nicht immer zu finden. Oft führt die Fahndung zu keinem klaren Ergebnis, und dann ist es für jede nicht faktizistische Wahrheitstheorie kaum möglich, anzugeben, was in diesem Fall verdient, als wahr, etwa als bestätigt oder begründet, ausgezeichnet zu werden. Nur die faktizistische Theorie ist einer solchen Situation gewachsen; sie gestattet, zu sagen, dass dann nicht genau ermittelbare Tatsachen, die immer noch Berücksichtigung verdienen können, Anlass zu der Frage gegeben haben. Damit sind wohl alle wichtigen Konkurrenten des faktizistischen Wahrheitsbegriffs ausgeschlossen. 27 Ehe ich sie deswegen als gerechtfertigt ausgebe, will ich einen Angriff auf sie abwehren, das sogenannte Steinschleuderargument, dessen Anhänger sich in die Rolle Davids zu versetzen scheinen, der mit einem geschleuderten Stein den Riesen Goliath, hier die faktizistische Wahrheitstheorie, umwirft. Das Argument stammt von dem amerikanischen Logiker Alonzo Church28 , der es aber nicht gegen den faktizistischen Wahrheitsbegriff ausspielt. Church will erweisen, dass Sätze ganz verschiedenen Sinnes (in seinem Beispiel: »Sir Walter Scott ist der Autor von Waverley« und »Die Zahl Alfred Tarski gibt in der Sprache des mathematischen Klassenkalküls folgende Definition an: Eine Aussage x ist wahr, »wenn jede unendliche Folge von Klassen x erfüllt«, oder auch, wenn die »leere Folge« (in der nichts auf nichts folgt) sie erfüllt (Der Wahrheitsbegriff in den formalisierten Sprachen, zuerst 1935, wieder abgedruckt in: LogikTexte, hg. v. K. Berka und L. Kreiser, Berlin 1973, S. 447–559, hier S. 488, mit Anmerkung). Gemeint ist, dass alle freien Variablen in einer Satzform, die zu einem Satz ergänzt wird, zu diesem Zweck so belegt werden müssen (durch Wahl eines passenden Modells), dass sich ein wahrer Satz ergibt (S. 487). Das ist tautologisch, mathematisch aber nützlich für die Beweistheorie. 28 Aus seinem vorzüglichen Buch: Introduction to Mathematical Logic vol. I, Princeton [NJ] 1956, S. 24 f. 27

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der Verwaltungsbezirke in Utah ist 29«) dieselbe Extension hätten, und identifiziert diese mit dem Wahrheitswert. (Die angegebenen Sätze sind wahr.) Sein Argument beruht auf einem Kategorienfehler. Sätze haben keine Extension, denn Extensionen (Umfänge) haben nur Gattungen8 , also Sachverhalte7 , Sätze aber sind keine Sachverhalte, sondern Normen (Programme), nämlich Regeln für die Formulierung von Sprüchen, ungefähr so, wie Kochrezepte Regeln für das Kochen von Speisen sind. (Für das Nähere s. u. 3.1.1) Sprüche sind erst recht keine Gattungen. Donald Davidson, der den Fehler nicht durchschaute, verstand das Argument so, als entspräche allen wahren Sätzen eine einzige Tatsache, »die große Tatsache« 29 , und hielt deswegen den faktizistischen Wahrheitsbegriff für »endgültig diskreditiert«. 30 Ich gehe darauf nicht weiter ein. Allerdings bleibt aus dem Gesagten ein Restproblem für die faktizistische Theorie: Ich habe mit der Unterscheidung zwischen bloßen Aussagen und solchen, die obendrein Behauptungen sind, gegen die anderen Wahrheitsbegriffe argumentiert und dabei das Spezifische der Behauptung nach der faktizistischen Theorie als den Anspruch auf Tatsächlichkeit des Ausgesagten bestimmt. Es fragt sich, was das für ein Anspruch ist. Die Frage ist offen, weil Ansprüche sich sonst an andere richten. Das ist hier nicht der Fall. Zwar verbindet sich mit den kommunikativen, zur Mitteilung bestimmten Behauptungen der Anspruch an die Anderen, das Behauptete zu glauben, aber es gibt auch einsame Behauptungen, Feststellungen, die jemand für sich selber trifft. Der Appell gehört nicht zum Sinn der Behauptung, sondern ist eine Folge davon. Also muss ein Sondertyp von Anspruch vorliegen. Evidenz drängt Überzeugungen von Tatsachen mit der Autorität des Seins (alias der Wirklichkeit, der Existenz) auf. Der Mensch kann aber, um sich in der Welt zurechtzufinden, nicht immer auf das relativ seltene Ereignis der Evidenz warten. Er muss sich schon im voraus entscheiden, welche Sachverhalte er als Tatsachen gelten lassen will. Deswegen versetzt er sich in die Rolle der Wirklichkeit und usurpiert deren Autorität, die ihm eigentlich nicht zusteht. Den Rechtstitel ersetzt er durch den Anspruch im Behaupten. Der Anspruch auf Tatsächlichkeit als spezifische Differenz der Behauptung besteht also in dem oft ungeP. Simons sub verbo »Tatsache« in: Historisches Wörterbuch der Philosophie Band 10 1998, Spalte 915 30 W. Künne sub verbo »Wahrheit« in: ebd. Band 12, 2004, Spalte 121 29

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deckten Anspruch, in Kraft und mit der Macht der Wirklichkeit zu sprechen. Bisher habe ich die Existenz der Tatsachen mit zwei Beweisgängen verteidigt, mit der Unterscheidung subjektiver Tatsachen von objektiven und mit dem Exklusionsbeweis für den faktizistischen Wahrheitsbegriff. Ich will jetzt noch einen dritten Beweisgang antreten, der nicht speziell die Tatsachen betrifft, sondern allgemeiner die Sachverhalte, gleichgültig, ob sie Tatsachen oder untatsächlich sind. Dieser Beweisgang betrifft die substitutionssensitiven Kontexte 31 , die seit Quine zu Unrecht als opake bezeichnet werden, zu Unrecht, da sie nicht der Sache nach undurchsichtig sind. Es handelt sich um Sätze mit abhängigen Nebensätzen, die den Inhalt kognitiver Einstellungen des Wissens, Glaubens, Meinens usw. angeben. Paradox sind sie dadurch, dass der Ersatz eines Namens durch einen anderen Namen derselben Sache beim Schließen eine wahre Prämisse in einen falschen Schlusssatz überführt. Das schönste Beispiel stammt aus der Antike und knüpft an eine Szene aus den Choephoren des Aischylos an: Elektra steht am Grabe ihres ermordeten Vaters Agamemnon und ruft ihren Bruder Orestes herbei, damit er den Mord räche. Vor ihr steht ein Verhüllter. Es ist Orestes, der gekommen ist, um den Mord zu rächen, sich aber verhüllt hat, um seine Vorbereitungen unerkannt treffen zu können. Deswegen erkennt Elektra ihn nicht. Daraus ergibt sich nach dem Urteil der antiken Eristiker folgende Lage: »Elektra weiß nicht, dass dieser Verhüllte ihr Bruder ist. Dieser Verhüllte aber ist Orestes. Also weiß Elektra nicht, dass Orestes ihr Bruder ist.« Aber natürlich weiß sie das. Das Rätsel, wie die scheinbar unschuldige Substitution einen wahren Satz in einen falschen überführen kann, besteht so lange, wie man die beiden Vordersätze »Elektra weiß« und »Elektra weiß nicht« als Operatoren versteht, die ähnlich wie Modaloperatoren (»möglich«, »unmöglich«) eine Behauptung in eine Nichtbehauptung überführen, hier in die bloße Wiedergabe eines Gedankens. Vielmehr aber handelt es sich um schlichte Prädikationen von Sachverhalten: Dem Sachverhalt, dass dieser Verhüllte Elektras Bruder ist, wird Nichtgewusstheit Zu den substitutionssensitiven Kontexten vgl. von mir: Logische Untersuchungen, Freiburg i. Br./München 2008, Kapitel 9 (S. 102–107): Intensionen und Extensionen. Ich schließe dort die von Quine zur Sprache gebrachten modalen Kontexte (notwendig sei 9 ungerade, nicht notwendig aber sei 9 die Zahl der Planeten) aus und komme daher hier nicht auf sie zurück.

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Recht

durch Elektra als Prädikat zugeschrieben, ebenso dem Sachverhalt, dass Orestes Elektras Bruder ist. Die erste Prädikation ist richtig, die zweite falsch. Das darf nicht wundern, da es sich um ganz verschiedene Sachverhalte handelt, gemäß meinem Kriterium für Identität und Verschiedenheit von Sachverhalten. 32 Die Substitution ist unzulässig, weil die Kennzeichnung »dieser Verhüllte« einen Nebengedanken einschleppt, der dem einen Sachverhalt einen neuen Inhalt gibt; wenn es statt »dieser Verhüllte« abstrakter »diese Person« hieße, müsste man aus den durch das Demonstrativpronomen angedeuteten Umständen eine entsprechende Abweichung, vielleicht dieselbe, herauslesen. Das LeibnizPrinzip, das die wahrheitstreue Substituierbarkeit verschiedener Namen derselben Sache behauptet 33 , ist nicht allgemein richtig, wie sich vorhin schon an den Existenz-Inductiva gezeigt hat; die substitutionssensitiven Kontexte sind ein weiteres warnendes Zeugnis seiner Unzuverlässigkeit. Jetzt bleibt noch eine auch auf Evidenz bezügliche Frage offen, nämlich die, was Tatsachen selbst sind, wie eine eindeutige Abgrenzung der Tatsachen unter den Sachverhalten zu gewinnen ist. Ich habe die Frage mehrfach behandelt und meine Lösung mit zunehmender Bündigkeit vorgetragen. Es würde zu weit führen, sie abermals zu wiederholen; ich verweise auf meine jüngste Darstellung. 34

2.2 Recht 2.2.1

Die Quellen des Rechts

Die einfachste Rechtsquellenlehre ist die total positivistische, nach der alles Recht durch willkürliche Befehle gemacht ist und seine Geltung empfängt; so ergibt sich die Ansicht von Kelsen: »Die Rechtsordnung ist nichts anderes als Organisation, Macht- und Zwangsorganisation.« 35 Solcher Positivismus kommt ohne verbindlich geltende Normen aus, denn die Motive der Untertanen, sich beliebigem Zwang zu Ebd S. 106 Leibniz, Die philosophischen Schriften hg. v. Gerhardt Band 7 S. 228: »Eadem sunt, quorum unum potest substitui alteri salva veritate.« 34 Logische Untersuchungen 6. Kapitel (S. 65–78): Sachverhalte und Tatsachen 35 Hans Kelsen, Der soziologische und der juristische Staatsbegriff, Tübingen 1922, S. 63 32 33

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fügen, können nur Bequemlichkeit, Furcht, Vorteilsuche und dergleichen sein, was nur zu unverbindlich geltenden Normen reicht, die jeder für sich z. B. zu Gunsten von heroischem Widerstand oder listigem »Durchmogeln« aufgeben kann. In einem solchen System fehlt dem Recht das Pathos, das ihm den Nimbus der Legitimität verleiht: die Überzeugung, bei der Rechtsübung wirklich im Recht zu sein, in einem nicht nur willkürlich gesetzten und nach Belieben änderbaren Recht, sondern einem Recht, das dem Übenden insbesondere die gerechtfertigte Vollmacht verleiht, zu seiner Durchsetzung notfalls Menschen oder Tiere durch Strafen oder Einschüchterungen zu quälen, ohne sich schämen zu müssen. Das gute Gewissen bei der Härte gegen andere ist die Nagelprobe auf die Verbindlichkeit im Recht. Was sonst geschieht, wenn der Zwang auf der Grundlage bloß unverbindlicher Geltung solcher Härte nicht ausweichen kann, zeigt der Ersatz des Rechtsstaates durch den Polizeistaat in Goethes Projekt einer von Auswanderern in Amerika zu gründenden Kolonie: »Das größte Bedürfnis eines Staats ist das einer mutigen Obrigkeit (…). So denken wir nicht an Justiz, aber wohl an Polizei: Ihr Grundsatz wird kräftig ausgesprochen: niemand soll dem andern unbequem sein; wer sich unbequem erweist, wird beseitigt, bis er begreift, wie man sich anstellt, um geduldet zu werden. Ist etwas Lebloses, Unvernünftiges in dem Falle, so wird dies gleichmäßig beiseitegebracht. In jedem Bezirk sind drei Polizeidirektoren, die alle acht Stunden wechseln, schichtweise, wie im Bergwerk, das auch nicht stillstehen darf, und einer unsrer Männer wird bei Nachtzeit vorzüglich bei der Hand sein.« 36 Störer der Ordnung werden wie das Vieh und leblose Hindernisse in Aufbewahrungsanstalten untergebracht und dort einem Besserungstraining unterzogen, bis sie im Sinne des Systems gezähmt sind und als unschädlich geworden wieder freigelassen werden können. Wie ein solches System praktisch funktioniert, ist aus dem Anschauungsunterricht am Verfahren in Diktaturen seit langem bekannt. Von Seiten des Rechtes können dagegen keine Einwände gemacht werden, solange es mit bloß unverbindlich geltenden Normen auskommt; denn dann ist alles erlaubt, was beliebt, hier: den Machthabern. Ein solches Recht kann nicht als Recht im Vollsinn gelten. Daher ist nach anderen Rechtsquellen als den vom Positivismus

Wilhelm Meisters Wanderjahre, 3. Buch, 11. Kapitel, Propyläenausgabe von Goethes Werken Band 41 S. 314

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zugelassenen zu suchen, nach solchen, die die Autorität zum verbindlichen Gelten von Normen besitzen. Einen wichtigen Vorschlag dieser Art macht die Werttheorie, die in Deutschland von Max Scheler und Nicolai Hartmann als Wertethik breit entwickelt wurde und von unverfügbar vorgegebenen Werten ausgeht, nach denen das Recht sich richten müsse. In anderer Einkleidung begegnet sie als Naturrechtslehre, die sich der mythischen Vorstellung von der Natur gleich einer Vorschriften gebenden Göttin bedient. Beim Wiederaufbau des Justizwesens nach 1945 wurde diese Wertethik kurzfristig als Rechtsquellenlehre eingesetzt. Sie scheitert an dem Einwand, den ich als Justine-Juliette-Argument vorgebracht habe. 37 Die Werttheorie unterscheidet gleich der altpythagoreischen Gegensatztafel 38 zwei parallele Reihen, in denen jedem Wert auf der einen Seite ein entsprechender Unwert auf der anderen gegenübersteht, z. B. dem Guten als Hauptwert das Böse als Hauptunwert. Anwendbar wird diese Reihung durch die Vorschrift, den Wert (das Gute) zu tun und den Unwert (das Böse) zu meiden. Nun wird das Böse (oder Schlechte, als Repräsentant oder Inbegriff aller rechtlich bedeutsamen Unwerte verstanden) aber nicht als diesem Anspruch widerstandslos gefügig vorgestellt, sondern als eine dem Guten entgegenstehende Macht in einem Kampf, in dem es auf den Menschen ankommt, um dem Guten den Sieg zu verschaffen. So kann das Böse dem Guten aber nur entgegentreten, wenn es einen eigenen, konträren Anspruch erhebt, der also verlangen muss, das Böse zu tun und das Gute zu meiden. Marquis de Sade hat beide Ansprüche in Gestalt der beiden Schwestern Justine und Juliette personifiziert. Justine verkörpert die Partei des Guten, die vom Autor in höhnischer Scheintugend gelobt wird, aber fortwährend Niederlagen erleidet, während die böse Juliette fortgesetzt triumphiert und ihre Machenschaften frei ausleben kann. Nun fragt sich, welches von beiden Geboten den Vorzug verdient. Der Werttheoretiker (und Naturrechtslehrer) antwortet ohne Besinnen: dem guten Gebot, dem Gesetz der Justine. Er vermag diese Voreingenommenheit aber nicht zu rechtfertigen. Was auch immer er anführen mag – z. B., dass das Böse sich selbst zerstöre; dass die menschliche Natur auf das Rechtsraum S. 12–16. (Mein umfangreiches Buch Der Rechtsraum. Praktische Philosophie [System der Philosophie Band III Teil 3, zuerst 1973, später mehrfach neu aufgelegt] ziehe ich im Folgenden mit dem Titel »Rechtsraum« und Seitenzahl heran.) 38 Aristoteles Metaphysik 986a 23–26 37

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Gute angelegt sei und kein Mensch so böse sein könne, das Böse um seiner selbst willen zu wollen – sticht nicht gegen die Gegenseite, weil diese nicht zuzugeben braucht, dass Selbstzerstörung und eine Verrenkung der Natur nicht sein soll. Vielmehr setzt sie dem Guten die verführerisch ergreifende Macht des Bösen mit dem Nimbus eigener Ausstrahlung und Autorität entgegen, wie die alte Parabel von Herakles am Scheideweg und die Faszination, die von den Schriften des Marquis de Sade vielfach ausgegangen ist und ausgeht, deutlich machen. Eine unparteiische Entscheidung könnte allenfalls auf einer höheren Stufe gesucht werden, aber auch da würde dem Ritter der Tugend ein Teufel begegnen, womit nichts gewonnen wäre. Der Grund für dieses Scheitern der Werttheorie ist das Fehlen ergreifender Macht der Werte. Sie greifen nicht so mächtig wie Feuer und Wasser in das Leben ein, sondern sind wie Leitsterne und Richtpunkte, die einem integren Subjekt höchstens orientierend gegenübertreten. Dieses Subjekt kann, da ihm von den Werten nichts angetan wird, was seinen Widerstand ganz oder teilweise lähmen müsste, so unbefangen über seinen Zuspruch befinden, wie Paris über die Vergabe des Apfels, und daher zwischen den konträren Ansprüchen die Balance halten. Bloß aggressiv das Subjekt heimsuchende, im Realzusammenhang unmittelbar wirkende Mächte vermögen dieses Gleichgewicht zu verschieben, indem sie der Person die Unbefangenheit rauben. Nur dadurch kommt eine Autorität zu Stande, die der Geltung von Normen Verbindlichkeit für jemand (in seiner Perspektive) verleiht. Eine solche Macht traut der Vernunft die Diskurstheorie zu, die von Apel als Diskursethik begründet, von Habermas im Gefolge von Peirce zu der unter 2.1 mit allen rationalistischen Wahrheitstheorien widerlegten Konsensustheorie der Wahrheit ausgebaut und von Alexy auf das Recht angewandt, vor allem aber durch Aufstellung eines Systems von Diskursregeln39 so vervollständigt wurde, dass man sie als einigermaßen geschlossene Vorlage vor Augen hat. »Die Diskurstheorie ist eine prozedurale Theorie. Nach ihr ist eine Norm genau dann richtig, wenn sie das Ergebnis der durch die Diskursregeln definierten

Robert Alexy, Theorie der juristischen Argumentation, Frankfurt a. M. 1976, 2. Auflage 1991, S. 361–367: Tafel der erarbeiteten Regeln und Formen. Im Nachwort zur 2. Auflage bezieht Alexy eine Rückzugsposition, so dass er nur noch begrenzt der Theorie angeschlossen werden kann.

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Prozedur sein kann.« 40 »Die Diskursethik gibt keine inhaltlichen Orientierungen an, sondern nur eine voraussetzungsvolle Prozedur, die Unparteilichkeit der Urteilsbildung garantieren soll. Der praktische Diskurs ist ein Verfahren nicht zur Erzeugung gerechtfertigter Normen, sondern zur Prüfung der Gültigkeit hypothetisch erwogener Normen.« 41 Was den Werten abgeht, soll die Magie der Vernunft als der »zwanglose Zwang des besseren Arguments« ersetzen, zwanglos, weil nicht mit der zwingenden Gewalt einer Deduktion nach logischen Schlussregeln ausgerüstet: »Die neuere philosophische Diskussion macht plausibel, dass einverständliche Handlungskoordination ›idealiter‹ durch rationale Argumentation erreicht werden kann. Es handelt sich um die Wiederbelegung und systematische Vertiefung der sokratisch-dialektischen Tradition, die glaubt, dass Konsens über Wahrheitsund Gerechtigkeitsfragen durch den zwanglosen Zwang besserer Argumente vermittelt werden kann.« 42 Worin könnte der Vorzug des besseren Argumentes vor dem weniger guten bestehen? Eine sinnvolle Anwendung der Formel ist möglich, wenn die Argumente der Diskurspartner in die binnendiffuse Bedeutsamkeit einer ihnen gemeinsamen Situation eindringen, um diese zu klären und auf die Probe zu stellen, eventuell sogar durch Aufdeckung der in der Binnendiffusion verdeckten Inkonsistenzen (Unverträglichkeiten) zu zersetzen. Es kann sich um die Klärung einer aktuellen Situation auf dem Hintergrund einer beharrenden zuständlichen handeln, aber auch um eine argumentativ-kritische Revision der in zuständlichen Situationen, die Standpunkte 43 sind wie ein Christentum, enthaltenen Grundüberzeugungen, betreffend Sachverhalte, Programme und Probleme. Die Zersetzung eines solchen Standpunktes, die nicht nur durch Argumentation, sondern auch durch ein Platzen von innen eintreten kann, führt dann zu einer neuen Situation, die entweder von verbindlichen Geltungen frei ist und in die totale Frivolität bloß noch unverbindlicher Geltung mündet oder den Genossen – Ebd. (2. Auflage) S. 399 Jürgen Habermas, Moralbewusstsein und kommunikatives Handeln, Frankfurt a. M. 1983, 3. Auflage 1988, S. 133 42 Christoph Meier, Zur Diskussion über das Rechtsgefühl, Berlin 1986, S. 85. Die Formel »zwangloser Zwang des besseren Argumentes« findet sich öfters auch bei Habermas. 43 Über Standpunkte als Situationen: Hermann Schmitz, System der Philosophie Band III Teil 4, zuerst Bonn 1977, S. 417–421 40 41

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den Teilnehmern des vorigen Diskurses oder einem Teil davon oder auch anderen – neue verbindliche Geltungen auferlegt. Ich will das durch ein noch nicht realisiertes, aber sich abzeichnendes Beispiel erläutern. Seit der Französischen Revolution, in Deutschland seit Kant und Herder, hat sich im Zeichen der Humanität das Ideal einer demokratischen Gesellschaft herausgebildet, in der die Menschen freiheitlich, egalitär, tolerant, friedlich, fürsorglich für Notleidende und vernünftig in der Ausgleichung ihrer Interessen zusammenleben. Es bedarf des technischen Fortschritts, damit die Menschen so viel Gelegenheiten zur Befriedigung ihrer Wünsche und Entfaltung ihrer Fähigkeiten finden, dass Freiheit und Gleichheit zusammenpassen, und dieser Fortschritt wird ihnen mit sich überstürzender Beschleunigung gewährt. Durch ihn und die soziale Organisation individueller Entfaltungsmöglichkeiten entsteht ein riesenhaftes System vernetzter Angebote, das den Spielraum noch ungeformter Möglichkeiten eigenen Schöpfens und Gestaltens zudeckt; die Freiheit des Einzelnen besteht nur noch in der der Weichenstellung, seinen persönlichen Weg durch das Schienennetz zu wählen. Das ist eine rezeptive Freiheit des Konsums aus dem Angebot des Informations-, Arbeits-, Freizeit-, Versorgungs-, Reise- und Erlebnisbetriebs, einschließlich des Fernsehens und des Computers. Das Befürfnis, spontan zu sein, selbst etwas zu schaffen, kommt zu kurz. Auf diese Weise schlägt Befreiung in Lähmung um. Man könnte ein weiteres Kapitel in Hegels Phänomenologie des Geistes damit füllen und darüber viele Diskurse führen. Man kann sich aber auch vorstellen, dass einmal eine Revolte des abenteuerlichen Lebens die Situation sprengt und zu einem neuen Standpunkt zwischen Nietzsche und Sartre führt. Vielleicht kommt alles auch anders. Solange der Diskurs auf dem Boden einer gemeinsamen Überzeugung geführt wird, nämlich der binnendiffusen Bedeutsamkeit einer zuständlichen Situation, deren Binnendiffusion die Argumente durch Explikation und Abwägung einzelner Bedeutungen zu klären helfen, ist der Vorsprung des besseren Argumentes leicht zu bestimmen; dessen zwangloser Zwang besteht dann darin, dass die Gesprächspartner besser verstehen, was sie gemeinsam vorausgesetzt haben. Die Diskurstheorie traut sich aber mehr zu. Sie will über die Geltung von Normen, woher diese auch stammen mögen, durch bloße vernünftige Erörterung gemäß den Regeln optimaler Fairness entscheiden. Wann bei dieser Prozedur ein Ergebnis erreicht sein wird, bleibt offen. Die Richtigkeit, d. h. berechtigte Geltung, einer Norm wird also durch ein 46 https://doi.org/10.5771/9783495860755 .

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Ereignis definiert, von dem man nur zu sagen weiß, mit welchem Verfahren es angestrebt werden kann, aber nicht einmal, welches Merkmal es den Diskursstadien auf dem Weg zu ihm voraushaben soll; denn bloßer Konsens kann nicht genügen, weil er nachträglich wieder in Frage gestellt werden kann. Die Richtigkeit einer Norm wird also durch ein Ereignis definiert, von dem man nicht zu sagen vermag, woran man es erkennen kann. Das heißt, die Theorie hat gar keinen Gehalt für die Bemessung der Richtigkeit einer Norm, sondern beschränkt sich auf den in der Tat sehr guten Rat, möglichst fair zu diskutieren. Aber auch dieser prozedurale Vorzug muss durch die Unterscheidung zwischen Absicht und Erfolg relativiert werden. Zwar ist die Absicht, den Regeln zu folgen, optimal zweckmäßig für die Hoffnung, wahre Überzeugungen über Sachverhalte und Normen im Gespräch zu finden, sofern nicht das Stimmengewirr die verfügbare Zeit verbraucht und die Übersicht vereitelt. Ob aber der Erfolg auf diesem Weg oder bei Verletzung der Regeln eintritt, ist offen. Regeltreue können sich beliebig lange irren, und aus Regelverstößen, sogar Lügen, einzelner Teilnehmer können bei anderen wichtige Einsichten werden. Die Diskursregeln von Alexy39 begründen demnach nicht die Vernünftigkeit von Normen, die als absolute Vernünftigkeit eine Leerformel ist und bloß als relative Vernünftigkeit in Situationen Sinn hat; wohl aber weisen sie den Weg zur kritischen Prüfung aller dogmatischen Geltungsansprüche und helfen damit den Menschen, sich darüber klar zu werden, was sie wirklich wollen. Im Einzelnen bleiben die Regeln an manchen Stellen fragwürdig. Was ein guter Grund ist – und nur gute Gründe dürften in Argumenten angeführt werden –, wird nicht gesagt, ebenso wenig, was die relevanten Merkmale sind, deren Gleichheit zur Gleichbehandlung von Fällen führen soll, woran man ihre Relevanz erkennen kann. Die wichtige Regel 5.2.2, auf die Habermas die ganze normative Diskurstheorie aufbauen will 44 , dürfte unerfüllbar sein; sie lautet: »Die Konsequenzen jeder Regel für die Befriedigung der Interessen eines jeden einzelnen müssen von allen akzeptiert werden können.« Ein grenzenlos übertriebener Vernunftoptimismus gehört zu der Erwartung, die Interessen aller Menschen ohne Rücksicht auf den Unterschied der Situationen und Standpunkte, aus denen sie leben, auf einen Nenner zu bringen; ich erinnere nur an den eben ausgemalten Gegensatz zwischen einem humanitären Idea44

Wie Anm. 41, S. 252 und 303

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listen und dem Freund des abenteuerlichen Lebens, der aus der lähmenden Verstrickung in ideale Humanität auszubrechen sucht. Somit sind die beiden Versuche gescheitert, die Quelle des Rechts in feststehenden idealen Richtmaßen (Werttheorie, Naturrecht) oder in bloßen Prozeduren des sokratischen Gesprächs mit der Aussicht auf einen Sieg der Vernunft (Diskurstheorie) zu finden. Beide beruhen auf einem Überfliegen der Wirklichkeit, denn was die Werttheorie ins Überzeitliche versetzt, projiziert die Diskurstheorie aus Verzweiflung an der Möglichkeit allgemeiner Übereinstimmung in der zerklüfteten Glaubenswelt von heute in eine unbestimmbar ferne Zukunft, aus der her das Licht einer idealen Vernunft den redlichen Verständigungsbemühungen unter Menschen magisch entgegenleuchtet. Die Phänomenologie hält sich dagegen an die Wirklichkeit, genauer: an die Sachverhalte, die sich jeweils als Tatsachen so hartnäckig aufdrängen, dass ihnen die Tatsächlichkeit nicht im Ernst abgesprochen werden kann. Dafür kommen bei der Suche nach Quellen verbindlicher Geltung im Recht nur die Gefühle in Betracht. Sie sind notwendig und hinreichend dafür, dass es Recht und Unrecht gibt: notwendig, denn ohne affektives Betroffensein wäre alles gleichgültig, und affektives Betroffensein ist Betroffensein durch Gefühle (auf dem Weg über leibliches Ergriffensein) oder durch bloße leibliche Regungen wie Hunger, Durst, Wollust, Müdigkeit, die zur Stiftung von Recht und Unrecht nicht geeignet sind; zureichend, denn Zorn und Scham sind Rechtsgefühle, die anzeigen, dass Unrecht geschehen ist (Zorn) bzw. man selbst im Unrecht ist (Scham). Ob man mit Zorn oder Scham reagiert, hängt oft davon ab, ob man sich im Recht oder im Unrecht glaubt. Das Übliche wäre, von einem konstruierten Recht-/Unrechts-Begriff auszugehen und die betreffenden Gefühle, die schon die kleinen Kinder, noch ehe sie Gut und Böse unterscheiden, aufbegehren oder etwa auch einknicken lassen, nur als nachträgliche oder zusätzliche Anzeigen oder Reaktionen auf vorgegebene Werte oder dergleichen gelten zu lassen. Es hat sich gezeigt, dass das zu nichts führt. Die Phänomenologie kehrt den Spieß um und nimmt die unverkennbaren, empirischen Tatsachen des Gefühls als Grundlagen der Begriffsbildung über Recht und Unrecht, aber nur hinsichtlich dessen, dass und was sie sind; was sich im Einzelfall hier und jetzt als Recht oder Unrecht herausstellt, kann nicht einfach an Zorn und Scham abgelesen werden, sondern nur an deren vernünftiger Pflege in einer Rechtskultur. Der Aufbau des Rechts über den Rechtsgefühlen strapaziert das 48 https://doi.org/10.5771/9783495860755 .

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herkömmliche Verständnis der Gefühle und dessen anthropologische und ontologische Wurzeln so sehr, dass vor dem Studium dieser Gefühle eine Vorbetrachtung eingeschoben werden muss, die dieses Verständnis so weit zurechtrückt, dass die folgenden Aufstellungen auf neuer Grundlage glaubwürdig sein können. Nach traditioneller Auffassung ist das gesamte Erleben jedes Bewussthabers in eine ihm zugeordnete private Innenwelt, etwa eine Seele oder ein Bewusstsein, eingeschlossen und sind die Gefühle Zustände in dieser Innenwelt wie die Empfindungen, allenfalls intentionale Akte (Weisen des »Bewusstseins von etwas«). Wie aus solchen privaten Zuständen eine verlässliche Grundlage für das Urteil über Recht und Unrecht in größeren oder kleineren Gemeinschaften hervorgehen sollte, wäre nicht verständlich zu machen. Daher ist es geboten, zunächst wenigstens skizzenhaft in das Verhältnis der Person zum Gefühl auf der neuen Grundlage einzuführen, der ich einen großen Teil meiner philosophischen Lebensarbeit zugewandt habe. Das ist die Aufgabe des nächsten Unterkapitels.

2.2.2

Das Gefühl in anthropologischer und ontologischer Sicht

In diesem Abschnitt geht es darum, von der Auffassung der Gefühle als Seelenzustände loszukommen und sie als Atmosphären verstehen zu lernen. Zu diesem Zweck gehe ich vom Begriff der Person aus. Eine Person, wie ich das Wort verstehe, ist ein Bewussthaber mit Fähigkeit zur Selbstzuschreibung. Selbstzuschreibung besteht darin, etwas, und zwar einen Fall mehrerer Gattungen, für sich selbst zu halten. Auf diese Weise kann die Person in beweglicher Weise, gleichsam von verschiedenen Seiten her, auf sich selbst reflektieren, sich vielseitig orientieren und Optionen wahrnehmen. Fall mehrerer Gattungen zu sein, ist das Selbe wie mit etwas identisch zu sein (relative Identität); so ist z. B. ein türkischer Schuster in Kreuzberg identisch mit einem Schuster, einem Mann, einem Europäer, einem Berliner, einem Kreuzberger, einem Türken (lauter Gattungen). Der relativen Identität liegt die absolute zu Grunde, dass etwas es selbst und von anderem verschieden ist (noch ohne Rücksicht auf Gattungen). Identifizierung gibt es erst durch relative Identität. Selbstzuschreibung ist ein identifizierendes Sichbewussthaben. Es setzt ein nicht identifizierendes Sichbewussthaben voraus und ist nur als zusätzliche Information zu dieser primären Kenntnis von sich möglich. Um an mir zu exemplifizieren: Wenn mir nicht 49 https://doi.org/10.5771/9783495860755 .

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schon bekannt ist, dass ich es bin, um den es sich handelt, führt jede identifizierende Zuschreibung ad infinitum von einer Gattung zur anderen (z. B. durch sechs Stufen wie bei jenem Schuster), aber nie auf den Gedanken, dass ich der bin, mit dem identifiziert wird. Das liegt daran, dass in allen objektiven (oder neutralen) Tatsachen, die jeder aussagen kann, sofern er genug weiß und gut genug sprechen kann, kein Grund zu der Annahme enthalten ist, dass ich der Fall bin, den die betreffenden Gattungen oder Bestimmungen gleichsam einkreisen. Ich muss diese Kenntnis mitbringen, damit die Identifizierung zur Selbstzuschreibung werden kann. Ich bringe sie mit durch die subjektiven Tatsachen meines affektiven Betroffenseins, d. h. dessen, was mir nahe geht; diese Tatsachen sind nicht neutral, sondern gleichsam auf mich zugeschnitten, mit der sie von objektiven Tatsachen unterscheidenden Folge, dass nur ich sie aussagen kann. Wenn ich von der Subjektivität für mich, die diese Tatsachen den objektiven voraushaben, absehe und mich gleichsam objektiviere oder versachliche, kann ich am Leitfaden objektiver Tatsachen weiterforschen und so den Informationsgewinn durch Selbstzuschreibung nützen, um mir über meine Stellung in der Welt klar zu werden. Das Entsprechende, wie für Tatsachen, gilt für untatsächliche Sachverhalte, Programme und Probleme. Die subjektiven Tatsachen meines affektiven Betroffenseins enthalten zweierlei: was mich betroffen macht und mich, den es betroffen macht. Damit sie mir ohne Identifizierung die Bekanntschaft mit mir geben, muss mir das zweite Glied in ihnen (ich, der Betroffene) identifizierungsfrei bekannt werden. Das ist nur im Rückgang auf einen Zustand möglich, in dem absolute Identität (dieses selbst zu sein) und Subjektivität für mich (ich zu sein) so zusammenfallen, dass keine Identifizierung die Brücke zwischen ihnen zu schlagen braucht, aber auch keine möglich ist, weil die zur relativen Identität gehörigen Gattungen nicht verfügbar sind. Dieser Zustand ist die primitive Gegenwart beim plötzlichen Einbruch des Neuen, der Dauer zerreißt, indem er Gegenwart exponiert und die zerrissene Dauer ins Vorbeisein verabschiedet. In der primitiven Gegenwart fallen die fünf Momente hier, jetzt, sein, dieses, ich so zusammen, dass ihre Verschiedenheit erst bei der Analyse im Rückblick, wenn wieder Gattungen zur Verfügung stehen, zum Vorschein kommt. Die primitive Gegenwart ist ein seltener, bei Bewusstsein vielleicht nie ganz rein – außer etwa im heftigen Schreck, der zusammenfahren lässt – erreichter Ausnahmezustand, der aber beständig durch die Engungskomponente des vitalen Antriebs 50 https://doi.org/10.5771/9783495860755 .

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im spürbaren Leib vorgehalten werden muss, weil es sonst mangels eines Einschnittes in der Dauer keine absolute Identität gäbe und alles gleitend in einander überginge. Der vitale Antrieb ist eine dialogische Verschränkung von Engung und Weitung als Spannung und Schwellung. Er erweitert sich zum gemeinsamen Antrieb in dialogischer Verschränkung mit Begegnendem und Umgebendem durch antagonistische Einleibung (mit Zuwendung wenigstens von einer Seite), die kraft leibverwandter Brückenqualitäten (Bewegungssuggestionen und synästhetische Charaktere) auch leiblose Partner zulässt. Außer der antagonistischen Einleibung gibt es gemeinsamen Antrieb ohne Zuwendung zu einander in der solidarischen Einleibung, z. B. bei gemeinsamem Singen, Rudern, Klatschen, in Aufruhr, Panik, stürmischem Mut einer Truppe. Aus gleitender Dauer, sie zerreißender primitiver Gegenwart, vitalem Antrieb und Einleibung besteht das Leben aus primitiver Gegenwart, das Tiere, Säuglinge und Personen führen, diese bei routinierten Verrichtungen wie der flüssigen Körperbewegung und beim Sprechen im Verhältnis zur gesprochenen Sprache (und als flüssige Körperbewegung) sowie in Zuständen der Fassungslosigkeit. Dieses Leben ist voll von Situationen (aktuellen und zuständlichen mit Unterschied bezüglich der Dauer, impressiven und segmentierten mit Unterschied bezüglich der augenblicklichen Gegebenheit); deren binnendiffuse Bedeutsamkeit wird nicht in einzelne Bedeutungen entfaltet, sondern ganzheitlich mit Rufen (bei Personen: Ausrufen) und Schreien heraufbeschworen, modifiziert und beantwortet. Das Leben aus primitiver Gegenwart entfaltet sich durch Vereinzelung in Kraft der satzförmigen Rede, die einzelne Bedeutungen (Sachverhalte, Programme, Probleme) aus der binnendiffusen Bedeutsamkeit von Situationen herausholt und zu Konstellationen vernetzt. Einzeln ist, was eine Anzahl um 1 vermehrt (anders ausgedrückt: was Element einer endlichen Menge ist); dazu gehören absolute Identität und Fallsein unter Gattungen, die gewisse in satzförmiger Rede explizierte Bedeutungen (Sachverhalte, oft mit Programmen und/oder Problemen gefüllt, s. o. Anmerkung 7) sind. Mit der Vereinzelung entfalten sich die fünf Momente der primitiven Gegenwart zur Welt als dem Feld möglicher Vereinzelung: Das Hier (die Enge des Zusammenfahrens) wird zum Ortsraum aus relativen Orten, die durch Lagen und Abstände bestimmen, wo etwas ist; das Jetzt (das Plötzliche) wird zur modalen Lagezeit aus relativen Gegenwarten mit Fluss der Zeit; das Sein tritt in Gegensatz zum Nichtsein überhaupt (statt bloß zum 51 https://doi.org/10.5771/9783495860755 .

Verbindlich geltende Normen

Nichtmehrsein der zerrissenen Dauer) mit Übertragung der Einzelheit ins Nichtseiende; die absolute Identität ergänzt sich zur relativen, die das Einzelne vielseitig macht; das nur erst absolut identische Subjekt des Lebens aus primitiver Gegenwart erhebt sich durch Selbstzuschreibung zum einzelnen, zur Person, mit Gegensatz des Eigenen (persönliche zuständliche Situation alias Persönlichkeit, persönliche Eigenwelt) und Fremden (persönliche Fremdwelt). Zu dieser Entfaltung der primitiven Gegenwart auf der Seite der Subjektivität genügt aber nicht die Vereinzelung. Vielmehr muss die Neutralisierung von Bedeutungen, die im Leben aus primitiver Gegenwart sämtlich subjektiv sind, und die daraus sich ergebende Verfremdung von Sachen hinzukommen, damit sich dem Fremden und Neutralen gegenüber das Eigene und Subjektive abheben kann. Diese Abhebung ist personale Emanzipation. Ohne sie nützte die Selbstzuschreibung der Person nichts zu beweglicher Selbstbesinnung; die Person verharrte dann in einem Zustand ähnlich wie in bedrängenden Träumen. Möglich ist personale Emanzipation aber nur zusammen mit der entgegengesetzten personalen Regression zurück zum Leben aus primitiver Gegenwart, wo die Abhebung des Eigenen vom Fremden wieder schwindet; denn dort befindet sich die unentbehrliche Wurzel der Selbstzuschreibung. Der Zwiespalt von personaler Emanzipation und personaler Regression ist die Labilität der Person. An ihr scheitert die Vorstellung einer das gesamte Erleben der Person in sich abschließenden privaten Innenwelt mit der Vernunft über den unwillkürlichen Regungen, weil sie eine stabile Person voraussetzt, die entweder in dieser Innenwelt oder (als reines Ich nach Husserl) an deren Rand ihren Sitz hat. Zwar hängen die persönliche Situation und die persönliche Eigenwelt der Person an, aber diese taucht auch in personaler Regression unter sie ab, und beim Wollen tritt ihr ihre persönliche Situation wie ein Partner gegenüber, in dem sie sich zurechtfinden muss, um zu wissen, was sie will: 45 In dieser labilen Zwischenlage kann sich die Person nur durch spielerische Identifizierung stabilisieren, indem sie sich eine Fassung gibt als etwas, das fester bestimmt ist als sie wirklich ist. Für die Ablagerung der Gefühle in einer stabil gegliederten Seele unter anderen Seelenzuständen oder Bewusstseinsinhalten, wie in einem Haus mit Stockwerken und Möbeln darin, ist dann kein Raum mehr da. Zum Wollen vgl. Hermann Schmitz, Bewusstsein, Freiburg i. Br./München 2010, S. 95–109

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An die Stelle einer Schichtung in der Seele tritt ein dynamisches Verhältnis, in dem die Person zwischen einem Niveau personaler Emanzipation (oder auch mehreren gleichzeitig eingenommenen Niveaus) und dem Leben aus primitiver Gegenwart unterwegs ist, für ihr Personsein angewiesen auf das leiblich-affektive Betroffensein, das entweder Betroffensein von bloßen leiblichen Regungen (wie Schreck, Schmerz, Angst, Hunger, Durst, Behagen, Wollust, Frische, Müdigkeit) oder von Gefühlen (durch das Medium leiblicher Regungen) ist. Beide Weisen des Betroffenseins unterscheiden sich dadurch, dass nur das Betroffensein von Gefühlen ein stürmisches oder schleichendes Ergriffenwerden ist, wobei der Ergriffene dem ihn ergreifenden Impuls zunächst mit seinem eigenen Impuls folgen, also in jenen einstimmen muss und erst danach die Chance personaler Stellungnahme in Preisgabe oder Widerstand erhält. Auf diese Weise hat das Gefühl vor dem Fühlen im Sinne des Ergriffenseins eine kausale Priorität durch anfängliche Führung, ob auch eine zeitliche, ist fraglich. Außer dem Fühlen als Ergriffenheit gibt es das Fühlen als bloßes Wahrnehmen einer Atmosphäre; dieses kann, aber muss nicht in leiblich-affektives Betroffensein (Ergriffenheit von ihr) übergehen. In solcher Lage ist Goethes Faust, der, als lüstern verliebter Spion Gretchens Zimmer betretend, überrascht ausruft: Wie atmet rings Gefühl der Stille, Der Ordnung, der Zufriedenheit! 46 Das Zimmer ist bei seinem Eintritt von Menschen leer; niemand ist da, der das Gefühl fühlen und von sich geben könnte. Es ist von selbst da, als Atmosphäre. Es wartet gleichsam auf den eintretenden Faust. Leicht kann man sich vorstellen, dass etwas davon auf ihn übergeht, ob es ihn nun nur streift oder ergreift. Solche Atmosphären des Gefühls sammeln sich wie ein Nimbus, eine Aura, um Menschen, Sachen und Orte, wie der um die ganze Form der schönen Lampe im fast vergessenen Lustgemach ergossene sanfte Geist des Ernstes, der das Schöne in sich selbst scheinen lässt, nach Mörike 47 oder die von Bruno Müller ausstrahlende Atmosphäre absoluter Redlichkeit nach Max Weber. 48 HierGoethe, Faust, Vers 2691 f. Mörike, Auf eine Lampe, vgl. dazu Hermann Schmitz, System der Philosophie Band III Teil 2, zuerst Bonn 1969, S. 372–374 48 Marianne Weber, Max Weber. Ein Lebensbild, Tübingen 1926, zitiert S. 400 Max 46 47

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hin gehört auch das Numinose nach Rudolf Otto, die Atmosphäre des Heiligen, ambivalent zwischen Scheu und Schauder weckendem Geheimnis und faszinierender Anziehung, von dem Rationalisten Kant fast ironisch angesprochen als »die Verwunderung, die an Schreck grenzt, das Grausen und der heilige Schauer« beim Anblick schroff emporsteigender Gebirge, tobender Gewässer und tief beschatteter Einöden 49 , eindringlich als Atmosphäre heiliger Orte beschworen von den lateinischen Klassikern, Shaftesbury, Goethe. 50 Aber auch private Gefühle des Einzelnen, die nicht ausstrahlen, erweisen sich oft als Atmosphären, so die Freude, in die man sich – z. B. bei Erleichterung von einer schweren Sorge – mit erschlaffender Spannung fallen lässt und die einen trotzdem hebt, weil sie eine levitierende Atmosphäre ist, die das Leben (leiblich spürbar, nicht körperlich) leicht macht, in der man schweben, leichtfüßig gehen oder gar springen kann. Oder die Verzweiflung als ennui, als Stimmung atmosphärischer Leere, die nicht nur aus Resignation entspringt, sondern auch von der kühlen, bleichen Abenddämmerung oder einem nebligen Morgen im hässlichen Häusermeer einer Großstadt eingegeben wird. Oder die Scham, die von einem, der sich beschämend benimmt und dabei entweder schämt oder gar nicht schämt, als zur Peinlichkeit gedämpfte Atmosphäre auf die Umstehenden ausstrahlt, so dass sie nicht gerade, wie der von katastrophaler Scham Betroffene, die Augen senken, aber vielleicht zukneifen und lieber weg wären. Die Beispiele könnten vermehrt werden. Ihnen folge ich mit der These: Gefühle sind Atmosphären. Eine Atmosphäre, wie ich sie verstehe, ist die Besetzung eines Weber, »Er war einer jener Männer, von denen man wusste, niemand, er sei wer er wolle, hätte je gewagt, mit ihm oder in seiner Gegenwart, auch nur im flüchtigen Gespräch, unreine und zweideutige Dinge, in welchem Sinn auch immer, auch nur zu berühren, oder selbst in Gedanken dahin abzuirren. Eine solche Luft voll Reinheit des Herzens, des Körpers und des Geistes ging von ihm aus. Es war unmöglich (…), ihm durch unechte Mittel, durch Pose und Phrase, falsches Pathos und eitle Selbstinszenierung jemals zu imponieren. Alles das zerstob in den Wind vor seinem reservierten und ruhigen, aber darin äußerst sicheren Blick. (…) Nicht durch Worte wirkte er, verständigte man sich mit ihm, kam sein Wesen zur Geltung. Sondern durch jenes Gefühl der völligen Geborgenheit und Sicherheit war man ihm nahe (…) er war der Mensch, dem man vertraute, bedingungslos vertraute, schon ehe er das erste Wort gesprochen hatte, und ohne dass irgend ein Wort dies Vertrauen hätte steigern können.« 49 Kritik der Urteilskraft, 3. Auflage 1799, S. 117 50 Die Stellen habe ich angegeben, z. T. angeführt, in: System der Philosophie Band III Teil 4, zuerst Bonn 1977, S. 130–132

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flächenlosen Raumes im Bereich dessen, was als anwesend erlebt wird. Die abendländische Tradition hat seit der griechischen Geometrie, und erst recht seit der den Raum mit Netzen der Ortsbestimmung überziehenden Koordinatengeometrie, die flächenlosen Räume aus dem Blick verloren und die flächenhaltigen einseitig zur Konstruktion von Ortsräumen als Systemen relativer, durch Lagen und Abständen sich gegenseitig bestimmender Orte in höchstens drei Dimensionen benützt. Flächenlos sind z. B. der Raum des Schalls (mit Richtungen, Bewegungssuggestionen, Weite und Ferne, Massigkeit verschiedener Art und verschiedenen Grades, aber ohne Flächen, Linien, Punkte, Körper), die Räume der einprägsamen Stille, des Wetters, des unauffälligen Rückfeldes, des entgegenschlagenden Windes (mit Bewegung ohne Ortswechsel), des Wassers für den Schwimmer (mit flächenlosem, also auch nicht dreidimensionalem Volumen, wie man es am eigenen Leib z. B. beim Einatmen spürt). Die wichtigsten Formen flächenloser Räume sind der Raum des spürbaren Leibes und der Raum der Gefühle, die Halbdinge sind wie die Stimme, der chronische Schmerz, der Wind, die reißende Schwere, viele Geräusche, Melodien, die einem hartnäckig durch den Kopf gehen. Probleme, die man nicht los wird, die Nacht und die Zeit, wenn sie unerträglich lang wird. Halbdinge dauern potentiell unstetig, so dass es sinnlos ist, nach ihrem Verbleib in der Zwischenzeit zu fragen, und wirken unmittelbar, in dem Sinn, dass Ursache und Einwirkung zusammenfallen. Ein Gefühl kann hier und da auftauchen, ohne des räumlichen und zeitlichen Zusammenhangs zu bedürfen. Oft wird es durch die Lebensumstände und -geschicke eines Menschen geweckt und ist dann so wenig deshalb, weil Umstehende nichts davon merken, nicht vorhanden, wie Kopf- und Bauchschmerz, die auch nur einer spürt; ebenso können Gefühle aber auch mit einem Schlag Massen und Gruppen von Menschen ergreifen. Fast immer sind Gefühle in Situationen eingebunden, Liebe z. B. in eine zuständliche Situation 51 , Freude meist in eine aktuelle. Aber auch nackte Atmosphären des Gefühls ohne einhüllende Situation mit binnendiffuser Bedeutsamkeit kommen vor, etwa als die Freude und Traurigkeit, wovon Zyklothymiker unversehens und unverständlich überfallen werden, mit klassischer Darstellung in Mörikes Gedicht Verborgenheit. Solche »nackten« Gefühle präsentiert oft die Musik, besonders in älterer Zeit, als die barocke Affektenlehre und Rhetorik der Verwechslung des Ge51

Hermann Schmitz, Die Liebe, Bonn 1993, S. 63–100

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fühls mit dem subjektiven Fühlen vorbeugte: In den Tönen steht die Atmosphäre mächtig da, aber es wäre sinnlos, daran zu interpretieren, um eine Bedeutsamkeit aus Sachverhalten, Programmen und Problemen herauszuholen. Gefühle haben Autorität, z. B. Freude und Trauer. In meinem Buch Der Gefühlsraum habe ich drei Zeugnisse von Wilhelm Raabe (aus Zum wilden Mann), Wilhelm Waiblinger (aus seinen Tagebüchern) und Hans Apfelbach (Fallbericht) für die Proteststimmung des Traurigen zusammengestellt, der mit geschärfter Sensibilität eine um ihn verbreitete strahlende Heiterkeit des Wetters und der Landschaft als etwas wahrnimmt, das nicht sein dürfte, das ihn erbittert und peinigt. 52 Hier stehen zwei konträre Atmosphären in einem einzigen Raum erlebter Anwesenheit zusammen, die eine als bloß wahrgenommen, die andere ergreifend, aber nicht friedlich wie zwei ganzheitlich-leibliche Atmosphären, z. B. Müdigkeit und Frische oder faules Behagen und kraftvolle Gespanntheit, die sich trotz ihres Gegensatzes nicht zu stören brauchen, wenn sie im selben Raum zusammentreffen. Atmosphären des Gefühls dagegen prallen zusammen und suchen sich zu verdrängen, wenn sie konträr sind und zusammentreffen, weil jede von ihnen mit Autorität den Anspruch erhebt, den Raum erlebter Anwesenheit ganz zu besetzen. Noch deutlicher wird das an dem von mir oft herangezogenen sozialen Gefühlskontrast. Ich vergleiche ein Paar konträrer Gefühle, Fröhlichkeit und Trauer, mit einem Paar verwandter und zugeordneter Atmosphären des leiblichen Befindens, Frische und Mattigkeit. Wenn ein Fröhlicher ahnungslos auf eine Gruppe tief trauriger Menschen trifft, wird er bei einiger Feinfühligkeit den Ausdruck seiner Fröhlichkeit etwas dämpfen, vielleicht gar scheu zurücktreten; wenn dagegen ein Frischer in eine Gesellschaft von Matten kommt und etwas von ihnen will, wird er eher geneigt sein, sie durch Zuruf oder gar Zugriff aufzurütteln und, wenn das nichts hilft, ihnen eine Stärkung zu reichen oder den Arzt zu rufen usw. Dieser Unterschied im Kontrastgrad ist nicht mit Respekt vor den anderen Menschen zu erklären, denn der käme auch den Matten zugute und würde angesichts der Trauernden eher den Zugriff nahe legen, sie aufzurichten, um ihnen die Haltung des Stolzes und der Würde zurückzugeben. Vielmehr ist es die Trauer als Atmosphäre, deren Autorität hier mit stärkeHermann Schmitz, System der Philosophie Band III Teil 2, zuerst Bonn 1969, S. 104 f.

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rem Gewicht die ebenso vorhandene Autorität der Fröhlichkeit unterdrückt, weil sie den Anspruch erhebt, den Raum erlebter Anwesenheit total zu besetzen. Bloß leibliche Atmosphären haben keine solche Autorität und neigen auch nicht zu totaler Erfüllung des jeweiligen Raumes. Für den Trauernden selbst ist die Autorität seines Gefühls so stark, dass es ihn gleichsam in die Pflicht nimmt, sich in seine Trauer zu vertiefen und gegen vorzeitige Tröstungen und andere Ablenkungen zu wehren. Er widerlegt damit die Behauptung von Kant: »Glücklich zu sein, ist notwendig das Verlangen jedes vernünftigen, aber endlichen Wesens und also ein unvermeidlicher Bestandteil seines Begehrungsvermögens.« 53 Ich will nun noch einige Beispiele für die Autorität von Gefühlen zusammenstellen. Das erste Beispiel betrifft eine Klasse, die Achtung, Ernst und zarte Ehrfurcht umfasst, womit ich eine Ehrfurcht ohne dramatische Züge meine, etwa die Ehrfurcht vor dem Alter oder vor dem geheimen stillen Wachstum der Pflanzen. Mit der Achtung, ebenso mit der zarten Ehrfurcht, verbindet sich die Zumutung eines mäßigen Zurücktretens oder Zurückweichens. Dem Geachteten tritt man nicht zu nahe; eher weicht man einen Schritt vor ihm zurück, aber man ergreift in seiner Gegenwart nicht die Flucht wie bei heftiger Furcht und sinkt auch nicht, wie bei übermächtig ergreifender Ehrfurcht, in den Staub, sondern hält Stand in wohl bemessenem Abstand. Darin besteht die Verwandtschaft dieser Gefühle mit dem Ernst. Die von ihm gebotene Rückwärtstendenz induziert aber weniger ein Zurücktreten, als eine beharrliche, aber zugewandte Zurückhaltung, die sich von spielerischer und vorlauter Vermischung fernhält. Fröhlichkeit sprudelt über, jauchzende Lust möchte alles umarmen, und der Witz beruht auf dem Vermischen unverträglicher Sachverhalte; dagegen ist Ernst, das ruhige und wachsame Ernstnehmen, Sinn und Kraft des gehörigen Auseinanderhaltens in der gesammelten Zuwendung und daher typisch für die aufgeschlossene, aber in der Hingabe zugleich distanzierte Einstellung des Forschers auf sein Objekt, die Goethe am Ende seines (die Begegnung mit Schiller betreffenden) Aufsatzes Glückliches Ereignis beschreibt. 54 Dieser Ernst ist so etwas wie eine gleichmäßig verteilte AchKritik der praktischen Vernunft, 1. Hauptstück § 3 Anm. 2, 1. Satz, Akademieausgabe Band V S. 25 54 »Und wer kann denn zuletzt sagen, dass er wissenschaftlich in der höchsten Region des Bewusstseins wandele, wo man das Äußere mit größter Bedächtigkeit, mit so schar53

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tung, ein Gefühl, das gegen Lust und Unlust indifferent ist und so auch bleibt, wenn es als feierlicher Ernst der Ehrfurcht nahe kommt. Wie Achtung und Ernst zu Zurückhaltung, stimmt Glücksgefühl zur Dankbarkeit. Gewöhnliche Dankbarkeit hat einen Verankerungspunkt, für den man dankbar ist (eine Wohltat) und einen Verdichtungsbereich, dem man dankbar ist (den Wohltäter). Die genuine Dankbarkeit des Glücks ist dagegen unadressiert und ergibt sich nicht aus einzelnen Wohltaten, sondern aus der verklärenden Atmosphäre des Gefühls, die von einzelnen Anlässen nur widerscheint. Das wird deutlich an der Schilderung, die eine Frau H. C. Rünke von ihrem Glücksgefühl gab: »Viel mehr Tiefe, Perspektive und Klarheit in allem. (…) Auch die Natur sah ich unendlich schöner als je zuvor; auch hatte ich ein deutlicheres und noch viel herrlicheres Gefühl von Dankbarkeit. (…) Die Wärme der Sonne empfand ich so liebkosend, sie fühlte sich an wie sanfte und warme Liebe, tröstend, beglückend, zur Dankbarkeit stimmend (…); ich hatte nicht mehr das Gefühl des Genießens mit dem schmerzlichen Nachgefühl, kein Recht auf das Herrliche der Natur zu haben, wie die Herrlichkeit des gestirnten Himmels ein unbefriedigtes Gefühl hinterlässt, seine Dankbarkeit nicht äußern zu können im Vergleich zu demjenigen, was gefühlt und genossen wird.« 55 Das Glück erweist sich hier als Vereinigung eines Anspruchs, den das Beglückende stellt, mit Freisetzung der Kraft, diesem Anspruch durch eine unkonzentriert strömende Dankbarkeit zu genügen. Als letztes Beispiel nenne ich die Stille, die ein Gefühl als ergreifende Atmosphäre sein kann, besonders als feierliche, als bedrängend drückende Stille und als zarte Morgenstille, von der im folgenden Bericht eines jungen Mädchens die Rede ist: »Ich sah noch nie so schönen Wald; großen Tannenwald mit mannshohen Farnen durchschritten wir und weite Buchenwälder mit grünem Moosboden und einem hellen Schimmer, der von den Stämmen ausging. Und anderen Buchenwald mit rotem Licht, das die roten Blätter aussandten, die den Boden wie einen Teppich bedeckten. Kein Laut war weit und breit zu hören, nur manchmal tropfte es hörbar von den Bäumen, denn es hatte die Nacht fer als ruhiger Aufmerksamkeit betrachtet, wo man zugleich sein eigenes Innere mit kluger Umsicht, mit bescheidener Vorsicht walten lässt, in geduldiger Hoffnung eines wahrhaft reinen, harmonischen Anschauens?« (Propyläenausgabe von Goethes Werken Band 30 S. 449) 55 Henricus Cornelius Rünke, Zur Phänomenologie und Klinik des Glücksgefühls, Berlin 1924, S. 23; vgl. Nietzsche, Dionysos-Dithyramben, Die Sonne sinkt, 3.

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über geregnet. Alles war noch frisch und feucht. Alles stand so schweigend, als hielte es den Atem an. Kein Vogel war zu hören und kein anderes Lebewesen war zu sehen. Man ging wie verzaubert durch einen Zauberwald, der feucht, kühl und duftend war, und wir wagten nicht zu sprechen. Die große Ruhe finde ich so schön.« 56 Die mächtige Autorität der morgendlichen Stille, die vom gelegentlichen Tropfgeräusch nicht zerstört, sondern eher gestärkt wird, hält die Wanderer so in Bann, dass sie nicht zu sprechen wagen.

2.2.3

Die Gefühlsbasis des Rechts

Unter 2.2.1 hat sich herausgestellt, dass an der Quelle des Rechts auf eine Autorität, die verbindliche Geltung von Normen stiftet, nicht verzichtet werden kann, weil durch bloß unverbindliche, dem Belieben anheimgestellte Geltung alles Beliebige, selbst das Verwerflichste, ins Recht eingelassen werden könnte. Ebenso hat sich herausgestellt, dass weder ewige Ordnungen der Werte oder der Natur noch eine Vernunft, die als Ergebnis fairer Diskussionen noch erst zu erhoffen wäre, als Autoritäten der gesuchten Art in Frage kommen. Diese können nur in der Wirklichkeit, als real wirksame Mächte, gefunden werden, und dafür kommen nur Gefühle in Betracht, da die Wirklichkeit selbst, das Sein, in der Evidenz nur Tatsachen, nicht Normen auszeichnet. Von der Autorität der Gefühle wurde schon gesprochen (2.2.2). Sie als letzte Quelle des Rechts anzuerkennen, wird nur möglich, wenn der Verdacht überwunden ist, das Recht werde auf diese Weise zur Privatsache. Die herrschende Tradition, exemplarisch verkörpert etwa von Kant, legt das Vorurteil nahe, Gefühle seien eine private, bloß subjektive Beigabe von Lust und Unlust zu den harten »objektiven« Tatsachen, für die Verstand und allenfalls Vernunft zuständig seien. Dieses verkehrte Vorurteil beruht auf der psychologistisch-reduktionistisch-introjektionistischen Weltspaltung seit Demokrit und Platon 57 , deren Verkehrtheit zusammen mit der Überschätzung der objektiven Tatsachen, die nur Jugendtagebuch und Lebenslauf, hg. v. Charlotte Bühler, Jena 1932, S. 92 f. Hermann Schmitz, Husserl und Heidegger, Bonn 1996, S. 75–88: Die Entstehung der psychologistisch-reduktionistisch-introjektionistischen Denkweise; Adolf Hitler in der Geschichte, Bonn 1998, S. 32–37: Die psychologistisch-reduktionistisch-introjektionistische Verfehlung; Was ist Neue Phänomenologie?, Rostock 2003, S. 333–348: Der große Paradigmenwechsel bei Demokrit; S. 348–363: Platon als Demokriteer

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abgeblasste Reste der volleren subjektiven sind, aus den unter 2.2.2 zusammengefassten phänomenologischen Ergebnissen hervorgeht. Privat und subjektiv, aber nicht immer nur privat, ist das Fühlen als Ergriffenheit von Gefühlen, die Atmosphären und leiblich ergreifende Mächte sind, wie das Numinose nach Rudolf Otto oder der heilige Geist von Liebe, Freude und Freimut als gemeinsame Hochstimmung der Urchristen.58 Die ursprünglichen Rechtsgefühle sind Unrechtsgefühle. Das Recht springt nicht zuerst als Offenbarung hervor, die dann erkennen lässt, wann und wie von ihm abgewichen wird, sondern es bildet sich im Zuge des Bemühens, das zuerst bedrängend gespürte Unrecht zu beseitigen und zu vermeiden. Das beginnt schon in der frühkindlichen Erfahrung. Johannes Messner weist darauf hin, »wie frühzeitig das Kind Recht und Unrecht als solches erkennt, wenn es ungerechterweise bestraft wird, und das doppelte Unrecht, wenn die Bestrafung aufgrund einer Verleumdung durch Geschwister erfolgt; es weiß mit aller Bestimmtheit, dass ihm Unrecht geschieht, nicht nur, dass gegen sittliche Forderungen verstoßen wird.« 59 »Das Rechtsgefühl oder unmittelbare Rechtsbewusstsein weiß, was Unrecht, nicht auch, was Recht ist.« 60 Die grundlegenden Unrechtsgefühle sind Zorn und Scham. Man schämt sich, wenn man sich eigenen Unrechts schuldig weiß, und zürnt über Unrecht von anderer Seite, sei es gegen Lebewesen (Menschen, Tiere, Pflanzen) oder irgend welche Güter. Zorn und Scham prangern nicht nur das Unrecht an, sondern weisen auch den Weg aus ihm heraus. Freilich kann man sich nicht auf sie allein verlassen, weder, um diesen Weg erfolgreich zu gehen, noch auch nur, um in einer vor der Besinnung standhaltenden Weise zu bestimmen, was als Unrecht zu gelten hat. So sehr aber auch diese Affekte der Prüfung und Schulung bedürfen, um für das Recht praktisch brauchbar zu sein, so unentbehrlich sind sie, um für die Idee vom Recht die zugehörige unwillkürliche Grundlage, die impression im Sinne von Hume, zu finden, ohne die es sich nur um ein beliebig irgend welchen Erfindungen aufgedrücktes Etikett handeln würde. Wenn es keinen Zorn und keine Scham gäbe, Hermann Schmitz, System der Philosophie Band III Teil 4, Das Göttliche und der Raum, zuerst Bonn 1977/2. Auflage 1995, S. 13–43: Der heilige Geist 59 Naturrecht oder Rechtspositivismus?, hg. v. Werner Maihofer, Darmstadt 1962 (Wege der Forschung XVI), S. 546 (zuerst 1957) 60 Pütter 1846, zitiert aus: Erwin Ruzler, Das Rechtsgefühl, 3. Auflage München 1969, S. 37 58

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könnte man viele Missstände bedauern, verurteilen und korrigieren, aber sie hätten nicht die Bedeutung von Unrecht, so wenig wie Krankheiten und Wasserfluten, und mit dem Unrecht hätte das Recht keine Bedeutung außer durch willkürliche Setzung. In diesem Sinn sind Zorn und Scham die rechtlichen Urgefühle. Um Zorn und Scham in ihrer Eigenart und ihrer Funktion für das Recht zu würdigen, muss zunächst eine Eigenschaft betrachtet werden, die sie mit einer größeren Klasse von Gefühlen teilen, wobei sie aber innerhalb dieser Klasse eine spezifische Unterklasse bilden. Zorn und Scham sind zentrierte Gefühle, Atmosphären, die sich um ein Thema zusammenziehen. Sie gehören in eine noch engere Klasse zentrierter Gefühle, deren thematisches Zentrieren in Verdichtungsbereich und Verankerungspunkt gespalten ist. Ich übernehme diese Begriffe von dem Gestaltpsychologen Metzger 61 , der sich damit auf optische Gestalten bezieht, mit dem Beispiel des Eichenblattes: Der Verankerungspunkt ist die Stelle, von wo die Gestalt sich aufbaut (der Ansatz am Stiel), der Verdichtungsbereich die maximal charakteristische Stelle (der gezackte Umriss). Ich habe diese Begriffe auf das thematische Zentrum zentrierter Gefühle übertragen, etwa so: Bei der Furcht eines mit Mord bedrohten Menschen ist Verdichtungsbereich der potentielle Mörder, Verankerungspunkt der Tod (bei der Furcht vor dem Zahnarzt der Arzt und sein Gerät als Verdichtungsbereich, der Schmerz als Verankerungspunkt). Bei der Freude ist Verdichtungsbereich das, woran man sich freut (z. B. eine schöne Landschaft), Verankerungspunkt das, worüber man sich freut (z. B. ein beruflicher Erfolg). Freude kommt auch ganz ohne thematisches Zentrum sowie bloß mit Verdichtungsbereich (wie im Fall der schönen Landschaft) vor, sowie mit beiden Teilzentren, die aber nicht verschmelzen: Der Kandidat nach knapp bestandenem Examen freut sich nur über diesen Erfolg, der Kandidat nach glänzend bestandenem Examen sowohl über den Erfolg als auch an dem Examen, bei dessen erfreulichem Verlauf er in der Erinnerung gern verweilt. Zorn und Scham sind mehr als Freude auf die Gabelung des thematischen Zentrums angewiesen. Beim Zorn ist Verankerungspunkt das, worüber gezürnt wird, Verdichtungsbereich der (Mensch oder Tier), auf den man zornig ist. Im Fall der Scham ist Verdichtungsbereich das, worüber oder weswegen man sich schämt, Verankerungspunkt der Beschämte (stets eine Person), der sich aber nicht selbst zu 61

Wolfgang Metzger, Psychologie, 5. Auflage Darmstadt 1975, S. 178, 181

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schämen braucht; es genügt, wenn der Verankerungspunkt um ihn eine Scham (als Atmosphäre) verbreitet, in deren Licht ihn andere, die peinlich berührt sind, als den Verdichtungsbereich verstehen. Der Zorn kommt gar nicht zu Stande, wenn nicht beide Stellen besetzt sind. Wenn sich ein Anlass nicht zum Verankerungspunkt qualifiziert, wird man etwa sagen: »Das kann mich nicht aufbringen.« Lässt sich dem Verankerungspunkt kein Verdichtungsbereich zuordnen, wird man dem, der am ehesten als solcher in Frage käme, etwa bescheinigen: »Dir kann ich nicht böse sein, nichts übel nehmen.« In beiden Fällen bleibt der Zorn aus. Scham ohne Verankerungspunkt ist unvorstellbar. Fehlt ein Verdichtungsbereich, wird sie entweder ausfallen oder schnell durch eine andere Reaktion abgelöst werden, oder der Verdichtungsbereich wird ersatzweise anders besetzt. Ich denke etwa an den Fall, dass bei einem Fest ein Kind, ein Kranker oder ein Tier, jedenfalls ein Unverantwortlicher, sich beschämend benimmt. Das kann man medizinisch nehmen oder komisch finden, oder man versetzt ersatzweise den Gastgeber oder den Tierhalter usw. in die Rolle des Beschämten. Die Gabelung des thematischen Zentrums passt übrigens nicht zu allen zentrierten Gefühlen. In meiner Analyse der Entwicklung der geschlechtlichen Paarliebe habe ich einen Wendepunkt bei Gottfrieds Tristan im Mittelalter ausgemacht: Der bis dahin obligatorische Verankerungspunkt (Gott, das Gute, die Lust, der Nutzen; Schönheit, Anstand oder Tugend der Geliebten im Minnesang) wird abgeworfen; die Liebe behält nur noch einen Verdichtungsbereich (den Geliebten, die Geliebte) ohne Rücksicht auf einen tragenden Grund, von dem her sie sich aufbaut. 62 Das Verhältnis des Verankerungspunktes zum Verdichtungsbereich zentrierter Gefühle ist dem Missverständnis ausgesetzt, in ihm lediglich das logische Verhältnis des Grundes zur Folge zu sehen, wozu der Gebrauch kausaler Konjunktionen wie »wegen« Anlass geben kann: Man fürchtet den Mörder wegen des Todes, zürnt einem Menschen wegen seines Verhaltens, schämt sich wegen eines Versagens, liebt die Geliebte im Minnesang wegen ihrer Tugend. Bei der Freude gelingt diese Deutung kaum noch. Dass sie überhaupt abwegig ist, zeigt sich an Fällen, in denen zwar ein entsprechendes Begründungsverhältnis vorliegt; aber keine Spaltung des thematischen Zentrums eines Gefühls. Jemand hat sich gestern für heute einen schönen 62

Hermann Schmitz, Die Liebe, Bonn 1993, S. 163–169, 179–195

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Ausflug vorgenommen, der heute durch schlechtes Wetter vereitelt wird. Dann wird er sich über das schlechte Wetter ärgern und über die Vereitelung des Ausflugs traurig sein. Das schlechte Wetter ist der Grund der Vereitelung, aber kein Gefühl kommt vor, dessen Verankerungspunkt das schlechte Wetter und dessen Verdichtungsbereich die Vereitelung wäre; vielmehr haben Trauer und Ärger unabhängig von einander einen Verankerungspunkt und beide keinen Verdichtungsbereich. Das Zusammengehören von Verankerungspunkt und Verdichtungsbereich ist also, wie Metzger will, gestalthaft und nicht reduzierbar auf das logisch-psychologische Verhältnis zwischen einem Grund und dem, was dadurch in die Rolle des Verdichtungsbereiches versetzt wird. Gleichwohl ist das Verhältnis beider Teilzentren mindestens latent oder virtuell auch ein Begründungsverhältnis und kann bei der Entwicklung des Rechts aus den Urgefühlen Zorn und Scham als Ansatz einer Rationalisierung durch Begründen genützt werden. Unter den zentrierten Gefühlen mit Gabelung des Zentrums in Verdichtungsbereich und Verankerungspunkt gehören Zorn und Scham zur Unterklasse der kathartischen Gefühle, die – anders als Trauer, Freude, Liebe, Hass – darauf aus sind, sich auszulassen und dadurch aufzuheben. Bei Zorn und Scham nimmt diese Katharsis eine eigentümliche Drehform an: Sie treten ein durch ihren Verankerungspunkt und neigen dazu, sich durch eine Reaktion gegen ihren Verdichtungsbereich auszulassen und dadurch aufzuheben. Beim Zorn ist diese Reaktion die Rache; bei der Scham liegen die Verhältnisse komplizierter, indem die kathartische Tendenz, wie sich gleich zeigen wird, gehemmt wird und sich staut. Durch die Drehform unterscheiden sich Zorn und Scham von der Furcht, einem anderen kathartischen Gefühl. Die Furcht strebt danach, sich in der Rettung aus der Gefahr auszulassen, hat dafür aber von sich aus keine Richtung, sondern muss sich an die Umstände halten, die ihr vielleicht, vielleicht auch nicht, solche Katharsis gestatten; ihr fehlt die Selbstbezüglichkeit, das, woran sie sich auslassen kann, als ihren eigenen Verdichtungsbereich gleich mit sich zu führen. Der Zorn hat mit der geschlechtlichen Wollust die besondere Spontaneität gemein, die plötzliche und heftige Entzündung und Steigerung zum terminalen Gipfel, dem ein jähes Verebben folgt; sein spezifisches Talent ist die Gestaltungskraft, das zu der Störung passende Ausmaß des reagierenden Angriffs frisch und elastisch einzustellen. Wenn dieses Maß überschritten oder das Ziel verfehlt wird, schlägt 63 https://doi.org/10.5771/9783495860755 .

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der Zorn in Ratlosigkeit, Scham und Reue um. 63 Die frische Hitze des Zorns steht seiner Verfestigung entgegen, die nur durch hemmende Stauung gelingt. Der Zorn ragt unter den Gefühlen als Übergangserscheinung hervor, als ein Affekt, der nur einbricht, um sich aufzuheben und dadurch die Atmosphäre des flächenlosen Gefühlsraumes zu läutern; deswegen kann man ihn besonders schwer in der Beobachtung festhalten, ohne dass er verraucht. Die Läuterung der Atmosphäre durch die Rache lässt den Zorn in Freude umschlagen, wie schon Aristoteles bemerkt. 64 In der Havardsaga bekennt der erfolgreiche Rächer, »er sorge sich nicht um die Folgen; mit Kummer und Sorgen sei es für ihn von nun an vorbei, und wie immer seine Sache sich wende, er werde es zufrieden sein. Er war auch so heiter und fröhlich gegen jedermann wie ein junger Bursch.«65 Diese Konversionstendenz des Zorns, womit er Antipode auf Verhärtung angelegter Gefühle wie Kummer und Hass ist, entscheidet aber nicht schon über seine Dauer; gehemmter Zorn kann lange bohren und wühlen. Auch grenzt der Zorn an seine verhärtete Nebenform, die kalte, zur trockenen Rechthaberei gegen provozierende Spontaneität geneigte Entrüstung, die die Gestaltungskraft des Zorns, im dunklen Drang der Erregung einem neu sich formenden Gleichgewicht des Gefühls zuzustreben, verloren hat. Der Zorn verdankt seine kathartische Drehform vom Verankerungspunkt hin zur Selbstreinigung am Verdichtungsbereich seiner Zuordnung zum Recht auf dem Weg über das Unrecht. Das wird klar durch Vergleich mit zwei anderen Nebenformen, dem Ärger und der Wut. Der Ärger ist überhaupt kein Rechtsgefühl und kommt ohne Verdichtungsbereich aus. Man kann sich über schlechtes Wetter ärgern, ohne den Ärger gegen etwas oder jemand wenden zu können. Man wird nur überhaupt ärgerlich und wendet den Ärger, mangels eines konzentrierenden Angriffspunktes, gereizt gegen alles, was einem in die Quere kommt, entweder ausfallend oder in der Verteidigungsstellung des Verdrossenen, der zurückschlägt, wenn jemand an den Panzer klopft oder diesen gar aufzuklopfen sucht. Der Ärger – mit Verankerungspunkt, ohne Verdichtungsbereich – zeigt, was vom Zorn übrig Vgl. den Aias des Sophokles und zwei Belege, die ich in Rechtsraum S. 26 angeführt habe (vom jähzornigen Patriarchen einer kleinbürgerlichen Familie aus dem 18. Jahrhundert und aus Kleists Familie Schroffenstein). 64 Nikomachische Ethik, 1126a 21 f. 65 Fünf Geschichten von Ächtern und Bluträchern, deutsch von A. Heusler und F. Ranke, Sammlung Thule Band 8, Düsseldorf 1964, S. 170, Kapitel 13 63

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bleibt, wenn man diesem die Beziehung auf das Unrecht nimmt. Die Wut gleicht dem Ärger darin, dass sie sich über einen Verankerungspunkt aufbaut und für ihre heftige Reaktion auf diesen keinen präzisen Verdichtungsbereich findet, sondern auf Ersatzobjekte ausweicht: Der Wütende zerschlägt Porzellan, stampft auf den Boden, schlägt mit der Faust auf den Tisch usw.; es ist gefährlich, ihm nahe zu kommen, vielleicht als Ersatzobjekt für einen Verdichtungsbereich, an dem er sich auslassen könnte. Das Verhältnis der Wut zum Recht ist aber komplizierter als beim Ärger, nämlich gestört. In Wut gerät (nicht immer), wer sich bei einem Unrecht, das er sich nicht eingestehen (für sich behalten) möchte, ertappt fühlt, auf den Ertappenden als nächsten Verdichtungsbereich, der die Wut aber nicht ganz auffangen kann, so dass keine präzise Einstellung auf ihn möglich ist; die Wut schäumt über und sucht sich mehrere Ersatzobjekte. Dabei behält sie aber so viel vom Zorn, dass sie sich ein Stück vom Unrechtsvorwurf vorbehält, oft anmaßt: Dieses Stück von Vorwurf geht dahin, dass der Ertappende, der den Wütenden auf dessen Unrecht hinweist, keine Kompetenz dazu habe; ihm wird wütend entgegengehalten: »Das geht dich hier gar nichts an.« Der Zorn ist dem Verdacht des Egoismus ausgesetzt, weil er meistens in eigener Sache tätig wird, um auf ein dem Zornigen wirklich oder vermeintlich widerfahrenes Unrecht zu reagieren. Darin erschöpft er sich aber nicht. Das sieht man schon an ganz banalen Beispielen. Mancher Klavierlehrer wird zornig, wenn ihm ein unbegabter Schüler (meist eine Schülerin) ein gar zu stümperhaftes Spiel vorführt. Dabei tut ihm dieser (diese) nichts zuleide; was den Lehrer in Rage bringt, ist das Unrecht, das seiner Meinung nach der Musik und ihrer Würde angetan wird. Pathetischer gestaltet sich die universale Verankerbarkeit des Zorns, wenn er zur Empörung wird. Dieses Wort hat in älterer Zeit – noch im Grimm’schen Wörterbuch, dessen einschlägiger Band III 1862 abgeschlossen wurde – nur den Sinn von Aufruhr, Volksaufstand, Aufregung. Seither muss es einen Bedeutungswandel durchgemacht haben; heute versteht man Empörung als einen Zorn, der besonders aufdringlich auf sein Recht pocht und allgemeine Anerkennung heischt, dafür aber die Bande des Egoismus abgeschüttelt hat und sich ebenso an fremdes wie an eigenes Interesse heftet. An der Empörung wird die Autorität des Zorns, die ihn zur Stiftung verbindlich geltender Normen befähigt, besonders deutlich. Autorität wie der Zorn, und noch durchgängig deutlicher, hat auch 65 https://doi.org/10.5771/9783495860755 .

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die Scham, die ein Musterbeispiel exigenter Nötigung mit sich bringt. Der akut katastrophal Beschämte muss unter dem Druck eines Urteils, das auch ohne Urteiler gleichsam über ihn verhängt ist, einen Geltungsanspruch zurücknehmen und einen Fehler eingestehen, der im weitesten Sinn für ihn ein Unrecht ist. Die katastrophale Scham – im Gegensatz zur Randscham des durch Anwesenheit oder Angehörigkeit peinlich Berührten – hat dieselbe kathartische Drehform wie der Zorn, nur dass der Beschämte als Verdichtungsbereich, gegen den die Katharsis sich wendet, mit dem Beschämten als dem Ergriffenen zusammenfällt. Wie es zu dieser Selbstbeschädigung in der Beschämung kommt, kann nur durch einen Seitenblick auf die von mir vielfach erörterte Dynamik des spürbaren Leibes (nicht des sicht- und tastbaren Körpers) deutlich werden. Gleichsam die Achse dieser Dynamik ist der vitale Antrieb, in dem Engung als Spannung und Weitung als Schwellung antagonistisch verschränkt sind; aus ihm kann Weitung als privative Weitung, Engung als privative Engung abgespalten werden. Zwischen Enge und Weite vermittelt die unumkehrbar aus der Enge in die Weite führende leibliche Richtung, z. B. als Blick und als Gebärde. Sie ist eine Weitung, die nicht wie Schwellung mit der Engung konkurriert und sich auch nicht wie privative Weitung von dieser abstößt, sondern sie mit sich nehmen kann wie im fixierenden Blick und im stoßenden Ausatmen. Im flächenlosen Richtungsraum, in dem sich die gesamte flüssige Motorik ebenso wie der Schall abspielt, treffen diese leiblichen Richtungen auf die Richtungen, die Bewegungssuggestionen begegnender Gestalten sind und z. B. mit dem Blick aufgefasst und auf das motorische Körperschema übertragen werden, mit Folge der Möglichkeit geschickten Ausweichens. Zu diesen beiden Richtungstypen kommen die abgründigen Richtungen ohne bestimmbaren Ursprung, wie die Richtung der im Sturz niederreißenden Schwere und die Richtungen der gerichteten Gefühle, z. B. Freude, Trauer, Sehnsucht, Bangigkeit, Zorn, Achtung, Mut, Dankbarkeit usw. Alle Richtungen der drei Typen sind unumkehrbar; umkehrbare Verbindungen, an denen Lagen, Abstände und darüber relative Orte, wo etwas ist, abgelesen werden können, werden erst durch Flächen möglich. Scham entsteht durch das Abprallen einer Initiative, einer Herausforderung, die nicht eine Aktion zu sein braucht, sondern auch in einem irgendwie sich exponierenden Geltungsanspruch, und sei es nur ein geringes Herausfallen aus der bescheidenen Normalität, bestehen kann. Aus dem Rückschlag auf das Abprallen bildet sich die Atmosphä66 https://doi.org/10.5771/9783495860755 .

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re eines gerichteten Gefühls mit lauter zentripetalen, d. h. auf den Betreffenden einstrahlenden oder einstechenden, Richtungen (Vektoren); damit besetzt können Blicke und zeigende Finger Umstehender sein, die Finger aber nur, solange sie Abstand halten und den Betroffenen isolieren, so dass sich ihre Bewegungssuggestion, die bei Gebärden immer über die ausgeführte Bewegung hinausführt, sichtbar entfalten kann. Diese Versinnlichung der Vektoren kann auch fehlen. Die zentripetale Energie der aus der Weite in die Enge einstrahlenden Scham schlägt die umgekehrt aus der Enge in die Weite führenden leiblichen Richtungen des Betroffenen nieder, so dass dieser nicht mehr durch Blicke und Gebärden (nicht einmal durch kräftiges Sichaufrichten) aus sich herauszugehen vermag; er fühlt sich durchbohrt von Scham, senkt die Augen, mit denen er keinen mehr anzusehen wagt, und möchte gleichsam in den Boden versinken, wohin aber der Weg versperrt ist. Eigentlich beruht diese Sperre darauf, dass der von Scham überwältigte Mensch in sich selbst hineinfliehen will, in seinen zur primitiven Gegenwart gehörigen absoluten Ort vor allen durch Lage und Abstand bestimmten relativen Orten, aber da ist er ja schon und kann also nicht mehr dahin entkommen. Karl Sigismund Kramer fand für diesen paradoxen, sich selbst vereitelnden Fluchtversuch des Beschämten in den Akten der Stadt Höchstadt an der Aisch die treffende Umschreibung: »sich in sein Lungen und Ingeweid hinein schämen«. 66 Durch diese Hemmung wird die Katharsis der Scham aufgehalten. Scham ist gleichsam die unglückliche Schwester des Zorns, wie er ein Urgefühl des Rechts, das seinen Verankerungspunkt, die den Rückschlag der Atmosphäre auslösende Provokation, ebenso als Unrecht präsentiert, aber den kathartischen Ausgleich des Unrechts dadurch vereitelt, dass das Analogon der Rache den Rächer, vielmehr dessen Analogon, selbst treffen müsste. Der Scham mit bedingtem Ernst kann der Beschämte ausweichen, indem er sich auf ein höheres Niveau seiner personalen Emanzipation stellt, aber bei der Gewissensscham mit unbedingtem Ernst ist das nicht mehr möglich. Die Katharsis kann dann zur Konsequenz der Selbstvernichtung führen, indem der Beschämte in den Chor der ihn durchbohrenden Vektoren des Gefühls einstimmt und sich mit dem Dolch selbst durchbohrt; in Ostasien ist das eine naheliegende, häufig geübte Sanktion. Er kann auch hoffen, Karl Sigismund Kramer, Volksleben im Hochstift Bamberg und im Fürstentum Coburg (1500–1800), Würzburg 1967, S. 195

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dass sich im Weiterleben seine persönliche Situation so wandelt, dass er lernt, über der Scham zu stehen, doch kann diese hartnäckig sein und als siedend heiße Erinnerungsscham, ein Halbding, immer wieder auftauchen. Als Geschwister erweisen Zorn und Scham sich auch durch ihre Komplementarität, dass sie sich gegenseitig abwenden können. Demütigung, die den Beschämten nötigt, sich klein zu machen und die Augen niederzuschlagen, kann Zorn abwenden wie den des Papstes beim Gang des Kaisers nach Canossa; entleert und formalisiert wird dieser Zusammenhang genützt in der konventionellen Geste des Bittens um Entschuldigung. Umgekehrt kann Zorn der Scham zuvorkommen. Das ist der Ursprung oder wenigstens das tragende Motiv der Duellsitte. Wer eine Beleidigung auf sich sitzen ließe, müsste sich als Feigling schämen; Feigheit wäre sein Unrecht, der Verankerungspunkt seiner Scham. Dieser könnte er zuvorkommen, indem er sofort zornig Rache nähme. Viel raffinierter wird aber die Rache, wenn sie den Beleidiger in die Probe auf Feigheit mit hineinzieht, und dazu kommt es, indem jeder von beiden, der Beleidiger wie der Beleidigte, durch dessen Forderung dazu herausgefordert wird, sein Leben aufs Spiel zu setzen. Dieser auf Sein oder Nichtsein zugespitzte Konflikt übertrifft den vorigen, der ihm den Anlass gab, so sehr, dass dieser nach der Entscheidung im fairen Zweikampf keine Rolle mehr spielt und die Versöhnung unter Gleichen möglich wird. So wirkt das Duell ausgleichend wie ein gut geführter Prozess und vollbringt die Katharsis der Gefühle. Zorn und Scham sind die rechtlichen Urgefühle. Ohne sie hätte die Rede von Unrecht keinen Sinn, außer einen willkürlich zurechtgemachten, und die Rede vom Recht auch keinen ohne die vom Unrecht. Zorn und Scham weisen auch den Weg vom Unrecht zum Recht durch Katharsis der Gefühle, aber sie sind von sich aus nicht fähig, Führer auf diesem Weg zu sein: Zorn nicht, weil die Rache endlos neuen Zorn heraufbeschwört und nur kleine Inseln der Ausgewogenheit zulässt, in der die Beteiligten fühlen, dass es gut so ist; Scham nicht, weil ihre Katharsis sich selbst blockiert, indem sie den sich Schämenden dazu verführt, dorthin zu fliehen, wo er schon ist. Die Wiederherstellung und Sicherung des Rechts aus dem bzw. gegen das Unrecht muss daher klügeren Gefühlen übergeben werden, die sich am über Unrechtsausschluss letztlich entscheidenden Zeugnis der rechtlichen Urgefühle orientieren, es aber weitschauender verwalten, als diese selbst vermögen. Nur Gefühle können das leisten; kein bloßes Ratio68 https://doi.org/10.5771/9783495860755 .

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nalisieren wäre hellhörig für das Zeugnis von Zorn und Scham. Diese Gefühle müssen Vorgefühle sein. Ein Vorgefühl ist ein Gefühl, durch das hindurch ein anderes gefühlt wird. Gute Beispiele sind die Sympathiegefühle: Mitfreude, Mitleid, Mitscham. 67 Dazu kommen Achtung und zarte Ehrfurcht. Ich habe sie unter 2.2.2 als exigente Nötigung zum gemessenen Zurücktreten charakterisiert. Man will dem Geachteten nicht zu nahe treten, sich nicht an ihm vergreifen. Darin steckt Scheu vor Überschreiten einer Schwelle, hinter der der Achtende unbeherrschbaren Mächten des Gefühls ungeschützt ausgesetzt wäre. Im Fall der Achtung sind diese Mächte Zorn und Scham. Es wäre empörend und beschämend, dem Geachteten hemmungslose Zugriffe anzutun. Das rechtliche Vorgefühl, das den Umgang mit dem Zorn leitet, ist der Achtung nah verwandt. Ich bezeichne es, weil durchaus kein passender Name zur Verfügung steht, einfach als Rechtsgefühl, genauer: als Rechtsgefühl im engsten Sinn. Die Rede vom Rechtsgefühl ist bei Juristen schon eingeführt, aber ziemlich blass und schwankend geblieben. 68 Ich will das Gemeinte genauer bestimmen. Das Rechtsgefühl (im engsten Sinn) verhält sich zur Achtung wie schenkende Tugend 69 zur Liebe. Achtung und Liebe haben präzise Verdichtungsbereiche; dagegen ist schenkende Tugend immer nur provisorisch zentriert, indem sie sich liebend einem einzelnen Objekt nur zuwendet, um mit der Austeilung ihrer Kraft darüber hinauszustreben und für alles offen zu sein, wie Jesus und Goethes Natalie. 70 Ebenso ist das Rechtsgefühl in allen Situationen für alle Faktoren aufgeschlossen und immer bereit, an Zorn und Scham, am Empörenden und Beschämenden, vorbei oder darüber hinaus zu einem von ihrem Druck befreiten Zustand des Gefühls zu führen; dazu gehört eine kluge Sensibilität, ein Vorgefühl von Zorn und Scham, wo immer sie lauern mögen. Dabei handelt es sich nicht bloß um eine Technik, eine weltkluge Kunst, Vgl. Hermann Schmitz, Jenseits des Naturalismus, Freiburg i. Br./München 2011, S. 164–180: Sympathiegefühle 68 Eine Tabelle der Sinngebungen für das Wort bei verschiedenen juristischen Autoren steht bei Meier, wie Anm. 42, S. 144–154, vgl. auch Rechtsraum S. 67–69 69 Nicolai Hartmann, Ethik, 3. Auflage Berlin 1949, S. 503–509: Schenkende Tugend 70 Wilhelm Meisters Lehrjahre, 8. Buch, 4. Kapitel: »Ja, mein Freund! sagte sie lächelnd, mit ihrer ruhigen, sanften, unbeschreiblichen Hoheit, es ist vielleicht nicht außer der Zeit, wenn ich Ihnen sage, dass alles, was um so manches Buch, was uns die Welt als Liebe nennt und zeigt, mir immer nur als ein Märchen erschienen sei. Sie haben nicht geliebt? rief Wilhelm aus. Nie oder immer! versetzte Natalie.« 67

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den zornigen Regungen der Menschen die Spitze abzubrechen, sondern um eine vom Gefühl geleitete Anpassungsfähigkeit an die Drohung von Zorn und Scham wie von Gewitterwolken, die zum Ausbruch bereit sind. Im Gegensatz zu den rechtlichen Urgefühlen hat das Rechtsgefühl im engsten Sinn kein in Verdichtungsbereich und Verankerungspunkt gegliedertes Zentrum, sondern nur wechselnde Verankerungspunkte in der jeweiligen Drohung von Zorn und Scham, die es zu meiden oder zu bewältigen gilt. Es kann aber die vorhin erwähnte kausale Seite jener Gliederung, wobei der Verankerungspunkt als motivierender Grund für den Eintritt von etwas in den Verdichtungsbereich von Zorn und/oder Scham auftritt, als Leitfaden eines Begründens, das ihm zur Klärung und Rationalisierung dient, aufgreifen. Das Rechtsgefühl im engsten Sinn hat gestaltende Kraft bei der Bahnung eines Weges an Zorn und Scham vorbei oder über sie hinweg. Außerdem gibt es ein weiteres, bloß hemmendes und nicht gestaltendes Vorgefühl, das primär der Scham und nur nebenbei und am Rande dem Zorn zugeordnet ist. Wieder ist die Wortnot groß. Im Deutschen haben wir nur das Wort »Schamhaftigkeit«, das schlecht passt, weil es zu einseitig auf das Geschlechtsleben bezogen ist und auch mehr an eine Disposition denken lässt als an ein aktuell ergreifendes Gefühl. Es handelt sich um eine Scheu, die für die Drohung von Scham und Beschämung aufgeschlossen ist und dazu anleitet, sich davon fernzuhalten. Während die Achtung ein richtig bemessenes Zurücktreten vor dem Geachteten verlangt, ergreift Schamhaftigkeit mit dem Impuls, von dem potentiell Beschämenden wegzutreten. Die Griechen hatten, anders als die Deutschen, für dieses Gefühl in seiner ganzen Breite ein genau passendes Wort, nämlich »a§dð@« (Aidos mit betonter langer zweiter Silbe), das etwa mit »Schamhaftigkeit, Respekt, Rücksicht« übersetzt werden kann. Solche Aidos kann sich durch Tapferkeit im Kampf, Ehrfurcht vor den Eltern und Älteren, geschlechtliche Dezenz erweisen; Tapferkeit ist für die homerischen 71 und späteren 72 Griechen sowie die Germanen 73 vor allem Rücksicht auf die Kampfgenossen. »Was Würde oder Wert besitzt, ein tfflmion ist, soll Eideshort sein; die diesem im Menschen antwortende Empfindung ist Ilias 5, 530 und 15, 561 f. Z. B. Thukydides I 84,3 und Platon Nomoi 699c.d, vgl. auch Rechtsraum S. 75 73 Wilhelm Eduard Wilda, Das Strafrecht der Germanen, 1842, Neudruck Aalen 1960, S. 987 f. 71 72

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die der Ehrfurcht und einer gewissen Scheu, infolge deren der Schwörende insbesondere sich hüten wird, das, wobei er schwört, durch eine Unwahrheit zu verletzen. Derartige Empfindungen fasst der Grieche mit dem Wort a§dð@ zusammen. (…). In anderen Fällen ist es lediglich die a§dð@, die Scheu oder Scham, in wirklicher oder gedachter Gegenwart von etwas Ehrwürdigem eine Unwahrheit zu sagen, worauf die bindende Kraft des Schwurs beruht.« 74 Die häufige Zusammenstellung »a§dð@ te ka½ dfflkh« 75 bezeugt den Rechtssinn der Aidos. Nach den Institutionen Justinians (II 23,1) ist es die Scham (pudor) des Erben, die dem Fideikommiss – dem formal nicht bindenden Auftrag des Erblassers, der an die Fides (die Atmosphäre der Vertrauen schaffenden Loyalität) 76 appelliert – die bindende Kraft verleiht. Hier ist die griechische Aidos zur lateinischen Scham (als Vorgefühl) geworden. Das hemmende Vorgefühl der Scham hat ein gestaltendes Analogon, das aber kein Gefühl ist, weil keine ergreifende Macht in dem unter 2.2.2 angegebenen Sinn von Ergriffenheit. Wieder verlässt mich die Sprache; statt von Gefühl mag man allenfalls von Gespür sprechen, da es sich um ein spürendes, nicht fühlendes Umgehen mit der Scham im Vorgriff handelt. Dieses Gespür ist der Geschmack, der die Nähe der Scham riskiert und sie gestaltend überholt. Ein Beispiel ist die Peinlichkeit des Essens, die durch animalische Züge in mancher Hinsicht der des Kotlassens gleicht. Während manche exotische und primitive Völker ihr durch Schamhaftigkeit ausweichen, indem sie das Essen in Abgeschiedenheit verbannen, hat der europäische Geschmack diese peinlichen Züge durch verfeinerte Tischsitten gemeistert, wozu in erster Linie der Gebrauch der Gabel gehört, die Kaiserin Theophano im 10. Jahrhundert aus Byzanz an den Hof Ottos des Zweiten gebracht haben soll. In anderer Hinsicht ist der Typ der weltläufigen, eleganten Dame, wie der Herzogin von Sagan zur Zeit des Wiener Kongresses, die Antwort weiblicher Gestaltungskraft auf die jahrtausendelang hochstilisierte Zumutung der Schamhaftigkeit an das weibliche Geschlecht. Dank ihrer délicatesse steht die Dame jenseits der Alternative von hemmender Schamhaftigkeit und gegenüber der Scham stumpfer oder leichtfertiger Schamlosigkeit. In der Sitte, die über bloße GeRudolf Hirzel, Der Eid, Leipzig 1902, Neudruck Aalen 1966, S. 20 f. Rudolf Hirzel, Themis, Dike und Verwandtes, Leipzig 1907, Neudruck Aalen 1966, S. 57 Anm. 4 76 Hermann Schmitz, Die Liebe, zuerst Bonn 1993, S. 25–28: Fides 74 75

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wohnheit hinaus ein eigenes, mit Sanktionen bewaffnetes Recht (»wie man sich zu benehmen hat«) entwickelt, ist der Geschmack durch den Anstand und die Höflichkeit vertreten. Anstand beugt der Scham vor, der Beschämung des Unanständigen. Er reicht von schlichter Ordentlichkeit bis zum erlesenen Anstand der aristotelischen Hochtugenden aus dem 4. Buch der Nikomachischen Ethik: der Megaloprepeia (Tugend des großen, aber geschmackvollen Aufwands bei festlichem Anlass), der Megalopsychie (Tugend des gelassenen Stolzes in Selbstsicherheit ohne Anmaßung) und der Eutrapelie (Tugend des gelösten, aber im Rahmen sich haltenden Scherzens). Alle diese Tugenden sind gebannte Wagnisse eines Anspruchs, der bei Übertreibung ins beschämend Lächerliche führen würde: zur banausischen Protzerei, zur Angeberei des Aufschneiders, zum entfesselten Sichgehenlassen des Possenreißers. Die Höflichkeit nimmt im Geschmack eine Sonderstellung ein: Einerseits gehört sie zum Anstand, der durch grobe Unhöflichkeit verletzt wird. Andererseits hängt sie mehr als mit der Schamhaftigkeit, deren diese gestaltend überholender Konkurrent der Geschmack ist, mit der Achtung und dadurch mit dem Rechtsgefühl im engsten Sinn zusammen. Höflichkeit schlägt sogar die Brücke zwischen diesem meidenden Vorgefühl des Zorns und der vollständig zentrierten Achtung, indem sie, unabhängig von der Ergriffenheit durch Achtung im einzelnen Fall, aus dem Rechtsgefühl des Schicklichen hervor generelle Schemata einschleift, die die von der Achtung im Einzelfall geforderte Feineinstellung vorformen und kanalisieren. Unhöflichkeit beschwört Zorn herauf, während Unanständigkeit in erster Linie beschämt, nicht zuletzt durch Unhöflichkeit. In der Höflichkeit fließen also das Rechtsgefühl im engsten Sinn und der Geschmack zusammen. Den Zusammenhang, dass Höflichkeit Achtung darstelle, hat schon Rudolf v. Ihering hervorgehoben 77 , der den 2. Band seines Werkes Der Zweck im Recht mit Analysen über Anstand und Höflichkeit (sowie Takt) füllte und damit ein für seine Zeit außerordentliches, aber phänomenologisch gut begründbares Gespür für die Gefühlsbasis des Rechts verriet. Rechtsgefühl im engsten Sinn, Schamhaftigkeit (Aidos) und Geschmack ertasten gleichsam die Chance des Ausbruchs von Zorn und Scham, indem sie sich daran vorbeizutasten suchen, und das tun sie mit 77

Rudolf v. Ihering, Der Zweck im Recht, 2. Band, 5. Auflage, Leipzig 1914, S. 291, 383

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einem Schlage, ohne Spaltung ihres Themas in Verdichtungsbereich und Verankerungspunkt. Dabei profitieren sie aber von dieser Spaltung bei den Urgefühlen, nämlich von der Begründbarkeit des Zorns auf jemand damit, worüber gezürnt wird, mit der Begründbarkeit der Beschämung von jemand damit, weswegen er sich schämt oder schämen sollte. Diese Begründbarkeit gibt den ersten Anlass zur Reflexion, wodurch sich das Vorgefühl mit Klugheit auflädt, die wieder der Sensibilität zugute kommt, die der Reflexion neuen Stoff liefert. Das kann ein fruchtbarer Kreislauf werden. Ich muss schließlich noch meine Ausdrucksweise festlegen. Die rechtlichen Urgefühle und Vorgefühle bilden zusammen das Rechtsgefühl im weitesten Sinn, die Vorgefühle allein das Rechtsgefühl im weiteren Sinn, bestehend aus dem Rechtsgefühl im engsten Sinn und der Aidos, für die wir im Deutschen nur den ganz unglücklichen Namen »Schamhaftigkeit« haben. Es wäre schön, für die beiden Rechtsgefühle im weiteren Sinn und den Geschmack einen gemeinsamen Namen zu haben, doch fällt mir kein ganz befriedigender ein; vielleicht könnte man »rechtliche Sensibilität« sagen. Die besondere Armut der Sprache in diesem Bereich trägt die Schuld an terminologischen Notlösungen und Überschneidungen. Da von diesen das Rechtsgefühl im engsten Sinne am meisten betroffen ist, weil es keinen Namen außer diesem hat, werde ich im Folgenden, wenn ich einfach »Rechtsgefühl« sage, das Rechtsgefühl im engsten Sinne meinen.

2.2.4

Der Rechtszustand

Am Anfang des Rechts steht das Unrecht als Verankerungspunkt von Zorn und/oder Scham. An Erfahrungen mit Zorn und Scham bildet sich die rechtliche Sensibilität, die die rechtlichen Vorgefühle und den Geschmack umfasst. Im Umgang mit dem Unrecht, meidend und auf tunlichst schonende Weise (neues Unrecht meidend) abhelfend, gewinnen die rechtlichen Vorgefühle, Rechtsgefühl und Schamhaftigkeit (Aidos), mehr und mehr Kompetenz und Sicherheit (sogenanntes know-how). Wenn dieser Prozess sich allmählich vollzieht, entsteht das verfänglich so genannte Gewohnheitsrecht. Zitelmann 78 formulierte das Paradox, dass jedes Gewohnheitsrecht am Anfang auf Rechts78

Archiv für civilistische Praxis 66, 1883, S. 394 f.

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irrtum beruhen müsse, weil es dann nicht schon Gewohnheit sein könne. Er verkannte als bloße Gewohnheit, was schon von Anfang an Recht aus Rechtsgefühl, nur erst (dem Wein gleich) des Ausbaus durch Reifung bedürftiges Recht ist. Die Reife kann aber auch ganz schnell, etwa durch ein eindringliches Bildungserlebnis am Unrecht, erfolgen; dann entsteht »Gewohnheitsrecht ohne Gewohnheit«. 79 Das Vehikel des Gewohnheitsrechts ist nicht ein Wille oder eine Meinung (die sogenannte opinio necessitatis), sondern eine im Meiden gestaltende rechtliche Sensibilität, der sich gewisse Lebensformen und Verhaltensweisen in vorsichtigem Dulden ihrer Entfaltung als hinlänglich zornund schamfest, andere als unerträgliche Provokationen von Zorn und/ oder Scham erweisen. Im Zusammenleben der Menschen wachsen die rechtlichen Vorgefühle (mehr oder weniger auch der Geschmack) in eine zuständliche gemeinsame Situation ein, in der sie gleichsam aufgehängt sind wie in einer Liebesgemeinschaft die Liebe als Gefühl in der Liebe als Situation. 80 Diese Situation bedarf nicht des räumlichen und zeitlichen Zusammenseins, so wenig wie eine Sprache, die viele sprechen, und zwar jeder auf seine Art, bald mehr, bald weniger vollkommen, mit landsmannschaftlichen, fachlichen oder höchst persönlichen Ausformungen von breiter Unterschiedlichkeit, und doch als eine sie alle umschließende gemeinsame zuständliche Situation. Die in eine solche Situation eingegangenen Gefühle überstehen als Halbdinge anstandslos den Bruch der räumlichen und zeitlichen Kontinuität. Die gemeinsame Rechtssituation, die auf diese Weise zu Stande kommt, enthält in ihrem Nomos ein Maß des Unerträglichen an Zorn und Scham, woran gemessen werden kann, welche Typen der Aktualisierung dieser Gefühle – in dem Sinn, dass sie nicht nur als wahrnehmbare Atmosphären lauern, sondern als ergreifende Mächte hervortreten – von Rechts wegen gemieden oder kathartisch sanktioniert (ausgelassen) werden müssen. Ein solches Maß ist unerlässlich, weil die Empfindlichkeit für Zorn und Scham von Mensch zu Mensch schwankt. Was den einen in wilden Aufruhr versetzt (»auf die Palme bringt«) oder ihn sich verkriechen Diesen Ausdruck wendet Ulrich Meyer-Cording, Die Rechtsnormen, Tübingen 1971, polemisch gegen Nipperdey (Allgemeiner Teil des bürgerlichen Rechts von Ludwig Enneccerus, 15. Auflage von Hans Carl Nipperdey, Tübingen 1959/60, S. 266, Anm. 6), der plötzlich gebildetes Gewohnheitsrecht zugelassen hatte. 80 Hermann Schmitz, Die Liebe, Bonn 1993, S. 80–84 79

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lässt, lässt der andere kalt an sich ablaufen. Der Nomos der in der Bildung der rechtlichen Vorgefühle am Unrecht erwachsenden gemeinsamen Situation sorgt für ein diese Unterschiede ausgleichendes gemeinsames Maß. Dieser Nomos ist mit Kulturnormen im Sinne von Max Ernst Mayer 81 in eine gemeinsame Situation eingewachsen, die weit mehr als das Recht umfassen kann. Nicolai Hartmann spricht vom »Gemeingeist«, den ein Volk, aber auch »ein Städtchen, eine Gemeinde, eine Berufsklasse, eine Arbeitergruppe (…) nicht anders als eine politische Partei, ein Verein, ein Bataillon, ja eine Schulklasse« besitzen könne: »Er verbindet die heterogensten Dinge – von den Nichtigkeiten des Umgangs und der Höflichkeit bis zu den Formen politischer Leidenschaft und Parteiung, ja bis zu den herrschenden Ansichten, Vorurteilen oder auch den Vorzugsrichtungen der Ablehnung und Zustimmung.« 82 Solche Kraft besaß im Mittelalter die fama als »öffentliche Meinung des Landes, einer Stadt oder der Nachbarn«: »In der fama findet sich das Recht. Sie ist das lebendige Wissen vom Recht. (…) Die fama wacht nicht nur über das Recht, das vor ihrem Auge und ihren Ohren geübt wird, sondern sie ist zugleich das lebendige Rechtsgefühl des Volkes.« 83 Dass es ein solches »lebendiges Rechtsgefühl des Volkes« oder anderer großer Menschengruppen noch heute gibt, macht Jürgen Baumann am »Kern des echten Kriminalstrafrechts« deutlich: »Echte Rechtsblindheit ist im Kernbereich des Kriminalstrafrechts nahezu undenkbar.« 84 Die Lebendigkeit dieses Rechtsgefühls zeigt sich an seiner stetigen Wandelbarkeit über längere Zeiträume. Ein Großteil der dem Geschlechtsleben zugewandten Zensur ist nicht nur aus dem Kernbereich des Strafrechts, sondern aus dem Strafrecht überhaupt verschwunden, weil das einst Verpönte gar nicht mehr als anstößig gilt, aber ein spezieller Ausschnitt davon ist desto mehr in den Vordergrund getreten, der die sexuelle Selbstbestimmung betrifft; insbesondere die sogenannte Kinderschändung, wobei Kindern und heranwachsenden Jugendlichen auf sexuell deutbare Weise auch nur irgendwie nahe getreten wird, wird in der öffentlichen Meinung mit intensiver, teilweise Max Ernst Mayer, Rechtsnormen und Kulturnormen, Breslau 1903, Nachdruck Darmstadt 1965 82 Nicolai Hartmann, Das Problem des geistigen Seins, 3. Auflage Berlin 1962, S. 189 f. 83 Ludwig Buisson, König Ludwig IX., der Heilige, und das Recht, Freiburg i. Br. 1954, S. 16 f. 84 Jürgen Baumann, Strafrecht. Allgemeiner Teil, 5. Auflage Bielefeld 1968, S. 349, vgl. S. 143 81

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überspannter Aufmerksamkeit beargwöhnt und als das Verbrechen schlechthin gebrandmarkt. Der Umgang der rechtlichen Sensibilität mit dem Unrecht bildet im Nomos einer gemeinsamen Situation einer Menschengruppe ein Leitbild des Rechts aus, das ich als Rechtszustand bezeichne. Ein Rechtszustand einer Menschengruppe ist ein Zustand, in dem kein Angehöriger der Gruppe Verdichtungsbereich unerträglichen Zorns und/ oder unerträglicher Scham ist; was als unerträglich gilt, richtet sich nach dem Nomos der Situation, der von den diese Situation eingegebenen rechtlichen Vorgefühlen einschließlich des Geschmacks geleitet wird. Die in solcher Weise ausgezeichneten rechtlichen Urgefühle bezeichne ich als rechtlichen Zorn bzw. rechtliche Scham. Der Rechtszustand braucht keineswegs verwirklicht zu sein; auch ist er nicht eindeutig festgelegt, sondern er besteht in einer unendlichen Palette möglicher Zustände, die nur das in der Definition angegebene Merkmal zu besitzen brauchen. Die einen Rechtszustand tragende rechtliche Sensibilität, insbesondere der Vorgefühle (Rechtsgefühl, Schamhaftigkeit), ist das, was vom Reichsgericht in den Begründungen seiner Entscheidungen gern als »Anstandsgefühl der billig und gerecht Denkenden« 85 in Anspruch genommen wurde: jenes Maß an Lauterkeit, das dafür sorgt, die Schwelle nicht zu überschreiten, von der ab das Empörende und Beschämende nach Maßgabe jener Rechtsgefühle nicht mehr hinnehmbar ist. Ein Rechtszustand kann der ganzen Menschheit oder der Schicht der Gebildeten oder den Angehörigen einer Zivilisation (»westliche Welt«) oder einer Religion (Islam) oder eines Volkes, eines landschaftlichen Stammes, eines Berufsstandes (Zunft) usw. ebenso zu eigen sein, wie einer Freundesgruppe, einer Ehe, einer Familie; jede einigermaßen wohlgeordnete Familie wird ihren eigenen Rechtszustand ausbilden. Die mehr oder weniger abgegrenzten Schamgemeinschaften, die für eine Person aus deren Angehörigen (im weitesten, nicht nur familiären Sinn des Wortes) bestehen, die sich mit ihr oder für sie schämen oder eintretenden Falls schämen würden, geben Hinweise auf den Umfang von Rechtszuständen. Recht und Sitte gehen im Rechtszustand in einander über, auf primitiver Stufe bis zur Ununterscheidbarkeit 86 , in Zitiert bei Erich Jung, Das Problem des natürlichen Rechts, Leipzig 1912, S. 188 E. Adamson Hoebel, Das Recht der Naturvölker (The Law of Primitive Man, Cambridge/Mass. 1954, verdeutscht von Drude), Olten 1968, S. 143

85 86

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entwickelten Rechtskulturen durch spezielle Institutionen 87 , und der englische Richter betätigt sich noch im 20. Jahrhundert bei der Rechtsprechung als Sittenbildner und -zensor mit dem Maßstab der Kulturnormen seines Milieus. 88 Indische Rechtsbücher sind »Kompendien nicht nur des Rechts, sondern zugleich auch des Rituals, der Ethik und unter Umständen der gesellschaftlichen Konvention und Höflichkeitslehre.« 89 Ein Rechtszustand kann auch trügen. Bemerkt werden kann nur, was einzeln ist, d. h. eine Anzahl um 1 vermehrt. Einzelheit ist die Verbindung absoluter Identität mit Fallsein unter Gattungen (2.2.2). Wenn keine geeigneten Gattungen zur Verfügung stehen – z. B. wegen falscher Erwartung oder anderer Ablenkung oder emotionaler Blockade, z. B. Verbohrtheit, Eitelkeit, Peinlichkeit –, wird selbst das Virulente und schon Gespürte nicht bemerkt und beim Entwurf des Leitbildes für einen Rechtsfrieden, eines Rechtszustandes, nicht berücksichtigt. Das ist dann eine Herausforderung an revolutionäre Propheten, durch Bereitstellung geeigneter Gattungen für das Empörende und Beschämende, das von der herrschenden Meinung aus dem Vorblick auf das Erstrebte verdrängt wird, die Verdrängung zu entlarven und heuchlerischer Selbstgerechtigkeit zu überführen. So etwas war angemessen für die hochbürgerliche Gesellschaft in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, angesichts der Ungerechtigkeit der Arbeitsverhältnisse, der Ausbeutung der Kolonien und imperialen Rücksichtslosigkeit, der unaufrichtigen Sexualmoral. Klarsichtige Empörer und Satiriker wie Marx, Daumier und Grosz haben damals und etwas später diese Angriffsfläche genützt, und Ibsen, ein weiterer Protagonist des Aufstands gegen seine Zeit, hat für die Unruhe des Lebens über einer unbemerkten und nicht als Fall einer bestimmten Gattung identifizierten, aber störenden Atmosphäre der Beschämung ein treffendes Bild gefunden: Er vergleicht die Zivilisation seiner Zeit einem stolzen Schiff, dessen Passagriechische Gynaikokraten (Realencyclopädie der klassischen Altertumswissenschaften Band IV Spalte 2826, Band VII Spalte 2059 f.), römische Zensoren (Theodor Mommsen, Römisches Staatsrecht, 3. Auflage Leipzig 1887, Nachdruck Basel 1963, 2. Band S. 376 Anm. 2, 386 Anm. 3, 463), mittelalterliche Rügegerichte (Wilhelm Ebel, Der Bürgereid, Weimar 1958, S. 99–106) 88 Reiche Belege bei A. Mendelssohn-Bartholdy, Das Imperium des Richters, Straßburg 1908, z. B. S. 180 (Bedeutung der häuslichen Sauberkeit für den Freispruch) 89 Max Weber, Religionssoziologie, aus dem Manuskript hg. v. J. Winckelmann, Neuwied 1960, S. 204 f. 87

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giere und Mannschaft einen zuversichtlichen Eindruck machen, in Wirklichkeit aber von tiefem Unbehagen durchdrungen sind, das dem heimlichen, nur im Halbschlaf gelegentlich eingestandenen Wissen entspringt: »Das Schiff führt mit als Ladung eine Leiche.« 90 Hinter der Gerechtigkeit bleibt der Rechtszustand zurück. Ideale Gerechtigkeit wäre ein Zustand, in dem die Menschen sich des Empörenden und Beschämenden völlig enthielten, praktische Gerechtigkeit das Bestreben, diesem Zustand möglichst nahe zu kommen. Die Verwirklichung der idealen Gerechtigkeit ist durch unlösliche Dilemmata ausgeschlossen. Jede Regelung des gutgläubigen Erwerbs vom Nichtberechtigten bei Reklamation des ursprünglichen Eigentümers lässt einen Stachel berechtigten Zorns zurück: beim Erwerber, wenn ihm das Eigentum entzogen wird, weil er es in ehrenhafter Weise erworben und dafür geleistet hat, andernfalls dem Reklamierenden, weil ihm entzogen bleibt, was ihm eigentlich gehört. Jede Neuerung im Recht, auch die zur Abhilfe einer Ungerechtigkeit dienliche, ist zugleich ein Unrecht gegen die Menschen, die auf die bisherige Regelung vertraut und sich danach eingerichtet haben. Auch der Eifer für die Gerechtigkeit kann empörend in gefestigte Verhältnisse eingreifen (Hebbel, Gyges und sein Ring: »Rühret nicht an dem Schlaf der Zeit«). Neben solchen prinzipiellen Hindernissen idealer Gerechtigkeit gibt es die kontingenten. Der Soldat, der im Krieg Gegner und Nichtkämpfer tötet oder verwundet und deren Güter beschädigt, darf sich im Recht fühlen; dem Rechtszustand nach fällt ihm kein Unrecht, geschweige denn eine Schuld zur Last, aber durchaus gerecht ist das nicht. Der von der Französischen Revolution ins Leben gerufene Rechtszustand fordert für die Menschen sowohl Freiheit als auch Gleichheit. In Gerechtigkeit ist das nicht zu vereinigen.

2.2.5

Die Rechtsordnung

Eine Menge von Menschen mit einem Rechtszustand bezeichne ich als ein Rechtsvolk, dessen Angehörige als die Rechtsgenossen des Rechtsvolks. (Die Definition lässt zu, dass die Menge nur ein einziges Element hat; das ist für die Moral von Belang.) Ein Rechtszustand, als Leitbild Henrik Ibsen, Sämtliche Werke. Volksausgabe, hg. v. J. Elias und P. Scheenther, Band I, Berlin 1913, S. 107–111 (Ein Reimbrief)

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Recht

ein Programm, ist keine Norm, sondern ein Wunsch. Dieser ist zu vage bestimmt, um als Programm für den Gehorsam des einzelnen Rechtsgenossen zu taugen. Damit dieser weiß, was er im Dienst des Rechtszustandes tun oder lassen soll, müssen genauere Vorschriften vorliegen. Das ist die Aufgabe einer Rechtsordnung. An sie taste ich mich durch den Mittelbegriff des Rechtsgutes heran. Er ist seit der Einführung durch Birnbaum (1834) ein eifrig, aber mit wenig Nutzen für sicheren Gebrauch erörterter Streitgegenstand der Juristen. 91 Ich verstehe ein Rechtsgut eines Rechtszustandes als einen Sachverhalt, dessen Bestand als Tatsache notwendig ist, um eine Störung oder Schmälerung des betreffenden Rechtszustandes zu vermeiden. Die Rechtsordnung eines Rechtsvolkes bestimme ich als den durch die Autorität des den Rechtszustand tragenden Rechtsgefühls im weitesten Sinn mit verbindlicher Geltung ausgestatteten Komplex von Normen, die den Schutz und/oder die Verwirklichung von Rechtsgütern des Rechtszustandes vorschreiben und ein damit unverträgliches Verhalten verbieten; es kann sich auch um befohlene Normen handeln, sofern die Befehlsgeber ihre Autorität von den betreffenden Rechtsgefühlen haben. Jeder Rechtszustand wird die Neigung haben, sich durch eine Rechtsordnung zu ergänzen. Ein auffälliger Ausnahmefall scheint das Recht der frühesten Römer, das altrömische ius, gewesen zu sein. Hägerström, der es als Ausfluss einer magischen Weltanschauung deutet, sagt ihm nach, es enthalte keine Vorschriften, so dass es kein Handeln wider es geben könne; vielmehr sei es eine rechtliche Kraft, in der man sich gegebenenfalls befinde, eine von Verderbenskeimen freie Kraft, die gegen Besudelung durch dämonische religio reagiert und so noch von Livius verstanden worden sei. 92 Dieses ius ist demnach wie die fides der Römer zu verstehen, eine Atmosphäre, die den Treuegeber und den Treuenehmer, daher gleichermaßen Treue und Vertrauen, umfasst und die Liebenden bindet. 93 Hägerström hat bei Kennern eine mit Skepsis (wegen Übertreibungen) gemischte Anerkennung gefunden 94 ; Peter Sina, Die Dogmengeschichte des strafrechtlichen Begriffs ›Rechtsgut‹, Basel 1962, vgl. Rechtsraum S. 149 f. 92 Axel Hägerström »Der römische Obligationsbegriff im Lichte der allgemeinen römischen Rechtsanschauung, Uppsala/Leipzig, 1. Band 1922 S. 565, 571 f.; 2. Band 1941 S. 164 93 Rechtsraum S. 623 f. und Die Liebe (s. o. Anm. 80) S. 25 f. 94 Kurt Latte, Römische Religionsgeschichte, München 1960, S. 212 Anm. 1; Max Kaser, Das altrömische ius, Göttingen 1949, S. 303 f. 91

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später hat Okko Behrends seine Sicht wieder aufgenommen. 95 Nach ihm betrifft ius im »früh- oder protorömischen Sinn« das »Verhältnis des Gemeinwesens und seiner Menschen zu der von ihnen religios erlebten Umwelt«. Die älteste Rechtsprechung spreche profanen Verhältnissen in streitloser Ordnung ius zu, um sie dadurch von Mächten der religio abzugrenzen. Deswegen beginne die Urform des römischen Prozesses, die legis actio, nicht wie der alte deutsche Prozess mit Klage und Vorwurf, sondern mit einer Rechtsbehauptung. So sei ius im Anfang der römischen Rechtsgeschichte nicht Norm, sondern ein religios unbedenklicher (insofern normgemäßer) Zustand. 96 Solches ius wäre, wenn man die unheimlichen religiosen 97 Mächte der Römer in die dämonischen Urgefühle des Rechts (Zorn und Scham) umdeuten darf, ein reiner Rechtszustand ohne Rechtsordnung. Seit dem frühen 19. Jahrhundert wird in der Rechtswissenschaft strittig erörtert, ob eine Rechtsordnung als ganzheitliches Verhaltensmuster oder als Summe einzelner Normen aufzufassen ist. 98 Zwei neuere Stimmen: Larenz bekennt sich zu dem Grundsatz: »Die Geltung der Rechtsordnung im Ganzen ist nicht die Summe der Geltung ihrer einzelnen Normen, sondern geht der Geltung der einzelnen Normen vor.« 99 Dagegen behauptet Rupert Schreiber, »dass die Rechtsordnung aus der Summe ihrer Rechtsnormen besteht« und »die einzelnen Rechtsnormen das Recht ausmachen.« 100 Diese Meinung halte ich für falsch. Meinen Grund für die entgegengesetzte Option entnehme ich dem Strafrecht, genauer der Strafzumessung. Alle echten Strafrechtsnormen sind gleich streng und ernst gemeint. Diebstahl und Betrug sind ebenso verboten und verpönt wie Mord. Dennoch sind die Strafen Okko Behrends, ius und ius civile. Untersuchungen zur Herkunft des ius-Begriffs im römischen Zivilrecht, in: Sympotica Franz Wieacker, Göttingen 1970, S. 11 ff. 96 Ebd. S. 11, 12, 56 f., 16, 43, 49, 45, 55 97 »Wir sahen, dass religio zunächst die Rücksicht bedeutet, die man Wesen und Dingen zollt, in denen eine nichtirdische Macht wohnt. Religiosus ist also, was derartige Rücksicht auslöst; in sehr vielen Fällen können wir es mit unheimlich am besten übersetzen.« (Kurt Latte, Kleine Schriften zu Religion, Recht, Literatur und Sprache der Griechen und Römer, München 1968, S. 338) 98 Manfred Baldus, Die Einheit der Rechtsordnung. Bedeutungen einer juristischen Formel in Rechtstheorie, Zivil- und Strafrechtswissenschaft des 19. und 20. Jahrhunderts, Berlin 1995 99 Karl Larenz, Das Problem der Rechtsgeltung, Berlin 1929, S. 33 Anm. 76 100 Rupert Schreiber, Die Geltung von Rechtsnormen, Berlin/Heidelberg/New York 1966, S. 4 95

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nicht gleich schwer. Keine spezielle Norm gibt einen Grund dafür ab. Dieser kann nur darin bestehen, dass es eine übergeordnete Norm gibt, die alle je einem Verbrechenstyp zugeordneten Strafnormen umfasst. Wenn ein spezielles Verbrechen dieser Generalnorm in höherem Maße zuwiderläuft als ein einer anderen Spezialnorm des Strafrechts zugeordnetes Verbrechen, dann und nur dann ist ein rechtlich zureichender Grund vorhanden, jenes Verbrechen mit einer härteren Strafe zu ahnden als dieses. Mindestens die einzelnen Strafrechtsnormen bilden also keine bloße Kette, sondern sind einer sie umfassenden Gesamtnorm ein- und untergeordnet. Diese Gesamtnorm erstreckt sich auf alle Rechtsgüter, denn sie alle bedürfen eines Schutzes, der unter anderem eine Strafandrohung enthält. Eine einzige Generalnorm der Rechtsordnung betrifft also alle Rechtsgüter. Es wäre sinnlos, weitere echte Rechtsnormen von ihr auszunehmen und Stück für Stück neben ihr herlaufen zu lassen. Das ist auch deswegen untunlich, weil das Strafrecht mit den anderen Rechtsgebieten eng verflochten ist, indem gewisse Grade oder Kombinationen von Verstößen gegen Normen aus diesen Gebieten zur Strafwürdigkeit hinreichen. Deswegen kann die übergeordnete Norm, durch die der Unterschied der Strafschwere bei unterschiedlichen, durch verschiedene Spezialnormen sanktionierten Verbrechen gerechtfertigt wird, nichts anderes als die Rechtsordnung selbst sein. Diese ist daher ein ganzheitliches Verhaltensmuster. Erst wenn die Rechtsordnung als ganzheitliches Verhaltensmuster vorausgesetzt wird, erhalten die speziellen Rechtsnormen verschiedenes Gewicht, weil sie mehr oder weniger zur Abhaltung von Störungen oder Schmälerungen des Rechtszustandes, zur Aufgabe der Rechtsordnung, beitragen. Unter diesem Gesichtspunkt werde ich jetzt drei Typen echter Rechtsnormen unterscheiden; die unechten werden danach berücksichtigt. An der Spitze stehen die Kernnormen. Das sind die Rechtsnormen, deren Geltung Verbindlichkeit mit unbedingtem Ernst besitzt. In der bei uns gegenwärtig dominanten Rechtsordnung gehören mindestens die Normen im »Kernbereich des Kriminalstrafrechts«84 dazu, wenigstens für den Teil der Bevölkerung, den ich gleich (2.2.6) als die Kerngruppe des Rechtsvolks auszeichnen werde. Gleiches gilt für die elementaren Menschenrechte bei restriktiver Interpretation der seit 1776 beliebten Grundrechtskataloge. 101 Die Menschen sind 101 Fritz Hartung, Ernst Schraepler, Die Entwicklung der Menschen- und Bürgerrechte von 1776 bis zur Gegenwart, 3. Auflage Göttingen/Berlin/Frankfurt 1964

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Verbindlich geltende Normen

heute sehr sensibilisiert gegen Folter, Versklavung, Freiheitsbeschränkungen verschiedener Art. Im Altertum dagegen hielt Xenophon es für ein ewiges Gesetz, dass Leiber und Güter der Einwohner einer eroberten Stadt den Eroberern gehören. 102 Als Kernnorm galt damals dagegen das Gebot, die Toten zu bestatten. 103 Von Ewigkeit zu sprechen, ist bei Kernnormen eine verstiegene Umschreibung des unbedingten Ernstes. Auf die Kernnormen folgen in der Rechtsordnung die Schalennormen. Das sind die Rechtsnormen, die mit bedingtem Ernst (s. o. 1) verbindlich gelten. Ein Beispiel ist das Nacktheitstabu. Von Rechts wegen ist es erwachsenen Menschen meist verboten, nackt in der Öffentlichkeit aufzutreten. Dabei ist schwer einzusehen, was Menschen den Mut und den Stolz nimmt, sich so zu sehen und zu zeigen, wie sie körperlich in der Tat beschaffen sind, egal, ob das mehr oder weniger gefällig ist. Dennoch reicht die hemmende Scham vor Entblößung – gegen Goethes Votum 104 – immer noch bis zur verbindlichen Geltung, obwohl dem durchschnittlichen Menschen heute zumutbar ist, sich auf einem höheren Niveau personaler Emanzipation davon freizumachen. Dem Nacktheitstabu benachbart ist das Sexualrecht. Ursprünglich als Aphrodite von den Griechen in göttlichen Ehren gehalten 105 , wurde Sexualität seit Platon und noch mehr im Christentum (Augustinus) äußerst streng zensiert; ihre straffe Zügelung wurde mit drakonischem Pathos zum Rang einer Kernnorm erhoben, doch ist dies selbst im »finsteren« Mittelalter nicht ganz gelungen, wie z. B. die blühende Gattung des Tageliedes in der Lyrik zeigt. 106 Im Ganzen sind die scharfen Einschränkungen sexueller Entfaltung nicht über eine Mittelstellung zwischen Kern- und Schalennormen hinausgekommen, und seit einigen Jahrhunderten schwächt sich ihre Verbindlichkeit zusehends ab, nur oberflächlich und heuchlerisch vom viktorianischen Zeitalter unterbrochen. Zugleich nimmt im Gebiet des Geschmacks und des Anstandes die Körperbeherrschung zu; die Ekelschwelle sinkt, z. B. in Bezug auf Körperschmutz, Kot und anderen Auswurf. 107 Dabei entstehen Schalennormen des Geschmacks. VielKyrupädie VII 72 Sophokles Antigone Verse 453–457; Aristoteles Rhetorik 1373b4–13 104 Briefe aus der Schweiz, Der Sammler und die Seinigen, Wilhelm Meisters Wanderjahre 105 Z. B. von Mimnermos (fr. 1 Diehl) und als Prostitution von Pindar (fr. 122 Suell) 106 Die Liebe (s. o. Anm. 80) S. 171 f. 107 Rechtsraum S. 98 f., mit Bezug auf Norbert Elias, Der Prozess der Zivilisation, 1969 102 103

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leicht gehören beide gegensätzliche Entwicklungstendenzen zusammen: Der verfeinerte Geschmack entlastet von manchen verpönten Folgen der Entfaltung des geschlechtlichen Verlangens, indem er neue Grenzen setzt. Solche tektonischen Verschiebungen im Bereich der Schalennormen sprechen für die Lebendigkeit des Rechtsgefühls. Auf der dritten Stufe echter Rechtsnormen stehen die Randnormen. Das sind Normen, die durch Auswahl unter rechtlich gleichgültigen Regelungsmöglichkeiten zu Stande kommen, wenn die Rechtsordnung verlangt, dass eine von diesen Möglichkeiten zur geltenden Norm erhoben wird, weil sie ohne solche Regelung empfindlichen Schaden nähme. Diesem Bedarf kann durch unwillkürlich sich einspielende Konvention, durch Vertrag oder durch Befehl Genüge geschehen. Als Befehlsgeber kommt nur ein Machthaber mit hinlänglichem Durchsetzungsvermögen in Betracht, und das ist heute meist der Staat. Die Setzung von Randnormen ist der wichtigste Beitrag der staatlichen Gesetzgebung für das Recht. Im frühen Mittelalter gehörten nur wenige Randnormen zur Rechtsordnung; daher taucht erst im hohen Mittelalter (12. Jahrhundert, wohl unter dem Einfluss des römischen Rechts) die Gesetzgebung unter den dem Fürsten vorgehaltenen Aufgaben auf, die sich bis dahin auf die Durchsetzung des Rechts (z. B. durch gehörige Strafen) und die Schutzfunktion beschränkten. 108 Heute ist das Leben der Menschen von Randnormen ganz umsponnen, weil eine überstarke Empfindlichkeit für Ausgewogenheit der Interessenbefriedigungen dafür sorgt, dass gleichsam eine Rechtswunde befürchtet wird, wenn nicht an Hand von Regelungen immer nachgeprüft werden kann, ob jemand irgendwie benachteiligt ist. Darüber hinaus bedingen die technischen und sozialen Verflechtungen des modernen Lebens erhöhten Regelungsbedarf. So hat der Staat immerzu mit dem Erlass geltender Randnormen zu tun. In der staatlichen Gesetzgebung mischen sich unübersichtlich mit den Randnormen die unechten Rechtsnormen. Das sind keine Rechtsnormen; sie gehören nicht zur Rechtsordnung, werden aber als Rechtsnormen behandelt und so von den Richtern angewandt, die insofern, gleichsam doppelköpfig, einerseits Diener des Rechts, andererseits Diener des Staates sind, ohne den Unterschied zu Bewusstsein zu bringen. Unechte Rechtsnormen entspringen rechtlich gleichgültigen Motiven 108 Thomas Simon, »Gute Policey«. Ordnungsbilder und Zielvorstellungen politischen Handelns in der frühen Neuzeit, Frankfurt a. M. 2004, S. 13–17

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politischer Zweckmäßigkeit. Sie als Rechtsnormen zu behandeln, ist an sich unanstößig und praktisch bequem; da schon bei den Randnormen der Staat im Recht gebraucht wird, kann er dieses Eingreifen auch für seine übrigen Zwecke nützen. Bedenklich wird die Vermischung aber, wenn die unechte Rechtsnorm der Rechtsordnung entgegensteht, wenn z. B. eine politische Partei, um eine für sie interessante Wählergruppe zu begünstigen, eine gesetzliche, auch strafbewehrte Regelung durchsetzt, die andere benachteiligt. Als die Regierung der Vereinigten Staaten Streit mit Serbien hatte, bedrohte sie ihre Staatsbürger mit schweren Strafen bei Kontakt mit Serbien. Der Schachspieler Bobby Fischer konnte diesen Strafen nur durch Flucht nach Island entgehen, nachdem er mit einem Serben gespielt hatte, obwohl keine echte Rechtsnorm einem solchen Spiel entgegenstand. Die bisher besprochenen Rechtsnormen gehören in das Gebiet der sogenannten objektiven Rechte, der Rechtsgüter. Daneben kennt die herrschende Rechtsdogmatik und die staatliche Gesetzgebung subjektive Rechte; das sind Rechtsnormen, die jemand von sich aus oder durch Übertragung sozusagen in seinem Besitz hat und als Forderung, gleichsam als Waffe, gegen jedermann, auch gegen den Staat und andere öffentliche Organisationen, einsetzen kann, indem er sich auf sein Recht beruft. Eine solche Privatisierung des Rechts kann wohl nur als Mittel zum Schutz der persönlichen Freiheit einleuchten, als Garantie für das Verfügenkönnen einer Person über ihr Tun und Lassen; denn es leuchtet kaum ein, warum das, was viele gleichmäßig betrifft, von Rechts wegen so ausschließlich in die Hände eines Einzelnen gelegt werden sollte. Als Garantie persönlicher Freiheit hat man subjektive Rechte in der Tat gewöhnlich verstanden; bezeichnend dafür ist die Definition des führenden Pandektisten Windscheid im 19. Jahrhundert: »Ein Recht ist also ein von der Rechtsordnung verliehenes Wollendürfen, eine von der Rechtsordnung verliehene Macht oder Herrschaft.« 109 Subjektives Recht wäre hiernach ein Erlaubtsein der Ausübung gewisser Fähigkeiten, ein Dürfen. Zu Beginn des 19. Jahrhunderts war diese Auffassung allgemein wie selbstverständlich. Eine später von Ihering eingebrachte Konkurrenzformel – »Rechte sind rechtlich geschützte Interessen« – scheiterte schon daran, dass es mehr rechtlich geschützte Interessen als subjektive Rechte gibt, z. B. einen 109 Diese Angabe und die folgenden entnehme ich aus: Rudolf Schulz-Schäffer, Das subjektive Recht im Gebiet der unerlaubten Handlung, Marburg 1915, S. 87, 84 f., 89

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Schutzzoll, der die heimische Produktion schützt, worauf diese aber kein Recht anmelden kann. Auch die Auffassung des subjektiven Rechtes als Erlaubtheit einer Willensausübung lässt sich angesichts von Rechten Willensunfähiger, subjektloser Rechte und von Rechten zur gesamten Hand nicht ohne Verrenkungen aufrecht erhalten 110 , aber durch Begriffsakrobatik und Fiktionen könnte man das Kunststück vollbringen. Das ist aber überflüssig, denn diese Auffassung des subjektiven Rechtes beruht auf Selbsttäuschung, auf Nichtverstehen dessen, was man selber meint. Was nicht verboten ist, ist erlaubt; einer besonderen Erlaubnis, die von einer übergeordneten Instanz verliehen und in Eigenbesitz genommen werden könnte, bedarf es nicht. Wichtig sind subjektive Rechte ihrem Inhalt nach vielmehr als Gelegenheiten, d. h. als Versicherungen der Abwesenheit rechtlich verbotener Behinderungen beim erlaubten (nicht verbotenen) Tun und Lassen. Das Missverständnis, Gelegenheiten als Erlaubnisse aufzufassen, ergibt die Komik der bekannten Distichenfolge in Schillers Xenien: Rechtsfrage Jahrelang schon bedien ich mich meiner Nase zum Riechen. Hab ich denn wirklich auf sie auch ein erweisliches Recht? Pufendorf Ein bedenklicher Fall! Doch die erste Possession scheint Für dich zu sprechen, und so brauche sie immerhin fort. Schillers Recht auf Riechen besteht keineswegs in der Erlaubtheit seines rechtlich vollkommen gleichgültigen Riechens oder (mit Windscheid) seines Wollendürfens, die Fähigkeit zum Riechen auszuüben, sondern in der rechtlich garantierten Gelegenheit zum Riechen, soweit die Abwesenheit rechtlich verbotener Hindernisse – ihm die Nase zuzuhalten, ein Anästheticum gegen seinen Willen in diese einzuspritzen – dazu ausreicht. Die Beschaffung dieser Gelegenheit ist aber nichts, was Schiller als dem Rechtsinhaber erlaubt werden könnte, sondern etwas, das die anderen zu leisten haben, indem sie auf solche unbefugten Eingriffe verzichten. Das Entsprechende gilt für alle anderen subjektiven Rechte, z. B. die heute viel beschworenen Grund- und Menschenrechte, etwa auf rechtlich harmlose freie Entfaltung der Persönlichkeit oder auf Leben. Immer wird dem Individuum garantiert, dass ein gewisses Verhalten – z. B. im Fall des Rechtes auf Leben: das 110

Vgl. Rechtsraum S. 198 f.

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Atmen, Essen, Trinken, Ausscheiden usw., soweit es sich im gehörigen Rahmen hält – auf keine rechtswidrigen Hindernisse stoßen wird. Man kann höchstens ergänzen, dass es unter Umständen – etwa im Fall der manchmal proklamierten »positiven« Menschenrechte auf Arbeit, Bildung, Sozialfürsorge usw. – sogar rechtlich gebotene Förderung erfahren soll. In allen Fällen besteht die Ausübung eines subjektiven Rechts nicht in dem, was der Inhaber tut oder lässt, sondern in dem, was die anderen tun oder lassen sollen (von Rechts wegen), wenn er etwas Erlaubtes tut oder lässt. Es ist aber sehr unplausibel, Rechtsnormen, die ein Verhalten von Mitmenschen und nur von diesem regeln, dem Individuum, das von diesem Kreis ausgeschlossen ist, wie einen Privatbesitz zu überlassen. Das subjektive Recht ist daher als solches von vornherein ein perverses, unvernünftiges Institut. Subjektive Rechte sind objektive Rechte, nämlich Rechtsgüter im definierten Sinn wie andere auch. Durch die Preisgabe der Umdeutung solcher Rechtsgüter in subjektive Rechte wird ein großer Aufwand rechtsdogmatischer Akrobatik überflüssig. Lediglich ein Rumpf muss erhalten bleiben, nämlich das Recht, sich auf die betreffenden Rechtsgüter zu berufen, wie z. B. bei Gericht anzumelden und auf diese oder andere Weise die öffentliche Hand für ihre Sicherstellung in Bewegung zu setzen. Auch das ist ein Rechtsgut und keineswegs ein dem Inhaber des subjektiven Rechtes vorbehaltenes Privileg. Im Allgemeinen werden sehr viele, vielleicht Beliebige, in dieser Weise zur Anzeige einer Verletzung von Rechtsgütern unbehinderten Tuns und Lassens des Erlaubten befugt sein; wenn die Behinderung ein Verbrechen ist, kann die Rechtsordnung sogar irgend welchen Dritten die Pflicht zur Anzeige auferlegen. Ein Beispiel sind die Rechte der Tiere. Angesichts der steigenden Empfindlichkeit des Rechtsgefühls für den Schutz der Tiere vor unbilliger Behandlung wird gefordert, auch den Tieren subjektive Rechte einzuräumen, obwohl kein Tier in der Lage ist, solche vor Gericht oder durch Anzeige bei der Polizei für sich geltend zu machen. Der Streit um Tierrechte ist völlig abwegig. Ein Recht eines Tieres kann es nur so geben, wie nach einer altnordischen Rechtsquelle ein Recht des Diebes, zur Strafe gehängt zu werden 111 , was dieser kaum für sich reklamieren dürfte. So wie es in dieser alten Rechtskultur die Norm gab, den Dieb so zu bestrafen, gibt es in einer von Sensibilität für die Leiden der Tiere mitbestimmten Rechtsordnung die Norm, Tiere 111

Klaus von See, Altnordische Rechtswörter, Tübingen 1964, S. 40

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vor verpönten Quälereien zu schützen und zu diesem Zweck auch Anzeige zu erstatten. Jemandem die Erlaubnis dazu zu entziehen, wäre rechtswidrig. Auf diese Weise kann jede Rechtsordnung ohne die Figur des subjektiven Rechtes auskommen; diese scheint nur dazu da zu sein, dem Stolz der Individuen auf ihre Selbständigkeit – z. B. beim Mündigwerden – zu schmeicheln, aber dafür sollte es andere Mittel geben als die Verwirrung von Rechtsbegriffen. Diese Rechtsfigur ist erst verhältnismäßig spät in das Rechtsleben eingetreten. Wenn Aristoteles dem Sophisten Lykophron die Meinung zuschreibt, das Gesetz sei den Bürgern »Bürge der gerechten Dinge im Verhältnis zu einander« 112 , drücken weder er noch Lykophron sich ungeschickt aus, als wollten sie sagen, es sei Bürge ihrer subjektiven Rechte; vielmehr meinen sie genau die Rechtsgüter (objektive Rechte), die das Verhältnis der Bürger zu einander betreffen. Ähnlich bedeutet bei Plautus und Terenz der Ausdruck »ius meum« nicht »mein subjektives Recht«, sondern »bald ›meine Rechtsstellung‹, bald in Verbindung mit Verben des Forderns und Erhaltens die dem Recht entsprechende, mir günstige Rechtslage, die ich für mich beanspruche und deren Verwirklichung ich durchsetzen will«. 113 Mit den subjektiven Rechten werden auch die juristischen Personen überflüssig. Diese sind in Wirklichkeit Institutionen in Institutionen, d. h. Verhaltensmuster, die das Verhalten von Menschen zu einander und zu sonstigen Sachen regeln (3.2). Aus dem Ineinandergreifen der so geregelten Verhaltungen ergeben sich regelmäßige Folgen, die man sich durch die Fiktion übersichtlich machen kann, dass die Institutionen selbst tun oder leiden, dass z. B. ein Staat den Krieg erklärt, Frieden und Verträge schließt oder eine Provinz verliert, am Ende gar ausgelöscht wird. Das sind bequeme Ausdrucksweisen, die in keiner Weise das Missverständnis, als ob es sich wirklich um Personen handle, nach sich ziehen sollten. Die betreffenden Regeln sind nur zum Teil echte Rechtsregeln, etwa Randnormen, zum anderen Teil unechte Rechtsnormen oder nicht einmal das.

112 113

Aristoteles, Politik, 1280b1 f. Max Kaser, Das altrömische ius, Göttingen 1949, S. 97

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Verbindlich geltende Normen

2.2.6

Das Rechtsvolk

Als Rechtsvolk wurde unter 2.2.5 eine Menge von Menschen mit einem Rechtszustand bestimmt; wenn die Menge mehr als ein Element hat, sind diese Elemente, die Rechtsgenossen, durch den Rechtszustand verbunden. Dem Rechtszustand entspricht fast immer eine Rechtsordnung aus Normen, die den Rechtsgenossen vorschreiben, was sie im Dienst des Rechtszustandes zu tun und zu lassen haben. Dieselbe Norm kann in der Perspektive eines Menschen verbindlich oder unverbindlich gelten; er kann aber auch ihr Adressat sein, ohne dass sie in seiner Perspektive gilt (1). Schließlich braucht er nicht einmal Adressat zu sein, dem die Norm in der Perspektive von jemand Gehorsam abverlangt, damit sie auf ihn angewandt werden kann. Alle diese Verhältnisse zur Rechtsordnung können im Rechtsvolk vorkommen; es muss daher in drei oder vier Teilmengen eingeteilt werden, die aber nicht sämtlich besetzt sein müssen. Die wichtigste und in jedem Rechtsvolk unentbehrliche Teilmenge ist die Kerngruppe, bestehend aus den Menschen, in deren Perspektiven die Rechtsnormen verbindlich gelten, teils mit unbedingtem Ernst (als Kernnormen), teils mit bedingtem Ernst (als Schalennormen). Ohne eine hinlänglich zahlreiche und mächtige Kerngruppe, die die Rechtsordnung im Rechtsvolk maßgeblich (wenn auch nicht immer erfolgreich) durchzusetzen vermag, lebt das Recht nicht mehr im Volk, im Rechtsvolk. Das Recht verliert dann seine verbindliche Geltung aus der Autorität des Gefühls und sinkt zu einem nach Belieben von Machthabern mehr oder weniger geregelten Zustand, der »schreiendes« Unrecht sein kann, herab. Neben der Kerngruppe pflegt sich als zweite Teilmenge die innere Randgruppe des Rechtsvolks auszubilden, bestehend aus den »Mitläufern«, in deren Perspektive die Rechtsnormen nur unverbindlich gelten, weil sie sich der Kerngruppe z. B. aus Opportunitätsgründen oder aus Furcht vor Zwang anschließen. Darauf folgt die äußere Randgruppe, bestehend aus Menschen, auf die die Rechtsordnung angewendet wird, ohne in ihrer Perspektive zu gelten. Man kann sie noch einteilen in die äußere Adressatengruppe der Menschen, von denen die Rechtsnormen Gehorsam verlangen, und die äußere Objektgruppe der Menschen, die bloße Objekte für die Anwendung der Normen sind. Als anschauliches Beispiel solcher Gliederung kann eine patriarchalische Familie älteren, heute fast schon antiquierten Zuschnitts gelten, die eine (ungeschriebene) Rechtsordnung mit Rechtsgütern wie der wechselseitigen Pietät 88 https://doi.org/10.5771/9783495860755 .

Recht

(im altrömischen Sinn) und der familiären Aufgabenverteilung im Dienst eines familiären Rechtszustandes besitzt, überdies ein Justizpersonal (Eltern mit Zwangsgewalt) und Sanktionsmittel (Prügel, Entzug des Taschengeldes usw.). Die Kerngruppe möge aus dem Vater, der ihm ergebenen Mutter und der ebenso gesonnenen Tochter bestehen, die innere Randgruppe aus den in der Gesinnung schon rebellierenden, aber sich im eigenen Interesse noch fügenden heranwachsenden Söhnen, die äußere Randgruppe (hier: äußere Objektgruppe) aus dem nachgeborenen Kleinkind. Der äußeren Adressatengruppe könnte ein schlecht integriertes, einer fremdartigen Rechtskultur entstammendes Dienstmädchen, das mangels Anpassungsbereitschaft bald wieder entlassen wird, zugerechnet werden. Die Existenz einer zur Dominanz ausreichenden, aus Überzeugung loyalen Kerngruppe mag bei kleinen Rechtsvölkern leicht vorstellbar sein, wird aber für große Rechtsvölker (z. B. ein Staatsvolk, dessen Rechtsordnung ein großer Staat beaufsichtigt) wegen des Pluralismus bestritten, nach dem sich heterogene bis inkommensurable Strömungen der Überzeugung aus Evidenzen des Gefühls in der Gesellschaft zufällig überschneiden und nur durch Kompromisse und gegenseitige Schonung mit einander auskommen. Dass es dagegen auch in großen Personenverbänden noch einen für hinlängliche Stabilität der Rechtsordnung genügenden Konsens über Kernnormen gibt, will ich nun mit mehreren Begründungen beleuchten: 1. Auf den Kern des Kriminalstrafrechts, der für Verbrecher in der inneren Randgruppe oft wenigstens unverbindlich und für die mit »Anstandsgefühl (…) billig und gerecht Denkenden« des Reichsgerichts85 verbindlich gilt, wurde schon hingewiesen. 2. Unter 2.2.11 werde ich auf das normale sittliche Verantwortungsbewusstsein eingehen, das nicht an den Überzeugungen, sondern an den spontanen Beurteilungen der Leute abgelesen werden kann. Es bindet sittliche Verantwortung an nicht triviale (d. h. nicht logisch aus dem Faktum der Verantwortung folgende) Merkmale, die zusammen die zur Verantwortung erforderliche Freiheit bilden, und verfährt dabei, wie sich zeigen wird, sehr wählerisch. Seine Anforderungen sind Kernnormen, an denen die strafrechtliche Schuldfähigkeit gemessen wird. 3. Kernnormen zeigen sich im spontanen Aufbegehren beim Zusammenstoß unverträglicher Rechtskulturen, heute besonders bei der Invasion des Islams, etwa bezüglich der Stellung der Frauen oder des Ranges kritischer Meinungsfreiheit. 4. Eine Kernnorm in Bildung, und damit die Produktivität des Rechtsgefühls bei der Bil89 https://doi.org/10.5771/9783495860755 .

Verbindlich geltende Normen

dung von Kernnormen, beobachten wir heute auf dem Gebiet des Tierschutzes. Noch 1968 will der Strafrechtler Gallas in den Spuren Kants Tierquälerei bloß wegen des ungünstigen Einflusses der darin sich äußernden Gesinnung auf das menschliche Zusammenleben verwerfen 114 , aber dagegen wächst, in ersten Ansätzen bald nach Descartes in England beginnend und ab etwa 1800 auf Deutschland übergreifend, die Anerkennung der Tiere als Schutzobjekte der Rechtsordnung heran 115 , mit Einräumung des Rechts, »nicht gequält zu werden, auf frohes und freies Lebensgefühl, auf angemessene Nahrung«. 116 Obwohl diese Bewegung noch mit starken, ökonomisch motivierten Gegenströmungen (Massentierhaltung, -transport, -schlachtung) zu kämpfen hat, dringt sie immer weiter in den Bereich einer allgemeinen Rechtsüberzeugung von Kernnormen durch, so dass nicht mehr viel an der Einsicht fehlt, dass nicht vernünftig motivierte Grausamkeit gegen höhere Tiere kaum weniger verwerflich ist als gegen Menschen. 5. Breiter und tiefer hat sich seit der amerikanischen und französischen Revolution die Anerkennung und Forderung elementarer Menschenrechte101 als Kernnormen durchgesetzt, namentlich seit der Erfahrung menschenverachtender Diktaturen des 20. Jahrhunderts. 6. Nicht nur bei so großen und groben Anlässen macht sich das Rechtsgefühl allgemein geltend, sondern auch in Gestalt sehr subtiler, aus keinen Statistiken oder Deduktionen gewinnbarer Abwägung. Jeschek gibt folgendes Beispiel für eine »für die Rechtsgemeinschaft unerträgliche Verletzung der Autonomie des Betreffenden«: »Eine Dame in kostbarem Nerzmantel entreißt einer einfach gekleideten Passantin bei plötzlich einsetzendem Platzregen Mantel und Schirm, um die eigene Kleidung zu schützen.« Das werde auch durch § 904 BGB nicht erlaubt. 117 Wilhelm Gallas, Beiträge zur Verbrechenslehre, Berlin 1968, S. 13–15 Vgl. den Artikel Tierrecht (von M. Linnermann) in: Historisches Wörterbuch der Philosophie Band 10, 1998, Spalten 1217–1221 116 K. Chr. F. Krause, Vorlesungen über Naturrecht, hg. v. R. Mörcke, 1892, S. 137, von mir zitiert nach: Erik Wolf, Das Problem der Naturrechtslehre, 3. Auflage Karlsruhe 1964, S. 4 f., Anm. 18. Krause lebte 1781–1832 117 Hans-Heinrich Jeschek, Lehrbuch des Strafrechts. Allgemeiner Teil, Berlin 1969, S. 238. Der § 904 des Bürgerlichen Gesetzbuches lautet: »Der Eigentümer einer Sache ist nicht berechtigt, die Einwirkung eines anderen auf die Sache zu verbieten, wenn die Einwirkung zur Abwendung einer gegenwärtigen Gefahr notwendig und der drohende Schaden gegenüber dem aus der Einwirkung dem Eigentümer entstehenden Schaden unverhältnismäßig groß ist. Der Eigentümer kann Ersatz des ihm entstehenden Schadens verlangen.« 114 115

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Die Verschachtelung von Rechtsvölkern ist kompliziert und unübersichtlich. Manche übergreifen Kontinente mit universalem Anspruch, so die westliche Zivilisation mit ihren Menschenrechten, die islamische Scharia, kirchliche Rechtsvölker, das Rechtsvolk des Völkerund Seerechts; andere sind enger bestimmt, auf Gemeinden, Dörfer, Sippen, Groß- und Kleinfamilien beschränkt, und dazwischen gibt oder gab es Klassen (im marxistischen Sinn) und Stände als eigenständige Rechtsvölker, sowie die jeweils zu einem Staat gebündelten, denen dieser mehr oder weniger durch Gesetze ihr Recht vorzuschreiben sucht. Oft kommt es zu Konflikten zwischen Rechtsvölkern, deren Rechtsordnungen sich überschneiden, und dann zu zwiespältigen Kompromissen im Dienst der Bemäntelung und des Auskommens mit einander. So verhielt sich früher die staatliche Rechtsordnung zur Rechtsordnung der Duellsitte der privilegierten Stände, im Mittelalter zur kirchlichen (privilegium fori) der Kleriker. Ähnliches spielt sich bis heute unter den Augen der staatlichen Obrigkeit bei der Austragung der aus dem Rechtsgefühl des »Klassenkampfes« im Rechtsvolk der Arbeiterklasse entsprungenen Arbeitskämpfe mit eigenständiger Rechtsordnung (Tarifautonomie, Streiks, Aussperrungen, mit Blockaden und anderen gewaltsamen Begleiterscheinungen) ab. Ein wohlgelungenes Beispiel der »Verdauung« solcher Konflikte durch Kompromiss ist der Einbau der rebellierenden plebs als eines eigenständigen Rechtsvolkes in den Staatsapparat und die staatliche Rechtsordnung der Römer.

2.2.7

Die Rechtskultur

Ein Rechtsvolk mit einem charakteristischen, vom Rechtsgefühl im weitesten Sinn vorgezeichneten Rechtszustand und einer auf diesen bezüglichen Rechtsordnung, deren Kernnormen in der Perspektive der Angehörigen der Kerngruppe mit unbedingtem Ernst verbindlich gelten, ist eine Rechtskultur. Sie ist das Recht im Vollsinn; Rechtszustand und Rechtsordnung allein sind vorbereitende Momente. Der Begriff der Rechtskultur entfaltet seine große empirische Fruchtbarkeit durch die Unterscheidung zweier Haupttypen, die mehr oder weniger sämtliche Rechtsformen in Geschichte und Gegenwart einteilen und auf die beiden rechtlichen Urgefühle zurückgehen: Rechtskultur des Zorns und Rechtskultur der Scham. Einen Triumph meiner Herleitung des Rechts aus dem Gefühl sehe ich darin, dass es mit ihrer Hilfe ge91 https://doi.org/10.5771/9783495860755 .

Verbindlich geltende Normen

lingt, den geschichtlich vorliegenden Rechtsstoff im Dienst der Rechtsvergleichung umfassend zu klassifizieren und Überschneidungen kenntlich zu machen; die Spezifizierung der umfassenden Klassifikation bleibt Spezialisten überlassen. Ein Positivist, der Rechtsordnungen auf Satzungen und staatliche Befehle zurückführt, mag mit einer Rechtskultur des Zorns schlecht und recht auskommen; vor einer Rechtskultur der Scham muss er die Waffen strecken, und damit vor einer Rechtsvergleichung, da eine solche Rechtskultur ihm fast nichts anbietet, das er vergleichen könnte. Das moderne europäische Recht, spätestens seit dem Mittelalter, ist eine Rechtskultur des Zorns, erbaut über dem Zorn als Urgefühl; Rudolf von Ihering gab ihr das Losungswort, indem er den »sittlichen Zorn« beim »Kampf ums Recht« als das »Alles vergessende und Alles vor sich darniederwerfende Walten der sittlichen Kraft« 118 rühmte, der »Kraft des Rechts«, die »ruht im Gefühl«. 119 Charakteristisch für eine Rechtskultur des Zorns ist die extravertierte Wendung im Rechtsstreit mit dem Gegner, die Betonung des subjektiven Rechts, das man dabei für sich in Anspruch nimmt, und die Ausübung des Rechts in der vergeltenden Rache oder Strafe, aber auch der kluge, mäßigende und meidende Umgang mit dem drohenden Zorn durch den Verwalter des Rechtsgefühls, den Richter oder Schlichter, vor dessen Forum daher bei hinlänglicher Verfeinerung der Rechtskultur die Auseinandersetzung gehört. Im fernen Osten regiert dagegen die Scham mit den zugehörigen Vorgefühlen und Gefühlsanaloga (Schamhaftigkeit und Geschmack) die Rechtskultur. Die vorbeugende Leistung dieser rechtlichen Sensibilität zielt demgemäß nicht auf den Zorn, sondern auf die Scham, die mit Hilfe des Geschmacks durch Anstand (und dazugehörige Höflichkeit) umgangen wird. Dem Anstand entspringen die auf spezielle Sozialverhältnisse abgestimmten Riten (chinesisch: li; japanisch: giri), die durch Regelung des Schicklichen und Gehörigen im Verhalten den Rechtsstreit vor Gericht entbehrlich machen; diesen zu provozieren, gilt als beschämend unschicklich. In China gelten Gesetze als bedenklich, subjektive Rechte und das Pochen darauf als pervers, Prozesse als skandalös, Zwangsvollstreckungen als ungehörig 120 ; wer Klage erhebt, 118 119 120

Rudolf v. Ihering, Der Kampf ums Recht, Wien 1872, S. 60 Ebd. S. 558 René David, Einführung in die großen Rechtssysteme der Gegenwart, aus dem Fran-

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wandert (nebst dem Beklagten, eventuell auch den Zeugen) ins Gefängnis. 121 An der Stelle des Rechts stehen die Riten, die Muster dafür, wie ein anständiger Mensch sich verhält. 122 Anstand gehört zur rechtlichen Sensibilität für die Scham (2.2.3). Fast noch schärfer prägt sich diese Rechtskultur in Japan aus, wo 1869 die Übersetzung des französischen Zivilgesetzbuches auf die Schwierigkeit stieß, dass man keine Worte für subjektives Recht und Rechtspflicht hatte. 123 Ein Jahrhundert später wird die Bilanz gezogen: »Die Rechtsidee ist nicht in das tägliche Leben eingedrungen. (…) Klage vor Gericht zu erheben, um Ansprüche geltend zu machen, die das Recht gewährt, kommt in Japan fast einer Erpressung gleich.« 124 Der Apologie des Zorns bei Ihering steht das Zeugnis eines japanischen Gelehrten gegenüber, der den »Geist des japanischen Rechts« in der »Idee der Scham« als dem »Eckpfeiler des Systems der japanischen Zivilisation« festmacht. 125 In einer solchen Rechtskultur der Scham bedarf es nicht der klugen Verwaltung ausbrechenden oder ausgebrochenen Zorns durch das Rechtsgefühl, da die Provokation sich selbst bestraft, indem sie die Atmosphäre der durchbohrenden Scham mit ihren zentripetal zurückschlagenden Vektoren (2.2.3) weckt. Dann können schon beschämende Blicke ohne weiteres Eingreifen das organisierte Verbrechertum zum polizeilich überwachten Rückzug (nicht zum Waffenstrecken) bringen. 126 Mit den beschämenden Blicken entfällt die Strafe. Diese wird gemäß dem introvertierten Charakter der Scham, dass der Ergriffene selbst ihr Verdichtungsbereich ist (2.2.3), vom Schuldigen an sich selbst vollzogen. Bronislaw Malinowski schildert ein solches fein entwickeltes System der Selbstjustiz bei den melanesischen Trobriandern. 127 Ein Jüngling, der nicht exogam, also nach den Maßstäben seizösischen übersetzt und für den deutschen Leser bearbeitet von Günther Grasmann, München/Berlin 1966, S. 538 f. 121 Ebd. S. 46 122 Ebd. S. 540 f. 123 Ebd. S. 553 124 Ebd. S. 558 125 Yosiyuki Noda, Introduction au Droit Japonais, Paris 1966, S. 196 Anm. 1, zitiert nach: Ruth Benedict, The Chrysanthemum and the Sword, 1967, S. 222 f. 126 Ein Beispiel erzählt Peter Odrich in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 27. 02. 1988, S. 8: »Wenn Verbrecher zum Umzug gezwungen werden. Ein ungewöhnlicher Vergleich in Japan: Freiraum für Gesetzesbrecher« 127 Bronislaw Malinowski, Sitte und Verbrechen bei den Naturvölkern (Crime and Custom in Savage Society, ins Deutsche übersetzt), Wien 1949, S. 73, 88–92

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Verbindlich geltende Normen

ner Gesellschaft inzestuös, liebt, wird nach langem missbilligendem Schweigen seiner Umgebung durch die Beschimpfung als Blutschänder moralisch genötigt, sich am nächsten Morgen in feierlicher Form coram publico durch Sturz von einer 20 Meter hoher Palme das Leben zu nehmen. Solche Selbsttötung verbindet Wünsche nach Selbstbestrafung, Rehabilitierung, Erweckung von Mitgefühl und Rache nach öffentlicher Bloßstellung. In Japan ist diese Sanktionsart hochstilisiert zur rituellen Selbsterdolchung (Seppuku, Harakiri). Mit dem Dolch stimmt der Selbstrichter aktiv in den Chor durchbohrender Vektoren der zentripetalen Scham ein und ist ihnen dann nicht mehr passiv in der Rolle des bloß Beschämten ausgesetzt. Er hat seine Ehre wiederhergestellt. Ihm bleibt kein Ausweg als dieser extreme, denn während der Zorn sich nach außen entlädt, richtet die Scham sich von allen Seiten gegen den Beschämten und lässt ihm keinen Ausweg. Das erfuhren sogar die Eltern der Terroristen aus der Revolte um 1970: »Während der Staat die Söhne wegen Mordes verurteilte, straften Medien und Gesellschaft die Familien mit rechtschaffenem Rufmord. In stillem Konsens belegte man sie mit Bann, sperrte sie aus, verübte eine Lynchjustiz des Schweigens. Mindestens einer der unglücklichen Väter wurde in den Selbstmord getrieben. Sich zu Tode zu schämen kann in einer Kultur schreckliche Konkretheit annehmen, in der Scham stets vor Schuld geht und in der Schande nie vergeben oder vergessen wird.« 128 »Wer in Japan auffällt, ist selber schuld und kann nicht ganz unschuldig sein.«128 Die Rechtskultur der Scham ist nicht nur orientalisch, sondern steht im alten Rom neben der Rechtskultur des Zorns und ergänzt diese. Ihr Wahrzeichen ist das Institut der Zensur oder Beanstandung, worüber Cicero schreibt: »Das Urteil des Zensors trägt dem Verurteilten beinahe nichts als Schamröte ein.« 129 Nach einer Digestenstelle (47, 10, 1, 5) berührt Unrecht, das unseren Kindern geschieht, unsere Scham (pudor) so sehr, dass wir deswegen ein Klagerecht haben; wir würden eher an den Zorn denken. Die Einschränkung der Rechte des Freigelassenen gegen seinen Patron durch honor und reverentia, die er diesem schuldet (Digesten 44, 4, 4, 16), und die Brechung der Macht 128 Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 9. März 1991, S. 30 (Uwe Schmitt, Von der rächenden Motivation zum Kater danach. Lauter Fallbeil-Spiele: Der Tod, die Schande und andere Strafen in Japan) 129 De republica VI 6 (6)

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staatlicher Rechtspflege an der Intimität des Familienlebens, dessen pietas die Eltern, namentlich die Mutter, sogar gegen prätorischen Vorführbefehl zur Zurückhaltung ihrer Kinder ermächtigt (Digesten 43, 29, 3, 4; 43, 30, 1, 3), geben Kunde von einer an Schamhaftigkeit und Geschmack orientierten Rechtsauffassung; honor, reverentia und pietas könnten japanische giri sein. Die vornehme Weigerung des römischen Rechts, die Öffentlichkeit durch Scheidungsprozesse in das Eheleben hineinsehen und -regieren zu lassen, passt zu einer Rechtskultur der Scham ebenso wie das große Gewicht der in Anstandsregeln sich niederschlagenden Sitte über das exekutionsfähige Recht, wovon die Gestaltungen des Familienrechts und der – fast japanisch anmutenden – Patron-Klient-Beziehung zeugen. Der Klient schuldet dem Patron Treue und politische Unterstützung, der Patron dem Klienten Schutz, auch finanziellen im Rahmen eines strengen Bürgschaftsrechts. Das sind ungeschriebene Gesetze wie die, die im perikleischen Athen – nach der Gefallenenrede des Perikles – durch Übereinstimmung über Scham oder Schande aufrecht erhalten werden. 130 Angeregt durch meine Aufstellungen über Rechtskultur der Scham in Rom 131 hat Antonie Wlosok das Thema ausgearbeitet. 132 Sie geht zunächst der Sittengerichtsbarkeit der Zensoren nach und bringt dann erhebliches neues Material aus der Schrift des Valerius Maximus über denkwürdige Taten und Reden. Hier handelt es sich um Strafgerichte der mit richterlicher Autorität versehenen Väter über ihre verbrecherischen Söhne. Titus Manlius Torquatus, Konsul 165 v. Chr., richtete nach eingehender Untersuchung mit sorgfältigem Verhör aller Parteien seinen Sohn Decimus Junius Silanus Manlianus, der als Statthalter in Mazedonien 141 verbotenerweise Geld genommen hatte, am dritten Tage des Verfahrens mit dem Spruch: »Da ich es für erwiesen halte, dass mein Sohn Silanus von den Bundesgenossen Geld angenommen hat, fälle ich das Urteil, dass er des Gemeinwesens wie meines Hauses unwürdig ist, und befehle ihm, mir unverzüglich (und für immer) aus den Augen zu gehen.« Der erschütterte Sohn erhängte sich in der folgenden Nacht, aber auch durch einen so schamhaften Untergang Thukydides II 37,3 Rechtsraum S. 105–110 132 Antonie Wlosok, Nihil nisi ruborem – Über die Rolle der Scham in der römischen Rechtskultur, in: Grazer Beiträge. Zeitschrift für klassische Altertumswissenschaft 9, 1980, 155–172, auch in: Antonie Wlosok, Res humanae – res divinae. Kleine Schriften, hg. v. E. Heck und E. A. Schmidt, Heidelberg 1990, S. 84–99, daraus hier zitiert 130 131

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Verbindlich geltende Normen

(tam vercundo obitu) konnte er den Vater nicht erweichen. Dies ist ein Todesurteil in einer Rechtskultur der Scham: Weil der Beschämte unter dem Druck der ihm vom väterlichen Urteil verkündeten Scham nicht mehr frei zu blicken wagt – den Vektoren der Scham nicht mehr standhalten kann –, bleibt ihm nur die Selbstvernichtung. Im zweiten Fall mutet der Vater seinem Sohn, einem Feigling vor dem Feind, zu, künftig seinen, des Vaters, Anblick zu meiden, wenn in ihm auch nur ein Rest von verecundia sei: »Als ehrfürchtige Scheu, die darauf bedacht ist, die Regeln des schicklichen Verhaltens zu beachten, steht verecundia zur Scham, die sich bei der Verletzung solcher Regeln einstellt, zunächst im Verhältnis eines Vorgefühls, ist Schamhaftigkeit in einem weiteren Sinn.« 133 Es handelt sich um das hemmende Vorgefühl der Scham, das ich unter 2.2.3 als ein Rechtsgefühl im weiteren Sinn charakterisiert habe. Wenn man meine Antithese nur oberflächlich zur Kenntnis nimmt, kann man sie mit der ganz anderen Gegenüberstellung von Schamkultur und Schuldkultur (shame culture und guilt culture) vermengen, die Ruth Benedict zur Charakteristik der japanischen Kultur benützt und Eric Robertson Dodds auf die homerischen Helden angewendet hat. 134 Allerdings spreche ich nicht von Schuld, sondern von Zorn; schon das sollte der Verwechslung vorbeugen. Darüber hinaus halte ich die Gegenüberstellung, wie ich sie bei Dodds finde, für missglückt. Er betrachtet nur lauter einzelne Individuen, von denen jedes entweder für sich ein Schuldbewusstsein entwickelt (nachhomerische Schuldkultur) oder sich vor den anderen schämt (homerische Schamkultur). Er verfällt also einem anthropologischen Atomismus, der die Gefühle auf Individuen verteilt. Tatsächlich hängen diese in Schamkulturen aber an oder in gemeinsamen zuständlichen Situationen mit dem implantierenden Charakter, dass sie die persönlichen Situationen (Persönlichkeiten) der Genossen nicht nur locker umhüllen wie Konventionen, sondern in sich einwachsen lassen wie Tradition, Heimat, intime Freundschaft, wovon man sich nicht ohne Narben in seiner Persönlichkeit lösen kann. Solche einpflanzenden (implantierenden) Situationen sorgen dafür, dass in der Schamkultur des Rechts die Schamhaftigkeit nicht nur Rücksicht des einen auf den anderen ist, sondern Ebd. S. 97 Benedict, wie Anm. 125; Dodds, The Greeks and the Irrational, Berkeley/Los Angeles 1966, in deutscher Übersetzung Darmstadt 1970 133 134

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Rücksicht auf eine zuständliche gemeinsame Situation, die ebenso die eigene Persönlichkeit wie die des anderen durchdringt, so dass die Wendung zum anderen ebenso eine Wendung zu sich selbst ist, oder vielmehr Wendung zu einem Ganzen, das beiden übergeordnet ist, indem jede Persönlichkeit des Rechtsvolks davon gehalten und getragen wird. So spricht z. B. Archidamos bei Thukydides I 84,372 aus einer Schamkultur, in der der Kampfgeist der Spartiaten seine Wurzel in ihrer Schamhaftigkeit habe, in einem Atem damit, dass sie gegen Lob und Tadel wenig empfänglich seien. Diese Scham ist also nicht Abhängigkeit vom Urteil anderer, sondern Scheu vor dem Nomos der Gemeinschaft, den jeder an den Kameraden findet wie in sich selbst.

2.2.8

Die Rechtsfindung

Als Werkzeuge oder Medien der Rechtsfindung behandle ich hier die Satzung und den Prozess. Für ein Rechtsvolk ist eine rechtliche Satzung dieses Rechtsvolkes eine aufgezeichnete Kette von Sprüchen, die einem hinlänglich großen oder in der Rechtspflege hinlänglich einflussreichen Teil des Rechtsvolkes als maßgebliche Quelle der Kenntnis von (echten oder unechten) Rechtsnormen der betreffenden Rechtsordnung dient. (Wiederholte mündliche Deklamation, wie die des altisländischen Gesetzessprechers, kann die Schriftform ersetzen.) Satzungen werden oft von Würdenträgern des Staates oder anderer Institutionen (z. B. Kirchen) in amtlicher Eigenschaft verfasst und als Gesetze aufgestellt; die Verfasser können aber auch Privatleute sein, wie bei den Landrechtsspiegeln des Mittelalters und allen Satzungen der Privatautonomie wie Testamente, Stiftungs- und Vereinssatzungen. Sie können den staatlichen Satzungen auch zuwiderlaufen wie die Prozessordnung des Duells 135 und gehören dann zu einer anderen Rechtsordnung eines anderen Rechtsvolks als des staatlichen (im Fall der Blütezeit des Duells: zum Rechtsvolk der privilegierten Stände). Die Leistung der Satzung für die Rechtsfindung unterscheidet sich nach den Typen der Rechtsnormen. Randnormen gelten nicht durch die Autorität des Rechtsgefühls im weitesten Sinn, sondern durch unwillkürliche Konvention, Vertrag oder Befehl; das die Rechtskultur tragende Gefühl verlangt nur die Auswahl irgend einer, nicht gerade dieser, 135

Die Regeln des Duells, hg. v. Franz v. Bolgár, 6. Auflage Wien 1898

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Randnorm aus einem begrenzten Spektrum von Möglichkeiten. Die Verwendung einer Satzung über Randnormen für die Rechtsfindung besteht daher in glatter Anwendung der Norm auf den gegebenen Fall, sofern nicht das Ergebnis wegen der besonderen Umstände mit übergeordneten Kern- oder Schalennormen unverträglich ist. Komplizierter ist die Funktion der Satzung für die Rechtsfindung in Bezug auf Kernnormen. Diese gelten nicht kraft Satzung, sondern durch die Autorität des Rechtsgefühls im weitesten Sinn. Im günstigen Fall wird diese Autorität von der Satzung verdolmetscht; was dann dargeboten wird, kann man als »richtiges Recht« bezeichnen. Es kann aber auch zu Reibungen kommen. Dann muss das Recht gleichsam gegen den Strich der Satzung gefunden werden. Dies zu leisten, ist Aufgabe der Auslegung der Satzung. Diese kann im sprachlich zulässigen Maß an dem nicht ganz eindeutigen Wortsinn drehen oder sich der bekannten Mittel des Analogieschlusses und des modus tollens bedienen. Die Mühe kann sich für die Rechtsfindung lohnen. Das Rechtsgefühl gewinnt Kontur und Präzision in der Auseinandersetzung mit der mehr oder weniger widerspenstigen Satzung. Ohne diesen Widerstand, der es bei der vorsichtigen Anpassung zu vielfältigen Distinktionen nötigt, würde es oft vage bleiben und zur launenhaften Kadijustiz entarten. Die Kernnormen selbst gelten aber unberührt von der Satzung. Etwas anders ist deren Stellung zu den Schalennormen, die mit bedingtem Ernst verbindlich gelten. Wenn die Satzung sich mit ihnen reibt, können sie nachgeben, indem die Satzung zur Herausforderung wird, ein höheres Niveau personaler Emanzipation, das sich den Fesseln der betreffenden Verbindlichkeit entledigt, mit solchem Nachdruck einzunehmen, dass die Verbindlichkeit auf dem niedrigeren Niveau entkräftet wird. So etwas ist in Westdeutschland bei der Revision des überlieferten Sexualstrafrechts unter der Regierung von Willy Brandt geschehen. Es kann aber auch der umgekehrte Fall eintreten, dass sich die Verbindlichkeit der Schalennormen an dem Widerstand der Satzung bewährt, und dann ist die Lage wie bei den Kernnormen. Für diese Unterscheidung von Leistungstypen der Satzung je nach Rechtsnormentypen gibt es ein empirisches Musterbeispiel in Gestalt der Gliederung des englischen Rechts. Die Bereitstellung glatt anwendbarer Randnormen (und unechter Rechtsnormen) übernimmt als Satzung dort das statute law, über das früher übliche Maß weit hinaus durch eine Schwemme von Gesetzen im Dienst des modernen Wohlfahrtsstaates. Die das Rechtsgefühl zu Präzision und Subtilität erzie98 https://doi.org/10.5771/9783495860755 .

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hende Hemmwirkung der Satzung in Bezug auf Kern- und Schalennormen fällt dagegen den Präjudizien des common law zu. Deren Bindewirkung hält die zu elastischer und sensibler Auseinandersetzung mit der Stimme des Rechtsgefühls im weitesten Sinn erforderliche Mitte zwischen Starrheit und Kraftlosigkeit. 136 Das gelingt namentlich durch die Möglichkeit, die ausgesprochene ratio decidendi des leading case, an dem eine Rechtsnorm zuerst deutlich hervorgetreten ist, in fortwährender Rechtserfahrung und -besinnung zu einem erst später sich herausschälenden principle of the case umzudeuten, das diesem nachträglich unterstellt wird. 137 Monroe Smith findet für diese biegsam bindende und doch revidierbare Wirksamkeit der Präjudizien in der angelsächsischen Rechtsprechung den treffenden Vergleich mit einer naturwissenschaftlichen Hypothese, die im Experiment an den Naturkräften ebenso stets neu auf die Probe gestellt wird, wie die ratio decidendi des leading case im Prozess an der Autorität des Rechtsgefühls; ebenso, wie bei solchen Hypothesen, genüge nicht schon ein vereinzeltes Gegenzeugnis zur durchgreifenden Änderung, aber wenn »ein Satz fortdauernd Ungerechtigkeit erzeugt, wird er doch endlich umgestaltet werden. Selbst die Grundsätze werden immer wieder neu auf die Probe gestellt (…).« 138 Wenn sich dabei kein Kompromiss mit dem Rechtsgefühl als möglich erweist, entschließt sich der angelsächsische Richter, wenn auch nur »sehr selten und widerwillig« 139 , zum overruling, das sich über das principle des leading case hinwegsetzt. In diesem Sinn revidierte das Oberhaus als höchstes englisches Gericht 1966 die Bindewirkung seiner eigenen Präjudizien. 140 In der juristischen Hermeneutik wogt eine Dauerdiskussion über die Wahl zwischen zwei Maximen der Auslegung von Satzungen: Die subjektive Maxime fordert Auslegung nach dem historischen Sinn, d. h. der Absicht und dem Wertverständnis des Satzungsgebers; die objektive Maxime will den »objektiven Sinn« auslegen, der von einem unbefangenen, juristisch gebildeten Empfänger der Satzung zur Zeit ihrer Anwendung auf einen Fall der Rechtsfindung herausgelesen werVgl. Karl-Heinz-Strache, Das Denken in Standards, Berlin 1968, S. 79 f. K. N. Llewellyn, Präjudizienrecht und Rechtsprechung in Amerika, Leipzig 1933, Band I, S. 14 f., 21 138 Ebd. S. 9, Anm. 139 Gustav Radbruch, Der Geist des englischen Rechts, Göttingen 1956, S. 35 140 Thilo Vogel, Zur Praxis und Theorie der richterlichen Bindung im gewaltenteiligen Staat, Berlin 1969, S. 85 mit der Begründung des Lordkanzlers 136 137

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den kann. Es handelt sich also um die Frage, ob man als Anwender auf dem Standpunkt des einstigen Satzungsgebers verharren oder dessen Text, soweit es sich ohne Rabulistik machen lässt, im Licht der gewandelten Zeitströmungen und -verhältnisse lesen soll. Die Entscheidung der Frage entnehme ich dem Gesagten. Soweit nur Randnormen (oder gar unechte Rechtsnormen) betroffen sind, ist die subjektive Auslegung die einzig angemessene, weil die Geltung solcher Normen lediglich auf der in der Satzung niedergelegten Festlegung menschlichen Wollens beruht, meist des Normgebers, der die Satzung selbst verfasst hat; dann muss man diesem Wollen folgen oder eine andere Randnorm wählen, die vielleicht zweckmäßiger, aber nach Maßgabe übergeordneter Kern- oder Schalennormen ebenso zulässig ist. Für die Kernnormen kommt es dagegen auf den Willen von Urhebern der Satzung nicht an, da sie ihre Geltung aus der Autorität des Rechtsgefühls im weitesten Sinn beziehen; da dieses sich gewandelt haben kann, muss die Rechtsfindung sich einem solchen Wandel anpassen, und dazu ist höchstens die objektive Auslegung imstande. Das Entsprechende gilt erst recht für Schalennormen, bei denen der Wandel wegen der möglichen Änderung ihrer Geltung durch Verschiebung des Niveaus der personalen Emanzipation wahrscheinlicher ist als bei Kernnormen. Wenn aber auch die objektive Auslegung einer Satzung nicht mehr imstande ist, dieser einen mit verbindlich geltenden Rechtsnormen verträglichen Sinn zu verschaffen, bleibt dem Richter zur Rechtsfindung nur der Mut, sich über den Wortlaut der Satzung hinwegzusetzen, wie das Reichsgericht in dem berühmten Aufwertungsurteil nach der großen Inflation und bei anderen Gelegenheiten, und auch andere Gerichte, mit grundsätzlicher Billigung durch das Bundesverfassungsgericht und juristische Theoretiker. 141 Solchen Mut hatte auch der englische Richter, der ein Gesetz für nichtig erklärte, weil sein Verfasser nichts vom englischen Recht verstanden habe. 142 Der angloamerikanische Volksmund sagt in solchen Fällen, gerade durch den Bruch mit ihm werde das Gesetz geehrt (honoured in the breach). 143 Von der Satzung komme ich nun zum Prozess als Mittel der Rechtsfindung. Ein Prozess ist ein durch Regeln geordnetes Verfahren Vgl. Rechtsraum S. 617 Anm. 1733–1735 Hans Ulrich Evers, Der Richter und das unsittliche Gesetz, Berlin 1956, S. 19 143 Carl Joachim Friedrich, Die Philosophie des Rechts in geschichtlicher Perspektive, Berlin/Göttingen/Heidelberg 1955, S. 130 141 142

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der Auseinandersetzung streitender Parteien, das von einer eingetretenen oder drohenden Störung des Rechtszustandes ausgeht und auf Rechtfindung abzielt. Diese besteht in einer Reinhaltung und Reinigung der Atmosphäre der Gefühle des Rechtsvolks von einem Ausbruch der rechtlichen Urgefühle (Zorn und Scham), der nach Maßgabe des Nomos der gemeinsamen Situation, die den Rechtszustand vorgibt, unerträglich wäre. Ein solcher Zustand der rein gehaltenen oder gereinigten Atmosphäre ist der Rechtsfriede. Dazu bedarf es, wenn die Urgefühle schon ausgebrochen sind, ihrer durch das Rechtsgefühl in geordnete und erträgliche Bahnen geleiteten Katharsis gemäß der ihnen eigenen (2.2.3) kathartischen Natur, andernfalls, wenn der Ausbruch nur droht, einer nachgeahmten oder vorweggenommenen Katharsis, um den Druck der Drohung zu bewältigen. Der Prozess ist daher ein Reinigungskampf, eine Katharsis. Diese kann auf viele Weisen zu Stande kommen. Eine davon ist der Kampf um Wahrheitsfindung, wie im deutschen Gerichtsprozess. Ein anderer Weg ist der Wettstreit der Parteien mit gleichen Chancen (fair play) um das entscheidende Übergewicht an Überzeugungskraft, wobei es auf Geschicklichkeit ankommt, im anglo-amerikanischen Strafprozess, der sich »in seinem Wesen als ein unter Aufsicht des Richters sich abspielendes Turnier darstellt«. 144 Ein weiterer Weg sind die satirischen Singwettkämpfe der Araber und Eskimo. 145 Härter ist der Prozess als Duell, als Zweikampf auf Leben und Tod. Justus Möser (1720–1794), der berühmte Verfasser der Osnabrückischen Geschichte und der Patriotischen Phantasien, »sieht im Rechtsaustrag durch den Zweikampf die reinste Erscheinung männlicher Selbständigkeit und Ehre, die wie das Gottesurteil als Entscheidung der eigenen Sache die Unterwerfung unter ein gerichtliches Urteil rechtsgültig zu ersetzen vermochte; diese Äußerung erschien 1770 in den Osnabrückischen Blättern, und Möser hielt daran fest, auch als später sein einziger Sohn als Student beim Duell fiel.« 146 Auch der Zweikampf der Völker, der Krieg, wird als Prozess verstanden. 147 Die teils komische, teils tragische, jedenfalls theatraGünther Less, Vom Wesen und Wert des Richterrechts, Erlangen 1954, S. 89 E. Adamson Hoebel, Das Recht der Naturvölker (The Law of Primitive Man, Cambridge/Mass. 1954, deutsch von Drude), Olten 1968, S. 118–126; S. R. Steinmetz, Ethnologische Studien zur ersten Entwicklung der Strafe, Band 2, 2. Auflage Groningen 1928, S. 66–74 146 Hermann Nottarp, Gottesurteilstudien, München 1956, S. 394 147 Aischylos, Agamemnon,Verse 812–816; Heinrich v. Treitschke, Politik. Vorlesungen, 144 145

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lische Aufstachelung des Prozesses zum satirischen Singwettkampf, Duell und Krieg ist keine Arabeske, sondern entspricht der kathartischen Aufgabe des Prozesses. Die ausgebrochenen oder drohenden rechtlichen Urgefühle, die der Prozess zu bewältigen hat, müssen in ihm so sichtbar werden, dass das Rechtsgefühl an ihnen Maß nehmen kann, um der Rechtsfindung den Weg zum Rechtsfrieden zu weisen. Zu dieser Vergegenwärtigung der Erregungen ist die Prozessrhetorik berufen; der Eifer des Kampfes zwischen Kläger und Verteidiger, das zündende Plädoyer sind keine Schnörkel, sondern wesentliche Hilfen der Katharsis. Am Ende des Prozesses steht bei erfolgreichem Ausgang der Rechtsfriede, d. h. eine Atmosphäre des Gefühls, die von unerträglichen (nach Maßgabe des Nomos der den Rechtszustand tragenden gemeinsamen Situation unerträglichen) rechtlichen Urgefühlen frei ist. Das gute, geglückte Urteil wird vom Richter nicht aus eigener oder geliehener Machtvollkommenheit dekretiert, sondern einer Evidenz entnommen, und die Kunst der Prozessführung besteht darin, den Verlauf so zu steuern, dass diese Evidenz schließlich wie eine reife Frucht den ernsthaften und aufgeschlossenen Teilnehmern am Verfahren in den Schoß fällt. In der Gerichtsszene, mit der Hephaistos in der Ilias den Schild des Achilleus schmückt, liegen zwei Talente Goldes als Preis für den Urteilsfinder bereit, der das Recht »am Geradesten sprechen« wird. 148 Wer entscheidet darüber? Jeder, der von der Reinigung der Atmosphäre des Gefühls durch den erlangten Rechtsfrieden affektiv betroffen ist. Das ist auch der normale Rechtsgenosse ohne fachliche Qualifikation. Dem entspricht die Delegation der Entscheidung über Schuld im Strafprozess an eine Jury (England) aus Geschworenen (Deutschland), die für Preußen 1851 von Keller so gerechtfertigt wurde: »Man soll keinen aus unserer Mitte herausnehmen und ihm schwere Strafen auferlegen, wenn nicht ein gelehrter Richter zwölf schlichten Bürgern begreiflich machen kann, dass es so recht ist.« 149 »Was gehalten an der Universität zu Berlin, hg. v. M. Cornicelius, 1. Band, 4. Auflage, Leipzig 1918, S. 73: »Und auch unter den Kulturvölkern bleibt der Krieg die Form des Prozesses, durch welchen die Ansprüche der Staaten geltend gemacht werden. Die Beweise, die in diesen furchtbaren Völkerprozessen geführt werden, sind so zwingend wie die Beweise in keinem Zivilprozess.« 148 Ilias 18, 507 f. 149 Eduard Kern, Geschichte des Gerichtsverfassungsrechts, München/Berlin 1954, S. 59

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zwölf Männer für wahr halten, das ist wahr; das ist schließlich auch noch heute der konstitutive Gedanke der ganzen Einrichtung.«150 Dass er in diesem Zusammenhang nicht vermessen ist; liegt daran, dass sich am Ende eines zum Ergebnis ausgereiften Prozesses der Rechtsfriede als atmosphärisch ergreifende Macht über die teilnehmenden Rechtsgenossen verbreitet. Bei den afrikanischen Dschagga lernte Gutmann an der Rechtsprechung durch die ganze Rechtsgemeinde – statt des Häuptlings oder eines anderen Einzelrichters – »jenes unwägbare Fluidum« kennen, »wie es jeder Rechtsfall in der rechtsprechenden Gemeinde sehr bald erzeugt, aus der Kenntnis der Lebensumstände und des Charakters der Parteien, aus dem Eindruck des Falles auf das Rechtsgefühl der Zuhörer, und aus der untrüglichen Kenntnis eines einheitlichen, allen gemeinsamen Rechtes.« 151 Offenbar aus derselben Erfahrung beteiligte der alte germanische und deutsche Prozess alle anwesenden Rechtsgenossen, den gesamten »Umstand« am Urteil. 152 Das alte deutsche Recht gab sogar durch das Institut der Urteilsschelte jedem Umstehenden Gelegenheit, nach gesprochenem Urteil spontan in den Kreis der Urteiler einzutreten. »Auch wer nicht Partei war, ein bloß umstehender schöffenbarer Mann, durfte das Urteil schelten, das ihm nicht recht gewiesen schien; ein solcher musste sich aber unverzüglich auf die Bank setzen und ein besseres wissen oder Buße erlegen.« 153 Wer oder vielmehr was entschied über die Güte des Vorschlags? Wie bei den Richtern auf dem Schild des Achilleus: die Evidenz aus der Atmosphäre des gewonnenen Rechtsfriedens. Im beduinischen und altbabylonischen Recht wird ihr solche Tragweite zugeschrieben, dass sie, wenn sie wirklich da ist, sogar den Verurteilten überzeugt: Das Urteil erlangt erst durch dessen Unterwerfung Rechtskraft. 154

Heinrich Gerland, Die englische Gerichtsverfassung, Leipzig 1910, S. 81 Bruno Gutmann, Das Recht der Dschaggas, München 1926, S. 21, vgl. S. 590–593 152 Georg Ludwig Maurer, Geschichte des altgermanischen und namentlich altbairischen öffentlich-mündlichen Gerichtsverfahrens, 1824, Nachdruck Osnabrück 1965, S. 102–104, 110–114; Jakob Grimm, Deutsche Rechtsaltertümer, 4. Auflage Leipzig 1899, Nachdruck Darmstadt 1965, Band 2 S. 382 f., 501 153 Grimm, ebd, S. 503; Maurer, ebd., S. 181 154 Erwin Gräf, Das Rechtswesen der heutigen Beduinen, Walldorf (Hessen) 1952, S. 117; Julius Lautner, Die richterliche Entscheidung und die Streitbeendigung im altbabylonischen Prozessrechte, Leipzig 1922, S. 35 150 151

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2.2.9

Die Strafe

Das Recht steht im Dienst der Fernhaltung oder Ausscheidung unerträglicher Einbrüche von Zorn und Scham, der rechtlichen Urgefühle, in ein Rechtsvolk. Die Strafe hat die Aufgabe, den Rechtszustand aus solchen Katastrophen – den Verbrechen – wiederherzustellen. Sie hat also mit der Anwesenheit des Empörenden und Beschämenden, woran der Rechtszustand verunglückt ist, zu tun. Zorn und Scham sind zentrierte Gefühle mit Gliederung des Zentrums in Verdichtungsbereich und Verankerungspunkt (2.2.3): Wir sind über etwas (Verankerungspunkt) auf jemand zornig (»böse«, sagt der Volksmund). Daraus ergibt sich die Gliederung des Verbrechens in Unrecht und Schuld: Unrecht im strafrechtlichen Sinn ist die Eigenschaft, Verankerungspunkt unerträglichen rechtlichen Zorns zu sein, Schuld die Eigenschaft, sein Verdichtungsbereich zu sein. 155 Dem Strafrecht steht das Sicherungsrecht gegenüber, die Gattung aller anderen Rechtsgebiete. Seine Aufgabe besteht darin, Verbrechen vorzubeugen, d. h. das unerträglich Empörende und Beschämende abzuwenden, ehe es noch eingetreten ist. Der Struktur nach unterscheidet es sich vom Strafrecht darin, dass der Schuld keine selbständige Bedeutung zukommt. Beim sicherungsrechtlichen (zivilrechtlichen) Schadenersatz, zu dem allerdings im Allgemeinen (außer etwa bei Gefährdungshaftung) nur der Schuldige verpflichtet ist, zeigt sich diese Nebensächlichkeit des Schuldvorwurfs an der Haftpflichtversicherung, die dem Schuldigen gestattet, die Last des Schadenersatzes für sein Verschulden auf Dritte abzuwälzen. Im Strafrecht wäre das untunlich; niemand kann sich durch eine regelmäßige Geldzahlung gegen eine Strafe versichern und gegebenenfalls einen Ersatzmann ins Gefängnis schicken oder Prügel beziehen lassen, sofern das Strafrecht die Prügelstrafe vorsieht. Hier geht es vielmehr darum, den Schuldigen selbst um seiner Schuld willen zu strafen. Das Recht zum Strafen ist umstritten. Schmidhäuser wendet ein: »Unser Strafen ist sinnlos. So sagen wir auch: Was strafen wir die Leute? Wir vermehren doch nur das Übel in der Welt! Es ist sinnlos, den 155 Mit der klaren Unterscheidung von Unrecht und Schuld gab Franz v. Liszt der Strafrechtswissenschaft ein solides Fundament. Die Merkmale, woran diese Unterscheidung hängt, drohen aber zerredet zu werden, wofür ich in Rechtsraum S. 229 Beispiele (von Welzel und Schmidhäuser) gebe. Meine einfache Distinktion soll die Unklarheit beseitigen.

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Mörder einzusperren, der Tote wird nicht wieder lebendig.« 156 Solche Bedenken sind bekanntlich alt. Sie können nur so lange einleuchten, wie man nur objektive oder neutrale Tatsachen (2.1) in Erwägung zieht. Dann kann man Jellineks sozialpsychologischer Theorie der Strafe, die der meinen äußerlich ähnlich sieht, verfallen. Jellinek schreibt: »Die von der Gesellschaft, bei entwickelter Cultur, wie wir gleich sehen werden, speziell die vom Staate gegen den Urheber eines Unrechts vorgenommenen Handlungen, durch welche die durch das Unrecht hervorgerufenen schädlichen sozialpsychologischen Erscheinungen ausgeglichen werden sollen, das ist die Strafe.« 157 Er betrachtet die Strafe als einen Akt der Sozialhygiene, um den Volkszorn zu besänftigen, wofür es mehr Anlässe als die Verbrechen geben dürfte. Ganz anders stellen sich die »schädlichen sozialpsychologischen Erscheinungen« als subjektive Tatsachen, die höchstens einer im eigenen Namen aussagen kann (2.1), des affektiven Betroffenseins von Zorn und Scham dar. In der Zeitung las ich: »Der Hamburger Multimillionär Reemtsma, der sich 33 Tage lang in den Händen von Entführern befand und vor mehr als einer Woche gegen 30 Millionen Mark Lösegeld freigelassen worden war, hat sich für eine harte Bestrafung der noch flüchtigen Täter ausgesprochen. In einem am Montag in der Süddeutschen Zeitung abgedruckten, in New York geführten Gespräch sagte Reemtsma, er habe früher schon die Meinung vertreten, für die Opfer eines solchen Gewaltverbrechens sei die Bestrafung der Täter sehr wichtig, um etwas an dem Stück Welt, das kaputtgegangen sei, wieder ins Lot zu bringen. Natürlich verspüre man Genugtuung, wenn Personen, die einem selbst und der Familie so etwas angetan hätten, dafür büßen müssten. Darüber hinaus bringe eine Bestrafung wieder etwas ins Lot. Er würde den Tätern gern ins Auge sehen.« 158 Reemtsma unterscheidet von der Befriedigung seines privaten Vergeltungsbedürfnisses das Betroffensein von der Zerschlagung eines Stückes Welt, nämlich des durch Verletzung von Kernnormen schwer gestörten Rechtszustandes, der durch Bestrafung des Verbrechers wieder geheilt werden soll. Die affektive Ergriffenheit von Zorn, der sich als kathartische Erregung an seinem Verdichtungsbereich auslassen will, um den Rechtsfrieden wieEberhard Schmidhäuser, Vom Sinn der Strafe, Göttingen 1963, S. 64 Georg Jellinek, Die sozialethische Bedeutung von Recht, Unrecht und Strafe, zuerst 1878, Nachdruck Hildesheim 1967, S. 57 f., 116 158 Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 7. Mai 1996, S. 14 156 157

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derherzustellen, übertrifft das private Belieben wie bei Kleists Michael Kohlhaas, der dafür seine ganze Existenz aufs Spiel setzt: »(…) mitten durch den Schmerz, die Welt in einer so ungeheuren Unordnung zu erblicken, zuckte die innerliche Zufriedenheit empor, seine eigene Brust nunmehr in Ordnung zu sehen.« 159 Für die Angehörigen der Kerngruppe eines Rechtsvolks hat die Vergeltung für verbrecherische Verletzung von Kernnormen durch die Autorität unerträglichen rechtlichen Zorns Autorität mit unbedingtem Ernst, weil bedingter nur zu einer unvollständigen, durch Erhebung auf ein höheres Niveau personaler Emanzipation im Prinzip überholbaren Unerträglichkeit reichen würde. Autorität mit unbedingtem Ernst ist aber durch keine Mobilisierung aller Reserven eigener Kritikfähigkeit mehr überholbar, so wenig wie die Stimme des Gewissens in Empörung und Scham. Diese Rehabilitierung der vergeltenden Strafe durch eine mit unbedingtem Ernst verbindlich geltende Norm bezieht sich nur auf die Perspektive der dominierenden Kerngruppe eines Rechtsvolks, und das kann nicht anders sein, weil die Geltung von Normen, erst recht die verbindliche und noch mehr die mit unbedingtem Ernst verbindliche, immer an eine Perspektive gebunden ist (1). Wer diese Perspektive nicht teilt, kann bedauernd den Kopf schütteln, wie schon Platons Protagoras 160 , dass Menschen so unvernünftig sein können, Leid mit Leid zu vergelten. Er muss sich dann aber überlegen, was er an die Stelle der Vergeltung setzen will, sofern nicht einfach dem Verbrechen sein Lauf gelassen werden soll. Die endlose und unübersehbare Diskussion über Strafzwecke bietet stereotyp Gefügigmachung des Verbrechers selbst (sogenannte Besserung) und der übrigen Menschen (durch das abschreckende Beispiel der Behandlung des Verbrechers) als Ersatzziele der Reaktion auf das Verbrechen an. Beides ist vereinigt in dem von Goethe vorgeschlagenen Prinzip des Ersatzes von Justiz durch Polizei: »Wer sich unbequem erweist, wird beseitigt, bis er begreift, wie man sich anstellt, um geduldet zu werden.«36 Eine solche Reaktion auf die Initiative des Verbrechers, auf seine Schuld, antwortet nicht direkt, wie die angemessene Vergeltung, auf diese Initiative, sondern zielt darüber hinaus, indem sie ihn als Mittel in ein Programm der Erziehung seiner selbst und der anderen zur sozialen Anpassung und Gefügigkeit ein159 Sämtliche Werke und Briefe hg. v. Helmut Sembdner, 4. Auflage München 1965, Band II S. 24 160 Platon, Protagoras, 324b

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setzt. Solche Erziehung kann man ebenso anderen zudiktieren, die nichts verbrochen haben; sie kann in vielen Fällen nützlich sein und richtet sich danach, was die Erzieher für gut und nützlich halten, ohne die Objekte ihrer Kunst fragen zu müssen. Vor solcher Regulierung warnt ein peinliches Gefühl, dass die direkte Antwort auf die Initiative des Verbrechers ausbleibt; man geht über seine Herausforderung hinweg und macht mit ihm, was den Machthabern gut scheint. Er hat sich viel herausgenommen, und damit lässt man ihn stehen, indem man seine Tat oder Unterlassung als bloßen Anknüpfungspunkt zur Erreichung weiterer Zwecke hinter sich und ihm lässt. Das Verbrechen selbst wird nicht aufgearbeitet. Die präventive Maßnahme geht darüber hinweg und zielt auf fernere Erfolge. Durch den Vollzug der Strafe kann der Verbrecher dagegen losgesprochen werden. Das rechtliche Urgefühl kann sich durch die Reaktion in Gestalt der (Rache oder) Strafe reinigend auslassen; im günstigen Fall einer nach Maßgabe des Rechtsgefühls im weitesten Sinn vollkommen angemessenen Strafe ist dann der Rechtsfriede wiederhergestellt und das Verbrechen gesühnt. Diese Sühne entgeht dem Verbrecher mit der Vergeltung. Sein Anspruch auf diese ist noch gewichtiger als der des geschädigten Reemtsma oder Michael Kohlhaas. Es ist der Anspruch auf mögliche Rehabilitation. So wird der katastrophal beschämte Japaner durch die Selbsttötung mit dem Dolch (2.2.7) rehabilitiert. Diese Chance zu verweigern, ist das Zynische und Menschenverachtende an allen die Vergeltung umgehenden Ersatztheorien der Strafzwecke, am krassesten beim Vorschlag von Jellinek, den Verbrecher mehr oder weniger zur Beruhigung des aufgeregten Volkes zu opfern. Vergeltung im hier gemeinten Sinn ist eine vom Rechtsgefühl im weitesten Sinn (einschließlich des Geschmacks, also der vollen rechtlichen Sensibilität) vorgeschriebene Reaktion gegen einen Verdichtungsbereich von Zorn oder Scham, ausgehend vom zugehörigen Verankerungspunkt. Sie ist rechtlich, wenn sie zur Wiederherstellung eines Rechtszustandes aus einer Beschädigung bestimmt ist. Rechtliche Vergeltung ist Rache, wenn sie ihr Maß unmittelbar aus den rechtlichen Urgefühlen nimmt. In der Differenzierung dieses Maßes, in Anpassung an die Störung, ist der Zorn der Scham weit überlegen63 , da diese in vielen Fällen dem Beschämten keinen Ausweg außer der Selbstvernichtung lässt (2.2.3; 2.2.7), es sei denn die heilende Kraft der Zeit, die dem beschämten Vergewaltiger in Kleists Novelle Die Marquise von O. zugute kommt. Der Rächer braucht nicht aktuell zor107 https://doi.org/10.5771/9783495860755 .

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nig zu sein; es genügt, wenn er die atmosphärisch ergossene Macht rechtlichen Zorns spürt, wie Faust in Gretchens Zimmer das Gefühl von Ordnung, Stille und Zufriedenheit46 oder Gretchen den über sie als Kindsmörderin verhängten Zorn ohne Zürnenden, den ihr die Stimme eines bösen Geistes ankündigt. 161 Gewöhnlich wird aber dem Zornigen die Rache als rechtliche Vergeltung und das Finden des richtigen Maßes dafür übertragen, z. B. als Blutrache für Mord. »Mord muss man mit Mord kühlen«, fordern friesische Rechtsbücher 162 , und die Beduinen geben dem zuständigen Rächer eines Mordes freie Hand bis zum »Erkalten des Blutes«. 163 Die Hitze des Zorns bei der Rache wird in beiden Fällen rechtlich geschützt. Zorn ermächtigt nach römischem und gemeinem Recht den Vater oder Gatten der Ehebrecherin, diese zusammen mit ihrem Buhlen in flagranti zu töten 164 ; die Römer verlangen von diesem sogar, dass er seine ehebrecherische Gattin im Zorn verstößt, wenn er nicht als Kuppler gelten und bestraft werden will. 165 Rache kann als Auslassen des durch ein Verbrechen geweckten Zorns den Rechtszustand wiederherstellen, ist aber in Gefahr, das Unheil fortzupflanzen, indem sie abermals solchen Zorn weckt. Aus diesem Grund empfiehlt sich der Übergang rechtlicher Vergeltung von der Rache zur Strafe. Auch diese wird vom Zorn diktiert, aber nur mittelbar, nämlich von dessen Vorgefühl, dem Rechtsgefühl (im engsten Sinn, 2.2.3). Während der Rache nur ein katastrophal schon ausgebrochener Zorn das Maß gibt, wägt das Rechtsgefühl dessen Gewicht gegen das des drohenden vorgefühlten Zorns ab, der ausbrechen könnte, wenn man dem Schrei nach Rache zu unbesonnen nachgäbe. Das sensible, wendige Rechtsgefühl erhebt sich über die Naivität des nächstliegenden Zorns und wägt das Empörende des Verbrechens gegen das Empörende einer unbefangenen rächenden Reaktion so ab, dass sich der Rechtszustand in möglichst schonender Weise von seiner Katastrophe im Verbrechen wieder erholen kann. Dabei geht die Verwaltung der rechtlichen Vergeltung meist vom Geschädigten an den Richter und die Rache in die Strafe über. Strafe ist die vom Rechtsgefühl (im Goethe, Faust, Vers 1800: »Grimm fasst dich!« Louis Günther, Die Idee der Wiedervergeltung in der Geschichte und Philosophie des Strafrechts, Band I, Erlangen 1889, Nachdruck Aalen 1966, S. 218 Anm. 71 163 Erwin Gräf, Das Rechtswesen der heutigen Beduinen, Walldorf (Hessen) 1952, S. 79 164 Digesten 48, 5, 24, 4; Günter, wie Anm. 162, Band II, Erlangen 1891, S. 16 165 Digesten 48, 5, 30, pr. 161 162

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engsten Sinn) als dem Vorgefühl des Zorns bemessene rechtliche Vergeltung. Die entsprechende Rolle für die Scham müsste dem Geschmack zufallen, doch kann dies hier offen bleiben. Das strafende Rechtsgefühl ist auch insofern beweglicher als der rächende Zorn, als es nicht nur an der gefühlten Schwere des Verbrechens Maß nimmt, sondern auch an der Festigkeit des Rechtszustandes, mit dessen Stärkung die Empfindlichkeit für Störungen abnimmt. Hier gilt das Berner’sche Gesetz 166 : Die Höhe der angemessenen Vergeltung ist der Schwere des Verbrechens direkt, der Festigkeit des Rechtszustandes (Berner sagt »Rechtsordnung«) umgekehrt proportional. Die »Langmut der Strafgesetze« 167 kann ein gutes Zeichen für Robustheit eines Rechtszustandes, dem Einbrüche von Zorn und Scham nicht mehr so leicht zu unerträglichen Katastrophen werden, sein, andererseits aber auch ein bedenkliches Zeichen für Nachlässigkeit der Rechtspflege. Auf andere Weise bewährt sich die Wendigkeit des Rechtsgefühls durch Verschiebung der strafenden Vergeltung in eine andere Rechtsordnung, z. B. von der staatlichen in die Rechtsordnung der Sitte. Das ist der Fall bei der Vergeltung intimer Bosheiten und Gemeinheiten. 168 Bestrafung solchen Unrechts in zarten Verhältnissen durch Polizei oder öffentliche Prozesse würde Empörendes durch Empörendes – Vergröberung des Zarten, Missachtung der Intimität – überbieten. In solchen Fällen wird die Vergeltung besser disponierten Rechtsvölkern (Familien, Freundeskreisen, Berufsständen usw.) anheimgestellt. In Rom war demgemäß das ganze Rechtsgebiet des ehelichen und familiären Zusammenlebens dem Zugriff des förmlichen staatlichen Rechts (nicht ebenso der anpassungsfähigeren Sittenaufsicht der Zensoren und Kaiser) entzogen, s. o. 2.2.7. Ausführlich behandle ich in Rechtsraum S. 408–412 den Grundsatz »nulla poena sine lege«. Er trifft sicher für Randnormen (erst recht für unechte Rechtsnormen) zu, denn diese Normen entstammen menschlicher Willkür, und man kann nicht erwarten, dass deren Erzeugnisse beachtet werden, wenn man sie nicht bekannt macht. Dagegen gelten Kern- und Schalennormen ohne willkürliche Satzung, näm166 Ich nenne es so nach seinem Entdecker Friedrich Berner (1818–1907), dessen einschlägige Äußerung (nur zur zweiten Hälfte des Gesetzes) in Rechtsraum S. 397 Anm. 1363 angeführt ist. 167 Ausdruck von Karl Binding, Die Normen und ihre Übertretung, 1. Band, 2. Auflage, Leipzig 1890, S. 227 168 Vgl. dazu Rechtsraum S. 404

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lich durch die Autorität von Gefühlen, und es ist nicht einzusehen, warum der geforderte Gehorsam gegen sie auf ein von Menschen gemachtes Gesetz zu warten hätte. Es wäre albern, mit Prozessen wie denen in Nürnberg gegen die Hauptverbrecher des Nationalsozialismus und den anschließenden Prozessen wegen verbrecherischer Ausschweifungen von Diktatoren und deren Schergen in anderen Ländern auf dort schon vorher verkündete Gesetze zu schielen. Man kann sich staunend fragen, wie es zu einem so fehlgreifenden Fairplay-Angebot des Staates an den gar nicht fair spielenden Verbrecher kommt. Dahinter dürfte sich oft genug ein schlechtes Gewissen beim strafenden Vergelten, etwa im Anschluss an die Frage von Schmidhäuser156 , verbergen. Der Strafende fürchtet den Vorwurf des Bestraften und möchte der Beschämung durch diesen entgehen, indem er sich hinter der Antwort verschanzt: »Du hast ja vorher wissen können, was dich erwartet, und darfst dich daher jetzt nicht mehr darüber beschweren.« Strafe (wie auch Rache) kann durch Verzeihung niedergeschlagen werden. Wie das möglich ist, lässt sich nur einsehen, wenn man von der Gefühlsbasis des Rechts im hier dargelegten Sinn ausgeht, von den Gefühlen (einschließlich der Rechtsgefühle) als ergreifenden Atmosphären und ihrer Autorität, aus der das Recht entspringt. Ich habe diesen Zusammenhang in Rechtsraum S. 412–416 dargestellt 169 und will jetzt das Wichtigste daraus referieren. Ich gehe von der (apokryphen) biblischen Szene aus, in der Jesus eine Ehebrecherin vor der Steinigung bewahrt. Die Pharisäer und Schriftgelehrten bringen sie ihm mit der Bitte um Stellungnahme; sie wollen seine gesetzestreue Gesinnung auf die Probe stellen. Jesus, sitzend, malt Figuren in den Sand; er blickt nur kurz auf und sagt: »Wer von euch ohne Schuld ist, werfe den ersten Stein.« Die Ankläger und potentiellen Steiniger schleichen beschämt weg, einer nach dem anderen; Jesus bleibt mit der Frau allein zurück und sagt ihr: »Wenn dich niemand von diesen verurteilt, tue ich es auch nicht; geh und sündige fortan nicht mehr.« Wie konnte Jesus der Frau wirksam verzeihen? Sie hatte ihm doch nichts getan. Auch fehlte ihm jede Kompetenz zum Richteramt. Trotzdem ist die Verzeihung vollbracht, nicht nur als momentaner Verblüffungseffekt. Indem Jesus die Ankläger unaufdringlich beschämte und 169 Vgl. dazu von mir auch: Was ist Neue Phänomenologie?, Rostock 2003, S. 302 f. (aus S. 287–304: Die Kosten des Rechtsstaats für das Recht)

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dann die Angeklagte lossprach, hat er die Gefühlslage gründlich gewandelt, und zwar nicht durch Eingriffe in irgendwelche Seelenzustände, als hätte er sich die einzelnen Verfolger vorgenommen und ein ernstes Wort mit ihnen geredet, sondern durch direktes Einwirken auf die Gefühle als ergreifende Atmosphären. Es kommt nicht mehr in Frage, zum vorigen rechtlichen Zorn zurückzukehren, weil dieser erloschen ist. Verzeihung kann Gnade sein. Es ist ein alter Brauch, bei festlichen oder heilbringenden Ereignissen von prägender Bedeutung für das Rechtsvolk Verbrecher ohne Rücksicht auf deren Verdienst zu begnadigen. Im Mittelalter galten Geächtete als begnadigt, wenn es ihnen gelang, sich beim Einzug eines Fürsten in ihre Mutterstadt an diesem oder seinem Pferd oder Wagen festzuhalten. 170 Die von dem festlichen oder heilbringenden Ereignis geweckten versöhnenden Erregungen absorbieren (verschlingen) dann die vom Verbrechen unerträglich entfesselten, den Zorn und die Scham; die Vergiftung der Atmosphäre ist auf andere Weise als durch das kathartische Reagieren von Zorn und Scham geheilt. Die Fähigkeit zum Verzeihen besitzt im Allgemeinen allein oder vorzüglich der vom Verbrechen hauptsächlich Geschädigte, wenigstens in einer Rechtskultur des Zorns, weil dieser dann in erster Linie ihn zu ergreifen pflegt. Solche Ergriffenheit ist kein bloßes Erleiden, sondern gibt dem Ergriffenen nach anfänglicher Überwältigung die Chance der Auseinandersetzung mit dem ergreifenden Gefühl durch Preisgabe oder Widerstand. Auf diesem Wege kann die Ergriffenheit ebenso, wie für den Ergriffenen, für das ergreifende Gefühl zur Entscheidung über sein Schicksal werden; in der Auseinandersetzung kann es dem Ergriffenen gelingen, dem ergreifenden Gefühl etwas anzutun, z. B. die vom Verbrechen entfesselte Zornmacht zu besänftigen oder zurückzudrängen, so dass sich das Klima des Gefühls u. U. gründlich wandelt. Damit erhält der von diesem Gefühl heimgesuchte Geschädigte die Chance der magischen Souveränität, die Jesus ausübt, indem er der Ehebrecherin verzeiht; die schon im Rechtszustand ausgebrochene Katastrophe wird abgefangen. Dazu gehört aber viel Glück und Kraft. Es ist schwieriger, ein mächtig ergreifendes Gefühl abzufangen als sich preiszugeben. Deswegen hat Gandhi Recht, wenn er sagt: »Ein wirkliches Verzeihen von unserer Seite würde daher eine wirkliche Anerkennung 170

Belege: Rechtsraum S. 414 Anm. 1372

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unserer Stärke voraussetzen. Mit einem erleuchteten Verzeihen würde eine mächtige Quelle der Kraft über uns kommen.« 171 Es wäre die Kraft des erfrischten, geheilten Gefühls. Die kann nicht mit leichter Hand herbeigeholt werden. Die Verzeihung eines Verbrechens ist ebenso eine Leistung wie ein glücklicher Erfolg, der nicht durch bloßes Belieben oder mit Routine vollbracht werden kann. Ein missglückendes Verzeihen macht das Übel nur schlimmer, indem es von Zorn und Scham, die es nicht bewältigt, nur ablenkt und den Verbrecher mit seiner Schuld nicht ernst nimmt. Auf dieses Risiko der Verletzung des Entschuldigten gerade durch die Verzeihung hat Nicolai Hartmann mit Nachdruck hingewiesen. 172

2.2.10 Das Unrecht des Verbrechens Strafrechtliches oder verbrecherisches Unrecht ist die Eigenschaft von etwas, für ein rechtlich (d. h. nach Maßgabe des Nomos der gemeinsamen Situation des Rechtsvolks) unerträgliches Urgefühl (Zorn oder Scham) der Verankerungspunkt zu sein, von wo her es sich aufbaut. Das strafrechtliche Unrecht unterscheidet sich vom sicherungsrechtlichen, das im Ungehorsam gegen eine Rechtsnorm besteht, doch ist jedes strafrechtliche Unrecht auch sicherungsrechtliches, so dass umgekehrt, was sicherungsrechtlich erlaubt ist, nicht strafrechtliches Unrecht sein kann. Zum strafrechtlichen Unrecht gehört unzertrennlich die Schuld, d. h. die Eigenschaft, Verdichtungsbereich eines rechtlich unerträglichen Urgefühls zu sein; ohne die Verbindung von Unrecht und Schuld kommt kein Verbrechen zustande. Abstrakt kann aber das Unrecht von der Schuld getrennt werden; es ist dann hypothetisches oder potentielles Unrecht, nämlich irgend ein Umstand (meinetwegen: Tatbestand), der verbrecherisches Unrecht wäre, wenn es dazu einen Verdichtungsbereich gäbe. Beim sicherungsrechtlichen Unrecht spielt die Schuld, wie unter 2.2.9 gezeigt wurde, höchstens eine nebensächliche Rolle, und die Rücksicht auf sie kann ganz entfallen, z. B. bei Gefährdungshaftung: Es wäre sicherungsrechtlich unrecht, ein gefähr171 Aus Otto Heinrich v. d. Gablentz, Die politischen Theorien seit der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung (Politische Theorien Teil 3), 3. Auflage Köln/Opladen 1967, S. 689 172 Nicolai Hartmann, Ethik, 3. Auflage Berlin 1949, S. 353, 819

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liches, übrigens schuldloses Verhalten nicht mit der Aussicht auf Haftung für den Fall des eintretenden Unglücks zu bedrohen, und ebenso kann ein Verbrecher nach abgegoltener Strafe, wenn ihm keine Schuld mehr angelastet wird, sicherungsrechtlich haften (in Haft gehalten werden, Sicherungsverwahrung), weil es Unrecht wäre, ihn trotz seiner Gefährlichkeit freizulassen. Bisher wurde verbrecherisches Unrecht nur als Eigenschaft von etwas bestimmt und offen gelassen, wovon es Eigenschaft ist. Ich frage nun nach dem Gegenstandstyp des Substrats dieser Eigenschaft. Dabei denkt man meist an Ereignisse, insbesondere an Handlungen. Das ist offenbar unzureichend, weil verbrecherisches Unrecht ebenso in Unterlassungen bestehen kann. Unterlassungen sind keine Handlungen, ebenso wenig Ereignisse, die man beim Verfolgen einer Kette zeitlicher Abläufe unter den Gliedern der Kette herausfinden könnte. Wohl aber sind sie Tatsachen. Es ist eine Tatsache, dass jemand zu einer gewissen Zeit etwas nicht getan hat. Ebenso können Handlungen als Tatsachen aufgefasst werden; denn jeder Handlung entspricht die Tatsache, dass sie ausgeführt wird, dass so gehandelt worden ist. Daher bietet es sich an, verbrecherisches Unrecht als Tatsache mit der angegebenen charakteristischen Eigenschaft zu verstehen. Dafür muss aber eine Schwierigkeit überwunden werden. Tatsachen, allgemeiner: Sachverhalte, die für Tatsachen gehalten werden, werden durch Behauptungen identifiziert, d. h. als diese einzelnen bestimmt. Verschiedene Behauptungen können dieselbe Sache durch verschiedene Kennzeichnungen benennen und dann, gemäß meinem Kriterium für die Identität und Verschiedenheit von Sachverhalten 173 , verschiedene Tatsachen identifizieren. Wenn jede solche Tatsache im Fall verbrecherischen Unrechts ein besonderes Unrecht wäre, würden sich unhaltbare Folgen ergeben. Ich bringe ein Beispiel. Napoleon hat das Verbrechen begangen, den Herzog von Enghien erschießen zu lassen. Er ist der Sieger von Austerlitz, aber auch der Sieger von Marengo. Die Tatsache, dass der Sieger von Austerlitz den Herzog erschießen ließ, ist eine andere Tatsache als die, dass der Sieger von Marengo so verfuhr. Wenn jede dieser Tatsachen als ein besonderes Unrecht aufgestellt würde, ergäbe sich ein Grund für Mehrfachbestrafungen, die beliebig vervielfältigt werden könnten. Dabei handelt es sich aber nur um ein einziges Verbrechen. Also müssen alle solche Tatsachen, wenn sie ein verbrecherisches Unrecht sein sollen, 173

Hermann Schmitz, Logische Untersuchungen, Freiburg i. Br./München 2008, S. 106

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mit einander identifiziert werden, in der Weise, dass jede für die andere eintreten kann, damit aber die Fähigkeit der anderen, verbrecherisches Unrecht zu sein, verbraucht ist. Logisch bedeutet dies den Übergang von einer einzelnen Tatsache T zur Äquivalenzklasse aller Tatsachen, die durch Behauptungen identifiziert werden, die sich von der Behauptung, mit der T identifiziert wird, nur dadurch unterscheiden, dass in ihnen dieselben Sachen durch andere Kennzeichnungen benannt sein können. Das ist eine symmetrische und transitive Äquivalenzrelation im Feld aller Tatsachen, die durch Behauptungen, die Kennzeichnungen enthalten, identifiziert werden: Sie sorgt dafür, dass dieses Feld in lauter elementefremde Teilklassen eingeteilt wird 174 ; damit ist sicher, dass jedem verbrecherischen Unrecht genau eine solche Teilklasse entspricht. Genau besehen ist verbrecherisches Unrecht demnach eine gewisse Äquivalenzklasse von Tatsachen; da aber kein vernünftiger Mensch die Verschiedenheit der betreffenden Tatsachen zu widersinnigen rechtlichen Konsequenzen ausnützen wird, kann man auch ohne so viel Genauigkeit bei der einfacheren Formel bleiben: Verbrecherisches Unrecht ist eine Tatsache. Die nächste Aufgabe besteht darin, Merkmale des verbrecherischen (strafrechtlichen) Unrechts zusammenzustellen, die einzeln notwendig und zusammen zureichend sind. Diese Merkmale betreffen teils die Kausalität, teils die Finalität. Ich beginne mit der Kausalität. Kausalität – ein Verhältnis zwischen bewirkender Ursache und Erfolg, wobei in vielen Fällen zwischen beide eine Einwirkung der Ursache auf das Erfolgsobjekt eingeschoben ist – ist eine ebenso unklare wie unentbehrliche Denkform. Keine Person kann auf sie verzichten; denn ohne sich selbst für eine Ursache zu halten, kann sie nicht wählen. Wählen besteht nämlich darin, in der Überzeugung von mehreren Möglichkeiten eigenen Verhaltens sich wissentlich darauf zu beschränken, von diesen höchstens einige, meist nur eine einzige, zu verwirklichen. Dieses Verwirklichen ist ein Selbertun; wer sich wissentlich darauf beschränkt, muss sich also eine kausale Rolle als Ursache – oder besser, siehe gleich: als Urheber – zutrauen. Nur dann kann er sich rational verhalten, denn rationales Verhalten ist Wählen aus Gründen. Obwohl also keine Person ohne Gebrauch der Kausalkategorie aus174 Den Beweis (nach Hans Hermes, Einführung in die Verbandstheorie) findet man bei: Hermann Schmitz, System der Philosophie Band III Teil 1: Der leibliche Raum zuerst 1969, in Studienausgabe 2005, S. 492–495

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kommt, ist weder ein präziser und abstrakter Begriff von Kausalität in Sicht, noch gibt es unbezweifelbare Beispiele, die für das Recht von Belang wären. Unbestreitbare Fälle von Kausalität kenne ich nur im Bereich der Halbdinge, die einem etwas antun, ohne ein Band zwischen Ursache und Erfolg zu benötigen, da Ursache und Einwirkung zusammenfallen, also kein Zwischenglied nötig ist. Solche Halbdinge sind der Wind, der mich (fast) umwirft, die reißende Schwere, die mich im Sturz und im Ausgleiten abwärts zieht, der Schmerz, der mich quälend zur Auseinandersetzung zwingt, die Melodie oder das Problem, die mir nicht aus dem Kopf gehen wollen, die Zeit, wenn sie in Langeweile oder gespannter Erwartung unerträglich lang wird, ein Gefühl, das wie der Zorn über mich kommt und mich mitreißt. In allen anderen Fällen ist der Glaube an Kausalität weder durch Evidenz erhärtet noch begrifflich scharf bestimmt, aber für Personen unentbehrlich. Man darf daher auf keinen durchgängig bestimmten Kausalbegriff, der alle Fälle umfasst, hoffen, sondern muss verschiedene Kausalvorstellungen zu verschiedenen Themen und Gegenstandsgebieten akzeptieren und höchstens auf wenige durchgängige Grundzüge gefasst sein. Für das Recht hat die Bestimmung des verbrecherischen Unrechts als Tatsache die Folge, dass Ursachen zu Tatsachen werden, da das Strafrecht (wie übrigens auch das Sicherungsrecht) ohne die Ursächlichkeit des Unrechts nicht auskommt. Die Fähigkeit von Tatsachen, Ursachen zu sein, wird manchmal bestritten, weil Ursachen in der Zeit eintreten, während Tatsachen für zeitlos gehalten werden. Das ist falsch; Tatsachen treten unaufhörlich ein, indem untatsächliche Sachverhalte realisiert (vertatsächlicht) werden; ihr Eintritt wird oft gefürchtet, gehofft oder geplant. Darüber hinaus ist die Identität von Ursachen mit Tatsachen sogar einer der wenigen allgemeinen Grundzüge der Kausalität. Zusammenhänge von Ursache und Erfolg werden sprachlich in Sätzen (Sprüchen) dargestellt, die die Ursache in einem mit »weil« oder verwandten Konjunktionen eingeleiteten Satz (Spruch) angeben; was so angegeben wird, ist eine Tatsache oder wenigstens ein Sachverhalt, den der Sprecher als Tatsache ausgibt. Wenn man statt dessen Ereignisse, z. B. Handlungen, für Ursachen hält, kommt man nicht zu einer hinlänglich bestimmten Auslese aus dem Geschehen, die nur das festhält, worauf es für die Ursache ankommt. Ein Tumult z. B. kann sich ebenso wie als Prügelei als ein etwas stürmisches Ballett darbieten, als ein Gewoge von Licht und Schatten, Geräuschen, sich verknüpfenden und trennenden Körperteilen; nichts erzwingt die Auffassung als Prü115 https://doi.org/10.5771/9783495860755 .

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gelei mit zugehöriger, für das Recht erheblicher Verteilung kausaler Rollen, wenn nicht Sachverhalte für Tatsachen gehalten oder auf Tatsächlichkeit geprüft werden. Noch ersichtlicher ist der Bedarf, Ursachen als Tatsachen zu verstehen, bei sehr komplizierten, in Raum und Zeit verteilten Fällen ursächlichen verbrecherischen Unrechts, wie weit ausholenden Intrigen, umständlich kalkulierten Betrugsmanövern. Allerdings darf man auch Menschen nicht als Ursachen gelten lassen, wenn Ursachen Tatsachen sind, denn das sind Menschen nicht. Die vorhin am Wählen abgelesene Auffassung von Selbertun muss also etwas modifiziert werden: Ein Mensch kann nicht Ursache, sondern nur Urheber von etwas sein durch die Tatsache, dass er eine bestimmte Beschaffenheit besitzt oder ein bestimmtes Verhalten übt. Diese Tatsache muss ihm intim zugehören; so etwas wie die Zahl seiner Haare oder der Kalkgehalt seiner Knochen genügt nicht für die geforderte Intimität. Wie diese Intimität genau zu bestimmen ist, lässt sich schwer sagen, nur durch Beispiele zeigen. Ein großer Vorteil der Bestimmung von Tatsachen als Ursachen für das Recht besteht darin, dass die Kausalität der Unterlassung, die wegen falscher Verortung der Kausalität in der deutschen Rechtswissenschaft heftig bestritten worden ist, gar keine Schwierigkeit macht, denn Unterlassungen sind Tatsachen. Ohne Kausalität der Unterlassung verlöre das Strafrecht den ganzen Bereich fahrlässigen Unrechts, denn Fahrlässigkeit ist Unterlassung geschuldeter Sorgfalt, sofern sie ursächlich für ein Unglück wird. Im Übrigen herrscht Übereinstimmung, dass der strafrechtliche Begriff der Ursache an der notwendigen Bedingung festzumachen ist: Als Ursache gilt, was nach Maßgabe vernünftiger Lebenserfahrung nicht weggedacht werden kann, ohne dass zu erwarten wäre, dass auch der Erfolg entfällt. Mit dieser Faustregel unterscheidet sich das Strafrecht von der Moral, die sich für Kausalität an der zureichenden Bedingung orientiert. Die Faustregel versagt im Fall konkurrierender Kausalität, wenn z. B. jemand zugleich erschossen und tödlich vergiftet wird. Diese Ausnahme muss ein strafrechtlicher Kausalbegriff berücksichtigen. Ich gehe darauf nicht weiter ein. Von der Kausalität komme ich nun zur Finalität. Nach herrschender Lehre wären drei Finalmängel des strafrechtlichen Unrechts zu erörtern: Vorsatz, Fahrlässigkeit und Handeln im Affekt. Es wird sich aber herausstellen, dass der zweite Mangel, der, gestützt auf die Unterscheidung zwischen dolus und culpa im römischen Recht, eine jahrtausendelange Tradition in der juristischen Begriffsbildung hat, als Fahr116 https://doi.org/10.5771/9783495860755 .

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lässigkeit zu eng gefasst ist und zur Unachtsamkeit erweitert werden muss. Mit dieser Modifikation übernehme ich die Trias der Finalmängel und erörtere diese der Reihe nach. Zum Vorsatz: Eine der wichtigsten Neuerungen im allgemeinen Teil des Strafrechts während des 20. Jahrhunderts besteht in der Versetzung des Vorsatzes aus der Schuld in das Unrecht in der finalen Handlungslehre von Hans Welzel. Er gibt dafür eine »sachlogische«, anthropologische Begründung, die ich in diesem Zusammenhang für belanglos halte. Trotzdem gebe ich ihm in der Sache Recht, aber nicht wegen einer Natur der Sache, die für alle Menschen und Kulturen dasselbe Ergebnis herbeiführen müsste, sondern mit Rücksicht auf das Zeugnis des unsere Rechtskultur leitenden Rechtsgefühls. Wir empfinden eine vorsätzliche Tat, verglichen mit einer unvorsätzlichen, als spezifisch und verstärkt empörend, unabhängig davon, ob wir den Täter bei genauerem Zusehen mehr oder weniger oder gar nicht mit Schuld belasten und uns dann eventuell wieder beruhigen, was den Zorn angeht. Dass dieses Gewicht des Vorsatzes für das Unrecht nicht aus der Natur der Sache, sondern aus der Eigentümlichkeit unserer Rechtskultur stammt, wird deutlich, wenn wir uns in mögliche andere Rechtskulturen hineindenken. Eine solche wäre etwa die Rechtskultur eines Rechtsvolkes, dessen Kerngruppe aus cholerischen Paschas besteht, die immer gleich in Rage geraten, wenn ihre Diener einen (hinlänglich schwerwiegenden) Fehler machen, ohne jede Rücksicht darauf, ob dieser Fehler mit oder ohne Vorsatz geschah; die aber doch so gutmütig sind, ihr Zürnen abflauen zu lassen, wenn sie merken, dass der Fehler ohne Vorsatz geschehen ist. In dieser Rechtskultur würde der Vorsatz erst bei der Schuldprüfung von Belang sein, ohne jede Bedeutung für das verbrecherische Unrecht, das von den Dienern (beim Dienen) kommt. Zur Unachtsamkeit: Unter diesen Titel gehören alle Finalmängel des Unrechts, die in Unterlassungen bestehen. An erster Stelle steht die in der Tradition allein gewürdigte Fahrlässigkeit. Sie besteht in Unterlassung der geschuldeten Sorgfalt, sowohl bei der Steuerung von Handlungen als auch durch Unterlassen von Steuerung. Wenn sich eine leichtsinnige Handlungsweise im Umgang mit wichtigen Rechtsgütern ausbreitet, sind wir nicht nur alarmiert, sondern auch empört, jedenfalls wenn wir uns das »Anstandsgefühl der billig und gerecht Denken117 https://doi.org/10.5771/9783495860755 .

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den«85 , die Quelle des Rechtszustandes, zu eigen machen, und zwar unabhängig davon, welches Maß an Schuld wir den »Mitläufern« dieser üblen Gewohnheit zuschreiben; das ist die Probe auf die Zugehörigkeit der Fahrlässigkeit schon zum Unrecht, noch unabhängig davon, dass sie auch bei der Schuld eine Rolle spielt. Nun ist aber Fahrlässigkeit – verstanden als Mangel an Sorgfalt bei finaler Steuerung oder bis zu deren Ausfall – nicht der einzige Finalmangel im Unrecht, der in Unterlassung besteht; ein anderer ist die Unterlassung gehöriger Aufmerksamkeit auf das in einer aktuellen Situation rechtlich Gebotene aus Rohheit oder Stumpfheit der Gesinnung. Der Bundesgerichtshof bemerkte zur Garantenstellung bei unechten Unterlassungsdelikten: »Nicht selten ist es aber gerade der gewissens- und rechtsstumpfe, ruchlose Täter, der sich trotz seiner Kenntnis von der Garantenstellung keinerlei Gedanken über seine Garantenpflicht macht.« Man kann auch an unvorsätzliche Tierquälerei denken, wobei die Qualen des Tieres wegwerfend oder als Anlass zum Spaß behandelt werden. Oder ein Beispiel von Armin Kaufmann: »Der Kaschemmenwirt X erfährt, als er illustre Gäste in seinem Hinterzimmer empfängt, den Plan eines Raubmordes. Er denkt nicht einen Augenblick daran, das geplante Verbrechen anzuzeigen, geschweige denn, dass er überlegt, ob und wie sich ein Weg zur rechtzeitigen Anzeige bietet; allenfalls überlegt er, dass sich sein Umsatz heben wird, wenn der Plan gelingt.« 175 Dass solche Gedankenlosigkeit und Blindheit für das Gehörige überhaupt möglich ist und dann auch wirklich vorkommt, hat etwas ungemein Empörendes, das nicht erst bei der Schuldprüfung zum Vorschein kommt, sondern durch diese eventuell sogar gemindert wird, wenn sich z. B. herausstellt, dass der rohe Verbrecher aus einem Milieu stammt, in dem Niedertracht das Normale ist, so dass er wenig Gelegenheit hatte, sich seine Rechtspflichten angesichts von Kernnormen zu vergegenwärtigen; seine rohe und stumpfe Ignoranz ist also schon ein Zug des verbrecherischen Unrechts, das er begeht, nicht erst seiner Schuld. Sie hat aber mit Mangel an Sorgfalt, mit Fahrlässigkeit, nichts zu tun. Vielmehr gehört sie mit dieser unter einem weiteren Titel zusammen, etwa als Unachtsamkeit, die teils Fahrlässigkeit, teils Unaufmerksamkeit auf das rechtlich Gebotene ist.

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Zitiert in Rechtsraum S. 439 Anm. 1433

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Zum Affekthandeln: Handeln aus Affekt ist Handeln aus Ergriffenheit durch ein mitreißendes Gefühl. Alle ergreifenden Gefühle haben etwas Mitreißendes, freilich nicht alle im Sinn heftigen Reißens; denn sie können auch schleichend ergreifen und übertragen dann nicht weniger ihren Impuls in das eigene Streben des Ergriffenen. Für Affekthandeln kommen aber nur stürmisch ergreifende, also im eigentlichen Sinn mitreißende Gefühle in Betracht. Das deutsche Strafgesetzbuch privilegiert »Bestürzung, Furcht oder Schrecken« als strafausschließend bei exzessiver Notwehr (§ 53,3). Die Gerichte dehnen dieses Privileg aber auch auf Aggressionsaffekte (Wut, Angst, Zorn, Blutrausch) als Bewusstseinsstörungen, die unzurechnungsfähig machten, aus. 176 Als Bewusstseinsstörungen dürften sie falsch subsumiert sein. Aus psychiatrischer Erfahrung weist Hadamik darauf hin, dass Affektbesessenheit mit klarem Bewusstsein und Überlegung verträglich ist und sich vom Normalzustand hauptsächlich dadurch unterscheide, dass für die Auseinandersetzung mit dem Affekt keine Gegenvorstellungen verfügbar sind. 177 Das liegt an der Eigenart des affektiven Ergriffenseins von Gefühlen, im Unterschied zum affektiven Betroffensein von (den meisten) bloßen leiblichen Regungen. Diesen gegenüber hat man von Anfang an Spielraum für Stellungnahme und Beobachtung; ergreifende Gefühle nehmen den Betroffenen dagegen so mit sich, dass er mindestens in der Anfangsphase des Betroffenseins ihren Impuls zu dem seinen machen muss und erst danach Gelegenheit zur Auseinandersetzung mit diesem Impuls in Preisgabe oder Widerstand erhält. So steigt z. B. Zorn im Leib des Ergriffenen spürbar auf als ein Impuls, dem er sich überlassen muss, wenn er wirklich zürnt; weil er den Zorn mitmacht, hat er in dieser Anfangsphase, die sich lang hinziehen kann, keine Gegenvorstellungen zur Verfügung, wie gegen Schmerz, Hunger, Jucken, denen gegenüber man gleich bei ihrem Auftritt Spielraum für Stellungnahmen hat. Der Impuls des mitreißenden Affekts ist dagegen zunächst auch eigener Impuls und damit Vorsatz, aber vom Gefühl, gleichsam hypnotisierend oder besser faszinierend, geführter und in Anspruch genommener Vorsatz. Als Vorsatztat gehört die Affekttat auch dann zum verbrecherischen Unrecht, aber sie gehört nicht voll 176 Hans-Heinrich Jeschek, Lehrbuch des Strafrechts. Allgemeiner Teil, Berlin 1969, S. 289 177 W. Hadamik, Leidenschaft und Schuld, in: Goltdammers Archiv für Strafrecht, Jahrgang 1957, S. 104, 108

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dazu, weil der eigene Vorsatz vom Impuls des Gefühls diktiert ist. Hier entsteht ein Zwiespalt sowohl für die Unrechts- als auch für die Schuldzuweisung, der in beiden Fällen mit gutem Grund zur Abweisung (des Unrechts und der Schuld) veranlassen kann, aber nur für die Anfangsphase, bis der Ergriffene der ergreifenden Macht gegenüber den Spielraum gewinnt, den er zu bloßen leiblichen Regungen von vorn herein hat. Dann erst beginnt – abgesehen von möglicher Lebensführungsschuld für Affektanfälligkeit – seine Verantwortung vor den Gegenvorstellungen, die Baumann »Stimme des Gewissens« nennt; dann erst gilt, was dieser so ausdrückt: »Wird diese Stimme durch die Erregung und durch die Gefühle des Täters überschrien, so ist das seine Sache.« 178

2.2.11 Freiheit als Voraussetzung der Schuld Das verbrecherische Unrecht wird nur zusammen mit Schuld des Verbrechers zum Verbrechen. Die Schuld ist sittliche oder moralische Schuld, weil einen Menschen, dem moralisch nichts vorzuwerfen ist, keine Schuld trifft. Diese Schuld ist an eine Freiheit gebunden, auf die sich jemand beruft, der sich von einem Schuldvorwurf dadurch entlastet, dass er sagt, er sei nicht frei gewesen, das Geforderte zu tun. Er wälzt damit die Verantwortung von sich ab. Die gesuchte Freiheit ist also Verantwortungsfreiheit. Ehe geklärt ist, worum es sich dabei handelt, und dessen Vorkommen sichergestellt ist, lässt sich kein Schuldvorwurf im Strafrecht rechtfertigen, während im Sicherungsrecht wegen der geringen Bedeutung der Schuld für es der moralische Vorwurf unterbleiben und durch eine andere Art der Verantwortung ersetzt werden kann. Im Strafrecht tritt dagegen der seltene Fall ein, dass die Lösung eines vermeintlich spekulativen philosophischen Problems, an dem die Philosophen, weil sie diese Lösung an der falschen Stelle – bei objektiven Tatsachen des Wollens (sogenannte Willensfreiheit) – gesucht haben, seit Jahrtausenden gescheitert sind, für konkrete und spezielle, keineswegs spekulative, Bedürfnisse der Praxis unentbehrlich ist. Die Rede von Freiheit ist vieldeutig. Um die hier gesuchte Freiheit, die Verantwortungsfreiheit, herauszuschälen, vergleiche ich sie an dritter Stelle mit zwei anderen Typen von Freiheit, mit denen sie häu178

Jürgen Baumann, Strafrecht. Allgemeiner Teil, 5. Auflage, Bielefeld 1968, S. 422

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fig (im zweiten Fall fast immer) verwechselt wird, und unterscheide zu diesem Zweck 1. Bewegungsfreiheit: Sie umfasst die körperliche, bürgerliche (zivilrechtliche) und politische Freiheit, also weit mehr als die Freiheit zum Ortswechsel. Die Freiheitsrechte, für die seit der Amerikanischen und Französischen Revolution geworben wird, für die Liberale eintreten, gehören zur Bewegungsfreiheit ebenso wie die Freiheit, nach der unterworfene Völker und Gefangene sich sehnen, die Freiheit, die dem Gelähmten abgeht. Es ist die Freiheit als Abwesenheit von Hindernissen des (spontanen oder wählerischen) Beliebens. Im Fall einer Konfrontation wird das Hindernis zum Zwang. Zwang ist eine Gewalt, die einem Bestreben des Gezwungenen unüberwindlich entgegensteht. 2. Wahlfreiheit: Sie ist das Können des Wählens. Wählen besteht, wie schon unter 2.2.10 gesagt wurde, darin, in der Überzeugung von mehreren Möglichkeiten eigenen Verhaltens sich angesichts einer Herausforderung wissentlich darauf zu beschränken, von diesen Möglichkeiten nicht alle, meistens nur eine einzige, zu verwirklichen. Das Wählenkönnen wird zum Anderskönnen, wenn die Überzeugung wahr und die Selbstbeschränkung nicht von außen gesteuert ist. Das bloße Wählenkönnen, selbst ohne Anderskönnen, ist eine unabdingbare Voraussetzung des rationalen Verhaltens, d. h. des Wählens aus Gründen. 3. Verantwortungsfreiheit: Sie besitzt ein Mensch, wenn er Verantwortung tragen kann. Verantwortung eines Subjekts S für eine Tatsache T vor einem Normensystem N ist die Tatsache, dass es nur auf das Verhältnis zwischen T und N (ob T N mehr oder weniger oder gar nicht genügt) dafür ankommt, ob S für T vor N Lob oder Tadel verdient. Sittliche oder Moralische Verantwortung eines Menschen für eine Tatsache besteht also darin, dass es nur vom Verhältnis zwischen dieser Tatsache und sittlichen Normen (die auch der Nomos einer Situation sein können) abhängt, ob der Mensch für diese Tatsache sittliches Lob oder sittlichen Tadel verdient. Für die strafrechtliche (verbrecherische) Schuld kommt Verantwortungsfreiheit nur als sittliche in Frage; mit dieser sittlichen Freiheit werde ich mich im Folgenden beschäftigen. Sie besteht in einem nicht-trivialen Äquivalent sittlicher Verantwortung, d. h. in solchen Merkmalen eines verantwortungsfreien Menschen, die nicht schon logisch aus der Tatsache seiner (hier sittlichen) 121 https://doi.org/10.5771/9783495860755 .

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Verantwortung folgen, aber für diese notwendig und zusammen hinreichend sind. Es handelt sich zunächst darum, diese Merkmale zu ermitteln; später wird zu prüfen sein, ob sie tatsächlich zusammen vorkommen, ob ein Mensch im günstigen Fall also sittlich frei ist. Für die Ermittlung der Merkmale beziehe ich mich auf das in der modernen westlichen Zivilisation normale sittliche Verantwortungsbewusstsein, das ich aber nicht an den Überzeugungen der Leute ablese, die herauskommen würden, wenn man sie nach ihren Auffassungen über sittliche Verantwortung und Freiheit fragte, sondern an ihren spontanen Beurteilungen. Diese sind viel aussagekräftiger als die Überzeugungen, die auch angelernt sein können. Als unentbehrliche Merkmale sittlicher Verantwortungsfreiheit ermittle ich auf diese Weise: 1. Unabhängigkeit des jeweils verantwortlichen Verhaltens, in dem Sinn, dass es nicht von einer von ihm verschiedenen Macht (s. o. 1) gesteuert ist. Andernfalls »könnte man nichts dafür«; die Verantwortung, falls sie überhaupt bestünde, fiele auf die steuernde Macht zurück. 2. Initiative, d. h. jenes Selbertun, das u. a. zum Wählen als wissentlicher Selbstbeschränkung auf das Verwirklichen einer Möglichkeit (das Vertatsächlichen eines untatsächlichen Sachverhaltes) unter mehreren Möglichkeiten gehört. Wenn eine solche Verwirklichung zwar durch den Menschen, aber ohne seine Initiative eintritt, indem sie ihm zufällig unterläuft wie ein Wort, das ihm zu seiner eigenen Überraschung »herausrutscht«, kann er genau so wenig dafür, wie wenn sein Verhalten von etwas, das nicht diesem Verhalten angehört, gesteuert wird. 3. Rechenschaftsfähigkeit: Einem Menschen, der nicht das Vermögen hat, auf sich zu reflektieren, sich seiner Verantwortung bewusst zu werden, von Normen Kenntnis zu nehmen und sich daran zu messen, sprechen wir keine sittliche Verantwortung zu, selbst wenn er unabhängig sein und – wie vermutlich Tiere und Kleinkinder – Initiative haben sollte. Diese drei Freiheiten sollen nun verglichen werden. Die Bewegungsfreiheit ist unabhängig von den beiden anderen Freiheiten, denn sie kommt, anders als diese, auch fast allen Tieren zu, z. B. den Vögeln (»vogelfrei«, »frei wie ein Vogel«). Die Wahlfreiheit ist unabhängig von der Bewegungsfreiheit, denn sie bleibt auch unter Zwang und Lähmung als die Fähigkeit erhalten, zwischen den beiden Möglichkeiten, sich damit abzufinden oder dagegen aufzubegehren, zu wählen. Aus demselben Grund ist auch die Verantwortungsfreiheit von Bewegungsfreiheit unabhängig, denn sie bleibt dem Stoiker, der sein 122 https://doi.org/10.5771/9783495860755 .

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Schicksal für durchgängig unabwendbar hält; als sittliche Verantwortung dafür, sich mit stoischer Gelassenheit in sein Schicksal zu fügen, ja es zu lieben (»amor fati«), erhalten, gesetzt nur, dass seine Einschätzung seiner Lage zutrifft und er trotz des Mangels an Bewegungsfreiheit zu sittlicher Verantwortung fähig ist. Die Bewegungsfreiheit hat also keinen notwendigen Zusammenhang mit den beiden anderen Freiheiten. Diese dagegen sind sowohl eigentümlich verzahnt als auch stärker getrennt, als die herrschende Meinung glauben macht. Darauf will ich nun ein Licht werfen. Verantwortungsfreiheit ist unabhängig von Wahlfreiheit. Es gibt Fälle, in denen wir einem Menschen unabweisbare Verantwortung für ein Verhalten zuschreiben, an dem keine Wahl beteiligt war oder auch nur beteiligt sein konnte. Dazu gehören die spontanen Reaktionen. Wer in einer plötzlichen, unerwarteten Gefahr entweder beherzt, tapfer, unerschütterlich als Helfer und Retter zupackt oder sich als Feigling duckt und wegläuft, obwohl er die Kraft hätte, die Lage zu meistern, wird verantwortlich gemacht und je nach dem mit Lob oder Tadel bedacht, obwohl er keine Zeit zum Wählen hatte. Ein anderes Beispiel ist die unbewusste Fahrlässigkeit, etwa im Fall einer Mutter, die an einem schönen Sommertag am Strand oder auf einer Wiese die Sonnenwärme genießt und darüber ihr Kind vergisst, das beim Spielen am Wasser ertrinkt. Diese Frau konnte nicht wählen, denn sie hat sich die mehreren Möglichkeiten ihres Verhaltens zu den Gefahren des Wassers für das Kind gar nicht klar gemacht und konnte sich daher auch nicht in der Überzeugung von ihnen wissentlich auf die Verwirklichung von nur einer – das Kind sich selbst zu überlassen – beschränken. Ihr hat es an Sorgfalt gefehlt; man könnte ihr vorwerfen, diese nicht vorher eifrig genug eingeübt zu haben, doch kann ihr Versagen, das ihr Tadel und Reue einträgt, aus dem Rahmen ihres gewohnten Lebens gefallen sein, das nicht besonders leichtfertig gewesen sein muss; solcher Ausfälle gibt es im Leben viele. Noch ferner liegt der Vorwurf der Lebensführungsschuld im Fall eines primitiven Menschen, der in einem rohen Milieu aufgewachsen ist und bei seiner rohen Tier- oder Kinderquälerei gar nicht auf den Gedanken kommt, dass es auch anders ginge. Er kann in dieser Hinsicht gleichfalls nicht zwischen mehreren Möglichkeiten wählen, und doch wird man ihn nicht von Schuld entlasten, wenn auch vielleicht den Vorwurf mildern, weil einem Menschen mit so engem Horizont keine gründliche Selbsterziehung zuzutrauen ist. Umgekehrt ist die Wahlfreiheit zwar auch unabhängig von der 123 https://doi.org/10.5771/9783495860755 .

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Verantwortungsfreiheit, aber nicht von gewissen Annahmen über deren Möglichkeit. Zu dieser gehört nämlich, wie gezeigt wurde, die unabhängige Initiative und damit die Abwesenheit einer Fremdsteuerung, die das eigene Verhalten so eindeutig festlegt, dass angesichts einer Herausforderung immer nur eine einzige Möglichkeit der Reaktion bleibt. Die Überzeugung von einer solchen Macht der Fremdsteuerung ist der Determinismus (als Überzeugung verstanden). Viele Philosophen, heute wohl gar die meisten, und philosophierende Gehirnforscher sind Deterministen, und nicht wenige versuchen, ihren Determinismus mit der Verantwortungsfreiheit zu versöhnen; man nennt sie dann »Kompatibilisten«. Sie übersehen die Konsequenz, dass deterministische Überzeugung (unabhängig davon, ob sie richtig oder falsch ist) mit Wählenkönnen und daher auch mit rationalem Verhalten unverträglich ist. Man kann nämlich nicht angesichts einer Herausforderung in der Überzeugung von mehreren Möglichkeiten eigenen Verhaltens leben und zugleich überzeugt sein, nur eine einzige zu haben. Ein echter, von seiner Überzeugung durchdrungener Determinist könnte nur wie betrunken durchs Leben gehen, torkeln und nicht einmal von der Speisekarte wählen. Deterministische Überzeugung ist also für die Wahlfreiheit und damit für die Rationalität des Menschen tödlich, nicht ebenso aber für seine Verantwortungsfreiheit, da sittliche Verantwortung, wie gezeigt wurde, auch in Lagen vorkommt, in denen kein Wählen möglich ist. Dagegen ist die Richtigkeit der deterministischen Überzeugung, also Determinismus als ein Weltzustand, in dem menschlichen Tun und Lassen durchgängig (z. B. von Vorgängen im Menschenkörper, von äußeren Umständen, von geheimnisvollen höheren Mächten) fremdgesteuert wäre, unverträglich mit Verantwortungsfreiheit wegen der zu dieser erforderlichen Unabhängigkeit. Ebenso unverträglich mit Verantwortungsfreiheit ist aber die gänzliche Ungesteuertheit, die Laune des Zufalls, denn sie vereitelt die Initiative, das Selbertun, wobei der Mensch als Urheber durch eine ihm intim angehörige Tatsache, die Ursache, einen Erfolg bewirkt (2.2.10). Verantwortungsfreiheit ist also ebenso mit Fremdgesteuertheit (Determinismus) wie mit Ungesteuertheit (Indeterminismus) unvereinbar. Das ist das logische Dilemma der Freiheit. Der logisch allein mögliche Ausweg aus diesem Dilemma ist die Selbstgesteuertheit, die weder Fremdgesteuertheit noch Ungesteuertheit ist. Ob und wie so etwas möglich ist, lässt sich noch nicht sagen. Ein negatives Ergebnis kann aber schon abgeleitet werden: Wenn Ver124 https://doi.org/10.5771/9783495860755 .

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antwortungsfreiheit auf Selbststeuerung angewiesen ist, kann das Wollen nicht ihr Sitz sein, da es nach außen, auf einen Erfolg, und nicht auf sich selbst gerichtet ist. Die menschliche Verantwortungsfreiheit kann daher im Gegensatz zu allem, was die herrschende Meinung seit Jahrtausenden für selbstverständlich hält, keine Willensfreiheit sein. Diesem Dogma widerspricht nicht nur die Logik, sondern auch die konkrete sittliche Überzeugung der Menschen, z. B. bei Beurteilung sittlicher Verantwortung für unbewusste Fahrlässigkeit wie im beschriebenen Fall. Die Mutter, die über dem Genuss der Sonnenwärme die Gefahr für ihr spielendes Kind vergisst, hat dazu so wenig etwas gewollt wie etwas gewählt, weil sie ihre Aufgabe unter diesen Umständen vergessen hat. Man kann ihr so wenig ein schlechtes Wollen wie eine schlechte Wahl vorwerfen, und dennoch wird sie für schuldig gehalten, nicht wegen eines Willensmangels, sondern wegen eines Gesinnungsmangels, wegen ihrer Leichtfertigkeit, die gebotene Sorgfalt zu versäumen. Ebenso tadeln wir als unmoralisch schlechte Gesinnungen wie hämischen Neid, Schadenfreude und Spaß an fremdem Elend, obwohl kein Wollen damit verbunden zu sein braucht. Die unabweisbare moralische Verantwortung, und damit die Verantwortungsfreiheit, reicht also über mögliche Willensfreiheit hinaus in die Gesinnung hinein. Gesinnung, wie ich das Wort verstehe, ist die aktive Seite des affektiven Betroffenseins. Affektiv betroffen ist man von allem, was einem nahe geht. Dieses Betroffensein ist einerseits passiv als erlittener Andrang, andererseits aktiv als Eingehen oder Sicheinlassen darauf in Annahme oder Abwehr unter vielen Gestalten. Wer sich nicht einlässt, steht gleichsam neben dem Geschehen, das ihm nicht mehr nahe geht. Er hält sich heraus, es geht ihn nichts mehr an. Das wird aktuell bei der sogenannten Emotionslähmung, die zuerst Erwin Bälz als seinen Zustand bei einem Erdbeben in Japan beschrieben hat. In furchtbaren Katastrophen, bei einem unfassbar grauenhaften Anblick, bei hilfloser Auslieferung an eine erschreckende unmittelbare Gefahr und dergleichen ist das affektive Betroffensein überfordert, das wache Bewusstsein in seiner Klarheit und Aufnahmefähigkeit aber nicht gestört; der Betreffende macht nur nicht mehr mit mit dem, was an ihn herankommt, selbst wenn er noch zweckmäßig reagiert. Ich habe eine Reihe eindringlicher Schilderungen solcher Zustände zusammengestellt. 179 179 Hermann Schmitz, Freiheit, Freiburg i. Br./München 2007, S. 66–69, ferner: System der Philosophie Band III Teil 2: Der Gefühlsraum, zuerst 1969, S. 95 f. Anm. 155 und 288

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Sie enden oft in Erschütterung, z. B. mit Weinen. In jedes affektive Betroffensein ist solche Gesinnung eingelassen. Im Kern ist sie unwillkürliche Selbstverstrickung vor jeder Überlegung, schon bei kleinen Kindern, die z. B. mit Schreien und Lächeln ihre Aktivität im Betroffensein bekunden, sicherlich auch bei Tieren. Dieser Kern kann bei Personen mit kontrollierter, willkürlicher Stellungnahme umwickelt sein. So kann man den Schmerz resigniert, weinerlich, verzweifelt, verdrossen, tapfer, geduldig durchmachen, den Hunger mürrisch, geduldig, jammervoll, aggressiv andere Affekte etwa verbissen, gelassen, ärgerlich, ängstlich, unverzagt, frech, frivol, überschwänglich, übermütig, zurückhaltend usw. Aktive und passive Seite gehören im affektiven Betroffensein immer auch in unspaltbarem Verhältnis zusammen. Ich habe diesen bis dahin noch nicht bemerkten Typ von Mannigfaltigkeit und Zusammenhang kürzlich untersucht und zur Aufklärung des Mannigfaltigkeitstyps des Bewussthabens herangezogen. 180 Man muss zwischen Beziehungen und Verhältnissen unterscheiden. Beziehungen sind gerichtet, im Fall zweistelliger Beziehungen von einem Referens, das sich auf etwas bezieht, zu einem Relat, auf das es sich bezieht. Verhältnisse sind ungerichtet. Alle Beziehungen gehen durch Spaltung aus Verhältnissen hervor, die Beziehungen zwischen Familienangehörigen aus dem Stammbaum der Familie, die Beziehungen rechts von und links von aus dem Verhältnis des Nebeneinanderliegens, die Beziehungen Wurzel von und Quadrat von aus dem Potenzverhältnis usw. Es gibt aber auch unspaltbare Verhältnisse, z. B. beim gemeinsamen Sägen mit der zweigriffigen Bauernsäge, wobei keiner seinen Anteil auf den des anderen beziehen kann, weil beide Anteile im Zusammenwirken wie eingefangen sind, ferner bei hingerissenem gemeinsamem Singen oder Musizieren, bei Versunkenheit in einen Anblick oder hingegebener Entspanntheit im Genießen usw. Goethe sagt von zwei Liebenden in höchster Ekstase: »Eins ist nur im andern sich bewusst.« 181 Diese Liebenden verschmelzen nicht, denn im anderen ist jedes sich bewusst, aber sie können auch nicht auseinandertreten und zu einander eine Beziehung aufnehmen, weil jedes nur im andern sich bewusst ist. Sie sind nur noch als Paar vorhanden, in unspaltbarem Verhältnis einer gewissen Reflexivität, im anderen sich selbst zu haben und mit sich eins zu sein. So hängen aktive und passive Seite auf dem Grund des 180 181

Hermann Schmitz, Bewusstsein, Freiburg i. Br./München 2010, S. 54–76 Die Braut von Korinth (Ballade)

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affektiven Betroffenseins zusammen, in der unbeliebigen Selbstverstrickung des Eingehens auf das, was betroffen macht. Dieser Grund wird überformt durch spaltbares Verhältnis und Beziehungen, wenn Stellungnahme aus personaler Emanzipation, besonnene Preisgabe oder Abwehr, Selbststilisierung und dergleichen das elementare affektive Betroffensein überformt. Das affektive Betroffensein ist demnach schon auf der elementarsten, unwillkürlichen Stufe reflexiv, aber nicht durch eine reflexive Beziehung, sondern durch ein unspaltbares reflexives Verhältnis. Es besitzt also die Selbstbezogenheit, die dem Wollen abgeht und zur Verantwortungsfreiheit erforderlich ist, um dem Dilemma der Wahl zwischen Determinismus und Indeterminismus zu entgehen. Hier geht es um die Gesinnung, die aktive Seite des affektiven Betroffenseins. Die ist in erster Linie dieser Reflexivität teilhaft. Sie zündet gleichsam die Subjektivität, dass etwas mich angeht, mir nahe geht; ohne sie bliebe es bei der objektiven Tatsache, dass dem Betroffenen etwas passiert, ohne dass jemand einen Grund hätte, von sich selbst zu sprechen. Die Tatsache der jeweiligen Gesinnung ist eine subjektive Tatsache (2.1; 2.2.2). Subjektive Tatsachen sind um die Nuance der Subjektivität, dass es sich um mich (als Beispiel für jeden) handelt (mea res agitur, frei nach Horaz), reicher als die durch Abfallen der Subjektivität entstehenden objektiven Tatsachen, die jeder aussagen kann, der genug weiß und gut genug sprechen kann. Subjektive Tatsachen unterscheiden sich von ihnen entsprechenden objektiven nur durch die reichere oder vollere Tatsächlichkeit, nicht durch den Inhalt, der in beiden Fällen gleich ist; sie können also durch keinen inhaltlichen Zusatz zu objektiven Tatsachen erreicht werden, auch nicht durch den Zusatz einer Kausalbeziehung, die die objektive Tatsache zur Ursache der subjektiven machte. Die Tatsache meiner Gesinnung stiftet mit der Subjektivität für mich alle für mich subjektiven Tatsachen; eine davon ist sie selbst. Die anderen für mich subjektiven Tatsachen bestimmt sie dem Inhalt nach nicht ohne Weiteres, wohl aber sich selbst; denn für sich ist sie notwendig und zureichend. Man darf also behaupten, dass die Tatsache meiner so und so beschaffenen Gesinnung jeweils sich selbst bewirkt, mindestens steuert. Damit ist die gesuchte Selbststeuerung gefunden, der Ausweg aus dem Dilemma zwischen Skylla und Charybdis, Determinismus und Indeterminismus. Es wird nun möglich, unabhängige Initiative widerspruchsfrei zu denken. Wenn sich diese mit Rechenschaftsfähigkeit verbindet, sind die Ansprüche des normalen sittlichen Verantwor127 https://doi.org/10.5771/9783495860755 .

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tungsbewusstseins an sittliche Verantwortung erfüllt. Bei Personen ist das der Fall. Sie sind durch ihre Gesinnung Urheber (2.2.10) der (für sie intimen) Tatsache dieser Gesinnung, die als Ursache sich selbst bewirkt oder steuert. Daher darf zunächst das Ergebnis aufgestellt werden: Der personale Mensch ist durch seine Gesinnung für seine Gesinnung sittlich verantwortlich. Dieses Ergebnis verliert seinen Wert, wenn man nicht den radikalen Unterschied der subjektiven Tatsachen von den objektiven, die Unerreichbarkeit jener von diesen aus, gebührend beachtet. Selbstverständlich kann die objektive Tatsache der Gesinnung eines Menschen durch Fremdsteuerung umbestimmt werden, z. B. pharmakologisch oder durch Unfall. Als Schulbeispiel dient in der Literatur der Fall des amerikanischen Bauarbeiters Phineas Gage, der sich aus einem ordentlichen und zuverlässigen Mann in einen launischen und unberechenbaren verwandelte, nachdem ihm bei einer Explosion eine Eisenstange das Stirnhirn durchstoßen hatte. Dieser kausale Zusammenhang impliziert aber keine kausale Abhängigkeit der entsprechenden, für Phineas subjektiven Tatsache, die höchstens er im eigenen Namen aussagen könnte. In jener objektiven Tatsache liegt ja so wenig wie in irgend einer anderen ein sachlicher Grund, der ihm das Recht zu der Aussage geben könnte, dass es sich um ihn selbst handelt, so wenig, wie für mich in den objektiven Tatsachen, die meine Geburt (dem Ort und der Zeit nach), meine Abstammung, meine Hautfarbe, meine Berufstätigkeit usw. betreffen, irgend ein Grund für die Annahme enthalten ist, dass gerade der so beschaffene Mensch und nicht irgend ein anderer der ist, der ich bin. Nur in umgekehrter Richtung hängen subjektive und objektive Tatsachen zusammen: Ausgehend von den subjektiven Tatsachen meines affektiven Betroffenseins kann ich die Subjektivität abschälen und behalte dann objektive Tatsachen, die sich bei näherer Betrachtung mit anderen verknüpft zeigen, so dass die Verknüpfung berechtigten Anlass zu der Überzeugung gibt, dass ich gerade Hermann Schmitz und nicht z. B. Alexander der Große oder Phineas Gage bin. Wenn mir ein solches Unglück wie dem Phineas Gage zustieße und meine Gesinnung veränderte, dürfte die betreffende objektive Tatsache unbestreitbar sein, aber jeder Versuch einer Ergänzung ihres Inhalts um den Zusatz, dass diese Gesinnung die Ursache dafür sei, dass ich jetzt diese (neue) Gesinnung habe, bliebe im Bereich der objektiven Tatsachen und erreichte nicht die für mich subjektive Tatsache dieser Gesinnung, die höchstens ich aussagen kann, obwohl andere sie kenn128 https://doi.org/10.5771/9783495860755 .

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zeichnen und darüber sprechen könnten. Der grundlegende Fehler aller bisherigen philosophischen Diskussionen über Freiheit war, sie im Gebiet der objektiven Tatsachen zu suchen, und nun gar beim Willen, der durch seine Extravertiertheit besonders ungeeignet ist. Freiheit ist nur möglich als subjektive Tatsache des affektiven Betroffenseins und damit allerdings auch des Wollens, aber nur, sofern dieses ebenso wie der Schmerz oder der Hunger eine Weise des affektiven Betroffenseins ist. Bisher habe ich den rechenschaftsfähigen Menschen nur für seine eigene Gesinnung sittlich verantwortlich gemacht. Nun stellt sich die Frage, ob er durch seine Gesinnung (als Ursache) auch für andere Tatsachen sittlich – wenigstens ausreichend für den rechtlichen Schuldvorwurf – verantwortlich gemacht werden kann. Darauf antworte ich: Es spricht nichts dagegen, ich kann es aber auch nicht direkt beweisen, doch sprechen gute Gründe dafür. Kein Einwand dagegen ist der allgemeine und radikale Determinismus, wonach jedes Ding, darunter jeder Mensch, durch Fremdsteuerung, etwa nach allgemeinen Naturgesetzen, vollständig determiniert sei. Um diesen Determinismus zu widerlegen, bedarf es nicht der Quantenphysik (Heisenberg’sche Unschärferelation), sondern nur der Logik. Ich habe den Beweis mehrfach geführt und werde ihn jetzt wiederholen. Wenn jedes Ding bezüglich jeder Eigenschaft vollständig determiniert, d. h. fremdbestimmt ist, muss es jedenfalls bezüglich jeder Eigenschaft bestimmt sein, gemäß dem von Kant aufgestellten Grundsatz der durchgängigen Bestimmung: Für jedes Ding und jede Eigenschaft steht fest, ob es die Eigenschaft besitzt oder nicht. 182 Wenn dies der Fall ist, existiert eine zweistellige Funktion, die jedem geordneten Paar, bestehend aus einem Ding und einer Eigenschaft, den positiven oder negativen Wert (ja oder nein) zuordnet, je nach dem, ob das Ding die Eigenschaft besitzt oder nicht. Jede Eigenschaft ist dann also Element der Menge der Glieder eines geordneten Paares (sogar unendlich vieler solcher Mengen). Die 182 Kritik der reinen Vernunft A572 f. B600 f. Dieser Grundsatz ist übrigens nicht gleichwertig mit dem Satz vom ausgeschlossenen Dritten, wonach für jeden Satz (Spruch) mindestens er oder sein Negat wahr ist. Man muss nämlich bedenken, dass auch das Vorkommen von Zwiespalt und Unentschiedenheit wahr sein kann; wenn man das Feld möglicher Wahrheit so weit fasst, wird der Satz vom ausgeschlossenen Dritten mit der Negation des Grundsatzes der durchgängigen Bestimmung vereinbar. Die herkömmliche Logik hat das nicht berücksichtigt und sich dadurch in Antinomien verstrickt, vgl. aber meinen Verbesserungsvorschlag: Logische Untersuchungen, Freiburg i. Br./München 2008, S. 115–143.

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Menge der Glieder eines geordneten Paares ist eine endliche Menge. Element einer endlichen Menge zu sein, ist logisch gleichwertig mit der Eigenschaft, einzeln zu sein, d. h. eine Anzahl um 1 zu vermehren.2 Der Grundsatz der durchgängigen Bestimmung kann also nur zutreffen, wenn jede Eigenschaft einzeln ist. Ich zeige nun, dass dies nicht der Fall ist. Jede Eigenschaft ist Bestimmung eines von ihr bestimmten Etwas, das ich jetzt ohne Beschränkung der Allgemeinheit, lediglich um der bequemen Ausdrucksweise willen, »Ding« nennen will. Sie ist solche Bestimmung nur dadurch, dass sie dem Ding zukommt. Dieses Zukommen ist die eine Seite des Verhältnisses, das, von der anderen Seite gesehen, das Bekommen der Eigenschaft für das Ding ist; Zukommen und Bekommen sind die beiden Beziehungen, in die das Verhältnis gespalten werden kann. Jede Bestimmung oder Eigenschaft ist es nur dadurch, dass sie dem bestimmten Ding zukommt. Dieses Zukommen ist eine Bestimmung der Bestimmung. Daraus ergibt sich ein regressus in infinitum. Sei nämlich Z0 irgend eine Bestimmung, z. B., ein Baum zu sein (die Baumheit). Sie kommt dem Bestimmten nur durch ihr Zukommen Z1 zu. Z1 ist eine Bestimmung von Z0, kommt Z0 also nur durch ein Zukommen Z2 zu. Z2 ist eine Bestimmung von Z1, kommt Z1 also nur durch ein Zukommen Z3 zu, usw. in infinitum. Diese Komplikation des Zukommens wäre nicht gefährlich für den Erfolg des Zukommens, wenn die Kette eine endliche Länge hätte; denn das Zukommen ist ja dasselbe Verhältnis wie das Bekommen, nur von der anderen Seite gesehen. Wenn die Kette z. B. nur drei Glieder hätte, würde das zu bestimmende Ding das Bekommen des Bekommens des Bekommens der Baumheit bekommen, und dann wäre es ein Baum nicht weniger, als wenn ihm die Baumheit mit einem Schlage zugekommen wäre. Notwendig ist dafür nur, dass das Ding letztes Glied der Kette des Zukommens, also erstes Glied der Kette des Bekommens ist. Wenn die Kette aber, wie gezeigt wurde, ins Unendliche absteigt, kann sie kein letztes Glied haben, und dann kann es kein erstes Glied des Bekommens geben, wo das Ding auf die Bestimmung wartet. Also muss dann, da das Argument für beliebige Bestimmungen gilt, alles unbestimmt sein. Das ist aber nicht der Fall. Das Raisonnement muss also einen Fehler enthalten. Dieser ist leicht zu finden. Es wird nämlich stillschweigend vorausgesetzt, dass jede Bestimmung einzeln ist, d. h. eine Anzahl um 1 vermehrt. Nur deswegen kann die Kette absteigenden Zukommens in Schritten aufgebaut werden, die, jeweils eine Anzahl um 1 vermehrend, von Z0 zu Z1, zu Z2 usw. führen. Diese Annah130 https://doi.org/10.5771/9783495860755 .

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me ist also falsch. Nicht alle Bestimmungen (Eigenschaften) einer Sache sind einzeln. Dann kann also der Grundsatz der durchgängigen Bestimmung nicht zutreffen. Dann kann auch die These des allgemeinen Determinismus nicht richtig sein, was zu beweisen war. Diese Widerlegung des allgemeinen Determinismus reicht nicht aus, um jeden speziellen Determinismus bezüglich gewisser Eigenschaften zu widerlegen, z. B. bezüglich physikalischer Eigenschaften wie Anziehungskraft von Körpern, Druck und Temperatur von Gasen. Die Annahme eines speziellen Determinismus ist aber nur vernünftig, wenn sie triftig begründet werden kann, z. B. durch einen genau bestimmten naturgesetzlichen Zusammenhang, der sich in wiederholten Experimenten bewährt. In Gedankenspielen kann man willkürlich jede Eigenschaft einem speziellen Determinismus unterwerfen, z. B. auch in den Gebieten des Denkens und Wollens. Wie aber ein Naturgesetz aussehen sollte, das Gesinnungen so wie Drucke und Temperaturen von Gasen reguliert, ist gar nicht vorstellbar. Für einen Determinismus der Gesinnung gibt es also keinen Anlass, auch wenn sich immer wieder Beispiele anführen lassen, wo, wie im Fall von Phineas Gage, äußere Umstände einen Wechsel objektiver Tatsachen der Gesinnung bewirken. Erst recht ist kein triftiger Einwand gegen die Annahme absehbar, dass die subjektiven Tatsachen der Gesinnung auch in der Welt der objektiven Tatsachen Wirkungen haben, die über die Gesinnung selbst hinausgehen. Wenn es sich so verhält, gilt der Satz: Nicht, was der Mensch sich vornimmt, sondern das, was er frisch im Augenblick als Gesinnung in sein affektives Betroffensein einsetzt, und damit die Art, wie er als affektiv Betroffener jeweils bei der Sache ist, gibt ihm kausale Macht aus eigener unabhängiger Initiative. Der Determinismus hat, nach einem Vorspiel im 19. Jahrhundert, etwa seit dem letzten Viertel des 20. Jahrhunderts sehr laute und aggressive, auf Publizität bedachte Fürsprecher in Gehirnspezialisten gefunden, die aus ihrer Wissenschaft ein materialistisches Weltbild herleiten, in dem das Gehirn entweder das Erbe der Seele übernimmt oder das sogenannte Seelenleben und Bewussthaben zu einem kausal impotenten Epiphänomen seiner Funktion herabsetzt; Philosophen aus der Schule der analytischen Philosophie stimmen eifrig zu und verbreiten dieses Weltbild. Ich bin weit davon entfernt, die Seele oder ihr Nachbild, den James-Husserl’schen »Bewusstseinsstrom«, retten zu wollen und stimme mit den Deterministen darin überein, dass es keine Willensfreiheit gibt, wenigstens keine spezifische, die das Wollen vor an131 https://doi.org/10.5771/9783495860755 .

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deren Weisen des affektiven Betroffenseins begünstigte. Dennoch halte ich die Argumentation dieser modernsten Materialisten für völlig missraten. Sie übersehen die Grenzen der naturwissenschaftlichen Erkenntnis 183 , die völlig ungeeignet ist, eine zureichende Argumentationsbasis für den Aufbau der Metaphysik eines materialistischen Weltbildes abzugeben. Aber auch die Auffassung der Deterministen vom Wollen ist schlecht begründet. Sie stützen ihre Auffassung hauptsächlich auf ein Experiment, das Libet eingeführt hat und andere ausgebaut haben. Libet veranlasste Personen unter elektroenzephalographischer Kontrolle, zu frei gewählter Zeit mit dem Finger einen Knopf zu drücken und zu signalisieren, wann sie den Entschluss zum Knopfdruck gefasst hatten. Er stellte fest, dass im EEG regelmäßig schon kurz (im mittleren Millisekundenbereich) vorher ein Ereignispotential auftrat, das den Entschluss vorwegnahm. Daraus wurde geschlossen, dass der Entschluss vom Gehirn vorweggenommen, also fremdgesteuert sei. Dieser Schluss beruht auf einer schlechten Phänomenologie des Wollens. Nach meinen Ermittlungen 184 umfasst dieses zwei Phasen: erstens die Bildung einer Absicht und zweitens die Zuwendung des vitalen Antriebs zu der gebildeten Absicht. Die Absichtbildung war bei den Versuchspersonen von Libet schon abgeschlossen, als sie, instruiert und bereitwillig, in den Versuch eintraten. Zum Knopfdruck bedurfte es nur einer in dieser Lage völlig unproblematischen, keiner Überwindung einer Hemmung bedürftigen Zuwendung des vitalen Antriebs. Es ist nicht erstaunlich, dass das Gehirn dem schon weniger als eine halbe Sekunde vorher ein Zeichen setzte, aber daraus darf man nicht schließen, es habe das viel längerfristige Wollen vorweggenommen. Bei allen solchen Studien bleiben die Naturforscher im Bereich der objektiven Tatsachen und reichen nicht an die subjektiven Tatsachen heran, bei denen man erst angekommen sein muss, um sinnvoll nach Freiheit im Sinne der Verantwortungsfreiheit fragen zu können.

183 Hermann Schmitz, Jenseits des Naturalismus, Freiburg i. Br./München 2010, S. 24– 77: Grenzen der naturwissenschaftlichen Erkenntnis 184 Hermann Schmitz, Bewusstsein, Freiburg i. Br./München 2010, S. 95–109: Wollen

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2.2.12 Die Schuld des Verbrechers Verbrecherische Schuld ist eine Eigenschaft des Schuldigen, und zwar der Inbegriff der Merkmale, die ihn zum Verdichtungsbereich eines nach Maßgabe der Rechtskultur unerträglichen Zorns (oder einer solchen Scham) qualifizieren, wobei dieser Zorn (diese Scham) in einem ebenso unerträglichen Unrecht verankert ist. In einer einflussreichen Entscheidung vom 18. März 1952 hat der deutsche Bundesgerichtshof die Schuld anders verstanden: »Schuld ist Vorwerfbarkeit. Mit dem Unwerturteil der Schuld wird dem Täter vorgeworfen, dass er sich für das Unrecht entschieden hat, obwohl er sich rechtmäßig verhalten, sich für das Recht hätte entscheiden können.« 185 Dem Unrecht, das in der Tat dem Schuldigen vorgeworfen wird, wird die Entscheidung für das Unrecht unterschoben; damit sind alle Verbrechen aus Unachtsamkeit (2.2.10) entschuldigt, da sie ohne solche Entscheidung auskommen. Außerdem verwechselt der Bundesgerichtshof Verantwortungsfreiheit mit Wahlfreiheit, sogar verschärft zum Anderskönnen, obwohl sich unter 2.2.11 herausgestellt hat, dass Verantwortungsfreiheit ohne Wahlfreiheit, also erst recht ohne Anderskönnen, auskommt. Außerdem ist die Vorwerfbarkeit nicht selbst die Schuld, sondern durch seine Schuld wird der Verbrecher empfänglich für den Vorwurf des Unrechts an ihm. Vorwerfbarkeit ist also eine Beziehung des Unrechts auf den schuldigen Verbrecher. Der Unterschied zwischen Schuld und Unrecht ist begrifflich klar, aber die Umfänge beider Begriffe überschneiden sich, weil in vielen Fällen Merkmale der Schuld das Unrecht mitbegründen. Das ist immer dann der Fall, wenn die Gesinnung, Sitz der Verantwortungsfreiheit (2.2.11) und damit der Schuld, am Unrecht beteiligt ist. Fast alles verbrecherische Unrecht ohne Vorsatz besteht in Unterlassungen aus schuldhafter Gesinnung (Unachtsamkeit als Leichtfertigkeit, Roheit, Stumpfheit); durch die Gesinnungsmerkmale von Straftatbeständen (gehäuft beim Mord nach § 211 Strafgesetzbuch, aber auch als Rücksichtslosigkeit im Straßenverkehr nach § 315c2, und in anderen Fällen) 186 begründen Unrecht und Schuld zugleich. Wenn diese Überschneidung nicht genügend beachtet wird, entstehen Scheinprobleme Entscheidungen des Bundesgerichtshofes in Strafsachen Band II S. 201 Hans-Heinrich Jeschek, Lehrbuch des Strafrechts, Allgemeiner Teil, Berlin 1969, S. 311 185 186

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wie bezüglich des Erfolgs bei Fahrlässigkeit: »Auf die Gretchenfrage: Wieso ist der Erfolgseintritt beim fahrlässigen Delikt (unrechts-) und schuldbegründend oder auch nur – erhöhend? ist eine befriedigende Antwort nicht zu finden.« 187 Der Erfolg gehört nur zum Unrecht, die Fahrlässigkeit sowohl zum Unrecht als auch zur Schuld; durch die Größe des Erfolges – ein besonders schlimmes Unglück – wird die Schuld nicht größer, wohl aber das Verbrechen als Vereinigung von Unrecht und Schuld, und damit kann die Strafe angemessen steigen. Zwecks bequemer und präziser Anwendung von Strafrechtsnormen wird das Unrecht in der Justiz zum Tatbestand abgeschliffen, der je nach Verbrechensart auf wenige Merkmale, die in der (meist staatlichen) Satzung angeführt sind, eingeschränkt ist; weil diese Vergröberung oft über das Unrecht hinausschießt, entstehen die Probleme der Rechtfertigung trotz Tatbestandserfüllung. Dem Unrechtstatbestand wird in der Strafrechtsdogmatik ein Schuldtatbestand an die Seite gestellt. Diese Parallelisierung bringt zwei Gefahren. Erstens ist die Aufgabe beim Schuldtatbestand nicht die präzisierende Abschleifung der Schuld, sondern die Ermittlung aller für Schuld relevanten Merkmale. Zweitens legt die Parallelität zusammen mit dem Wort »Tat« eine enge Anbindung der Schuld an die Zeit des Geschehens der Tat oder Unterlassung, die Unrecht sind, nahe. Die Schuld soll als »Tatschuld« möglichst nah an das verbrecherische Unrecht herangerückt werden. Deswegen eifert z. B. Jürgen Baumann gegen die von Mezger eingeführte Lebensführungsschuld mit dem Einwand: »Nicht die Lebensführung des Täters steht im Strafrecht zur Debatte, sondern die vom Täter begangene Tat. Der Rechtsunterworfene mag sein Leben so schlecht führen, wie er will, für das Strafrecht zählen nur Straftaten.« 188 Als Unrecht zählt nur die Straftat, aber das besagt doch nichts über das (auch zeitliche) Ausmaß der Schuld. Es ist nicht einzusehen, warum die mit der Tat kausal zusammenhängende Lebensführung des Verbrechers über längere oder kürzere Zeit nicht so unerträglich empörend (nach Maßgabe der Rechtskultur) sein könnte, dass daraus seine Schuld entsteht. Das Gegenteil wird evident an der in Übereinstimmung mit dem herrschenden Rechtsgefühl vom Strafgesetzbuch in § 330a mit Strafe

187 Armin Kaufmann, Das fahrlässige Delikt, in: Zeitschrift für Rechtsvergleichung, 5. Jahrgang, Wien 1964, S. 43 188 Jürgen Baumann, Strafrecht. Allgemeiner Teil, 5. Auflage Bielefeld 1968, S. 348

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bedachten Rauschtat bei vorsätzlicher oder fahrlässiger Vergiftung bis zur Unzurechnungsfähigkeit durch Alkohol oder andere Rauschgifte. In diesem Fall ist die Schuld nur als Lebensführungsschuld erkennbar; wenn man diese ungeahndet lässt, wäre das wiederum empörend, eventuell gar ein neues Verbrechen. Nach diesen grundsätzlichen Erörterungen gehe ich zur Prüfung der Schuldmerkmale über. Zur Schuld gehören wenigstens eine kausale Verknüpfung mit dem Unrecht, Verantwortungsfreiheit gemäß 2.2.11 und für das Unrecht einschlägige Kenntnisse oder doch deren Zumutbarkeit. Auf die Kausalität (s. o. 2.2.10) gehe ich nicht mehr ein; die beiden anderen Merkmalsorten werde ich anschließend erörtern. Die im Strafrecht bislang herrschende Auffassung von Freiheit als Voraussetzung von strafrechtlicher Schuld ist unhaltbar, überdies willkürlich und oberflächlich begründet. Sie missversteht Freiheit als Willens- und Wahlfreiheit mit Anderskönnen im Gebiet objektiver Tatsachen. Gemäß dem unter 2.2.11 gewonnenen Ergebnissen muss die aus ihr sich ergebende Auffassung von Schuld in mindestens drei Hinsichten korrigiert werden: 1. Zur Schuld gehört nicht notwendig ein Anderskönnen. 2. Schuld erfordert nicht freien Willen, sondern freie Gesinnung. 3. Schuld gehört zu den für jemand subjektiven Tatsachen, die nicht der Determination durch objektive Tatsachen unterliegen. (Allerdings gibt es zu jeder subjektiven Tatsache die objektive, dass es diese subjektive Tatsache gibt.) Umgekehrt sind aber von subjektiven Tatsachen aus objektive Tatsachen allem Anschein nach kausal erreichbar. Im Licht dieser Einsichten darf bei der Prüfung des Schuldausschlusses wegen Unfreiheit nicht mehr gefragt werden, welche objektiven Tatsachen das Anderskönnen behindert oder aufgehoben haben könnten, sondern von der Gesinnung aus ist zu fragen, welche Hindernisse ihren kausalen Effekt gehemmt haben können, so dass die Freiheit nicht wirksam werden konnte. Ein Fund solcher Hindernisse hat sich unter 2.2.10 schon ergeben: Beim Handeln in Affekt steht der Handelnde anfangs so im Bann des ihn ergreifenden Gefühls, dass durch dessen Impuls unvermeidlich sein eigener mitgerissen wird; eine Zurechnung der Handlung zu seiner Freiheit kommt daher erst nach dieser Anfangsphase in Betracht, wenn er zu Preisgabe an das Gefühl oder Widerstand gegen es fähig geworden ist. Traum, Somnambulismus, epileptische oder toxische Dämmerzustände, Desorientiertheit nach psychischen Traumen (»im falschen Film sein«), Psychosen, Idiotie, Demenz können ebensolche Hindernisse setzen, aber nicht schwere 135 https://doi.org/10.5771/9783495860755 .

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Neurosen, Psychopathien und Triebstörungen 189 und schon gar nicht Schäden am Erbgut oder im Gehirn. Die Auffassung der strafrechtlichen Schuld als Gesinnungsschuld ist nicht neu. Der Strafrechtler Gallas schrieb 1968: »Schuld ist somit Vorwerfbarkeit der Tat mit Rücksicht auf die darin betätigte rechtlich missbilligte Gesinnung.« 190 Der Determinist Franz v. Liszt, der von Freiheit und sittlicher Verantwortung nichts wissen wollte und das Verbrechen als Wahnsinn einstufte, wollte Schuld und Strafe allein an der verbrecherischen Gesinnung des Täters festmachen, weil an diesem nur sie zu bessern sei und er Strafe nur als Weg zur Besserung anerkannte. 191 Man hat ihm entgegengehalten, dass die in der Gesinnung gelegene Gefährlichkeit eines Menschen nicht mit Sicherheit feststellbar sei 192 , und die Verschwommenheit und Dehnbarkeit des Wortes beanstandet. 193 Das zweite Bedenken dürfte, wenigstens, was den von mir eingeführten Begriff der Gesinnung betrifft, gehoben sein. Was aber das erste Bedenken angeht, so steckt darin der Verdacht, dass die Gesinnung eines Menschen nicht mit hinlänglicher Sicherheit von einem anderen intuitiv erfasst werden kann. Das ist Ergebnis einer falschen, wenn auch tief eingefleischten Wahrnehmungslehre. 194 Man bildet sich ein, dass nur Sinnesqualitäten und geometrische Eigenschaften direkt wahrgenommen würden, alle Bedeutungen aber ohne vergleichbare Gewissheit erschlossen werden müssten. Das Gegenteil ist richtig. Die Bedeutung, wodurch etwas als Fall einer Gattung bestimmt ist, gehört schon dazu, dass es einzeln sein und einzeln wahrgenommen werden kann 195 , kann also nicht nachgereicht werden, und alle solche Bestimmungen sind nur möglich, indem sie aus einem Teich So Jeschek, wie Anm. 195, S. 290, für das Ausland S. 293 Wilhelm Gallas, Beiträge zur Verbrechenslehre, Berlin 1968, S. 56 191 Heinz Holzhauer, Willensfreiheit und Strafe. Das Problem der Willensfreiheit in der Strafrechtslehre des 19. Jahrhunderts und seine Bedeutung für den Schulenstreit, Berlin 1970, S. 187 f. 192 Ebd. S. 189 f. 193 Arthur Kaufmann (Das Schuldprinzip, Heidelberg 1961, S. 150) hält es für »außerordentlich schwer, zu bestimmen, was ›Gesinnung‹ eigentlich ist. Es handelt sich um einen sehr komplexen und schillernden Begriff, der bei den einzelnen Autoren die unterschiedlichsten Bedeutungen annimmt.« 194 Zur Berichtigung: Hermann Schmitz, Bewusstsein, Freiburg i. Br./München 2010, S. 120–132: Wahrnehmung; ältere Darstellung: System der Philosophie Band III Teil 5, Bonn 1978, in Studienausgabe 2005: Die Wahrnehmung 195 Bewusstsein S. 14–18, 49 f. 189 190

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chaotischer Mannigfaltigkeit von nicht einzelnen Bestimmungen herausgefischt werden (2.2.11), so wie nach Aristoteles kein Läufer eine noch so kleine Strecke ganz durchlaufen kann, ohne nebenbei unendlich viele Teile durchlaufen zu haben. 196 Handhabbar wird diese Fülle durch Integration in Situationen. Der Autofahrer, der auf regennasser, dicht befahrener Straße einem drohenden Unfall nur durch augenblickliches Ausweichen, Bremsen oder Beschleunigen entgeht, muss mit einem Schlage die Gefahr als eine durch binnendiffuse Bedeutsamkeit zusammengehaltene Situation erfassen und sofort angemessen reagieren; zu der Bedeutsamkeit gehören Sachverhalte der Straßenlage (vor, neben und hinter ihm), Probleme der unmittelbar und bei Ausweichen etwa zusätzlich drohenden Zusammenstöße und Programme möglicher Rettung, aber nicht als lauter einzelne, weil das Unglück längst geschehen wäre, wenn er sich Zeit zur Analyse nähme. Sinnesqualitäten und geometrische Eigenschaften kommen in dem, was er erfasst, nur als Garnierung vor. Was für dieses motorische Wahrnehmen gilt, trifft ebenso für das sensible zu. Der Richter, der die Gesinnung eines Angeklagten erforschen und bewerten soll, befindet sich diesem gegenüber in derselben günstigen Situation wie allgemein ein Mensch beim Zugang zur persönlichen Situation (oder Persönlichkeit) eines anderen vom frischen Eindruck in der Begegnung aus. 197 Er kann sich zwar nicht auf diesen Eindruck verlassen, ihn aber als Zugang vom Ganzen her, mit Hilfe weiterer Informationen das Einzelne korrigierend, ergänzend und zurechtrückend, in einer Weise nützen, die dem betroffenen Menschen selbst nicht möglich ist. An die fremde Gesinnung kommt man manchmal leichter heran als an die eigene. Außer der Unwirksamkeit der freien Gesinnung kommt als Schuldausschließungsgrund Unkenntnis oder Unzumutbarkeit von Kenntnis in Betracht. Da die Gesinnung der Sitz der sittlichen Verantwortung und damit der Schuld ist, muss sich die Entscheidung danach richten, in welchem Maß die Unkenntnis oder ihre Unzumutbarkeit geeignet ist, die Gesinnung von sittlichem Vorwurf zu entlasten. Dabei ist zwischen Schuldmerkmalen, die auch im Unrecht vorkommen und reinen Schuldmerkmalen zu unterscheiden. Zur ersten Gruppe gehören die Gesinnungsmerkmale der Vorsatzverbrechen sowie die UnachtAristoteles Physik 263b3–9 Vgl. z. B. Hermann Schmitz, Hermeneutik leiblicher Expressivität, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 53, 2005, S. 339–347 196 197

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samkeitsmerkmale (Fahrlässigkeit, Rohheit, Stumpfheit) der unvorsätzlichen Unterlassungen. In diesen Fällen entschuldigt nicht nur Unkenntnis, sondern nicht einmal direkter Irrtum keineswegs. Niedrige Beweggründe beim Mord, Rücksichtslosigkeit beim Straßenverkehr mit dem Auto, Leichtfertigkeit, Rohheit und Stumpfheit belasten auch den, der glaubt, seine Beweggründe seien sehr edel, er sei (mit arrogantem Maßstab messend) hinlänglich rücksichtsvoll, sorgfältig, fein empfindlich. Unzumutbarkeit der Kenntnis, bei Gesinnungsmerkmalen des Vorsatzes kaum vorstellbar, würde bei Vorsatz vielleicht, bei unvorsätzlicher Unachtsamkeit sicherlich entschuldigen, sofern die Gesinnung dadurch sehr viel harmloser wird, etwa im Fall eines Kindes oder eines auf infantilem Niveau stehen gebliebenen Erwachsenen. Zu den reinen Schuldmerkmalen gehören die, die durch Unkenntnis oder Unzumutbarkeit der Kenntnis über Rechtsnormen entfallen oder gemildert werden können. Hier muss man nach Normtypen unterscheiden. Bei Verstößen gegen Randnormen kann sich der Täter zwar nicht mit bloßer Unkenntnis entschuldigen, sofern er Gelegenheit hatte, sich zu erkundigen, aber man wird die Hürde, von der ab die Unzumutbarkeit beginnt, nicht allzu hoch hängen dürfen; denn die Randnormen könnten ja auch anders ausfallen, ohne dass das Ergebnis empörend oder beschämend wäre. Entsprechendes gilt für die unechten Rechtsnormen, an denen die Rechtsordnung (anders als etwa der Staat) kein Interesse hat, abgesehen davon, dass sie im Rang, auch hinsichtlich des Schuldvorwurfs, nicht über die Randnormen gestellt werden sollen. Schalennormen, die mit bedingtem Ernst verbindlich gelten, stellen etwas höhere Ansprüche an Verbotskenntnis, doch sollten die Hürden für Entschuldigung auch bei ihnen, wie bei Randnormen, nicht zu hoch gehängt werden; Unzumutbarkeit der Kenntnis von Schalennormen entlastet von Schuld. Beim Verstoß gegen Kernnormen ist dagegen Unkenntnis, sogar Unzumutbarkeit der Kenntnis, im Allgemeinen unerheblich für Schuld. Die Gesinnung beim Verstoß gegen sie kann genau so verwerflich sein, wenn sie dem Täter unbekannt sind, und die Verwerflichkeit kann mit der Unzumutbarkeit der Kenntnis sogar noch steigen – immer in der Perspektive der Kerngruppe des Rechtsvolks –, wenn der Täter sich (z. B. arrogant) in seiner verwerflichen Gesinnung so eingenistet hat, dass er sich gar nicht mehr vorzustellen vermag, ihm könne etwas vorzuwerfen sein. Wer mit roher, niederträchtiger oder heimtückischer Gesinnung eine Übeltat begangen hat, soll sich nicht damit herausreden können, in seinem Lebenskreis sei solche Ge138 https://doi.org/10.5771/9783495860755 .

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sinnung so selbstverständlich, dass er gar nicht auf die Idee kommen konnte, etwas anderes könne geboten sein. Dennoch wage ich nicht, beim Verstoß gegen Kernnormen auf das Erfordernis zumutbarer Verbotskenntnis ganz zu verzichten. Ein Mensch von achtbarer Gesinnung, der als Ausländer – z. B. als Gastarbeiter, Kriegsgefangener oder Angehöriger eines Kolonialvolks – in den Herrschaftsbereich einer ihm fremden Rechtskultur kommt, kann in seiner angestammten Rechtskultur so tief verwurzelt sein, dass ihm allenfalls die Kenntnisnahme von den Regeln in seiner neuen Umgebung zugemutet werden kann, nicht aber die Erkenntnis, dass sie auch in seiner Perspektive für ihn gelten. Dann könnte es Unrecht sein, ihm trotz seiner tadellosen Gesinnung Schuld zuzusprechen. Ein alter Isländer (vor der Christianisierung) hielt die Blutrache für seine heiligste Aufgabe, der er mit unbedingtem Ernst verpflichtet war, und war von dieser Überzeugung ganz und gar durchdrungen; was sollte man mit einem solchen Menschen heute anfangen? Um diese Schwierigkeit zu umgehen, habe ich ein Achtbarkeitsprinzip aufgestellt, das in der Lage ist, alle Abwägungen über Erfordernis und Zumutbarkeit von Kenntnissen bei der Schuldzuschreibung teils in sich aufzunehmen, teils überflüssig zu machen, und das auch die verminderte Schuldfähigkeit z. B. bei Kindern, Jugendlichen und geistig Behinderten umfasst. Es lautet: (I) Wenn die Gesinnung des Täters zur Tatzeit nach Maßgabe der Rechtskultur uneingeschränkt achtbar ist, entfällt die Schuld (II) Die Schuld wird geringer, (1) je achtbarer die Gesinnung des Täters zur Tatzeit nach Maßgabe der Rechtskultur ist, (2) auf Grund gewisser typischer Merkmale der Persönlichkeit des Schuldigen, die das Nichtachtbare seiner Gesinnung zur Tatzeit nach Maßgabe der Rechtskultur in einem milderen Licht erscheinen lassen. In der Bezeichnung »Täter« ist selbstverständlich der Unterlasser mitverstanden. Dieses Achtbarkeitsprinzip, der gesamten Strafrechtsfindung zu Grunde gelegt, hätte den großen Nutzen, das eigentliche Strafrecht von allem, was ins Nebenstrafrecht gehört, einschließlich der präventiven Strafzwecke, ganz scharf abzugrenzen. Strafe ist Vergeltung der Schuld an Unrecht und muss daher der Gesinnung so angepasst werden, wie es dem Achtbarkeitsprinzip entspricht. Fragen des Gewichts von Kenntnis und Zumutbarkeit der Kenntnis für Schuld 139 https://doi.org/10.5771/9783495860755 .

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gehören dann in die Erörterungen über Schuldminderung; denn Unkenntnis, gar noch gesteigert zur Unzumutbarkeit der Kenntnis, kann zur relativen Unschuld der Gesinnung beitragen. Das Achtbarkeitsprinzip gestattet, alle Zwecke der Sicherung und Prävention von der Vergeltung sauber abzuspalten. Dann verlangen diese Zwecke aber Befriedigung auf andere Weise, im Sicherungsrecht. Hier hat die grobe Maxime Goethes36 – Polizei statt Justiz – einen Platz. Dabei braucht man nicht immer so weit zu gehen, den als gefährlich verdächtigten Menschen, den man nicht bestrafen kann, im Rahmen des Sicherungsrechtes einzusperren (Sicherungsverwahrung). Die moderne Technik bietet jetzt schon Möglichkeiten einer milderen Kontrolle (»elektronische Fußfessel«) und wird diese vermutlich noch perfektionieren. Wie jetzt schon Herzschrittmacher, könnte es Ortsmarkierer geben, die in den Körper des gefährlichen Menschen eingepflanzt werden und der Polizei gestatten, jeden seiner Schritte zu verfolgen. Dann mag er gehen, wohin er will, außer dahin, wo Unheil von ihm zu gewärtigen ist.

2.3 Die Moral Eine Moral ist eine Rechtskultur, deren Rechtsvolk einen einzigen Angehörigen hat und deren Rechtsordnung nur aus Kernnormen besteht, die in der Perspektive des Angehörigen mindestens für ihn als Adressaten durch die Autorität von Gefühlen mit unbedingtem Ernst verbindlich gelten. Diese Gefühle sind die rechtlichen Urgefühle Zorn und Scham; zu ihnen kommt das Schuldgefühl. Es gleicht der Scham durch Hemmung der leiblichen Richtungen in die Weite mit Umkehrung in die paradoxe Tendenz, sich in sich selbst zu verkriechen, unterscheidet sich von ihr aber dadurch, dass die Vektoren des Schuldgefühls nicht zentripetal, sondern drückend sind, wodurch das Schuldgefühl der Trauer (dem Kummer) verwandt wird. Jedoch wirkt das Schuldgefühl im Gegensatz zum Kummer, der diffus und divergent drückt, leiblich pressend oder schnürend (wie die Angst, deren expansive, von Hemmung aufgehaltene Tendenz es aber nicht teilt) auf den Ergriffenen ein; dadurch hat die Ergriffenheit von Schuldgefühl, wie die von Scham, eine zerstörerische, zerknirschende Mächtigkeit, die der Ergriffenheit von Kummer abgeht. Als Vorgefühl entspricht diesen Urgefühlen in der Moral nur das hemmende Vorgefühl der Scham, die Aidos 140 https://doi.org/10.5771/9783495860755 .

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(2.2.3), wie man besser als »Schamhaftigkeit« sagt, da dieses im Deutschen einzig verfügbare Wort, das schon für das Recht wenig passend ist, in der Moral nahezu komisch wirken würde. Diese Aidos hat hier die Gestalt des warnenden Gewissens; es warnt vor dem katastrophalen Ausbruch des richtenden Gewissens, d. h. der moralischen Scham und des Schuldgefühls. Ich bezeichne die Gefühle, die in einer Moral Autorität haben, als Gewissensgefühle, je nach dem als Gewissenszorn, -scham, -schuldgefühl, -aidos. Sie kommen aber nicht sämtlich im Gewissen im herkömmlichen Sinn unter, da dieses introvertiert (auf den Ergriffenen selbst bezüglich) ist, während der Gewissenszorn sich als moralische Empörung nach außen entlädt. Viele Menschen können dieselben Gewissensgefühle mehr oder weniger teilen, z. B. das »Anstandsgefühl der billig und gerecht Denkenden« als Quelle eines Rechtszustandes (2.2.4); die Autorität mit unbedingtem Ernst dieser Gefühle kann sich aber nur in der Selbstprüfung des Einzelnen – einschließlich seiner eventuell unerschütterlichen Selbstsicherheit – bewähren und ist darauf angewiesen. Das ist der Grund für die Beschränkung eines moralischen Rechtsvolks auf je eine Person, der höchstpersönliche Charakter der Moral. Er ergibt sich daraus, dass die Person einer Autorität mit unbedingtem Ernst nicht einmal auf dem höchsten ihr erreichbaren Niveau personaler Emanzipation gewachsen ist, so dass sie dieser Autorität die Bereitschaft zum Gehorsam auch bei Mobilisierung aller Reserven ihrer Kritikfähigkeit nicht anders als zwiespältig (s. o. 1) entziehen kann; wo aber dieses höchste Niveau liegt, kann von Person zu Person, aber auch für jede Person von Zeit zu Zeit, verschieden sein und bedarf daher, wenn irgend ein Zweifel in Frage kommt, beständiger Selbstprüfung. Das ist die Aufgabe der Vernunft in der Moral. Sie kann den Gefühlen nicht mit eigener Gesetzgebung überlegen entgegentreten, wie Kant meinte, der dann doch nicht ohne das Gefühl der Achtung als Triebfeder der sonst antriebslosen Vernunft auskam und dessen Hilfestellung durch eine verschrobene psychologische Konstruktion (Achtung mit Ressentiment verwechselnd 198 ) bemäntelte. Die Vernunft (die personale Emanzipation) ist für die Moral erforderlich, um die Autorität von Gefühlen kritisch auf die Probe zu stellen und daran, dass sie sich in der Probe geschlagen geben muss, den unbedingten Ernst moralischer Gefühle zu erweisen. Kleine Kinder können 198

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daher noch keine Moral haben, da sie solcher kritischen Probe noch nicht fähig sind. Die moralischen Impulse entstammen der Dynamik des Gefühls, dessen Autorität sich als echt moralische vor der Vernunft zu bewähren hat. Für das Ergebnis dieser Bewährungsprobe auf der »augenblicklichen Goldwaage der Empfindung« 199 gibt es kein Rezept, sondern nur die Wegräumung aller Hindernisse durch unerschrockene selbstkritische Offenheit: »Bereitschaft ist alles.« 200 Es kann sogar geschehen, dass sich bei der Prüfung kein Niveau personaler Emanzipation als das höchste, von einer Autorität noch überstiegene erweist und die »Freiheit des Geistes« sich durchsetzt, die Nietzsche an dem vermeintlichen Assassinenwort preist: »Nichts ist wahr, alles ist erlaubt.« 201 Damit wird die Bedingungslosigkeit von Moral auf die Evidenz ausgedehnt; in dieser Form kann sie nur im Kranken- oder Irrenhaus enden. Realistischer ist Max Stirners Radikalisierung der romantischen Ironie, sich von jedem Standpunkt zurückziehen und auf jeden versetzen zu können, zur vollendeten Frivolität dessen, der »sein Sach’ auf Nichts gestellt« hat 202 ; ein solcher könnte Nietzsches Formel so variieren: »Alles ist erlaubt, aber nichts lohnt sich mehr.« Noch aus einem anderen Grund ist jeder für seine Moral auf sich allein angewiesen. Die durch Autorität von Gefühlen verbindliche Geltung von Normen in der Perspektive von jemand stammt ebenso wie die Tatsächlichkeit der für ihn subjektiven Sachverhalte aus seinem leiblich-affektiven Betroffensein. Was ich moralisch soll, ist genau so für mich subjektiv und höchstens durch mich sagbar wie eine Tatsache meines affektiven Betroffenseins. Entsprechend ist der Wunsch der Mutter, dass ihr Sohn heil aus dem Krieg zurückkehre, und der Wunsch der Offiziere, dass der Schlachtplan gelingen möge, jeweils ein anderes, reicheres Programm als das objektive, das herauskommt, wenn später der Geschichtslehrer in einer mehr oder weniger langweiligen Schulstunde davon erzählt. Die subjektive Bedeutung (Sachverhalt, Programm, Problem) ist immer reicher als die aus ihr abgezogene objektiHeinrich v. Kleist, Amphitryon Vers 1395 f. Shakespeare, Hamlet, 5. Akt, 2. Szene 201 Zur Genealogie der Moral, 3. Abhandlung, § 24 (Nietzsches Sämtliche Werke, kritische Studienausgabe von Colli und Montinari, Band 5, S. 399) 202 Zu Max Stirner Hermann Schmitz, Selbstdarstellung als Philosophie. Metamorphosen der entfremdeten Subjektivität, Bonn 1995, S. 62–89; Der Weg der europäischen Philosophie. Eine Gewissenserforschung, Freiburg i. Br./München 2007, Band 2, S. 467–470 199 200

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ve (neutrale), trotz gleichen Inhalts, und entsprechend ist die subjektive Geltung einer mit absolutem Ernst geltenden moralischen Norm in der Perspektive von jemand anders und reicher als die objektive oder neutrale Geltung, die man ihr unterschieben kann. Diese kann jene nicht begründen. Die Entdeckung der strikten Subjektivität jenseits der objektivierten Neutralität und des bei Hume ganz zur psychologisch ausbeutbaren Sache gemachten Menschen durch Fichte, »die tiefste Bruchstelle in der Geschichte der nachantiken Philosophie« 203 , wurde zwar von ihm sofort als Schweben über allen Tatsachen (als gäbe es nur die objektiven) verkannt, mit der Folge des ironistischen Zeitalters virtuosen Schwebens und des »Zeitalters der Angst« (Auden) des gefährdeten Schwebens im »Schwindel der Freiheit« (Kierkegaard); aber hinter sie führt auch in der Moral kein Weg zurück zu Kant, der aus der Idee der Pflicht logisch fehlerhaft 204 einen kategorischen (d. h. verbindlich geltenden) Imperativ für alle vernünftigen Wesen ableitet, objektiv ablesbar, für jeden nachsprechbar, überall anwendbar als Sittengesetz der Universalisierung. Diese Universalisierung setzt bei Maximen an. Kant, der erste fraglos im Singularismus als selbstverständlicher Voraussetzung lebende Denker 205 , verkennt auch die Gesinnung, den Sitz der sittlichen Verantwortung (2.2.11), singularistisch, als sei alles ohne Weiteres einzeln, hier in Gestalt von Maximen; sie ist aber vielmehr eine Situation mit binnendiffuser Bedeutsamkeit, eine partielle Situation in der zuständlichen persönlichen Situation (Persönlichkeit) eines Menschen, und was man an Maximum herausholt, ist weitgehend beliebig, so dass es nicht schwer fällt, nach dem Prinzip des antiken Protagoras für die Explikation vieldeutiger Situationen die schwächere Rede zur stärkeren zu machen. 206 Das braucht keine boshafte Fälschung (Sophistik im üblen, platonischen Sinn) zu sein, denn Situationen sind vieldeutig, aber es entwertet das Kriterium von Kant. Seit Fichte ist eine Schwelle überschritten, vor der noch die Aufklärung 203 Ebd. (Der Weg … Band 2) S. 422, vgl. bis S. 449 und meine früheren Bücher: Selbstdarstellung als Philosophie (s. o.) und Die entfremdete Subjektivität. Von Fichte bis Hegel, Bonn 1992; sowie Michael Großheim, Politischer Existenzialismus, Tübingen 2002 204 Durch Verwechslung zweier Wertbereiche universell quantifizierter Variablen: des Bereiches aller einem Menschen zu einer Zeit möglichen Weisen des Beliebens mit dem Bereich aller vernünftigen Wesen zu allen Zeiten, s. Rechtsraum S. 699 f. und Der Weg … (wie Anm. 202) S. 397 205 Der Weg … (ebd.) S. 323–326 206 Hermann Schmitz, Der Weg der europäischen Philosophie Band 1, 2007, S. 132–136

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des 18. Jahrhunderts mit Kant stand, hinter die Nostalgiker wie Husserl und Scheler vergebens zurückwollen: Es genügt nicht mehr, das Verhalten der Menschen (besonders der Herrscher) und seiner selbst an ewigen Normen (des Naturrechts, der Moral) zu messen, sondern jeder muss sich selbst, wenigstens in der Moral und der Religion, Rechenschaft davon geben, welche Normen mit absolutem Ernst verbindlich für ihn gelten. Wer sich diese Selbstprüfung erspart, indem er vermeintlich ewige Normen bloß abliest und auf sich selbst und andere anwendet, betrügt sich über seine Verantwortung. Ich vertrete einen perspektivierenden Relativismus der Moral, nicht um dem laisser faire das Wort zu reden, sondern umgekehrt, um den absoluten Ernst der sittlichen Forderung, der ihren höchstpersönlichen Charakter nach sich zieht, gegen alle Versuchungen zur Beliebigkeit zu verteidigen. Um diese Verteidigung zu festigen, habe ich aus einer angelsächsischen Quelle 207 zehn Einwände vom absolutistischen Standpunkt herangezogen und den meinigen dagegen verteidigt. Ich wiederhole nun die Einwände und (mit den nötigen Änderungen und Ergänzungen) meine Entgegnung. 208 Erster Einwand: Neurotiker haben oft sonderbare Schuldgefühle, z. B. beim Waschzwang. Sollten sie wirklich entsprechende Pflichten haben? Zweiter Einwand: Ist, wer nie Scham oder Schuld fühlt, deswegen moralisch vollkommen oder amoralisch? Dritter Einwand: Ist es nicht möglich, moralischen Regeln zuwider zu handeln, obwohl man weder Scham noch Schuld fühlt, z. B. in Konfliktsituationen, wenn unvereinbare Regeln auf einander treffen? Vierter Einwand: Unabsichtliches, unwissentliches Verhalten kann böse sein, ohne vom Gewissen zensiert zu werden. Fünfter Einwand: Jemand kann sich moralisch im Recht fühlen und trotzdem sein Verhalten für böse halten, z. B. bei der Rache an den Mördern seiner Eltern; er sagt vielleicht: »Ich weiß, dass meine Rache böse war, aber ich würde es wieder so machen.« 207 G. Wallace, A. D. M. Walker (ed.), The Definition of Morality, London 1970, Introduction 208 Nach: Rechtsraum S. 649–654; Der unerschöpfliche Gegenstand (zuerst Bonn 1990) S. 349 f.

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Sechster Einwand: Wir können vergangene Zeugnisse unseres Gewissens für irrig halten und die Möglichkeit einräumen, dass es sich auch jetzt irrt. Siebenter Einwand: Die subjektivistische Theorie der Moral nimmt in Kauf, dass die moralischen Überzeugungen und damit Normen verschiedener Menschen unverträglich sind, und ist mit dem Anspruch auf Allgemeinheit, Notwendigkeit und Zeitlosigkeit solcher Normen unvereinbar. Achter Einwand: Wenn das Zeugnis des Gewissens über die Geltung moralischer Normen entschiede, wäre moralisch ratsam, es abzustumpfen, weil dann, was anfangs böse war, gut oder indifferent werden könnte. Neunter Einwand: Was für den einen gut ist, könnte für den anderen böse sein. Zehnter Einwand 209 : Die Gewissenstheorie kann die Autorität moralischer Urteile nicht erklären. Diese Einwände stehen im Dienst der These, dass es absolute moralische Normen gibt, die für jemand unabhängig vom Ergebnis seiner gewissenhaften Selbstprüfung verbindlich gelten. Ich will sie nun als untriftig erweisen. Zum ersten Einwand: Es kommt auf die Perspektive an. In unserer Perspektive – derjenigen der Leute, die sich Neurotikern gegenüber für gesund halten – gibt es keine Pflicht zum zwanghaft permanenten Waschen, aber viele Leute haben moralische Tabus, die vielleicht nicht ganz so sonderbar und auffällig, aber in der Perspektive anderer, die sich für aufgeklärt halten, gleichfalls unglaubwürdig sind. Entscheidend ist dafür der Unterschied der Niveaus personaler Emanzipation. Es wäre anmaßend, wenn jemand das seinige für das einzig gehörige hielte, aber, wenn er auch diesen Fehler vermeidet, ist er noch lange nicht gezwungen, auch inhaltlich anzuerkennen, was die anderen für moralisch angemessen oder erforderlich halten, z. B. Waschzwang. Eine moralische Forderung kann allgemeine Geltung beanspruchen und den ihr perspektivisch Verpflichteten exigent nötigen, diese Geltung für

209 Nach H. J. McCloskey, Metaethics and Normative Ethics, The Hague 1969, S. 37 Anm. 12

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alle zu vertreten, aber deswegen ist sie nicht absolut allgemeingültig, unabhängig vom Standpunkt des Ergriffenen. Zum zweiten Einwand: Amoralisch ist nicht, wer keine Scham und Schuld fühlt, sondern nur, wer dafür nicht empfänglich ist, etwa durch psychologische moral insanity. 210 In diesem Fall kann er immer noch verwerflich sein, aber in den Perspektiven anderer. Zum dritten Einwand: Moralische Normen sind nicht immer Regeln. In Regelkonflikten kann es eine Norm nur für diesen Fall geben, oder eine übergeordnete Regel zu Regelung solcher Konflikte. Zum vierten Einwand: Der moralische Vorwurf kann in der Perspektive anderer, oder in der eigenen Perspektive zu anderer Zeit, geboten sein. Zum fünften Einwand: Ein Mensch kann gleichzeitig auf mehreren Niveaus personaler Emanzipation stehen (1) und demgemäß auch mehrere, sogar unverträgliche, moralische Perspektiven annehmen, aber so, dass in seinem Handlungswillen eine von ihnen über die andere triumphiert, etwa hier der Racheimpuls über die Anerkennung der herrschenden und gewohnten Moral, der er sich noch nicht konsequent entzogen hat. Zum sechsten Einwand: Die Gewissensgefühle sind keineswegs untrüglich. Über emotionale Selbsttäuschungen habe ich kürzlich geschrieben. 211 Deren wichtigste Quelle ist der Unterschied zwischen Bewussthaben und Bemerken. Bemerken ist: einzeln bewusst haben. Einzeln ist, was eine Anzahl um 1 vermehrt, anders – logisch gleichwertig – gesagt: was Element einer endlichen Menge ist2 , und, da Mengen nur als Umfänge von Gattungen, d. h. als Mengen von Fällen von Gattungen, möglich sind: was Fall einer Gattung ist. (Gattung ist alles, wovon etwas ein Fall sein kann.7 ) Einzelheit ist also absolute Identität 210 Johannes Longard, Über »Moral Insanity«, in: Monatsschrift für Kriminalpsychologie und Strafrechtsform, 2. Jahrgang, Heidelberg 1906, S. 677–691 211 Hermann Schmitz, Emotionale Selbsttäuschung, in: Gefühle als Atmosphären, Neue Phänomenologie und philosophische Emotionstheorie, hg. v. K. Andermann und U. Eberlein (Deutsche Zeitschrift für Philosophie, Sonderband 29), Berlin 2011, S. 35– 41

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(dieses und verschieden von anderem zu sein) mit Fallsein. Vieles ist bewusst, ohne bemerkt zu werden, weil es nicht einzeln ist. Das kann daran liegen, dass nicht einmal die absolute Identität vorhanden ist, oder daran, dass keine Gattung für eine Fallbeziehung zur Verfügung steht, teils aus Gedankenlosigkeit, teils, weil sie bewusst gemieden wird. Ein von Christoph Demmerling erdachtes Beispiel: Stephan und Michael haben zusammen studiert, sind dann aber verschiedene Wege gegangen. Michael hat im Finanzgeschäft viel verdient und führt ein bequemes Leben auf großem Fuß mit allerlei Vergnügungen; Stephan müht sich als Lehrer mit Familie und Abzahlungspflichten für einen Immobilienkredit um sein Auskommen und empört sich über das süße Leben von Michael. Er merkt nicht, dass der Neid ihn treibt. Mein Kommentar: Seine Eitelkeit hindert ihn, für dieses Gefühl eine passende Gattung, unter der es ihm einzeln bewusst werden könnte, etwa die des Neides, bereitzustellen. Die Verkennung eines Gefühls kann auch ganz unschuldig sein. Mancher merkt erst, wie glücklich er war, wenn das vorbei ist. Eine weitere Möglichkeit emotionaler Selbsttäuschung beruht auf der Fähigkeit, auf mehreren Niveaus personaler Emanzipation zugleich zu stehen oder leicht zwischen ihnen zu wechseln. Manche können das famos und spielen dann den Hysteriker, wie Uexkülls Vater 212 . Echte Hysteriker verfallen, oft halb absichtlich ausweichend, in ein anderes Niveau und verlieren dann die Herrschaft über den Wechsel der Niveaus, die mit ihnen ihr Spiel treiben; das kann bis zur sogenannten Bewusstseinsspaltung gehen. Auch das ist eine Quelle emotionaler Selbsttäuschung, wenn die Zugänglichkeit eines ergreifenden Gefühls vom Niveau personaler Emanzipation abhängt. An diesen Gefahren der Selbsttäuschung über ergreifende Gefühle zeichnet sich die Wichtigkeit der personalen Emanzipation für die Moral auf neue Weise ab. Sie besteht nicht nur darin, dass der zu moralischen 212 Jakob v. Uexküll, Niegeschaute Welten, zuerst 1936, als Taschenbuch München 1957, S. 21: »Er besaß die merkwürdige Fähigkeit, sich nur scheinbar ärgern zu können. Eines Tages saß ich mit meiner Mutter im Schatten der Bäume vor dem schönen Herrenhause von Heimar, als wir meinen Vater aus der Haustüre treten sahen, der einen nachlässigen Beamten mit zornbebender Stimme heruntermachte, bis dieser ganz zerknickt abzog. ›Warum ärgert sich Papa so schrecklich?‹ fragte ich. ›Er ärgert sich gar nicht‹, erwiderte meine Mutter. Und wirklich trat mein Vater ganz ruhig an uns heran und sagte irgend etwas Gleichgültiges über das Wetter. Auf eine erstaunte Bemerkung von mir sagte er: ›Diese Leute haben nur vor einem zornigen Herrn Respekt. Deswegen braucht man aber nicht wirklich zornig zu werden.‹«

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Verbindlich geltende Normen

Normen gehörende unbedingte Ernst auf das dem Betroffenen jeweils höchst erreichbare Niveau personaler Emanzipation bezogen ist, sondern wird auch zur wachsamen, gründlichen und in unparteiischer Sachlichkeit gewissenhaften Rechenschaft vom eigenen Betroffensein benötigt. Das gilt auch für die Entdeckung von Selbsttäuschungen im Rückblick, abgesehen davon, dass man sein früheres moralisches Urteil auch wegen eines inzwischen erfolgten Wechsels der moralischen Perspektive verwerfen kann, etwa, weil ein neues Niveau personaler Emanzipation hinzugekommen ist. Eine weitere Täuschungsquelle, gegen die solche Wachsamkeit sich zu wehren hat, ist die moralische Schüchternheit, die die Reserven verfügbarer personaler Emanzipation bei der Probe auf den unbedingten Ernst einer Autorität nicht auszuschöpfen wagt. Der fehlende Mut, sich etwas herauszunehmen, wozu man reif ist, hindert manche Skrupulanten; freilich kann man sich auch überschätzen und ein Niveau personaler Emanzipation in Anspruch nehmen, dem man nicht gewachsen ist. Zum siebenten und neunten Einwand: Was hier gesagt wird, akzeptiere ich; ich kann es aber nicht für einen Einwand halten. Zum achten Einwand: Dieses Angebot, die Moral doch lieber sein zu lassen, hat nur Sinn für einen, der moralisch nicht engagiert ist und sich frei von solcher Befangenheit dafür interessiert, wie man sein Leben am Besten genießen kann. Er sollte aber zu der Rechnung für Bequemlichkeit ohne Moral auch die Gegenrechnung über Unbequemlichkeit aufmachen. Wenn nämlich das Gewissen abgeschafft wird, kann man nicht mehr an sittliche Verantwortung appellieren und mit moralisch motiviertem Lob und Tadel nichts mehr ausrichten. Dann fällt eine wesentliche Hemmung in den menschlichen Beziehungen fort; man muss sich auf das Pandämonium möglicher Impulse gefasst machen, das in jedem gegen jeden und in der wechselseitigen Potenzierung dieser Versuchungen steckt. Der Krieg aller gegen alle bricht aus. Um sich zu salvieren, muss man sich der jeweils mächtigsten Koalition anschließen und die Fahne nach dem Wind hängen. Hoffentlich ist bei einer Verschiebung der Machtverhältnisse noch ausreichend Zeit, die Fronten zu wechseln.

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Die Religion

Zum zehnten Einwand: Er erübrigt sich durch den hier gegebenen Nachweis der Abkunft moralischer Autorität aus der Autorität von Gefühlen.

2.4 Die Religion 2.4.1

Göttliche Atmosphären

Die Religion ist eine Erweiterung der Moral in dem Sinn, dass ihre Gefühlsbasis nicht nur die Rechtsgefühle des Gewissens – Zorn, Scham, Schuldgefühl und das hemmende Vorgefühl – umfasst, sondern alle Gefühle, die den Gewissensgefühlen darin gleichen, dass ihre Autorität mit unbedingtem Ernst in der Perspektive des Ergriffenen verbindliche Geltung von Normen stiftet. Das trifft aber nur für die ursprüngliche Religion zu; ihr schließt sich die epigonale Religion an, in der die Nachwehen dieses ursprünglichen Betroffenseins in Institutionen mit standardisierter Observanz, die auch ohne Ergriffenheit ausgeführt werden kann, verwaltet werden. Die Moral ist selbst eine Religion. Die Gewissensgefühle haben die Macht ortlos in einem flächenlosen Raum erlebter Anwesenheit ergossener Atmosphären, verteilt auf Zorn und Scham in einer Weise, die folgende Bemerkung eines fünfzehnjährigen Knaben sehr fein trifft: »Ich würde das schlechte Gewissen am Rotwerden oder bei schweren Fällen am Weißwerden erkennen.« 213 Der entsetzlichen Untat schämt sich der Täter nicht primär; im Vordergrund seines bösen Gewissens steht wie bei Macbeth die »bleiche Furcht« Homers 214 als Vorgefühl des Zorns, während das Gewissen auf »kleine«, d. h. in der Auswirkung nicht so dramatische, aber für es nicht minder gewichtige Niedertracht (Betrug, Lüge, Rücksichtslosigkeit) mit Scham antwortet, wie bei Neoptolemos, der nicht weiß, wie er dem schmählich hintergangenen Philoktetes ins Auge sehen soll. 215 Der Zorn, der vom Schuldigen nach großen Verbrechen in Furcht hindurchgefühlt wird, ist nicht der Zorn eines Zürnenden, sondern eine unpersönliche AtmoLeonhard Gilen, Das Gewissen bei Fünfzehnjährigen, Münster 1965, S. 40 Dazu von mir: System der Philosophie Band III, Teil 2: Der Gefühlsraum, S. 457 Anm. 1155 215 Sophokles, Philoktetes Vers 110 213 214

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sphäre, auf die zutrifft, was Rudolf Otto in der Gestalt des indischen Gottes Zorn (Manyu) verkörpert sieht: »Unheimliche Zornmacht wird gefühlt.« 216 Ganz deutlich wird dieser Zusammenhang in dem Bekenntnis des Muttermörders Orestes noch vor dem Auftauchen der Rachegöttinnen: »Nah dem Herzen macht sich Frucht Zum Sang bereit, Zum Tanz dabei im Ton des Grolls.« 217 »Grimm fasst dich!« So raunt ein böser Geist dem schuldbewussten Gretchen in der Im-DomSzene von Faust 218 zu. Auch da ist von keinem Zürnenden die Rede; ob an Gott zu denken ist, bleibt unbestimmt. Aber auch dann, wenn explizit von Gottes Zorn die Rede ist, können psychologische Deutungen in die Irre gehen. Jahwes Zorn im Alten Testament 219 ist eine unheimliche, Land und Leute verwüstende Macht, die er aus sich entlässt. Nach Helmer Ringgren »wird der Zorn Jahwes eher als eine Tätigkeit denn als ein Gemütszustand beschrieben. (…) In einigen Fällen erscheint der Zorn als eine fast objektive Größe, verabsolutiert oder halb personifiziert (…).« 220 Hier fehlt das Verständnis für das Atmosphärische, nicht aber bei Luther, wo er, inspiriert von diesem Motiv des Alten Testaments, Gottes Zorn als eine im Gewissen gespürte, über alles verbreitete atmosphärische Macht beschreibt. »Denn so fühlet sich’s auch im Gewissen, dass alles Unglück, so uns überfället, sei Gottes Zorn, und alle Kreaturen dünken einem eitel Gott und Gottes Zorn(zu)sein.« 221 Der gepeinigte Sünder spricht in seiner Angst: »Mich dünkt, Himmel und Erde liege auf mir.« 222 Das Gewissen bewaffnet alle Kreaturen gegen uns 223 und fürchtet sich auch vor einem rauschenden Blatt 224 , gerade dann, wenn dem Menschen die Gottes-

216 Rudolf Otto, Das Gefühl des Überweltlichen, München 1932, S. 147, vgl. von mir: Die Hegung der Macht des Zorns, in: Hermann Schmitz, Jenseits des Naturalismus, Freiburg i. Br./München 2010, S. 181–192 217 Aischylos, Choephoren Verse 1024 f., in der Übersetzung von Oskar Werner 218 Vers 1800 219 4. Moses 17, 11 und 18, 5; Jesaia 42, 25; Jerema 6, 11 und 7, 20; Ezechiel 20, 34 und 22, 20–24; Hosea 5, 10; Psalm 78, 49 und 88, 17; 2; Chronik 34, 25 220 Helmer Ringgren, Israelitische Religion (Die Religionen der Menschheit, hg. v. Ch. M. Schröder, Band 26), Stuttgart 1963, S. 68 221 Luthers Werke, Weimarer Ausgabe, Band 19, Weimar 1897, S. 226 Z. 12–14 222 Ebd. S. 227 Z. 7–10 223 Ebd. Band 44, S. 546 Z. 34, ähnlich Band 19, S. 227 Z. 1–10 224 Ebd. Band 19, S. 211 Z. 26

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furcht abhanden gekommen ist. 225 Das Rauschen des dürren, ohnmächtigen Blattes macht ihm dann die Welt zu enge und wird sein zorniger Gott. 226 Dies ist die »ontische Altbekanntheit« der Schuld, die Stoker in seiner Phänomenologie des Gewissens diesem ohne theologischen Bezug bescheinigt: Dem Schuldbewussten ist zu Mute, als wisse und zeuge alles von seiner Schuld; er nähert sich misstrauisch und unsicher, als könne er bei seiner Schuld ertappt werden, den anderen, denen er nicht ins Auge zu sehen wagt. 227 Die atmosphärische, im Raum erlebter Anwesenheit überall ergossene, mit Angst in Furcht vorgefühlte Macht des Zorns wird hier am Schuldbewusstsein aufdringlich. Neben dem atmosphärischen Zorn und der Angst und Furcht, durch die hindurch er gefühlt wird, ergreift den von seinem Gewissen gepeinigten Menschen nach Luther die Scham, so dass er »vor Gott muss schamrot werden. Denn da ist denn zugleich kein Winkel und Loch in allen Kreaturen, auch in der Hölle nicht, da Einer möchte hinkriechen, sondern (er) muss sich alle Kreaturen lassen ansehen und vor ihnen stehen mit allen Schaden, wie das wohl fühlen die bösen Gewissen, wo sie recht getroffen werden.« 228 Diese Dämonie der Gewissensgefühle erhält bei Kant einen religiösen Nimbus um des absoluten Ernstes ihrer verbindlichen Geltung willen: Es kommt zu einer Religion der Pflicht, die dem moralischen Gesetz in seiner »feierlichen Majestät« 229 geweiht ist. Ich führe dazu einige Sätze aus der Kritik der praktischen Vernunft an. »Für Menschen und alle erschaffene Wesen ist die moralische Notwendigkeit Nötigung, d. h. Verbindlichkeit und jede darauf gerichtete Handlung als Pflicht, nicht aber als eine von uns selbst schon beliebte, oder beliebt werden könnende Verfahrungsart vorzustellen.« 230 »Also schlägt das moralische Gesetz den Eigendünkel nieder.« 231 »Was nun unserem Eigendünkel in unserem eigenen Urteil Abbruch tut, das demütigt. Also 225 Das ergibt sich aus der von Luther (ebd. Band 12, S. 443 Z. 12) angeführten Quelle der Rede vom rauschenden Blatt (3. Moses 26, 36). 226 Ebd. Band 19, S. 226 Z. 24–28 227 Henricus G. Stoker, Das Gewissen, Bonn 1925, S. 150–152; auch schon Seneca, Epistulae morales, 105,8 228 Weimarer Ausgabe Band 19, S. 216 Z. 28–33 229 Kritik der praktischen Vernunft, Akademieausgabe von Kants gesammelten Schriften Band V, S. 77 Z. 25 f. Die Worte »feierlichen Majestät« sind von Kant graphisch hervorgehoben 230 Ebd. S. 81 Z. 25–28 231 Ebd. S. 73 Z. 26 f.

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demütigt das moralische Gesetz unvermeidlich jeden Menschen, indem dieser mit demselben den sinnlichen Hang seiner Natur vergleicht. Dasjenige, dessen Vorstellung als Bestimmungsgrund unseres Willens uns in unserem Selbstbewusstsein demütigt, weckt, sofern es positiv und Bestimmungsgrund ist, Achtung. Also ist das moralische Gesetz auch subjektiv ein Grund der Achtung.« 232 »Die Achtung ist so wenig ein Gefühl der Lust, dass man sich ihr in Ansehung eines Menschen nur ungern überlässt.« 233 »Sogar das moralische Gesetz in seiner feierlichen Majestät ist diesem Bestreben, sich der Achtung dagegen zu erwehren, ausgesetzt.« 234 »Gleichwohl ist darin doch auch wiederum so wenig Unlust: dass, wenn man einmal den Eigendünkel abgelegt und jener Achtung praktischen Einlass verstattet hat, man sich wiederum an der Herrlichkeit des Gesetzes nicht satt sehen kann, und die Seele selbst in dem Maße sich zu erheben glaubt, als sie das heilige Gesetz über sich und ihre gebrechliche Natur erhaben sieht.« 235 »Denn an dem, was wir hochschätzen, aber doch (wegen des Bewusstseins unserer Schwächen) scheuen, verwandelt sich durch die mehrere Leichtigkeit ihm Genüge zu tun die ehrfurchtsvolle Scheu in Zuneigung und Achtung in Liebe; wenigstens würde es die Vollendung einer dem Gesetze gewidmeten Gesinnung sein, wenn es jemals einem Geschöpfe möglich wäre sie zu erreichen.« 236 »Es liegt etwas so Besonderes in der grenzenlosen Hochschätzung des reinen, von allem Vorteil entblößten moralischen Gesetzes, so wie es praktische Vernunft uns zur Befolgung vorstellt, deren Stimme auch den kühnsten Frevler zittern macht und ihn nötigt, sich vor seinem Anblicke zu verbergen: dass man sich nicht wundern darf, diesen Einfluss einer bloß intellektuellen Idee aufs Gefühl für bloß spekulative Vernunft unergründlich zu finden (…).« 237 Als Prophet und Archeget einer Heilsreligion der Pflicht führt Kant den gebrochenen Eigendünkel zur Erlösung in der seligen Schau des Sittengesetzes, die sich in der Liebe zu diesem vollendet. Der Respekt für diese von Kant angenommene Rolle wird vielleicht etwas relativiert, wenn man bemerkt, dass dieser erst vier Jahre früher, bei der 232 233 234 235 236 237

Ebd. S. 74 Z. 23–30 Ebd. S. 77 Z. 19 f. Ebd. Z. 25–27 Ebd. Z. 32–37 Ebd. S. 84 Z. 16–22 Ebd. S. 79 Z. 36–S. 80 Z. 5

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schriftlichen Ausarbeitung seiner Moralphilosophie in der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten im Winter 1783/84, sozusagen ruckartig zur Achtung vor dem Gesetz als Triebfeder der Moral von einer bis dahin über 20 Jahre festgehaltenen eudämonistischen Triebfederlehre überging, wonach erst die Aussicht auf göttliche Vergeltung durch Lohn und Strafe ein zureichendes Motiv dafür liefert, dem unbedingten Anspruch der sittlichen Forderung auch tatsächlich zu folgen. 238 Unabhängig von diesem biographischen Zusammenhang ist aber augenscheinlich, dass Kant in seinem religiösen Pathos dem Sittengesetz die Kategorien des Numinosen angeheftet hat, die Rudolf Otto in seinem epochalen Buch Das Heilige (zuerst 1917) herausgearbeitet hat: das tremendum und das mirum (= Mysterium)237 , das fascinans235 in Kontrast-Harmonie mit dem tremendum236 , die maiestas234 , das energicum231 . Kant hat die Moral unter die Religionen versetzt. Rudolf Otto hat sein Buch Das Heilige mit dem Untertitel versehen: »Über das Irrationale in der Idee des Göttlichen und sein Verhältnis zum Rationalen«. Die Moral steht dem Rationalen, der personalen Emanzipation, darin nahe, dass sie sich herausstellt in der Erprobung dessen, was man sich erlauben darf (durch personale Emanzipation), an dem, worüber man nicht hinwegkommt (der Autorität der Gewissensgefühle mit unbedingtem Ernst). Kant schlägt mit seiner Heilsreligion des Sittengesetzes die Brücke vom Rationalen zum Irrationalen oder Überschwänglichen solcher Gefühle, die anders als das Gewissen mit dem absoluten Ernst ihrer Autorität ohne Weiteres mitreißen, wie Dionysos die Bakchen in der Tragödie des Euripides. Diese mitreißend ergreifende Kraft fasst Otto unter dem Titel des Ungeheuren als einer Synthese der Merkmale des Numinosen zusammen 239 , und darin ist ihm Shaftesbury mit fast denselben Merkmalen vorangegangen. 240 Dieser stellt aber auch die Zweideutigkeit des Ungeheuren fest, das ebenso der Inspiration, der wirklichen Gegenwart des 238 Hermann Schmitz, Was wollte Kant?, Bonn 1989, S. 105–107; Der Weg der europäischen Philosophie. Eine Gewissenserforschung, Freiburg i. Br./München 2007, Band 2 S. 405–407 239 Rudolf Otto, Das Heilige, 26. bis 28. Auflage München 1947, S. 50–52 240 Characteristics of Men, Manners, Opinions, Times, by the Right Honourable Anthony, Earl of Shaftesbury, 6th edition 1737, Band 1 S. 53 (A Letter concerning Enthusiasm, section 7). Shaftesbury charakterisiert das Ungeheure (»something vast, immense, and, as Painters say, beyond Life«) durch die Merkmale: Horror, Delight, Confusion, Fear, Admiration, or whatever Passions belong to it.

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Göttlichen, als auch dem bloßen Enthusiasmus, einem Gespenst davon, zukommen kann, und macht damit auf das Bedürfnis nach einem Kriterium aufmerksam, das von der bloß mitreißenden Kraft der Gefühle nicht mitgeliefert wird, sondern sich erst in der Probe des absoluten Ernstes ihrer Autorität an dem der Person jeweils höchsterreichbaren Niveau personaler Emanzipation erweist, wo sie sich dem Gehorsam noch unbefangen entziehen kann, statt sich beugen zu müssen. Diesen Anteil der Rationalität am Erweis des unbedingten Ernstes der Autorität des Ungeheuren hat Otto nicht genug berücksichtigt. Das eigentlich Bahnbrechende an Ottos Leistung, die auch Shaftesburys Beitrag hinter sich lässt, ist seine Überwindung der Introjektion der Gefühle. Im Numinosen stellt er ein religiöses Grundgefühl vor, das an den Gewissensgefühlen der Moral zwar beteiligt sein kann, aber ebenso frei von ihnen vorkommt und keiner Innerlichkeit, keines introspektiven Zugangs, keiner Psychologie und keiner Objektivierung des Subjektiven bedarf, sondern eine ergreifende Macht ist, die des Gegensatzes von Innenwelt und Außenwelt spottet. Die Kritiker Ottos 241 werfen ihm Psychologismus und Subjektivismus wegen seiner Behandlung des Numinosen vor, weil sie der Meinung sind, er verwechsle ein privates seelisches Erleben mit der objektiven Wirklichkeit des Göttlichen. Dazu kommen sie im Gefolge Kants durch ihre Anhänglichkeit an zwei verkehrte ontologische Dogmen, die ich hartnäckig bekämpft habe: den Singularismus, wonach die Welt aus lauter Einzelnem besteht, das ohne Weiteres einzeln ist, und die Weltspaltung oder psychologistisch-reduktionistisch-introjektionistischen Vergegenständlichung 242 , die jedem Bewussthaber eine sein Erleben einschließende private Innenwelt reserviert, die zwischen den Innenwelten verbleibende empirische Außenwelt bis auf wenige Merkmalsorten und deren hinzugedachte Träger abschleift und den Abfall der Abschleifung entweder absichtlich oder, nachdem er vergessen oder übersehen worden ist, als unvermeidlichen Rest in verwandelter Gestalt in den Innenwelten ablagert. Vielmehr aber sind Situationen das 241 Überblick in: Hermann Schmitz, Das Göttliche und der Raum (System der Philosophie Band III Teil 4), zuerst Bonn 1977, in Studienausgabe 2005, S. 78–83. Ich zitiere aus dem Buch fortan mit dem Kurztitel Das Göttliche. 242 Vgl. Hermann Schmitz, Husserl und Heidegger, Bonn 1996, S. 75–88: Die Entstehung der psychologistisch-reduktionistisch-introjektionistischen Denkweise; Adolf Hitler in der Geschichte, Bonn 1999, S. 32–37: Die psychologistisch-reduktionistisch-introjektionistische Verfehlung

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Ursprüngliche, in denen Mannigfaltiges durch eine binnendiffuse Bedeutsamkeit aus Sachverhalten, Programmen und Problemen zusammengehalten wird, und Einzelnes wird erst auf dem Weg über die Explikation solcher Bedeutungen aus der binnendiffusen Bedeutsamkeit durch die satzförmige Rede des Menschen aus den Situationen, die zuvor nicht einzeln sind, herausgeholt. Damit ergibt sich erst der Gegensatz des Subjektiven und Objektiven durch Vereinzelung und Neutralisierung; Neutralisierung verarmt die zuvor sämtlich für jemand subjektiven Bedeutungen (Sachverhalte, Programme, Probleme) nach der Explikation durch Abschälung der Subjektivität und schafft so einen neutralen Boden von Bedeutungen, die jeder sagen kann, sofern er genug weiß und gut genug sprechen kann. Die Situationen, aus denen die Vereinzelung und Neutralisierung schöpft, sind erfüllt von Atmosphären des Gefühls, die als ergreifende Mächte in den subjektiven Tatsachen des affektiven Betroffenseins Autorität für jemand haben. Das bahnbrechende Verdienst Rudolf Ottos besteht darin, als erster Theoretiker am Beispiel des Numinosen ein solches in bedeutsame Situationen eingepflanztes, mit Autorität ergreifendes Gefühl freigelegt zu haben, ohne sich dabei um die ontologisch sekundäre Subjekt-Objekt-Spaltung zu kümmern. Daran ist keine Spur von Psychologie. Das war aber nur eine Tat des Phänomenologen Rudolf Otto; der Erkenntnistheoretiker Otto blieb als Anhänger der neufries’schen Schule in den ausgefahrenen Gleisen des Kantianismus stecken und konnte daher seine phänomenologische Überlegenheit über seine Kritiker nicht ausspielen. Während der Vorwurf mangelnder Sorge für die »objektive Realität« (Kant) des Numinosen demnach gegenstandslos ist, wird Otto von einem Pfeil seiner Kritiker in der Tat getroffen. Walter Baetke bringt ihn auf die schöne Pointe: »Ein Heiliges, das zu nichts verpflichtet, ist kein Heiliges; es ist im besten Falle ein ›Edelspuk‹.« 243 Das düster Erhabene, grandios Dämonische, das man schaudernd bewundern kann ohne den geringsten Impuls, ihm zu gehorchen, könnte von Ottos Beschreibung des Numinosen ebenso getroffen werden wie das Heilige im echten Sinn. Der entscheidende Zug des Göttlichen, die Autorität mit unbedingtem Ernst, fehlt bei Otto, kann aber ohne Schwierigkeit seiner Charakteristik des Numinosen hinzugefügt werden, um zum Heiligen oder Göttlichen im Vollsinn zu gelangen. Entsprechend defi243

Walter Baetke, Das Heilige im Germanischen, Tübingen 1942, S. 44

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niere ich: Göttlich ist in der Perspektive von jemand, was für ihn dank der Autorität von Gefühlen die Macht besitzt, Normen eine mit unbedingtem Ernst für ihn verbindliche Geltung zu verleihen. Göttlich ist demgemäß in erster Linie eine Atmosphäre, die ein göttliches Gefühl ist. Alle Gewissensgefühle sind göttlich in der Perspektive des Gewissenhaften (von solchen Gefühlen Ergriffenen). Das Numinose ist ein göttliches Gefühl und zugleich Vorgefühl (2.2.3) anderer göttlicher Gefühle. Das Göttliche präsentiert sich in einer bunten Palette von Gefühlen, an denen oft auch das Numinose in Rudolf Ottos Sinn Anteil hat, freilich nicht immer, wie sich gleich zeigen wird, mit allen seinen Zügen. Außer den Gefühlen können auch Götter göttlich sein, nämlich getragen oder ermächtigt durch die Autorität von Gefühlen, als Plakate bedeutsamer Situationen, die von solchen Atmosphären erfüllt oder durchzogen sind. Davon wird nachher (2.4) die Rede sein. Das Numinose kann sich in der Weise teilen, dass in göttlichen Gefühlen nur einige seiner Züge enthalten sind. Im Fall der Gewissensgefühle (Zorn, Scham, Schuldgefühl, Aidos) tritt nur das tremendum hervor; man muss schon sehr verliebt in die Pflicht sein, um mit Kant das Sittengesetz als fascinans235 zu erleben. Umgekehrt ist das fascinans ganz klar bevorzugt in der tiefen Erotik, der Liebe zwischen zwei Menschen verschiedenen Geschlechts. Vermutlich sind heutigen Europäern unter allen Gestalten des Göttlichen, nachdem die Empfänglichkeit weitestgehend abgestumpft ist, am ehesten noch das Gewissen mit seinen Gefühlen und die tiefe Erotik (im Gegensatz zum flatternden Verliebtsein und zum flüchtigen Sexualgenuss) als gelebte Erfahrung zugänglich. Gefühle sind gewöhnlich in Situationen eingewachsen, intim mit ihnen verbunden. Im Fall des Numinosen können das aktuelle oder zuständliche Situationen sein; die Liebe ist nur in einer zuständlichen Situation möglich. Man kann nicht momentan lieben, wie man momentan zürnen kann. Als Gefühl ist die Liebe eine Atmosphäre (mit Verdichtungsbereich, aber seit dem Ende des Minnesangs ohne Verankerungspunkt 244 ), die sich für den liebenden Mann in der Geliebten so verdichten kann, dass deren Person ihn mit der Atmosphäre verschmilzt. Nikolaus Lenau schreibt der geliebten Frau: »O Herz! Ich bin Dein bis ins Innerste meines Wesens, recht eigentlich in Dir getränkt.« 245 Baudelaire dichtet: 244 245

Hermann Schmitz, Die Liebe, zuerst Bonn 1993, S. 179–195 Ein Kampf ums Licht. Lenau. Sein Leben, Lieben und Leiden. Briefe, Aufzeichnun-

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Elle se répand dans ma vie Comme un air imprégné de sel, »sie dehnt sich in meinem Leben wie eine mit Salz geschwängerte Luft aus.« 246 Das sind Zeugnisse der Ergriffenheit und der Hingabe an das ergreifende Gefühl, das als solches auch Autorität besitzt, jedoch nicht auf alle Fälle eine Autorität mit unbedingtem Ernst. Erst durch so gesteigerte Autorität wird die Liebe göttlich, und dazu ist es in Europa in einem geschichtlichen Prozess gekommen, den ich in meinem Buch Die Liebe 247 aufgedeckt habe und nun kurz nachzeichnen will. Im archaischen und klassischen Griechentum der Antike ist Liebe schon gar nicht Eros (eine dranghafte, nicht auf ein Ziel spezialisierte Zuwendung, Gegenteil der dranghaften Abwendung Phobos 248 ) und statt eines einheitlichen Gefühls zweierlei, nämlich teils Philia, teils Aphrodite. Philia ist die Zusammengehörigkeit im Eigenen, worin die Angehörigen der Familie und des Hauses, der häusliche und persönliche Besitz, die Heimat, sogar die eigenen Körperteile enthalten sind. Philia bezieht sich auf das, was philos ist, d. h. lieb und vertraut als eigen, als zugehörig. Philos ist auch der Geschlechtspartner in einem auf Dauer gestellten Verhältnis, insbesondere in der Ehe. Diese Philia hat starke Bindekraft trotz verhältnismäßig geringem oder gedämpftem affektivem Betroffenseins. Das Musterpaar solcher Liebe sind Odysseus und Penelope. Über eine zwanzigjährige Trennung hinweg halten sie sich die Treue, und ihr ganzes Sinnen während dieser Zeit geht, gleichsam magnetisch ausgerichtet wie der Kompass, über alle Ablenkungen und Versuchungen hinweg beharrlich darauf, wieder zusammenzukommen. Als es aber so weit ist, kommt es zu keinen Ausbrüchen überwältigenden Glücks. Die Szene, in der die Gatten sich wiederfinden, ist eher verhalten und konventionell im Vergleich mit der Rührung des Odysseus, als er seinen greisen Vater Laertes wiedersieht. 249 Die Gatten werden zu einander gezogen durch die stille Ge-

gen, Gedichte, ausgewählt und biographisch verbunden von Leo Greiner, Ebenhausen bei München 1911, S. 290 246 Hymne, in: Les Fleurs du Mal (Oeuvres Complétes de Baudelaire [Bibliothèque de la Pléjade], Paris 1961, S. 146) 247 Zuerst Bonn 1993, im Folgenden nur mit diesem Titel angeführt 248 Zu Eros und Phobas vgl. Hermann Schmitz, System der Philosophie Band III Teil 2: Der Gefühlsraum, zuerst Bonn 1969, S. 440–459 249 Vgl. Odyssee 23, 225–250 mit 24, 315–323. 345–348

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wissheit ihres Zusammengehörens, als einander eigen ohne fascinans. Ein Licht auf diese Art von Liebe werfen die Worte, mit denen sich Achilleus in der Ilias vor der Bittgesandtschaft über den Raub seiner Konkubine Briseis durch Agamemnon bitter beklagt: »Jeder tüchtige und verständige Mann liebt sein Weib und sorgt für es, wie auch ich die meinige von Herzen liebte, mochte sie auch mit dem Speer erbeutet sein.« 250 Ein tüchtiger Mann – gibt Achill zu verstehen –, der sein Weib nicht liebt und hegt wie sein Pferd oder sein Schwert, wie alles, was ihm als zugehörig lieb ist, wäre nicht »ganz richtig im Kopf«; dass er mit dem Herzen dabei war, fügt er wie eine persönliche Beigabe hinzu. Neben dieser Philia als starker, aber selbstverständlicher und daher nicht hervorstechender Bindung steht bei den Griechen Aphrodite als erotische Faszination, als die Sonne, in deren Glanz die Jugend steht, während das Alter im Erotik-Schatten frösteln muss: »Was ist das Leben, was ist ergötzlich ohne die goldene Aphrodite? Ich möchte sterben, wenn mir das nicht mehr am Herzen liegt: heimliche Liebschaft und schmeichelnde Gaben und Bett, Blüten der Jugend, die Männern und Frauen zuteil werden; sobald aber das erbärmliche Alter kommt, das den Mann hässlich und schlecht macht, nagen ihm immerzu schlimme Sorgen die Eingeweide ab, und er freut sich nicht mehr, wenn er in die Strahlen der Sonne blickt, sondern verhasst ist er bei den Knaben, ohne Ehre bei den Frauen. So scheußlich hat Gott das Alter gestellt.« 251 Für dieses Jugendglück hatten die Griechen Hetären und Lustknaben. Diese beiden Seiten der Geschlechtsliebe, Gebundenheit durch eine Autorität mit unbedingtem Ernst und erotische Faszination, laufen bei den frühen und klassischen Griechen nicht zusammen; die Synthese gelingt erst den römischen Liebeselegikern mit dem spezifisch römischen Motiv des fides. Fides ist eine den Treuegeber und den Treuenehmer umspannende Atmosphäre, daher zugleich Treue und Vertrauen; man kann sie geben (fidem dare alicui) und in ihr sein (in fide esse). Ein brundisischer Kaufmann, den der Anstand seiner Gläubiger dreimal vor dem Bankrott gerettet hat, bedankt sich in seiner Grabschrift nicht bei diesen Biederen für ihre Loyalität, sondern bei der fides selbst als hochheiliger Göttin, die ihn dreimal wieder auf-

250 251

Ilias 11, 341–343 Mimnermos (7. Jahrhundert v. Chr.) fr. 1 (Diehl), vgl. Solon fr. 14 (Diehl)

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gerichtet habe, als er am Boden lag. 252 Catull vereinigt die erotische Faszination durch die Geliebte – gipfelnd im Eindruck der Szene, als sie als seine strahlende Göttin, die blendende Sohle des weichen Fußes aus der Sandale aufgestellt, über die Schwelle des zur geschlechtlichen Vereinigung bestimmten Hauses des Allius tritt 253 – mit der heiligen fides, von der er sich zunächst ein ewiges Bündnis heiliger Freundschaft für das ganze Leben erhofft 254 , bis er dann, als die Geliebte das Bündnis gebrochen hat, nur noch aus seiner Gewissheit, von seiner Seite die heilige fides der Liebe nie befleckt zu haben, Befriedigung finden kann. 255 Im selben Geist schwört Properz seiner Geliebten, »dass ich dir, Leben, bis zum letzten Dunkel angehören werde; möge uns beide eine fides wegraffen, ein Tag.« 256 Diese Verbindung erotischer Faszination mit Autorität des Gefühls, die der Norm, in einer gemeinsamen zuständlichen Situation treu zusammenzuhalten, verbindliche Geltung mit unbedingtem Ernst verleiht und damit die Liebe zu göttlichem Rang erhebt, hat sich nach der Stiftung durch die Römer in der abendländischen Kultur erhalten und ihren eindringlichsten Ausdruck in der Abschiedsrede der Isolde, als Tristan nach Entdeckung ihres Verhältnisses fliehen muss, gefunden. 257 Großartig, spontan wie Catull aus eigenem Betroffensein sprechend, hat dann besonders Hegel diese Einheit der Liebe gegen die Zerlegung in zwei Gefühle je eines Liebenden zur Geltung gebracht. In einem leidenschaftlichen Brief an seine Braut, die an seiner Liebe verzagte, weil er zu zweifeln schien, ob Glück in der Bestimmung seines Lebens liege, redet er ihr das grüblerische Fahnden nach der Liebe des anderen aus: »Deine Liebe zu mir, meine Liebe zu Dir – so besonders angesprochen – bringen eine Unterscheidung herein, die unsere Liebe trennte; und die Liebe ist nur unsere, nur diese Einheit, nur dieses Band; wende dich von der Reflexion in diesen Unterschied ab und lass uns fest an diesem Einen halten, dass auch nur 252 Bücheler, Carmina epigraphica 1533, 8 ff., mir bekannt aus: Realencyclopädie der klassischen Altertumswissenschaften Bände VI 2 Spalte 2285 und VII 1 Spalte 41 253 Catull, Carmina 68, 70–72 254 109, 6 255 76, 1–6 und 87 256 Properz Elegien II 20, 17 f. 257 Gottfried von Straßburg, Tristan, Verse 18289–18358 (Tristan, nach dem Text von Friedrich Ranke neu herausgegeben, ins Neuhochdeutsche übersetzt, mit einem Stellenkommentar und einem Nachwort von Rüdiger Krohn, Band 2. 3. Auflage Stuttgart 1985, S. 498–503)

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meine Stärke, meine neue Lust des Lebens sein kann; lass dieses Vertrauen zum Grunde von allem liegen, so wird alles wahrhaft gut sein.« 258 Das Vertrauen, von dem Hegel hier spricht, ist die römische fides. Ein Prototyp göttlichen Gefühls in dem von mir gemeinten Sinn – eine mit unbedingtem Ernst ergreifende, in eine gemeinsame Situation eingebundene Atmosphäre – ist der heilige Geist im frühen Christentum, ehe er (dogmatisch fixiert in den Akten des Konzils von Konstantinopel 395) zur dritten Person der göttlichen Trinität wurde. Ich habe ihn mit einer ausführlichen Studie (Das Göttliche241 S. 13–43) bedacht, aus der ich hier das Wichtigste herausziehen werde. Ich gehe von einer grammatischen Beobachtung aus. Im Neuen Testament wird von heiligem Geist bald mit, bald ohne bestimmten Artikel (der heilige Geist) gesprochen, aber dieser Artikel bleibt immer 259 weg, wenn von Erfüllung durch ihn (oder von Plerophorie, Vollbesitz) die Rede ist. Mit dem bestimmten Artikel meint man etwas als das Einzige seiner Art, auf das man sich einstellt; der heilige Geist, der die Gläubigen erfüllt, ist statt dessen ein Gefühl, in dem sie leben, auch ohne sich darauf einzustellen, engstens mit der Freude gepaart, wie es die schlichte Formulierung sagt: »Die Jünger aber wurden von Freude und heiligem Geist erfüllt.« 260 So verstanden, ist der heilige Geist eine Art von Stoff – nach Origenes die Substanz des Gnadenstoffes 261 – oder besser Element, in dem man lebt, wie in der Luft oder im Wasser; dem entspricht die häufige metaphorische Rede von Ausgießung oder Ergossenheit des heiligen Geistes, etwa im pseudopaulinischen Titusbrief 3, 4–6: »Die Güte und Freundlichkeit unseres Rettergottes rettete uns, nicht aus den Werken der Gerechtigkeit, die wir taten, sondern durch das Bad der Wiedergeburt und Erneuerung heiligen Geistes, von dem er reichlich ausgoß auf uns durch Jesus Christus.« Man kann den heiligen Geist demnach in Portionen abgeben 262 , was bei einer Person nicht möglich wäre. Die Stofflichkeit braucht aber nicht wörtlich genommen zu werden; im Bild des von Gott gesandten befruchtenden Regens 263 gleicht 258 Briefe von und an Hegel, hg. v. J. Hoffmeister, Band I Hamburg 1952, 3. Auflage 1969, S. 368 259 Mit einer Ausnahme: Apostelgeschichte 4, 31 260 Apostelgeschichte 13,52 261 Migne, Patrologia Graeca Band 14 Spalte 129A 262 So auch 1. Johannes 4, 13 263 Bei Kyrill von Jerusalem und Johannes von Damaskus, Das Göttliche S. 20 Anm. 69

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der heilige Geist dem Eros, der nach den Worten des frühen spartanischen Lyrikers Alkman (7. Jahrhundert v. Chr.) von Gnaden der Kypris (Aphrodite) süß herabströmend sein Herz weitet. 264 Dass der heilige Geist als Atmosphäre erfahren wird, ergibt sich besonders aus der anderen Leitmetapher, der Beschattung durch den heiligen Geist 265 , die so selbst dann zu verstehen ist, wenn an die Flügel des als Taube vorgestellten heiligen Geistes gedacht sein sollte; in den Oden Salomonis heißt es: »Wie die Flügel der Tauben über ihren Jungen sind und die Schnäbel ihrer Jungen ihren Schnäbeln zugekehrt, so sind auch die Flügel des Geistes über meinem Herzen.« 266 Auch die Flügel, wie die Beschattung, meinen also eine ergreifende Atmosphäre, die von oben her umgibt. Mit der Beschattung kommt vom Numinosen das tremendum, der heilige Schauder, in die Züge des heiligen Geistes (Das Göttliche S. 21). Für die Christen der ersten drei Jahrhunderte n. Chr. war der heilige Geist das Hochgefühl, in dem sie als vermeintlich Auserwählte in einer feindlichen Umwelt verworfener Menschen ihrer Befreiung und Erhöhung im nahen Endgericht nach der Erscheinung des Messias gewiss waren. Als dieses sie erlösende, die übrigen Menschen verdammende Ereignis auf sich warten ließ und das Christentum im vierten Jahrhundert Allgemeingut wurde, löste sich dieses an die Auserwählungsgemeinschaft gebundene Hochgefühl mehr und mehr auf, aber nicht ohne Widerstand. Basilius von Caesarea traf bei dem Versuch, durch Preisung des Vaters und des Sohnes »mit« dem heiligen Geist diesen als Genossen neben die beiden anderen göttlichen Personen zu setzen, auf erbitterte Gegner, die sich lieber die Zunge abbeißen würden, als auf die Worte »im heiligen Geist« zu Gunsten der Worte »mit« oder »und« dem heiligen Geist zu verzichten. 267 Hilarius von Poitiers († 368) lässt keine Gebete zum heiligen Geist zu, wobei er sich auf die Vorschrift beruft, »den Vater anzubeten, den Sohn mit ihm zu verehren, vom heiligen Geist überzuströmen.« 268 Beide Zeugnisse aus Poetae Melici Graeci ed. D. L. Page, Oxford 1962, S. 52 (fr. 59) Schon Lukasevangelium 1, 35 (der Engel zu Maria) 266 Oden Salomonis 28,1 bei: Hennecke/Schneemelcher, Neutestamentliche Apokryphen in deutscher Übersetzung, 4. Auflage Tübingen 1971, Band II S. 608 267 Basilius von Caesarea, De spiritu sancto, Kapitel 25, Mignes Griechische Patrologie Band 32 Spalte 180A; deutsch: Basilius, Über den heiligen Geist, übersetzt und eingeleitet von M. Blum, Freiburg i. Br. 1967, S. 92 268 De trinitate II 2, bei Migne, Lateinische Patrologie, Band 10 Spalte 51A 264 265

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dieser Übergangszeit, das eine aus dem griechisch-östlichen, das andere aus dem lateinisch-westlichen Raum, zeigen den Widerstand gegen die Hypostasierung eines Gefühls, in dem man lebt und von dem man erfüllt oder ergriffen wird, zu einer Person an. Diese ist gewissermaßen die Konserve, in der das Gefühl aufgefangen und von Augustinus über den Meister der Sentenzen Petrus Lombardus dogmatisch bis zu Melanchthon, der den heiligen Geist als »substanzielle Liebe und Freude« bestimmt 269 , festgehalten wurde. Freilich gibt es auch im Neuen Testament unverkennbare Spuren einer Personalisierung des heiligen Geistes, aber daraus darf man nicht ohne Weiteres auf eine ernst gemeinte, unzweideutige Bejahung seiner Personalität schließen. Zwar spricht der heilige Geist, sogar in der ersten grammatischen Person, in der Apostelgeschichte, aber vielleicht ist das nur so wie unsere Rede von einer Stimme des Gewissens aufzufassen. Biblische Belege dafür, dass der heilige Geist belogen oder betrübt werden kann, erinnern daran, dass Paulus der Welt Weisheit und Trauer zuschreibt und vorwirft, etwas nicht erkannt zu haben, ohne doch die Welt für eine Person zu halten. Seinem Inhalt nach ist der heilige Geist als Gefühl in erster Linie Freude, damit verbunden Liebe (nicht zu allen Menschen, nicht zu den verworfenen Heiden, sondern brüderliche Liebe der Genossen) und weiter freimütiger Stolz (Parrhesia) der sich noch am entscheidenden Tage des Endgerichts bewähren soll (1. Johannes 4, 17), wenn offenbar wird, dass die Christen als Kinder Gottes ihm gleich sind (1. Johannes 3, 2). 270 Mit Freude, Liebe und Freimut verbindet sich im heiligen Geist der Friede, der wie dieser als Atmosphäre verbreitet, nämlich z. B. auf ein Haus gelegt und davon zurückgeholt werden kann. 271 Dieser Friede ist eine Atmosphäre, in die man räumlich hineingeht, in der man lebt und im Tode ruht, zugleich eine bewachende, den Christen an Christus festhaltende Macht. Paulus lehrt Friede und Freude im heiligen Geist. 272 Der auferstandene Jesus entbietet den Jüngern seinen Friedensgruß, indem er sie mit den Worten »Empfanget heiligen Geist« anhaucht. 273 Wie ein Lufthauch verbreitet sich der Friede mit heiligem 269 Loci theologici Appendix II, in: Corpus Reformatorum Band 21, Braunschweig 1854, Spalte 1077 270 Vgl. Das Göttliche S. 25–33: Das Gefühl, das heiliger Geist ist 271 Das Göttliche S. 33–35: Heiliger Geist und Friede 272 Römer 14, 17; 15, 13 273 Johannesevangelium 20, 21 f.

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Geist (nicht: dem heiligen Geist) als neues Lebenselement. Insoweit imponiert der heilige Geist als harmonisches Hochgefühl; er ist aber in einen Konflikt verwickelt, in dem nach Paulus (ähnlich nach Hermas Der Hirt) das Fleisch mit dem Geist um den Leib des Menschen ringt und der Mensch berufen ist, die Partei des Geistes zu ergreifen. 274 Die Namen der Konfliktparteien lassen an einen platonischen Einsatz für Unterwerfung der Sinnlichkeit unter die Vernunft denken, aber die Aufzählung der Werke des Fleisches und der Frucht des Geistes mit entgegengesetzten Zügen im paulinischen Gelaterbrief (5, 19–24) lässt zwar auch eine Option für Selbstbeherrschung gegen sinnliche Ausschweifungen erkennen, aber nur als Nuance eines viel weiter ausgreifenden Gegensatzes, der vielmehr dem von Liebe und Streit (Groll) nach Empedokles nahesteht. Während Platon jedem Bewussthaber eine Seele als Gehäuse für die Herrschaft der Vernunft über die unwillkürlichen Regungen verschreibt, stehen die Urchristen der archaischen Vorstellung vom Menschen im Kampffeld polarer Mächte näher, wobei für Paulus, Hermas und den Verfasser des 1. Johannesbriefes die Seele keine Rolle spielt. Zum Fleisch gehört, ganz unplatonisch, für Paulus die Herrschaft des jüdischen Ritualgesetzes (mit Beschneidungspflicht) im Gegensatz zur Freiheit des Geistes (2. Korinther 3, 17), die er den Galatern dagegen ans Herz legt, mit der Aufforderung, der Wahrheit zu gehorchen, die darin bestehe, im Geist auf die Rechtfertigung aus dem Glauben, der durch die Liebe tätig wird, gefasst zu sein. 275 Hier gewinnt der heilige Geist durch Autorität mit unbedingtem Ernst die Göttlichkeit eines Gefühls, das dem Menschen vorschreibt, sich von sich selbst frei zu machen, um Gefäß des heiligen Geistes zu werden: »Wisst ihr nicht, dass euer Leib Tempel des heiligen Geistes, des ihr von Gott habt, ist und ihr nicht euer selbst seid? (…) Verherrlicht Gott in eurem Leibe!« (1. Korinther 6, 19 f.) Der Friede als Atmosphäre schlägt die Brücke vom heiligen Geist zum buddhistischen Nirvana. Helmuth v. Glasenapp vergleicht es dem Frieden Gottes, der nach Paulus höher ist als alle Vernunft. 276 Es ist Wonne, aber ohne diese empfindendes Subjekt und ohne Empfindung. 274 Vgl. Hermann Schmitz, Der Weg der europäischen Philosophie. Eine Gewissenserforschung, Freiburg i. Br./München 2007, Band 2 S. 23–32 275 Gelater 5, 1–7, 13–17 276 Helmuth v. Glasenapp, Der Buddhismus – eine atheistische Religion, München 1966, S. 166

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»Denn darin besteht ja gerade im Nirvana die Wonne, dass dort nichts empfunden wird. (…) Das Nirvana wird nicht, wie wir sagen würden, als ein Zustand, der an einem Subjekt auftreten kann, aufgefasst, sondern als etwas Dingliches, weshalb von ihm gesagt werden kann, dass man es berührt (phusati).« 277 Solches Berühren kommt in ganz anderem, aber gleichfalls mit Wonne verbundenem Zustand bei Pindar vor, wenn er den ersten Geschlechtsverkehr eines Mädchens mit den Worten umschreibt, dass es, verführt (»genährt«) von Apollon, zuerst an die süße Aphrodite zart rührte (epsause). 278 Aphrodite ist hier die Sphäre der Erotik, die in diesem Lebensbereich waltende Gefühlsmacht. Das Mädchen kommt in Berührung mit dieser Atmosphäre, ohne gleich von ihr in Besitz genommen zu werden. Wenn dieser Vergleich zutrifft, wird man das Nirvana als eine Atmosphäre des Gefühls, die nicht selbst affektiv betroffen macht, aber in der schon mehrfach erörterten Weise durch ergreifende Vorgefühle hindurch gefühlt wird, verstehen dürfen. In welchem Maße daran Autorität mit unbedingtem Ernst beteiligt sein könnte, lasse ich offen. Dichter an das Numinose heran führt die Erfahrung des Göttlichen als Macht – »the ecstatic state known as the power« 279 – bei den Quäkern. Thomas Holme empfing im Gefängnis 1654 nachts den göttlichen Befehl, aus dem Bett zu steigen und zu singen, und die Macht war so groß, dass alle Mitgefangenen staunten und einige geschüttelt wurden. 280 Beim schweigenden Sitzen und Warten in der Gemeinschaft des Quäker-Meetings fühlt Alexander Parker 1660 »the presence and power of God« 281 , und ähnlich bekennt Robert Barclay (Quäker seit 1666) sein Betroffensein: »When I came into the silent assemblies of God’s people, I felt a secret power among them, which touched my heart.« 282 Bei einem winterlichen Quäkertreffen wurde 1748, wie John Churchman berichtet, »die göttliche Gegenwart in ehrfürchtigem tiefem Schweigen gefühlt«, und »die zarte Tätigkeit der göttlichen Macht bewirkte ein geheimes inneres Zittern.« 283 Diese Ebd. S. 147 f., vgl. S. 193 6. Olympische Ode Vers 35 279 William C. Braithwaite, The Beginnings of Quakerism, 2nd edition revised by H. J. Cadbury, Cambridge 1955, S. 124 280 Ebd. S. 125 281 Ebd. S. 509 282 William C. Braithwaite, The Second Period of Quakerism, London 1919, S. 336 283 Rufus Matthew Jones, The Later Periods of Quakerism, vol. I, London 1921, S. 66 f. 277 278

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Erfahrung ist an christliche Vorgaben gebunden. »Die Macht« ist aber auch nordischem Volksglauben als supernormale Kraft geläufig, die »im Pferd, im Brot, im Blut« sitzt und auch übernatürliche Wesen umfasst 284 , aber nicht als alldurchdringende Lebenskraft, sondern überraschend plötzlicher, so wie sich aus der expressiven Kraft unter heftigem affektivem Betroffensein hervorgestoßener Wörter gegenständliche Eindrücke (impressive Situationen) bilden können. 285 Solche spontan mit numinoser Tönung hervortretenden Eindrücke bestimmen den Sinn des japanischen Wortes »kami«; es wird »von dem gebraucht, was hoch und merkwürdig ist, von großen Gegenständen, Bergen, Flüssen, dem Sturm, dem Getöse des Donners, Klippen, Bäumen usw.« 286 Dasselbe Schriftzeichen kann »kami« und »shin« (davon »Shinto«) gelesen werden. »Auf deutsch wird darum Shinto oft ›der Weg der Götter‹ genannt. Diese westliche Bezeichnung der japanischen Religion ist aber irreführend; denn die shintoistischen Kami sind etwas ganz anderes als das, was wir unter ›Gott‹ verstehen. (…) Steine, Bäume, Berg, Bäche, Pflanzen, Tiere und Menschen können Kami genannt werden. All das, wovor man eine besondere Scheu hat, was man besonders ehrt, was die Aufmerksamkeit immer wieder auf sich zieht, kann Kami heißen. Sehr früh sind wohl auch in Japans Geschichte die Ahnen Kami genannt worden, die Verstorbenen der Familie, des Klans und später der Nation. Als Kami werden Mächte der Geschichte und des Kosmos bezeichnet und verehrt.« 287 Eine nah verwandte Bedeutung scheint bei den peruanischen Ketschua (einst der staatstragenden Bevölkerung des Inkareiches) das Wort »huaca« zu besitzen: »Huaca waren einerseits die persönlich gedachten Höheren Wesen, aber auch die mit ihnen identifizierten Sternbilder, die auf den Menschen Einfluss nahmen; huaca waren heilige Quellen als Sitz von Wassergottheiten, heilige Felsen und Berge als Versteinerungen von Vorzeitherren und heilige Höhlen als Zugänge zu dem Reich der Erdmutter und der Toten; huaca waren andererseits auch die numinos betrachteten Toten,

284 Martin P. Nilsson, Götter und Psychologie bei Homer, in: Archiv für Religionswissenschaft 22, Berlin 1923/24, S. 383 f. 285 Mit meinen Begriffen formuliert nach Nathan Söderblom, Das Werden des Gottesglaubens, deutsch von R. Stübe, Leipzig 1916, S. 104 286 Ebd. S. 99 287 Werner Kohler, Die Lotos-Lehre und die modernen Religionen in Japan, Zürich 1962, S. 25, vgl. S. 246

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ihre Leichname und ihre Grabstätten, und huaca bedeutete schließlich auch jedweden Tempel, jedwedes Heiligtum.« 288 Macht, kami, huaca sind Titel für numinose Atmosphären in bedeutsamen Situationen; mit dem tremendum und dem fascinans präsentieren sie Autorität mit unbedingtem Ernst, die bestimmte Einstellungen wie Ehrfurcht, Verehrung, Gehorsam gebietet. Unter diese Titel können unzählige Erscheinungen des Göttlichen subsumiert werden; ich habe Beispiele gegeben von lokalen göttlichen Atmosphären (heiligen Orten, wie sie namentlich von antiken lateinischen Autoren – Vergil, Ovid, Seneca, Pomponius Mela – suggestiv beschrieben werden, aber schon Platon bekannt waren), von Licht und Duft, darunter besonders dem Himmel als »Autorität des Leuchtenden in der Weite und Tiefe des Raumes«, und von Personen, die wie die Geliebte nach Lenau245 und Baudelaire246 zu Atmosphären werden, darunter Gott, Christus und die Schechinah als mehr oder weniger personifizierte Anwesenheit Jahwes. Es würde zu weit führen, hier darauf einzugehen; Näheres steht in Das Göttliche S. 98–134. Vielmehr will ich noch von einer Randform der Religion sprechen, die dann entsteht, wenn die Bindung an göttliche Atmosphären so innig wird, dass nicht einmal mehr Autorität mit unbedingtem Ernst in Frage kommt; solche Autorität, die der verbindlichen Geltung von Normen für den Ergriffenen unbedingten Ernst verleiht, lässt ja immer noch eine zwiespältige Ablenkung vom Gehorsam, also einen gewissen Spielraum für diesen, zu. Wenn dieser Spielraum durch die Innigkeit der Bindung entfällt, wird die verbindliche Geltung zur automatischen (1). Das ist der Fall in der Mystik, gemäß ihrer von den Mystikern proklamierten Idee. Das mystische Erleben ist im Kern leiblich. Um dies zu verdeutlichen, muss ich skizzenhaft einige Grundgedanken meiner Theorie der leiblichen Dynamik und Kommunikation wiederholen. Der Leib eines Menschen ist der Inbegriff der Regungen, die er in der Gegend (nicht immer in den Grenzen) seines Körpers von sich selbst, als zu sich gehörig, spüren kann, ohne sich der fünf Sinne und des aus ihren Erfahrungen abgezogenen perzeptiven Körperschemas zu bedienen. Dynamisch ist der Leib hauptsächlich in der Dimension von Enge und Weite, in der Engung und Weitung als Spannung und 288 Hermann Trimborn in: Walter Krickeberg, Hermann Trimborn, Werner Müller, Otto Zerries, Die Religionen des alten Amerika (Die Religionen der Menschheit Band 7), Stuttgart 1961, S. 127 f.

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Schwellung zum vitalen Antrieb verschränkt sind. Der Antrieb geht über den Einzelleib hinaus und verbindet diesen mit Begegnendem durch einen gemeinsamen Antrieb zur leiblichen Kommunikation vom Typ der Einleibung mit verschiedenen Untertypen; davon soll hier nicht die Rede sein. Aus der Schwellung im vitalen Antrieb kann aber auch Weitung – als privative Weitung, wie ich sage – teilweise abgespalten werden, und dann ergibt sich Gelegenheit zur leiblichen Kommunikation im Kanal der privativen Weitung. Ich spreche dann von Ausleibung, bei der die leibliche Enge und Engung gleichsam ausläuft, z. B. beim Blick, der sich in der Tiefe des Raumes verliert, beim Starren in Glanz, beim entspannt hingegebenen sinnlichen Genießen, z. B. der Sonnenwärme, eines feinen Aromas (z. B. von Wein), eines sich seidig anfühlenden Stoffes. Dabei gerät der Mensch leiblich in einen Zustand der Versunkenheit, der profan sein kann, wie ihn Nietzsche von einem unbeschwerten Mittag am Silser See berichtet: Hier saß ich wartend, wartend, doch auf Nichts, Jenseits von Gut und Böse, bald des Lichts Genießend, bald des Schattens, ganz nur Spiel, Ganz See, ganz Mittag, ganz Zeit ohne Ziel. 289 Der sich ausleibende Mensch geht gleichsam auf in dem, in das er in privativer Weitung seines Leibes sich versenkt, hier in See, Mittag, Zeit ohne Ziel. Wenn das, worin er so aufgeheht, ein göttliches Gefühl ist, handelt es sich um mystische Versunkenheit. Ein idealtypisches Beispiel mystischer Versunkenheit durch Ausleibung beim Starren in Glanz ist das Initiationserlebnis des spätmittelalterlichen Mystikers Heinrich Seuse: »Als er noch ein anfangender Mensch war, trug es sich einmal zu, dass er am St. Agnes-Tag – es war nach dem Mittagessen des Konventes – in den Chor ging. Dort war er allein, er stand in dem niederen Gestühl an der rechten Seite. (…) Und wie er da so stand, des Trostes bar, und niemand in seiner Nähe war, da ward seine Seele entrückt, ob im Leib, ob außer ihm, das wusste er nicht. Was er da sah und hörte, lässt sich nicht in Worte fassen. Es hatte weder Form noch bestimmte Art und hatte doch aller Formen und Arten freudenreiche Lust in sich. Des Dieners Herz verlangte danach und fühlte sich gestillt, sein Sinn war freudvoll und bewegt; Wünschen war ihm entfallen, 289 Sils Maria, in: Die fröhliche Wissenschaft. Lieder des Prinzen Vogelfrei (Nietzsches Sämtliche Werke, Kritische Studienausgabe von Colli und Montinari, Band 3 S. 649)

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Begehren entschwunden; er starrte nur in den hellen Abglanz, in dem er sich selbst und alles um sich vergaß. War es Tag oder Nacht? Er wusste es nicht. Ein Ausbruch war es von des ewigen Lebens Lieblichkeit, seiner Wahrnehmung gegenwärtig, bewegungslos, ruhig. Als er wieder zu sich kam, sagte er: Wenn das nicht das Himmelreich ist, weiß ich nicht, was Himmelreich ist. Denn all das Leiden, das man durch Worte ausdrücken kann, vermag die Freude dem, der sie ewig besitzen soll, nicht nach Recht und Billigkeit zu verdienen.« 290 Als hätte er von dieser Erfahrung abstrahiert, bestimmt der etwa gleichzeitige flämische Mystiker Jan van Ruysbroeck den mystischen Zustand als ein »wesentliches Starren und ein genießendes Hingeben«; die so Erleuchteten »entsinken sich selber in einen namenlosen Abgrund größter Seligkeit.« »Was wir sind, starren wir an, und was wir anstarren, das sind wir.« 291 Die Ergossenheit des heiligen Geistes, das Baden in ihm nach dem Titusbrief 3, 4–6 (s. o.), wird in der mystischen Versunkenheit metaphorisch ausgeweitet zum Aufgehen in einem Meer (der Gottheit) 292 , dem grenzenlosen Abgrund nach Ruysbroeck, der einige Mystiker nach der Gottheit (Angelus Silesius sogar: der Über-Gottheit), in der sich auch der als Person noch zu begrenzte Gott auflöse, verlangen lässt; an die Stelle einer Person tritt die Atmosphäre des bloßen Gefühls. Ruysbroeck verwechselt im angeführten Text die aus der mystischen Versunkenheit folgende mystische Vereinung (unio mystica) mit Identität, die reziprok sein müsste; die Annahme solcher Umkehrbarkeit brachte dem islamischen Mystiker Halladsch einen grausamen Straftod ein, als er sich zu dem Satz verstiegen hatte: »Ich bin Gott.« Die unio mystica ist aber so wenig umkehrbare Identität, wie man im entsprechenden profanen Fall Nietzsches deswegen, weil er »ganz See, ganz Mittag, ganz Zeit ohne Ziel« war, annehmen kann, der Silser See sei Herr Friedrich Nietzsche geworden. Es liegt ein allgemeineres Verhältnis vor, das sich die Mystiker, die jener Verwechslung unterlagen, nur für den Fall der Identität vorstellen konnten. Alle Beziehungen sind gerichtet (von etwas, das sich bezieht, auf etwas, worauf es sich 290 Heinrich Seuse, Deutsche mystische Schriften, aus dem Mittelhochdeutschen übersetzt von Georg Hofmann, Düsseldorf 1966, S. 20 f. (Das Leben des seligen Heinrich Seuse, 2. Kapitel) 291 Jan van Ruysbroeck, Die Zierde der geistlichen Hochzeit und die kleineren Schriften, hg. und übertragen von F. M. Hübner, Leipzig 1924, S. 86 und 175 f. 292 Vgl. Das Göttliche S. 187–206: Die Mystik, darin zur Meermetapher 190–193, 196

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bezieht) und gehen durch Spaltung aus ungerichteten Verhältnissen hervor, z. B. die Abstammungsbeziehungen in einer Familie aus dem Stammbaum, die Beziehungen von Tönen zu Tönen in einer Tonleiter aus Intervallen und Akkorden, die Beziehung des Rechten zum Linken aus dem Verhältnis der Lage neben einander. Außer den spaltbaren Verhältnissen gibt es aber auch unspaltbare, d. h. nicht in gerichtete Beziehungen aufspaltbare Verhältnisse. Dazu gehören die hier gerade relevanten Verhältnisse des Aufgehens in etwas in der Ausleibung (einschließlich mystischer Versunkenheit), weiter ekstatische Zustände (Liebesekstase, ekstatisches gemeinsames Singen und Musizieren), aber auch ganz banale wie das gemeinsame Sägen mit der zweigriffigen Baumsäge. Die mittelalterliche Mystikerin Katharina von Genua wollte nichts von Liebe zu oder in Gott wissen, weil so ein zu oder in zwischen sie und Gott träte; sie redete daher Gott, den sie mit der reinen Liebe identifizierte, nie mit »Lieber« oder »Freund« an, sondern nannte ihn »Liebe«, »meine Liebe«. 293 Die Innigkeit des Verhältnisses, in dem sie durch mystische Versunkenheit mit Gott verbunden war, gestattete keine Spaltung in Beziehungen von ihr zu Gott oder umgekehrt. Friedrich Heiler unterschied prophetische und mystische Frömmigkeit und entsprechende Gebetsformen, wobei ihm aber die mystische Frömmigkeit etwas zu sehr (für meinen Geschmack) ins Dekadente und Überfeinerte geriet. 294 Die Gegenüberstellung als solche halte ich aber für nützlich, und ich möchte ihren Sinn auf die kurze Formel bringen: Die prophetische Frömmigkeit besteht in einer Beziehung zum religiösen Objekt, die mystische in einem unspaltbaren Verhältnis mit diesem. Wie wenig das Dekadente und Überfeinerte zur Mystik gehört, zeigt exemplarisch ein mystisches Sonett des Philosophen Johann Gottlieb Fichte, der sich fragt, was ihn durch das verworrene Weben des Raumes und der Zeit zur Quelle »des Schönen, Wahren, Guten und der Wonnen« führe und all sein Streben darin eintauche. Die Antwort gibt er in den drei Terzetten des Sonetts:

293 Friedrich von Huegel, The Mystical Element of Religion as Studied in Saint Catherine of Genoa and Her Friends, London 1923. vol. I S. 266 und II S. 101 294 Friedrich Heiler, Das Gebet, zuerst 1918, Nachdruck der 5. Auflage Basel 1969, S. 248–409

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Das ist’s! Seit in Urania’s Aug’, die tiefe Sich selber klare, blaue, stille, reine Lichtflamm’ ich, selber still, hineingesehen: Seitdem ruht dieses Aug’ mir in der Tiefe, Und ist in meinem Sein – das ewig Eine Lebt mir im Sehen, sieht in meinem Sehen. 295 Die Einweihung Fichtes geschieht wie die Seuses durch Ausleibung beim Starren in Glanz, hier als Blick in die Tiefe der Lichtflamme, die das Auge der Urania, des ewig Einen, ist. Die mystische Versunkenheit, wobei der Mystiker in dem aufgeht, in das er versinkt, kehrt sich für Fichte in der Weise um, dass das, in das er hineinblickt, seinerseits in ihn eingeht und fortan in seiner Tiefe ruht; der mystische Ertrag ist um so stärker und vor allem beständiger, weil ruhend in der Tiefe und nicht mehr auf die Ausschweifung in einer Ekstase angewiesen. Indem Fichte ist, lebt und sieht (auch in den Lebensvollzügen des Alltags), ist auch schon das ewig Eine in diesem Sein, Leben und Sehen, viel zu unmittelbar, um eine Beziehung zu ihm aufzunehmen. An deren Stelle tritt ein unspaltbares Verhältnis, aber keine Identität.

2.4.2

Götter

Götter sind Plakate göttlicher Atmosphären des Gefühls, die von diesen die Autorität mit unbedingtem Ernst übernehmen. Diesen Grundgedanken der Theologie, der Lehre von den Göttern, will ich in diesem Abschnitt zum Leitfaden machen. Dafür muss ich zunächst erklären, was ich unter einem Plakat verstehe. Es handelt sich um ein Verhältnis zwischen segmentierten und impressiven Situationen. Eine Situation ist Mannigfaltiges, das durch eine binnendiffuse Bedeutsamkeit aus Bedeutungen, die Sachverhalte, Programme oder Probleme sind, zusammengehalten und mehr oder weniger abgehoben wird. Die Bedeutsamkeit ist binnendiffus, wenn sie nicht in lauter einzelne Bestandteile gegliedert werden kann; einzeln ist, was eine Anzahl um 1 vermehrt. Eine Situation ist segmentiert, wenn ihre Bedeutsamkeit nie ganz, son295 Fichtes Werke, hg. v. Immanuel Hermann Fichte, Nachdruck Berlin 1971, Band XI (Vermischte Schriften aus dem Nachlass) S. 317 (zuerst im Musenalmanach auf das Jahr 1805)

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dern immer nur in Ausschnitten, zum Vorschein kommt. Sie ist impressiv, wenn ihre Bedeutsamkeit schlagartig präsent ist, selbstverständlich aber binnendiffus. Beispiele impressiver Situationen sind Gefahren, die mit den relevanten Sachverhalten, Programmen und Problemen schlagartig erkannt und mit einem Minimum von Analyse sofort geschickt beantwortet werden müssen, wenn kein Unglück geschehen soll, ferner der vielsagende Eindruck, an dem man etwas als ein Ding oder Tier von dieser Art, als diesen Menschen oder dessen bekannte Stimme, als diese Melodie usw. sofort erkennt, durch viele Abwandlungen der Darbietung hindurch. Beispiele segmentierter Situationen sind die Persönlichkeit einer menschlichen Person, d. h. ihre zuständliche (auf Veränderungen erst nach längeren Fristen abfragbare) persönliche Situation, ferner Sprachen, der Zeitgeist 296 , die Mentalität eines Lebenskreises, z. B. einer Familie mit mehr oder weniger Pietät und Reibungen oder eines Volkes mit einem bestimmten National- und Geschichtsbewusstsein. Segmentierte Situationen können gleichsam vergegenwärtigt, nämlich zu einem auf das Wesentliche verkürzten vielsagenden Eindruck (einer impressiven Situation) zusammengezogen werden; diese Zusammenfassung ist ein Plakat der segmentierten Situation. Knappe typologische Charakterisierungen von hoher Prägnanz vergegenwärtigen in dieser Weise Persönlichkeitstypen, so Freuds Charakteristik des analen Charakters durch drei Merkmale: ordentlich, sparsam, eigensinnig. Es ist ganz normal, dass man die Persönlichkeit eines Menschen bei der Begegnung, oft im ersten Eindruck, intuitiv schlagartig zu erfassen glaubt, worin man sich freilich täuschen kann. Das Zutrauen in dieses Vermögen erlaubt den Menschen, ihren Mitmenschen, von denen sie sich, wie man – wenig passend – sagt, ein Bild gemacht haben, gleichsam auf den Kopf zuzusagen, was für ein Mensch das ist: ein zuverlässiger oder ein Leichtfuß, ein schlaffer oder zupackender, träger oder geweckter, nervöser oder gelassener, derber oder feinsinniger Mensch. Wer solche pauschalen Urteile über sich selbst abgibt, überdreht seine Kompetenz. Von der eigenen persönlichen Situation kann man keinen Eindruck haben, sondern muss sich aus fragmentarischen Erfahrungen mit sich an sie herantasten. Besondere Bedeutung haben solche Plakate von der Persön-

296 Steffen Kluck, Der Zeitgeist als Situation, Rostock 2008 (Rostocker phänomenologische Manuskripte, hg. v. Michael Großheim, Heft 3)

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lichkeit eines Mitmenschen im erotischen Kontakt, als Leiteindruck. 297 Ein Mensch gewinnt von einem anderen einen Eindruck, der ihn nicht loslässt, so dass er – eventuell nach einigem Widerstand – nicht anders kann, als diesen Menschen zu lieben, und wird durch die fesselnde Kraft dieses Eindrucks so geführt, dass er damit den geliebten Menschen führt, wenn dieser merkt, dass seine ihm selbst nur in Fragmenten zugängliche persönliche Situation von dem betreffenden Leiteindruck so gut getroffenen wird, dass er, durch dessen Vermittlung dem Liebenden folgend, auf einen Weg gelangt, der seiner Persönlichkeit gemäß ist; in günstigen Fällen wird der Geliebte dann zum Liebenden, eventuell mit einem reziproken Leiteindruck, so dass es dahin kommt, dass die Liebenden sich gegenseitig führen. Schlimm ist es aber, wenn der Leiteindruck täuscht; dann geht der von ihm geführte Liebende in die Irre, und es ergeben sich leicht tragische Verwicklungen, die namentlich Goethe eindringlich dargestellt hat (Werther, Clavigo, Gretchentragödie, Die Wahlverwandtschaften). Explikation und Plakatierung sind die beiden Grundformen des orientierenden Umgangs mit Situationen. Die Explikation besteht im Abrufen einzelner Bedeutungen aus der binnendiffusen Bedeutsamkeit durch satzförmige Rede, der Kombination der explizierten Bedeutungen zu Konstellationen und der mehr oder weniger angepassten, aber nie vollständigen Rekonstruktion oder planenden Überholung der zu bearbeitenden Situation durch solche Konstellationen. Die Plakatierung wurde schon erklärt. Die Tiere sind ausschließlich auf sie angewiesen, da sie über keine satzförmige Rede verfügen. Sie plakatieren durch Rufe und Schreie, die einer segmentierten Situation den impressiven Akzent geben, wie etwa Alarm-, Lock- und Klagerufe, aber auch durch Rituale und Gesten (z. B. Imponiergehabe). Auch bei Menschen ist der Ausdruck (des Gesichts, der Gebärde, der Stimme) oft das Plakat einer segmentierten Situation. Darüber hinaus haben Menschen viele Felder für Plakatierung. Eines davon ist die Dichtung, in Gestalt einer redenden Explikation einzelner Bedeutungen aus der binnendiffusen Bedeutsamkeit von (oft erst durch den Dichter geschaffenen) Situationen, wobei es auf eine geschickte Sparsamkeit der Explikation ankommt, die einen so dünnen Schleier von Explikaten um die zu beleuchtende Situation (oder das Gefüge von Situationen) webt, dass diese (dieses) unverkürzt hindurchscheint und, unmittelbar unsagbar 297

Hermann Schmitz, Die Liebe, Bonn 1993, S. 90–97

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(wegen der Binnendiffusion), durch dichterische Rede vermittelt aufscheint. In diesem Sinn weist Simmel darauf hin, dass die Gestalten der Dramen Goethes ihr Wesen nicht durch das erschöpfen, was sie auf der Bühne sagen. Es sei ihnen eigen, »dass alles, was sie sagen und tun, nur als der zufällig beleuchtete, zu Worte kommende, dem Beschauer zugewandte Teil einer ganzen gerundeten, eine Unendlichkeit anderer möglicher Äußerungen einschließenden Persönlichkeit erscheint.« 298 Goethe gelingt es demnach, menschliche Persönlichkeiten, segmentierte Situationen, in seiner Dichtung (übrigens nicht nur der dramatischen) zu plakatieren. Ein anderes Plakat ist die Wohnung. Wohnen ist Kultur der Gefühle im umfriedeten Raum. 299 Dafür kommen insbesondere die häusliche Wohnung, die Kirche (Innenraum) und der Garten in Betracht. Aus dem Raum erlebter Anwesenheit, in dem Atmosphären des Gefühls ergossen sind, muss ein abgesteckter Bezirk entnommen werden, in dem diese Atmosphären zur menschlichen Behandlung eingefangen sind. Diese setzt bei Bewegungssuggestionen und synästhetischen Charakteren an, leibnahen – d. h. ebenso am eigenen Leib spürbaren wie an Gestalten wahrnehmbaren – Brückenqualitäten, an die sich Gefühle, wie sie Leiber ergreifen und dadurch gefühlt werden, auch dann heften können, wenn es sich um Merkmale leibloser Gegenstände handelt. Die Bearbeitung erreicht durch Züchtung und Dämpfung solcher Gefühle mit Hilfe von Bewegungssuggestionen und synästhetischen Charakteren – in der häuslichen Wohnung etwa durch Gestaltung der Wände, der Decke, des Fußbodens, durch Möblierung und Regelung des Lichteinfalls, der Temperatur und der Geräusche – ein dem Bewohner genehmes Klima des Gefühls in einem vielsagenden Eindruck, der als impressive Situation des Wohnzimmers, besetzt mit entsprechend geformten Gefühlen, die segmentierte Situation der Bewohner (der Familie, des Paares, des Singles) plakatiert, ebenso wie er auf diesen Gemeingeist, diese Lebensart, zurückwirkt. Das Verdienst, die Plakate für die Philosophie (der Sache, nicht dem Namen und der Begrifflichkeit nach) entdeckt zu haben, gebührt Heidegger. Im Winter 1931/32 behauptet er: »Das Wesen der Wahrheit 298 Georg Simmel, Über Goethes und Kants moralische Weltanschauung, in: Der Tag Nr. 287 vom 23. August 1908. In Das Göttliche gehe ich auf S. 542 in Anm. 2228 die Zwischenquellen an, durch die mir diese Nachricht zugekommen ist. 299 Das Göttliche S. 258–308: Wohnen als Kultur der Gefühle im umfriedeten Raum

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wird sich wandeln. (…) Dieser Wandel des Wesens der Wahrheit (…) ist die Umwälzung des ganzen menschlichen Seins, an deren Beginn wir stehen.« 300 Seine bald folgende Option für Adolf Hitler und den Nationalsozialismus verrät, dass es sich dabei um den Übergang von der in satzförmiger Rede ausgesprochenen Explikationswahrheit zur Plakatwahrheit handeln soll; so erklären sich die Sätze aus Heideggers Aufruf an die Studenten zur Reichstagswahl im November 1933: »Nicht Lehrsätze und ›Ideen‹ seien die Regeln Eures Seins. Der Führer selbst und allein ist die heutige und künftige deutsche Wirklichkeit und ihr Gesetz.« 301 Hitler ist damals für Heidegger das Plakat der segmentierten Situation des deutschen Volkes. Nach der Enttäuschung durch den Nationalsozialismus wird für Heidegger Hölderlin zum Erben Hitlers und die von jenem repräsentierte Dichtung zur neuen Gestalt der Wahrheit: »Die Wahrheit des Volkes ist die jeweilige Offenbarkeit des Seienden im Ganzen, demgemäß die tragenden und führenden Mächte ihre Ränge empfangen und ihre Einstimmigkeit erwirken.« 302 Diese Wahrheit realisiert die Dichtung durch Weiterwinken der Winke der Götter: 303 »Indem der Wink der Götter gleichsam in die Grundmauern der Sprache eines Volkes durch den Dichter hineingebaut wird, ohne dass vielleicht zunächst das Volk dies ahnt, wird im geschichtlichen Dasein des Volkes das Seyn gestiftet, in dieses Seyn eine Weisung und Angewiesenheit gelegt und in ihm hinterlegt.« 304 Fassbarer wird die Idee der Plakatierung in Heideggers 1935 verfasstem, 1950 in dem Buch Holzwege gedrucktem Aufsatz Der Ursprung des Kunstwerkes dargelegt. Heidegger überträgt die Plakatierung dem Kunstwerk als Plakat und umschreibt sie so: »In sich aufragend eröffnet das Werk eine Welt und hält diese im waltenden Verbleib. Werk sein heißt: eine Welt aufstellen.« 305 Eine Welt ist »die Lichtung der Bahnen der wesentlichen Weisungen, in die sich alles Entscheiden fügt.« 306 Es handelt sich um den Nomos einer segmentierten Situation, dessen Plakat das Kunstwerk ist. Heidegger gibt in Der Ursprung des Kunstwerkes dafür Heidegger-Gesamtausgabe Band 34 S. 323 f. Guido Schneeberger, Nachlese zu Heidegger, Bern 1962, S. 135 f. 302 Heidegger-Gesamtausgabe Band 39 S. 144 (Vorlesung Wintersemester 1934/35 über Hölderlins Hymnen »Germanien« und »Der Rhein«) 303 Ebd. S. 32 304 Ebd. S. 33 305 Holzwege S. 33 306 Ebd. S. 43 300 301

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ein Beispiel von der bäuerlichen Welt und zwei Beispiele aus der Welt des klassischen Griechentums; in beiden Fällen handelt es sich um segmentierte Situationen. Die bäuerliche Welt wird nach seiner Meinung durch ein von van Gogh gemaltes Schuhpaar, das er als Bauernschuhe auffasst, aufgestellt, die griechische Welt durch einen Tempel mit Paestum als Beispiel 307 und die Tragödie, speziell die Orestie des Aischylos: »In der Tragödie wird nichts auf- und vorgeführt, sondern der Kampf der neuen Götter gegen die alten wird gekämpft.« Dieser Kampf »verwandelt das Sagen des Volkes dahin, dass jetzt jedes wesentliche Wort diesen Kampf führt und zur Entscheidung stellt, was heilig ist und was unheilig, was groß und was klein, was wacker und was feig, was edel und was flüchtig, was Herr und was Knecht (vgl. Heraklit, Fragm. 53).« 308 Den Beispielen Heideggers könnte man viele Denkmäler hinzufügen, in denen sich die Gesinnung, die Mentalität eines Personenkreises zum Plakat verdichtet, wie etwa der »hohe Mut«, die hochgemute Gesinnung des mittelalterlichen Rittertums, in der Figur des Bamberger Reiters. Segmentierte Situationen tendieren zur Plakatierung ganz besonders dann, wenn sie von göttlichen Gefühlen erfüllt sind, die mit unbedingtem Ernst dem ergriffenen Menschen etwas vorschreiben. Solche Gefühle haften dann an einer binnendiffusen Bedeutsamkeit, die immer nur in Ausschnitten zum Vorschein kommt und es dem Menschen dadurch schwer macht, sich an ihr mit einer Bestimmtheit zu orientieren, die erforderlich wäre, um dem Anspruch des Gefühls zu genügen. Dafür benötigt er eine verdichtete Darbietung, an die er sich halten kann, ein Plakat der Situation und damit des Gefühls. Als Königsweg der Plakatierung erweist sich die Personifikation, da es gerade bei Personen, wie gezeigt wurde, leicht gelingt, einen vielsagenden Eindruck als Plakat ihrer Persönlichkeit zu gewinnen. Das ist das grundlegende Motiv des Übergangs von göttlichen Atmosphären, die in segmentierte Situationen eingewachsen sind, zu Göttern als Plakaten dieser Situationen und damit der Atmosphären. Als überzeugendes Beispiel dient mir der Anfang eines bekannten Liedes von Tersteegen: »Ich bete an die Macht der Liebe, die sich in Jesus offenbart.« Die Liebe, die er unmittelbar anbetet, ist ein vielseitiges und vieldeutiges göttliches (für Tersteegen anbetungswürdiges) Gefühl in einer zuständ307 308

Ebd. S. 30–32 Ebd. S. 32

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lichen Situation, deren binnendiffuse Bedeutsamkeit vom christlichen Glauben in vielen Facetten gestaltet ist; diese werden zusammengeführt in der Figur von Jesus, wie Tersteegen ihn sieht. In diesem präsentiert sich ihm die Liebe selbst und wird ihm fassbar; an dieses Leitbild kann er sich halten, um zu wissen, wie er dem Anspruch der Liebe genügen kann, und deswegen betet er die Liebe in Jesus und Jesus als Gott in der Liebe an. Wie in Jesus für Tersteegen die Liebe, offenbarte sich im Diktator Caesar für seine römischen Zeitgenossen die Macht der überraschenden Milde (clementia), der er seinen im Bürgerkrieg überwundenen Gegnern zuteil werden ließ, als eine göttliche Atmosphäre, wie es das Kultbild zeigt, das der Senat dem zum Gott mit Priester und Tempel erhobenen Diktator zudachte: Caesar und seine Milde reichen sich die Hand. 309 Die Zwiespältigkeit des Numinosen, das schauern macht und bis zur Begeisterung und unbedingten Anhänglichkeit fesseln kann, als ein zugleich einschüchterndes und anziehendes Geheimnis (mysterium tremendum et fascinans), fordert zu einer plakatierenden Verdichtung heraus, die ihm eine sonst im Zwiespalt verschwimmende geschlossene Fassbarkeit verleiht. Unübertrefflich ist solche Plakatierung in den Gestalten griechischer Götter gelungen, etwa bei den Geschwistern Apollon und Artemis. Apollon ist die numinose Macht des Lichtes, das einerseits erleuchtende Klarheit gewährt, andererseits grausam brennen kann und dabei eine fremdartige Hoheit behält, der nie ganz nahe zu kommen ist. Heidegger hat das göttliche Gefühl, das in Apollon Gestalt annimmt, das Apollinische also, ohne auf den Gott anzuspielen, in seiner Auslegung einer Elegie Hölderlins mit eigener Prägung gut getroffen: »Das Höchste über dem Licht ist die strahlende Lichtung selbst. Wir nennen nach einem älteren Wort unserer Muttersprache das reine Lichtende, das jedem ›Raum‹ und jedem ›Zeitraum‹ erst das Offen einräumt und d. h. hier gewährt, ›die Heitere‹. Sie ist in einem zumal die Klarheit (claritas), in deren Helle alles Klare ruht, und die Hoheit (serenitas), in deren Strenge alles Hohe steht, und die Frohheit (hilaritas), in deren Spiel alles Freigelöste schwingt. Die Heitere behält und hat alles im Unverstörten und Heilen. Sie ist das Heilige.« 310 Nur die grausame Kehrseite der Heitere in

Stefan Wemstock, Divus Julius, Oxford 1971, S. 287 Heidegger-Gesamtausgabe Band 4 S. 18 (Erläuterungen zu Hölderlins Dichtung: Heimkunft/An die Verwandten) 309 310

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Apollon, dessen Pfeile Krankheit und Tod senden 311 , hat Heidegger nicht berücksichtigt. Dieselbe Grausamkeit kommt bei seiner Schwester Artemis vor 312 , die die keusche, grausame Reinheit und Frische des von Menschenhand unberührten Wald- und Tierlebens plakatierend verkörpert. Gottheiten von gleichem Konkretionsgrad plakativer Verkörperung habe ich unter zwei Gesichtspunkten gemustert: dionysische Numina, für die der unvermittelte Umschlag zwischen Ruhe und heftiger Bewegung bezeichnend ist (Dionysos, Odin, Shiva) und palladische Numina, besonders Athene, als Gottheiten des mächtigen Aufstrahlens, etwa der Erleuchtung, die zu Überlegenheit in kritischen Situationen führt. 313 Solche Abrundung von Göttergestalten ist eine Hochform, die längst nicht immer erreicht wird. Manchmal fließen Götter bis zur Identität zusammen und trennen sich ebenso leicht wieder, so in der ägyptischen Religion. 314 In anderen Fällen gehen der Gott als Plakat und die Atmosphäre, die er plakatiert, ohne scharfe Grenze in einander über, so Ares und Aphrodite, die teils göttliche Personen, teils die Leidenschaften der Kampfes- und Liebesbegierde sind 315 , die Sila der Eskimo 316 und Jesus im urchristlichen Verständnis des Paulus 317 und Ignatius von Antiochien. 318 Manche Götter bleiben blass, wie Hestia selbst in Griechenland. Man darf aber nicht gleich von Abstraktionen sprechen. Das gilt auch für die Hypostasen. Eine Hypostase ist ein Gott, der den Namen einer Gattung führt. Dieser Typ ist in Indien, Ägypten, Griechenland und Rom reichlich vertreten. 319 Kurt Latte 311 Martin P. Nilsson, Geschichte der griechischen Religion Band 1, 2. Auflage München 1955, S. 541 312 Ebd. S. 482 313 Das Göttliche S. 43–64 314 Ebd. S. 156 315 Ebd. S. 158 f. 316 Ebd. S. 243 317 2. Korinther 3, 17: »Der Herr ist der Geist.« 318 Brief an die Magnesier 7, 1: »Versucht auch nicht, euch etwas auf eigene Faust zurechtzulegen, sondern in gemeinsamer Versammlung sei ein Gebet, ein Flehen, ein Sinn, eine Hoffnung in Liebe, in der untadeligen Freude. Das ist Jesus Christus, über den hinaus nichts besser ist.« (Die apostolischen Väter, eingeleitet, herausgegeben, übertragen und erläutert von Joseph A. Fischer, Darmstadt 1970, S. 166. Die deutsche Übersetzung habe ich leicht umformuliert.) Auch Ignatius identifiziert also wie Paulus Christus mit dem Gefühl, das heiliger Geist ist, s. o. 2.4.1 319 Quellen für Nachweise: Das Göttliche S. 163 Anm. 754

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spricht von »fälschlich als Begriffspersonifikationen bezeichneten Gottheiten«. 320 Es handelt sich weniger um eine Personifikation der Abstrakta als um eine Abstraktifizierung von Dämonen. 321 Für den brundisischen Kaufmann, der die erhabene Fides auf seinem Grabstein dankbar anredet252 , war diese gewiss im Ernst eine Göttin. Ich betrachte die Hypostasen als göttliche Atmosphären, die der Plakatierung nicht so zugänglich waren wie in den bei Apollon, Artemis usw. betrachteten Fällen. Es kann aber auch der umgekehrte Fall eintreten, dass die Atmosphäre schon von sich aus so lebendig und konkret gefühlt wird, dass gar nicht das Bedürfnis aufkommt, sie zu einem Plakat zu verdichten. Das ist der Fall beim heiligen Geist im Urchristentum. Später wird er als dritte Person der Trinität zum Plakat dieses urchristlichen Gefühls, aber nicht zum Plakat im Vollsinn, weil ihm als dogmatischem Konstrukt die Verdichtung zur impressiven Situation versagt bleibt, außer dort, wo er als ursprüngliches Gefühl wieder lebendig wird, wie bei den Quäkern und den modernen Pfingstkirchen.322 Eine Hypostase im strengen Wortsinn, aber von anderer Art ist der christliche Gott, da er den Gattungsnamen (»Gott«) als Eigennamen führt.

2.4.3

Gott

Die drei semitischen Religionen der Juden, Christen und Araber haben den intoleranten Monotheismus in die Welt gebracht, der sich, aber ohne eifernde Intoleranz, etwa gleichzeitig mit dessen erstem Vorkommen bei Deuterojesaja, auch bei Denkern und Dichtern in Griechenland anbahnt 323 und dort von Philosophen (Platon, Aristoteles, Stoiker) weitergeführt wird. Der Monotheismus beruht auf einer Rationalisierung der irrationalen numinosen majestas234 , der unfassbaren Überlegenheit und Größe des Göttlichen, zur fassbaren Bestimmtheit der »Idee des Maximum«, die Kant so begründet: »Denn das Größeste und absolut Vollständige lässt sich bestimmt gedenken, weil alle restringierenden Bedingungen, welche unbestimmt Mannigfaltigkeit geKurt Latte, Römische Religionsgeschichte, München 1960, S. 234 So (mit Berufung auf Kretschmer, Glotta XIII S. 106) Ziehen in: Realencyclopädie der klassischen Altertumswissenschaften Band III A2, 1929, Spalte 1486 322 Vgl. Ernst Benz, Der heilige Geist in Amerika, Düsseldorf 1970 323 Wolfgang Kiefner, Der religiöse Allbegriff des Aischylos, Hildesheim 1965 320 321

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ben, weggelassen werden.« 324 Der Charme des Monotheismus beruht darauf, dass der Fromme fortan weiß, womit er es in religiöser Einstellung zu tun hat; die Zufälligkeit des Göttlichen, die Unvorhersehbarkeit seines Wesens und Gesichts, entfällt. An ihre Stelle tritt die Bestimmtheit des größten Denkbaren, die Anselm von Canterbury im Proslogion klassisch formuliert hat als id, quo maius cogitari nequit, das, worüber hinaus nichts Größeres denkbar ist. Rein deduktiv lassen sich daraus die Eigenschaften Gottes ableiten, nämlich alle Vorzüge im höchsten Maß: Das, worüber hinaus nichts Größeres denkbar ist, muss allmächtig, allwissend, allgütig und zugleich gerecht, allgegenwärtig und ewig sein; Kant benützt diese Vorzüge als die Leine oder den Nasenring, woran er Gott auf den Platz eines korrekten Zahlmeisters zieht, der Glückseligkeit (in einem Leben nach dem Tode) in genau der Tugend eines Probanden angemessener Dosis als Lohn auszahlt, weil er gar nicht anders könnte, ohne seine Vorzüge zu verleugnen. 325 Die enorme Brauchbarkeit des Monotheismus zur rationalen Beschwichtigung menschlicher Unruhe und Besorgnis wird durch diese Deduktion augenscheinlich. Die islamische Orthodoxie wehrt solche Benützung der überragenden Größe Gottes als Zwangsjacke dadurch ab, dass sie aus seinen Vorzügen die Güte herausnimmt und Gott die Chance gibt, auch Böses zu wollen und zu tun. 326 Das ist allerdings ein hartes Zugeständnis an das Irrationale. Der Monotheismus spielt die Religion in die Metaphysik hinüber, indem er alles, was es gibt, in die Hände eines überlegenen Machthabers legt. Er verlässt damit aber den Boden der Religion, denn er kann die Frage nicht beantworten, warum Gott, dieser Machthaber, göttlich sein soll. Es wäre ja ganz erfreulich, wenn alles in der Welt von einem mächtigen und gütigen Weisen lückenlos geleitet würde; freilich ist das zu schön, um wahr zu sein, und der Verdruss darüber, dass sich keine Wagnisse mit offenem Ausgang mehr lohnen, weil für alles schon auf das Beste gesorgt ist, könnte das Vergnügen bald überwiegen. Aber völlig offen bleibt die Frage, ob ein so großer und tüchtiger Weltlenker Gott, also göttlich, ist, denn das definierende Merkmal Kritik der reinen Vernunft A665B693 Kritik der reinen Vernunft A815B843; Kritik der Urteilskraft, 3. Auflage 1799, S. 414 (Akademieausgabe Band 5 S. 444) 326 Alfred von Kremer, Geschichte der herrschenden Ideen des Islams, Nachdruck der 1. Auflage (Leipzig 1868) Darmstadt 1971, S. 38, 117 (nach Scharastani) 324 325

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des Göttlichen ist die Autorität mit unbedingtem Ernst, und die genannten Vorzüge verdienen sicher Dank und ein offenes Ohr für guten Rat, aber das reicht doch nicht zu solcher Autorität. Für diese gilt vielmehr aus den unter 2.3 für die Moral dargelegten Gründen, dass sie höchst persönlich sein muss, weil sie aus den für jemand subjektiven Tatsachen seiner Ergriffenheit von Gefühlen stammt und sich an seinem jeweils höchsten Niveau personaler Emanzipation, für das es kein Normalmaß gibt, bemisst, in der Weise, dass sich der Betreffende auch bei Mobilisierung aller Reserven seiner Kritikfähigkeit dem Anspruch auf Gehorsam nicht anders als zwiespältig entziehen kann. »Deus est vox relativa«, hat Newton geschrieben. Alles, was göttlich ist, auch jeder Gott, ist göttlich nur in der Perspektive eines Ergriffenen. Die Frage, ob es Gott oder einen Gott gibt, ist sinnlos, denn sie tut so, als ob es einen Gott so geben könne wie ein Tier, einen Menschen, einen Stein. Die gibt es an sich, aber einen Gott gibt es nur für jemand, für den dieser Gott aus der Ergriffenheit von einem Gefühl Autorität mit unbedingtem Ernst hat. Auch der vom Monotheismus erdachte Allmachthaber kann für jemand ein Gott sein, selbst wenn es ihn gar nicht gibt, denn auch Nichtseiende, wie Apollon und Artemis, können Götter sein; aber dass er ein Gott ist, folgt nicht aus seiner Eigenschaft als Allmachthaber nebst anderen schätzenswerten Qualitäten. Luther zeigt in seinem Großen Katechismus bemerkenswertes Verständnis für diese Relativität des Gottseins. Er definiert (mit modernisierter Orthographie): »Ein Gott heißet das, dazu man sich versehen soll alles Guten und Zuflucht haben in allen Nöten.« Wichtiger ist das Folgende: »Worauf du nur (sage ich) dein Herz hängest und verlässest, das ist eigentlich dein Gott.« »Darum sage ich abermals, (…) dass einen Gott haben heißet etwas haben, darauf das Herz gänzlich trauet.« 327 Luther legt den Akzent auf Glauben und Zutrauen, nicht auf den Gehorsam. Was ich an seiner Gottesauffassung für hellsichtig halte, ist seine Relativierung des Gottesbegriffes auf das Herz, d. h. die Ergriffenheit von Gefühlen. Er nennt den Mammon (Geld und Gut) sowie »große Kunst, Klugheit, Gewalt, Gunst, Freundschaft und Ehre« als mögliche Götter für jemand, die durch das erste Gebot ausgeschaltet werden sollen; das könnten Hypostasen (2.4.2) sein. So wie jede Moral eine individuelle Moral ist, mit einem Rechts327 Luthers Großer Katechismus. Textausgabe mit Kennzeichnung seiner Predigtgrundlagen und Einleitung von Johannes Meyer, Darmstadt 1968, S. 39 f. (Das erste Gebot 1.4)

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volk aus genau einem Mitglied (2.3), ist auch jede ursprüngliche Religion im vorhin angegebenen Sinn eine individuelle Religion mit genau einem Gläubigen als zugehörigem Volk. Das heißt aber nicht, dass jeder höchstens eine ursprüngliche Religion mit ganz privatem, von keinem anderen geteiltem Inhalt haben könne. Die Inhalte individueller Religionen können übereinstimmen, so wie in einem Rechtsvolk mit vielen Angehörigen die Kernnormen, die für die Angehörigen der Kerngruppe des Rechtsvolkes Normen ihrer übereinstimmenden Moralen sind. Ein Gott kann immer nur mein, dein, sein Gott sein, aber mein Gott kann auch dein Gott sein, für viele, die in diesem Sinn du sind. Demgemäß passen keine Dogmen über vermeintliche objektive Tatsachen metaphysischen oder historischen Inhalts in eine ursprüngliche Religion, sondern nur subjektive Bekenntnisse, etwa in der Weise, dass einer etwas als sein Göttliches, seinen Gott bekennt und damit anderen aus dem Herzen spricht, so dass sie einstimmen mit dem Bekenntnis: Das ist auch unser Göttliches, unser Gott. Im christlichen Bereich haben die Quäker dieses Ideal verwirklicht; manche protestantische, pietistische Zirkel mögen ihm nahe gekommen sein. Vom theologischen Standpunkt muss man dem Monotheismus vorwerfen, dass er die Spontaneität, Unvorhersehbarkeit und Zufälligkeit des Göttlichen durch eine metaphysische Setzung zudeckt und die Sensibilität der Menschen einschränkt, indem er gleichsam alles Wasser des Göttlichen in die Mühlen einer Metaphysik des einzigen Gottes zu leiten sucht. Dagegen steht der Vorteil des Monotheismus für die Menschen, dass er es ihnen bequem macht, indem sie genau zu wissen bekommen, wohin sie ihre Frömmigkeit orientieren sollen. Unter ontologischem Gesichtspunkt leidet der Monotheismus daran, dass er nur von objektiven Tatsachen Notiz nimmt und die subjektiven Tatsachen, aus denen die Religion, der er seine Form zu geben sucht, doch erst hervorgeht, ignoriert. Das rächt sich namentlich an der für ihn grundlegenden Lehre von der Allmacht Gottes. Im Bereich der objektiven Tatsachen mag das grobe Bild des Paulus noch hingehen, wenn er den Menschen einem Topf vergleicht, den der Töpfer, dessen Werk der Topf ist, nach Belieben aufheben, in Ehren halten oder zerschlagen darf (Römer 9, 20–22). Ontologisch bedenklich wird die postulierte Allmacht, wenn sie so weit geht, dass Gott in uns nicht nur das Vollbringen, sondern auch das Wollen wirkt (Philipper 2, 13). Der Mensch, der nicht mehr von sich aus will, sondern nur noch ein von Gott eingegebenes Wollen hat, wird zur Puppe Gottes. Augustinus beruft sich 181 https://doi.org/10.5771/9783495860755 .

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auf die Stelle und auf Ambrosius, um zu lehren, dass Gott in den Herzen der Menschen wirkt und ihre Willensrichtungen lenkt, wohin er will, zum Guten nach seiner Barmherzigkeit oder zum Bösen, wie sie es verdienen, so dass weder unser Herz noch unsere Gedanken in unserer Macht sind und, wenn wir Gutes wollen, vielmehr Gott in uns will. 328 Hiernach greift Gott beliebig tief in die Gesinnung eines Menschen hinein, in die aktive Seite seines affektiven Betroffenseins, die Art und Weise, wie der Mensch dieses annimmt. Wer so denkt, überschreitet ahnungslos die Schwelle zwischen objektiven und subjektiven Tatsachen. Um die objektive (neutrale) Tatsache der Gesinnung eines Menschen zu ändern, bedarf es nicht einmal göttlichen Eingreifens, sondern dafür genügt eine Eisenstange wie im Fall des Phineas Gage, aber diese objektive Tatsache ist nur ein Schatten der für Phineas subjektiven, die höchstens er im eigenen Namen hätte aussagen können, durch Verarmung und Verblassung (Abfallen der Subjektivität) aus dieser abgeleitet, und von der objektiven Tatsache zur subjektiven führt kein Weg der Verursachung (2.2.11). Das ergibt sich ganz einfach daraus, dass objektive und subjektive Tatsachen im Inhalt übereinstimmen können und dann nur durch die Tatsächlichkeit verschieden sind (2.1). Wenn zu einer objektiven Tatsache ein Merkmal der aktiven oder passiven Verursachung hinzukommt, wird nur der Inhalt vermehrt, der auf der anderen Seite ebenso vorkommen kann, und also nicht ein Übergang in die andere Tatsächlichkeit erreicht. Nur von den subjektiven Tatsachen her sind die objektiven erreichbar (2.2.2; 2.2.11). An den subjektiven Tatsachen der Gesinnung eines Menschen bricht sich also die Allmacht Gottes.

2.4.4

Epigonale Religion

Was bisher als Religion behandelt wurde, war erst die ursprüngliche Religion, das Verhalten aus unmittelbarem Betroffensein von Göttlichem, seien es göttliche Gefühle oder Götter. Eine breitere und weit mehr im sozialen Leben hervorstechende Ausdehnung hat die epigonale Religion, die Inszenierung des Nachwirkens ursprünglicher Religion in Institutionen, die den zündenden Funken in mehr oder weniger 328 De gratia et libero arbitrio XXI 43; De praedestinatione sanctorum, 2. Buch, VIII 19 und XIII 33

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erlöschender Glut zu bewahren oder auch diese neu zu entfachen suchen; dazu gehören Hierarchien, Rituale, Mythen, Dogmen und ihre Auslegungen. Epigonale Religionen verwalten ein mittelbares Verhalten aus Betroffensein von Göttlichem; dieses Verhalten kann bei einzelnen Teilnehmern ganz ohne solches Betroffensein stattfinden. Ebenso ist es aber auch möglich, dass im Rahmen einer solchen religiösen Institution und Organisation unmittelbares Betroffensein spontan wieder durchbricht und sich mit dem verwalteten mittelbaren Betroffensein in der einen oder anderen Weise verbindet. Dann entstehen religiöse Erneuerungen, die der epigonalen Religion frischeres und bunteres Leben zuführen. Wenn die Verbindung aber missglückt, wird die spontan aufgebrochene ursprüngliche Religion zur Häresie und von ihrer epigonalen Mutter meist verfolgt. Hier will ich zwei sehr aktuelle epigonale Religionen in Augenschein nehmen, den Islam und das Christentum. Beide Religionen gleichen sich nur begrenzt im Monotheismus, den zwar der Islam rein durchführt, das Christentum aber, das ihn für sich beansprucht, in unklarer – logisch in der Westkirche widerspruchsvoller, in der Ostkirche undurchsichtiger – Weise durch das Trinitätsdogma mit Synkretismus vermischt. 329 Die auszeichnende Gemeinsamkeit beider Religionen besteht vielmehr in der Bindung des gesamten affektiven Betroffenseins an das Thema der Macht Gottes. Schon bei den Heiden war Macht ein wichtiges Thema des affektiven Betroffenseins, aber neben anderen, ebenso wichtigen Themen wie Ehre und Ansehen, Lust und Leid, Familie und Freundschaft, Alter, Krankheit und Tod. Im Christentum wie im Islam werden alle diese anderen Themen dem Interesse an Macht unterstellt, wobei es sich zunächst um die Allmacht Gottes handelt; alle anderen Weisen des affektiven Betroffenseins werden reguliert durch den Hinblick auf die Allmacht Gottes mit dem Verlangen, von dieser ein gnädiges Schicksal für das ewige Leben nach dem Tode zu erlangen. Im Herrschaftsbereich des Islam bleibt es bei dieser Verbindung von Macht und Gott; auf dem Boden der Entfaltung des Christentums tritt nach dem Ende des Mittelalters eine Säkularisierung ein, in deren Verlauf die Macht zwar das beherrschende Thema des affektiven Betroffenseins bleibt, aber von den Menschen in die eigenen Hände genommen wird. 329 Vgl. Hermann Schmitz, Adolf Hitler in der Geschichte, Bonn 1999, S. 121–140: Die göttliche Dreieinigkeit

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Die Faszination durch die Macht als Thema wird in beiden Religionen durch das Interesse an Glück oder Unglück im Jenseits angetrieben; die Rückwirkung dieser Faszination auf das affektive Betroffensein ist in ihnen aber verschieden. Das Hauptbedürfnis, das durch die Abhängigkeit von der Allmacht Gottes befriedigt werden soll, ist im Islam nicht so sehr das private Glück des Gläubigen als vielmehr die affektive Beruhigung. Diese Allmacht wird von den Moslems über alle Maßen stark sich vorgehalten, um sich dabei beruhigen zu können, dass es sich gar nicht lohnt, sich aufzuregen, weil doch alles so kommt, wie Gott will. Was der Islam seinen Gläubigen hauptsächlich bietet, ist die Abdeckung gegen unvorhersehbare und unregulierbare emotionale Erschütterung. Deswegen ist ein wesentlicher Bestandteil des Islam die untergeordnete, gleichsam in ein enges Gehege eingebundene Stellung der Frau, die, wenn sie sich frei entfalten dürfte, einen unvorhersehbaren, affektiv gefährlich ergreifenden und erschütternden Reiz auf den Mann ausüben könnte. Aus demselben Grund ist der Islam geschworener Feind jeder kritischen Aufklärung, die die Festigkeit der dogmatischen Deiche gegen emotionale Überflutung erschüttern könnte. In eine Religion, deren Hauptabsicht die Abdeckung gegen unbeherrschbare emotionale Erschütterung ist, passt auch der Verzicht auf uneingeschränkte Güte Gottes326 , wodurch dieser dem Anschlag Kants auf seine Freiheit325 entzogen wird; der Grund der Beruhigung bleibt nämlich derselbe, egal, ob Gott gut oder böse ist: Stress lohnt nicht, Aufregung führt zu nichts, weil alles unabänderlich von Gott gesteuert wird. »Naturam expelles frustra, tamen usque recurret.« 330 Durch den dogmatischen Trost allein ließ sich das affektive Betroffensein nicht völlig beruhigen, wenigstens nicht in den von den Persern mitbestimmten Facetten des Islams. Dieser hat die unvermeidlichen emotionalen Ausbrüche teils durch Schienung, teils durch Mystik abgedeckt. Die Schienung gelingt in der schiitischen Konfession durch strikte Zusammenfassung heftiger Gefühlsausbrüche auf gewisse historische Anlässe aus der Gründerzeit des Islam (Schicksale Alis und Husseins) und bestimmte Feste und Riten im Jahr. Die Mystik der Sufi und Derwische zielt auf die unter 2.4.1 beschriebene Versunkenheit durch Ausleibung mit unspaltbarem Verhältnis mit Gott 331 und entHoraz, Epistulae I 10, 24 Al Gazzali nach v. Kremer, wie Anm. 326, S. 86: »Die vierte (und höchste) Klasse der Einwirkung der Rezitationen ist die jener vollendeten Geister, die bereits über die See330 331

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geht auf diese Weise durch Selbstvergessenheit der gefürchteten emotionalen Bedrängnis. Das Christentum reagiert auf die Bindung des affektiven Betroffenseins an das Machtthema umgekehrt wie der Islam, nämlich durch emotionale Aufwühlung. Sein auszeichnendes Merkmal unter den epigonalen Religionen ist der anthropozentrische Eudämonismus. Der Christ interessiert sich primär für sein Seelenheil, d. h. für sein Glück im Leben nach dem Tode, und ist zerrissen zwischen der hochgespannten Hoffnung auf ewige Seligkeit und der fast noch stärker aufwühlenden Furcht vor ewiger Verdammnis. So entsteht eine Alarmstimmung, die jeden Augenblick des Lebens vor dem Tode als Bewährungsprobe ungeheuer wichtig nimmt. Aus der Not dieser Zerrissenheit und anderen Nöten sucht der Christ Rettung bei dem Erlöser Jesus Christus; so wird das Christentum zur Erlösungsreligion. Dieser emotionale Druck ist so stark, dass er die Gottesvorstellung zerreißt, in einen Gott, der durch seine Allmacht den Menschen absolute Sicherheit garantieren kann, und einen Gott, der um der Menschen willen ohnmächtig leidet und stirbt; da beide Rollen nicht zusammenpassen, müssen sie auf verschiedene Personen verteilt werden, die doch derselbe Gott sein sollen, und so ergibt sich nach Hinzufügung des heiligen Geistes das logisch unstimmige Trinitätsdogma. In seltsamem Gegensatz zu dieser enormen Strapazierung Gottes für das Wohl der Menschen steht die Bedrohung der Menschen – sogar der meisten, mit Ausnahme relativ weniger Auserwählter – durch Gott mit ewiger Verdammnis; dieser Gegensatz weist auf das zwiespältige Schwanken des Heilsinteresses hin. Das Gesagte gilt in vollem Umfang nur für die Westkirche, die auf dem Boden des weströmischen Reiches sich entwickelt, und in höchstem Maß für das christliche Jahrtausend zwischen 312 und 1303, dem Edikt von Mailand und der Katastrophe des Papstes Bonifaz VIII., als das Christentum ohne Gegenstimmen die Bevölkerung erzog. In der auf dem Boden des oströmischen Reiches und bei den von dort aus kolonisierten Slawen gewachsenen Ostkirche war der transzendente Ehrgeiz größer, auf Grund der johanneischen Schriften, namentlich lenzustände (abwal) und die Ekstase (makamat) hinausgelangt sind und deren Verständnis schon für alles andere außer Gott verschlossen ist, so dass ein solcher seiner selbst entäußert ist, dass er seine eigenen Seelenzustände und Werkübungen nicht mehr kennt, und wie sinnenbetäubt sich versenkt in den Ozean der Gottesanschauung (shohud). Diesen Zustand pflegen die Sufis mit dem Ausdruck der Vernichtung (fana = nirvana) zu bezeichnen.«

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der Ankündigung im 1. Johannesbrief (3, 2), dass wir Gott gleich sein werden, wenn wir ihn sehen, wie er ist. Demgemäß deutet Athanasius die Heilsgeschichte: Gott wurde zum Menschen, damit wir (auserwählte Menschen) vergottet werden. 332 Dieser transzendente Ehrgeiz, an dem Maximus Confessor, der Augustinus der Ostkirche, weiterbaut 333 , führt zu einer dem Westen fremden relativen Gleichgültigkeit gegen das in mystischer Einstellung überholte Erdenleben und damit zur bereitwilligen Auslieferung an Tyrannen. Das Motiv der Erlösung ist dem Christentum weitgehend abhanden gekommen. Sein metaphysischer Unterbau wirkt nach der Kritik der Aufklärung und der Wissenschaft naiv, und die Erlösungshoffnung ist nicht einmal durch die Todesfurcht mehr anzustacheln, da die Menschen sich mehr und mehr zutrauen, sich schon vor dem Tod als das, was ihnen vorschwebt, verwirklichen zu können. Auf diesen Tendenzwechsel hat das Christentum reagiert. Es ist aus einer Erlösungsreligion zu einer Religion der Liebe geworden, der sogenannten Nächstenliebe. »Gott ist Liebe«, ist schon ein biblischer Satz (1. Johannes 4, 16), der in der Kirchengeschichte einflussreich bleibt 334 , und ein Gefühl mit seinem Plakat (Gott) identifiziert, wobei aber die Liebe ihr Gesicht verändert. In den synoptischen Evangelien tritt sie zurück. Jesus proklamiert die Nächstenliebe in apologetischer Absicht, zur Versicherung seiner Schriftgläubigkeit, und reagiert auf die Frage, wer der zu liebende Nächste sei, mit dem Gleichnis vom barmherzigen Samariter, der einem Verunglückten hilft, wobei er die Frage so wendet, dass herauskommt: Nicht der Verunglückte ist der Nächste des Samariters, sondern der Samariter ist, obwohl von seiner Liebebedürftigkeit gar nicht die Rede war, der Nächste des Verunglückten. 335 Diese Drehung weist darauf hin, dass es Jesus eigentlich nicht um die Liebe geht, sondern um die Nächstheit. Der synoptische Jesus ist von der Vorstellung besessen, das Reich Gottes sei gekommen und habe alle gesellschaftlichen Ordnungen mit den dadurch zwischen den Menschen aufgerichteten Schranken umgestürzt; dann bleibt nur noch die spontane Nähe von Mensch zu Mensch, die Jesus am Beispiel einer spontanen HilfsbereitDe incarnatione verbi ed. Kannegießer, Paris 1973, S. 458 (54, 3) Wie Anm. 329, S. 133–135 (zu Athanasius) und S. 148–161 (zu Maximus Confessor) 334 Hermann Schmitz, System der Philosophie Band III Teil 2, zuerst 1969, S. 515–519: Gott ist Liebe 335 Lukasevangelium 10, 25–37 332 333

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Die Religion

schaft erläutert. Alles, was in den synoptischen Evangelien auf Liebe gedeutet werden kann, passt zu dieser Sicht. In den johanneischen Schriften, die etwas später im Dienst einer gereifteren Interpretation des Christentums verfasst worden sind, tritt die Liebe massiv in den Vordergrund, aber es handelt sich immer nur um die Liebe unter den Genossen der Gemeinde, ein Gefühl in der gemeinsamen Situation der Auserwählten gemäß 1. Johannes 3, 2. So auch bei Paulus. Wie weit dieser bei seiner Verherrlichung der Liebe von einer allgemeinen Liebe zu irgend welchen Menschen entfernt ist, zeigt seine Verwünschung der Juden, zu denen der Zorn bis zum (bitteren) Ende schon unterwegs sei, bevor sie noch ihre Schandtaten vollendet haben (1. Thessaloniker 2, 16). Noch bei Augustinus ist die Liebe so exklusiv gemeint, denn er lehrt, dass die Auserwählten nur einander genießen sollen, während die Verworfenen geboren seien, um von jenen benutzt zu werden 336 , was Augustinus an anderer Stelle so erläutert: Die nicht erwählten Menschen, die der Verdammung anheimfallen, hat Gott geschaffen, damit die Erwählten (im Jenseits) sehen, was ihnen hätte blühen können, und der heilsame Schrecken ihnen den Mund stopft 337 , so dass sie sich höchsten noch im Herrn rühmen. 338 Nach allgemeiner Menschenliebe sieht das nicht aus. Diese scheint erst später die Rolle der christlichen Nächstenliebe übernommen zu haben. Man kann sich fragen, ob das Wort »Liebe« für das, was man heute unter christlicher Nächstenliebe zu verstehen pflegt, gut gewählt ist. Liebe, die Menschen verbindet, ist ein zufälliges Glück, ein einschneidendes Ereignis, das nicht durch beliebige Ausbreitung nivelliert werden kann. Edith Landmann, eine Adeptin Stefan Georges, schreibt in diesem Sinn: »Die moderne Welt kennt zwar ein altes, von dem Inderund Christentum übernommenes Ideal der Hingebung und Liebe. Aber dieses Ideal zeichnet sich durch die furchtbare Wahllosigkeit aus, mit der es diese Hingebung nicht nur zulässt, sondern fordert.« 339 Vielleicht wäre es besser, Goethes drei Ehrfurchten vor dem, was über uns, uns gleich und unter uns ist, als Leitbild zu wählen, verbunden mit der Gerechtigkeit, die der kritisch geprüften »augenblicklichen Goldwaage der Empfindung«199 tätig Folge leistet. Dann würde zu der in der Contra Julianum 5, 14 Anspielung auf Paulus, Römer 3, 19 338 Brief 186, 26 (Augustinus und Alypius an Paulinus) 339 Georgika, Heidelberg 1920, zitiert bei: Ulrich Raulff, Kreis ohne Meister, München 2010, S. 147 336 337

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Verbindlich geltende Normen

Nächstenliebe ausschließlich gepflegten Zuwendung die Reflexion hinzukommen, die das zur Achtung erforderliche Maß an Zurückhaltung einstellt. Die Ehrfurcht vor dem, was unter uns ist, würde auch auf die Tiere ausgreifen, die im Zeichen des anthropozentrischen Eudämonismus, unter dem das Christentum angetreten ist, zu kurz kommen.

2.5 Ästhetoide Normen 2.5.1

Ästhetische Normen

Ästhetoide Normen sind solche, die mit bedingtem Ernst verbindlich gelten, also Schalennormen nach der unter 2.2.5 eingeführten Terminologie. Ihre Möglichkeit beruht (laut 1) auf der Fähigkeit der Person, auf verschiedenen Niveaus ihrer personalen Emanzipation zugleich zu stehen; diese bilden dann ein zwiespältiges (instabiles) Mannigfaltiges. Auf einem solchen Niveau hängt die Person an der Norm, so dass sie dieser ihre Bereitschaft zum Gehorsam nicht nach Belieben entziehen kann; dennoch hat sie ein höheres Niveau in Reserve, auf dem diese Bindung wegfallen würde, doch kann dieses Niveau sich gegen das gebundene nicht so durchsetzen, dass die in der Sicht der Person verbindliche Geltung entfiele. Es steht aber als Rückzugsposition in geeigneten Umständen zur Verfügung. »Ästhetoid« nenne ich solche Normen, weil die ästhetischen Normen als Musterbeispiel für sie dienen können. Dabei genügt es, die Schönheit ins Auge zu fassen, weil das Wort »schön« in so weitem Sinn verstanden werden kann, dass alle ästhetischen Normen, die günstige Stellungnahmen gebieten, als Normen im Dienst des Schönen aufgefasst werden können. Bei engerer Fassung des Schönheitsbegriffs, wenn z. B. das Schöne vom Erhabenen unterschieden wird, müssen inhaltliche Differenzierungen eingeführt werden. Meine einschlägigen Überlegungen stehen in Das Göttliche241 S. 662– 685 und nehmen auf leibliche Dynamik und deren Spiegelung durch leibnahe Brückenqualitäten (Bewegungssuggestionen und synästhetische Charaktere) in Gestalten und Qualitäten Bezug. Auf diese inhaltlichen Grundlagen ästhetischer Bewertung (wozu ich dort auch das Hässliche herangezogen habe) kommt es jetzt nicht an; hier beschränke ich mich auf den Geltungstyp ästhetischer Normen. Es ist ein unvergängliches, kaum hoch genug zu schätzendes Ver188 https://doi.org/10.5771/9783495860755 .

Ästhetoide Normen

dienst von Kant, dass er in seiner Kritik der Urteilskraft auf den zweideutigen oder zwiespältigen Anspruchscharakter von Geschmacksurteilen des Typs »Das ist schön« und »Das ist nicht schön« aufmerksam gemacht hat. Solche Beurteilungen nehmen sich scheinbar zu viel vor. Sie erheben Anspruch auf allgemeine Anerkennung; man sagt ja nicht »Das ist mir schön«, wie »Das ist mir angenehm«, sondern schreibt dem Gegenstand, wie er für jedermann da ist, eine solche Dignität zu. Dafür kann man sich aber nur sehr unzulänglich rechtfertigen. Die Gründe, die man anführen kann, einschließlich aller aus Begriffen zusammengestellten Axiome, auf die man sich berufen mag, sind nicht weniger, aber mehr bestreitbar als die spontane Stellungnahme im Einzelfall. Das ist allerdings auch der Fall bei der Farbnamenwahl. Wer etwas Rotes »rot« nennt, kann sich dafür schwerlich rechtfertigen, aber das hat er auch nicht nötig, weil die Demonstration des Objektes genügt, um den Normalsichtigen zu überzeugen. Im Fall des ästhetischen Urteils fehlt die entsprechende ästhetische Normalsichtigkeit. Die Geschmäcker sind zu verschieden, und vor den dabei auftretenden Konflikten wird die Härte des herrischen Anspruches, der mit der Feststellung »Das ist schön« verbunden ist, überraschend weich. Niemand denkt daran, den Gegner wie im Recht und der Moral mit der Gewalt, die die Empörung eingibt, zu strafen oder der Rache anheimzugeben. Den Gegner, der das eben nicht schön findet, lässt man, nachdem man mehr oder weniger energisch auf ihn eingeredet hat, mit Achselzucken stehen. So ernst, als mit unbedingtem Ernst bewaffnet, wird das Geschmacksurteil doch nicht genommen. Das liegt nicht daran, dass Geschmacksfragen harmlos wären. Von nach eigenem Urteil grob geschmacklosen Darbietungen kann man mindestens so schwer beleidigt und getroffen werden wie von Schimpfreden, die strafbar sind. Der Urteilende zieht sich auf seinen Standpunkt zurück, auf dem er seiner Sache sicher ist, wenn er den Anspruch an alle erhebt, aber er lässt den entgegengesetzten Anspruch gelten, nicht den Worten, aber der Tat oder vielmehr dem Verzicht auf Taten nach. Diese eigentümlich tolerante und dennoch unnachgiebige, trotz fehlender Rechtfertigung selbstsichere Anspruchshaltung des Geschmacksurteils muss verständlich gemacht werden. Kant hat damit keinen Erfolg gehabt. Er zieht sich auf eine angebliche Zweckmäßigkeit des als schön beurteilten Gegenstandes für das freie Spiel der Seelenvermögen Verstand und Einbildungskraft bei der Beschäftigung mit jenem zurück und behauptet, die Bedingungen für dieses freie Spiel 189 https://doi.org/10.5771/9783495860755 .

Verbindlich geltende Normen

müssten bei allen Menschen gleich sein, damit sie sich ihre Erkenntnisse mitteilen könnten, und die Erfüllung dieser Bedingungen durch geeignete Objekte müssten ihnen gleiches Vergnügen machen, mit der Folge, dass sie, auf Grund solcher ästhetischen Lust am freien Spiel von Verstand und Einbildungskraft miteinander, den Gegenstand, der ihnen dazu Gelegenheit gibt, als schön beurteilten; der Rechtsgrund des Geschmacksurteils wäre demnach das Interesse an der Mitteilbarkeit von Erkenntnis. 340 Alle diese Annahmen sind nicht nur falsch oder extrem fragwürdig, sondern leisten auch nichts zur Lösung der Aufgabe. Weder wird klar, warum Ansprüche auf allgemeine Anerkennung erhoben werden, noch, warum nicht eine psychologische Rechtfertigung des Geschmacksurteils möglich sein soll, gesetzt, der Sinn der Reden von Verstand, Einbildungskraft und ihrem freien Spiel ließe sich hinlänglich präzisieren; schließlich bleibt der von Kant nicht beachtete Kontrast zwischen dem steifen Anspruch auf allgemeine Geltung und der Toleranz gegen deren faktische Bestreitung, die daran hindert, dass es über Geschmacksfragen zum Krieg kommt, unerklärt. Kant scheitert an der Lösung des im Ansatz richtig gesehenen Problems, weil er der psychologistisch-reduktionistisch-introjektionistischen Denkweise57 verfallen ist und daher das Verhältnis des Persönlichen und Unpersönlichen im Gefühlsleben falsch beurteilt. Gefühle sind für ihn Privatsache und beschränken sich auf Lust und Unlust (als ob feierlicher Ernst, ein mächtiges Gefühl, nicht frei von Lust und Unlust wäre). Deswegen kann er sich Geltung auf Grund von Gefühlen, auch nur den Anspruch darauf, bloß als Übereinstimmung vieler Fühlweisen von Mensch zu Mensch, von Privatsphäre zu Privatsphäre, zurechtlegen und muss krampfhaft erstens nach einem für ästhetisches Wohlgefallen ausreichenden Rechtsgrund zur Annahme solcher Übereinstimmung suchen, zweitens aus der bloßen Übereinstimmung einen Anspruch auf allgemeine Anerkennung, aus der Tatsache eine zur Geltung angebotene Norm, herausholen, was beides nicht gelingt und wohl auch nicht gelingen kann. Tatsächlich kommen Gefühle zwar als Privatsache, ebenso aber als geteilte in gemeinsamen Situationen vor, und das unüberwindlich Einzelnmenschliche ist nicht das Gefühl als Atmosphäre und/oder ergreifende Macht, sondern das primär leibliche, sekundär personal geformte 340 Vgl. Hermann Schmitz, Der Weg der europäischen Philosophie. Eine Gewissenserforschung, Freiburg i. Br./München 2007, Band 2 S. 417

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Ästhetoide Normen

Ergriffensein von ihm (2.2.2). Gefühle haben Autorität und können dadurch verbindliche Geltung von Normen für den Ergriffenen stiften, wobei es darauf ankommt, den Doppelsinn von »für« in diesem Zusammenhang zu beachten: Für den Ergriffenen, d. h. in seiner Perspektive, machen Gefühle Geltung verbindlich, aber in dieser Perspektive können sie auch für andere, die nicht so ergriffen sind, als Adressaten gelten, denen die Geltung zugemutet wird (1). Wenn nun gewisse Gefühle wie Ehrfurcht, Bewunderung, Begeisterung für den von ihnen Ergriffenen die Norm, einen Gegenstand als schön günstig zu bewerten (oder entgegengesetzte Gefühle die Norm, ihn ungünstig als hässlich zu bewerten) zu verbindlicher Geltung erheben, tritt dieser Fall ein, dass der Adressatenkreis der Norm in der Perspektive des Ergriffenen weit über den Kreis der Inhaber dieser Perspektive hinausgeht, und das ist der Anspruch des Geschmacksurteils auf allgemeine Geltung. Weil die Verbindlichkeit aber nur bedingten Ernst hat, hält der Ergriffene nicht mit letzter Entschlossenheit um jeden Preis an ihr fest, wie an einer moralischen Empörung, für die er gleichsam durch das Feuer geht wie Michael Kohlhaas. Zwar missbilligt er abweichende Geschmacksurteile und sucht den Gegnern im Streit über den guten Geschmack seine Überzeugung beizubringen, aber, wenn es nichts nützt, lässt er sie gewähren, weil er in Reserve ein Niveau seiner personalen Emanzipation hat, auf dem sich ihm das Schöne zwar als eine wunderbare Sache, die allen Eifers wert ist, aber so darstellt, dass man sich notfalls auch davon zurückziehen kann, dass es nicht entscheidend darauf ankommt. Der Sinn für das Schöne hat nicht den Rang eines Gewissensgefühls. Der dritte Aspekt des von Kant aufgeworfenen Problems, dass sich nämlich der allgemeine Anspruch des Geschmacksurteils nicht auf eine für den Unbefangenen einleuchtende Weise rechtfertigen lässt, geht darauf zurück, dass die Rechtfertigung lediglich in der Autorität ergreifender Gefühle besteht und es ganz unmöglich ist, die Perspektive der Ergriffenheit einem Neutralen, der nicht so ergriffen ist, anzudemonstrieren, es müsste denn gelingen, ihm die Neutralität zu nehmen und ihn in die eigene Perspektive hineinzuziehen; dann braucht er keine weitere Rechtfertigung als die eigene Ergriffenheit. In der ästhetischen Einstellung behält die personale Emanzipation eine Überlegenheit, die vor Fanatismus bewahrt; in der Religion, zu der auch die Moral gehört, ist sie dem unbedingten Ernst der Autorität von Gefühlen unterlegen. Ohne Religion gäbe es nichts Unbedingtes außer der nackten Evidenz von Tatsachen; ohne ästhetoide Normen gäbe es 191 https://doi.org/10.5771/9783495860755 .

Verbindlich geltende Normen

keine Chance, auch unter dem Druck einer Ergriffenheit noch nachzugeben. Zwischen beiden Seiten gibt es aber Übergänge, die für jede ein Gewinn sein können, indem sie etwa ästhetischen Normen eine zusätzliche Tiefe und religiösen eine Lockerung gegen die Gefahr der Verhärtung und Versteifung bringen. Als Beispiel will ich einige Zeilen aus dem Gedicht Nachts von Mörike anführen. Nachdem der Dichter das nächtliche Weben der Naturkräfte auf dem Weg zur Dämmerung beschrieben hat, fährt er mit einer Reflexion auf sich fort: Mir aber in geheimer Brust erwacht Ein peinlich Widerspiel von Fülle und Entbehrung Vor diesem Bild, so schweigend und so groß. Mein Herz, wie gerne machtest du dich los! Du schwankendes, dem jeder Halt gebricht, Willst, kaum entflohn, zurück zu deinesgleichen. Trägst du der Schönheit Götterstille nicht, So beuge dich! denn hier ist kein Entweichen. In der Götterstille der Schönheit fließen Religiöses und Ästhetisches zusammen. Die Mahnung an das unausweichliche Gebot, sich diesem Göttlichen zu beugen, setzt dem Fluchtdrang des Herzens den unbedingten Ernst verbindlicher Geltung einer Norm entgegen. Andererseits deutet die Rollenteilung zwischen dem zwiespältigen Herzen und dem es mahnenden Dichter darauf hin, dass noch über dem Niveau des Herzens ein Niveau des Dichters selbst erreichbar ist, nicht säuberlich davon getrennt, sondern im Zwiespalt instabiler Mannigfaltigkeit damit verbunden. Auf diese Weise wird die religiöse Verbindlichkeit mit unbedingtem Ernst auch wieder ästhetisch und damit ästhetoid relativiert. Beide Typen der Verbindlichkeit spielen in einander, ohne ihre Eigenart zu verlieren.

2.5.2

Werte

Schönheit kann als ein Wert aufgefasst werden, und, was für sie ermittelt wurde, lässt sich analog auf alle anderen Werte übertragen – Werte in dem Sinn des Wortes, der in Deutschland, aber auch (mit etwas geringerer Intensität) im Ausland (bei den Angelsachsen, bei Sartre) eine Hochkonjunktur der Wertphilosophie als Grundlage der Ethik inspiriert hat. Die Krönung dieser Bemühungen ist die materiale Wertethik 192 https://doi.org/10.5771/9783495860755 .

Ästhetoide Normen

von Scheler, Nicolai Hartmann und ihren Anhängern 341 , die Werte und parallele Unwerte mit ewiger Ordnung wie platonische Ideen in einem Reich zeitloser Geltung hypostasiert. Diese Auffassung ist aus zwei Gründen unhaltbar. Der erste, mehr formale betrifft die Selbstanwendung der Werte (analog der Selbstanwendung, die den platonischen Ideen verhängnisvoll wurde 342 ). Die Werte und die zugehörigen Unwerte, z. B. das Gute, das Edle, die Reinheit und die Fülle – die vier sittlichen Grundwerte nach Nicolai Hartmann –, nebst dem Bösen, Gemeinen, Unreinen und sittlich Armen, müssen, um überhaupt etwas zu sein, mindestens ihren eigenen Wert bzw. Unwert haben: Das Gute muss gut sein, das Böse böse usw. Nun kann aber etwas nur böse sein, indem es ein Substrat qualifiziert, z. B. einen bösen Menschen, eine böse Absicht; entsprechendes gilt in den anderen Fällen. Die hypostasierten Werte und Unwerte dulden aber kein solches Substrat, das ihre zeitlose Idealität mit empirischem Stoff kontaminieren würde. Die Fülle als reiner Wert, als bloße Fülle ohne jede inhaltliche Füllung, fiele gar zu mager aus. Den zweiten, inhaltlichen Gegengrund habe ich so formuliert: »Die Zuschreibung von Werten und Unwerten geht auf Erfahrungen zurück, die den Menschen emotional stark heimsuchen, wobei das affektive Betroffensein nicht als zufällige Begleiterscheinung imponiert, sondern als etwas, das sich gehört und gewissermaßen geschuldet wird, so dass sein Ausbleiben ein peinlicher Mangel wäre. Dem Bösen gebührt Empörung, dem Heiligen anbetende Verehrung, dem Schönen beglückte Bewunderung. Gefühle als Atmosphären und leiblich ergreifende Mächte haben die zu solcher Schuldigkeit gehörige Kraft, verbindlich geltende Normen aufzuerlegen, durch ihre Autorität. Die Werte als ideale Hypostasen sind dagegen zu dünn, zu abstrakt, um die dynamische Autorität der Gefühle zu ersetzen. Der höchste Wert ist nach Scheler das Heilige. Mir ist schwer erträglich, das Heilige auf dem Thron des obersten Wertes vorzustellen. Zum Heiligen gehört der numinose Schauder, das numinose Entzücken nach Rudolf Otto als Atmosphäre des ergreifenden Gefühls. Ein bloßer Wert bleibt dahinter peinlich zurück.« 343 Diese fehlende Dynamik der Werte ergab unter 2.2.1 mit dem Justine-Juliette-Argument ihre Unfähigkeit,

341 342 343

Vgl. ebd. S. 703–720 Hermann Schmitz, Die Ideenlehre des Aristoteles Band 2, Bonn 1985, S. 180–193 Wie Anm. 340, S. 707 f.

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Verbindlich geltende Normen

dem Recht und damit auch der Moral (als spezieller Rechtskultur) die Grundlage zu liefern. Heidegger, kein Freund der Werte, hat geschrieben: »Der Wert und das Werthafte wird zum positivistischen Ersatz für das Metaphysische.« 344 Ich habe diesen Satz so umformuliert: »Die Werte sind der positivistische Ersatz für das Atmosphärische.« Im Zuge der Weltspaltung durch die Einführung der psychologistisch-reduktionistisch-introjektionistischen Denkweise57 wurde alles Atmosphärische aus der Außenwelt abgeräumt und als Privatgefühl (Lust und Unlust) in die Seelen gesteckt. Um einen Ersatz zu schaffen, der für die allzu mager und kahl verbliebene Außenwelt entschädigen konnte, projizierte man Köder des affektiven Betroffenseins mit gehöriger Strahlkraft in ein überempirisches Jenseits, und so entstanden gleich nach der Weltspaltung die platonischen Ideen in idealisierender Auffassung 345 , das Gute, Schöne und Gerechte, als die ersten Werte. Positivistisch in Heideggers Sinn war der Reduktionismus, die Ausräumung der zwischen den Seelen verbliebenen empirischen Außenwelt. Wenn dieser Fehler und die ihn kompensierende Projektion rückgängig gemacht werden, lässt sich ein Begriff des Wertes phänomenologisch haltbar einführen: Werte sind die Markierungen von Wertungen (im Sinne günstiger Stellungnahmen), die den Menschen durch die Autorität von Gefühlen mittels verbindlich geltender Normen abverlangt werden. Werte werden also von Menschen erwertet; sie sind Reflexe von Wertungen, aber nicht von solchen, die den Menschen nur belieben, sondern von solchen, die ihnen durch die Verbindlichkeit stiftende Macht von Gefühlen auferlegt werden. Solche Gefühle können etwa Ehrfurcht, Verehrung, Achtung, Bewunderung, Begeisterung, Entzücken sein; oft wird die Sprache keinen passenden Namen bereithalten. Das Entsprechende gilt für Unwerte, nur dass es sich um ungünstige Stellungnahmen und dazu passende Gefühle handelt. Die Normen, die den Menschen vom Gefühl her Wertungen auferlegen, haben im Allgemeinen Verbindlichkeit mit bedingtem Ernst. Diese Einsicht kann aus den vorbildlichen Analysen Nicolai Hartmanns in seiner Ethik 346 gewonnen werden. Das Buch hat drei Teile. Martin Heidegger, Holzwege, Frankfurt a. M. 1950, S. 210 Es gibt auch noch ein anderes Gesicht der Ideen bei Platon (wie Anm. 342, S. 6–9: Ein Zwiespalt an der Wurzel der Ideenlehre) 346 Nicolai Hartmann, Ethik, zuerst 1927, 3. Auflage Berlin 1949 344 345

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Ästhetoide Normen

Der erste Teil entwickelt ausgreifend und detailliert die verfehlte idealistische Hypostasierung der Werte; der dritte Teil, über die Willensfreiheit, ist falsch angelegt und fördert nichts. Der längste mittlere Teil über das Reich der ethischen Werte (S. 250–620) enthält vorbildlich genaue, klare und subtile Analysen, die ihren Wert auch bei Verzicht auf die idealistische Konzeption behalten und als Fundgrube sorgfältig und scharfsinnig abgewogener Zeugnisse eines fein ausgebildeten Wertfühlens anhaltende Aufmerksamkeit verdienen. Dem steht nicht entgegen, dass viele Aufstellungen der Diskussion und meines Erachtens auch der Korrektur bedürfen; angesichts des Fehlens vergleichbar gründlicher und vielseitig nuancierter Arbeiten über Werte kann solcher Bedarf vielmehr als Ansporn begrüßt werden. Zu den größten Verdiensten der Wertanalysen Hartmanns gehört die Abfertigung der simplen Konstruktion Schelers, die Werte und Unwerte in einer einfachen linearen Rangordnung aufzureihen. Hartmann betont nachdrücklich die Mehrdimensionalität des Wertereichs, die Konflikte und Gegensätze zwischen Werten. Von ihm stammt das Schlagwort: »Tyrannei der Werte«. 347 Wenn man konsequent auf einen einzigen Wert setzt, ergeben sich unerträgliche Folgen. Ich führe einige Belege an. Der allgemeinste Wertkonflikt besteht darin, dass die Verwirklichung aller Werte zwar ein Wert, aber auch ein Unwert ist, weil es dann nichts mehr zu erstreben gäbe und die hohen sittlichen Werte des Strebens nicht mehr zum Zuge kämen. 348 Hegel hat in der Phänomenologie des Geistes diese Verwicklung unter dem Titel »Die Verstellung« der moralischen Weltanschauung Kants vorgeworfen. Als Werte, die der Hemmung durch das Gegenteil bedürfen, führt Hartmann an: »Das Vertrauen, die Nächstenliebe und insonderheit das aus ihr fließende Mitleid können zudringlich werden. Sie fordern als Gegengewicht die Distanz. Ja, selbst die Wahrhaftigkeit, die Aufrichtigkeit und die Treue (letztere etwa in der Form der Anhänglichkeit) bedürfen dieser Grenze. (…) Weisheit, Gerechtigkeit, Mut und besonders der Stolz können anmaßlich werden; in ihnen liegt versteckt die Tendenz zu Überhebung und Hochmut. Sie bedürfen der gleichen Grenzsetzung, nur in anderer Richtung, der (sic! H. S.) Bescheidenheit und Demut.« 349 Aktivität und Trägheit, Harmonie und Konflikt, Gleichheits- und Einzigkeitswert, 347 348 349

Ebd. S. 576 f. Ebd. S. 302 f. Ebd. S. 475

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Verbindlich geltende Normen

Glück und Leiden sind Wertpaare, deren Glieder der Dämpfung und Ausgleichung an einander bedürfen. 350 Vor der Unvereinbarkeit von Reinheit und Fülle bekennt das Wertgefühl und Wertschauen nach Hartmann »seine Hilflosigkeit.« 351 Geradezu genial ist die Umdeutung der aristotelischen Mittelstellung von Tugenden zwischen zwei Lastern (im Fall von Tapferkeit, Selbstbeherrschung, richtig angebrachtem Zorn, Großzügigkeit, Hochgemutheit) in Wertsynthesen zwischen gegensätzlichen, der Ergänzung durch einander bedürftigen Tugenden 352 , wobei Hartmann die Möglichkeit offen lässt, »dass sich die Antinomien irgendwo in den Synthesen erhielten, dass also die letzteren gar keine Behebung oder Auflösung des Gegensatzverhältnisses, sondern nur eine Umspannung oder Überbrückung bedeuteten.« 353 Aus diesen Beobachtungen über Konflikte zwischen Werten, die der gegenseitigen Hemmung bedürfen, ergibt sich, dass die Normen, die in Kraft der Autorität von Gefühlen Wertungen und durch diese Werte vorzeichnen, nur mit bedingtem Ernst verbindlich gelten können, denn unbedingter Ernst würde die Werte über Gebühr einseitig verstärken und dadurch in Unwerte umschlagen lassen. Werte sind wie Schönheit; sie können begeistern und verdienen Anhänglichkeit, aber es ginge zu weit, alles auf die Karte eines Wertes zu setzen. Wohl aber können sie sich mit Normen, die mit unbedingtem Ernst verbindlich gelten, eng verbinden, wenn sie nämlich ein Verhalten markieren, das auch durch solche Normen gefordert wird. Dies ist namentlich bei der Gerechtigkeit der Fall. Empörung über schreiendes Unrecht ist gerecht und ein Gewissensgefühl, das mit Autorität mit unbedingtem Ernst bewaffnet ist. Auch die Tapferkeit, wenn es um den Schutz heiliger, religiös ausgezeichneter, Sachen und Sachverhalte gegen Bedrohungen geht, gehört hierhin. Nicolai Hartmann berücksichtigt die größere oder geringere Nähe von Werten zur Verbindlichkeit mit unbedingtem Ernst durch seine Unterscheidung zwischen höheren und stärkeren Werten. Höhere Werte sind solche, die in stärkerem Maße durch beEbd. S. 306–308, 309–312, 330, 365 f. Ebd. S. 583. Daran mag auch eine Unzulänglichkeit in Hartmanns Auffassung von Reinheit mitschuldig sein. Er versteht diese nur als naive Unschuld und verpasst sowohl die Reinheit der Antigone, des starken Pathos vieler Gestalten von Aischylos und Sophokles, als auch die Reinheit des ungestörten Abwägens einer Fülle von Ansprüchen auf der kritisch geprüften Waage des Gefühls im Interesse der Gerechtigkeit 352 Ebd. S. 568–571 353 Ebd. S. 584 350 351

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Ästhetoide Normen

günstigende Gefühle wie Verehrung, Bewunderung, Begeisterung positiv (d. h. begünstigende Stellungnahmen normierend) ausgezeichnet werden. (Das ist natürlich meine, nicht Hartmanns Auffassung vom Höhersein.) Stärkere Werte sind solche, bei denen die zugehörigen Unwerte stärker durch ablehnende, ungünstige Stellungnahmen vorzeichnende Gefühle markiert werden. Nach Hartmann gilt der Satz, dass die Realisierung der höheren Werte nur zusammen mit der der stärkeren echt ist, wobei ein begrenzter Spielraum für Ausnahmen bestehen kann. Diese Bindung der höheren Werte an die stärkeren dürfte damit zusammenhängen, dass die stärkeren Werte wie Gerechtigkeit, Redlichkeit, Tapferkeit besonders eng mit der Autorität mit unbedingtem Ernst von Gefühlen verknüpft sind. Sie markieren elementares Verhalten, das moralisch unbedingt erforderlich ist. Man darf aber nicht höhere Werte von so enger Verbindung ausschließen. Persönliche Liebe ist nach Hartmann ein ganz hoher Wert und zugleich eine Religion (2.4.1). Tugenden sind Werte. Ich habe in meinem Buch Der unerschöpfliche Gegenstand 354 den Begriff der Tugend über den des sittlichen Verdienstes in einer Weise eingeführt, die ich jetzt durch den Begriff des Wertes etwas vereinfachen kann. Ein sittliches Verdienst in der Perspektive eines Menschen A ist ein Wert für A (d. h. ein solcher, der kraft der Autorität den A ergreifender Gefühle durch günstige, von in der Perspektive des A verbindlich geltenden Normen vorgeschriebene, Stellungnahmen erwertet wird), der für die Gewissensgefühle von A kritisch ist. Das ist dann der Fall, wenn diese Gewissensgefühle auf die Verwirklichung des korrespondierenden Unwertes reagieren würden, sei es mit Zorn, Scham oder Schuldgefühl. Tugenden sind sittliche Verdienste der Gesinnung (im unter 2.2.11 angegebenen Sinn). Ein guter Mensch ist ein Mensch, der in jeder für die Gewissensgefühle wichtigen Hinsicht überwiegend Werte (sittliche Verdienste) verwirklicht, auch ohne moralisch ganz vollkommen zu sein. Auf die Art des sittlichen Verdienstes kommt es dabei nicht an; wenn dieses in der Wertordnung besonders hoch steht, steigert sich die Güte durch einen Zusatz, z. B. zum Edlen. Gutsein als Eigenschaft eines Menschen ist also eine Tugend zweiter Stufe, die über Tugenden vergleichend summiert. Wenn in Bezug auf andere Träger (z. B. gute Gesinnungen, Absichten,

354

Zuerst Bonn 1990, S. 353–358

197 https://doi.org/10.5771/9783495860755 .

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Taten) von moralischem Gutsein gesprochen wird, ist bloß das entsprechende sittliche Verdienst gemeint.

2.5.3

Gesundheit

Gesundheit ist ein Wert, der einer speziellen Untersuchung bedarf. Unauffällig bis zur Selbstverständlichkeit, solange sie da ist, fällt sie nur als Gegenteil des ihr zugehörigen Unwertes, der Krankheit, auf, aber selbst über diesen ist schwer Klarheit zu gewinnen. Zwar präsentiert die Medizin eine bunte Palette präziser Krankheitsbilder, aber darunter verschwindet die Krankheit als solche. Besser bekannt ist sie aus dem Lebensgefühl, sich krank zu fühlen, einer ganzheitlichen leiblichen Regung. Die ist wenigstens auffällig, aber aus dem Gegensatz zum Unwert ist der Wert selbst nicht herauszuschälen, so wenig wie aus der Feigheit die Tapferkeit, aus der Hässlichkeit die Schönheit (solange nicht ein übergreifender Zusammenhang, die leibliche Dynamik, zur Einordnung des Gegensatzes zur Verfügung steht). Vor allem aber ist die Abgrenzung des Wertes vom Unwert, der Gesundheit von der Krankheit, problematisch; es steht in Frage, ob nicht die Krankheit in irgend einem Sinn zur Gesundheit gehört. Die Frage, in welchem Sinn ein Mensch überhaupt gesund sein kann, führt an den Grund des Personseins. Dabei ist es, solange in unkompliziertem, schlichtem Sinn von Gesundheit gesprochen werden darf, gar nicht schwer, einen Schlüssel zu hinlänglicher Explikation des normalen Vorverständnisses zu finden. Dieser Schlüssel ist die Lustauffassung des Aristoteles. Platon hatte die Lust als den Prozess des Übergangs von einem bedürftigen Zustand zur Behebung des Mangels ausgegeben; als Gegner des Hedonismus wollte er die Lust als bloße Vorstufe von der Vollkommenheit, die ohne Lust sei, fernhalten. Dagegen wehrt sich Aristoteles, auch wenn er in der Rhetorik einmal Platon nachspricht. Lust sei kein Prozess, denn jeder Prozess könne schneller und langsamer verlaufen, Lust aber nicht. Sie sei vielmehr ein Zustand der Fülle und Entfaltung des eigenen Wesens, mit Ruhe und Vollkommenheit vereinbar. »Daher ist es nicht richtig, die Lust ein sinnliches Werden zu nennen, sondern (statt ›werden‹) ›Ausübung der naturgemäßen Verfassung‹, und statt ›sinnlich‹ : ›unbehindert‹.« 355 Lust ist für Aristoteles die ungehinderte 355

Nikomachische Ethik 1153a12–15

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Ausübung der naturgemäßen Verfassung, der Zustand eines Lebewesens, das seine Natur frei entfalten kann. Man sieht gleich, dass sich Gesundheit ganz ähnlich verstehen lässt. Es müssen aber einige Einschränkungen gemacht werden. Behinderungen durch äußere Umstände sind von anderer Art als Schäden der Gesundheit; sie müssen abgezogen werden. Die gesunde Entfaltung muss sozialverträglich sein; wenn jemand durch sein Benehmen den anderen über Gebühr lästig fällt, ist er nicht gesund. Schließlich müssen Behinderungen ausgenommen werden, die sich aus moralischem Versagen (in einer durchschnittlichen Fremdperspektive) ergeben, denn moralisches Versagen ist keine Krankheit. Damit ergibt sich folgender Ansatz für eine Begriffsbestimmung: Ein Lebewesen ist gesund, wenn es die zu seiner Natur gehörigen Fähigkeiten unbehindert ausüben kann, solange diese Ausübung sozialverträglich ist und abgesehen von Behinderungen durch äußere Umstände und durch eigenes moralisches Versagen. Das Problematische an dieser Definition ergibt sich mit der Frage, worin die Natur besteht, von der die Rede ist. Für Pflanzen und Tiere ist das allerdings unproblematisch. Man braucht keine abstrakten Begriffe von ihren Naturen zu haben, um Einigkeit darüber zu erzielen, was ihre naturgemäßen Fähigkeiten und deren körperliche Voraussetzungen sind. Tiere, hauptsächlich Säugetiere, müssen wachen, schlafen, essen, trinken, atmen, ausscheiden, zeugen, gebären und darüber hinaus spezifische Fähigkeiten, wie Kampf oder Flucht, ausüben können. Entsprechendes trifft auf den Menschen zu, sofern er ein Tier ist. So sieht ihn die gesamte somatische Medizin. Jede körperliche Heilbehandlung eines Menschen könnte ebenso einem kranken höheren Wirbeltier zugute kommen, wenn man es mit dessen Heilung so genau wie mit der eines kranken Menschen nähme. Der Körperarzt ist in diesem Sinn ein Humanveterinär. Daher kann die Medizin zum größten Teil, sofern sie reine Körpermedizin (z. B. Chirurgie) ist, mit der aristotelisierenden Auffassung der Gesundheit auskommen. Sie dient der Wiederherstellung unbehinderter Entfaltbarkeit der Fähigkeiten, die der menschlichen Natur mit der Natur der höheren Tiere gemeinsam sind. Problematisch wird die Frage nach der Natur, der die zu entfaltenden Fähigkeiten gemäß sein sollen, beim Menschen erst, wenn er als Person betrachtet wird. Die aristotelisch-scholastische Tradition macht es sich auch damit leicht. Sie bestimmt den Menschen, seiner Natur nach, als vernünftiges Tier (animal rationale) und, da nach Aristoteles die spezifische Differenz mehr als die Gattung ins Gewicht fällt, in erster Linie 199 https://doi.org/10.5771/9783495860755 .

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als Vernunftwesen. Vernunft ist aber nicht als differenzierender Zusatz an tierische Lebendigkeit anschließbar, sondern, was bei der Person zu dieser hinzukommt, ist die Versetzung in einen ganz anderen Lebensraum, die aber zwiespältig bleibt, weil sie den alten, tierhaften nicht entbehren kann. Die Person ist zwiespältig gespreizt. Daraus entstehen Ersatzbildungen für eine nicht mehr geschlossen mögliche Natur und Gesundheit. Um unter diesem Gesichtspunkt die mögliche Gesundheit der menschlichen Person abstecken zu können, gehe ich auf die Erörterungen anthropologischer Grundlagen unter 1 und 2.2.2 zurück und repetiere nur kurz das Nötigste. Die Person ist ein Bewussthaber mit Fähigkeit zur Selbstzuschreibung, sich als Fall mehrerer Gattungen zu verstehen. Selbstzuschreibung besteht also darin, etwas für sich selbst zu halten. Solches identifizierendes Sichbewussthaben ist nur als Zusatz zu einem bereits vorliegenden nicht-identifizierenden Sichbewussthaben möglich. Dieses ist gegeben in den subjektiven Tatsachen des affektiven Betroffenseins, die höchstens einer im eigenen Namen aussagen kann. Sie sind für ihn subjektiv; er, der Bewussthaber, muss also im affektiven Betroffensein identifizierungsfrei gefunden werden. Das wird möglich durch den plötzlichen Einbruch des Neuen, der Dauer zerreißt und (etwa im heftigen Schreck, im Zusammenfahren) primitive Gegenwart freisetzt. In dieser verschmelzen (mit dem absoluten Ort, dem absoluten Augenblick und dem Sein) die absolute Identität von etwas (es selbst und verschieden von anderem, noch nicht aber: mit etwas identisch, zu sein) und die Subjektivität, selbst betroffen zu sein, zu einem Sichfinden ohne Identifizierung (d. h. ohne Identität mit etwas). Diese Errungenschaft ist in der Engungskomponente des vitalen Antriebs, in dem Engung und Weitung als Spannung und Schwellung gegenläufig verschränkt sind, beständig vorgezeichnet und angebahnt; da der Antrieb auch als gemeinsamer in der Einleibung Leiber mit Leibern und (über leibnahe Brückenqualitäten) mit Leiblosem verbindet, entwickelt sich ein Leben aus primitiver Gegenwart mit gleitender Dauer, primitiver Gegenwart, leiblicher Dynamik mit dem vitalen Antrieb als Achse und leiblicher Kommunikation vom Typ der Einleibung. Dieses Leben, das Tiere und Säuglinge sowie Personen in Routine (beständig, z. B. beim Gehen und Sprechen) und in Fassungslosigkeit (gelegentlich), führen, ist von der primitiven Gegenwart her mit absoluter Identität und Verschiedenheit ausgerüstet, als ein Leben in Situationen, in denen Mannigfaltiges durch eine binnendiffuse Bedeutsamkeit aus Bedeutungen, 200 https://doi.org/10.5771/9783495860755 .

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die Sachverhalte, Programme oder Probleme sind, zusammengehalten wird. Diese werden im Leben aus primitiver Gegenwart mit Rufen und Schreien oder auch anderen Signalen (Gebärden, Gerüchen) bearbeitet, aber ohne Explikation einzelner (d. h. eine Anzahl um 1 vermehrender) Bedeutungen aus der binnendiffusen Bedeutsamkeit. Zu solcher Explikation kommt es erst durch die satzförmige Rede, die aus Situationen Gattungen7 herausholt und dadurch, absolute Identität durch Fallsein von Gattungen zur Einzelheit ergänzend, Vereinzelung ermöglicht. Um diese entfalten sich, als Rahmen oder Feld möglicher Vereinzelung, die fünf in der primitiven Gegenwart verschmolzenen Momente – hier (absoluter Ort), jetzt (absoluter Augenblick), Sein, dieses (absolut Identisches), ich – zur Welt mit Ortsraum, modaler Lagezeit und Fluss der Zeit, Gegenüberstellung des Seienden und Nichtseienden, relativer Identität mit etwas (als Fall mehrerer Gattungen) und Gegenüberstellung des Eigenen und Fremden. Diese Gegenüberstellung ist die Seite der Subjektivität an der Entfaltung der primitiven Gegenwart zur Welt. Der Bewussthaber erhebt sich durch Selbstzuschreibung als Fall von Gattungen zum einzelnen Subjekt und erreicht durch partielle Neutralisierung subjektiver Bedeutungen zu objektiven, die jeder sagen kann, sofern er genug weiß und gut genug sprechen kann, die Chance, das Eigene vom Fremden abzusetzen. Das ist personale Emanzipation. Dabei nimmt das Eigene zwei Gestalten an. Die eine Gestalt ist die persönliche Situation (die Persönlichkeit der Person). Zu ihr gehören alle Bedeutungen, die für die Person subjektiv sind, und alle Sachen, die zu diesen in unspaltbarem Verhältnis 356 stehen. Sie umfasst viele partielle Situationen und entwickelt sich lebenslang durch Prozesse der personalen Emanzipation und personalen Regression, Explikation und Implikation. Zur persönlichen Eigenwelt gehören alle Bedeutungen (im angegebenen Sinn, d. h. Sachverhalte, Programme und Probleme), die für die Person subjektiv sind, und alle Sachen, für die der tatsächliche oder untatsächliche Sachverhalt, dass sie existieren, hiernach zur persönlichen Eigenwelt gehört. Die persönliche Eigenwelt bildet zusammen mit der persönlichen Fremdwelt die persönliche Welt. Zur persönlichen Fremdwelt einer Person gehören alle Bedeutungen, die für sie neutral (objektiv) geworden sind, und alle Sachen, für die der tatsächliche oder untatsächliche Sachverhalt, dass sie existieren, von 356 Zum unspaltbaren Verhältnis vgl. Hermann Schmitz, Bewusstsein, Freiburg i. Br./ München 2010, S. 54–76

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dieser Art ist. Zwischen der persönlichen Eigenwelt und der persönlichen Fremdwelt können breite Grauzonen liegen, in denen die Subjektivität in Neutralität entgleitet. Die personale Emanzipation wird gegenläufig durchkreuzt von personaler Regression als Rückkehr zum Leben aus primitiver Gegenwart, wo der Unterschied des Eigenen und Fremden aufgehoben ist. Ohne personale Regression, ohne Schöpfen des Sichbewussthabens der Person aus der primitiven Gegenwart (direkt oder indirekt), wären Selbstzuschreibung und damit Personsein unmöglich. Die personale Regression kann mehrere Niveaus personaler Emanzipation bzw. personaler Regression durchlaufen. Ein Niveau personaler Emanzipation ist höher als ein anderes, wenn es mehr Chancen für personale Emanzipation, d. h. Unterscheidung des Eigenen vom Fremden, bietet. Von jedem höheren Niveau personaler Emanzipation aus ist jedes weniger hohe ein Niveau personaler Regression. Diese gedrängte Vergegenwärtigung dient hier zur Vorbereitung der Prüfung, was als Gesundheit einer Person in Betracht zu ziehen ist. Die Person ist zwiespältig ausgespannt zwischen dem Leben aus primitiver Gegenwart und dem Leben in der Welt als fünffach entfalteter Gegenwart. Beide Pole greifen in ihr beständig in einander, z. B. bei jedem Sprechen. Der Sprecher lebt im Verhältnis zur Sprache aus primitiver Gegenwart, indem er mit ihr als ganzer, unexplizierter Situation mit binnendiffuser Bedeutsamkeit aus Programmen (Regeln), die die Sätze der Sprache sind, umgeht; blind, aber treffsicher greift er die zu seiner Darstellungsabsicht passenden heraus, ohne sie einzeln mustern zu können, indem er sich mit seinen Sprüchen nach diesen Sätzen richtet. Im Verhältnis zum Besprochenen lebt der Sprecher in der Welt, indem er einzelne Bedeutungen, meist viele einzelne auf einen Schlag, sprechend aus Situationen herausholt und kombiniert. Das Beispiel zeigt eine virtuose Integrationskraft, ebenso wie Lachen und Weinen, zwei naturgegebene Künste der Integration von personaler Emanzipation und personaler Regression, der beiden konträren Bewegungsrichtungen, die die Spannweite des personalen Zwiespalts durchmessen. Öfter fallen diese beiden Tendenzen aber auseinander. Die Person muss sich im Spielraum dieser Ausgespanntheit stabilisieren, obendrein auch gegen das Auslaufen der Subjektivität zur Neutralität hin in den Grauzonen zwischen persönlicher Eigenwelt und persönlicher Fremdwelt. Sie ist immer unterwegs zwischen Lebensformen und kann sich nicht wie das Tier eine solche Form als ihre Natur vorgeben lassen. Statt dessen gibt die Person sich eine Fassung, mit der 202 https://doi.org/10.5771/9783495860755 .

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sie sich auf einem (mindestens einem) Niveau personaler Emanzipation einnistet. Fassung ist das, was man verliert, wenn man die Fassung verliert. Sie besteht darin, in spielerischer Identifizierung, also ohne Fiktion und ohne Verwechslung – etwa so, wie man das Bild als das Abgebildete und den Schauspieler im Kino als die gespielte Figur sieht – sich mit etwas zu identifizieren, das eindeutiger ist als das, was man wirklich ist. Die Fassung besteht teils in der Übernahme sozialer Rollen, teils in einem Gehabe, einer »inneren Haltung« 357 , womit die Person an Herausforderungen heran oder von ihnen weg tritt, z. B. bedächtig oder zupackend, liebenswürdig oder misstrauisch, sanft oder derb. Die Person verschafft sich dadurch gleichsam eine zweite Natur über der tierhaften auf einem höheren oder niedrigeren Niveau personaler Emanzipation. Für den Spielraum bei der Wahl solcher Niveaus gebe ich zwei Beispiele, die zugleich zwei Typen personaler Gesundheit markieren, mit Versen Goethes. Im ersten Beispiel charakterisiert dieser seinen älteren Genossen am Weimarer Musenhof, den Dichter Wieland: Lebensweisheit, in den Schranken Der uns angemessnen Sphäre War des Mannes heitre Lehre, Dem wir manches Bild verdanken. Wieland hieß er! Stets durchdrungen Von dem Wort, das er gegeben War sein wohlgeführtes Leben Still, ein Kreis von Mäßigungen. Geistreich schaut’ er und beweglich Immerfort aufs reine Ziel, Und bei ihm vernahm man täglich: Nicht zu wenig, nicht zu viel. Stets erwägend, gern entschuldigend, Oft getadelt, nie gehasst; Ihr mit Lieb und Treue huldgend, Seiner Fürstin werter Gast. 358 357 Jürg Zutt, Auf dem Wege zu einer anthropologischen Psychiatrie. Gesammelte Aufsätze, Berlin/Göttingen/Heidelberg 1963, S. 1–81: Die innere Haltung 358 Maskenzug 1818 Bei Allerhöchster Anwesenheit Ihrer Majestät der Kaiserin Mutter Maria Feodorowna in Weimar (Prophylänausgabe von Goethes Werken Band 31 S. 213)

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Das ist ein Leben in vorsichtig-liebenswürdiger Dosierung und Selbstbeschränkung der Lebenskraft, ein Schulbeispiel gesunder Fassung, wie es die Weisen uns nahelegen, aber etwas zu gedämpft durch personale Emanzipation; es fehlt die Gesundheit der Kraft und des Wagemutes. Das aber bietet fast im Übermaß die Vision des jungen, dem Sturm und Drang verhafteten Goethe bei der Vorbeifahrt an einer mitterlichen Bergruine auf dem Rhein, sein Gedicht Geistesgruß: Hoch auf dem alten Turme steht Des Helden edler Geist, Der, wie das Schiff vorübergeht, Es wohl zu fahren heißt. »Sieh, diese Sehne war so stark, Dies Herz so fest und wild – Die Knochen voll von Rittermark, Der Becher angefüllt – Mein halbes Leben stürmt ich fort, Verdehnt’ die Hälft’ in Ruh Und du, du Menschenschifflein dort, Fahr immer, immerzu. 359 Der Ritter hat sich in Abenteuern und wohl auch alkoholischen Exzessen ausgetobt, hoffentlich sozialverträglich, und danach sein Leben auf der Burg vertrödelt. Er hat sich eine Fassung auf einem Niveau personaler Regression zugelegt, die altersweise Belehrer kaum als Vorbild einer gesunden Lebensführung gelten lassen würden, aber er hat jedenfalls aus dem Vollen geschöpft, während Wielands Leben nach dem Gedicht sich in ziemlich dünner Luft abspielte. In der Fassung, in die als zweite Natur er eingegangen ist, hat er die dieser gemäßen Fähigkeit ungehindert ausgeübt und somit die aristotelische Lust355 verdient. Dabei hat er nicht die Fassung verloren; sonst stünde er nicht als Geist, mit gutmütig herablassendem Wohlwollen, noch nach Jahrhunderten auf dem Turm seiner Burg. Goethes Wieland und alter Ritter bieten zwei Lösungen der jeder Person zufallenden Aufgabe an, im Zwiespalt zwischen personaler Emanzipation und präpersonaler Verwurzelung eine eigene Lebensform zu finden. Dieser Zwiespalt, zusammen mit dem anderen zwi359

Propyläenausgabe von Goethes Werken Band 2 S. 22

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schen Subjektivität und deren Entgleiten in den Grauzonen zur Neutralität hin, vereitelt die Glättung personalen Menschseins zu einem einheitlichen Leitbild der menschlichen Natur und ihrer Gesundheit. Tiere können einem solchen Leitbild folgen; darauf beruft sich in Goethes Ballade Der Fischer das feuchte Weib, das, aus bewegtem Wasser hervorrauschend, den einsamen Angler mit den Worten bestrickt: Ach wüsstest du, wies Fischlein ist So wohlig auf dem Grund Du stiegst hernieder wie du bist, Und würdest erst gesund. So gesund ist der personale Mensch nicht; seine Gesundheit ist eine durch Zwiespalt eingepflanzte Krankheit, die sich ihre eigentümliche Gesundheit erst bestimmen muss. Das ist nach Nietzsche die »große Gesundheit – eine solche, welche man nicht nur hat, sondern auch beständig noch erwirbt und erwerben muss, weil man sie immer wieder preisgibt, preisgeben muss!« 360 Solche Gesundheit kann nur in schwingender Anpassung der Fassung beim Reiten auf den Wellen personaler Emanzipation und personaler Regression gewonnen und bewahrt werden. Ob sie als Gesundheit gelingt, entscheidet sich daran, wie gut oder schlecht die erworbene Fassung der Person zu den prospektiven partiellen Situationen in ihrer persönlichen Situation passt, die, oft schwer fassbar, vorgeben, worauf die Person hinaus und wovon sie weg will: die oft geheimen Wunsch-, Leit- und Schreck-»Bilder«, die auch in Konflikt mit einander geraten können. Für beide Möglichkeiten bietet Goethe kurze Formulierungen an. Das Misslingen beschreibt er mit der Charakteristik: »Es gibt problematische Naturen, die keiner Lage gewachsen sind, in der sie sich befinden, und denen keine genugtut. Daraus entsteht der ungeheure Widerspruch, der das Leben ohne Genuss verzehrt.« 361 Wenn dagegen die Fassung den prospektiven Anteilen der persönlichen Situation angemessen ist, ergibt sich als Grundlage der Lebensführung eine Zufriedenheit, die auch durch Krankheit und Tod hindurch personale Gesundheit ist; Goethe beschreibt sie in Faust an den idealisierten Arkadern mit den Versen:

360 Die fröhliche Wissenschaft § 382, Nietzsches Werke. Kritische Studienausgabe von Colli und Montinari, Band 3 S. 638 361 Goethe, Maximen und Reflexionen, hg. v. Max Hecker, Weimar 1907, Nr. 134

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Hier ist das Wohlbehagen erblich, Die Wange heitert wie der Mund, Ein jeder ist an seinem Platz unsterblich: Sie sind zufrieden und gesund. 362

362

Verse 9550–9553 (2. Teil, 3. Akt)

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3. Unverbindlich geltende Normen

3.1 Die Sprache 3.1.1

Sprache und Rede

Es ist ein unvergängliches Verdienst von Ferdinand de Saussure, Sprache und Rede zuerst in der Wissenschaft deutlich unterschieden zu haben. Gesprochen wird in Reden; in der Sprache wird nicht gesprochen, sondern mit der Sprache wird gesprochen: Sie wird zur Regelung der Rede beim Sprechen verwendet oder gebraucht (»Sprachgebrauch«). Diese Ausdrucksweise ist im Alltag geläufig bis selbstverständlich; in der Wissenschaft fand sie ihren begrifflich freigelegten Platz erst 1916 (Cours de linguistique générale), und dieser wird ihr heute mehrfach wieder bestritten. Sehr weit geht dabei Vilmos Ågel. 363 Nach seiner Meinung gibt es statt einer Sprache nur das konkrete Sprechen als linguistischen Gegenstand. Dafür führt er zwei Gründe an: 1. S. 64: »Was Sprachlaien und Linguisten in der sog. verbalen Kommunikation beobachten können, ist weder Sprache noch eine Sprache noch verschriftlichte Sprache, sondern konkretes Sprechen, d. h. spezifische artikulatorische Kontinua, mit denen wir deutsche, chinesische usw. Inhalte verbinden und die u. U. durch graphische Diskontinua simuliert werden können.« Er sucht Sprache an falscher Stelle, nämlich in der Einstellung des unbeteiligten Beobachters auf artikulatorische Kontinua, Schallmassen, mit denen der Eingeweihte irgend welche Inhalte verbindet. Die deutsche oder chinesische Sprache begegnet anders, nämlich in der Selbsterfahrung des Sprechers, der sie entweder lernt oder schon flüssig zu gebrauchen versteht, dabei aber manchmal nachdenklich wird, wenn er das passende Wort sucht oder 363 Vilmos Ågel, Ist der Gegenstand der Sprachwissenschaft die Sprache?, in: Metalinguistik im Wandel, hg. v. András Kertész, Frankfurt a. M. 1997

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den Satzbau korrigiert, um die gemeinte Bedeutung (einen Sachverhalt, ein Programm, ein Problem) ganz genau, seiner Absicht gemäß, zu treffen und für seine Zwecke einzusetzen. Dabei merkt er, dass er, um mit seinem Sprechen den gewünschten Erfolg zu haben, um zu sagen, was er sagen will, sich an ein Verhaltensmuster halten muss: an die Sprache, die er gerade spricht. Er begegnet ihr auch am Sprechen anderer Personen, die sich so mangelhaft ausdrücken, dass der Hörer nicht erkennen kann, was gemeint war. Er wird dann entweder eine Umformulierung anbieten, die der Sprecher als das, was er eigentlich sagen wollte, anerkennen kann, oder diesem eine solche mit Nachhilfe nahelegen. In jedem Fall orientiert er sich dabei an der gewählten Sprache als maßgebendem Verhaltensmuster. 2. S. 69: »Die Tatsache, dass sich die Linguistik meist nur für das Regelhafte und fürs Soziale im Sprechen interessiert, darf darüber nicht hinwegtäuschen, dass auch Regelhaftes und Soziales nur im konkreten Sprechen beobachtet werden. (…) So wie kein Vulkanologe auf die Idee kommt, die typischen Eigenschaften von Vulkanausbrüchen aus einem Phänomenbereich zu erklären, der außerhalb und oberhalb des Phänomenbereiches der einmaligen und zufälligen Eigenschaften von Vulkanausbrüchen anzusiedeln und in einer höheren Vulkanlogik zu beschreiben ist, so gibt es auch in der Linguistik keinen exklusiven Phänomenbereich ›Langue‹.« Hier verwechselt Ågel die Sprache als Verhaltensmuster aus Regeln mit dem allgemeinen Typus der Fälle ihrer Anwendung im Sprachgebrauch. Eine Regel ist ein Programm (1); die Gattung der Fälle ihrer regelmäßigen Anwendung ist dagegen ein Sachverhalt.7 Der Typus des Verhaltens nach Regeln ist allgemein, die Regeln sind es nicht, obwohl es den Unterschied von Gattung und Fall – zwischen dem durch Definition des Regelbegriffs festgesetzten Typus der Regel und den einzelnen Regeln – natürlich gibt. Der Vergleich mit dem Vulkan ist schief, weil der Vulkan, selbst wenn er regelmäßig ausbricht, nicht auf eine Regel hört, der Sprecher dagegen schon. Irreführend sind auch die polemisch eingesetzten räumlichen Metaphern einer Sprache, die außerhalb oder oberhalb des Sprechens (Ågel) oder »hinter« dem Sprechen liegen solle. 364 Vielmehr ist die 364 Gibt es eine Sprache hinter dem Sprechen?, hg. v. Sybille Krämer und Ekkehard König, Frankfurt a. M. 2002. Die Fragestellung unterschiebt den Befürwortern einer Unterscheidung zwischen Sprechen und Sprache eine quasi platonistische Position, die wenigstens mir gänzlich fernliegt.

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Die Sprache

Sprache mitten im Sprechen, als eine zuständliche Situation, die sich durch aktuelle Situationen des Sprechens hindurch entwickelt, ungefähr so, wie sich beim ständigen Zusammensein von Menschen in der Familie und im Betrieb mehr oder weniger unwillkürlich ein Stil des Zusammenlebens, der Rollenverteilung, der Umgangsformen, der gegenseitigen Rücksichtnahme und Beanspruchung entwickelt, der sich durch Krisen und allmähliche Veränderungen, z. B. des Älterwerdens, umbilden kann. Wenn man sich überzeugt hat, dass Situationen ursprünglich konkret und einzelne Sachen hinsichtlich ihrer Einzelheit (nicht ihres Inhalts) daraus auf dem Weg über satzförmige Rede und von dieser aus Situationen explizierte Gattungen gewonnen sind, darf man behaupten, dass eine Sprache ebenso konkret wie ein in ihr geführtes Gespräch und in keiner Weise daraus abgezogen (abstrahiert) ist. Das verkennt auch Wilhelm v. Humboldt, wenn er schreibt: »Die Sprache, in ihrem wirklichen Wesen aufgefasst, ist etwas beständig und in jedem Augenblick Vorübergehendes: (…) Sie selbst ist kein Werk (Ergon), sondern eine Tätigkeit (Energeia).« 365 »Die Sprache liegt nur in der verbundenen Rede. Grammatik und Wörterbuch sind kaum ihrem toten Gerippe vergleichbar.« 366 In der Tat liegt sie nur in der Rede, aber sie geht nicht in dieser auf, sie geht auch nicht in jedem Augenblick vorüber, sie ist weder ein fertiggestelltes Ergon noch eine beständig vorwärts drängende Energeia, sondern eher einer zähen Masse im Prozess trägen Gleitens vergleichbar: eine für das jeweilige Sprechen beharrende, ihm Halt gebende Grundlage, deren allmähliche Verschiebung erst im Rückblick nach längeren Fristen auffällt. Die ständige Wandlung im Sprechen nach demselben Muster ist also kein triftiger Einwand gegen dessen allerdings nur relativ beharrende Statik, wie Christian Stetter glaubt 367 ; ist es doch auch derselbe Satz als Einheit der Sprache, der sich in weit unterschiedlichen Verkörperungen in der Rede (mündlich, handschriftlich, maschinenschriftlich mit allen dabei möglichen Abwandlungen) darstellt. Ebenso wenig hat das Verhältnis von Sprache und Sprechen mit dem des sozial Gemeinsamen und individuell Eigentümlichen zu tun. Eine Sprache kann ja auch ei365 Zitiert von Jürgen Trabant, Humboldts Sprachauffassung, wie Anm. 364 S. 76–96, hier S. 90 366 Ebd. S. 91 367 Sprechen und Sprache. Überlegungen zu einem Grundlagenproblem der theoretischen Linguistik, wie Anm. 364, S. 19–44

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gentümliche Privatsprache eines Individuums sein, wie im Fall des Sohnes von Carl Stumpf, der seinen Weg zum endlichen Deutschkönnen durch eine Privatsprache unterbrach, die er seinen Angehörigen aufzwang, sofern diese sich mit ihm verständigen wollten. 368 Unbestritten bleibt aber, dass die Gemeinsprache in den Idiomen der Sprecher modifiziert wird; inwiefern sie dabei dieselbe Sprache bleibt, wird nachher erörtert. 369 Einen anderen Vorschlag für das Verhältnis von Sprache und Sprechen macht Rudi Koller. 370 Er vergleicht die Sprache der unsichtbaren Hand, die nach Adam Smith am Markt regiert; sie verhielte sich dann zum Sprechen wie das System der Preise und Kurse am freien Markt zu den Kauf- und Verkaufsentscheidungen der Marktteilnehmer oder wie der Stau auf der Autobahn zu den Handlungen der Autofahrer. Aus zwei Gründen ist dieser Vergleich verfehlt. Erstens: Der Stau auf der Autobahn ist eine aktuelle Situation, das Preis- und Kursniveau spiegelt eine solche, und aktuelle Situationen können sich von Augenblick zu Augenblick ändern, während es bei einer Sprache keinen Sinn hat, alle Augenblicke lang zu prüfen, was sich geändert hat; sie beharrt zunächst und ändert sich allmählich mit unmerklicher Geschwindigkeit oder allenfalls gelegentlich so, dass es plötzlich auffällt, ohne dass man auch dann sagen kann, wann genau der Wechsel eingetreten ist, während das bei Staus und Kursen möglich ist. Zweitens: Eine Sprache ist ein Muster aus Regeln für ein Verhalten, aber nicht eine Struktur oder Superstruktur des Verhaltens selbst. Das Sprechen folgt dem Muster keineswegs getreu; hundertprozentig korrektes mündliches Sprechen würde steif und preziös wirken. Der Vergleich mit dem Stau auf der Autobahn träfe also nur zu, wenn nicht nur das Verhalten der Fahrer von dem Vorankommen der Fahrzeuge betroffen wäre, sondern das System der Verkehrsregeln mitmachte. Diese geraten aber keineswegs ins Stocken, wenn der Verkehrsfluss anhält, und setzen sich nicht wieder in Bewegung, wenn der Stau sich löst. 368 Carl Stumpf, Eigenartige sprachliche Entwicklung eines Kindes, in: Zeitschrift für pädagogische Psychologie und Pathologie Band 3, 1901, S. 419–447; darüber: Andrea Schulz, Sprachen aus dem Nichts?, Frankfurt a. M. 2000, S. 224–227 (Dissertation Bochum 1999) 369 Auf der Vermischung der hier unterschiedenen Verhältnisse beruhen die Einwände von Coseriu gegen die Gegenüberstellung von Sprache und Rede (Eugenio Coseriu, Sprachtheorie und allgemeine Sprachwissenschaft, München 1975, S. 11–56). 370 Rudi Koller, Sprachwandel, Tübingen 1990

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Die Sprache

Eine Sprache besteht aus Sätzen. Ein Satz ist eine Regel zur Erzeugung von Sprüchen. Ein Spruch ist eine Veranstaltung zur Darstellung einzelner Bedeutungen (d. h. von Sachverhalten, Programmen und/oder Problemen), oft vieler einzelner zugleich, in einem geeigneten Medium (z. B. Stimme, Schrift, lautlose Vorstellung, Gebärde), wobei die Stimme den Vorrang hat (für den Grund s. u. 3.1.4), eventuell noch zu weiteren Leistungen. Die Veranstaltung missglückt, wenn der Spruch einen Sachverhalt darstellen soll, aber einen Widerspruch zur logischen Folge hat; denn solche Sprüche stellen keinen Sachverhalt dar. 371 Ein Spruch bedarf einer Sprache; warum, wird gleich erörtert werden. Er ist dann eine von einem Satz dieser Sprache geregelte Portion solcher Darstellung bzw. Veranstaltung dazu und kann seine Leistung im Zusammenhang mit anderen Sprüchen, deren Erzeugung von anderen Sätzen geregelt ist, erbringen. Zur Abkürzung der Ausdruckweise führe ich folgende Konvention ein: Wenn ein Teil einer Sprache die Regel zur Erzeugung einer Rede oder eines Teils von ihr ist, sage ich, dass er diese Rede bzw. diesen Redeteil erzeugt, womit aber nicht gemeint ist, dass er kausal tätig wird; es ist nur eine bequeme Kurzform. Mit ihr würde der letzte Relativsatz gelautet haben: »der von anderen Sätzen erzeugt wird.« Vom Spruch ist das Sprechen, die Erzeugung des Spruches, zu unterscheiden; es besteht z. B. in gewissen Mund- und Handbewegungen, die einen Spruch erzeugen, etwa als Lautfolge oder als Inschrift auf Papier oder in Stein. (Schreiben ist in diesem Sinn auch ein Sprechen.) Eine sprachliche Rede ist eine Folge von n > 1 Sprüchen, eventuell durchsetzt von Signalen, die entweder einen Spruch vertreten (wie »ja« oder »nein«) oder bloß zwischen ihnen Platz finden (wie Ausrufe). Sprüche können sich nicht nur mit anderen Sprüchen verbinden, sondern auch weitere Sprüche in sich enthalten; für die Einheit eines Spruches kommt es nur darauf an, dass er eine von einem Satz einer Sprache erzeugte Darstellungsveranstaltung ist. Die Darstellung besteht darin, die dargestellten Bedeutungen einerseits zur Kenntnis zu bringen, andererseits mit Bedeutungen, die von anderen Sprüchen dargestellt werden, identifizierbar und von ihnen unterscheidbar zu machen. Das betrifft, wenn der Spruch mehrere Bedeutungen darstellt, auch diese im Verhältnis zu einander. Nicht jede Rede ist eine sprachliche Rede. Allgemein ist Rede gestaltender Umgang mit Situationen durch Aktivierung eines geeig371

Hermann Schmitz, Logische Untersuchungen, Freiburg i. Br./München 2008, S. 98

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neten, vorzugsweise stimmlichen, Mediums ohne direkten Eingriff in den Inhalt der Situationen, bei Mensch und Tier. Tierische Rede bearbeitet Situationen primär durch Rufe und Schreie, die Situationen heraufbeschwören, modifizieren oder beantworten, z. B. Lock-, Alarmund Klagerufe. Sie kann kommunikativ sein, aber nicht durch Zuwendung zum Partner, sondern durch solidarische oder antagonistische Einleibung (leibliche Kommunikation im Kanal eines vitalen Antriebs ohne bzw. mit Zuwendung zu einem Partner). Was ihr fehlt, ist die Explikation einzelner Bedeutungen aus der Situation mit anschließender Kombination der Explikate zu Konstellationen, die wieder auf die zu Grunde liegenden Situationen angewandt oder in neue aufgenommen werden können. Dazu ist eine satzförmige Rede erforderlich, die den Tieren versagt bleibt. Satzförmig nenne ich die Rede, wenn sie von einem Satz einer Sprache erzeugt wird. Eine grammatische Gliederung ist dazu nicht erforderlich. Ein einzelner Laut, in einem bestimmten Augenblick ausgestoßen, kann satzförmige Rede sein. Satzförmige Rede kann die tierische gewissermaßen imitieren, indem sie in den Dienst einer nicht explizierenden Einleibung in gemeinsame Situationen tritt. Das ist etwa bei gemeinsamem Singen von Arbeits-, Marsch- und Kampfliedern der Fall, wodurch Menschen einander ähnlich stimulieren wie Tiere bei der Verständigung über gemeinsames Handeln in »Gemeinschaftsmonologen« ohne Zuwendung zu einander. 372 Ebenso tritt Explikation aus Situationen in den Dienst der Implikation in gemeinsame Situationen bei dem von Ammann beschriebenen chorischen Sprechen, wobei Menschen durch affektgeladene Zurufe satzförmiger, eventuell verkürzter, Rede solidarische Einleibung in eine gemeinsame Situation erzeugen. 373 Zu kurz greift demnach Kainz, indem er die tierische Rede der Alternative unterwirft: »Sind die Tieräußerungen rein monologischer Ausdruck, der lediglich aus einer Affektspannung erwächst und eine solche reizauslösend abreagieren soll, oder handelt es sich dabei um eine Kundgabe, die als solche partnerbezogen und – eben weil sie einen Artgenossen ›anspricht‹ – auf Kundnahme abgestellt ist.« 374 Er verkennt die mächtige Leistungsfähigkeit 372 Ein Beispiel von der Vorbereitung des Auffliegens in einem Vogelschwarm gibt Konrad Lorenz, Verständigung unter Tieren, Zürich 1953, S. 11, von mir zitiert in: System der Philosophie Band V, zuerst Bonn 1980, S. 115 373 Hermann Ammann, Die menschliche Rede, zuerst Lahr 1925–1928, 3. Auflage Darmstadt 1969, S. 171–175 374 Friedrich Kainz, Die »Sprache« der Tiere, Stuttgart 1961, S. 176

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solidarischer Einleibung, ohne Zuwendung der Beteiligten zu einander gemeinsame Situationen zu erzeugen und zu bearbeiten. Ganz ohne Rede kommt bei Mensch und Tier die intelligente Verarbeitung impressiver Situationen (vielsagender Eindrücke) mit und ohne direkten Eingriff aus, das sprachlose Denken, das ich als leibliche Intelligenz beschrieben habe. 375 Tiere reden, aber sie sprechen nicht. Spezifisch menschliches Reden ist von Sätzen geleitetes Sprechen. Sätze sind die Regeln der Sprache. Sie liegen dem Sprechen niemals einzeln vor, sondern können nur indirekt, von den erzeugten Sprüchen her, als Regeln zu deren Erzeugung erschlossen und gekennzeichnet werden. Jeder aktive Könner einer Sprache kann nach deren Regeln sprechen, aber keiner weiß, wie er es macht, welches Rezept er anwendet. Das trifft schon für die Artikulation bei mündlichem Sprechen zu. Die artikulatorische Phonetik hat sehr genaue Vorstellungen von den Vorgängen im Hals und im Mund, die mit der Produktion bestimmter Laute verbunden sind, aber kein Sprecher kann demgemäß das Geschehen in diesen Körperteilen absichtlich so arrangieren, dass die verlangten Sprüche herauskommen. Während aber in dieser Hinsicht wenigstens die wissenschaftliche Reflexion den Vorgängen nachkommt, ist das Ganze des Übergangs vom Abzielen auf gewisse Bedeutungen zu deren gelungener sprachlicher Darstellung auch für sie ein Rätsel, das man als psychophysisches Problem der Verwirklichung einer Absicht in körperlichen Handlungen bezeichnet. So bleiben die Sätze einer Sprache, die Regeln der Erzeugung ihrer Sprüche, vor Vereinzelung geschützt; dagegen liegen sie im Ganzen der Sprache als absolut identische und von anderen verschiedene vor, denn das Sprechen greift, ohne sie einzeln mustern zu können, treffsicher in dieses Ganze hinein und holt im Allgemeinen genau die Regeln heraus, deren es zur Führung der Verwirklichung seiner Darstellungsabsicht bedarf. Eine Sprache ist demnach kein System einzelner Regeln, sondern ein Ganzes mit binnendiffuser Bedeutsamkeit aus Programmen mit unverbindlicher Geltung, die Regeln für mögliches Sprechen sind; dieses Ganze ist durch absolute Identität und Verschiedenheit so gut geordnet, dass der Könner sich beim Zugriff in ihr auskennt, ohne doch den Inhalt Stück für Stück einzeln mustern zu können. Insofern gleicht die Sprache dem motorischen Körperschema bei der zweckmäßigen Führung willkürlicher und unwillkürlicher Kör375

Hermann Schmitz, Bewusstsein, Freiburg i. Br./München 2010, S. 87–90

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perbewegungen ohne Entgleiten in Apraxie. Ich habe diesen Typ von Mannigfaltigkeit als diffus chaotisch-mannigfaltig bezeichnet 376 , im Gegensatz zur konfus chaotischen Mannigfaltigkeit z. B. einer durchdösten Frist, in der es auch noch an Identität und Verschiedenheit fehlt. Den Programmgehalt einer Situation bezeichne ich als ihren Nomos (1); eine Sprache ist eine Situation, die ganz in ihrem Programmgehalt aufgeht und damit ihr eigener Nomos ist. Der Grundsatz für die kategoriale Einordnung von Sprachen kann also lauten: Eine Sprache ist kein System, sondern ein Nomos. Ein Vergleich mit anderen Regelungsformen kann diese Eigenart von Sprachen näher beleuchten. Mit dem Zweck-Mittel-Verhältnis haben sie gemeinsam, dass der Zweck so wenig wie der Satz den Weg zum Erfolg im Einzelnen bestimmt. Einen Zweck kann man oft auf verschiedenen Wegen erreichen und denselben Satz als Vorschrift zur Formulierung verschiedener Sprüche, z. B. mündlicher und schriftlicher, verwenden. Das ist anders beim Kochbuch, dessen Vergleich mit der Sprache durchaus aufschlussreich ist. Wie der Koch nach Rezepten kocht, die ihm außer dem Ziel auch den Weg zum Ziel Schritt für Schritt vorschreiben, so spricht der Sprecher nach Sätzen, wenn auch ohne diese Einzelbindung. Der Unterschied ist aber auch außerdem augenfällig. Der Koch kann die Rezepte in dem Buch durchmustern, sich die passenden aussuchen und dann zu kochen beginnen. Das Entsprechende ist beim Sprechen unmöglich. Der Sprecher muss schon seine Sprüche formuliert haben, um wenigstens einen Anhaltspunkt dafür zu besitzen, nach welchen Sätzen er sich dabei gerichtet hat, ohne diese als einzelne je zu Gesicht zu bekommen. Durch dieses wahllose Verfahren gewinnt sein Sprechen aber erst die Flüssigkeit. Der Koch, der nach Rezept kocht, geht schrittweise vor. Im ersten Schritt wählt er das Rezept, in den folgenden Schritten passt er sich der von diesem vorgeschriebenen Reihenfolge an, und schließlich steht die fertige Speise auf dem Tisch. So ein Vorgehen ist diskret; es kann nicht flüssig sein. Der geläufige Sprecher lässt sich dagegen vom Fluss seiner Rede tragen, er redet »drauf los«, ohne Sorge, den Halt an der Führung durch Sätze, die ihm aus der ihn leitenden Sprache zufallen, zu verlieren. Damit gleicht das Sprechen den flüssigen Körperbewegungen, von denen es außerdem selbst eine ist, zusätzlich dazu, wie es sich zur Sprache verhält. Die Körperbewegungen, wie das artikulierende Sprechen 376

Logische Untersuchungen (wie Anm. 371) S. 44–46

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mit Zunge und Lippen, das Tanzen und das flotte Gehen, haben ihre Flüssigkeit nur dadurch, dass sie nicht Schritt für Schritt, wie beim Kochen nach Rezept, einer vorgeschriebenen Reihenfolge nachstreben, sondern einem spontanen Gesamtimpuls, der aber sozusagen gefüttert ist mit einer subtilen räumlichen und zeitlichen Regelung, die dafür sorgt, dass die sonst willkürlich steuerbaren Organe, Zunge und Lippen, beim Sprechen unwillkürlich in einer genau zur Sprechabsicht passenden Weise eingesetzt werden. Entsprechendes gilt für das Tanzen, Klavierspielen, Briefeschreiben, Gehen und all die anderen zweckmäßig geführten Körperbewegungen. Ihnen hat das Sprechen aber voraus, dass es nicht bloß in der Eleganz flüssigen Gleitens verharrt oder auch dabei ein Ziel (etwa das Gehziel, das Musikziel) erreicht, sondern auch einen ständigen Umschlag des Mannigfaltigkeitstypus bewirkt: Aus der gleitenden Führung durch den diffus chaotisch-mannigfaltigen Nomos Sprache mit unzähligen Sätzen darin, die alle identisch und verschieden, aber nicht einzeln sind, wird durch das Erzeugen von Sprüchen die Darstellung vieler einzelner Bedeutungen, unter denen sich Gattungen befinden, durch deren Vermittlung beliebige Sachen als Fälle dieser Gattungen einzeln sein können. Ich habe mich bemüht, auch in der Ausdrucksweise ganz sauber zwischen Sprache und Rede zu unterscheiden, weil die übliche Vermengung der Wörter auch zur Verwirrung der Gedanken beiträgt. Dafür will ich, ehe ich das Thema von anderer Seite angehe, ein paar Beispiele von Meistern der Sprachwissenschaft und einem prominenten Philosophen anführen. Ferdinand de Saussure bestimmte die Sprache als ein System von Zeichen, und noch ein knappes Jahrhundert danach schreibt Harald Weinrich: »Niemand zweifelt heute daran, dass die Sprache ein Zeichensystem ist.« 377 Eine Sprache ist überhaupt kein System, sofern dieses Wort eine numerische Mannigfaltigkeit aus lauter einzelnen Entitäten (numerischen Einheiten) bezeichnet, und sie enthält gar keine Zeichen, sondern Regeln für die Erzeugung von Sprüchen und Spruchteilen, von denen einige Zeichen sind, andere nichts bezeichnen. Ganz berühmt und einflussreich wurde der Satz von Wittgenstein: »Man kann für eine große Klasse von Fällen des Wortes ›Bedeutung‹ – wenn auch nicht für alle Fälle seiner Benützung – dieses Wort so erklären: Die Bedeutung eines Wortes ist sein Ge-

377

Harald Weinrich, Sprache das heißt Sprachen, Tübingen 2011, S. 25

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brauch in der Sprache.« 378 In der Sprache wird nichts gebraucht; vielmehr wird die Sprache gebraucht, um Sprüche zu erzeugen, die zu unübersehbar vielen Zwecken gebraucht werden, zu Zwecken, die oft wenig mit der Bedeutung von Wörtern zu tun haben. Diese Bedeutung – ich werde statt dessen »Sinn« sagen (3.1.6), um einer Verwechslung mit meiner anderen Verwendung des Wortes »Bedeutung« (für Sachverhalte, Programme und Probleme) vorzubeugen – gehört ebenso wie das Wort selbst (3.1.2) zur Sprache, nicht zur Rede, also zu einem Medium, das zwar gebraucht wird, innerhalb dessen aber nichts gebraucht wird. Chomsky schließlich mutet dem kompetenten Sprecher zu, dass er Sätze konstruiert und dafür ein Regelsystem nach Art der mathematischen Axiomatik besitzt, ohne darum zu wissen. Sätze werden vom Sprecher aber nicht konstruiert, sondern aus der Sprache, soweit er diese kann, geerntet, um unter ihrer Führung Sprüche zu konstruieren. (Schon die bloße Unterscheidung zwischen Sätzen und Sprüchen liegt Chomsky fern.) Besser passt auf dieses Verhältnis Wittgensteins Dictum: »Wenn ich der Regel folge, wähle ich nicht. Ich folge der Regel blind.« 379 Das ist zwar nicht im Allgemeinen richtig – nicht z. B., wenn die Regel ein Kochrezept ist –, trifft aber das Verhältnis des Sprechens zur Sprache, der es seine Regeln blind, aber treffsicher entnimmt. Das ist kein Beherrschen. Man sagt irreführend, dass jemand eine Sprache beherrscht. Der Könner beherrscht sie nicht, er gehorcht ihr, indem er sich von ihr durch ihre Sätze bei der Bildung seiner Sprüche führen lässt. »Sprache, das heißt Sprachen«377 ist ein Buchtitel, der den Nagel auf den Kopf trifft. Die Sprache existiert nur in Gestalt konkreter einzelner Sprachen. Damit stellt sich die Frage nach deren Ausmaß: Bis zu welcher Grenze darf man von zwei (sprachlichen) Reden sagen, dass sie in derselben Sprache verfasst sind? Die nächstliegende Antwort lautet: Die Einheit einer Sprache reicht so weit wie die passive Kompetenz für sie, das Sprechverständnis, das die Sprachgenossenschaft bestimmt; die aktive Kompetenz, selbst mit dieser Sprache zu sprechen, kommt dafür nicht in Betracht. Das Sprachverständnis besteht in der Fähigkeit, sich durch die Sprüche der Sprache die von ihnen dargestellten Bedeutungen präsentieren zu lassen, und zwar so deutlich, dass für je zwei solche Sprüche festgestellt werden kann, ob sie dieselben Bedeutungen oder 378 379

Ludwig Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen, Teil I § 43 Ebd. § 219

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verschiedene darstellen, sowie, ob überhaupt ein darstellender Spruch der Sprache vorliegt. Das Sprachverständnis reicht über viele Varianten der Dialekte und Idiolekte hinweg. Es genügt dafür schon das Verständnis bei schriftlicher Darbietung. Mögen der Berliner, der Schweizer, der Bayer noch so unterschiedlich sprechen: Solange jeder von ihnen in der Lage ist, eine in Norddeutschland oder in Zürich erscheinende, hochdeutsch geschriebene Zeitung mit Verständnis zu lesen, sind alle Genossen der deutschen Sprache, deren Einheit dann durch jene Varianten nicht in Frage gestellt wird. Dieses Kriterium reicht aber nicht aus, weil die passiven Kompetenzen der Sprachgenossen sich mannigfach überschneiden. Vielleicht wird es schwer fallen, auch nur zwei Genossen ohne solche Überschneidung zu finden. Niemand ist für das Verständnis aller in deutscher Sprache formulierten Sprüche kompetent. Dafür sorgt schon die Vielzahl der Fachsprachen und der Jargonsprachen (z. B. Jugendsprache, Ganovensprache). In jeder kleinen, hinlänglich dichten Gemeinschaft bilden sich Sätze für eigentümliche Sprüche. Die Einheit der Sprache durch Genossenschaft im Sprachverständnis ist daher nur Einheit im engeren Sinn. Sie muss zur Einheit im weiteren Sinn durch den Begriff der Ausbausprache ergänzt werden. Eine Sprache A ist Ausbausprache einer Sprache B, wenn jemand, der für B (d. h. für das Verständnis der in B formulierten Sprüche) passiv kompetent ist, das entsprechende Verständnis für A-Sprüche durch bloßen Ausbau seiner Kompetenz für B erlangen kann. Er braucht vielleicht nur einige Wörter und Wendungen hinzuzulernen und kann an der Grammatik festhalten; manchmal muss er auch diese etwas zurechtbiegen. Die Ausbaubeziehung ist symmetrisch: Wenn die passive Kompetenz für A durch Ausbau der Kompetenz für B erlangt werden kann, dann auch umgekehrt. (Der Ausbau kann auch in einem Abbau bestehen.) Sie ist aber auch geschlossen: Beim Übergang von einer Sprache zu einer Fremdsprache versagt der bloße Ausbau, wenigstens für nicht mehr als durchschnittlich Sprachbegabte; man muss die Fremdsprache von Grund auf neu lernen, und zwar nicht nur im synchronen, sondern auch im diachronen Verhältnis: Für einen Neuhochdeutschsprachler ist Luther noch sein Sprachgenosse, aber Mittelhochdeutsch und Althochdeutsch sind Fremdsprachen. Zwar gibt es unterschiedliche Grade der Verwandtschaft zwischen Sprachen, und Sprachvirtuosen mag die indogermanische Brücke zum Ausbau ihrer Kompetenz von der Muttersprache zu einer anderen indogermanischen Sprache genügen, aber der durchschnittlich Sprachbegabte wä217 https://doi.org/10.5771/9783495860755 .

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re damit überfordert. Damit ergibt sich der Begriff von Spracheinheit im weiteren Sinn: Dieselbe Sprache im weiteren Sinn reicht so weit, wie, ausgehend von einer Spracheinheit im engeren Sinn (definiert durch Übereinstimmung der passiven Sprachkompetenz für diese Sprache) der Bereich der Ausbausprachen dieser Sprache reicht. Da die Beziehung, Ausbausprache einer Sprache zu sein, reflexiv, symmetrisch und transitiv, also eine Äquivalenzrelation ist, ist mathematisch gesichert, dass jeder kompetente Genosse einer Sprache im engeren Sinn vermöge der Ausbaubeziehung genau für eine Sprache im weiteren Sinn kompetent ist, bis er an die Grenze zu einer Sprache stößt. 380 Man kann die durch Einheit im engeren Sinn abgegrenzte Sprache als Spezialsprache bezeichnen, die durch Einheit im weiteren Sinn abgegrenzte als General- oder Gesamtsprache. Im Deutschen gibt es viele Spezialsprachen, aber die deutsche Gesamtsprache ist eine einzige. Bisher habe ich nur die faktische Bindung des Sprechens an eine Sprache erörtert. Diese Bindung wäre unverständlich, wenn nicht auch geklärt werden könnte, was die Sprache für das Sprechen, die sprachliche Rede, leistet. Die Antwort wäre trivial, wenn es sich beim Sprechen nur darum handelte, fertige Gedanken mitzuteilen. Dann wäre selbstverständlich, dass man Regeln braucht, um Sendung und Empfang der Gedanken auf einander abzustimmen, einen Code wie beim Morsen oder der Verständigung mit Flaggensignalen, wie sie früher zwischen Schiffen üblich war. In diesen Fällen handelt es sich nicht um die ursprüngliche Erzeugung von Sprüchen, sondern um die Übersetzung schon vorhandener Sprüche in ein anderes Medium. Für das Sprechen ist Mitteilung eine Nebensache, nicht einmal seine ganze kommunikative Funktion, sondern nur ein Teil davon neben der solidarischen Einleibung, die ich vorhin als Kommunikationsform bei Tier und Mensch nachgewiesen habe. Das Hauptgeschäft, das Spezifische, des Sprechens besteht in der Explikation (einzelner Bedeutungen aus Situationen mit anschließender Kombination der Explikate), nicht nur in kommunikativer, sondern auch in einsamer Rede, wenn jemand sich z. B. etwas klar machen will. Bei der Explikation setzt die Leistung der Sprache für das Sprechen ein. Ihr grundlegender Erfolg ist die von den 380 Für den Beweis vgl. Hermann Schmitz, System der Philosophie Band III Teil 1 S. 494–496 (nach Hans Hermes, Einführung in die Verbandstheorie, Berlin/Göttingen/ Heidelberg 1955, S. 155 f.)

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Sätzen geregelte Abteilung der Explikationsprodukte in Portionen durch Darstellung in Sprüchen. Wie die Portionen ausfallen, ist der Sprache freigestellt. Sie kann komplizierte Portionen bilden, indem sie durch geeignete Sätze Sprüche in Sprüche einschachtelt, oder sich mit einfachen Sprüchen begnügen, und sowohl die Komplikationsformen bei Verflechtung von Sprüchen zu Sprüchen als auch den Aufbau des einzelnen Spruches durch Formanten (3.1.2) beliebig gestalten. Der allgemeine Begriff des Satzes steht fest; die Form der Sätze und, daraus folgend, die ihrer Sprüche variiert von Sprache zu Sprache. Die Portionierung der explizierten Bedeutungen durch Sprüche ist keine Zerteilung, wodurch der einzelne Spruch wie ein Kuchenstück abgetrennt und isoliert würde. Eine Textgrammatik, die die gegenseitige Abhängigkeit von Sprüchen im Zusammenhang größerer Texte untersucht, hat viel zu tun. Die von der Sprache geregelte Abfüllung der Explikationsergebnisse in Portionen durch Darstellung in Sprüchen hat zunächst den Erfolg der Ordnung und Gewährung von Übersicht; ohne diese Leistung würden die explizierten Bedeutungen wirr verschränkt sein. Die Leistung der Sprache für die Explikation setzt aber schon früher und tiefer an. Sie ist zugleich Geburtshilfe. In der aktualgenetischen Forschung, einem zeitweise mit großem Eifer betriebenen Zweig der Gestaltpsychologie 381 , unterschied man zwischen Vorgestalten und echten Gestalten (Endgestalten). Vorgestalten entstehen etwa optisch bei extrem kurzer oder undeutlicher Darbietung als Anflüge oder Andeutungen von Gestalten mit Tendenz zur Klärung. Etwas Analoges kommt beim Denken vor, wenn es schon beginnt, Bedeutungen zu explizieren, aber der Sprache vorauseilt oder nicht den Anschluss an sie findet. Ein schönes Zeugnis aus dem späten Altertum liefert der Kirchenvater Johannes Cassanus im Bericht von »jenem höheren Gebetszustand, jenem feurigen (…), ja unaussprechlichen Gebet«, »das jedes menschliche Verständnis übersteigt, das nichts zu tun hat mit dem Klang der Stimme oder der Bewegung der Zunge, nicht einmal mit einer inneren Aussprache von Worten, das der durch die Ergießung jenes himmlischen Lichts erleuchtete Geist nicht mit den engen menschlichen Redemitteln ausdrückt, sondern bei gebundenem Sinnen wie aus einer sprudelnden Quelle ausgießt und auf unsagbare Weise 381 Vgl. Carl Friedrich Graumann, Aktualgenese, in: Zeitschrift für experimentelle und angewandte Psychologie Band 6, 1959, S. 410–441

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vor Gott ausschüttet, indem er in einem kürzesten Augenblick so viel zusammengreift als er weder aussprechen noch innerlich durchdenken kann.« 382 Ganz profane Analoga eines solchen Zustandes beobachtete Bühler im denkpsychologischen Experiment; seine Versuchsperson, Professor Külpe, berichtete »nach der Frage, was Ideale seien, er habe momentan einen förmlichen Überblick über das Kantische System gehabt, und nach einem ähnlichen Erlebnis bemerkt eine Versuchsperson, man werde geradezu an die Berichte über die Zustände kurz vor dem Ertrinken erinnert, so viel habe man gleichzeitig im Bewusstsein präsent.« 383 Der Anschein einer zahllosen Fülle entsteht in solchen Zuständen dadurch, dass die Explikation aus der binnendiffusen Bedeutsamkeit einer Situation schlagartig eingesetzt hat, aber mangels sprachlicher Fassung noch nicht zu einzelnen Bedeutungen, die je eine Anzahl um 1 vermehren, und daher auch nicht zu einer Summe vorgedrungen ist. Während in diesen Fällen das Denken der Sprache vorauseilt, findet es in den folgenden nicht den Anschluss an diese. Eine Versuchsperson von Mayer-Gross berichtet aus ihrem Einschlaferlebnis: »(…) ich fühle Gedankenkraftfelder – ein dialektisches Hin und Her, – eine Spannung von zwei Gefühls- und Impulspaaren – Gedanken, die ich passiv erlebe, ganz inhaltlos, vollkommen leer – jetzt zweibis dreimal hinter einander: aha – oho – als ob mir etwas eingeleuchtet hätte – aber rein begrifflich – ich weiß nicht, was (…).« 384 Klaus Conrad beobachtete Aphasiker, denen auf Grund eines Gehirnschadens Sprechen nur schwer und in Bruchstücken möglich war, und berichtet: Bei einem fast wiederhergestellten Aphasiker mit motorischer Aphasie gehört zur Satzformulierung noch ein schweres Ringen darum, das Amorphe, Fluktuierende zur fassbaren Gestalt zu bringen, ähnlich wie beim schöpferischen Menschen. Ein »ungeheuer großer Beziehungsreichtum« scheint zu solchem motorisch-aphasischem Befinden zu gehören, eine »mangelnde Abhebung von kollektivischen Hintergrunderlebnissen« mit dem Charakter des »Trächtigen, Möglichen, 382 Übersetzt von Friedrich Heiler, Das Gebet, München 1918, S. 239; Original: Collatio IX De oratione c. XXV bei Migne, Betrologia Latina, Band 49, Spalte 801 383 Karl Bühler, Tatsachen und Probleme zu einer Psychologie der Denkprozesse, in: Archiv für die gesamte Psychologie Band 9, 1907, S. 347 384 W. Mayer-Gross, Zur Struktur des Einschlaferlebens. Vortrag auf der 53. Wanderversammlung der südwestdeutschen Neurologen und Psychiater am 2. und 3. Juni 1925 in Baden-Baden, in: Archiv für Psychiatrie und Nervenkrankheiten Band 86, 1928/29, S. 314.

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Spannungshaltigen.« 385 In diesen Defektzuständen kommt dieselbe Fülle und Dynamik einsetzender oder sich ankündigender Gedanken ohne einzeln Fassbares vor wie in den vorigen Berichten, nur nicht mehr in freiem Strömen, mit dem das Denken der Sprache vorauseilt, sondern gehemmt. Die Explikation ist im Stadium der Vorgestalt auf dem Weg zu einzelnen Bedeutungen, kommt aber nicht ans Ziel. Das ist auch ohne Störung so bei religiöser Vertiefung einer Versuchsperson von Girgensohn: »Anfangs war es wieder so, dass meine Gedanken immer wieder ansetzten, aber keine feste Richtung hatten. Aber ich kann noch gar nicht sagen, was diese Gedanken eigentlich waren. Dabei hatte ich ein Gefühl der Unruhe.« 386 Diese Zeugnisse machen deutlich, wie das Denken beim Explizieren von Bedeutungen aus Situationen, wenn es aus Überschwang (wie bei Cassian) oder aus Not keinen Anhalt bei der Sprache findet, in ein unruhiges Mittelfeld zwischen chaotisch-mannigfaltiger Diffusion (oder Konfusion) und Gewinn der Einzelheit gerät. Die Portionierung von Bedeutungen durch deren sprachlich geregelte Darstellung in Sprüchen ist also erforderlich als Auffangbecken, in dem sich die zunächst flüssig einsetzende Explikation zur konsolidierten Einzelheit der Explikate festigen kann. Damit wird es möglich, die Ordnungsform der Situationen, in denen Mannigfaltiges, oft schon mit absoluter Identität und Verschiedenheit, durch eine binnendiffuse Bedeutsamkeit ganzheitlich zusammengehalten ist, abzulösen durch die Ordnungsform der Konstellationen, in denen Mannigfaltiges auch ohne Situationszusammenhang durch die Beziehung des Falls zur Gattung geordnet ist. Zwei Errungenschaften der Konsolidierung geben dieser zweiten Ordnungsform große Beweglichkeit und Verfeinerbarkeit: die relative Identität und der Unterschied. Die relative Identität von etwas mit etwas besteht darin, dass eine Sache unter mehrere Gattungen fällt; so ist im Fall eines türkischen Schusters in Kreuzberg dieser Mann identisch mit diesem Türken, diesem Berliner, diesem Schuster, diesem Moslem usw., d. h. je ein Fall der betreffenden Gattungen. Auf diese Weise wird es möglich, eine Sache von verschiedenen Seiten anzusehen und anzugehen; sie wird vielgesichtig. Dafür, dass diese Ge385 Das Göttliche (s. Anm. 241) S. 504. Ich paraphrasiere dort: Klaus Conrad, Strukturanalysen hirnpathologischer Fälle V in: Deutsche Zeitschrift für Nervenheilkunde Band 159, 1948, S. 148 und 152 386 Karl Girgensohn, Der seelische Aufbau des religiösen Erlebens, Leipzig 1921, S. 296

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sichter auf einander abgestimmt und verglichen werden können, sorgt die andere Errungenschaft: der Unterschied. Er kommt in der Welt als entfalteter Gegenwart, als Feld möglicher Vereinzelung, zur Verschiedenheit, die schon dem Leben aus primitiver Gegenwart, angehört, hinzu. Verschiedenheit ist eine zweistellige Beziehung, Unterschied eine fünfstellige: Zwei Etwasse unterscheiden sich in einer Obergattung, deren Fälle sie sind, durch die spezifischen Differenzen zweier Untergattungen dieser Obergattung, wobei das eine Etwas ein Fall der einen Untergattung ist, das andere ein Fall der anderen Untergattung, z. B.: Ein weißer und ein schwarzer Fleck unterscheiden sich in der Obergattung unbunte Farbe durch die spezifischen Differenzen der Untergattung Weiß (extreme spezifische Helligkeit) und der Untergattung Schwarz (extreme spezifische Dunkelheit). Auf die Verschiedenheit von Verschiedenheit und Unterschied, die oft verkannt wird, hat schon Aristoteles hingewiesen. 387 Der Unterschied erlaubt dem Denken, die verschiedenen Gattungen, die durch relative Identität in einem Fall als dessen Gattungen zusammengefasst sind, unter sich und mit anderen zu arrangieren und so die einzelnen Etwasse nicht nur vielseitig aufzufassen, sondern auch nach vielen Seiten in geordnete Beziehungen zu setzen. Ohne die Sprache gäbe es solche Möglichkeiten nicht. Das Kleinkind, das noch nicht sprechen kann, aber vermutlich schon ein gewisses Sprachverständnis besitzt, zeigt ein Verständnis für Einzelheit, indem es mit etwa 9 Monaten nicht nur zeigt, sondern sogar zurück zur Mutter blickt, um sich zu vergewissern, ob auch diese das Gezeigte gesehen hat. 388 Diese Einzelheit bleibt sporadisch und isoliert; ihr fehlt noch die Konsolidierung, die zum Umgang mit relativer Identität und mit Unterschied befähigt. Bisher habe ich erst das Darstellen von Bedeutungen als Leistung der von Sprache geleiteten Rede herausgestellt. Damit ist nicht im Entferntesten gemeint, das Sprechen verwende die Sprache hauptsächlich zu solchem Darstellen. Allerdings ist dies der grundlegende Beitrag des Sprechens und damit der Sprache für personales In-der-Welt-sein. Das sprechende Darstellen von Bedeutungen verschafft dem Menschen den Zugang zur Einzelheit und zum geschmeidigen Umgang mit Einzelnem, das aus Situationen entnommen und in Konstellationen unter Metaphysik 1054b23 Martin Dornes, Der kompetente Säugling. Die präverbale Entwicklung des Menschen, 9. Auflage Frankfurt a. M. 1999, S. 153 387 388

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Gattungen neu verknüpft wird. Auf diese Weise behauptet sich der Mensch in der Welt und versucht, sie zu beherrschen. Sein Umgang mit der Sprache im Sprechen fängt damit aber erst an. Er besteht weitgehend in einem Spielen auf dem Instrument der Sprache, wobei es oft genug darum geht, dem sprechenden Gehorsam gegen sie, ohne den das Darstellen unmöglich wäre, ein Schnippchen zu schlagen. Wortspiele, Sticheleien, Schmeicheleien, Andeutungen aller Art, literarische Techniken wie erlebte Rede sind Beispiele solchen spielerischen Umgangs mit der Sprache. Die von England (Austin-Searle) ausgehende, in den vergangenen Jahrzehnten eifrig diskutierte Sprechakttheorie 389 hat versucht, die über bloßes Darstellen hinausgehenden Verwendungen von Sprache als Zusätze zum Darstellen systematisch zu analysieren und in Rubriken zu bringen. Searle wollte jede sprachliche Rede in einen propositionalen Gehalt (einen Sachverhalt) und einen darauf bezüglichen, illokutionären Sprechakt zerlegen. Das scheitert an den offenen Fragen des Typs: Wie groß ist die Welt? Was soll ich tun? Sie haben im Gegensatz zu Entscheidungsfragen gar keinen propositionalen Gehalt, sondern stellen nur ein Problem auf mit Zusatz der Programme, es zu lösen und – falls die Fragen an andere gerichtet sind – die Lösung dem Frager mitzuteilen. Falls man also ein Fundament für Sprechakte in der Darstellungsleistung von Sprüchen sucht, darf man sich nicht allein auf Sachverhalte beziehen, sondern muss auf Bedeutungen aller Art, im angegebenen Fall auf Probleme, zurückgehen. Sprechakte sind in der Sprache keineswegs durchgängig normiert, weder durch ausdrückliche Angaben in den Sprüchen noch durch Regeln, die auch ohne solche Angabe zum Inhalt des Sprachverständnisses gehörten. Oft müssen sie aus dem Spruch erraten werden. Der wichtigste aller Sprechakte, die Behauptung, ist von dieser Art. Sie geht über die bloße Aussage, die Darstellung von Sachverhalten, hinaus durch den Anspruch auf Tatsächlichkeit des Ausgesagten, der in Aussagen anderer Art, wie Romanen, Liedern und Witzen, nicht erhoben wird. Worin dieser Anspruch besteht, da es sich nicht um einen Appell handelt, wurde unter 2.1 erörtert. Die Formulierung von Aussagen lässt nicht oder nicht immer durch Regeln der Sprache erkennen, ob es sich um eine Behauptung handelt. Gewöhnlich sind Aussagen Behauptungen. Wer sich aber stets darauf verlässt, ist in Gefahr, he389 Gerhard Helbig, Linguistische Theorien der Moderne, Berlin 2002, S. 298–328: Sprechakttheorie

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reinzufallen, indem er zu spät merkt, dass er gefoppt worden ist, z. B. durch Ironie. Das bloße Sprachverständnis schützt ihn nicht davor. Oft kommt es, um die Intention des Sprechers zu erkennen, auf das Erfassen der aktuellen, nicht nur sprachlichen Situation an. Der Schwank, ein etwas antiquierter Vorläufer des Witzes, die literarische Mode im 16. Jahrhundert, später als mündliche Erzählung in bäuerlichen und kleinbürgerlichen Traditionsgemeinschaften heimisch 390 , ist eine lustige Geschichte, die mit Augenzwinkern gelesen oder gehört sein will, weil sie erst durch den phantastischen Inhalt, nicht durch die sprachliche Form zu verstehen gibt, dass das Ganze nicht als Behauptung gemeint ist. Überhaupt ist die Sprache nicht als feste, bis ins Einzelne zuverlässige Führung des Sprachverständnisses angelegt, sondern als Herausforderung an die Teilnehmer unzähliger »Sprachspiele« (Wittgenstein), sich unter dem, was gesagt wird, gemäß den Vorgaben der jeweiligen Situationen zurechtzufinden. Deshalb kann die Unterscheidung zwischen illokutionären und perlokutionären, d. h. von der Sprache normativ festgelegten und über solche Festlegungen auf weitere Erfolge abzielenden, Sprechakten niemals scharf sein.

3.1.2

Formanten

Sätze sind Regeln, die Sprüche erzeugen. Sie enthalten Teilregeln, von denen einige wiederum Sprüche erzeugen, andere dagegen nicht. Teilregeln von Sätzen, die keine Sprüche erzeugen, bezeichne ich als Formanten. Viele Formanten erzeugen sinnlich wahrnehmbare Spuren in Sprüchen; diese Spuren bezeichne ich als Körper der betreffenden Formanten und diese selbst als körperhaltige Formanten. Formanten, die keine sinnlich wahrnehmbaren Spuren in Sprüchen erzeugen, bezeichne ich als körperlose Formanten. Den sinnlichen Typus eines Körpers von Formanten (z. B. die lautliche oder graphische Gestalt) bezeichne ich als seine Körperform. Jeder Formant hat seine Erzeugten in der Rede, z. B. Wortkörper, Wortkörperstellungen, Zusammengehörigkeiten und Unverträglichkeiten, Voraussetzungen. Im Folgenden gebe ich einen Überblick über die Typen von Formanten. Ein Morph ist ein Formant, der lediglich eine Verknüpfung zwischen Formantenkörpern oder zwischen Sprüchen sowie, falls er kör390

Lutz Röhrich, Der Witz, Stuttgart 1977, S. 8–10: Witz und Schwank

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perhaltig ist, einen Körper erzeugt und dann bisweilen auch auf andere Weise (nicht durch Verknüpfung) bestimmt, was für ein Spruch erzeugt wird. Eine Wurzel ist ein körperhaltiger Formant, der kein Morph enthält. Wenn er auch selbst kein Morph ist, handelt es sich um eine absolute Wurzel, z. B.: ›und‹ ist eine Wurzel, ›sehr‹ eine absolute Wurzel. 391 Alle deutschen Adverbien sind absolute Wurzeln; andere Beispiele sind ›Vogel‹, ›Nest‹, ›Kind‹, ›Bett‹. 392 Das Chinesische besteht fast nur, das Englische zum großen Teil aus (meist absoluten) Wurzeln; im Arabischen werden diese als Konsonantenfolgen (mit eingeschlossenen verbalen Morphkörpern) erzeugt. In flektierenden Sprachen pflegen Morphkörper die Wurzelkörper zu infizieren und zu verstümmeln, so dass bisweilen nur Reste wie die Säulen einer antiken Ruine stehen bleiben, so »fr« als unentbehrlicher Rest des Körpers der Wurzel des Wortes ›fragen‹, »f-r« im Fall von ›fahren‹. Die Wurzel bestimmt darüber, wie weit die Reduktion gehen darf. Die deutschen Präfixe (wie »ge-«, »er-«, »ver-«, »zer-«) und die Phoneme einer Sprache sind keine Formanten, weil sie zu vielseitig verwendbar sind, um der Sprache als bestimmte Regeln anzugehören. Aus Wurzeln und Morphen besteht die dritte Hauptklasse von Formanten, die der Syntagmen. Eine spezielle Formantenklasse ist seit jeher besonders populär und wird eifrig beachtet: die Wörter. Dennoch gibt es in Sprachen keine deutlich abgehobene Formantenklasse dieser Art. Wörter sind Wurzeln, körperhaltige Morphe oder Syntagmen, aber es gibt kein sprachliches Kennzeichen, das aus diesen drei Sorten genau die Wörter auszuwählen gestattete. Wort ist keine Kategorie der Sprache, sondern eine Kategorie der (aktiven und passiven) Sprachkompetenz. Sie drängt sich auf als ein Mittel zur Reduktion der Komplexität beim Erlernen einer Sprache und beim Merken einer schon erlernten, auch beim Ausweis des Könnens beim Sprachgebrauch. Wer die Kompetenz für eine Sprache erwerben will, hat genug getan, wenn er sich ausdrücklich deren Wörter – einen Ausschnitt aus der Masse ihrer Formanten – aneignet (etwa im Üben an Vokabellisten) und mit weniger detaillierter Aufmerksamkeit in die Grammatik der Sprache, d. h. in die Gestalt und 391 Formanten zitiere ich mit einstrichigen Anführungszeichen, Formantenkörper und ihre Körperformen mit zweistrichigen. 392 Günther Grewendorf, Fritz Hamm, Wolfgang Sternefeld, Sprachliches Wissen, Frankfurt a. M. 1987, S. 265, 254

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Funktionsweise ihrer Morphe, hineingleitet. Auf einer Stufe mit den Wörtern stehen dabei die Idiome; das sind Syntagmen durch standardisierte Aufreihung mehrerer Wörter mit einem neuen, nicht ohne Weiteres aus diesen erratbarem Sinn, z. B. im Deutschen: ›Hals über Kopf‹ (für ›überstürzt‹), ›sich um Kopf und Kragen reden‹ (für: ›durch zu viel Reden sein Interesse vereiteln‹). Das Englische ist reich an Idiomen. Die Gleichstellung der Wörter mit den Idiomen, die keine Wörter sind, ist ein Beleg dafür, dass es auf das Wort in der Sprache nicht ankommt, wohl aber bei der Sprachkenntnis. Wörter sind in einer Sprache diejenigen Formanten, die sich so aufdrängen, dass man die Sprache in erster Linie an ihnen erkennt und sich an ihnen orientiert, wenn man sich in der Sprache zurechtfinden will. Diese Rolle, wodurch sich die Wörter auszeichnen, hat Sapir, der Erforscher der Indianersprachen, schon bei den nativen Sprechern dieser Sprachen bemerkt: »Die Tatsachen des Sprachlebens (…) zeigen, dass es normalerweise keinerlei Schwierigkeit macht, das Wort als psychologischen Faktor ins Bewusstsein zu rufen. Hierfür gibt es keinen besseren Beweis, als dass es dem sprachlich naiven Indianer, dem das geschriebene Wort völlig fremd ist, ohne weiteres möglich ist, dem Sprachforscher eine Textstelle Wort für Wort zu diktieren. Der Eingeborene ist natürlich zunächst bestrebt, die Wörter, so wie er es gewöhnt ist, ineinander laufen zu lassen. Sobald er jedoch unterbrochen und darüber aufgeklärt wird, was von ihm erwartet wird, ist er ohne weiteres imstande, die Wörter auszusondern und zu wiederholen. Andererseits wird er sich gewöhnlich weigern, das Wurzelelement oder das grammatische Element auszusondern, da das ›keinen Sinn ergibt‹.« 393 In der Anmerkung fügt Sapir hinzu, dass dieselben Indianer, die ihre Rede so leicht und sauber in Wörter zerlegen konnten, beim Versuch phonetischer Umschrift Schwierigkeiten damit hatten, im Wort die einzelnen Laute zu identifizieren. Anscheinend heben sich im Redefluss gewisse Gestalten im Sinne der Gestaltpsychologie prägnant ab, und das sind dann die Wortkörper, die ihre Auszeichnung vor anderen Formantenkörpern nicht den Regeln der Sprache zu verdanken brauchen. Die Morphe, die Strukturbildner der Sprache, sind teils körperhaltig, teils körperlos. Körperhaltige Morphe sind teils Wörter, sogenannte Synkategorematika, die nichts bezeichnen, sondern nur eine Funk393 Edward Sapir, Die Sprache (Language, aus dem Englischen übertragen und für den deutschen Leser bearbeitet von Prof. Dr. Conrad P. Homberger), München 1961, S. 38 f.

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tion im Satzbau haben, teils Wortteile wie Präfixe, Infixe, Suffixe, teils prosodische Morphe wie Intonation und Akzent. Mit diesen prosodischen Merkmalen wachsen die Morphe über die bloße Verknüpfungsleistung hinaus und können bestimmen, welcher Spruch bei übrigens gleichem Satzbau zu Stande kommt, im Sinne einer Darstellung welcher Bedeutungen. Im Deutschen kann eine bloße Verschiebung der Intonation einen Aussagesatz in einen Fragesatz verwandeln, d. h. die Darstellung eines Sachverhaltes in die Darstellung eines Problems im Gewand der Programme, das Problem zu lösen und die Lösung dem Frager mitzuteilen. Welches Problem in dieser Weise von Fragen dargestellt wird, d. h., um welchen Fragesatz es sich handelt, wird manchmal durch den Akzent unterschieden. Die Frage, soweit auf dem Papier niedergeschrieben, möge lauten: »Haben Sie heute mit der Gabel Austern gegessen?« Diese Frage möge mit ungewöhnlich starker Betonung auf je einem Wort vorgebracht werden. Nur wenn diese auf dem ersten Wort liegt, ist der Sinn derselbe wie bei der gewöhnlichen, unauffälligen Betonung; in den anderen Fällen wird die Tatsache der Mahlzeit vorausgesetzt und nur gefragt, ob der Befragte selbst sie eingenommen hat, ob dies heute geschah, ob dabei eine Gabel benützt wurde, ob das Verzehrte Austern waren, ob diese gegessen oder geschlürft wurden. Körperlose Morphe sind Stellungsregeln, Selektionsregeln oder Kongruenzregeln. Stellungsregeln regeln die Anordnung der Formantenkörper im Spruch. Im einfachsten Fall können sie neue Wörter durch schlichte Reihung einführen, z. B. ›Kindergarten‹ aus ›Kinder‹ und ›Garten‹. Die Regelung der Nebensatzbildung im Deutschen besteht aus einem körperhaltigen Morph, einer Konjunktion, deren Körper gewöhnlich an der Spitze des Nebenspruches (= des Spruches des Nebensatzes) steht, und einer Stellungsregel, die durch Inversion den Verbkörper an das Ende des Spruches versetzt. Die Selektionsregeln sorgen dafür, dass Formanten nicht in einer den Satzbau störenden Weise verknüpft werden. In der modernen Semantik werden sie gern als semantische Marker in der Weise einer antiken dihairetischen Begriffspyramide herangezogen, in der eine Anhäufung von Merkmalen wie von spezifischen Differenzen ungehörige, nicht zu diesen Merkmalen passende Formantenverbindungen abhalten soll, etwa bei maschineller Übersetzung. Das ist eine gar zu realistische Auffassung von der Leistung der Sprache. Diese ist in keiner Weise an die Selektionsbedingungen der Wirklichkeit gebunden. Tiere sprechen nicht, aber ein semantischer Marker »nichtsprechend« zu »Tier« ist unangebracht, denn in 227 https://doi.org/10.5771/9783495860755 .

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der Fabel und im Märchen dürfen Tiere sprechen. Chomsky wählte als Beispiel eines grammatisch tadellosen, semantisch unsinnigen Spruchs die Formulierung: »Colourless green ideas sleep furiously.« Die Rede, dass grüne Ideen schlafen, könnte eine schöne poetische Metapher sein. Die Sprache ist zum Spielen mit ihr da. Kongruenzregeln sind das Gegenstück zu Selektionsregeln; sie sorgen dafür, dass Formanten die erforderlichen Ergänzungen durch andere Formanten erhalten, z. B. Pluralformen des Substantivs durch Pluralformen oder (beim griechischen Neutrum Pluralis) Singularformen des Verbs, ein Verb gemäß seinen Valenzen durch Substantive im passenden Kasus usw. Körperlose Morphe können, obwohl sie dem kompetenten Sprecher mühelos geläufig und verwendbar sind, so verborgen und schwer zu identifizieren sein, dass sie die Bezeichnung als Kryptomorphe verdienen. Whorf hat Beispiele aus dem Englischen und aus Indianersprachen gesammelt; ich beschränke mich auf englische Fälle. Whorf benennt die Verwendung des Adverbs ›up‹ zur Bezeichnung eines bis zur völligen Ausschöpfung eines Vorrats verlaufenden Prozesses. Eine kryptomorphe Selektionsregel des Englischen behält diesen Zusatz allen Verben mit ein bis zu zwei Silben, von denen die erste betont ist, mit folgenden Ausnahmen vor: Verben der Zerstreuung ohne Grenze; Verben der Oszillation ohne Bewegung von Teilen; Verben der nichtständigen Einwirkung; Verben gerichteter Bewegung, mit denen zusammen ›up‹ die Bedeutung von ›aufwärts‹ oder einer Ableitung davon hat. »Außerhalb dieser Gruppe von Kryptotypen kann UP im vervollständigenden und intensivierenden Sinn mit transitiven Verben nach Belieben verwendet werden.« 394 »Ein anderer englischer Kryptotyp ist der der transitiven Verben mit den Bedeutungen des Be/Verdeckens, des Einschließens und des Heftens an Oberflächen, Verben, die durch das Präfix UN- jeweils ihr Gegenteil bezeichnen. (…) Ausgenommen bei wenigen, zumeist altertümlichen Wörtern wie ›unsay, unthink, unmake‹ (…) fällt der Bereich der Verwendung des Präfixes UN- mit Umkehrung des Sinnes echter Verben mit dem Bereich der Bedeutungen des zentripetalen Einschließens und Anheftens zusammen.« 395 Eine kryptomorphe Kongruenzregel weist englische Substantive den 394 Benjamin Lee Whorf, Sprache Denken Wirklichkeit (Language, Thought and Reality, ed. by John B. Carroll, herausgegeben und übersetzt von Peter Krausser), Reinbek bei Hamburg 1963, S. 116 395 Ebd. S. 117

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grammatischen Genera (maskulin, feminin, neutral) in einer Weise zu, die nur bei Vertretung der Substantive durch Pronomina erkennbar wird. 396 Eine weitere Klasse von Formanten, neben den Wurzeln, den Morphen und ihrer Zusammensetzung zu Syntagmen, sind die Voraussetzungsregeln, die Sätze oder Formanten an irgend eine Voraussetzung binden. Ein ebenso einfaches wie weittragendes Beispiel ist die Bindung jeder Behauptung an die Voraussetzung eines Glaubens und eines Appells. Wer in mitteilender Absicht die Behauptung aufstellt, dass es regnet, setzt damit voraus, dass er es glaubt und andere auffordert, es ebenfalls zu glauben; man erkennt das an dem sprachwidrigen performativen Widerspruch in Sprüchen wie »Es regnet, aber ich glaube das nicht« und »Es regnet, aber glaubt das nicht«. Die Behauptung selbst stellt nur einen Sachverhalt mit Anspruch auf dessen Tatsächlichkeit dar; der eigene Glaube und der Appell an fremden Glauben werden ihr durch eine Voraussetzungsregel zugeordnet. Viel undurchsichtiger, aber den eben besprochenen Kryptomorphen vergleichbar, ist die Wirksamkeit von Voraussetzungsregeln in einem von Manfred Bierwisch vorgetragenen Fall von Äußerungen, wie sie auf einem Antiquitäten- und Trödelmarkt (»Flohmarkt«) fallen können. 397 Es handelt sich um die Verwendung der Partikeln ›auch‹, ›doch‹ und ›wieder‹ in den drei Sätzen »Aber der Ring ist auch teurer als die Kette«, »Aber der Ring ist doch teurer als die Kette«, »Aber der Ring ist wieder teurer als die Kette«, und zwar das eine Mal mit unbetonter, das andere Mal mit betonter Verwendung der Partikeln. Mit unbetontem »auch« wird auf eine andere Eigenschaft des Ringes Bezug genommen, mit betontem »auch« auf einen anderen Gegenstand mit derselben Eigenschaft. Mit unbetontem »doch« wird ein nicht näher bestimmter Spruch, den Ring betreffend, zurückgewiesen, mit betontem »doch« das kontradiktorische Gegenteil. Mit unbetontem »wieder« wird eine Wiederherstellung eines in der Zwischenzeit einmal veränderten Zustandes behauptet, mit betontem »wieder« nur die Wiederholung eines früheren Zustands (auch wenn keine Veränderung dazwischen lag). Bierwisch kommentiert: »Man sieht, der Wechsel in Ebd. S. 136 Manfred Bierwisch, Erklären in der Linguistik – Aspekte und Kontroversen, in: Gibt es eine Sprache hinter dem Sprechen?, hg. v. Sybille Krämer und Ekkehard König, Frankfurt a. M. 2002, S. 151–189, hier S. 165–169: Fokuspartikeln 396 397

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der Betonung hat ganz unterschiedliche, aber strikt festgelegte Konsequenzen. Dieses scheinbar willkürliche Muster, das übrigens noch erheblich verwickelter wird, wenn man weitere Partikeln wie noch, schon, ja, wohl und Kombinationen wie auch wieder oder ja doch schon wieder einbezieht, beruht auf Regeln, in denen mindestens vier Faktoren zusammenwirken: erstens die Funktion des Hauptakzents, nämlich durch die sogenannte Fokusprojektion eine Bezugsdomäne zu bestimmen, zweitens der Aufbau von Alternativen zum Inhalt dieser Bezugsdomäne; drittens die Festlegung der daraus zu konstruierenden Vorbedingung; und viertens die Partikelbedeutung im engeren Sinn, die die jeweils spezielle Rolle der Vorbedingung festlegt. Bei auch ist es die Hinzufügung von Alternativen (Additiv), bei wieder Iteration von Situationen (Repetitiv), bei doch Bekräftigung (Affirmativ) etc.« Es ist bemerkenswert, wie viel bei einem schlichten, reflexionsfreien Alltagsdiskurs der Teilnehmer gemäß den Voraussetzungsregeln der kompetent innegehabten Sprache als Sprecher impliziert und als Hörer mitversteht. Formanten können auch außerhalb von Sprüchen in der Rede verwendet werden, nämlich als Signale, die Sprüche vertreten (wie ›ja‹ und ›nein‹) oder als Titel, Inschriften in Verzeichnissen, Abkürzungen (auch als Folgen von Anfangsbuchstaben), Straßennamen auf Schildern usw. Diese Signale können als Formanten in die Sprache übernommen werden. Rede besteht aus Sprüchen und Signalen; diese sind teils spontan, teils reguliert von Formanten. Signale zeigen teils Sprüche an, teils Situationen wie Interjektionen und andere Ausrufe, die man nicht als Kundgaben eines privaten Seelenlebens missverstehen darf, da es sich vielmehr um das Ansprechen von Situationen handelt, in die der Sprecher affektiv verstrickt ist. Signale können, aber müssen nicht als Formanten in die Sprache übergehen.

3.1.3

Der Spracherwerb

»Eine erste Übung der Stimmorgane erfolgt durch das kindliche Schreien; Vorstufen des Lallens treten schon in der vierten bis siebenten Lebenswoche auf, und noch im ersten Vierteljahr beginnt das Kind auf seine eigenen Laute zu achten und sie nachzuahmen. Später kommt es zu Lallmonologen, wobei die verschiedensten Lautbildungen geübt werden, dabei beginnt das Kind, Rhythmus und Tonfall seiner Umge230 https://doi.org/10.5771/9783495860755 .

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bung nachzuahmen. Bald lernt es einzelne Sätze verstehen; z. B. blickt es auf die Frage ›Wo ist Papa?‹ nach der genannten Person. Allerdings handelt es sich zunächst um Reaktionen auf einen Lautkomplex, ohne dass Wörter erkannt werden, doch ergibt sich nach und nach ein passiver Wortschatz, der mit sechs Monaten oft schon fünfzig bis neunzig Wörter beträgt. Zwischen dem neunten und fünfzehnten Monat fängt das Kind an, einzelne Wörter auszusprechen, entweder in Nachahmung eben gehörter oder nach der Erinnerung. Die Aussprache macht dabei weniger Schwierigkeit als das richtige Hinhören. Etwa ein halbes Jahr lang werden Einwortsätze gebildet; dann folgen Mehrwortsätze. Unter günstigen Umständen kennt das Kind mit zwei Jahren etwa 200 Wörter. Nach und nach lebt es sich in die Muttersprache ein und bildet selbständig Wörter wie die Klebe (für Leim) oder die Schreibe (für Stift). Mit etwa fünf Jahren pflegen normale Kinder richtig zu sprechen.« 398 Zwei Prozesse in dieser typisierten Geschichte des kindlichen Erstspracherwerbs spielen eine Schlüsselrolle. In dem ersten, mit sechs Monaten einsetzenden gewinnt das Kind ein Verhältnis zur Sprache, indem es zunächst ganze Sprüche (etwa Fragen) versteht und dann einzelne Formanten (Wörter) darin sich verfügbar macht. Der zweite, in seinem allmählichen Verlauf schwer verfolgbare Prozess besteht im Erwerb der Kompetenz flüssigen Sprechens, den der Berichterstatter so ausdrückt, dass das Kind ab dem Alter von zwei Jahren oder etwas früher sich in die Muttersprache einlebt. Was ist dieses Sicheinleben? Mit der richtigen Antwort wäre das Rätsel des kindlichen Erstspracherwerbs gelöst. Chomsky mit seinen Adepten wollen das Rätsel durch die Annahme eines angeborenen Spracherwerbsplans (language acquisition device) lösen, mit dem das Kind an die ihm angebotenen Sprachgeräusche herantrete, nicht, um aus ihnen die Sprache zu lernen, sondern, um durch Vergleich mit dem ihm angeborenen Muster endlich vieler Sprachtypen herauszufinden, welcher der in dieser Umgebung passende ist. Ein solches Verfahren müsste aber doch wohl vor den feinen Unterschieden kapitulieren, für die die unter 3.1.2 besprochenen Kryptomorphe und die entsprechend kryptischen Voraussetzungsregeln Beispiele sind; wenn nämlich die angeborene Ausstattung solchen Feinheiten gewachsen wäre, würde der Spracherwerb zum Kinderspiel. Die Feinheiten der Muttersprache werden aber zusammen mit den 398

Bernhard Rosenkranz, Der Ursprung der Sprache. Heidelberg 1961, S. 44

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Grobheiten und nicht in einem nachträglichen Polieren erworben. Zum nachträglichen Polieren wäre ja kaum weniger Unterricht erforderlich als zum anfänglichen Erwerb durch Erfahrung und Nachahmung; damit käme die rationalistische Theorie auf die empiristische zurück. Zu einer naheliegenden, aber von der englischen Sprache verbotenen Analogiebildung dieser Art schreiben Grewendorf/Hamm/Sternefeld: »Es gibt unter der empiristischen Perspektive keinen plausiblen Grund dafür, warum diese Generalisierung blockiert sein sollte, also von englischen Muttersprachlern nicht vorgenommen wird.« 399 Sie vergessen, hinzuzufügen, dass ein solcher Grund in der rationalistischen Perspektive Chomskys ebenso wenig zu finden ist; denn wenn das angeborene Sprachverständnis unvorhersehbaren Eigentümlichkeiten einer zufällig angebotenen Sprache gewachsen wäre, dann wäre Polyglossie das Normale und der Einsturz des Turmes von Babel kein Hindernis für die Verständigung unter Menschen. Die These Chomskys ließe sich also nur aufrecht erhalten, wenn die angeborene Ausstattung speziell auf die Sprache, in die das Kind hineingeboren wird, bezogen wäre; dagegen spricht aber die Erfahrung, dass Kinder jede Muttersprache erwerben können, wenn sie nur früh genug in das entsprechende Milieu versetzt werden. Es ist der Grundfehler der rationalistischen Spracherwerbstheorie, die Sprache nach Art eines Kalküls aufzufassen, als eine Serie möglicher Konstellationen gleich den möglichen Zügen im Schachspiel (entsprechend den möglichen Sätzen), als System statt als Nomos und Situation gemäß der unter 3.1.1 eingeführten Ausdrucksweise. In exemplarischer Weise bekennen sich Katz und Fodor bei ihrem Vorstoß zu einer wissenschaftlichen Semantik zu diesem Fehlschluss: »Da die Menge der Sätze unbegrenzt ist und jeder Satz eine andere Verkettung der Morpheme darstellt, muss die Tatsache, dass ein Sprecher jeden Satz verstehen kann, bedeuten, dass die Art und Weise, in der er Sätze versteht, die er nie zuvor kennengelernt hat, eine kompositionelle ist«, in dem Sinn, »dass die Kenntnis, die der Sprecher von seiner eigenen Sprache besitzt, die Form von Regeln annimmt, die die begrenzte Menge von Sätzen, die er zufällig kennengelernt hat, auf die einbegrenzte Menge von Sätzen seiner Sprache projiziert.« 400 In Wirklichkeit wird Wie Anm. 392, S. 19 J. J. Katz, J. A. Fodor, The Structure of a Semantic Theory, in: Language 39, 1963, S. 170–210, übersetzt von G. W. Weber in: Vorschläge für eine strukturale Grammatik 399 400

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aber die Kompetenz für eine Situation, die selbst wieder eine Situation ist, zwar im Ausgang von Nachahmung und Einübung einzelner Beispiele erworben, reift aber erst zur Kompetenz, wenn sie nicht mehr darauf angewiesen ist, einzelne Schritte an einander zu reihen, sondern sich im Ganzen einer binnendiffusen und daher buchstäblich zahllosen (keiner Anzahl fähigen) Bedeutsamkeit zurechtzufinden vermag. Der Erwerb einer komplizierten motorischen Kompetenz, z. B. des Orgelspiels, kann als Vorbild dienen. Gewiss lernt der Organist im Unterricht einzelne Regeln, nach denen er sein Instrument behandelt, aber wenn er dabei bliebe, wäre sein Spiel steife Schülerarbeit; Könner wird er nur, wenn er sich in das Instrument einlebt, in geschickter Vertrautheit leiblicher Kommunikation (antagonistischer Einleibung) mit den Registern, Manualen, Pedalen so umgehen kann, dass er ihnen unzählige Klangfolgen und Klangnuancen zu entlocken vermag, ohne sich zu erinnern, welche Regel er gerade anwendet. Wie der kompetente Orgelspieler zur Orgel, verhält sich der kompetente Sprecher zur Sprache. Von der erlangten Sprachmeisterschaft her muss der Weg zu ihr beim kindlichen Erstspracherwerb verstanden werden. Das erste erstaunliche Ereignis auf diesem Weg besteht darin, dass das Kind überhaupt merkt, dass ihm satzförmige, sprachliche Rede angeboten wird, und diese nicht mit dem Berufen und Beschreien unexplizierter Situationen verwechselt. Sobald es beginnt, das Angebot zu zerlegen und einzelne Formanten (Wörter) darin zu erkennen, hat es so viel verstanden, und nun versucht es, auf diesem für es neuen Feld des Zugangs zur Wirklichkeit Schritte zu machen, bald auch, Sprüche ohne grammatische Gliederung (Einwortsätze) zu produzieren. Die weitere Reifung der Kompetenz ist ein allmählicher Übergang: Es »lebt sich in die Muttersprache ein.«398 Dadurch unterscheidet sich der Erstspracherwerb vom späteren Fremdsprachenlernen und auch von den meisten motorischen Kompetenzerwerben, z. B. des Tanzens oder Schwimmens. In diesen Fällen gibt es meistens eine scharfe Grenze zwischen der Lernphase, in der nach einzelnen Regeln geübt wird, und der frei verfügbaren Kompetenz; diese Grenze ist der (eventuell etwas erstreckte) Augenblick, in dem man sich freigeschwommen, freigetanzt, freigesprochen hat und sich nun gleichsam, anfangs vielleicht noch etwas zaghaft, wie der Fisch im Wasser bewegt. Beim Erstspracherwerb ist des Deutschen, hg. v. Hugo Steger, Darmstadt 1970 (Wege der Forschung Band CXLVI), S. 202–268, hier S. 205

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der Übergang allmählicher; das Kind wächst in die Sprache hinein, und schließlich, nun ist es fünf Jahre alt, merkt man, dass es richtig sprechen kann. Bei diesem Wachsen hilft ihm ein antizipatorisches Fingerspitzengefühl, ein Sinn für das Potential der Sprache, die sich ihm erschließt. Wie ich das meine, verdeutliche ich an einem erdachten Beispiel, mit dem der Psychiater Jürg Zutt seine These belegt, dass »Urteile und Stellungnahmen potentia übernommen werden.« Es handelt sich um eine Mutter, die von einem Arzt über die Krankheit ihres Kindes belehrt worden ist. Sie richtet sich nicht bloß nach den expliziten Angaben und Aufträgen des Arztes, sondern greift, wenn diese nicht mehr reichen, auf den Eindruck zurück, den sie von dem Arzt gewonnen hat, um sich zu fragen, wie dieser sich verhalten und was er raten würde, und danach zu handeln. 401 Der (vielsagende) Eindruck ist eine impressive Situation, deren Bedeutsamkeit, obwohl binnendiffus, in einem Augenblick ganz zum Vorschein kommt, und, wie die Mutter von dem Arzt, hat das Kind schon einen vielsagenden und trächtigen Eindruck von der Sprache, in die es hineinwächst, so dass es dieses Wachsen danach richten kann. Dabei helfen ihm die seine anfangende persönliche Situation (Persönlichkeit) implantierenden (in sich einpflanzenden) Situationen, aus denen es die Sprache aufliest: »Das sprechenlernende Kind erfasst zunächst nicht das, was der geäußerte Satz meint, sondern, was ein Sprecher meint, und gesteuert von dem proto-linguistischen Duktus der Zuwendung, der Intonation, lernt das Kind, die in dieser Situation produzierte verbale Äußerung so zu analysieren, dass es später weitgehend auf die Stützung durch derartige dann ›zusätzliche‹ Fähigkeiten verzichten kann.« 402 Zunächst sind es aktuelle, von Augenblick zu Augenblick verschiebbare Situationen, aus denen das Kind sein Sprachverständnis schöpft; durch rasche Verallgemeinerung bilden sich ihm daraus zuständliche, auf längere Sicht verlässliche Situationen, wie folgende kleine Erzählung über ein amerikanisches Mädchen illustrieren kann: »Alison Bloom (1; 4) verwendet ›more‹ zuerst für eine zweite Portion Essen, zwei Tage später als Aufforderung, der Babysitter solle sie nochmals kitzeln, dann als Bezeichnung für den zweiten Schuh. (Der erste war ›shoe‹.) Bloom ver401 Jürg Zutt, Auf dem Wege zu einer anthropologischen Psychiatrie. Gesammelte Abhandlungen, Berlin/Göttingen/Heidelberg 1963, S. 32 f. 402 Hans Hörmann, Meinen und Verstehen. Grundzüge einer psychologischen Semantik, Frankfurt a. M. 1976, S. 76

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merkt ausdrücklich, dass Alison ›more‹ (und andere Wörter wie ›these‹, ›stop‹ …) in Relation zu viel mehr Objekten und Vorgängen verwenden konnte, als in ihrem damaligen Wortschatz durch eigene Bezeichnungen vertreten waren; das Konzept der More-ness sei als Relation ablösbar geworden von den Relata.« 403

3.1.4

Der Ursprung der Sprache

Die Geburt einer Sprache ist ihr Hervorgang aus einer Muttersprache, der Ursprung einer Sprache dagegen ihre Entstehung ohne solchen Hervorgang. Die Annahme des Ursprungs einer Sprache setzt voraus, dass die Menschen nicht immer und überall gesprochen haben. Das ist sehr wahrscheinlich, weil sie allem Anschein nach über sehr lange Zeit in dürftigen Verhältnissen gelebt haben, aus denen sie sich mit dem gewaltigen Machtmittel der Sprache, die Bedeutsamkeit von Situationen zu explizieren und dadurch diese in den Griff zu nehmen und zu überholen, leicht hätten befreien können. Wenn die Menschen dennoch immer und überall gesprochen haben sollten, würde sich die Frage nach dem Ursprung in die Frage verschieben, welche besondere Ausstattung sie zu dieser übertierischen Errungenschaft befähigte, und die Antwort dürfte dieselbe oder sehr ähnlich sein. Wenn man die Ursprungsannahme festhält, ist die Rede von »dem« Ursprung »der« Sprache immer noch eine plakative Übertreibung. Immer nur besondere Sprachen können entstanden sein, und nichts zwingt zu der Annahme, dass sich solche Entstehung als Ursprung nur einmal ereignet hätte, nicht für verschiedene Populationen unabhängig von und neben einander und nicht ein zweites Mal, nachdem eine Sprache schon einmal entsprungen, aber wieder verloren war. Über den Ursprung der Sprache ist seit dem Altertum viel, besonders im 18. Jahrhundert, spekuliert worden 404 , doch mit so abseitigen und ungenügenden Vorschlägen, dass sich ein Überdruss breit machte, der die Société de linguistique de Paris 1866 veranlasste, in ihren Statuten die Annahme von Arbeiten über den Ursprung von Sprachfähig-

Ebd. S. 376 Einen Überblick bietet Albert Drexler, Wesen und Ursprung der Sprache, Band 1, Zürich 1951, S. 111–314 403 404

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keit und Sprache schlechthin zu verbieten. 405 Schlimmer als ausschweifende Spekulation war aber die Verkennung des Problems: Man verwechselte Sprache mit Rede und die Darstellung von Bedeutungen (Sachverhalten, Programmen, Problemen) in Sprüchen mit der Bezeichnung von Sachen durch Wörter und fragte sich nur, wie die Menschen darauf kamen, den Schall ihrer Stimmen zur Bezeichnung von Gegenständen zu benützen (so schon Adam, der seine Berufung zum ersten menschlichen Sprecher im Paradies dadurch realisiert, dass er den Dingen Namen gibt). Völlig außer Betracht blieb dabei, wie die Menschen an eine Sprache als Nomos, als Verhaltensmuster, kamen, deren sie (3.1.1) bedurften, um Bedeutungen aus Situationen einzeln herauszuholen und damit erst die Voraussetzung für das Finden und Benennen einzelner Sachen durch Formanten zu schaffen, von denen sich ihnen einige als Wörter – als Anhaltspunkte für das Sprachenlernen und -können – einprägen. Diese Verdeckung des Problems in fast allen Reflexionen über den Ursprung der Sprache verbarg das eigentliche Rätsel des Sprachursprungs, den Zirkel, in den gerät, wer nicht ein außerordentliches Ereignis annimmt, das den Übergang von tierischer zu sprachlicher (menschlicher) Rede ermöglichte: Er müsste annehmen, dass Sprachen sich im Sprechen bilden und umbilden, wie wir es noch heute beobachten, andererseits aber, dass Sprechen erst möglich ist, wenn es schon aus einer Sprache seine Regeln schöpfen kann. Worin aber sollte dieses außerordentliche Ereignis bestehen? Herders Gegner Süßmilch hielt es für ein Geschenk Gottes, und noch im 20. Jahrhundert tat Pater Wilhelm Schmidt mit seinem grundgelehrten, vielbändigen und vielseitig aufschlussreichen Werk über den Ursprung der Gottesidee ihm nach, indem er Gottes Geschenk der Sprache an die Menschen mit dem Geschenk des Urmonotheismus verband. Das ist nicht nur wegen des Phantastischen der Konstruktion unannehmbar, sondern auch, weil nicht ersichtlich ist, was die Menschen mit dem Geschenk einer Sprache hätten anfangen können, wenn sie nicht schon sprechen konnten. Die Rede teilen die Menschen mit vielen Tieren; ihre besondere Errungenschaft ist die sprachliche Rede, das Sprechen mit Hilfe des Nomos einer Sprache. Rede ist das Gestalten an Situationen in einem 405 Theorien vom Ursprung der Sprache, hg. v. Joachim Gessinger und Wolfart v. Rahden, Band II, Berlin/New York 1989, S. 123 (S. 122–150 Sylvain Auroux, La question d’origine des langues: ordre et raison de rejet institutionell)

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Medium, das von der gestalteten oder umgestalteten Situation verschieden ist. Bei Tieren ist dieses Medium fast immer die Stimme; Menschen haben dafür auch andere Medien wie die Gebärde, die Schrift, doch sind diese abhängig vom Schall der Stimme als grundlegendem Medium, vorzüglich zur Bedeutungen explizierenden Arbeit an Situationen. Die Untersuchung des Ursprungs der Sprache hat daher zwei Aufgaben. An erster Stelle ist nachzuweisen, wie die Menschen an eine Sprache kommen, die ihrer Rede den Übergang vom tierischen Niveau zum Sprechen ermöglicht; danach ist zu zeigen, wie diese Sprachen in ein von den bearbeiteten Situationen gewöhnlich verschiedenes Medium eingeht, d. h., da es sich primär um das stimmliche Medium handelt, wie sie ihr Lautkleid (noch nicht ihr schriftliches Kleid) gewinnt. Wenn beide Aufgaben gelöst sind, ist das Nötige über den Ursprung der Sprache gesagt. Die grundlegende Leistung des Sprechens ist das von einer Sprache geleitete Darstellen einzelner Bedeutungen in der Rede. Die Sprache garantiert diese Einzelheit durch Abfüllung der Bedeutungen in die Portionen der durch ihre Sätze erzeugten Sprüche; um diese Portionen vor Vermengung durch den Sprecher zu schützen, muss dieser sich in bestimmter Weise zurückhalten und Abstand nehmen. Die Tiere sind dazu nicht fähig; treffend bemerkt Bernhard Rosenkranz über das »Fehlen der Bedeutungsrelation« in ihrem Verständnisvorrat: »Die unmittelbare Beziehung des Laut- und Tonkomplexes auf Situation und Reaktion lässt keinen Raum für eine solche. Dementsprechend ist auch keine Möglichkeit zu einer Darstellung gegeben, sondern nur zu Ausdruck und Anruf.« 406 Ihr Umgang mit begegnenden und herausfordernden Situationen ist Einleibung als leibliche Kommunikation im Kanal des vitalen Antriebs aus Engung und Weitung, die als Spannung und Schwellung in einander verschränkt sind. Diese beiden Komponenten, bei deren vollständiger Trennung der Antrieb erlischt, lassen sich im tierischen Erleben, auch teilweise, nur nach einer Richtung spalten: zur Engung hin. Das Tier kann stutzen und erschrecken, in privativer Engung; dabei wird Engung aus dem Antrieb abgespalten. Das Gegenteil, privative Weitung, z. B. in Erleichterung und wohltätiger Müdigkeit, ist beim Tier nur kümmerlich entwickelt und fehlt ganz in der vollen Entfaltung zur Kontemplation. Das von Brahms vertonte Gedicht Feldeinsamkeit von Richard Allmers lautet: 406

Wie Anm. 398, S. 89

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Ich liege still im hohen grünen Gras Und sende lange meinen Blick nach oben, Von Grillen rings umschwirrt ohn’ Unterlass, Von Himmelsbläue wundersam umwoben. Und schöne weiße Wolken ziehn dahin Durchs tiefe Blau wie schöne, stille Träume. Mir ist, als ob ich längst gestorben bin Und ziehe selig mit durch ewge Räume. So etwas vermag kein Tier. 407 Ludwig Klages hat für den hier einschlägigen Überschuss menschlichen Vermögens den Begriff der Ferneempfänglichkeit. Er unterscheidet zwischen Schauen und Empfinden. Fähigkeit zum Schauen ist Ferneempfänglichkeit, wobei die Ferne im ursprünglichen Anschauungsbild eine Qualität und nur sekundär auf Abstände zu beziehen ist; vermöge des Empfindens verkehren die Wesen nur mit dem körperlich Nahen. Dies ist freilich nicht immer der Fall der Tiere, wie das Beispiel der aus der Höhe Beute suchenden Raubvögel zeigt, aber auch ihnen bleibt die Bildqualität der Ferne versagt. Sie ging beim Übergang von der ferneempfänglichen, nach Klages unbewusst schlafend schauenden Pflanze zum Tier verloren und wird vom Menschen wiedergewonnen. Tiere können keine Landschaften sehen, weil sie nicht das Mittel menschlicher Gestalt- und Bildauffassung haben: Sie sind auf das für sie Nächste, selbst wenn es (wie die Beute des Vogels) räumlich entfernt ist, fixiert und nicht frei dafür, Gestalten als Gestalten zu sehen; daher können sie nicht abbilden. 408 Am Ursprung der Sprache muss wohl ein mächtiger Durchbruch privativer Weitung in der leiblichen Dynamik der Menschen gestanden haben, wodurch sie vom Druck der Situationen in der Einleibung so frei wurden, dass diese nicht mehr allein durch Rufe und Schreie, die dieser Druck aus sich hervorpresst, beantwortet werden konnten. Privative Weitung kann den Situationsdruck derart lockern, dass einerseits einzelne Bedeutungen aus der kompakten Bedeutsamkeit der Situationen hervortreten können, andererseits diese nicht mehr sofort 407 Vgl. auch das literarisch bedeutendere Gedicht Im Grase von Annette v. DrosteHülshoff 408 Ludwig Klages, Der Geist als Widersacher der Seele, von mir referiert in: Der Weg der europäischen Philosophie. Eine Gewissenserforschung, Band 2, Freiburg i. Br./München 2004, S. 657

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mit Beschlag belegt werden müssen, sondern zum Potential werden, das Gelegenheit gibt, hier und da zuzugreifen, Einzelnes herauszuholen und in Konstellationen zusammenzusetzen. Otto König schreibt: »Kein noch so energischer ›Ruhe‹-Ruf bringt eine laut diskutierende Menschengruppe zu solch unmittelbarem Aufmerken wie ein einziges hell zischendes ›pssst‹.« 409 Er verfolgt solches helle Zischgeräusch mit gleicher Alarmwirkung durch das Tierreich. Hier stehen sich beim Menschen der unmittelbare – in diesem Fall privativ engende – Eingriff in den vitalen Antrieb, dem das Tier ohne Rückhalt ausgesetzt ist, und die ein Programm in satzförmiger Einwortrede aussprechende sprachliche Darstellung des Menschen gegenüber, wobei diese wegen der Distanzierung von der Situation unmittelbar schwächer wirksam ist. Hinter ihr steht aber die stärkere Macht einer Sprache, die die Rede unabhängig von der Situation, aus der sie freilich schlüpft, in beweglichen Konstellationen zu ordnen gestattet. Damit eine Sprache möglich wird, muss eine Situation, oder vielmehr der Nomos einer Situation, so aufgelockert werden, dass er als Vorrat frei, d. h. unabhängig vom unmittelbaren Situationsdruck, verfügbarer Programme zugänglich wird; denn eine Sprache kann ja nicht vom Himmel fallen, sondern muss als Situation aus Situationen bezogen werden. Dabei kann es sich nur um eine zuständliche Situation handeln, die nicht von Augenblick zu Augenblick ein anderes Gesicht zeigt. Ehe die Menschen eine Sprache hatten, lebten sie sicherlich schon in zuständlichen wie in aktuellen Situationen. Die binnendiffuse Bedeutsamkeit solcher Situationen kommt mit zwei Formen chaotischer Mannigfaltigkeit vor: als konfus chaotische und als diffus chaotische Mannigfaltigkeit. 410 Beim konfusen Typ (z. B. einer durchdösten Frist oder Kontinuität anderer Art, beim Andeutungsreichtum eines lyrischen Gedichtes) fehlt es sogar an Identität und Verschiedenheit, beim diffusen nur an Einzelheit, während absolute (noch nicht relative) Identität und Verschiedenheit den Umgang vor Verwechslungen schützen. Alle unwillkürlichen motorischen Kompetenzen sind diffus chaotisch-mannigfaltige Situationen, z. B. die Kompetenz zum Kauen fester Nahrung, die sich als mit absoluter Identität und Verschiedenheit vertraut dadurch erweist, dass die Otto König, Urmotiv Auge, München/Zürich 1975, S. 93 Diesen Unterschied habe ich in meinem Buch Situationen und Konstellationen (Freiburg i. Br./München 2005) eingeführt (S. 51–61: Chaotische Mannigfaltigkeit, hier S. 57), danach in Logische Untersuchungen (ebd. 2008)

409 410

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eigene Zunge nicht mit zerkaut wird. Zugleich sind solche Kompetenzen vielseitig und beweglich einsetzbar, im Gegensatz zu den immer nach demselben starren Schema ablaufenden tierischen Ritualen, die nur durch die Beteiligung motorischer Kompetenzen (Taxien) abwandelbar werden. Die Situationen, von denen die vorsprachlichen Lebewesen in Anspruch genommen werden, haben im Allgemeinen eine konfus chaotisch-mannigfaltige Bedeutsamkeit. Eine solche (zuständliche) Situation kann im Zuge der durch privative Weitung ermöglichten Abstandnahme so locker und durchsichtig geworden sein, dass ihr Nomos vom konfusen zum diffusen Typ überging. Dann kann er als Sprache zur Verfügung gestanden haben, und der damit beschenkte Mensch begann zu sprechen, ohne zu wissen, wie ihm geschah. So könnte der Mensch zur Sprache gekommen sein. Der Zusammenhang des Ursprungs der Sprache mit privativer Weitung des Leibes wird noch deutlicher, wenn man die Menschensprache mit der Bienensprache vergleicht. Die Bienen verfügen über eine Tanzsprache, mit der sie Sachverhalte der Entfernung, Richtung und Ergiebigkeit einer Futterquelle sowie die Entfernung und Richtung eines möglichen künftigen Stockplatzes einzeln darstellen. 411 Sie gelangen aber nicht zur Welt als dem Rahmen aller möglichen Vereinzelung, der sich den Menschen aus den fünf Momenten der primitiven Gegenwart (hier, jetzt, sein, dieses, ich) zu fünf Dimensionen aufspannt: vom absoluten Ort zum Ortsraum über Lagen und Abstände, die zu sagen gestatten, wo etwas ist; vom absoluten Augenblick zur modalen Lagezeit mit Fluss der Zeit; vom Sein der exponierten Gegenwart gegenüber dem Nichtmehrsein der zerrissenen Dauer zur Gegenüberstellung des Seienden und Nichtseienden mit Projektion der Einzelheit in das Nichtseiende, wodurch es möglich wird, die Situationen zu überholen; von der absoluten Identität zur relativen, wodurch das Identische vielseitig (von vielen Gattungen her als das selbe bestimmbar) wird; vom absolut identischen Bewussthaber zum einzelnen Subjekt mit Gegenüberstellung des Eigenen und Fremden. Die Entbindung der Einzelheit explodiert gleichsam beim Menschen zur Aufspannung eines weit umfassenden, fein durchgeformten Rahmens und Feldes möglicher Vereinzelung, während die Bienen an wenigen Themen 411 Karl v. Frisch, Aus dem Leben der Bienen, 6. unbearbeitete und ergänzte Auflage Berlin/Göttingen/Heidelberg 1959; Friedrich Kainz, Die »Sprache« der Tiere, Stuttgart 1961, S. 9–26

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und »Suchbildern« (J. v. Uexküll) hängen bleiben. Menschen werden ebenso wie Tiere mit dem, was ihnen anziehend und abstoßend begegnet, im gemeinsamen Antrieb der Einleibung zusammengehalten, aber während dieser bei den Tieren durch die Reize, die ihm Ziele setzen, eng geschient wird, überspannt ihn beim Menschen die Welt als ein ungeheuer weiter Horizont, der, indem er über das Seiende ins Nichtseiende ausgreift, auch noch das Mögliche umfasst und damit Planung, Phantasie, Hoffnung usw. gestattet. Leiblich wird diese Ausspannung durch eine den vitalen Antrieb überholende und auflockernde privative Weitung ermöglicht. Die Schimpansen, denen man mit geduldiger, jahrelanger Anstrengung eine Krückensprache beigebracht hat, mit denen sie sich unter einigen Sachverhalten und Programmen mehr oder weniger geschickt bewegen können, machen mit solcher angelernten Unbehilflichkeit deutlich, wie befangen die Vereinzelung bleibt, wenn nicht privative Weitung des Leibes den Druck der Einleibung auf den vitalen Antrieb lockert. Geschmeidiger passen sich intelligente Haustiere, besonders Hunde, der vereinzelnden Vergegenständlichungsweise ihrer menschlichen Vorbilder an, indem sie nach Bedarf, ihren Wünschen entsprechend, einzelne Programme zu verstehen geben. 412 Sie entwickeln durch Anpassung ein kleines Stück des Talents, das der Mensch ihnen voraus hat. Die Lockerung des vitalen Antriebs durch privative Weitung verschafft dem Menschen nicht nur den Zugang zur Sprache, sondern auch den Zugang zur Fläche. Ich habe mehrfach ausgeführt, wie die Fläche, die sich dem Blick und Griff in die Tiefe des Raumes querend entgegenstellt, vom Druck der Einleibung entlastet und personale Emanzipation begünstigt. 413 Mit der Fläche beginnt die Entfremdung des Raumes vom Leib; am eigenen Leib kann man keine Flächen spüren. Vorsprachliche Lebewesen haben wahrscheinlich keinen Zugang zur Fläche; ihnen drängen sich Massen ohne Oberflächen mit dynamischem, nicht dreidimensionalem Volumen auf, wie das Wasser, entgegenströmend oder tragend, dem Schwimmer; auch am eigenen Leibe spürt man solches flächenloses Volumen aus vitalem Antrieb, etwa als die Leibesinsel, die sich beim Einatmen bildet und durch Ausatmen wieder auflöst. Die Begegnung mit der Fläche distanziert solche VoluVgl. das Referat der Stellungnahme von Konrad Lorenz bei Kainz, ebd., S. 258 f. Vgl. von mir: Der unerschöpfliche Gegenstand. Grundzüge der Philosophie, zuerst Bonn 1990, S. 310–318; Situationen und Konstellationen, wie Anm. 410,S. 205–217 412 413

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mina, indem sich diese hinter die leibfremde Oberfläche ins Innere von Körpern zurückziehen und die Fläche selbst als Unterlage und Spielfeld für die Konstruktion umkehrbarer (linearer) Verbindungen zwischen Blickzielen freigeben, während der Leib nur unumkehrbar aus der Enge in die Weite führende Richtungen anbietet. Über umkehrbaren Verbindungsbahnen kann ein Ortsraum mit Lagen und Abständen eingeführt werden, auch in der den Blick umkehrenden Verbindung von der Fläche zum Leib, der auf diese Weise in den Ortsraum aufgenommen und dem dreidimensionalen Menschenkörper durch das perzeptive Körperschema eingelegt werden kann. In der Fläche kann sich die von der Entfaltung der primitiven Gegenwart zur Welt freigesetzte Phantasie zeichnend und malend ausleben. Es liegt nahe, dass alle diese Prozesse der Freisetzung von bloß leiblichem Leben aus primitiver Gegenwart zusammengehören und also der Ursprung der Sprache mit dem Ursprung des Malens und Zeichnens etwa zusammenfällt. Das würde in die Zeit der ersten eiszeitlichen Wandbemalungen führen, etwa in das Cromagnon-Zeitalter, als der biologisch so genannte homo sapiens sapiens auftritt. Daher wage ich die Hypothese, dass in diese Zeit auch der Ursprung der Sprache fällt. Das schließt nicht aus, dass es auch früher schon Sprachen gegeben hat. Sie können ja wieder verloren gegangen sein. Das ist insbesondere dann wahrscheinlich, wenn es sich um rudimentäre Sprachen mit von Suchbildern beschränkter Thematik gehandelt hat, so dass das ins Mögliche frei ausgreifende Sprechen dem homo sapiens sapiens vorbehalten geblieben wäre. Der Neandertaler mag schon rudimentär gesprochen haben; mit ihm verschwand sein Sprachfragment. Über den Stand der den Ursprung der menschlichen Sprache betreffenden Diskussion schreibt Andrea Schulz: »Der Hauptunterschied zwischen denjenigen Theorien, die heute als sinnvoll angesehen und diskutiert werden, ist dabei das Kriterium, ob Sprache als etwas angesehen wird, was sich langsam und kontinuierlich aus tierischer Kommunikation entwickelt hat (dies vertritt die sogenannte ›gradualistische‹ Sichtweise) oder ob es sich um eine eher sprunghafte, ›saltatorische‹ Folge von Genmutationen oder sogar, wie Bickerton vermutet, um einen einzigen massiven Mutationsschritt handelt, der mit dem Auftreten der Spezies homo sapiens sapiens einhergeht.« 414 Ich neige der Meinung Bickertons zu, abgesehen von der mich nicht inte414

Andrea Schulz, Sprache aus dem Nichts?, Frankfurt a. M. 2000, S. 298

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ressierenden Frage, ob an der mehr oder weniger plötzlichen Entstehung der Sprache Genmutationen beteiligt waren. Die ersten Sprachen brauchen auch keineswegs primitiv gewesen sein; man kann sie sich auch als gleich grammatisch kompliziert ausmalen, wie die ältesten uns bekannten Sprachen. Der erste Sprecher musste sich seine Sprache nicht allmählich erarbeiten, wenn sie sich ihm, wie ich vermutet habe, dank privativer Weitung seines Leibes dadurch anbot, dass sie eine Situation mit konfus chaotisch-mannigfaltiger Bedeutsamkeit zu einer solchen mit diffus chaotischer Bedeutsamkeit auflockerte. Es hat sich gezeigt, wie die Menschen zu einer Sprache gekommen sein dürften. Damit ist die Aufgabe aber erst halb gelöst, denn nun muss noch geklärt werden, wie die Sprache zu einem Medium, ohne das sie wirkungslos wäre, gekommen ist, und warum dieses Medium in erster Linie das stimmliche ist. Wie gewinnt die Sprache ihr Lautgewand? Als unentbehrliches Hilfsmittel ermöglicht sie die stabile Explikation und Vernetzung einzelner Bedeutungen, die aus der binnendiffusen Bedeutsamkeit von Situationen entbunden werden, und in Folge davon die Vereinzelung beliebiger Sachen; diese Ausbeutung der Situationen ist aber nur im Zuge der Auseinandersetzung mit ihnen möglich, und die bleibt wie bei den Tieren eine Leistung der Einleibung und damit der leiblichen Dynamik unter Führung des vitalen Antriebs. Der spürbare Leib ist, wie ich oft gezeigt habe, gewöhnlich auf Inseln verteilt, unter denen die Mundgegend, die orale Zone, ein Leib im Kleinen ist, wo alle Züge der leiblichen Dynamik wie in einem Konzert so stabil und geordnet versammelt sind wie in keiner anderen Gegend des Leibes. 415 Das ist der wichtigste Grund dafür, dass sich der Sprecher für seine Rede der mündlichen Stimme bedient, wie die Tiere. Weitung und unumkehrbare Richtung aus der Enge in die Weite – leibliche Korrelate des entweichenden Luftstroms – nutzen die durch die anatomischen Gegebenheiten im Stimmkanal (Kehlkopf, Rachen, Mund, Lippen, Nase) gebotenen Chancen leiblicher Engung für alle möglichen Schicksale der Hemmung und Reibung und der weitenden Durchsetzung gegen solche Hindernisse, um den andrängenden aktuellen Situationen, besonders den vielsagenden Eindrücken (den impressiven Situationen), Resonanz zu geben und in der Auseinandersetzung zu erwidern. Wenn es bei der unmittelbaren, nicht sprachlich geformten Reaktion bleibt, ergeben sich Interjektionen. In gleicher Weise formt 415

Hermann Schmitz, Der Leib, Berlin 2011 Kapitel 5: Der Mund S. 55–57

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sich aber auch die sprachlich geleitete Explikation von Bedeutungen aus Situationen durch Mundgebärden aus, die von den andrängenden Eindrücken angeregt werden und ihnen antwortend entsprechen. Außer mit dem Mund könnte auch mit dem ganzen Körper sprachlich reagiert werden; dann ergäbe sich statt der Stimmrede eine Tanzrede wie die der Bienen. Dann wäre aber der ganze Körper vom Sprechen in Anspruch genommen und während dessen nicht für andere Zwecke verfügbar. Wenn mit den Händen – durch Gebärden oder Schreiben – gesprochen wird, sind diese wichtigsten Instrumente des praktischen Umgangs für andere Zwecke gesperrt. Die ausgezeichnete Konzentration der leiblichen Dynamik im Mundbereich erlaubt dem Menschen das zweigleisige Verfahren, mit seinem Körper direkt in die begegnenden Situationen einzugreifen und zugleich in einem von diesen gesonderten Medium redend an ihnen zu gestalten. Das genügt, um den Vorzug des Stimmkanals vor anderen Medien des Sprechens zu begründen. Die Abstimmung zwischen den begegnenden Eindrücken und der stimmlichen Erwiderung, sowie zwischen dieser und den erschallenden Lauten, gelingt durch Vermittlung der von mir oft und eingehend erörterten leibnahen Brückenqualitäten der Einleibung, der Bewegungssuggestionen und synästhetischen Charaktere, die sowohl an Gestalten wahrgenommen als auch am eigenen Leib gespürt werden können. Bewegungssuggestionen sind wahrnehmbare Vorzeichnungen von Bewegung an ruhenden oder bewegten Gestalten oder den Bewegungen selbst, immer über das Ausmaß eventuell ausgeführter Bewegung hinaus; synästhetische Charaktere sind intermodale Eigenschaften, die häufig die Namen spezifischer Sinnesqualitäten (z. B. »hell«, »dunkel«, »hart«, »weich«, »warm«, »kalt«) tragen, aber auch ganz ohne diese (etwa an der Stille) vorkommen. In diesen Brücken leiblicher Kommunikation mit dem, was beschäftigt und in Anspruch nimmt, stimmen Tier und Mensch überein. Der Sitz der entsprechenden Bewegungssuggestion ist bei der Ente der Schnabel 416 , beim Menschen die 416 Friedrich Kainz, Die »Sprache« der Tiere, Stuttgart 1961, S. 74: »Will eine Stockente auffliegen, so macht sie bei hoch erhobenem Kopfe wippende Schnabelbewegungen von unten nach oben, also gleichsam Intentionsbewegungen für den Sprung aus dem Wasser, dies wird von den Artgenossen verstanden, sie werden allmählich in dieselbe Stimmung versetzt, und der Abflug erfolgt gemeinsam.« S. 75: »Nach A. Daanje kann die Ente mit dem Schnabel aufwärts, vorwärts und abwärts weisen, was Sprung aus dem Wasser, Vorwärtsmarsch und Abwärtsflug (bzw. Tauchen) voraussagt oder nahelegt. Als

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Zunge. 417 Viele aufschlussreiche Beobachtungen über den Einfluss der leiblichen Dynamik auf die Wortbildung hat Hermann Strehle zusammengestellt. 418 Besonders bemerkenswert ist seine Deutung von dem Wortsinn nach absurden Steigerungsformen aus dem steigernden Impuls der Lippendehnung: »Wenn man auf die Lippendehnung achtet und sie als sinngebend empfindet, finden viele rational unverständliche Redeweisen eine einfache Erklärung: ›Steinreich‹ beispielsweise meint nicht reich an Steinen, sondern sehr reich, die Silbe steht bzw. ihre Sprechweise ist Symbol eines Superlativs. ›Heiden‹-spaß ist ein großer Spaß. In ›hellen‹ Haufen heißt aus demselben Grunde in großen Haufen. Die ›helle‹ Wut oder die ›heile‹ Welt heißt so viel wie eine große Wut. ›Heil‹-froh heißt sehr froh. ›Hinz und Kunz‹ umfasst mit seiner Doppellippendehnung alle Welt und bedeutet darum ›jedermann‹ (der geringschätzige Beigeschmack kommt von Interjektionen der Geringschätzung).« 419 Beim Aussprechen der Vorsilbe »stein« vor »reich« ist die Bewegungssuggestion eine Schwellung der Lippeninsel des spürbaren Leibes, die beim Übergang zum erzeugten Sprachschall in den synästhetischen Charakter der Vorsilbe verwandelt wird. Der sch-laut (bei hochdeutscher Aussprache von st) enthält ein drängendes Anschwellen, das sich im explosiven Alveolarkonsonanten [t] der Spannung entlädt und damit aus vitalem Antrieb in den hellen, privativ weitenden Diphtong ergießt, zuletzt aber vom Verschlusslaut [n] aufgehalten wird. Der Gesamteffekt ist eine aus kraftvollem Antrieb frei werdende, gehaltene Weitung, eine im synästhetischen Charakter der Silbe sich manifestierende leibliche Dynamik, die die prachtvolle, selbstsichere Entfaltung großen Reichtums eines »steinreichen« Besitein eintägiges Entchen die Abwärtsbewegung machte, tauchten alle Enten der Umgebung gleich weg.« 417 Friedrich Kainz, Psychologie der Sprache, Band 2, 2. Auflage Stuttgart 1960, S. 595: »So ist etwa das data, tata, ata, mit dem Kinder auf Eindrücke, die ihre Aufmerksamkeit oder ihr Begehren erregen, antworten, aus einer Zeigebewegung der Zunge entstanden. Die Mitbewegungen der Zunge beim Zeigen sind ja auch noch bei Erwachsenen zu beobachten. So sind die hinweisenden Fürwörter in vielen Sprachen durch Zahnlaute gekennzeichnet, ebenso das persönliche Fürwort der 2. Person du. Das persönliche Fürwort der 1. Person enthält in vielen unverwandten Sprachen Nasen- und Gaumenlaute; in den indogermanischen Sprachen wird ›ich‹ durch die Stämme egho und me wiedergegeben, die semitischen Sprachen haben eine Grundform anaku, das Chinesische als älteste Lautgestalt ngock.« 418 Hermann Strehle, Vom Geheimnis der Sprache, Basel 1956 419 Ebd. S. 154

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zers wirkungsvoll untermalt. Es ist nicht selbstverständlich, dass solche Übertragung leiblicher Bewegungssuggestionen in die leibdynamisch entsprechenden synästhetischen Charaktere des Sprechschalls gelingt. Solche Übereinstimmung kann das Kind aber schon bei den frühen Lallmonologen einüben, dank der Rückmeldung des mündlich erzeugten Schalls an das Gehör; später, bei und nach Erwerb der Sprache, achtet es darauf. 420 Es war ein falscher Gedanke von Oehl, die Wortbildung aus der Tendenz zum Abmalen der Beschaffenheit von Gegenständen durch entsprechende artikulatorische Bewegungen des Stimmapparats erklären zu wollen, z. B. die Wurzel ›kap‹ mit ihren verbalen Derivaten als Bild für das Öffnen und Zupacken der Hände beim Greifen, ›ri‹ für den Blitz, ›bi‹ für 2, weil beim Sprechen der Silbe beide Lippen aus einander treten. 421 Das ist so falsch wie die onomatopoetische Theorie der Nachahmung von Schall bei der Wortbildung, eine seltene Ausnahme. Die expressive Stimme ahmt nicht nach, sondern sie reagiert auf widerfahrende oder vorschwebende Situationen in der Einleibung gemäß der Weise des jeweiligen Betroffenseins und des dadurch geweckten erwidernden Impulses. So entsteht eine abgestimmte, keineswegs zufällige, aber doch regellose, von den augenblicklichen Umständen abhängige Entsprechung von Eindruck und Ausdruck. Dass sie nicht zu lauter Privat- und Momentansprachen führt, sondern zu Lautungen, die in Gemeinsprachen über weite Strecken und Zeiträume zäh festgehalten werden, ist dem prägenden Einfluss solidarischer Einleibung zu verdanken. Das ist der wahre Kern der synergistischen Theorien des Ursprungs sprachlicher Rede: »Der Sprachlaut ist also in seiner Entstehung der die gemeinsame Tätigkeit begleitende Ausdruck des erhöhten Gemeingefühls.« 422 Noiré dachte an gemeinsame Arbeit 423 , Donovan an gemeinsames Feiern von Gruppenerfolgen, das über Gefühlsäußerungen mit Stimmaufwand, Händeklatschen, Freudentänze u. dgl. den Menschen die Zunge gelöst und sich in der Erinnerung an den Gegenstand des Erfolges als Benennung niedergeschlagen habe. 424 Auch diese synergistischen Erklärungen übergehen die Sprache; sie machen nicht

420 421 422 423 424

Beispiele bei Kainz, wie Anm. 417, S. 133 f. Albert Drexler, Ursprung und Wesen der Sprache, Band 1, Zürich 1951, S. 195 ff. Ludwig Noiré, Der Ursprung der Sprache, Mainz 1877, S. 333 Ebd. S. 331 Bernhard Rosenkranz, Der Ursprung der Sprache, Heidelberg 1966, S. 131

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im Mindesten verständlich, wie es möglich war, über die Rufe und Schreie tierischer Rede in einem zur gegenseitigen Aufheizung besonders befähigten Rudel hinauszukommen. Gut ist aber, dass sie den wichtigen Anteil solidarischer Einleibung bei der Entstehung gemeinsamer Lautgebung für Sprachen deutlich machen; dieser Einfluss ist maßgeblich an der Wirksamkeit leiblicher Dynamik auf die Lautung in Gemeinsprachen beteiligt und sorgt dafür, dass alle Theorien falsch sind, die einen bloß willkürlichen und zufälligen Zusammenhang von Wortlaut und Wortsinn annehmen. Ebenso verkehrt wäre es andererseits, den gesamten Wortschatz leibdynamisch erklären oder auch nur kommentieren zu wollen. Nachdem der vitale Antrieb zusammen mit protopathischer und epikritischer Tendenz die Sprache lautlich auf den Weg gebracht und ihr durch Bewegungssuggestionen und synästhetische Charaktere sein Gepräge aufgedrückt hat, bildet sie sich als unbegrenztes Spielfeld für verbale Neubildungen mit willkürlicher Zuordnung von Laut und Sinn weiter. Auf der anderen Seite wird jede Lautsprache trotz aller Willkür der Wortwahl beständig von leiblicher Dynamik mitbestimmt, weil die Lautung durch stimmliche Artikulation im Mund und benachbarten Körperteilen (Rachen, Nase, Lippen) erfolgt und diese Artikulation ein leibdynamisches Geschehen ist. Es lohnt sich daher für die Einsicht in diese Seite der Sprachen, ein gutes Lehrbuch der artikulatorischen Phonetik 425 heranzuziehen und die Unterscheidungen dieser Wissenschaft von der leiblichen Dynamik her zu kommentieren. Vokale und Konsonanten unterscheiden sich dadurch, dass die Luft den Mund unbehindert (Vokale) bzw. behindert (Konsonanten) passiert (43). Ich wende mich zunächst den Konsonanten zu. Eine leibdynamisch besonders interessante Gruppe sind die explosiven Verschlusslaute [p], [t], [b], [d] (67). Ihre Artikulation beginnt mit dem engenden Mundschluss und führt über das Einströmen der Luft aus der Lunge mit folgendem Überdruck gegen den Verschluss (Schwellung gegen Spannung im vitalen Antrieb) zur Explosion als Durchbruch der Schwellung in privative Weitung gemäß einem wohlbekannten Muster leibdynamischen Ablaufs, dessen markanteste Verwirklichung der Geschlechtsakt ist. Im Fall der Affrikaten [pf], [ts], [kh] (91) verzögert sich die Explosion 425 Maria Schubiger, Einführung in die Phonetik, 2. Auflage Berlin 1977 (Sammlung Göschen), Die hiernach in den Text gesetzten eingeklammerten Ziffern sind Zahlen der Seiten, wo die Autorin die betreffenden phonetischen Erscheinungen behandelt.

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in ein allmähliches Entweichen der Schwellung, wobei der vitale Antrieb mit allmählicher Gewichtsverlagerung zum Übergewicht der Weitung hin kompakt bleibt und die leibliche Richtung (unumkehrbar aus der Enge in die Weite) aktiviert wird. Der entsprechende Verlauf, nur ohne Ausweg aus dem Verschluss, charakterisiert die übrigen Enge- und Reihelaute [s], [f], [sch], [ch] (61 f.), bei deren Artikulation der Munddurchgang so verengt ist, dass die durchziehende Luft ein Reibegeräusch erzeugt. Die hochdeutsche Lautverschiebung (66) ersetzt die niedergermanischen explosiven Verschlusslaute [p], [t], [k] nach Vokal durch die Engelaute [f], [s], [ch]. »Man vergleiche deutsch greifen, essen, machen, auf, das, Joch mit englisch grip, eat, make, up, that, yoke. Im Anlaut vor Vokal geht die Entwicklung nur bis zur Affrikate [pf], [ts]. Das [k] fällt aus der Reihe. Es hat sich im Hochdeutschen erhalten. Man vergleiche deutsch Pfeife, zehn, kommen mit englisch pipe, ten, come.« Leibdynamisch handelt es sich um einen Übergang von sukzessivem Auseinandertreten überwiegender Engung und überwiegender (privativer) Weitung bei der Artikulation im Mund (niedergermanisch) zu ihrer kompakten Bindung als vitaler Antrieb mit Übergewicht der Engung im Engelaut (hochdeutsch). Die Lateral- und Zitterlaute (Liquide, [l] und [r] (76, 65)) verbinden Engung (durch die Zungenstellung) mit Weitung (als Durchlass der Luft seitlich oder durch Vibrieren der Zunge) durch Richtung (des Luftstroms und der Zunge) und führen damit die Fähigkeit leiblicher Richtung vor, eine Weitung zu sein, die Engung mitnehmen kann (z. B. als konvergierender Blick, stoßendes Ausatmen, panische Flucht in Angst). Epikritisch ist die Artikulation im Vordermund (dental, labial, alveolar, palätal), wo die Zunge an harten Widerständen Orte, Schärfen und Spitzen findet, protopathisch die hintere Artikulation (velar, uvular, pharyngal, nasal) in räumlich verschwommener Anordnung; dem entsprechend ist der vordere Vokal i epikritisch, der hintere Vokal u protopathisch. 426 Die Vokale (43), deren Artikulation Luft ohne Hemmung durchlässt, vereinigen in der Artikulation leibliche Richtung aus der Enge hervor mit Weite [a] und je nach mittlerer oder stärkerer Zungenhebung mit Engung, entsprechen also leiblich dem l und dem r. Die artikulatorische Lautgebung für die Sprache entspringt der Einleibung, also einem gemeinsamen vitalen Antrieb, der durch das

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Belegmaterial aus Sprachen bei Kainz, wie Anm. 417, S. 202, 205–207

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Mittel der Bewegungssuggestionen und synästhetischen Charaktere Menschen und Tiere mit Situationen, denen sie ausgesetzt sind oder die ihnen programmatisch vorschweben, in antagonistischer oder solidarischer Verstrickung auch dann zusammenhält, wenn die Herausforderungen selbst leiblos sind. Es lohnt sich, darauf zum Abschluss der Betrachtung über den Ursprung der Sprache besonders hinzuweisen, weil die herkömmlichen Behandlungen des Themas, die sich ja meist auf die Frage der Lautgebung beschränken und die für diese vorausgesetzte Sprachfindung übergehen, von einem schon etablierten Subjekt-Objekt-Gegensatz ausgehen, in dessen Licht es den Anschein hat, als ob nachträglich auf Eindrücke, von denen jemand betroffen wird, mit Lauten reagiert werde. Dann müsste man sich fragen, warum überhaupt reagiert wird, warum das gerade mit Lauten geschieht und was diese Reaktionen den tierischen grundsätzlich voraus haben. Wenn man dagegen einsieht, dass die Einleibung bei Mensch und Tier primär und leiblich, dazu wegen der besonderen Ausprägung der leiblichen Dynamik im Mund hauptsächlich vokal, ist, entfallen solche Fragen. Lautung hat die Rede noch, bevor sie sprachlich ist; die Sprache, nicht die Vokalisierung, bringen die Menschen hinzu und mit ihr die Vereinzelung, die Subjekt und Objekt einzeln gegenüberstellt. Von da ab gibt es auch willkürliche Lautgebung, aber der lautliche Kanal ist schon gebahnt, ehe die Reaktion auf Eindrücke nachträglich wird.

3.1.5

Typen von Sprachen

Die grundlegende Leistung der satzförmigen Rede ist die Freisetzung des Einzelnen, das eine Anzahl um 1 vermehrt, aus Situationen mit binnendiffuser Bedeutsamkeit, die Mannigfaltiges integrieren, ohne von vorn herein, so wie sie der Rede vorliegen, einzeln zu sein. Diese Freisetzung gelingt durch Entbindung von Bedeutungen, d. h. Sachverhalten, Programmen, Problemen, in satzförmiger Rede aus der binnendiffusen Bedeutsamkeit; darunter befinden sich Gattungen7 , und als deren Fall kann absolut Identisches, das aus der primitiven Gegenwart in leibliche Dynamik und leibliche Kommunikation übernommen worden ist, einzeln werden. Wegen ihrer maßgeblichen Mitwirkung an diesem Prozess ist jede Sprache mit dem Verhältnis von Gattung und Fall oder (anders ausgedrückt) von Bestimmung als etwas und dem dadurch Bestimmten befasst, und alle Sprachen außer der chinesischen 249 https://doi.org/10.5771/9783495860755 .

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nehmen in ihrem Bau auf dieses Verhältnis Rücksicht. Das ist ein erster Anhaltspunkt für eine Typologie der Sprachen. Ein weiterer Anhaltspunkt ergibt sich dadurch, dass die Ergänzung der absoluten Identität durch das Fallsein zur Einzelheit auf zwei Weisen verstanden werden kann, als Verhältnis und als Beziehung. Verhältnisse, in denen Mehreres mit einander steht, sind ungerichtet; Beziehungen, in denen etwas zu etwas (eventuell, bei mehr als zweistelligen Beziehungen, durch Mittelglieder) steht, sind von etwas, das sich bezieht, zu etwas, worauf es sich bezieht, gerichtet. Zwei Sachen liegen neben einander; das ist ein Verhältnis, das in zwei Beziehungen aufgespalten werden kann, indem man sagt, dass die eine rechts und die andere links von der anderen liegt. Das zeitliche Lageverhältnis kann in die Beziehungen des Früheren zum Späteren und des Späteren zum Früheren zerlegt werden, das Potenzverhältnis in die Beziehungen der Wurzel zum Quadrat und des Quadrats zur Wurzel, der Stammbaum einer Familie in beliebige umkehrbare Verwandtschaftsbeziehungen usw. Alle Beziehungen entstehen durch Spaltung von Verhältnissen und passen mit ihrem dabei abfallenden Spiegelbild, der umgekehrten oder konversen Beziehung, so genau zusammen, dass beide Beziehungen als bloß durch die Richtung verschiedene Ansichten desselben Verhältnisses, aus dem sie gewonnen sind, austauschbar sind. Diese Austauschbarkeit kann trivial scheinen, da sie durch bloße Veränderung der Redeweise realisiert wird, aber sie ist es nicht. Die Austauschbarkeit verschwindet nämlich bei Abläufen oder Prozessen, weil sie nicht aus Verhältnissen hervorgehen, sondern aus der ursprünglichen Richtung eines grundlegenden Prozesses, des Flusses der Zeit, dass das Vergangene wächst, das Zukünftige schrumpft und das Gegenwärtige wechselt. 427 Der Ablauf eines Erdbebens, das von unversehrten Zuständen zur Verwüstung führt, ist nicht in zwei Beziehungen aufspaltbar, von denen die eine als bloße Umkehrung der anderen dasselbe Verhältnis beträfe; der wirkliche Ablauf ist schlimm genug, seine Umkehrung eine nie gesehene Phantasmagorie. Wenn alle Beziehungen Prozesse wären, ließe keine sich umkehren. Dieser Vergleich mit Prozessen beweist, dass Beziehungen in der Tat Spaltprodukte ungerichteter Verhältnisse sind. Für die sprachliche Rede hat diese Doppeldeutigkeit die Folge, dass 427 Hermann Schmitz, Jenseits des Naturalismus, Freiburg i. Br./München 2010, S. 24– 37: Zeit; Der Leib, Berlin 2011, S. 129–135

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sie Zusammenhänge wie den von Bestimmung und Bestimmtem sowohl als Verhältnis als auch als Beziehung bzw. als Bündel austauschbarer Beziehungen thematisieren kann. Eine radikale Entscheidung dieser Alternative wäre die Beschränkung der Sprache auf Verhältnisse. Das wäre die Sprache eines anschauenden Verstandes, wie Kant ihn sich ausgedacht hat, mit der überflüssigen Zugabe, dass er diesen Verstand mit der Schöpferkraft, das Angeschaute hervorzubringen, ausrüsten wollte. Ein anschauender Verstand könnte den Zusammenhang seiner Gedanken mit einem Schlag übersehen, ohne von dem einen zum anderen übergehen zu müssen. Der Menschengeist hat dieses Vermögen nicht; er ist auf diskursives Denken in Verhältnisse spaltenden Beziehungen angewiesen. Dennoch gibt es Sprachen, die dem Ideal reiner Verhältnissprachen nahekommen. Das sind die sogenannten polysynthetischen Sprachen, unter denen als Prototyp das Grönländische hervorragt. 428 Viele, vielleicht die meisten Sätze dieser Sprache bestehen sozusagen aus einem einzigen Wort, dessen Kern ein Vorgangsausdruck – nicht bloß für echte Vorgänge – ist, dem sich vielseitig (auch in ganz anderen thematischen Zusammenhängen) verwendbare Suffixe für Nebenbestimmungen anschließen, darunter Possessivpronomina, mit deren Hilfe die Richtung von Vorgängen angegeben wird. Vielleicht sollte man nicht von Pronomina sprechen, weil diese für selbständig auftretende Nomina stehen, während der grönländische Satz nicht von solchem Nebeneinander selbständiger Formanten, sondern von der Einleibung unselbständiger Formanten (Suffixe) in Quasi-Vorgangsausdrücke gefüttert wird. Das Pronominale ist dann eher adverbial, eher so etwas wie »meinerseits« als wie »mir« oder »mein«. Im idealtypischen Fall stellt ein solcher Satz ein Geschehen dar, das sich nicht von den Beteiligten her als deren Zusammenwirken aufbaut, sondern alle Beteiligungen als Nebenbestimmungen in die Ausmalung des Geschehens einbezieht. Ein solches Geschehen kann sich entfalten, ohne irgend welche Sachen zu einander in Beziehung zu setzen. Wir können uns eine solche sprachliche Gestaltung der Sachverhalte an unseren Impersonalien verdeutlichen, z. B. »Heute abend wird hier gefeiert.« Harald Weinrich fasst sie als Subjekt-Passive auf, bei denen das Subjekt durch Passivierung einvalenziger Verben getilgt ist, aber eine

428 Nikolaus Finck, Die Haupttypen des Sprachbaus, 4. Auflage (unveränderter Nachdruck der 3. Auflage von 1936, zuerst 1910), Darmstadt 1961, S. 31–46

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Lücke hinterlässt, die nach ergänzenden Angaben verlangen lasse. 429 Das ist richtig, wenn man hinzufügt, dass sich dieser Bedarf mit impersonalen Konstruktionen grundsätzlich ebenso gut wie mit personalen befriedigen lässt, nur dass unsere Sprache dafür nicht gerüstet ist. Statt »Hier feiern heute abend lustig bis zum Umfallen Peter, Maria und Angelika« könnte man auch formulieren: »Hier wird heute abend peterseits, angelikaseits und mariaseits lustig bis zum Umfallen gefeiert«; an die Stelle der Namen träten adverbiale Nebenbestimmungen eines Geschehens. Mit Sätzen, die nur Infinitive, Adverbien mit einem reich und raffiniert entwickelten System von Adverbialsuffixen und Konjunktionen vorhielten, könnte man ebenso ausdrucksfähig wie mit unserer Sprache Sprüche erzeugen und alle unsere Darstellungen von Sachverhalten, Programmen und Problemen übersetzen. Man würde die Vereinzelung dann nur bis zu solchen Bedeutungen treiben müssen und für Sachen anderer Art keine Bezeichnungen benötigen. Mit einer solchen Impersonalsprache können wir nur deshalb nicht auskommen, weil uns kein anschauender Verstand gegeben ist. In weniger radikaler Gestalt ist der Unterschied zwischen Thematisierung von Verhältnissen und deren Unterlassung, die Gewichtung der Verhältnisse gegenüber den Beziehungen, ein zentrales Kriterium beim Vergleich der Grammatiken (d. h. der Funktion der Morphe) lebender Sprachen, wie ich nun am Vergleich des französischen und des deutschen Satzbaus deutlich machen will. Das Prinzip der französischen Satzbildung ist: Weiterbestimmung des Bestimmten. Aufschlussreich dafür ist besonders die Stellung des Adjektivs. 430 Adjektive stehen sowohl vor als auch nach dem von ihnen bestimmten Nomen, mit einem feinen Unterschied in der Wertigkeit: Nur das nachgestellte Adjektiv hat den Rang einer abgeschlossenen, selbständigen Zusatzbestimmung. Es übt stärkere Determinationskraft aus als das vorangestellte, wie man an der Wendung »la nouvelle grève générale« (»der neue Generalstreik«) ablesen kann 431 »Je wichtiger ein Adjektiv für den Sinn eines Textes ist, um so wahrscheinlicher findet man es in postdeterminierender Stellung.« 432 Das vorgestellte Adjektiv ergänzt nicht die im Harald Weinrich, Sprache das heißt Sprachen, Tübingen 2001, S. 75–77 Harald Weinrich, Textgrammatik der französischen Sprache, Stuttgart 1982, S. 355– 379 431 Ebd. S. 381 432 Ebd. S. 358 429 430

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Nomen enthaltene Bestimmung, sondern modifiziert sie und verschmilzt mit ihr als Nuance. So weist die Wendung »mon petit frère« dem Bruder nicht das Merkmal körperlicher Kleinheit zu, sondern bringt eine vage Tönung von Zartheit und Zärtlichkeit durch das Adjektiv hinein; Weinrich übersetzt »mein Brüderchen«. 433 Eine Gesamtvorstellung entsteht, die erst durch ein nachgestelltes Adjektiv mit einem Zusatz weiterbestimmt wird. Im Englischen und Deutschen werden Adjektive dem Nomen dagegen im Allgemeinen vorgestellt; nur wenn sich das Adjektiv zu einer erweiterten Phrase ausdehnt, wird es im Englischen nachgestellt. 434 Im Deutschen ist so etwas nur in preziös gehobener Rede möglich. Diese beiden Sprachen schicken also mit dem Adjektiv Bestimmungen der Angabe, was weiterbestimmt wird (und schon bestimmt ist), voraus, im Gegensatz zum Prinzip geradliniger Weiterbestimmung. Im Englischen kommt die Gegenläufigkeit hinzu, die durch den sächsischen Genetiv und die konjunktionslose Einbettung von Relativsätzen (in der Art von »The criminal’s I saw yesterday face was terrifying«) hinzu; man muss die Blickrichtung auf den weiteren Verlauf umkehren. Das Deutsche vereitelt durch die Klammerstruktur seiner Gefüge ein additives Fortschreiten des Verständnisses. Dagegen besteht der französische Satz aus Blöcken, die beim Abschreiten des Textes mit jedem Schritt die Ergänzung der vorhandenen Bestimmtheit durch eine weitere Bestimmung anbieten, etwa in der Reihenfolge von Nomen, Verb, direktem und indirektem Objekt mit zugeordneten Nebensätzen, adverbialen und propositionalen Bestimmungen. Das Verständnis kann ohne Drehungen voranschreiten. Nur zur Belebung, zum Reizen der Aufmerksamkeit, wird dieses geradlinige Fortschreiten gelegentlich unterbrochen, wofür Weinrich folgende Beispiele gibt: »Depuis Napoléon on connaît bien les corses.« (486) »La construction, par l’ingénieur allemand G. Eiffel, de la tour Eiffel a perpétuée, jusqu’à nos jours, le souvenir de l’Exposition universelle de 1889.« (491) Mit solcher sukzessiven Weiterbestimmung in gerader Richtung suggeriert das Französische ein Denken in Beziehungen, deren Besonderes gerade diese Gerichtetheit ist. Der deutsche Satzbau überhöht dagegen durch seine Klammerstruktur die Beziehungen, ohne sie zu vermischen, durch ungerichtete Verhältnisse. Der deutsche Satz präsentiert nicht schon in seinem Ver433 434

Ebd. S. 368 Hans Glinz, Grammatiken im Vergleich, Tübingen 1994, S. 292

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lauf Sättigungspunkte, an denen sich das Verständnis mit einer Teilinformation zufrieden geben könnte, sondern muss bis zum Ende durchlaufen werden, wenn man überhaupt verstehen will; vorher sind alle Teile nur Hilfsgerüste, die sich erst am Schluss zu einer ganzen Gestalt fügen. Der am Satzende sich darbietende Sinn kann dann erst in die in ihm enthaltenen Beziehungen zerlegt werden. Das ist aber genau so rational durchsichtig vorgezeichnet wie das geradlinige Fortschreiten des französischen Satzes, nur in umgekehrter Anordnung, als Auswickeln von hinten her. Weinrich hat das an der Verbalklammer des deutschen Satzes sehr genau verdeutlicht. 435 Der deutsche Satz packt die Information in der Verbalklammer auf das Ende hin zusammen, und zwar bei Verschachtelung mehrerer Klammern mit einem iterierbaren, durch Inversion und Strauung konstruierten, nach Klammertypen (Futurklammer, Perfektklammer, Modalklammer, Kopulaklammer, Passivklammer, Lexikalklammer) der Reihenfolge nach geordneten Verfahren, wobei die wichtigste, auffälligste Information möglichst weit nach hinten, in die Nähe des Nachverbs, geschoben wird. Dieselbe Tendenz beherrscht auch die Nominalklammern um vorgestellte adjektivistische Bestimmungen 436 sowie die Wortbildung durch Zusammensetzung von Wörtern. 437 Wenn man sich an die Logik dieses Weges von hinten nach vorn einmal gewöhnt hat, ist das Verständnis nicht schwer, weil eindeutig vorgezeichnet. Das Deutsche wickelt die vom Satz über den Spruch zu vermittelnde Information zunächst in das Ganze eines ungerichteten Verhältnisses ein, das dem Hörer/Leser durch seine Anordnung das Rezept zum Aufrollen des in dem Verhältnis enthaltenen Gefüges gerichteter Beziehungen an die Hand gibt. Der deutsche Satz präsentiert zuerst das in seine Verbalklammer eingewickelte Verhältnis und sodann das Werkzeug zu dessen Auflösung in Beziehungen; der französische Satz baut aus Beziehungen ein Beziehungsgefüge auf und kümmert sich nicht um das Verhältnis, aus dem die Beziehungen abgespalten sind. Dem glatten Fluss und der dadurch erreichten bequemen Verständlichkeit des französischen Satzes stellt der deutsche Satz etwas gegenüber, das im französischen Satz gar nicht zur Sprache kommt. 435 Harald Weinrich, Textgrammatik der deutschen Sprache, 3. Auflage Hildesheim 2005, S. 33–87 436 Ebd. S. 357 f. 437 Ebd. S. 927

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Der französische Satz liefert von vorn herein übersichtlich das, was das diskursive Denken braucht, nämlich Beziehungen. Daraus gewinnt er seine auffällige Klarheit und Logik, die ihm das Lob eingebracht haben, er sei der reine Ausdruck der natürlichen Logik und des gesunden Menschenverstandes. 438 Der deutsche Satz präsentiert primär Verhältnisse zusammen mit dem Schlüssel ihrer Auflösung in Beziehungen; er macht dem diskursiven Denken gleichsam das Angebot, sich doch auch einmal als intuitiver Verstand zu versuchen. Er vermittelt seinem Sprecher zwar keinen Begriff vom Unterschied zwischen Verhältnissen und Beziehungen, zwingt ihn aber beständig, sich mit Verhältnissen vertraut zu machen, die er in Beziehungen auflösen muss, um diskursiv denken zu können. Der Franzose wird von seiner Muttersprache nirgends an diese Aufgabe herangeführt; er muss sie bei Bedarf auf andere Weise sich zu eigen machen. Daraus ergibt sich zwar kein Unterschied der Denkart, als ob das Denken in seiner Sprache gefangen wäre, aber ein Unterschied in der unwillkürlichen Pädagogik, die ihren Sitz im Gebrauch der Muttersprache hat. Wenn man eine gewagte und problematische Anwendung dieses Gedankens einer primären oder fehlenden Einübung des Denkens in eine gewisse Einstellung nicht verschmäht, kann man die militärischen Erfolge der Deutschen gegen die Franzosen in drei Kriegen damit in Verbindung bringen, dass der französische Offizier nur die Beziehungen zwischen den strategischen und taktischen Faktoren ins Auge fasste, während der deutsche sich erst einmal ein Bild der Lage machte und daraus dann seine strategischen und taktischen Züge abstrahierte. So verfährt der gute Schachspieler: »Es gibt Augenblicke, da kombiniert der Könner nicht. Er sieht. Sein Blick fällt nicht nur auf die Figuren, sondern auch auf deren Achillesfersen, braucht sich also nicht nach Art der Dilettanten in die Zukunft zu richten. Er sieht, was schon auf dem Brett ist: jenen Turm in seiner Anfälligkeit und diese Dame in ihrer Verwundbarkeit. Außerdem beäugt er jene 32 Felder, von denen der Anfänger meint, da gebe es nicht viel zu sehen. Sie seien halt schwarz oder weiß. (…) In Wirklichkeit sind sie stark oder schwach, was ihnen an der Nasenspitze anzusehen ist, obwohl sie keine Nase haben. Zwar wechseln 438 So Rivarol in der 1784 von der kgl. Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften gekrönten Preisschrift über den Grund des Vorrangs der französischen Sprache als europäische Universalsprache, abgedruckt in: Mario Wandruszka, Der Geist der französischen Sprache, Hamburg 1959, S. 129

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Stärke und Schwäche nicht so unüberbietbar regelmäßig ab wie die dunklen Punkte und hellen Flächen. Doch der Fachmann nimmt ihren jeweiligen Zustand ohne weiteres wahr. Er sieht.« 439 Unter den Verhältnissen, die die sprachliche Rede darzustellen und in Beziehungen aufzuspalten hat, ist fundamental das Verhältnis der Bestimmung zum Bestimmten, weil damit das Fallsein eintritt, wodurch die satzförmige Rede, indem sie Sachverhalte als Gattungen und als Bestimmtheit durch Gattungen aus Situationen herausholt, irgend welchen absolut identischen Etwassen die Einzelheit schenkt. Ein sehr weitreichender Unterschied zwischen Sprachen betrifft dieses Verhältnis, nämlich die Gewichtung der Bestimmung und des Bestimmten gegen einander. Die klassifikatorischen Sprachen geben der Bestimmung den Vorrang, die indogermanischen Sprachen dem Bestimmten. Klassifikatorisch sind Sprachen, die das Sprechen über Einzelnes an dessen Einordnung unter kanonisch vorgegebene Klassen binden, besonders dann, wenn es sich um die Anzahl, darunter die Einzahl, der jeweils besprochenen Fälle einer Gattung handelt. 440 Besonders verbreitet ist dieser Sprachtyp unter den afrikanischen, hauptsächlich den Bantusprachen. Es gibt ca. 600 afrikanische Sprachen mit Klassifikatoren, d. h. von der Sprache vorgegebenen, für die Subsumtion von Fällen unter Gattungen unentbehrlichen Standard-Gattungsbezeichnungen, davon ca. 200 Sprachen mit Klassifikation als männlich-weiblich-sächlich, ca. 400 mit Klassifikation als belebt/unbelebt und menschlich/ nichtmenschlich. Unter das Männliche fällt das Große und Starke, unter das Weibliche das Kleine und Schwache. Weitere Klassifikationstypen der ca. 400 Sprachen betreffen Tiere, Pflanzen, Bäume, Früchte, Schlüssel, hölzerne Objekte, Flüssigkeiten, Massen, Kollektiva, Paare, Individuen, abstrakte Begriffe, Sitten, längliche Objekte, Vergrößerung, Verkleinerung, Körperteile, bestimmte, unbestimmte und außerhalb gelegene Orte. 441 Außer zur Klassifikation dienen die afrikani439 Roswin Finkenzeller auf der Schachseite der illustrierten Beilage der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 17. August 1990 440 Hansjakob Seiler, Christian Lehmann (Hg.), Apprehension. Das sprachliche Erfassen von Gegenständen, Teil 1, Tübingen 1882; darin: S. 147–159 Fritz Serziska, Temporäre Klassifikation. Ihre Variationsbreite mit Zahlklassifikation; S. 160–179 Ulrike Kölver, Klassifikationsstrukturen in Thai, Vietnamesisch und Chinesisch; S. 180–216 Bernd Heine, African Noun Systems 441 Ebd. S. 191–193. Eine sehr detaillierte und anschauliche Beschreibung einer solchen Bantusprache gibt Finck, wie Anm. 432, S. 46–73

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schen Klassifikatoren auch zur Ableitung von Wörtern aus einander, Herstellung syntaktischer Beziehungen zwischen ihnen und zum Ausdruck von Zahlunterschieden. 442 Die Mayasprache Tzeltal, in der zwischen Namen und Zahlangabe ein Klassifikator treten muss, enthält 148 Objektklassifikatoren für 38 Bereiche, wovon 9 Klassifikatoren für alle Nomina genügen. 443 In den Sprachen der Thai, Vietnamesen und Chinesen liefern die Nomina lediglich nackte Bestimmungen ohne Bezugnahme auf unter sie fallende Gegenstände; erst ein hinzugefügter Klassifikator schafft einen Mengenbezug und dadurch eindeutige Zuweisung der Nominalbestimmung, meist auf einen Einzelfall (eine Menge mit nur einem Element). Der Klassifikator, eine dem Nomen lexikalisch oft verwandte, aber syntaktisch davon verschiedene Kategorie, macht die Gattungen tauglich für Objektbezeichnungen. Die Klassifikatoren geben Paradigmen bevorzugt aus dem Bereich des Sichtbaren an; wenn die Subsumtion schwerfällt, kommt es zu Redundanzen, indem das Nomen als Klassifikator wiederholt wird, so dass man im Thai für »drei Länder« so etwas sagt wie »Land 3 Land«. 444 Auch in den indogermanischen Sprachen, etwa im Deutschen, gibt es rudimentäre Klassifikatoren in Gestalt der Nominalgenera Maskulinum, Femininum, Neutrum; wenn unsere Sprache wie die der Thai diese Klassifikatoren für Zählung obligatorisch machte, müssten wir statt »3 Sterne« etwa sagen: »Stern der 3«. Unter logischem Gesichtspunkt besticht an diesen Klassifikationssystemen die saubere Aufteilung der drei Stufen der Vereinzelung: Gattung – Gattung-Fall-Verhältnis (Klassifikator für Gattungsumfang) – Einzelfall. Den Klassifikationssprachen stehen die indogermanischen Sprachen mit der umgekehrten Option für die Dominanz des Bestimmten gegenüber der Bestimmung entgegen. Ihre leitende Tendenz scheint das Bestreben zu sein, die Bestimmungen möglichst dicht an die bestimmte Sache heranzurücken. Dazu dient die Einteilung der Wörter in Substantive, Adjektive und Verben. Das Substantiv eignet sich zur Bezeichnung des einzelnen Falles einer Gattung, während das Adjektiv eine Bestimmung als Besitz oder Zubehör in diesen vom Substantiv vertretenen Fall hineinverlegt. Das Verb tritt ein, um Bestimmungen, die sich nicht so völlig absorbieren lassen, in den Wirk- und Geschäfts442 443 444

Apprehension S. 214 Ebd. S. 147 f., 151 f. Ebd. S. 175 f., 178 f.

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bereich des Einzelfalls hineinzuziehen. Die Brücke vom Verb zum Adjektiv schlägt das Partizip, das es möglich macht, die Leistung des Verbs in die eines Adjektivs zu überführen; schon Aristoteles hat ja entdeckt, dass man die Leistung eines Verbs durch die eines partizipialen Adjektivs ersetzen kann, indem man z. B. statt »schneidet« sagt »ist schneidend«. 445 Diese adjektivierende Dienstleistung des Verbs für den Primat des Bestimmten vor der Bestimmung schließt allerdings eine syntaktische Schlüsselstellung des Verbs im Satz, wie sie etwa von Tesnière seiner Dependenzgrammatik zu Grunde gelegt wird, nicht aus. Im subjekthaltigen indogermanischen Satz verhalten sich Adjektiv und finites Verb zum substantivischen Satzsubjekt so, dass sie zum Spruchsinn eine Bestimmung der durch das Subjekt bezeichneten Sache beitragen, wobei diese Bestimmung durch das Adjektiv der Sache eingeordnet wird, während das finite Verb die Bestimmung in ein loseres Verhältnis mit dem Bestimmten setzt, indem sie aufgefasst wird als entweder von der Sache ausgehend (Aktiv) oder auf sie zukommend (Passiv) oder in beiden Beziehungen zugleich (Medium). Das Aktive am Aktiv betrifft also nicht den Sinn der Verbform, als ob es sich immer um eine Tätigkeit handeln müsste, was z. B. bei »liegt« oder »fällt« oder »schläft« nicht der Fall ist, sondern das Verhältnis der Sache mit der eventuell ganz unaktiven Bestimmung, das aktivisch als ein Ausgehen der Bestimmung von der Sache, als deren Äußerung und somit als Einholen der Bestimmung in den Wirkbereich des Bestimmten gedeutet wird. Dem Aktiv ist das Passiv als korrelative Nebenform beigegeben; es stellt das Bestimmte als Adressaten der Bestimmung, die ihm zustößt, hin. Auch bei dieser Wendung bleibt das Bestimmte dominant, als das Aufnehmende, an dem sich die passivische Modifikation abspielt. Durch die Dynamisierung der Bestimmtheit als etwas vom Bestimmten Geäußertes oder Empfangenes trägt das finite Verb den Einflussbereich des in der Rolle des Substantivs Bestimmten über dessen bloßes, von Adjektiven angebbares, Zubehör hinaus zu allen Beziehungen und Verbindungen mit Objekten, die durch grammatische Objekte des transitiven Verbs und weitere adverbiale oder in Nebensätzen hinzugefügte Angaben vertreten werden. Ein Vorzug für den Primat des Bestimmten gegen den Primat des Bestimmenden in der Anlage der Sprache zeigt sich bei folgendem Vergleich: Eine Bestimmung ist invariant gegen die Anwendung auf noch 445

Metaphysik 1017a27–30

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so viele durch sie bestimmte einzelne Etwasse. Das Bestimmte dagegen variiert bei der Subsumtion unter verschiedene Bestimmungen; es zeigt sich jeweils von einer anderen Seite, in anderem Licht. Schon die Subsumtion als Fall einer Gattung setzt es aus Situationen frei, indem es in den Umfang der Gattung übertragen und dort mit ebenso Bestimmtem zusammengestellt wird; aber damit ist noch kein Gewinn an Wendigkeit der Betrachtung und des Verfügens erreicht. Erst wenn viele Gattungen zur Bestimmung derselben Sache verfügbar sind, wird der Umgang mit ihr geschmeidig und beweglich. Damit ist ein Vorteil solcher Sprachen aufgedeckt, die wie die indogermanischen gleichsam die Losung ausgeben: Das irgendwie bestimmte Einzelne ist schon da, lasst uns ihm seine Bestimmungen zusprechen und sie ihm ein- und unterordnen. Dadurch erhalten die Sprecher solcher Sprachen freie Hand, Gattungen aufzustellen und an das Bestimmte weiterbestimmend anzuknüpfen, um dieselbe Sache in immer neue Beleuchtungen zu rücken und alle Möglichkeiten, mit ihr umzugehen, abzuschätzen. Dagegen legen die Klassifikationssprachen das zu bestimmende Etwas von vorn herein klassifikatorisch fest, als etwas, das jedenfalls im Licht des Klassifikators gesehen werden muss, wenn es irgend eine zusätzliche Bestimmung erhalten soll; sie schränken damit die Wendigkeit des Zugangs ein.

3.1.6

Sinn

Der Sinn eines Spruches ist die Darstellung von Bedeutungen (Sachverhalten, Programmen, Problemen). Sie gelingt durch spielerische Identifizierung. Spielerische Identifizierung besteht darin, ohne Verwechslung und ohne Fiktion etwas als etwas anderes zu nehmen, z. B. den Schauspieler als die gespielte Figur, ein Bild als das Abgebildete, ein Symbol als das Symbolisierte, z. B. die Fahne als die neue Zeit. 446 Spielerische Identifizierung braucht nicht verspielt zu sein, sie kann bis zu tödlichem Ernst gehen.449 Sie ist aber im Gegensatz zu der als tatsächlich gemeinten Identifizierung und zur Identität nicht umkehrbar. Wer im Theater oder im Kino den Schauspieler als die gespielte Figur sieht, hält diese deswegen nicht für den Schauspieler (z. B. Friedrich den Gro446 Die Hitlerjugend sang: »Unsre Fahne flattert uns voran, Unsre Fahne ist die neue Zeit, Unsre Fahne führt uns in die Ewigkeit, Ja, die Fahne ist mehr als der Tod.«

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ßen nicht für Otto Gebühr). Der singende Hitlerjunge hielt die neue Zeit nicht für ein bunt bedrucktes Stück Leinwand, seine Fahne. Jesus, beim Abendmahl ein Brot brechend, spricht: »Das ist mein Leib.« Er hütet sich, umgekehrt zu sagen: »Mein Leib ist das da.« Dann läge nämlich allzu nah die Frage: »Weiter nichts?« Diese Unumkehrbarkeit der Identität spielerischer Identifizierung beweist, dass diese keine Fiktion ist, denn fiktive Identität ist umkehrbar: Wenn ich sage »Als Kaiser Wilhelm II. hätte ich eine andere Flottenpolitik gemacht«, fingiere ich mich als den Kaiser und den Kaiser als mich. Ebenso wenig wie Fiktion ist spielerische Identifizierung aber Verwechslung. Wer sich in die Züge des alten Rembrandt vertiefen will und deswegen nah an das Bild herantritt, braucht sich nicht gegen den Vorwurf zu wappnen, es sei unschicklich, an einen fremden Menschen so nah heranzutreten. Vielmehr ist spielerische Identifizierung eine des Ernstes fähige Gleichgültigkeit gegen die Tatsachen, sozusagen eine Umkehrung der Phantasie. Diese beruht auf der Fähigkeit, Einzelheit vom Sein abzulösen, also Nichtseiendes, das als Nichtseiendes verstanden wird, als Einzelnes zu behandeln. Zwar fehlt es diesem Einzelnen an durchgängiger Bestimmtheit, aber der Grundsatz der durchgängigen Bestimmung ist ja sogar auch für das Seiende, wenn auch in weniger auffälliger Weise, falsch (2.2.11). Bei spielerischer Identifizierung wird umgekehrt das Sein eines Einzelnen als Sein gerade dieses Einzelnen (nicht als Sein von irgend etwas) an anderes Einzelnes vergeben, ohne die Tatsachen umzudeuten, vielmehr gleichgültig gegen diese. Der freie Umgang mit dem Sein beruht in beiden Fällen, bei der Phantasie und bei der spielerischen Identifizierung, auf der Entfaltung der primitiven Gegenwart zur Welt (3.1.4), hier auf der Ablösung des Seins von den anderen Momenten der primitiven Gegenwart (hier, jetzt, dieses [absolut Identische], ich), darunter von der absoluten Identität und damit auch der Einzelheit. Der Spruch erhält seinen Sinn also dadurch, dass er als die besprochenen Bedeutungen genommen wird. Sprüche können sinnvoll sein (aber auch unsinnig), Sätze (die Regeln der Erzeugung von Sprüchen) aber nicht; sie sind zweckmäßig für die Darstellung von Bedeutungen, aber sinnlos. Sie geben vor, was für Sprüche mit was für Bedeutungen von den Sprachgenossen spielerisch identifiziert werden. Im Gegensatz zu Sätzen haben Formanten, die ebenso zur Sprache (nicht zur Rede) gehören, Sinn, namentlich Wörter, wobei zwischen dem totalen und einem (unter mehreren Sinnen) partiellen Sinn eines Formanten un260 https://doi.org/10.5771/9783495860755 .

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terschieden werden muss. Der totale Sinn eines Formanten A ist die Eignung eines beliebigen Formanten dazu, in jedem Sachverhalte darstellenden Aussagesatz außerhalb von Anführungen jede Stelle, an der A vorkommt, einzunehmen, ohne dass sich etwas daran ändert, welche Sachverhalte dargestellt werden. Formanten, die für irgend welche Formanten diese Eignung besitzen, bezeichne ich als doxische Formanten; einen Sinnbegriff führe ich nur für doxische Formanten ein, nicht für Signale (wie »ja«, »nein«, Interjektionen). Der totale Sinn ist eine Äquivalenzrelation380 ; daher steht fest, dass jeder doxische Formant genau einen totalen Sinn besitzt. Zwei doxische Formanten, die denselben totalen Sinn besitzen (so dass die Klasse der entsprechend geeigneten doxischen Formanten in beiden Fällen dieselbe ist) sind synonym. Synonymie doxischer Formanten ist besonders wichtig und auch erreichbar in Fachsprachen, z. B. der Chemie, Mathematik und Medizin; wenn sie verfehlt wird, können Missverständnisse entstehen, die einem Patienten das Leben kosten. Allerdings sind Übersetzungen, die auf Synonymie beruhen, durch das Gesagte erst im Rahmen einer und derselben Sprache erklärt. Wichtiger sind die Übersetzungen von Sprache zur Sprache. Für Kenner beider Sprachen werden sie möglich, wenn sie diese beiden zu einer Hybridsprache verkoppeln, in der es erlaubt ist, Formanten einer Sprache in deren Sätzen durch Formanten der anderen zu übersetzen. Mehr oder weniger nahe kommt einer solchen Hybridsprache in manchen Segmenten die deutsche Sprache, seit es üblich geworden ist, viele englische Ausdrücke in mehr oder weniger anverwandelter Gestalt in sie zu übernehmen, so dass man abschätzig schon von »Denglisch« als der entstehenden Hybridsprache gesprochen hat. Etwas Ähnliches tritt stets ein, wenn eine Sprache von Fremdwörtern überschwemmt wird, z. B., als aus dem Angelsächsischen und dem Normannischen das Englische entstand. In Italien gab es einmal eine maccheronische Poesie, die so verfuhr, wie der lateinisch-deutsche Scherzspruch anzeigt: »Nachtwächeri veniunt cum spiessibus atque laternis.« Dieses Verfahren ist nicht immer anwendbar, wohl schon nicht zwischen Deutsch und Chinesisch, erst recht nicht zwischen Chinesisch und Grönländisch. In vielen Fällen öffnet es aber den Weg zu einer Übersetzung von Sprache zu Sprache. Wichtiger als der totale Sinn ist der partielle. Ein partieller Sinn eines doxischen Formanten A ist die Eignung beliebiger doxischer Formanten, an gewissen Stellen gewisser Aussagesätze, deren von ihnen erzeugte Sprüche Sachverhalte darstellen, außerhalb von Anführun261 https://doi.org/10.5771/9783495860755 .

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gen den Platz von A einzunehmen, ohne dass sich etwas daran ändert, um welche Sachverhalte es sich handelt. (A selbst hat immer diese Eignung.) Partieller Sinn ist keine Äquivalenzrelation; deswegen kann ein doxischer Formant viele partielle Sinne haben. Sie alle aufzuzählen, wäre die Aufgabe eines perfekten Lexikons, das für alle Fälle des Vorkommens von A in Aussagesätzen außerhalb von Anführungen mindestens einen Repräsentanten der betreffenden Eignung, einen Formanten der Zielsprache, der sie besitzt, vorzuschlagen vermag. Dies wird insbesondere bei körperhaltigen Formanten, auf die sich ein Lexikon im gewöhnlichen Sinn des Wortes beschränkt, durch Angabe eines Formantenkörpers geschehen. Meine Einführung des totalen und partiellen Sinnes doxischer Formanten stützt sich auf die Identität von Sachverhalten, die von gewissen Sprüchen dargestellt werden, und bedarf daher eines Kriteriums solcher Identität. Ich habe ein geeignetes Kriterium mehrfach und zuletzt in Logische Untersuchungen 447 angegeben und führe es jetzt in verbesserter Gestalt wieder vor. Ich betrachte die Einbettung von Sprüchen als Teile von Sprüchen und bezeichne die Einbettung von A in A’ als gleich der Einbettung der Einbettung von B in B’, wenn A’ und B’ gleich lauten mit der Ausnahme, dass an allen Stellen, wo B in B’ vorkommt, A in A’ steht und umgekehrt, abgesehen von geringfügigen grammatischen Veränderungen wie bei der Nebensatzbildung im Deutschen. Das Kriterium lautet dann: »A und B seien zwei Sprüche, die je einen Sachverhalt, der mehrere Sachverhalte enthalten darf, darstellen. Wenn je zwei wirklich gesprochene oder auch bloß denkbare Sprüche A’ und B’, die von beliebigen Aussagesätzen erzeugt werden können und so beschaffen sind, dass A in A’ und B in B’ eingebettet ist und die Einbettung von A in A’ der Einbettung von B in B’ gleich ist, immer nur zusammen wahr oder falsch sind, dann und nur dann ist der Sachverhalt, den A darstellt, identisch mit dem Sachverhalt, den B darstellt.« Dieses Kriterium funktioniert, wenn A’ und B’ substitutionssensitive Kontexte der unter 2.1 (am Ende) erwähnten Art sind. Ihnen gemäß ist im Elektra-Paradox der Sachverhalt, dass dieser Verhüllte Elektras Bruder ist, verschieden von dem Sachverhalt, dass Orestes Elektras Bruder ist, ebenso aber auch jeder logische und mathematische Sachverhalt von jedem anderen, aus dem er durch auch nur minimal geistreiche Deduktion abgeleitet ist. Damit ist mein Kriterium für die 447

Wie Anm. 371, S. 105

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Identität von Sachverhalten dem von Stegmüller gewählten Kriterium analytischer Äquivalenz überlegen, dem zu Folge zwei Sachverhalte identisch wären, wenn sie behauptende Sprüche logisch aus einander folgen. 448 Dann würden Mathematik und Logik mit vielen ihrer wichtigsten und tiefsten Ableitungen nur immerzu das Selbe wiederholen. Meine Einführung des Sinnbegriffs für Sprüche und doxische Formanten von Sätzen hat den Vorzug, die Hypostasierungen des Sinnes zu vertreiben, die als ideale (zeitlose) Wesenheiten oder psychische Vorstellungen seit dem stoischen lektón aus der Antike die Semantik unnötig komplizieren. Das trifft die sehr oberflächliche Auffassung de Saussures vom Wort als einem sprachlichen Zeichen, das ein Lautbild (signifiant) durch eine zufällige oder willkürliche (arbiträre) Assoziation an eine Vorstellung (concept) binde, nebst anschließenden Dreiecken, die zum Namen und Sinn ein bezeichnetes Ding als Dritten im Bunde anfügen (Ogden/Richards, Ullman u. a.), ebenso wie die ideale Bedeutung nach Husserl, die das spezifische Wesen von Akten des Bedeutens sei. 449 Statt solcher Konstrukte benötige ich für meinen Sinnbegriff die Sprache als gemeinsame Situation mit ihren Strukturen und bleibe damit der Erfahrung treu, wie ich sie verstehe. Im besonderen Maß entbehrlich scheint mir der Sinnbegriff, den Frege mit den Beispielen von Abendstern und Morgenstern erläuterte. Er verstand den Sinn als »Weise der Gegebenheit« einer sprachlich bezeichneten Sache in der Sprache. »Weise der Gegebenheit« ist ein nebelhafter Ausdruck, der den Anschein erweckt, als sei der Sinn ein Modus einer bezeichneten Sache, wie ein Kleid, das sie sich anzieht, um sich dem sprechenden Betrachter von der einen oder anderen Seite darzubieten. In Wirklichkeit handelt es sich einfach um mehrere Gattungen, unter die der Planet Venus fällt, nämlich der letzte morgens am Himmel erlöschende und der erste abends dort aufleuchtende Stern zu sein. Das hat mit dem sprachlichen Sinn zunächst nichts zu tun, sondern betrifft das ontologische Verhältnis der Gattungen, die Sachverhalte sind, mit ihren Fällen, an denen mehrere zusammentreffen. Leider bindet Frege den Sinn auch noch an die Bezeichnung, die er (wenig passend) »Bedeutung« nennt, und beschränkt ihn daher auf bezeichnende sprachliche Ausdrü448 Wolfgang Stegmüller, Probleme und Resultate der Wissenschaftstheorie und der analytischen Philosophie Band I, 2. Auflage Berlin/Heidelberg/New York 1983, S. 302 449 Edmund Husserl, Logische Untersuchungen Band II Teil 1, 4. Auflage Halle a. d. Saale 1928, S. 100

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cke, zu denen er verwirrend auch die Behauptungssätze als vermeintliche Bezeichnungen von Wahrheitswerten zählt. Das hat andererseits die gewaltige Verkürzung zur Folge, dass alle nichts bezeichnenden Formanten, insbesondere die körperhaltigen Morphe (synkategorematische Wörter, Suffixe usw.) ohne Sinn auskommen müssen. Ich dagegen erstrecke den Sinn auf alle doxischen Formanten, egal, ob sie Körper haben oder nicht. Die Bezeichnungsleistung der Sprache führe ich ganz unabhängig vom Sinn ein, etwa so: Wenn ein Satz aus einem Formanten x und einem Formanten mit dem Sinn von »existieren« (oder einer Flexion dieses Infinitivs) besteht und einen Spruch erzeugt, der den Sachverhalt darstellt, dass etwas existiert, dann ist x kategorematisch; wenn es sich bei dem, was gemäß der Aussage existiert, überdies um einen einzelnen Gegenstand handelt, ist x ein Name für diesen Gegenstand (nicht z. B. eine Stoffbezeichnung oder ein Plural); wenn für jede Menge, deren Element der so benannte Gegenstand ist, und jede umkehrbar eindeutige Abbildung dieser Menge durch die Definition der Abbildung feststeht, in welchem Paar der benannte Gegenstand vorkommt, ist x nicht nur ein Name, sondern ein Eigenname. So ist z. B. »Gold« oder »Menschen« kategorematisch, »ein Mensch« ein Name (aber kein Eigenname), »Esau« ein Eigenname. Der etwas umständliche Ersatz des zunächst naheliegenden Versuchs, Eigennamen als eindeutig kennzeichnende Namen zu bestimmen, beruht darauf, dass Kennzeichnungen zwar in meinem Sinn Eigennamen sind, die gewöhnlich so genannten Eigennamen, bei denen jemand gerufen wird, aber gerade keine Kennzeichnungen. 450 Die bisherigen Ausführungen über sprachlichen Sinn gewähren mehr formale und logische Aufschlüsse, etwa über Synonymonie und Lexikon bei Vermeidung hypostasierter Konstrukte, als Befriedigung für einen Sprachenfreund, der sich in den Sinn sprachlicher Formulierungen liebevoll vertiefen möchte. Das liegt daran, dass die nackten Sinnbegriffe noch nichts über den Beitrag verraten, den die Formanten durch ihre Formantenkörper zum Sinn der Sprüche leisten. Dieser Beitrag erschöpft sich nicht darin, dass die Formanten dem Spruch dazu verhelfen, Bedeutungen darzustellen. Das ergibt sich schon daraus, dass dieselben Bedeutungen durch unterschiedliche Sprüche, die von verschiedenen Sätzen mit anderen Formanten und anderem Satzbau erzeugt werden, darstellbar sind, z. B. der Sachverhalt, dass es regnet, 450

Hierzu von mir: Logische Untersuchungen S. 152–155

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durch »Es regnet« und durch »Regen fällt«. Derselbe Sachverhalt kann also nach Regeln von Sprachen auf viele Weisen dargestellt werden, wobei jeder dabei verwendete Formant, wenigstens jeder körperhaltige, einer solchen Weise eine besondere Tönung oder Färbung mitgibt. Das gilt wenigstens für die Wörter. Hier, beim Beitrag des Sinnes körperhaltiger Formanten zum Sinn von Sprüchen, ist endlich Gelegenheit, auch den Wörtern einen Sitz in der Sprache zu geben, während sie als bloße körperhaltige Formanten aus anderen, wie Wurzeln, Suffixen, Akzenten, Syntagmen, die keine Wörter sind, nicht hervorstechen und daher in die Sprachkompetenz und das Sprechenlernen abgeschoben wurden (3.1.1). Wörter leisten zu der Weise, wie Sprüche Bedeutungen darstellen, einen eigentümlichen Beitrag dadurch, dass sie selbst in der Weise spielerischer Identifizierung anderes als Bedeutungen darstellen, wie ein Bild das Abgebildete oder der Schauspieler die gespielte Figur. Dabei kann es sich um Anspielungen handeln, die durch den Klang der Wortkörper, durch die Wortbildung (Zusammensetzung von Wurzeln und Morphen, auch ganzer Wörter miteinander) oder durch den gesellschaftlichen Rang des Wortes (gehobener oder ordinärer Sprachgebrauch, Höflichkeitsformeln) entstehen, oder das Wort ruft eine ganze Situation mit binnendiffuser Bedeutsamkeit wach. Dieser Fall ist von so besonderer Wichtigkeit, sowohl im gewöhnlichen prosaischen Sprechen als auch besonders für die Poesie, dass ich mich ihm jetzt speziell zuwenden will. Wie sehr schon im Alltag die feinfühlige Wortwahl der kaum bis in alle Einzelheiten durchsichtigen Abstimmung auf Situationstypen bedarf, hat Weisgerber am Wortfeld des Veranstaltens deutlich gemacht. 451 Er geht von der Gegenüberstellung der beiden Syntagmen »Ferienkurs veranstalten« und »einen feierlichen Gottesdienst veranstalten« aus und findet das erste normal, das zweite anstößig. »Das bedingte einer Untersuchung des Wortfeldes, in das veranstalten hineingehört. Die unmittelbaren Feldnachbarn lagen nahe. Gottesdienste werden im allgemeinen gehalten, auch Vorlesungen (jedoch wurden die zu haltenden Vorlesungsstunden wieder zweifelhaft); Kurse werden abgehalten (und damit wurde auch der Plan, Ferienkurse zu veranstalten, fragwürdig); Ausflüge werden unternommen usw.« Später fügt er unter dem Leitwort »stattfinden« – »Was findet nicht alles statt? Ver451 Leo Weisgerber, Grundzüge der inhaltsbezogenen Grammatik, 3. Auflage Düsseldorf 1952, S. 196–205

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sammlung, Gottesdienst, Vorlesung, Ausflug, Ferienkurs, Wettspiel, Wahl, Konzert, Prüfung, Sammlung« – hinzu: Eine Reise wird unternommen, eine Prüfung wird vorgenommen, ein Prozess wird geführt (oder durchgeführt). Die wichtigsten Worte des Feldes »stattfinden« sind nach Weisgerber: 1. Veranstalten von Festen, Spielen (insbesondere Wettkämpfen, Vorführungen, Theateraufführungen, Konzerten, Vergnügungen; veranstaltet wird auch ein Treffen, eine Zusammenkunft, eine Kundgebung, ein Umzug; auch Gastmähler und Gelage werden veranstaltet.) 2. Abhalten ist am günstigsten für Sitzungen, Tagungen, Kurse, Versammlungen, Konzile, Kongresse, Übungen, Prüfungen; auch ein Jahrmarkt wird abgehalten, ein Schützenfest, eine Kirmes; ferner werden allgemein Wahlen abgehalten. 3. Halten trifft zu auf religiöse Inszenierungen (Gottesdienst, Messe, Predigt, Prozession) und Höhepunkte des Staatsbetriebs (Reichstag, Gericht) und des bürgerlichen Lebens (Hochzeit). Gehalten wird auch die Ernte, eine Gedenkfeier, Vorlesungen, Vorträge, Reden. 4. Unternommen werden Fahrten, Reisen, Ausflüge, Expeditionen, Kriegszüge, Kreuzzüge. 5. Vorgenommen werden Inszenierungen, die sprachlich mit Wörtern auf -ung bezeichnet werden: Eröffnung, Einweihung, Abstimmung, Verhaftung, Besichtigung. Die richtige Wahl zwischen diesen nahe bei einander liegenden verbalen Ausdrucksmöglichkeiten wird so unwillkürlich mit automatischer Sicherheit vorgenommen wie im Fall der Voraussetzungsregeln mit der Betonung von Partikeln nach Bierwisch397 ; zur Kompetenz des Sprechers gehört ein sprachlicher Takt, der die Verwendung eines Wortes auf die Situation, in die es passt, genau abstimmt, ohne dabei auf die Analyse der für die Wahl maßgeblichen Merkmale zu warten. Katz und Fodor wollten die Analyse von Wortsinnen auf Listen solcher Merkmale, sogenannte semantische Marker, gründen, um z. B. Ball als Tanzveranstaltung von Ball als rundlichem Spielzeug gemäß der realen Beschaffenheit der bezeichneten Objekte zu unterscheiden400 , und Versuche, Computern das maschinelle Übersetzen beizubringen, bewegen sich in den Spuren dieses Ansatzes. Dieser ist konstellationistisch, indem er sich auf die Kombination einzelner Merkmale verlässt. Er versagt vor Situationen, die sich nicht in Konstellationen zerlegen las266 https://doi.org/10.5771/9783495860755 .

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sen und zum Charakter eines Wortes gehören, wie schon in den ganz schlichten und nüchternen Beispielen Weisgerbers oder nach Betz bei Worten wie »Staat, Geld, Ehre, Verkehr, Schönheit, Schande«, von denen er sagt: »(…) wir kennen diese Begriffe, wir können sie, aber wir wissen nichts oder fast nichts davon.« »Man konstruiert die Fälle zu dem Begriff, aber man gibt nicht die Merkmale des Begriffs an, was man in vielen Fällen gar nicht kann.« 452 Schon im Alltagsleben versagt also die semantische Merkmalsanalyse vor der binnendiffusen Bedeutsamkeit der Situationen, mit denen Wörter so behaftet sind, dass sie aus diesem Verhältnis ihren Charakter schöpfen, mit dem sie die Darstellung von Bedeutungen durch Sprüche eigentümlich färben und in eine gewisse Richtung lenken. Dieser Anspielungskraft der Wörter bedient sich in besonderem Maß die poetische Rede, die sich von der prosaischen nach meiner oft von mir vorgetragenen Charakteristik durch die geschickte Sparsamkeit unterscheidet, womit sie einzelne Bedeutungen so vorsichtig aus der binnendiffusen Bedeutsamkeit von Situationen herausholt, dass diese wie durch einen dünnen Schleier in unversehrter Ganzheit durchscheinen können. Für diese Bemühung findet sie in der Situationshaltigkeit von Wörtern fruchtbare Keime. Hofmannsthal dichtet am Schluss eines Terzinengedichtes: Und dennoch sagt der viel der Abend sagt, Ein Wort daraus Tiefsinn und Trauer rinnt Wie schwerer Honig aus den hohlen Waben. 453 Tiefsinn und Trauer, zwei Züge im Charakter des Wortes, bleiben flüssig wie rinnender Honig und verfestigen sich nicht zu fixierbaren Merkmalen. Ein anderes, beinahe von selbst schon poetisches Beispiel ist das Wort »Weib«, verglichen mit dem farbloseren Wort »Frau«, früher so viel wie »Herrin«, heute kaum mehr als Bezeichnung für einen Menschen mit der betreffenden biologischen Beschaffenheit. Diese Farblosigkeit färbt sich ein bei dem zugehörigen Adjektiv »fraulich«, das etwa an eine feine, zurückhaltende, zu häuslich sorgender 452 Wilhelm Betz, Zur Psychologie der Tiere und Menschen, Leipzig 1927, S. 57 f. Ein junger Mann fragte mich einmal, in was für eine Sorte von Objekten ein Staat gehöre, dazu s. u. 3.3. 453 Hugo von Hofmannsthal, Ballade vom äußeren Leben. Er schreibt die Substantive mit kleinen Anfangsbuchstaben, nach Übung des Druckorts der Erstveröffentlichung.

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Beschäftigung geneigte Artung denken lässt, ganz anders als »weiblich«. Dieses Adjektiv ist schon so voll von binnendiffuser Bedeutsamkeit, dass jeder Versuch, analytisch einzugreifen, etwas Stümperhaftes hat. So viel steht aber doch wohl fest, dass »weiblich« eine leibliche Dynamik mit Betonung des Protopathischen suggeriert, so etwa wie eine sanfte Kurve, eine Fülle ohne scharfen, gezackten, epikritischen Umriss. Ich entsinne mich, in einer Illustrierten eine Reklame für ein Parfüm gesehen zu haben, mit einer weich gezeichneten (nackten) Frau und dem Slogan »aufregend weiblich«. Eine gewaltige Steigerung erfährt die Bedeutungsfülle der verbalen Situation beim Übergang zum Substantiv »Weib«. Die Dynamik gewinnt etwas Grandioses, unberechenbar Verführerisches, dessen sich der Dichter bemächtigt, indem er ein Weib ausrufen lässt: »Staub lieber, als ein Weib sein, das nicht reizt.« 454 Andererseits steht im Hamlet: »Schwachheit, dein Nam’ ist Weib« Das ist abschätzig gemeint, doch im Taoismus wird diese Schwachheit des Weibes zur Auszeichnung, zur geheimen Stärke. Es geht dabei um das Weiche, Protopathische, Nachgiebige, Verschwimmende, das ebenso zur tosenden Flut aufschäumen kann, wie das Wasser. Die semantische Merkmalanalyse wäre hilflos vor »Weib« und müsste sich zu »Frau« flüchten. Die Poesie kann solche Wörter sich zunutze machen und in vielen anderen den sonst kaum hörbaren Anspielungscharakter zum Klingen bringen, aber sie fügt auch neue Prägungen dieser Art hinzu, z. B. durch Erfindung von Metaphern. Jede Metapher erweitert den totalen Sinn eines Formanten durch neue partielle Sinne und lässt zugleich die Grenze zwischen Alt- und Neuland stehen, so dass sich ein gespaltener totaler Sinn ergibt. Das Motiv der prosaischen Metapher ist oft die Sprachnot, ein Syntagma (z. B. Wort) zur Füllung einer Ausdruckslücke im Sinn dehnen zu müssen, aber die Funktion der poetischen Metapher ist eine andere: Durch den paradoxen Zusammenstoß zweier einander anregender, aber nicht bruchlos zusammenpassender Situationen, mit denen Wörter behaftet sind, wird eine neue, überraschende, umfassendere Situation wie bei einer Explosion gezündet und zugleich durch das metaphorisch gebrauchte Material der Wort- oder Syntagmenkörper in der poetischen Weise geschickter Sparsamkeit unzerlegt vergegenwärtigt. Durch die poetische Situationsbeladenheit der Wörter entzieht sich der poetische Sprachgebrauch der Übersetzung, sofern deren Leitfaden die umkehr454

Heinrich v. Kleist, Penthesilea, Vers 1253

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bar eindeutige Entsprechung von Elementen der ausgangssprachlichen und der zielsprachlichen Rede ist, denn eine binnendiffuse Bedeutsamkeit kann nicht in solche Elemente zerlegt werden. Der Anspielungscharakter der Wörter, der dem Sinn der Sprüche, die die Wortkörper mit aufbauen, eine eigentümliche Tönung gibt, betrifft nicht nur Situationen mit binnendiffuser Bedeutsamkeit, sondern auch besser durchschaubare einzelne Beschaffenheiten. Insgesamt bietet er Gelegenheit zu einer inhaltlichen Betrachtung des Wortschatzes und einem darauf aufbauenden Sprachvergleich. Besonders fruchtbar scheinen mir die Beiträge von Wilhelm Luther zum Vergleich des deutschen und lateinischen sowie des deutschen und französischen Wortschatzes. 455 Ich will zunächst seine Ergebnisse zusammenfassen und dann ins Einzelne gehen. Die Wortbildung geschieht im Deutschen durch Zusammensetzung, ergänzt durch Suffixe, komponierend, im Lateinischen und Französischen durch Suffixe determinierend. Das Deutsche gewinnt dadurch die Fähigkeit zu lebensnahen, sinnlich anschaulichen, fein differenzierenden Bildungen im Gebiet der Substantive, Verben und besonders der Adjektive, dazu noch eine klassifikatorische Übersichtlichkeit, indem bei zusammengesetzten Wörtern der jeweils vorausgehende Teil den jeweils folgenden spezifiziert. Den französischen und lateinischen Wörtern fehlt sowohl die qualitative Konkretheit als auch die klassifikatorische Übersichtlichkeit des Sinnes; sie bleiben abstrakt und sind oft mehr an der Quantität orientiert. Luther belegt seine Vergleiche mit langen Wörterlisten. Ich verweise im folgenden auf sein Buch mit bloßen Seitenzahlen. 97–135: lateinisch-deutscher Sprachvergleich. 109 f.: Unterschiede in der Wortbildung: Lateinische Wörter werden durch Derivation, deutsche durch Komposition gebildet, z. B. aerarium – Staatskasse. »Die deutschen Komposita drücken den Ort aus, wo etwas geschieht, oder den Gegenstand, an dem etwas geschieht. Der Wirklichkeitsbereich, den das Vorderglied andeutet, wird im Hinterglied näher bestimmt, so dass sich ein anschauliches Gesamtbild des genannten Gegenstandes ergibt. Die Stammabteilungen des Lateinischen sind dagegen einfacher und straffer gebaut, zugleich aber auch farbloser und weniger gegenstandsbildend. In ihnen wird auf anschauliche Fülle 455 Wilhelm Luther, Sprachphilosophie als Grundwissenschaft, Heidelberg 1970, S. 97– 135: lateinisch-deutscher Sprachvergleich, S. 137–142: Gegenüberstellung der Wortbildungsweisen im Deutschen und Französischen.

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und detaillierte Charakteristik verzichtet. Das Vorderglied erzeugt meist eine orientierende Gegenstands- oder Geschehensvorstellung, die Suffixe wirken meist differenzierend und spezifizierend. Aber das geschieht selten eindeutig, so dass es immer des Kontextes zur endgültigen Festlegung des Bedeutungswertes bedarf.« 111–115: Das Lateinische verwendet Plurale für Gesamtheiten, die das Deutsche mit Kollektivsubstantiven im Singular, oft mit dem Präfix »ge-« bezeichnet (z. B. aquae – Gewässer, clamores – Geschrei, pedites – das Fußvolk), so auch bei Abstracta (divitiae – der Reichtum). Das Lateinische ersetzt diese gern durch Konkreta, z. B. »post urbem conditam« – »nach der Gründung der Stadt«. »Die vorwiegend pluralistisch-additive Gegenstandsauffassung der Römer spiegelt sich auch in ihren Mengenbegriffen (omnes homines – die ganze Menschheit).« 115–123: vergleichende Betrachtung der deutschen und lateinischen Adjektive: 115: Die Zahl der Adjektive ist im Lateinischen wesentlich geringer als im Deutschen und Griechischen. 116: »An charakteristischen Adjektiven sind die Römer wesentlich ärmer als die deutsche Sprachgemeinschaft. Relativ gut ausgebaut sind bei ihnen die Gruppen, durch welche Zugehörigkeit oder Zugeneigtheit zu etwas ausgedrückt wird. (…) Eine andere Gruppe (apertus, audax, captivus, constans, diligens, maestus usw.) dient zur Bezeichnung von Qualitäten, Zuständen, Stimmungen u. a. Aber gerade in dieser Rubrik ist der deutsche Wortschatz unvergleichlich größer als der lateinische. Vor allem fehlen den lateinischen Entsprechungen für die zahlreichen deutschen Adjektive auf -bar, -haft, -ig, -isch, -lich und natürlich auch so feine Differenzierungen, wie wir sie zwischen unmöglich und unsagbar, männlich, mannhaft und mannbar, kindlich und kindisch, stinkend und stinkig usw. machen.« 117: »Für die paarweise Opposition steht in erster Linie der Typ finitus-infinitus zur Verfügung. Weitere Möglichkeiten sind beneficus-maleficus, benevolens-malevolens, par-dispar, similis-dissimilis. Aber diese Möglichkeiten sind wegen der bekannten Einschränkung des Wortbildungsverfahrens der Komposition begrenzt. (…) Das Deutsche verfügt über weit mehr Ausdrucksmöglichkeiten auf dem Gebiet der antithetischen Wortpaarigkeit«, z. B. durch Anhängen von -haft vs. -los, wohl- vs. übel-, -voll vs. -leer, hoch- vs. tief-, -reich vs. -arm.« Die Anreihung zweier Substantive kann im Lateinischen ein Adjektiv ersetzen, z. B. clamor et admiratio vs. laute Bewunderung, iuventus et vigor vs. jugendliche Kraft. »Die lateinischen Kombinationen zweier Substantive mit Hilfe der Konjunktionen et, at 270 https://doi.org/10.5771/9783495860755 .

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und atque deuten auf ein parataktisch-additives Denken hin, während die deutschen mit Adjektiv und Substantiv eher eine synthetisch-integrative Auffassungsweise und z. T. auch einen höheren Abstraktionsgrad erkennen lassen.« 120: »Die lateinischen Adjektiva sind nicht nur weniger zahlreich und typenmäßig geringer, sondern auch hinsichtlich ihrer Bedeutung eintöniger und farbloser als die deutschen. Während diese eine Fülle von Sehweisen und Wertungen festhalten, haben die Römer einfache Mengen- und Maßbezeichnungen.« 121: »Auch die Adjektiva, die zur Charakteristik von Empfindungen und Gemütszuständen verwandt werden, sind im Lateinischen weniger differenziert und nuanciert als im Deutschen.« 123: »Der durchgeführte Vergleich der lateinischen mit den deutschen Adjektiven ergibt also auf der einen Seite den Befund beschränkter Bildungsmöglichkeiten, der Kargheit und nüchternen Sachlichkeit im Ausdruck, auf der anderen Seite den Eindruck von vielfältigen Typen anschaulicher Fülle, Farbigkeit und Nuancenreichtum.« 137–142 entsprechende Gegenüberstellung der Wortbildungsweisen im Deutschen und Französischen 137: Das Französische ist dem Lateinischen darin verwandt, dass die Wortbildung vorwiegend auf dem Weg der Deviation erfolgt.« »Das deutsche Verfahren der Wortkomposition erscheint uns lebens- und gegenstandsnäher. Ein gattungsbezeichnendes Grundwort wird durch vorgesetzte Zusatzwörter wie durch differentia specifica näher bestimmt, z. B. Kohlen- SeifenSpül- Schwimm- und Waschbecken.« 138: »Die Aufmerksamkeit der französischen Wortbildner ist dagegen auf die jeweilige Funktion der Lebewesen, Gegenstände, Orte, Vorgänge usw. gerichtet, während das Gattungsmäßige als Allgemeines und Gleichbleibendes recht vage durch die Suffixe bezeichnet wird.« »Im deutschen Wortschatz glaubte H. G. Koll eine Tendenz zur Klassifizierung entdecken zu können.« 139: »Zu dem Gattungswort Tuch besitzen wir Deutschen die Artbezeichnungen Hand- Taschen- Bett- Kopf- Staubtuch usw.« »Die deutsche Sprachgemeinschaft legt Wert auf Ordnung und Klassifizierung, die französische bevorzugt die individuelle Unterscheidung, was nicht besagt, dass sie auf Klassifizierung verzichtet.« Sie bevorzugt dafür die analytisch-postdeterminierende Klassifikation. »Für WaschNäh- und Schreibmaschine sagen sie une machine à laver, … à coudre, … à écrire.« 140: »In den vielfältigen deutschen Wortzusammensetzungen, die mit Vor- und Nachsilben, mit Nomina, Adjektiven, Partizipien und anderen Vorder- und Hintergliedern gebildet werden, sind 271 https://doi.org/10.5771/9783495860755 .

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stets mehrere Eindrücke und Aspekte der Wirklichkeit zusammengefasst. (…) Das Französische, dem die synthetischen Möglichkeiten nur in begrenztem Umfang zur Verfügung stehen, hilft sich mit syntaktischen Mitteln (…).« »Auch in der Bildung und im Gebrauch der Verben unterscheidet sich das Französische von dem Farbenreichtum und der plastisch-anschaulichen Art des Deutschen. Malblanc hat dies vor allem an être und avoir aufgezeigt.« 140: »Marianne Staub hat in ihrer Zürcher Dissertation (1942) nachgewiesen, dass wir im Deutschen weniger einfache Richtungsverben haben als die Franzosen.« 141: »Demgegenüber wirken die komponierten deutschen Bewegungsverben anschaulicher und eindeutiger, sie scheinen eher der Sinneswahrnehmung zu entsprechen und brauchen deshalb auch nicht so stark vom Satz- und Sinnzusammenhang her bestimmt zu werden wie die abstrakteren französischen Simplexverben.« 140 f.: Die Komposition deutscher Bewegungsverben wird in der Regel durch Adverbialkonstruktion oder durch adverbiale und praepositionale Vorderglieder wie ab- an- auf- aus- durch- ein- empor- entgegen- fort- heim- hinab- hinauf- hindurch- nach- nieder- rückwärts- vorwärts- weg- zu- zurückusw. oder durch Präfixe wie be- ent- er- ver- zer- usf. ausgedrückt.« 141 f.: »H. Gipper ist durch den Vergleich deutscher und französischer Gedichte (insgesamt 2000) zu dem Ergebnis gekommen, dass die Zahl der finiten Verbformen in den deutschen Fassungen höher ist als in den französischen Originalen. So wird z. B. französisch descendre im Deutschen durch 27 verschiedene Verben und Verbkomposita wiedergegeben.« 142: »Die verhältnismäßige Abstraktion des französischen Wortschatzes lässt sich auch am Gebrauch der Präpositionen, Konjunktionen und Adverbien nachweisen. (…) Auf der einen Seite dominieren die ›Pfeilpräpositionen‹ à und de sowie die abstrakt-rechenhafte Konjunktion que mit ihrer rein verknüpfenden Funktion, auf der anderen stehen eine Fülle konkret-anschaulicher Präpositionen wie auf, in, nach, bei, mit und entsprechende Konjunktionen, die mannigfaltige Beziehungen, Neben- und Unterordnungen u. a. ausdrücken. Anders als die deutsche macht die französische Sprachgemeinschaft keinen Unterschied zwischen Ruhe und Bewegung, Ort und Richtung.« Dieses ausführliche Referat der Beobachtungen von Wilhelm Luther scheint mir wichtig und nützlich zu sein, um der abstrakten Rede von dem Beitrag, den die Formanten einer Sprache durch ihre Körper zur Art und Weise der Darstellung von Bedeutungen in Sprüchen dieser Sprache leisten, einen Hintergrund von Anschaulichkeit an den 272 https://doi.org/10.5771/9783495860755 .

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verbalen Mitteln zu geben, mit denen konkrete Sprachen je auf ihre Weise diesen Beitrag leisten. Dadurch wird ein typologischer Vergleich dieser Sprachen möglich, der hier etwa so ausfällt, dass das Lateinische vorzugsweise dem praktisch nüchternen (bäuerlichen, juristischen) Sprechen dient, das Französische mit der Wortbildung wie mit dem Satzbau (3.1.5) auf mathematische Klarheit und abstrakte Ordnung aus ist, das Deutsche aber in besonderem Maß offen für vielsagende Eindrücke. Diese einfache Rollenverteilung wird sogleich durch den eher gegenläufigen Unterschied kompliziert, dass das Deutsche klassifiziert und dadurch mit der Wortbildung übersichtliche Zusammenhänge schafft, während die französische Wortbildung das Verhältnis zwischen Gattung und Art (Untergattung) eher vernachlässigt. Man muss sich also von einfachen Gegenüberstellungen fernhalten; trotzdem ist es nicht ohne Reiz, den an der Wortbildung und am Satzbau abgelesenen Unterschied von Sprachtypen zu einem Unterschied von Weltanschauungen, die von den Sprachen geprägt würden, weiterzutreiben. Dann kommt es zu der These, die mit etwas zweifelhaftem Recht an den Namen von Humboldt, mit zweifellosem an die Namen von Weisgerber und Whorf geknüpft wird, dass die Angehörigen einer Sprachgemeinschaft mit ihrer Weltanschauung im Gefängnis ihrer Sprache steckten. Diese These geht im Allgemeinen zu weit, ist als hypothetische Vermutung der Möglichkeit solcher Befangenheit in Einzelfällen aber nicht ohne Berechtigung. Ein Beispiel aus dem mittelalterlichen Universalienstreit: Die Nichtexistenz allgemeiner Gattungen wird mit dem anerkannten Satz »Sokrates ist Mensch« (Socrates est homo) bewiesen, der nicht wahr sein könnte, wenn Mensch eine Gattung wäre, denn Sokrates ist keine Gattung. Dieses »Totschlagargument« kommt z. B. bei Siger von Brabant und Thomas von Aquino vor. 456 Es beruht auf dem zufälligen sprachlichen Mangel des Lateinischen, keinen unbestimmten Artikel zu besitzen. Wir würden statt »Sokrates ist Mensch« vielmehr »Sokrates ist ein Mensch« sagen, und daraus wäre kein Einwand gegen Gattungen zu gewinnen. Im Übrigen hat die These von Weisgerber und Whorf, wenn sie verallgemeinert und nicht bloß auf die Sprache bezogen wird, ein Fundament in dem Umstand, dass alles spezifisch menschliche Denken ein Explizieren von Bedeutungen aus Situationen (und Kombinieren der Explikate) ist und 456 Vgl. Hermann Schmitz, Der Weg der europäischen Philosophie. Eine Gewissenserforschung, Band II, Freiburg i. Br./München 2007, S. 69–71

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sich unter den Situationen, die so expliziert werden, auch die Sprache befindet, die zudem ein unentbehrliches Werkzeug der Explikation ausmacht. Zur Einschließung des Denkens in die Vorgaben der Sprache reicht dieses Fundament aber nicht aus, aus drei Gründen: 1. Andere zuständliche Situationen binden das Denken nicht weniger. Dazu gehören geschichtliche Prägungen, die dadurch entstehen und wirken, dass eine Situation durch eine Explikation durchbrochen wird und aus der Explikation neue Situationen hervorgehen. Das wichtigste Beispiel in der europäisch-abendländischen Geschichte ist die Weltspaltung um 400 v. Chr. durch die psychologistisch-reduktionistisch-introjektionistische Vergegenständlichung. Sie entstammte einem Durchbruch durch das archaische Denken unter dem Explikationsdruck des Bedürfnisses nach Selbstbemächtigung des Menschen im Verhältnis zu seinen unwillkürlichen Regungen und führte ein neues Weltbild herbei, das wieder in zuständlichen Situationen mit binnendiffuser Bedeutsamkeit aufgefangen wurde, von denen die wichtigsten das Christentum und das naturwissenschaftliche Weltbild sind. Solche nachhaltigen geschichtlichen Prägungen interferieren mit dem Einfluss der Sprache, teils stärker, teils weniger stark; so scheint die deutsche Sprache nach diesem und dem vorigen Unterkapitel gegen die Weltspaltung etwas widerstandsfähiger als die französische zu sein, in der viel vom Geist des Descartes lebt, eines Protagonisten der psychologistisch-reduktionistisch-introjektionistischen Vergegenständlichung. 2. Der personale Mensch ist den ihm mit ihrer Bedeutsamkeit vorgegebenen Situationen nicht ausgeliefert, da er einzelne Bedeutungen herausholen, als Gattungen auf Fälle anwenden und selbst zu Fällen anderer Bedeutungen machen kann, mit jeweils vielen Gattungen für alle diese Fälle, die vielseitig, unter vielen Gesichtspunkten, gemustert und verglichen werden können. Auf diese Weise kann er auch in seine Sprache eingreifen, sich ein Bild von ihr wie eine Landkarte machen und aus den Einzelheiten Netze bilden und nach Belieben umknüpfen. Nicht nur die Sprache kann das Denken manipulieren, sondern auch das Denken die Sprache. 3. Situationen sind anpassungsfähig und reagieren auf einander, so auch Sprachen auf aktuelle und zuständliche Situationen, auf Standpunkte und andere Sprachen. Zwar ist das Denken dem Einfluss der Sprache ausgesetzt und kann dadurch jederzeit in die Irre geführt werden, während umgekehrt dieser Einfluss es auch anregen und be274 https://doi.org/10.5771/9783495860755 .

Institutionen und Organisationen

fruchten kann; aber das Denken ist nicht ein Gefangener im Bann der Sprache.

3.2 Institutionen und Organisationen Eine Institution ist ein Komplex von Regeln für das Verhalten von Lebewesen (d. h. Menschen oder Tieren) zu einander und eventuell zu Gegenständen, denen durch die Regeln eine auslösende oder abhaltende Mitwirkung an diesem Verhalten zugeschrieben wird. Mit dem Wort »Komplex« will ich die beiden Möglichkeiten offen halten, dass die Institution entweder ein System von lauter einzelnen Regeln ist oder eine Situation, in deren binnendiffuser Bedeutsamkeit nicht alle Regeln – vielleicht keine – einzeln sind. Die Menge der Institutionen ist sehr groß und unübersichtlich; Sprachen, Sitten, Umgangsformen gehören ebenso dazu wie Kunstwerke, die zur Aufführung bestimmt sind (Theaterstücke, Musikwerke nach Maßgabe der Partitur), Zeremonien (z. B. Gottesdienste), Spiele, Techniken mit Kunstregeln für Fachleute, Straßenverkehrsverordnungen und Organisationen aller Art (Staaten, Kirchen, Betriebe der Industrie und des Gewerbes, geregelte Familien und Freundschaften, Vereine, Schulen, Krankenhäuser usw.). Auch Tiere haben Institutionen (Herrschaftsordnungen, Kampfund Balzrituale, Insektenstaaten usw.). Ein Verhalten eines Menschen oder mehrerer Menschen ist eine Inszenierung einer Institution, wenn es keine ihrer Regeln verletzt und mindestens einer gehorcht; so ist z. B. jedes Gespräch auf Deutsch unter Menschen eine Inszenierung der deutschen Sprache, jeder Zug im Schachspiel eine Inszenierung dieser Institution, an der die Spieler und als sonstige auslösende oder abhaltende Gegenstände das Schachbrett und die Schachfiguren beteiligt sind. Institutionen können einfach oder zusammengesetzt sein. Eine Institution ist einfach, wenn sie keine andere Institution als Teil enthält. Eine Institution I1 ist Teil einer Institution I, wenn jede Inszenierung von I1 auch eine Inszenierung von I ist. Zusammengesetzte Institutionen sind, entweder direkt oder indirekt – eventuell über mehrere Schichten hinweg – über partielle zusammengesetzte Situationen, aus einfachen Institutionen als ihren Teilen zusammengesetzt. Eine einfache Institution ist die deutsche Sprache, eine zusammengesetzte ein Staat oder ein kompliziertes Musikstück mit Chor und Orchester. (Die Alternative hat also nichts damit zu tun, wie kompliziert in sich 275 https://doi.org/10.5771/9783495860755 .

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das Regelwerk ist.) Die Regeln einer Institution gelten fast immer unverbindlich, weil man ihnen nach Belieben, wenn auch unter Umständen mit strengen Konsequenzen und schweren Kosten, den Gehorsam entziehen kann. Wer bei einer Inszenierung mitwirkt und dabei mindestens einer Regel der Institution gehorcht, ist ein Mitspieler dieser Inszenierung, und sein Gehorsam ist seine von den betreffenden Regeln bestimmte Rolle in dieser. Ich gebe nun einen Überblick über die Regeln, die in Institutionen vorkommen können. Eine Institution kann Zulassungsbeschränkungen enthalten; zugelassen ist von einer einfachen Institution, wer bei einer Inszenierung dieser Institution mitspielen darf, und von einer zusammengesetzten Institution, wer von mindestens einer in ihr enthaltenen einfachen Institution zugelassen ist. Die deutsche Sprache ist eine Institution ohne Zulassungsbeschränkungen. Außer den Zulassungsbeschränkungen gibt es Kooperationsbeschränkungen, die für einen Mitspieler den Kreis der Mitspieler, mit denen er bei beliebigen oder gewissen Inszenierungen einfacher Institutionen zusammenwirken darf, einschränken. Für einen Spielberechtigten S einer einfachen Institution I ist ein Spielberechtigter T von I genau dann Mitspielberechtigter von S, wenn S und T nach den Regeln von I bei einer Inszenierung von I Mitspieler sein dürfen. In einer zusammengesetzten Institution ist S Mitspielberechtigter von T genau dann, wenn in ihr eine einfache Institution enthalten ist, in der beide mitspielberechtigt sind. Schlechthin mitspielberechtigt sind beide, wenn sie es in einer einfachen oder einer zusammengesetzten Institution sind. Jeder Spielberechtigte, d. h. Zugelassene, ist mindestens sein eigener Mitspielberechtigter. Einen dritten Typ einschränkender Regeln bilden die Rollenbeschränkungen, wodurch einem Spielberechtigten untersagt wird, bei beliebigen oder gewissen Inszenierungen gewisse Rollen zu übernehmen; diese bleiben dann Spezialisten (Eliten) vorbehalten. Mit diesen drei Typen ist der Bereich beschränkender Regeln ausgeschöpft, wie man so einsieht: Jede Inszenierung einer Institution besteht darin, dass (1) gewisse Individuen (2) allein oder mit anderen (3) gewisse Rollen übernehmen. Dem Satzteil (1) entsprechen die Zulassungsbeschränkungen, dem Satzteil (2) die Kooperationsbeschränkungen, dem Satzteil (3) die Rollenbeschränkungen. Den beschränkenden Regeln stehen die auferlegenden gegenüber; dazu gehören in jeder Institution Rollenbestimmungen, die den Inhalt von Rollen festlegen. Manche Institutionen bestehen nur in Rollenbestimmungen, z. B. die 276 https://doi.org/10.5771/9783495860755 .

Institutionen und Organisationen

deutsche Sprache in Bestimmung der Sprecher- und Hörerrolle (einschließlich der Schreiber- und Leserrolle). Auferlegende Regeln können aber auch Zuweisungsregeln sein, die teils als Auftragsregeln gewissen Individuen die Übernahme gewisser Rollen bei gewissen Inszenierungen auferlegen, teils als Ermächtigungsregeln gewissen Individuen die Spielberechtigung, die Mitspielberechtigung und die Fähigkeit zur Übernahme bestimmter Rollen verleihen. Wenn die Institution keine beschränkenden Regeln enthält, erübrigen sich die diesen entsprechenden Ermächtigungsregeln; andernfalls legen sie die Weise des Zugangs zu der betreffenden Berechtigung fest. Zuweisungsregeln können relativ oder absolut sein. Sie sind relativ, wenn die Aufgaben oder Befugnisse, deren Zuweisung sie regeln, durch Inszenierungen einer Institution (z. B. Wahlen oder Ernennungen) verliehen werden, sonst absolut. Absolute Zuweisungsregeln kommen z. B. in Kulten und Monarchien vor, etwa bei der Zuweisung jüdischer Priesterrollen an die Leviten oder der Rollen des Tennô bzw. des (einstigen) Negus an vermeintliche Abkömmlinge der Amaterasu bzw. der Königin von Saba. Für eine Institution I ist eine nichtleere Teilmenge M der Menge aller Spielberechtigten von I genau dann ein Personal von I, wenn ihr jeder mit jedem Element von M Mitspielberechtigte und sonst niemand angehört, und eine Besetzung von I, wenn es in M ein Element E von der Art gibt, dass der Menge M jeder mit E Mitspielberechtigte, aber kein weiteres Element angehört. Die Personale fallen mit den Besetzungen zusammen, wenn die Mitspielberechtigung transitiv ist, so dass, wenn A mit B und B mit C auch A mit C mitspielberechtigt ist. Dann ist sie nämlich (da auch symmetrisch und reflexiv) eine Äquivalenzrelation, die die Obermenge in elementefremde Untermengen (eventuell sie selbst als einzige, dann unechte Untermenge ihrer selbst) einteilt, so dass kein Mitspielberechtigter mehr als einem Personal angehören kann.380 In diesem Fall nenne ich ein Personal abgeschlossen. In zusammengesetzten Institutionen versteht sich die Abgeschlossenheit des Personals wegen der Definition der Mitspielberechtigung von selbst; für sie gibt es nur ein einziges Personal, das ihrer sämtlichen Spielberechtigten. So bilden alle Teilnehmer an irgend welchen Inszenierungen eines Staates ein einziges Personal, zu dem alle aktiven Staatsbürger, wie verschieden auch ihre Rolle im Staat sein mag, gehören. Bei einfachen Institutionen versteht sich die Geschlossenheit der Personale nicht von selbst, weil die Mitspielberechtigung auch einmal intransitiv sein kann. Seien z. B. zwei Kompanien K1 und K2 eines Re277 https://doi.org/10.5771/9783495860755 .

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giments Personale einer einfachen Institution, und in K1 sei S1 der einzige Soldat, der auch noch einer anderen Kompanie, nämlich K2 angehört, also zwischen beiden Kompanien wechseln kann. Dann decken sich Personal und Besetzung nicht. Es gibt zwei Personale, K1 und K2, aber nur eine Besetzung von S1, die beide Personale umfasst. Auch in solchen Fällen lässt sich aber ein Personal genau abgrenzen; es umfasst bloß nicht mehr für jeden Mitspielberechtigten der einfachen Institution jeden seiner Mitspielberechtigten, wie bei abgeschlossenen Personalen. Die Einführung des Personalbegriffs gestattet einen Übergang von den Institutionen zu den Organisationen als einer besonders wichtigen Untergattung. Für eine (einfache oder zusammengesetzte) Institution I und eine natürliche Zahl n > 0 seien die PK (K = 1, 2, …, n) Personale von I, die für jedes K eine entsprechende Frist tK lang bestehen, wobei die t mindestens einen Augenblick dauern und sich ohne oder mit Unterbrechungen an einander schließen, während von PK zu PK+1 immer nur einige Angehörige des Personals (mindestens einer), nie alle zusammen, wechseln. Durch den Zusatz der Regel, dass mitspielberechtigt bezüglich I nur ist, wer zu einer First tK dem Personal PK angehört, ergibt sich aus I eine Institution I*, die die Spezialisierung von I auf die betreffende Folge von Personalen ist, und das ist eine Organisation. Eine Organisation ist die Spezialisierung einer Institution auf eine Folge von Personalen der angegebenen Art. Der einfachste Fall liegt vor, wenn die Folge nur ein einziges Glied hat, also keinen Wechsel des Personals zulässt. Das ist der Fall bei der monogamen Ehe auf Lebenszeit. Aus der Ehe als Institution wird durch Spezialisierung auf ein einziges Personal die Ehe des Ehepaares Müller, in dem Herr und Frau Müller die einzigen Mitspielberechtigten sind. Im Fall eines Vereins muss schon eine längere Folge von Personalen berücksichtigt werden, da von Zeit zu Zeit Mitglieder ausscheiden und neue eintreten. Auch ist der Verein keine einfache Institution wie die Ehe, da er mindestens den Vorstand als Teilinstitution und die Gruppe der gemeinen Mitglieder als weitere enthält; erst diese sind einfache Institutionen und auch Organisationen. Der Unterschied von Einfachheit und Zusammensetzung lässt sich nämlich von den Institutionen auf die Organisationen (als spezielle Institutionen) übertragen, bloß mit einer Abweichung: Zu einer zusammengesetzten Institution müssen einfache Institutionen und können außerdem höchstens noch zusammengesetzte Institutionen gehören; zu einer zusammengesetzten Organisation können 278 https://doi.org/10.5771/9783495860755 .

Institutionen und Organisationen

außer den entsprechenden einfachen und zusammengesetzten Organisationen auch noch Institutionen gehören, die keine Organisationen sind, z. B. die deutsche Sprache, wenn bei Inszenierungen gemäß den Regeln der Organisation deutsch gesprochen werden soll oder darf. Der Zusatz der auf eine Folge von Personalen spezialisierenden Regel genügt nicht zur eindeutigen Bestimmung der gemeinten Organisation; vielmehr kommt es auch auf den nächsten institutionellen Typus an, von dem die Spezialisierung ausgeht. Das kann im Fall des Ehepaares Müller z. B. die rechtsgültig geschlossene und fortbestehende Ehe sein, die Ehe im juristischen Sinn. Oft meint man aber einen näher bestimmten Typus, zu dem ein mehr oder weniger einstimmiges, von Zuneigung und gemeinsamen Interessen getragenes Zusammenleben gehört. Wenn beides auseinanderfällt, hört man manchmal: »Diese Ehe ist keine richtige Ehe mehr, nur noch eine Scheinehe.« Vielmehr ist es noch eine richtige Ehe im ersten, nicht im zweiten Sinn. Durch Wahl eines anderen nächsten institutionellen Typus entsteht eine andere Organisation so gut wie durch Wahl einer anderen Spezialisierung beim Übergang von der bloßen Institution zur Organisation. Ein anderes Beispiel: Die katholische Kirche ist eine hoch kompliziert zusammengesetzte Organisation, zu deren institutionellen Regeln ein sehr differenziertes Kirchenrecht und eine umständlich ausgebaute Liturgie (z. B. Messordnung) gehört. Wenn dieser nächste institutionelle Typus durch die geringste Änderung im Kirchenrecht oder in der Liturgie abgewandelt wird, handelt es sich, selbst bei unverändertem Personal, genau besehen um eine andere Organisation, eine neue Kirche. Dieses Ergebnis wird als paradox empfunden und würde von allen Interessenten, Anhängern und Gegnern der Kirche, abgelehnt werden, wenn man es zur Diskussion stellt. Man kann ihm aber nur ausweichen, indem man den nächsten institutionellen Typus, von dem aus die Spezialisierung zur Organisation erfolgt, mehr oder weniger in der Schwebe lässt und mit intuitivem, begrifflich unscharfem Takt darüber urteilt, wie weit eine inhaltliche Veränderung der Institution gehen darf, bis es dahin kommt, dass die aus ihr spezialisierte Organisation eine andere geworden ist. Diese etwas abstrakten Unterscheidungen verfolgen ein Ziel analog zu dem von Franz v. Liszt, als er der Strafrechtswissenschaft durch die Unterscheidung von Tatbestand, Unrecht und Schuld zu scharfen, schneidigen Begriffen verhelfen wollte. Seit langem gibt es eine Soziologie der Organisationen, die sich weitgehend auf wirtschaftliche Be279 https://doi.org/10.5771/9783495860755 .

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triebe einstellte und so nichtssagende Definitionen hervorbrachte wie: »Organisationen sind soziale Einheiten (oder Gruppierungen von Menschen), gebildet und ungebildet zur Verfolgung spezifischer Ziele.« 457 Das Verhältnis der Organisationen zu den Institutionen überhaupt bleibt unbedacht. Das hat sich mit dem sogenannten Neoinstitutionalismus in Amerika seit wenigen Jahrzehnten geändert; ich exzerpiere (Quellenangaben weglassend) folgende Charakteristik: »Die kulturell-kognitive Säule, durch deren Betonung sich die Neoinstitutionalisten von anderen institutionalistischen Ansätzen, etwa klassischen soziologischen Institutionentheorien oder auch institutionenökonomischen Theorien absetzen, bezieht sich auf jene Elemente von Institutionen, die die Wahrnehmung der Wirklichkeit in einer Gesellschaft bestimmen und durch die die Wirklichkeit sinnhaft erschlossen wird. Mit kulturell kognitiv meint Scott dabei, dass die kognitiven Prozesse der Organisationsmitglieder wesentlich durch den subjektiven Rahmen, der sie umgibt, bestimmt werden. Was ein Akteur wahrnimmt, wie er diese Wahrnehmungen interpretiert und wie er damit umgeht, wird wesentlich von seinen/ihren internalisierten kognitiven Repräsentationen der Umwelt beeinflusst. (…) Die für die Gesellschaft oder eine Organisation konstitutiven Institutionen werden häufig nicht bewusst wahrgenommen bzw. als selbstverständlich erachtet. Sie haben sich im sozialen Wissensbestand abgelagert. Grundlegend für diese Beibehaltung sind weniger normative Systeme wechselseitiger Verpflichtungen, sondern Typisierungen von Akteuren und Handlungsskripte, denen diese Akteure folgen.« 458 Mit meinen Worten gesagt, läuft diese Änderung darauf hinaus, dass Institutionen und Organisationen als zuständliche Situationen verstanden werden, die nicht bloße Nomoi 459 sind wie Sprachen, sondern in ihrer binnendiffusen Bedeutsamkeit auch Sachverhalte (Überzeugungen) und eventuell wohl auch Probleme enthalten. Das ist für einen Großteil der Fälle eine wichtige Öffnung zur gelebten Wirklichkeit, doch führt die Unzulänglichkeit begrifflicher Systematik zu einer Überschätzung der Führkraft solcher Situationen und zu der Versuchung, »Akteure passiv, konfor457 Amitai Etzioni, Modern Organizations, 1964, S. 3, von mir entnommen aus: W. Richard Scott, Grundlagen der Organisationstheorie, aus dem Amerikanischen von 1981 übersetzt von Hanne Herkommer, Frankfurt/New York 1985, S. 44 458 Peter Walgenbach, Renate E. Meyer, Neoinstitutionalistische Organisationstheorie, Stuttgart 2008, S. 59 f. 459 Plural von »Nomos«

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Der Staat

mistisch übersozialisiert und mit zu geringen Handlungsspielräumen ausgestattet zu konzeptialisieren, was zu zahlreicher Kritik an der neoinstitutionalistischen Organisationstheorie geführt hat.« 460 Diese Überzeichnung wäre nicht nötig gewesen. Daraus, dass Menschen mit ihren Überzeugungen und Haltungen in zuständlichen Situationen wurzeln, folgt überhaupt nicht, dass sie in ihnen gefangen sind, denn sie können die binnendiffuse Bedeutsamkeit mehr oder weniger, wenn auch nicht vollständig, durch Freisetzung einzelner Bedeutungen explizieren und sich an Hand dieses Materials mit dem, worin sie wurzeln, auseinandersetzen. Für zuständliche Situationen gilt allgemein, was für Sprachen unter 3.1.6 gegen die Weisgerber-Whorf-These ausgeführt wurde.

3.3 Der Staat 3.3.1

Der Staat als Zwecksetzungsorganisation

Jede hinlänglich entwickelte Gesellschaft bedarf unterschiedlicher organisierter Zweckverbände zur Befriedigung gemeinschaftlicher Bedürfnisse. Ich nenne beispielshalber die Polizei (gegen Störungen der öffentlichen Ordnung), Justiz (zur Begleichung von Streitigkeiten und Bestrafung von Schädigern), Errichtung, Erhaltung, Sicherung und Bedienung von Verkehrswegen, Gesundheitssorge, Bildung und Erziehung, Wasserbewirtschaftung, Feuerwehr, Wasserwehr. Ich greife die Feuerwehr heraus. Sie bedarf nicht nur der Bereithaltung von Menschen, Fahrzeugen, Löschgeräten, sondern hauptsächlich des Vorrats von Löschwasser an zur Brandbekämpfung geeigneten Stellen, überall im besiedelten Gebiet. Wasser ist aber auch für andere Zwecke erforderlich, zum Trinken, zum Waschen, zur Bewässerung in der Landwirtschaft, für Schwimmbäder. Andere Organisationen widmen sich diesen Zwecken der Wasservorhaltung. Wer entscheidet, wenn diese Zwecke ins Gehege kommen, angesichts eines insgesamt beschränkten Wasservorrats? Das Beispiel kann leicht verallgemeinert werden. Zweckverbände, die sich im Zuge des Zusammenlebens, der Gefühlsbedürfnisse, der technischen Entwicklung usw. als unumgänglich herausstellen, brauchen Ressourcen wie das Wasser, hauptsächlich aber Geld. Um die 460

Wie Anm. 458, S. 61

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Verteilung beschränkter Mittel nicht dem Zufall (dem Los) oder der Laune des Augenblicks zu überlassen, bedarf es eines Maßstabs, der nicht wieder von einem feststehenden, verbandmäßig verwaltbaren Zweck bezogen werden kann; damit wäre die Entscheidung des Streits unter Parteien einer Partei anvertraut. Deswegen bleibt immer dann, wenn begrenzte Vorräte auf Zweckverbände zu verteilen sind und die Summe des Bedarfs die des Vorrats überschreitet, nichts übrig als der Appell an eine final nicht spezialisierte Organisation, die dazu da ist, Zwecke für die Verteilung der gemeinschaftlich verfügbaren, von den Zweckverbänden beanspruchten Hilfs- und Machtmittel zu bestimmen und dadurch Akzente zu setzen, aus denen ein Verteilungsschlüssel abgeleitet werden kann. Diese Organisation ist der Staat. Ein Staat ist eine auf keine festen Zwecke spezialisierte, aber zur Zwecksetzung berufene Organisation einer Menschengruppe mit Verfügung über die in dieser Gruppe gesammelten und zum Einsatz bereitgestellten Machtmittel, zur Rangordnung der ausgewählten Zwecke für Kollisionsfälle und zur Veranlassung, Leitung, Ordnung und Beaufsichtigung des Einsatzes der Mittel für diese Zwecke. Ein Staat kann z. B. durch freie, d. h. von der eingepflanzten Aufgabe eines Zweckverbandes nicht vorgegebene Zweckwahl die Sozialfürsorge für Bedürftige, das Bildungswesen, die Belohnung von beruflichen Erfolgen (etwa wirtschaftlicher Tüchtigkeit), die erneuerbaren Energien, das Militär, den Straßenbau, die gesunde Ernährung, die Verbrechensbekämpfung bei der Verteilung von Gemeinschaftsmitteln begünstigen oder benachteiligen. Die ausgewählten Zwecke müssen aber konkret genug und dürfen nicht so allgemein sein, dass ihre Auswahl garantiert niemand weh tut. Es genügt z. B. nicht, sich auf das Gemeinwohl zu berufen, denn dem dienen ebenso die Polizei, die Feuerwehr, der Wasserschutz oder die dem transzendenten Heil zugewandte Kirche. Wenn sich der Staat für Einschränkung ihrer Ansprüche auf das Gemeinwohl beriefe, würden sie erwidern: »Dafür sorgen wir doch auch.« Der Bedarf einer entwickelten Gesellschaft nach unterschiedlichen Zweckverbänden ist permanent, und deshalb muss der Staat als übergeordnete Zwecke setzende, final nicht spezialisierte Organisation ebenso permanent sein. Das verkennen alle Privatisierungstheorien, die die Zwecksetzung als Aufgabe des Staates an frei sich bildende und lösende Vereine von Privatpersonen übertragen wollen. Exemplarisch dafür ist die Empfehlung, die Wilhelm von Humboldt so abgibt: »Jede Erreichung eines großen Endzwecks erfordert Einheit der Anordnung. 282 https://doi.org/10.5771/9783495860755 .

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Das ist gewiss. Ebenso auch jede Verhütung oder Abwehrung großer Unglücksfälle, Hungersnot, Überschwemmung u. s. f. Allein diese Einheit lässt sich durch Nationalanstalten, nicht bloß durch Staatsanstalten hervorbringen. Einzelnen Teilen der Nation, und ihr selbst im Ganzen, muss nur Freiheit gegeben werden, sich durch Verträge zu verbinden. Es bleibt immer ein unleugbar wichtiger Unterschied zwischen einer Nationalanstalt und einer Staatseinrichtung. Jene hat nur mittelbare, diese eine unmittelbare Gewalt. Bei jener ist daher mehr Freiheit im Eingehen, Trennen und Modifizieren der Verbindung.« 461 Gesetzt aber auch, dass zur Abwehr der Hungersnot ein Zweckverband bereitstünde, sei es spontan sich bildend oder schon in Wartestellung, was passiert, wenn zugleich eine Überschwemmung eintritt und dieselben Ressourcen (z. B. Gelder) hier und dort zur Abwehr benötigt werden? Wer entscheidet zwischen den Ansprüchen beider Zweckverbände? Das Beispiel ist aus Humboldts Formulierung zufällig entnommen. Das Entsprechende gilt für Krankheitsbekämpfung, Erziehung, Armenfürsorge, Geldumlauf, Behindertenpflege, Straßenbeleuchtung, Müllabfuhr, Verkehrswege usw. Die verschiedenen Zweckverbände auf privater oder öffentlich organisierter Grundlage nähmen einander die Ressourcen weg oder kämen gar nicht an diese heran, vor allem, wenn sie so locker gebildet und umgebildet würden, wie es Humboldt vorschwebt. Es bedarf des Staates als final unspezialisierter Zwecksetzungsorganisation, um Oberzwecke und damit die Proportion für die Verteilung der Mittel an die Zweckverbände zu bestimmen. Diese Unentbehrlichkeit des Staates entwertet die kommunistisch-anarchistische Version vom »Absterben des Staates« (Friedrich Engels), auch in der liebenswürdigen Gestalt des Fürsten Kropotkins. 462 Der Staat als final unspezialisierte, zur Zwecksetzung berufene Organisation ist nicht auf entwickelte Gesellschaften mit unterschiedlichen Zweckverbänden beschränkt, sondern dafür genügt schon eine einigermaßen dauerhafte militärische Organisation, die einsatzbereite Krieger und sonstige Machtmittel für frei wählbare Zwecke bereithält, etwa für die Auswahl des militärischen Gegners oder für andere als 461 Versuch die Grenzen der Wirksamkeit des Staates zu bestimmen. Gesammelte Schriften (Akademieausgabe) Band 1 S. 131, von mir zitiert nach: Wilhelm v. Humboldt, Schriften in fünf Bänden, hg. v. A. Flitner und K. Giel, Band 1, Darmstadt 1960, S. 92 462 Handbuch Staatsdenker, hg. v. Rüdiger Voigt und Ulrich Weiß, Stuttgart 2010, S. 217–219: Fürst Kropotkin

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kriegerische Zwischenaufgaben, wie Feste, Verehrung von Gottheiten oder Toten usw. Dem Menschen ist die Freiheit gegeben, »aufzubrechen, wohin er will« 463 , d. h. hier: Machtmittel bereitzustellen, für deren Einsatz er sich dann Zwecke aussuchen kann. Im Einzelleben geschieht das z. B. bei der Berufswahl nach breit vorbereitender Ausbildung; im Gemeinschaftsleben ist für diese Aufgabe eine Institution reserviert: der Staat. Um einsatzbereit gesammelte Mittel für frei gewählte Zwecke einsetzen und beim Einsatz überwachen zu können, braucht der Staat Macht, d. h. Steuerungsfähigkeit (1), teils über Personen, die selbst Macht besitzen, teils über passive Machtmittel ohne Steuerungsfähigkeit wie Bodenschätze, stehendes und fließendes Wasser (einschließlich Regen), Wälder usw. Die selbst Macht habenden Personen im Dienst des Staates bilden das Staatsvolk; durch Einschränkung der Teilnehmer am Staat auf dieses Personal wird der Staat zur Organisation (3.2). Die passiven Machtmittel ohne Steuerungsfähigkeit sind im Staatsgebiet versammelt; die Angewiesenheit des Staates auf ein solches beruht auf dem Bedarf nach Abgrenzung seiner passiven Machtmittel. Terminologisch wird es zweckmäßig sein, die Mächte der Angehörigen des Staatsvolks einfach so zu bezeichnen, die Wirkkräfte der passiven Machtmittel als Potenzen und beide Sorten als die Ressourcen des Staates, dessen Macht (Steuerungsfähigkeit) über seine Ressourcen aber als Herrschaft (potestas). Von Herrschaft und Ressourcen kann man auch in gewissermaßen halbstaatlichen Organisationen sprechen, wie Familien, Sippen, Clans und dergleichen. Sie sind gelegentlich, aber nicht so beständig und dem Wesen nach wie der Staat, mit dem Einsatz ihrer Machtmittel für frei gewählte (nicht ihnen vorgegebene) Zwecke beschäftigt, gehören also nicht zu den von Haus aus final spezialisierten Organisationen, aber ihr Zusammenhalt beruht nicht auf der Bestimmung und Ausführung von Zwecken, sondern auf Tradition und Sympathie sowie auf Wünschen (1). Der Staatsbegriff muss noch gegen einige Missverständnisse geschützt werden. Die Zwecksetzung als wesentliche Staatsaufgabe ist nicht das Selbe wie Planung. Der Staatszweck kann auch darin bestehen, Planungen so weit wie möglich den Angehörigen des Staatsvolks zu überlassen und staatliche Planungen auf das Maß zu beschränken, das zur Garantierung eines Spielraums für das freie Spiel privater 463

Hölderlin, Lebenslauf

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Planungen im rechtlich zulässigen Rahmen erforderlich ist. Dann ergibt sich der liberalistische »Nachtwächterstaat«, der ebenso eine Festlegung des Staates auf einen frei gewählten Zweck ist wie der im 20. Jahrhundert mehr oder weniger an seine Stelle getretene Sozialoder Wohlfahrtsstaat mit Sorge für die Bedürftigen als oberstem Staatsziel oder der neuerdings neben den Sozialstaat oder an seine Stelle tretende Präventionsstaat mit Hauptaugenmerk auf die Vermeidung des Eintritts abschätzbarer Risiken z. B. des Klimas, des demographischen Wandels, der Erschöpfung fossiler Rohstoffe. Ein anderes Missverständnis ist die Verwechslung der finalen Unspezialisiertheit mit Selbstzwecklichkeit des Staates. Sie ist Max Seydel unterlaufen; nach seiner Ansicht »hat, rechtlich gesehen, der Staat keinen Zweck, er ist (…) sich selbst Zweck, so dass ihm rechtlich kein Hindernis entgegensteht, sein Bereich ins Beliebige, selbst ins Unvernünftige auszudehnen.« 464 Der Staat ist dazu da, die Menschen mit ihrer Verantwortung bei der beliebigen Zweckwahl für die Verwendung genossenschaftlicher Ressourcen zu konfrontieren, also mit dem der menschlichen Natur auch in Gruppenleben eingepflanztem Schicksal, nicht nur für vorgegebene, automatisch sich aufdrängende Zwecke tätig zu sein, sondern einen Überschuss an Ressourcen zu haben, der für die Verwendung freier Zweckwahl bedarf. Dazu gibt der Staat nur Gelegenheit, wenn er sich einen über die Selbstpflege hinausgehenden Zweck setzt. Im Gegensatz dazu gibt die Auffassung des Staates als Zweck seiner selbst auf die Frage, warum sich die Anstrengungen vieler Menschen zu der im Staat gesammelten Macht vereinigen, nur die Antwort: »Ihr vereinigt eure Anstrengungen, damit sie sich (so gut wie möglich) vereinigen.« Das ist eine Tautologie, also keine inhaltlich aufschlussreiche Antwort. Wenn der Staat als Selbstwerk gilt, »schluckt« er die beharrlich in ihm gebündelten Gruppenkräfte in sich hinein und begräbt sie als getötete Chancen selbständiger Zielsetzung. Solche finale Selbstbezogenheit lähmt die dynamische Beweglichkeit revidierbarer Zweckbestimmung und lässt den Verwalter gespeicherter Kraft vieler Menschen eigensinnig auf dieser Speicherung beharren; in diesem Sinne ist es verräterisch, wenn Hegel dem Staat nachrühmt, dieser sei »absolu464 Max Seydel, Der Bundesstaatsbegriff, in: Zeitschrift für die gesamte Staatswissenschaft Band 28, 1872, hier S. 186; von mir zitiert aus: Klaus Hespe, Die Entwicklung der Staatszwecklehre in der deutschen Staatsrechtswissenschaft des 19. Jahrhunderts, Köln/ Berlin 1964, S. 58

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ter unbewegter Selbstzweck«, der als »Endzweck das höchste Recht gegen die Einzelnen hat«. 465 Deren Initiative wird in einer Endstation organisierter Gesamtmacht gefangen gesetzt und kann sich weder als individuelle noch als gemeinsame zum Einsatz über sich hinaus entfalten, weil die Organisation der Macht zum Selbstzweck geworden ist. Der Staat als Selbstzweck wird zum reinen Machtstaat, zum Staat in Dienst der Machtpflege und Machtanhäufung. Daraus entsteht einerseits die im sogenannten Tacitismus des 17. Jahrhunderts zur Doktrin ausgereifte 466 , von Hegel auf die Spitze getriebene 467 und in der Praxis bis in die Gegenwart vielfältig ausgelebte tyrannische Rücksichtslosigkeit des Staatsbetriebs gegen moralische Bedenken ebenso wie die darauf antwortende Verteufelung des Staates. Beide Exzesse, die Verklärung zum Selbstzweck wie die Verteufelung, greifen am Wesentlichen vorbei, nämlich daran, dass der Staat den Menschen die ebenso verheißungsvolle wie gefährliche Verantwortung auflädt, die sich daraus ergibt, dass die Kräfte einer Gesellschaft für Zwecke, die erst noch bestimmt werden müssen, in organisierter Sammlung bereitstehen. Mit Hegels autotelologischer Staatsauffassung berührt sich die von Max Weber in seiner Staatsdefinition: »Staat soll ein politischer Anstaltsbetrieb heißen, wenn und insoweit sein Verwaltungsstab erfolgreich das Monopol legitimen physischen Zwanges für die Durchführung der Ordnungen in Anspruch nimmt.« 468 Dieses Monopol ist ein Spezialfall des höchsten Rechtes des Staates gegen den Einzelnen nach Hegel. Beide Staatsauffassungen verzichten darauf, dem Staat die Anlage auf einen festen oder beweglichen Zweck zuzuschreiben, obwohl man hinter Webers Definition die Tendenz vermuten kann, durch den Staat dem Hobbes’schen Krieg aller gegen alle oder auch dem ritterlichen Fehdebrauch 469 ein Ende zu machen. Webers Definition ist ersichtlich zu eng. Gegenüber dem pater familias in seiner Familie nahm der römische Staat keineswegs ein Monopol legitimer Gewaltanwendung in Anspruch und war doch ein erfolgreicher Staat. Die Gliedstaaten eines modernen Bundesstaates behaupten diesem gegenGrundlinien der Philosophie des Rechts § 258 Vgl. Rechtsraum (siehe Anm. 37) S. 312 467 Jenenser Systementwürfe III: Naturphilosophie und Philosophie des Geistes, hg. v. Rolf-Peter Horstmann, Studienausgabe Hamburg 1987 S. 236 f. (Hegels Gesammelte Werke Band 8, Hamburg 1976, S. 258 f.) 468 Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, Tübingen 1922, S. 29 469 Otto Brunner, Land und Herrschaft, Wien 1939 und öfter 465 466

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Der Staat

über kein solches Monopol, aber es wäre fragwürdig, ihnen deshalb die Staatsqualität abzusprechen oder gar dem Bundesstaat selbst, wenn er den legitimen Zwang mit den Gliedstaaten teilt. Bei einem Staat in Not durch äußere oder innere Feinde oder mit durch andere Staaten beschränkter Machtvollkommenheit kann von Erfolg bei Durchsetzung des Monopols keine Rede sein. Das Beiwort »legitim« hat einen verschwommenen Sinn, der von Weber, soviel ich sehe, nirgends geklärt wird. 470 Schließlich ist die Macht zum Zwingen, d. h. zur Durchsetzung eigener Bestrebungen mit Hilfe einer dem Bestreben der Gezwungenen unwiderstehlich entgegenstehenden Gewalt, bloß ein Mittel zum Zweck dieser Bestrebungen. Die Bestrebungen verfolgen Zwecke, und jede Definition des Staates, die über sein Verhältnis zu einem Mittel sein Verhältnis zu Zwecken auslässt, endet mit einem Fragezeichen.

3.3.2

Diachrome Verfassungslehre

3.3.2.1 Die Verfassung Eine Organisation ist eine auf eine Folge von Personalien spezialisierte Institution, d. h. ein Komplex von Regeln. Ein Staat ist eine Organisation, die über Ressourcen verfügt. Die Regeln dieser Organisation betreffen die Bereitstellung der Ressourcen, die Wahl von Zwecken für deren Einsatz, die Rangordnung der Zwecke im Kollisionsfall und die Veranlassung, Ordnung, Anleitung und Überwachung des Einsatzes der Ressourcen für die ausgewählten Zwecke, kurz: die Bestimmung darüber, welchen Zwecken und wie diesen Zwecken der Einsatz der Ressourcen dienen soll. Diese Bestimmung bezeichne ich als den Staatswillen. Dabei ist nicht an ein Wollen im psychologischen Sinn zu denken, als ob der Staat anthropomorph als großer Mensch (wie bei Platon) gedacht werden sollte, sondern es handelt sich nur um einen der Knappheit und Anschaulichkeit halber gewählten Kunstausdruck für einen Normenkomplex. Der Staatswille kann sich beständig wandeln, entweder durch geänderte Zweckwahl oder durch andere Art des Einsatzes der Ressourcen; die Regeln, nach denen er gebildet wird, ändern sich deswegen nicht. Das System dieser Regeln ist die Verfassung 470 Einen Versuch in dieser Richtung habe ich gemacht: Die Legitimierbarkeit von Macht, in: Zur Legitimierbarkeit von Macht, hg. v. Hans Jürgen Wendel und Steffen Kluck, Freiburg i. Br./München 2008, S. 5–19.

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des Staates. Sie ist streng genommen der Staat selbst als Organisation, gleichsam der nackte Staat, abzüglich des Staatsbetriebs, d. h. aller Inszenierungen dieser Institution. Genau besehen entsteht mit jeder Änderung der Verfassung ein neuer Staat, aber solche Pedanterie wäre wirklichkeitsfremd wegen der Kontinuität des Staatsbetriebs, der sich mit relativ beharrlichen zuständlichen Situationen durch eine Folge von aktuellen Situationen, Sachverhalte, Programme und Probleme verdauend oder vor sich herschiebend, unablässig weiterfrisst. Nur bei einem radikalen Wechsel der Verfassung wird man von einem neuen Staat sprechen, wie etwa in Frankreich von der inzwischen vierten Republik. Von der Realverfassung, die ich besprochen habe, unterscheidet sich meist gründlich die Nominalverfassung, der geschriebene und in Paragraphen geteilte Gesetzestext, der als die Verfassung eines Staates ausgegeben wird. Auf diese Nominalverfassung kommt es hier nicht an, außer zum Vergleich mit der wirklichen Verfassung. Von der Bildung des Staatswillens unterscheidet sich die Ausführung des gebildeten Staatswillens. Dieser Unterschied bestimmt die Einteilung des Staatsvolkes in zwei Klassen. Zum aktiven Staatsvolk gehören alle seine an der Bildung des Staatswillens beteiligten Angehörigen, zum passiven Staatsvolk die an der Ausführung Beteiligten. Die meisten Mitglieder des aktiven Staatsvolks werden fast immer auch dem passiven angehören, doch ist dieser Zusammenhang nicht notwendig. Die moderne (nicht die antike) Demokratie sucht möglichst viele Angehörige des passiven Staatsvolks in das aktive aufzunehmen; eine vollständige Kongruenz beider Gruppen ist aber nicht zu erwarten. Jede Verfassung muss dem Staat die finale Unspezialisiertheit, d. h. ein Spektrum möglicher Zwecke, aus dem gewählt werden kann, garantieren, nicht aber ein unbeschränktes Aufgabengebiet. Um ein extremes Beispiel zu konstruieren: Ein Staat, dessen Aufgabenbereich auf das Bildungswesen beschränkt ist, kann sich immer noch die Schifffahrt zum Staatszweck wählen, gemäß dem Spruch des Pompeius 471 , und seine Ressourcen für diesen Zweck einsetzen, indem er in allen Bildungsanstalten den Zöglingen den überragenden Wert des Fahrens zur See einschärft. Auf dieser Unterscheidung eines eingeschränkten Aufgabenbereiches von einem breiteren Spektrum für die Zweckwahl 471 vivere necesse non est, navigare necesse, zu Deutsch: »Seefahrt ist not« (Titel eines einst populären Romans von Gorch Fock)

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beruht die Möglichkeit von Gliedstaaten in einem Bundesstaat: Der Gesamtstaat teilt sich in den Bundesstaat und die Gliedstaaten, und das sind alles echte Staaten, die den Aufgabenbereich des Gesamtstaates unter sich verteilen, ohne dadurch final spezialisiert zu werden. Die finale Unspezialisiertheit bringt den Staat in die Gefahr eines launischen Zickzackkurses, ohne roten Faden des Zusammenhangs bald diesen, bald jenen Zweck auszuwählen und durch einen solchen Wirrwarr seine Ressourcen zu verschwenden. Eine gute, für zielstrebig gewonnene Erfolge des Staatsbetriebs günstige Verfassung muss daher in erster Linie dafür geeignet sein, diese Entgleisung zu verhindern. Mit merkwürdiger Konsequenz lässt sich die Geschichte der Verfassungen in Europa als Reifungsgeschichte typischer Lösungen nachzeichnen, die sich von Epoche zu Epoche an einander reihen und einer besseren Lösung der Aufgabe zustreben, bis die optimale Form tatsächlich gefunden wird. Diese Reifungsgeschichte der Verfassungen, und besonders die Endstation in ihrer Eigenart und besonderen Eignung, ist in der Staatstheorie und Verfassungslehre, aber auch in der öffentlichen Meinung und im Staatsbetrieb, merkwürdig verkannt worden; ich habe sie zuerst 1973 dargestellt 472 und will jetzt mit einigen Modifikationen und Erweiterungen darauf zurückkommen. 3.3.2.2 Der antike (imperiale) Staat Herodot kleidet anlässlich des Übergangs der Regierung von Kambyses auf Dareios die Verfassungsdiskussion der Sophistenzeit in ein erdachtes Gespräch persischer Großer über die Wahl der besten Regierungsform. Otanes spricht gegen die Monarchie, Megabyzos gegen die Demokratie, die Herrschaft der breiten Masse. Beide bringen ganz ähnliche Einwände vor: Der Monarch darf ohne jede Kontrolle tun, was er will, und fällt dabei dem Übermut (der Hybris) und der Missgunst zum Opfer. Nichts aber ist übermütiger als die törichte Masse; sie bringt zum Übermut des Tyrannen die Besinnungslosigkeit hinzu und stößt die Umstände, auf die sie trifft, wie ein Hochwasser führender Strom ohne Verstand voran. 473 Die Licht- und die Schattenseite des antiken Staates sind in diesen Warnungen zusammengeschaut: Die finale Unspezialisiertheit als das Kennzeichen des Staates ist entdeckt, 472 473

Rechtsraum (s. o. Anm. 37) S. 325–377 Herodot, Historien, II 80, 2 und 81, 1 f.

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aber nur so, dass jederzeit alles möglich ist, weil Wollen und Tun zusammenfallen, ohne Unterscheidung zwischen der Wahl des Zweckes und der zu seiner Ausführung dienlichen Mittel, ohne sorgfältige Prüfung, ja ohne gedankliche Unterscheidung beider Wahlen. Gedacht, getan! Die Staatstätigkeit wird zum Spiel der Laune. Das Musterbeispiel solcher Überstürzung ist die sizilische Expedition, die den bis dahin überlegenen Athenern schließlich die Katastrophe am Ende des peloponesischen Krieges einbrachte. Fasziniert von der Aussicht auf umfangreiche Eroberungen im Westen stürzten sie sich in das Abenteuer, ohne Besinnung auf dessen Zweckmäßigkeit für schon gesetzte Staatszwecke, und statt nun alle Kräfte auf dieses neue Ziel zu konzentrieren, ließen sie sich durch andere Interessen ablenken. 474 Rund ein Jahrzehnt zuvor lässt Thukydides den Perikles in dessen Leichenrede, die ein Porträt der idealen demokratischen Gesinnung Athens zeichnet, der besonnenen, mit Wagemut verbundenen Planung und Diskussionsfreudigkeit der Athener ein viel günstigeres Zeugnis ausstellen, ihn aber auch nicht auf die Idee kommen, die Besinnung auf das Setzen von Zwecken der Staatstätigkeit von der Besinnung auf die Wahl der Mittel zu unterscheiden.475 Nur beim späten Platon, und nur für die ursprüngliche Einrichtung des Staates, werden einmal beide Fragen neben einander gestellt: »Was will ich? Kommt mir das auch zu Stande oder verfehle ich das Ziel?« 476 Ohne Vorrang längerfristig gesetzter Ziele kann die Macht dem jeweiligen Machthaber jederzeit für jeden Zweck dienen; deswegen wird sie politischen Strebern so über alle Maßen begehrenswert, dass Solon, der sie freiwillig aus der Hand gelegt hat, sich den Vorwurf flacher Unvernunft mit der Begründung anhören muss: »Wenn ich nur einen Tag lang als Tyrann über Athen herrschen dürfte, würde ich hinterher mich schinden und mein ganzes Geschlecht ausrotten lassen.« 477 Das Gemeinwohl (die Eunomie) besteht für den Machthaber dann darin, das Interesse seiner selbst, seiner Partei (Adel oder gemeines Volk), seiner Freunde durchzusetzen und die anderen zu unterdrücken. 478 Die römische Republik konnte solches launisches Schwanken lange durch konservative Gebundenheit des Gemeinsinns Thukydides, Historien, II 65, 10 f. Ebd. II 40, 2 f. 476 Nomoi 744a 477 Anthologia lyrica graeca ed. Diehl et Beutler vol. I S. 41 f. (Solon fr. 23) 478 Pseudo-Xenophon, Verfassung der Athener, I 9; vgl. Xenophon, Memorabilien III 6 (Gespräch des Sokrates mit dem jungen Glaukon) 474 475

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und Lebensgefühls abfangen; später aber wurde die Regierung der erschlafften Vornehmen zum Spielball heimischer Interessengruppen (Factionen), und die Optimaten, die einst für Festigkeit des Staates gesorgt hatten, ließen sich von Begierden betriebsam, aber haltlos hierund dorthin treiben, mit Gunst oder Feindschaft der gerade dominierenden Patrone (oder »Warlords«) als Maßstab für das öffentliche Wohl und Wehe. 479 Die Tragik des antiken Staates besteht darin, dass in ihm zwar schon die Freiheit, zu eigens gewählten Zielen aufzubrechen, institutionell verankert war, aber noch nicht das aus dieser Freiheit hervorgehende Doppelgesicht der Verantwortung, einerseits für diese Wahl, andererseits für die Ausführung. Die Vermengung beider Aufgaben lud zu Launen der Beliebigkeit ein, weil bei jeder Planung einer ausführenden Handlung auch das Ganze des Programms auf dem Spiel stand. Daraus entsprangen ebenso die demokratischen Exzesse der Athener wie die Karikaturen römischen Caesarenwahns. Immerhin haben die Römer besser als die Griechen mit dieser Gefahr umgehen können, weil es ihnen gelang, die Figur der ganzheitlichen politischen Kompetenz, die den final unspezialisierten Staatswillen über die Spezialisierung auf festgelegte Aufgaben erhebt, in der Organisation ihres Gemeinwesens als das imperium abgehoben auszuprägen und dadurch in gewissem Maß beherrschbar zu machen. »Das imperium der Konsuln wie ihre Zuständigkeit zu seiner tatsächlichen Ausübung ist dem Umfange nach unbestimmt und umfasst alles, wovon sie nicht besonders ausgeschlossen sind.« 480 Bis ins Einzelne verfolgt Franz Leifer diese »Einheit der römischen Gewaltidee« und deren Unvereinbarkeit schon mit der Montesquieus Gewaltenteilung vorzeichnenden Unterscheidung der Staatsfunktionen durch Aristoteles. 481 Die potestas, zunächst Macht als politische Zuständigkeit überhaupt, wird mehr und mehr zum Titel für die gegen das imperium abgegrenzten speziellen Kompetenzen. 482 Der Gefahr einer Ausbeutung der umfassenden ZuSallust, Briefe an den Greis Caesar II 10,8–11,1 Heinrich Siber, Römisches Verfassungsrecht in geschichtlicher Entwicklung, Lahr 1952, S. 92 481 Franz Leifer, Die Einheit des Gewaltgedankens im römischen Staatsrecht, Leipzig 1914, S. 12 und 148 482 Theodor Mommsen, Römisches Staatsrecht, Band I, 3. Auflage Leipzig 1887, Nachdruck Basel/Stuttgart 1963, S. 22–24. Über die Abgrenzung der spezialisierten potestates gegen das imperium unterrichtet Leifer a. a. O., und zwar hinsichtlich der Zensoren 479 480

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ständigkeit haben die Römer der Republik bekanntlich durch die Kollegialität der Konsuln und die Interzessionsrechte der Volkstribunen zu steuern gesucht. Im Kaiserreich entfallen diese Sicherungen, aber zum Schein gegen den Verdacht despotischer Königsherrschaft setzt Augustus die in der Tat umfassende Zuständigkeit des Princeps aus den Kompetenzen einzelner Ämter, darunter imperium und Volkstribunat, zusammen. Wie dominant dabei die »Einheit der römischen Gewaltidee« bleibt, zeigt sich an einer von Tacitus psychologisch fein ausgemalten Szene. Er lässt den zum Kaiser berufenen Tiberius dem Senat den Wunsch vortragen, nicht die gesamten Staatsgeschäfte, sondern nur einen Teil von ihnen leiten zu müssen; ein Senator, der so unvorsichtig ist, diese zur Schau getragene Bescheidenheit ernst zu nehmen, und nach dem gewünschten Teil zu fragen, erntet einen ungnädigen Blick und salviert sich sofort durch die Versicherung, er habe mit seiner Frage bloß an den Tag bringen wollen, »dass der Körper der öffentlichen Angelegenheiten einer sei und bloß durch eines Mannes Sinn geleitet werden könne«, aber nicht vorgehabt, unzertrennliche Staatsaufgaben zu zerlegen. 483 3.3.2.3 Der Staat des Mittelalters Der antike Staat verfügte über die spezifische Staatlichkeit sowohl in Gestalt einer über die final spezialisierten Institutionen hinausgehobenen ganzheitlichen Kompetenz als auch durch finale Unspezifiziertheit. In beiden Hinsichten tritt das Mittelalter von der Staatlichkeit zurück. Aus dem Zerfall seiner Macht im frühen Lebenswesen erhebt sich das Königtum als staatsähnliche Zentralgewalt mit Deutung ihrer Kompetenz als Regalienbündel. 484 Ein unübersichtliches Bündel spezialisierter Einzelbefugnisse des Königs, genannt »Regalien«, tritt an die Stelle des antiken imperium. Das Altertum denkt im Verfassungsleben ganzheitlich, das Mittelalter summativ, mosaikartig. Gleichwohl S. 224–239, der Unterbeamten zusammenfassend S. 279–284, der Quaestoren S. 262– 266 und 270–274, dazu S. 266 und 300 über die Stellung der plebischen und kurulischen Ädile. 483 Annalen I 12 484 Ernst Kern, Moderner Staat und Staatsbegriff, Hamburg 1949, S. 65: »Das unpersönliche, flächenhaft wirkende Regalienrecht verdrängt die von Person zu Person wirkende Lebensrechtsordnung und bildet sie inhaltlich um.« Über das Regalienwesen informiert umfassend: Peter Badura, Das Verwaltungsmonopol, Berlin 1963, S. 39–57

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halte ich es für erlaubt, in sehr reduziertem Sinn vom Staat des Mittelalters zu sprechen, auch abgesehen von so halbmodernen Sonderbildungen wie dem Normannenstaat in Unteritalien und Sizilien. Die Fähigkeit zur freien Zweckwahl für in ihrem Land ihnen verfügbare Ressourcen ist den mittelalterlichen Königen kaum je ganz abhanden gekommen. Ich erinnere an die deutschen Sachsenkönige des 10. und 11. Jahrhunderts. Heinrich I. blieb gegen den Ruf nach Italien dem Norden und Osten treu, Otto I. folgte dem Ruf und nahm in Rom die Kaiserkrone an, Otto II. setzte diesen Weg fort und erlitt eine empfindliche Schlappe, worauf Otto III. mit exotischer Einleitung einer Erneuerung des römischen Imperiums der Kaiseridee phantastischen Glanz gab; schließlich pflegte Heinrich II. wieder die deutsche Heimat mit spiritueller Frömmigkeit, besonders in Bamberg. Sicherlich handelten diese Herrscher mehr oder weniger unter dem Druck politischmilitärischer Gegebenheiten, aber ihre persönliche Option war ebenso an der Ausrichtung ihres Regierungshandelns beteiligt. Auf der Grundlage des Regalienwesens entwickelte sich im späten Mittelalter der dualistische Ständestaat: »Einem Büschel von Hoheitsrechten, den sog. iura regalia, standen diejenigen Rechte gegenüber, bei deren Ausübung der Fürst an die Mitwirkung der Stände gebunden war.« 485 Mit Misstrauen und Eifersucht bewacht jeder Partner dieser staatsähnlichen Verbindung den anderen gegen die Versuchung, das buntscheckige Aggregat eigener Kompetenzen zu generalisieren und damit der säuberlichen Aufteilung gefährlich zu werden. Auf der anderen Seite steht der Entfaltung eines final nicht spezialisierten Staates im Mittelalter ein weiteres Hindernis entgegen: die Einbindung der weltlichen Gewalt in die geistliche, die final auf Gottesdienst und Seelenheil spezialisiert ist. Damit hängt ein Gewinn zusammen, der den politischen Organisationen der Folgezeit zugute gekommen ist: Indem das Interesse an freier Zweckwahl schwindet, wächst das Bedürfnis einer eigenständigen finalen Inspiration des Staates, einer Instanz, die für Bestimmung und Überwachung des Zweckes beim Einsatz gebündelter Kräfte gemeinsamen Handelns zuständig ist. Nur so konnte die gefährliche Launenhaftigkeit des antiken Staates überwunden werden. Den Anfang mit dem Anspruch der Kirche als finaler Inspirationsquelle des Staates macht im 4. Jahrhundert Ambro485 Wulf Damkowski, Die Entstehung des Verwaltungsbegriffes, Köln/Berlin/Bonn/ München 1969, S. 20

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sius. 486 Die klassische, über Jahrhunderte wirksame Formulierung dieses Anspruchs findet im letzten Jahrzehnt des 5. Jahrhunderts Papst Gelasius, indem er dem Kaiser schreibt: »Zwei Dinge sind es ja, erhabener Kaiser, von denen die Welt in erster Linie regiert wird: die geheiligte Autorität der Priester und die königliche Gewalt (auctoritas sacrata pontificum et regalis potestas). Von diesen beiden ist das Gewicht der Priester um so schwerer, als sie auch für dieselben Könige der Menschen im jüngsten Gericht Rechenschaft abzulegen haben werden.« 487 Die Anrede »Sohn«, mit der Gelasius im nächsten Satz fortfährt, wird später gern wieder vom Papst zur Bestimmung der Stellung des Kaisers zu ihm herangezogen 488 und bezeichnet die überragende Reife, Weisheit und Würde, die die kirchliche Autorität der weltlichen Verfügungsgewalt gegenüber zur finalen Inspiration beruft. Die Gelasius-Sentenz wird bis zum Investiturstreit im späten 11. Jahrhundert von geistlicher und weltlicher Seite gern verwendet 489 , noch zur Zeit Rudolfs von Habsburg 490 , beherrscht aber nicht die politische Ideologie während des ganzen Mittelalters. Die abgewogene Gegenüberstellung wird bald schon zum bloßen Nebeneinander vergröbert. 491 Eine Unterströmung, die sich vom Ambrosiaster (4. Jahrhundert) bis zum Anonymus von York (Zeit des Investiturstreits) zieht, erhebt den König als Ebenbild Gottes über die Priester. Seit dem Investiturstreit zerstört der geistliche Machtanspruch, der die Unterwerfung aller Menschen unter den Papst an der Spitze der als Universalstaat verstandenen Kirche verlangt, die gelasiamische Ausgewogenheit. Dagegen erhebt sich im Kreis um Philipp den Schönen im Streit mit Bonifaz VIII. in Frankreich Protest mit der These, dass der Staatszweck auch ohne christliche Leitung erreicht werden könne (Jean Quidort). 492 Ohne ausdrückliche Anknüpfung kehrt die katholische Auffassung bei Bellarmin und Suarez im 16. Jahrhundert mit der Be486 Johannes Straub, Vom Herrscherideal der Spätantike, Stuttgart 1939, Nachdruck Darmstadt 1964, S. 139 f. 487 Lotte Knabe, Die gelasianische Zweigewaltentheorie bis zum Ende des Investiturstreits, Berlin 1936, lateinischer Text dort S. 12 488 Ernst Bernheim, Mittelalterliche Zeitanschauungen, Teil 1, Tübingen 1918, S. 159 489 Knabe, wie Anm. 499, S. 39, 51, 55, 77, 79, 83, 88, 111, 128, 130 490 Heinrich Fichtenau, Arenga, Graz/Köln 1957, S. 168 491 Knabe S. 45 f., 64–66, 71, 76, 78, 89 492 Richard Scholz, Die Publizistik zur Zeit Philipps des Schönen und Bonifaz’ VIII., Stuttgart 1903, S. 325

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schränkung der geistlichen Gewalt über die weltliche auf eine potestas inderecta zu Gelasius zurück. Trotz dieser bewegten Geschichte darf die Gelasius-Sentenz als die klassische Formulierung des Anspruchs gelten, womit die mittelalterliche Kirche die weltliche Gewalt – das Residuum der Staatlichkeit im Mittelalter – zur gründlichen Besinnung auf den Zweck ihres Einsatzes schon vor Wahl der zweckmäßigen Mittel erzogen hat. Unter geistlichem Einfluss wird die Verkündung von Regierungsprogrammen zur regelmäßigen Übung, z. B. in den Liturgien der Krönungsordnungen und in Vorsprüchen von Urkunden, wo deutsche Könige als Stellvertreter Gottes zu Schutz, Regierung und Wohlergehen der Kirche berufen werden 493 , während die französische Krönungsordnung dem König noch weit abhängigere Rücksicht auf die Interessen der Kirche als erstes Regierungsziel auferlegt. 494 Solche religiöse Staatsgesinnung ist in der Verfassungsgeschichte nicht durch ihren Inhalt wichtig, sondern durch den Nachdruck, mit dem sich die Besinnung auf Zwecke als tragende Grundschicht in das politische Wollen eingrub. Um diese Errungenschaft für den Staat im Vollsinn fruchtbar zu machen, musste aber erst einmal die enge Schienung des Staatswillens abgeworfen und diesem der Spielraum für wechselbare Zwecke breit geöffnet werden. Wie dies gelang, wird in den beiden folgenden Unterkapiteln besprochen. 3.3.2.4 Souveränität und Gewaltenteilung Im Jahre 1538 veröffentlichte Grassaille »ein bedeutsames Buch über die französischen Regalien, in dem er zwanzig allgemeine Rechte des Königs aufzählt, zu denen noch zwanzig andere, spezielle gegenüber der Kirche hinzutreten. Ihnen zufolge ist er der erste König der Welt, der weder rechtlich noch faktisch irgendeinen Höheren in weltlichen Dingen anerkennt, auch nicht den Papst. Er ist ›imperator et monarcha in suo regno‹, er ist höchster Richter, der alle anderen Gerichte vernichten kann, er übt allein eine Reihe besonders aufgezählter Rechte aus, ja 493 Percy Ernst Schramm, Die Krönung in Deutschland bis zum Beginn des salischen Hauses (1028), in: Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte Band 55 (Kanonistische Abteilung Band 24), Weimar 1935, S. 221, 270, 272, 312, 320; Fichtenau, wie Anm. 490, S. 77, vgl. 79 und 81 494 Ludwig Buisson, König Ludwig IX., der Heilige, und das Recht, Freiburg i. Br. 1954, S. 6

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›rex Franciae est in regno tanquam quidam corporalis Deus‹.« 495 Bodin, der 1589 als seither anerkannter Protagonist des Souveränitätsgedankens hervortritt, entwickelt gleichfalls, weitschweifig und wenig systematisch, eine buntscheckige Liste einzelner Rechte des Souveräns 496 ; seine Neuerung besteht bloß darin, diese Rechte als »vrayes marques de Souveraineté 497 auszugeben und in Zusammenhang damit gegen den trügenden Anschein von Souveränität, den die zerstreute Unendlichkeit der partikulären Regalien mit sich bringe, zu polemisieren. Der Souveränität schreibt er Grenzenlosigkeit nicht bloß der Zeit und Macht, sondern auch der Aufgaben (charges) zu. 498 Die Zerlegung des Herrenrechts in Regalien, die der König gegen die Stände verteidigen musste, ist der ganzheitlichen Perspektive des antiken imperium gewichen. Le Bret macht diesen Perspektivwechsel deutlich, indem er dem König die Vollmacht zu einsamen Entscheidungen über Gesetze und Verordnungen mit der Begründung zuspricht, die Souveränität sei unteilbar wie ein geometrischer Punkt. 499 Er definiert die Souveränität als »eine höchste, einem Einzigen übertragene Macht, die ihm das Recht gibt, losgelöst (von einschränkenden Bedingungen, H. S.) zu befehlen und die kein Ziel hat als die Ruhe und den öffentlichen Nutzen.« 500 Diese Abgelöstheit (Absolutheit) betont auch Bodin mit seiner Definition der Souveränität als »abgelöste und unablässige Macht eines Staates« 501 , die – vielleicht aus Ungeschick – so klingt, als wolle er dem Staat, nicht dem Fürsten diese Macht beilegen, von ihm aber als Argument für die Monarchie 502 verstanden wird. Die neuzeitliche Souveränität stellt das antike imperium wieder her, ist aber anders konzipiert. In beiden Fällen geht es um eine unbeschränkte Staatsgewalt. Das imperium genügt diesem Anspruch durch Vermutung der Zuständigkeit für alles, wovon es nicht eigens ausGeorg Jellinek, Allgemeine Staatslehre, 3./4. Auflage, Berlin 1922, S. 452 Jean Bodin, Les six livres de la republique, Paris 1583, Facsimilenachdruck Aalen 1961, S. 221, 224, 228, 231, 236, 242, 244, 249 497 S. 211, Überschrift von Buch I Kapitel X 498 Ebd. S. 124 499 Rudolf von Albertini, Das politische Denken in Frankreich zur Zeit Richelieus, Marburg 1951, S. 40, vgl. (wie Anm. 480 S. 78) über das römische Imperium: »Das Imperium duldet als Fähigkeit zu wirksamen Staatshandlungen keine Teilung.« 500 v. Albertini ebd.: »une suprême puissance deferée à un seul, qui lui donne le droit de commander absolument et qui n’a pour but que le repos et l’utilité publique.« 501 Wie Anm. 496 S. 121: »puissance absolue et perpetuelle d’une republique« 502 Ebd. S. 961 f. 495 496

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geschlossen ist, die Souveränität durch Unabhängigkeit von höheren Instanzen, ihre abgelöste (absolute) Stellung. Wie die Vorgeschichte (3.3.2.3) zeigt 503 , geht diese Verschiebung auf die Dazwischenkunft einer final inspirierenden Autorität, der Kirche, zurück, von der sich der Staat zu emanzipieren, gleichsam freizuschwimmen, sucht. Dadurch kommt es zu dem Pathos der Unabhängigkeit, das die neuzeitliche Souveränitätsidee auszeichnet, und zur Usupation einer religiösen Weihe, die den Königen Gelegenheit gibt, als Bilder Gottes, ja geradezu als Götter 504 wie schon nach Grassaille495 den kirchlichen Überlegenheitsanspruch mit dessen eigenen Waffen zu schlagen. Die Emanzipation von überlegener finaler (zweck-betreffender) Inspiration ist die eine Triebfeder des Dranges zur Souveränität, die andere ist die Abarbeitung des dualistischen Ständestaates durch Einschmelzung des Haufens ausgestreuter Regalien in ein ganzheitliches imperium, und beide Motive zusammen laufen auf die volle Staatlichkeit als Fähigkeit freier Zweckbestimmung für einsatzbereit gespeicherte gemeinsame Ressourcen einer Menschengruppe hinaus, ohne dass dieses Ziel einem der Akteure und Theoretiker damals bewusst gewesen wäre. Die Souveränität besteht in zwei Merkmalen, die der Zentrale des Staates zugeschrieben werden: erstens der Unabhängigkeit und zweitens einer Kommandogewalt wie der eines Oberbefehlshabers, der in seinem Heer unbeschränkte Weisungsbefugnis besitzt. Die Spaltung dieses Paares und das Überleben des ersten Merkmals auf Kosten des zweiten ermöglicht nach dem Ende des fürstlichen Absolutismus den Fortbestand der Souveränität durch Übergang vom Fürsten auf den Staat. Bei der Staatssouveränität, die schon im 17. Jahrhundert neben die Souveränität der Fürsten gestellt wird 505 , handelt es sich nicht mehr um eine Rollenbestimmung innerhalb der Verfassung, sondern nur noch um die Unabhängigkeit, aber diese wird bis in unerreichbare Höhen gesteigert, so wenn Treitschke die Souveränität, »das Kriterium für die Natur des Staates«, ausgibt als die »vollständige Unabhängigkeit des Staates von jeder anderen Gewalt auf Erden.« 506 Ein Versuch, die Souveränität als Rollenbestimmung in die Verfassung zurückzu503 Vgl. Helmut Quaritsch, Staat und Souveränität, Frankfurt a. M. 1970, S. 249–251: Zur Vorgeschichte des Begriffs »Souveränität« 504 v. Albertini, wie Anm. 499. 30–33 505 Vgl. Rechtsraum S. 346 506 Heinrich von Treitschke, Politik. Vorlesungen, gehalten an der Universität zu Berlin, hg. v. M. Cornicelius, Band 1, 4. Auflage, Leipzig 1918, S. 35

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holen, war die Einführung der Rede von Volkssouveränität in der revolutionären französischen Verfassung von 1793: »Die Souveränität hat ihren Sitz im Volk; sie ist eins und unteilbar, keiner Vorschrift unterwerfbar und unveräußerlich.« 507 »Volkssouveränität« ist seither Schlachtruf der modernen Demokratien, mit einer entsprechenden Formulierung auch in die deutschen demokratischen Verfassungstexte eingegangen. Ernst genommen, würde dieses Schlagwort besagen, dass das Volk eine unabhängige, alle Staatstätigkeiten durchgreifende Befehlsgewalt hätte, wie in der attischen Demokratie nach dem Tod des Perikles. Sie wurde damals von der Volksversammlung ausgeübt und wäre heute in viel größerem Umfang elektronisch realisierbar. Volkssouveränität wäre der permanente Ausnahmezustand. Jeder Impuls, der die Zustimmung der Mehrheit fände, wäre ein unwidersprechlicher Gesetzesbefehl für alles staatliche Handeln und Unterlassen. »Souverän ist, wer über den Ausnahmezustand entscheidet.« Diese geniale Formulierung von Carl Schmitt 508 mag für eine elitäre Staatsspitze gedacht sein, passt aber auch auf das Volk als Souverän. Wer über den Ausnahmezustand verfügt, kann von allen Regeln, die zur Verfassung gehören, Ausnahmen machen, wenn auch nicht alle auf einen Schlag annullieren, weil er dann keine Verfassung und keinen Staat mehr hätte. So etwas ist mit dem demokratischen Schlagwort »Volkssouveränität« nicht gemeint; es hat einen ganz verschwommenen, dehnbaren Sinn, der vom unverzehrten Kapital des Prestiges eines absolutistischen Schlüsselwortes Zinsen bringen soll. Souveränität ist ein epochales Prinzip, das zu seiner Zeit einem politischen Bedürfnis entsprach, heute aber keine Funktion mehr hat und gewandelten Bestrebungen als Deckmantel des Auftrumpfens dient. Diese Inkongruenz hat schon 1889 Hugo Preuß mit dem spöttischen Vergleich getroffen: »Ebenso wenig, wie man den absoluten Staat auf dem Prinzip der Feudalität, der Lehnstreue theoretisch aufbauen kann, kann man von dem Souveränitätsbegriffe aus zur Theorie eines modernen Staatswesens gelangen.« 509 Die Souveränität, in Bedrängnis des öffentlichen und privaten 507 Constitution de la République Française, Déclaration des droits de l’homme et du citoyen Nr. 25 (Fritz Hartung, Die Entwicklung der Menschen- und Bürgerrechte von 1776 bis zur Gegenwart, 3. Auflage Göttingen/Berlin/Frankfurt 1964, S. 50) 508 Politische Theologie, München/Leipzig 1922. 2. Auflage 1934, S. 11 509 Hugo Preuß, Gemeinde, Staat, Reich als Gebietskörperschaften, Berlin 1889, S. 93

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Lebens zwischen Staats- und Religionskriegen, Räubern und Wegelagerern als Beistand eines Gewaltmonopols im Geiste Max Webers470 zur Hilfe gerufen, wurde bald zur drückenden Last, die Le Vassor 1689 mit dem Seufzer beklagte: »Der König hat den Platz des Staates eingenommen, es gilt nur noch sein Interesse und der Dienst an ihm. (…) Der König ist alles, der Staat nichts mehr.« 510 Danach entsteht aus dem Bedarf nach einer Kontrollinstanz, die dem Despotismus in die Zügel fallen soll, die Idee der Aufteilung der Staatsgewalt in verschiedenen Säulen. Schon im Anfang des 17. Jahrhunderts dringt Henning Arnisaeus gegen das Souveränitätsprinzip von einer noch im mittelalterlichen Sinn als Bündel von Regalien verstandenen Staatsgewalt (maiestas) zur Konzeption einer Gewaltenteilung vor, bei der verschiedene Organe des Staates einzelne Kompetenzen »ohne Kontrolle und zu eigenem Recht besitzen.« 511 Der erste Vorstoß in modernem Geist in diese Richtung ist Harringtons Utopie The Commonwealth of Oceana (1665). Später haben Locke und Montesquieu ihre berühmten Vorschläge zur Verteilung verschiedener staatlicher Kompetenzen auf entsprechend verschiedene Rollenträger gemacht, und besonders Montesquieus (sehr schillernder) Vorschlag einer Einteilung in Gesetzgebung, ausführende Verwaltung und Justiz hat kanonisches Ansehen gewonnen und weltweiten Einfluss ausgeübt, in Deutschland bis zu Artikel 20 des Grundgesetzes und der anschließenden Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts. Das ist verblüffend, da dieser Einteilung die formale Inkonsequenz und materiale Unzulänglichkeit an die Stirn geschrieben steht. Formal inkonsequent ist die Koordinierung zweier auf beliebige Aufgabengebiete erstreckter Funktionen (Gesetzgebung, Verwaltung) mit einem Spezialgebiet (Rechtsprechung). Als material unzulänglich besonders auffallend ist das Fehlen jeder Berücksichtigung der zentralen Regierungsaufgabe, dem Staatsbetrieb Zwecke zu setzen. Was soll eigentlich erreicht werden? Wenn sich das von selbst verstünde, brauchte kein Arm der staatlichen Organisation mit der Antwort betraut zu werden. Das wäre der Fall, wenn entweder alles Gute und Wünschenswerte en bloc mit Aussicht auf Erfolg angestrebt werden könnte, ebenso, wenn dem Staat nur minimale Leistungen abzugewin510 Martin Göhring, Weg und Sieg der modernen Staatsidee in Frankreich, Tübingen 1946, S. 120, nach Le Vassor, Seufzer des versklavten Frankreich, 1689 511 Horst Dreitzel, Protestantischer Aristotelismus und absoluter Staat, Wiesbaden 1970, S. 242 f.

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nen wären, so dass man über verheißungsvolle Aussichten nicht nachzudenken brauchte. Andernfalls muss aber unter den Staatsgewalten doch mindestens eine sein, die über die Akzente in der variabel wählbaren Zielsetzung des Staatsbetriebs befindet. Ein solcher Gedanke ist Montesquieu anscheinend nie gekommen, auch nicht seinen Nachtretern. Vom Fehlen solcher Reflexion zeugt auch Montesquieus vollkommen statischer Gesetzesbegriff. Er bestimmt Gesetze als die notwendigen Beziehungen, die aus der Natur der Dinge stammen 512 , als Naturgesetze; das ist mit Gesetzgebung offenbar unverträglich. Da Montesquieu trotzdem von Gesetzgebung spricht, bleibt offen, was er darunter versteht. Das Verhältnis von Erlass und Ausführung der Gesetze hat, anders als das in den deutschen Verfassungen von 1919 und 1949 angesprochene zwischen Richtlinien der Politik und deren Ausführung, mit dem Verhältnis zwischen Zwecksetzung und Ausführung der gesetzten Zwecke nichts zu tun. Ebenso wenig fügt es sich in die gern dafür herangezogene Unterscheidung zwischen abstrakt-allgemeinen und auf alle Einzelfälle bezüglichen Bestimmungen. Alle staatlichen Entscheidungen beziehen sich auf Einzelfälle, fragt sich nur, auf wie viele jeweils. Eine quantitative Grenze (vielleicht bei 100 000) zu ziehen, jenseits deren die Bestimmung ein Gesetz wäre, ist völlig aussichtslos, da, was als Einzelfall gilt, beliebig verfeinert werden kann. Jede Regelung des Verkehrs auf einer bestimmten Straße ist genau so abstrakt und allgemein wie ein Gesetz zur Bestrafung des Diebstahls, denn beide Bestimmungen regeln unzählig viele Einzelfälle in einem bestimmten geographischen Gebiet, einmal auf dieser Straße, im anderen Fall z. B. in Deutschland. Auch keine andere Bestimmung des Gesetzesbegriffes liefert einen klaren und brauchbaren Maßstab. Der Unterschied zwischen Gesetzgebung und Ausführung der Gesetze ist völlig fadenscheinig und verrät nichts darüber, in welcher Richtung der Staatsbetrieb arbeiten soll. Souveränität und Gewaltenteilung sind seit ihrer Prägung in der frühen Neuzeit die wichtigsten Motive bei der Diskussion und Formulierung von Nominalverfassungen geblieben, obwohl sie sich im realen Geschehen der Verfassungen längst überlebt haben, da sie als passende Antworten auf die Probleme der Zeiten ihres Erstgebrauchs zugeschnitten waren und diese Zeiten vorüber sind. Beiden Motiven fehlt

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auffällig jede Anknüpfung an irgend eine Aussicht, an Zwecke oder Ziele, auf die der Staatsbetrieb ausgerichtet werden könnte, seien sie vorgegeben oder selbst zu bestimmen. Die Gleichgültigkeit gegen vorgegebene Ziele kann mit der Emanzipation des neuzeitlichen Staates von der finalen Inspiration durch die Kirche in Zusammenhang gebracht werden; dass die Bestimmung eigener Ziele für sich eine Staatsaufgabe sein könnte, wird den Proselyten von Souveränität und Gewaltenteilung nicht bewusst. Beide Themen umschreiben einen erwünschten Zustand, nicht eine Entwicklung darüber hinaus. Bezeichnend ist dafür Le Brets Beschränkung der Ziele der Souveränität auf Ruhe und öffentlichen Nutzen.500 »Öffentlicher Nutzen«, »Gemeinwohl« ist eine Gummiphrase, die völlig außer Acht lässt, ob bloß die Ruhe im schon erreichten Zustand geschützt oder etwas Neues erreicht werden soll. Tatsächlich wird aber der moderne Staatsbetrieb weitgehend von dynamischen Tendenzen bestimmt, für die in den Leitmotiven der Verfassungsdiskussion kein Platz vorgesehen ist. Es ist aber auffällig, wie sich die im Nachdenken über Verfassungen zurückgedrängte Teleologie, die Bindung des Staates an ein Streben nach Zwecken, in der Praxis des Staatsbetriebs und der dieser Praxis zugewandten Theorie zur Zeit der Aktualität von Souveränität und Gewaltenteilung von selbst durchsetzt, gerade auf der Grundlage einer Befreiung des Staates von vorgegebenen Zielen nach Abschüttelung der kirchlichen Inspiration. Diese über Jahrhunderte sich erstreckende Entwicklung ist ein Lehrstück für den Gewinn finaler Spezialisierung aus dem eigenen Bedürfnis der finalen Unspezialisiertheit. Ich zeichne dieses Lehrstück nach, indem ich mich auf die Darstellung von Thomas Simon stütze. 513 Im Mittelalter wird der Staatsmacht in Gestalt der Fürsten die Wahrung von Friede und Gerechtigkeit im Sinne der tranquillitas ordinis nach Augustinus 514 , d. h. eines durch klare Führungsordnungen befriedeten Zustandes von Welt, Gesellschaft und Mensch, als Hauptaufgabe vorgehalten; dazu gehört die Sorge für den Schutz der Schwachen, für Rechtspflege, Religion und Sittsamkeit. Dabei bleibt es im 16. Jahrhundert nach Maßgabe der sogenannten Regimentstraktate, als nach der Reformation die Rolle der Staatszwecke inspirierenden und beaufsichtigenden Instanz von der Kirche auf die 513 Thomas Simon, »Gute Policey« Ordnungsbilder und Zielvorstellungen politischen Handelns in der frühen Neuzeit, Frankfurt a. M. 2004 514 De civitate Dei XIX 13

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Fürsten als Oberhäupter der Landeskirchen übergeht. 515 Ab einer Schwelle in der 2. Hälfte des 16. Jahrhunderts gewinnt der Staat die antike Freiheit seiner Zielsetzung zurück. Das Motiv dafür ist die in den Religionskriegen der Zeit geweckte Furcht vor Überschwemmung mit ungeordneter Gewalt durch Invasion von außen und inländische Anarchie. Zur Abwehr dieser Gefahr wird die Konzentration der Staatsmacht in einer absolut souveränen, von keiner Kontrolle abhängigen Spitze, dem Fürsten, als notwendig erachtet. Die Wahrung der tranquillitas ordinis wird auf die Rettung des formalen Friedens (pax et tranquillitas rei publicae) reduziert. 516 Dieses Ziel gibt nur noch vor, was nicht sein soll: ungeordnete Gewalt, vor der die Macht des Fürsten schützt. Was dieser darüber hinaus als Ziel setzen will, ist ihm überlassen. Der barocke Staat hat damit die finale Unspezialisiertheit zurückgewonnen, dafür aber das geregelte Verfahren zur Zwecksetzung und die entsprechende Anleitung eingebüßt. Sogar die moralische Bindung der Regierung wird im Anschluss an Tacitus 517 und Macchiavelli durchlöchert. Diese Lücke einer Anleitung des Staatswillens auf der affirmativen Seite der Zwecksetzung schließt sich im Lauf des 17. Jahrhunderts wie von selbst. Dazu kommt es wegen der Unentbehrlichkeit eines stehenden Heeres für die Erhaltung der Staatsmacht. Für dessen Unterhalt bedarf es vielen Geldes; Geld gilt als sowohl notwendig als auch zureichend für militärische Macht. 518 Auf diese Weise gewinnt der Staat in der Geldbeschaffung wieder eine affirmative Aufgabe. Das Verlangen nach Geldquellen wird zum Hauptinteresse der Staatstätigkeit. Daraus entwickelt sich in der 2. Hälfte des 17. Jahrhunderts der Reichtum zum maßgeblichen Staatsziel, aber nicht als Reichtum des einzelnen Untertanen, sondern des ganzen Staates seiner militärischen Macht halber. Im französischen Merkantilismus und der deutschen Kameralistik wird dieses Ziel formuliert; es entsteht eine politische Ökonomik. Zum 18. Jahrhundert hin verselbständigt sich die Orientierung am Reichtum zum allgemeinen Wohlfahrtsziel; mehr oder weniger emanzipiert sie sich von der Dienstbarkeit für das Militär. 519 Das ökonomische Interesse an Wohlfahrt (gute Policey) drängt

515 516 517 518 519

Simon S. 104–167 Ebd. S. 218–225 Annalen XIX 44 Simon S. 391–393 Ebd. S. 463

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sogar die Bedeutung der Justiz, des bis dahin führenden Zweckverbandes, zurück 520 ; auch Religion und Moral werden in der Kameralistik nur noch als Erziehungsmittel zu Fleiß im Dienst der Wohlfahrt wichtig genommen. 521 In der 2. Hälfte des 18. Jahrhunderts beginnt sich das Wohlfahrtsziel von der Bindung an den Gesamtstaat zur Verteilung auf die Individuen zu verlagern, verbunden mit kritischer Wendung gegen die fürstlichen Regiewirtschaften. 522 So deutet die Kameralistik vor auf den Wohlfahrtsstaat des 20. Jahrhunderts. Die Entwicklung der praktischen Politik in der frühen Neuzeit führt also anfangs zur Emanzipation des Staates von einer final inspirierenden Autorität und damit zum Verlust der Regelung eines affirmativen (nicht nur negativen, abwehrenden) Staatswillens; dann aber führt sie aus dieser Lücke, die den Staat als Macht um der Macht willen zurücklässt, eben durch das eigene Bedürfnis dieser Macht zu einer neuen Zweckbestimmung, zunächst zur Geldbeschaffung für den Unterhalt des Heeres, dann zum Reichtum um seiner selbst willen und zur Wohlfahrt als selbst gesetztem Staatsziel, das sogar Recht, Religion und Moral – die wichtigsten Themen der Staatssorge seit alters –, in den Hintergrund drängt und zu Hilfsmitteln herabsetzt. Zunächst setzt sich die finale Unspezialisiertheit des Staates durch, dann als deren Konsequenz die selbst gesetzte Spezialisierung auf ein Ziel. Dieser Prozess wird wie durch eine List der Vernunft (Hegel) automatisch gesteuert. Die schicksalhaft erfahrene Bildungsgeschichte provoziert zur Wiederholung in frei gesteuerter Aneignung. Die bisherige Ausrüstung des Staates war nicht dazu bestimmt, ihn als final unspezialisierte Zwecksetzungsorganisation zur Selbstbestimmung dessen, worauf er hinaus will, zu befähigen. Diese Fähigkeit erreicht er mit der nächsten Form der Verfassung, dem modernen Parteienstaat. 3.3.2.5 Der moderne Parteienstaat Souveränität und Gewaltenteilung nach dem Rezept von Montesquieu haben sich als Prinzipien der Verfassung längst überlebt, ohne dass die Staatstheorie davon mehr als sporadisch Notiz genommen hätte. Dafür hat sich unter der Hand eine elegantere Lösung der Aufgabe einge520 521 522

Ebd. S. 482, 487 f. Ebd. S. 489–491 Ebd. S. 531–533

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spielt, den Ertrag der Rückgewinnung der final unspezialisierten Staatlichkeit durch die Souveränitätsidee fruchtbar zu machen, ohne dem von dieser drohenden Despotismus, den Montesquieu abwehren wollte, anheimzufallen: der moderne Parteienstaat. Die Unauffälligkeit der Entstehung dieses neuen Verfassungstyps dürfte mit dem lang anhaltenden Einfluss der Kirche zusammenhängen, deren Autorität, obwohl in zunehmender Aushöhlung begriffen, die Suche nach einer im Staat etablierten Quelle finaler Inspiration vor der politischen Mittelwahl entbehrlich scheinen ließ. Das wird in England anders, seit die Puritaner des 17. Jahrhunderts aus religiösen Gründen die Forderung völliger Trennung von Staat und Kirche dringlich gemacht hatten. Die Schlüsselfigur dieses Vollbringens ist Roger Williams; außer ihm bemühten sich John Owen, Milton, Goodwin, Busher und der anonyme Verfasser des Traktats The ancient Bonds or liberty of conscience (London 1945) um säuberliche Scheidung der Aufgabenbereiche von Staat und Kirche. 523 Nach Williams gibt es keinen christlichen Staat; die Vermischung von Staat und Kirche streitet gleichermaßen gegen Staatlichkeit und Christentum, und die Übernahme religiöser Funktionen macht den Staat zum Monstrum. 524 Der Staat ist religiöser Normierung entzogen, ihm fehlt der Sinn für Religion, und Christus hat ihm keine Weisungen gegeben. 525 Er soll sich vielmehr weltlichen Aufgaben zuwenden, unter denen Williams schon sehr modern soziale, arbeitsrechtliche anführt. 526 Williams ist Calvinist mit dem Bestreben, Toleranz als Mittel für das Entkommen der Auserwählten aus dem »beklagenswerten Schiffbruch der Menschheit« durchzusetzen. 527 Mit der Scheidung von Staat und Kirche wird die Frage einer finalen Inspiration des Staates wieder dringlich; es geht darum, den Staatsbetrieb vom Abgleiten in die Launenhaftigkeit der antiken Vermengung von Zweckbestimmung und Mittelwahl abzuhalten. Die Lösung des vielleicht nicht einmal erkannten Problems ist unter der Hand, ohne das Augenmerk der Theoretiker auf sich zu ziehen, durch eine glückliche Erfindung im praktischen Staatsbetrieb gelungen. Bald 523 Michael Freund, Die Idee der Toleranz im England der großen Revolution, Halle 1927 524 Ebd. S. 245 f. 525 Ebd. S. 249 f. 526 Ebd. S. 254 527 Ebd. S. 266, 268

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nach der puritanischen Revolution bilden sich im England des 17. Jahrhunderts die politischen Parteien und beginnen, auf den Staatsbetrieb maßgeblichen Einfluss zu nehmen. Ab 1680 tritt an die Stelle des Gegensatzes zwischen dem König und der parlamentarischen Opposition der Antagonismus zweier Parteien. »Die Parteibildung der Jahre 1679/ 81 kulminierte in dem außerordentlichen Phänomen, dass alle allgemeinen Gegensätze, die die Nation spalteten, das Bedürfnis hatten, sich im Hinblick auf diese Gruppen zu orientieren; alle Unstimmigkeiten politischer, religiöser, sozialer Natur gingen in diesen Gegensatz irgendwie mit ein.« 528 Die Whigs vertraten »Prinzipien abstrakter Parteipolitik« in der »Sonderform einer Partei«, die die Tories 1689 annahmen. 529 Während sich die Whigs mit Aufwand von Schlagwörtern, Aufmärschen, Freudenfeuern, Parteisymbolen und Wahlkampflärm für religiöse Toleranz und politische Freiheit einsetzten, gebärdeten sich die Tories als »verkörperte Legalität und Loyalität«, behaupteten das göttliche Recht der Könige und die Sündhaftigkeit des Widerstandes und setzten später auf den Schlachtruf: »Kirche in Gefahr!« 530 Nachdem sich beide Parteien, diese »aus religiösen Impulsen und sozialen Voreingenommenheiten erwachsenen Gefäße politischer Willensbildung«, »allmählich zu Stützen politischer Interessen« entwickelt hatten wurde im 18. Jahrhundert der Tory-Whig-Dualismus als Gegensatz von Adam und Eva, Beharren und Fortschritt, konservativer und liberaler Gesinnung gedeutet. 531 Die erste Kaderpartei, die mit dogmatischem Programm zur totalen Machtergreifung strebte und dabei manche Züge der Einheitsparteien moderner totalitärer Systeme vorwegnahm, war der französische Jakobinerklub. 532 In Deutschland gibt es Parteien mit parlamentarischen Fraktionen seit 1848, nachdem kurz zuvor Arnold Ruge die Freigabe der Parteigegensätze in der Politik, parallel zu den schon frei ausgetragenen Gegensätzen in Wissenschaft und Kunst, gefordert hatte. 533 Sobald mehrere Parteien mit ihren Programmen für verfassungs528 Kurt Kluxen, Das Problem der politischen Opposition. Entwicklung und Wesen der englischen Zweiparteienpolitik im 18. Jahrhundert, Freiburg/München 1956, S. 42 529 Ebd. S. 42, 44 530 Ebd. S. 52, 43, 48 f., 58 531 Ebd. S. 69, 96 532 Rudolf v. Albertini, Parteiorganisation und Parteibegriff in Frankreich, in: Historische Zeitschrift 193, 1961, hier S. 538–540, 543 f. 533 Theodor Schieder, Die Theorie der Partei im älteren deutschen Liberalismus, zuerst

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mäßige Wahl zwischen diesen zur Verfügung stehen, ist für die finale Inspiration des Staates in einer dynamischen, wandlungsfähigen Weise gesorgt. Man braucht dann nicht mehr anderthalb Jahrhunderte zu warten, bis durch die List der Vernunft der Staat zum Wohlfahrtsstaat geworden ist, sondern kann absichtlich über seine Zwecke entscheiden. Wenn freilich eine Einheitspartei mit totalitärem Anspruch ihr Programm durchsetzt, ist nichts gewonnen gegenüber dem Mittelalter, als die Kirche eindeutige, unveränderliche Staatszwecke vorzeichnete. Im staatlichen Mehrparteienbetrieb gibt es dagegen eine Quelle finaler Inspiration, die durch Wechselspiel von Angebot und Wahl anpassungsfähig bleibt und dennoch dafür sorgt, dass die Zwecksetzung als besondere staatliche Aufgabe von der Wahl der Mittel für die ausgewählten Zwecke abgehoben bleibt. Diese Konstruktion ist die eigentlich geniale Erfindung des modernen Staatslebens und gibt diesem inzwischen mehr als Souveränität und Gewaltenteilung das Gepräge, so dass die typisierende Bezeichnung des modernen Staates als Parteienstaat zu empfehlen ist. Staatswillensbildung erfolgt im Parteienstaat in drei Schritten: Der erste Schritt besteht in Veröffentlichung, Erörterung und Prüfung von Staatszweckvorschlägen in Gestalt von Parteiprogrammen, die knapp und sentenzhaft abgefasst und nach Punkten gegliedert sein sollten, damit jeder Wahlbürger sie lesen und im Fall einer Übernahme der Regierung durch die Partei Punkt für Punkt prüfen kann, ob und mit welchem Erfolg die Partei ihrem Programm treu bleibt. Nur durch ihre Programme sind die Parteien für die Verfassung im Parteienstaat wichtig, dann aber als tragende Säule des Staates. Der zweite Schritt der Staatswillensbildung ist die Auswahl unter den Parteiprogrammen durch die Wählerschaft, der dritte Schritt die Einsetzung der Partei mit dem bei der Wahl erfolgreichen Programm in die Regierung mit dem Auftrag, dieses Programm auszuführen. Das ist so glatt nur möglich, wenn eine einzige Partei den Zuschlag erhält, so dass keine Kompromisse zwischen mehreren Programmen gesucht werden müssen. Wenn dies nicht der Fall ist, entstehen Schwierigkeiten, die besonders zu erörtern sind. Aus dem Dreischritt der Staatswillensbildung ergeben sich drei Staatsgewalten, die eine gegen Montesquieu neue Art der Gewaltenteilung im Parteienstaat mit sich bringen: die Dreiheit von Parteien, Wählerschaft und Regierung. 1958, jetzt in: Beiträge zur allgemeinen Parteienlehre, hg. v. G. Ziebura (Wege der Forschung Band CVI), Darmstadt 1969, S. 37 f., 41 f.

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Die Regierung besteht aus dem Parlament und dem Kabinett. Das Kabinett führt die Regierung; das Parlament, in dem auch die bei der Wahl mit ihren Programmen unterlegenen Parteien vertreten sind, kontrolliert die Regierung. Dies wird ihm ermöglicht durch das Recht, Fragen zu stellen, Rechenschaft zu fordern, das Regierungshandeln zu diskutieren und unter Umständen das Kabinett abzulösen und durch ein anderes zu ersetzen. Ein wichtiges Kontrollinstrument des Parlaments ist das Budgetrecht. Bei dessen Ausübung kontrollieren Parlament und Kabinett sich gegenseitig. Wenn nämlich das Parlament so wesentlich vom Budgetvorschlag des Kabinetts abweicht, dass dieses sich nicht mehr in der Lage sieht, sein Regierungsprogramm auszuführen, kann es das Parlament auflösen und Neuwahlen ansetzen; die Parlamentsmitglieder werden dann zögern, wenn sie fürchten, bei der Neuwahl ihre Plätze zu verlieren. Durch Ausübung des Budgetrechts (Beschluss des jeweiligen Staatshaushalts) wird das Parlament zum Organ der Exekutive im Sinn von Montesquieu. Nur eine Hilfestellung leistet es als Legislative bei der Gesetzgebung. Es kann die Vorlagen der Regierung gründlich prüfen und breiter Erörterung mit Fachleuten, Interessenten und öffentlicher Meinung aussetzen. Das Ergebnis ist eher ein Schleifen und Polieren als ein durchgreifendes Korrigieren der Kabinettsvorlagen. Dafür sorgt der Zügel der Parteizugehörigkeit, mit dem das Kabinett die ihm auf diesem Weg verbundenen Parlamentsmitglieder mit Hilfe der Parlamentsfraktionen führt. Der Leiter des Kabinetts sollte der Chef der maßgebenden Regierungspartei sein. Gerhard Leibholz hat das Wesen des modernen Parteienstaates verkannt, als er diesem eine plebiszitäre Grundhaltung zuschrieb. 534 Vielmehr hat der moderne Parteienstaat ebenso einen Filter, mit dem er sich dem direkten Durchschlagen der Volksmeinung widersetzt, wie die repräsentative Demokratie nach Leibholz. Dieser Filter besteht nicht mehr in einem Vertrauensvorschuss der Wähler für politische 534 Gerhard Leibholz, Das Wesen der Repräsentation und der Gestaltenwandel der Demokratie im 20. Jahrhundert, 2. Auflage Berlin 1960, S. 211–258 Vortrag 1958: Der Gestaltwandel der Demokratie im 20. Jahrhundert, S. 226: »Der grundsätzlich verfassungstheoretische Unterschied zwischen dem modernen demokratischen Parteienstaat und der traditionellen, parlamentarisch-repräsentativen Demokratie geht entscheidend darauf zurück, dass der moderne Parteienstaat seinem Wesen und seiner Form nach nichts anderes wie (sic! H. S.) eine rationalisierte Erscheinungsform der plebiszitären Demokratie ist.«

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Klugheit und Redlichkeit gewählter Abgeordneter, sondern in der Bindung des Volkes an die von ihm durch Wahl genehmigten Staatszweckvorschläge der Parteien, denen zur Realisierung dieser Vorschläge die Regierung übergeben ist. An diesen Programmen kann sie gemessen werden, während eine Regierung durch bloßes Plebiszit an nichts gemessen werden kann, weil das Volk dann sein eigener Herr ist. Gleiches trifft für die bloß wegen des Vertrauens in ihre politischen Tugenden gewählten Abgeordneten des repräsentativen Systems nach Leibholz zu. Weder in diesem System noch in der direkten Demokratie gibt es eine in der Verfassung verankerte Unterscheidung zwischen der Bildung und der Ausführung des Staatswillens und daher auch keine Prüfverfahren zur Genehmigung des Staatswillens selbst und zur Kontrolle der Ausführung, ob sie dem Programm entspricht. Beiden Prüfungen unterwirft sich der moderne Parteienstaat: Der Staatswille wird erst von Parteien vorgeschlagen und dann durch Wahl genehmigt, und die Ausführung des genehmigten Vorschlags kann ständig überprüft werden. Dazu ist das Parlament da, in dem ja auch die bei der Wahl unterlegenen Oppositionsparteien vertreten sind; ihre Kontrolle wird unterstützt von der Presse, der öffentlichen Meinung, der Justiz. Ganz ohne plebiszitäre Züge wird aber auch ein konsequent an der Unterscheidung von Bildung und Ausführung des Staatswillens orientierter Parteienstaat nicht auskommen. Die Regierung kann mutwillig von der Ausführung des Programms, auf das sie durch Wahl verpflichtet ist, abweichen. Es können sich auch neue politische Verhältnisse ergeben, in denen das alte Programm nicht mehr anwendbar ist, oder die nach grundsätzlich neuen Programmen verlangen. In diesen Fällen muss ein Volksbegehren zulässig sein, mit dem eine Neuwahl erzwungen werden kann. Ein schwieriges Problem, dessen Lösung Leibholz für unmöglich hält 535 , betrifft die Vereinbarkeit der Parteibindung der Parlamentsmitglieder (des Fraktionszwanges) mit dem Maß an Freiheit des Mandats, dessen die Parlamentarier bedürfen, damit sie nicht nur Puppen sind, an denen die Partei- und Fraktionsspitzen ziehen, womit die Parlamentstätigkeit zur Arbeit untergebener Beamter und zur Farce würde. Eine strenge Bindung des Mandats wird man immer dann verlangen, wenn es um die Ausführung eines von der Wählerschaft genehmigten Programms durch die vom Kabinett geführte Regierung 535

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geht, etwa bei der legislativen Tätigkeit des Parlaments; dessen Kontrollrechte bleiben unberührt. Sobald aber Entscheidungen anstehen, für die in dem ausgewählten Programm keine Vorgaben enthalten sind, ist das Mandat frei; wenn dann die Zusammenarbeit zwischen Kabinett und Parlament so sehr leidet, dass keine einstimmige Regierung mehr gelingt, bleiben nur Neuwahlen übrig. Unzulässig ist jedenfalls der Wechsel eines Parlamentariers von einer Partei (Fraktion) zur anderen ohne Preisgabe seines Sitzes im Parlament bis zu Neuwahlen; denn damit entzöge er sich den Grund seiner Berechtigung zum Parlament, die Qualität als Mitglied seiner Partei und Vertreter ihres Programms. Der Parteienstaat entspricht den Aufgaben einer final unspezialisierten Zwecksetzungsorganisation durch eine Gliederung des Staatswillens, die von keiner anderen Verfassung zu erreichen ist. Für diesen Vorzug war die Theorie so blind, dass sich einem Betrachter das Urteil aufdrängte: »Ich wusste kein anderes politisches Prinzip zu nennen, das sich einer so einheitlichen Abwehrfront aller Theologien und Staatsphilosophien gegenüber sah wie das Parteiprinzip.« 536 Allerdings war Edmund Burke schon im 18. Jahrhundert ein energischer Befürworter des Parteiwesens, doch verfehlte er den Punkt, auf den es ankommt, indem er die politische Zwecksetzung den spekulativen Philosophen, den Parteipolitikern aber nur die Aufgabe, Mittel zur Verwirklichung der schon gesetzten Zwecke zu finden und anzuwenden, zuschob. 537 Die deutsche Reichsverfassung von 1919 erwähnt die Parteien nicht; das Grundgesetz von 1949 öffnet ihnen einen Spalt mit der Formulierung: »Die Parteien wirken an der politischen Willensbildung des Volkes mit.« (§ 21,2) Das ist verkehrte Psychologie. Das Volk ist keine Gesamtperson, die einen Willen bilden könnte. Wohl kann es einen gemeinsamen Willen geben, wenn alle auf das Selbe hinaus wollen, aber in der Breite eines ganzen Volkes ist das nicht zu erwarten. Überdies wird die Leistung der Parteien für das Volk durch die Formulierung im Grundgesetz verkannt. Mitwirkung bei der Willensbildung ist im Wesentlichen eine rhetorische Aufgabe, die durch Überredung, Suggestion, Ratschlag, Befehl usw. im gesprochenen oder gedruckten Wort und immer mehr im Bild erfüllt wird. Parteien bedienen sich 536 Erwin Faul, Verfemung, Duldung und Anerkennung des Parteiwesens, in: Politische Vierteljahresschrift, 5. Jahrgang, Köln/Opladen 1964, S. 62 537 Thoughts on the Cause of the Present Discontents (1770) in: The Works of the Right Honourable Edmund Burke, a new edition, vol. I, London 1808, S. 335

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zwar solcher Medien, um ihre Vorschläge an die Leute zu bringen, aber man würde sie unterschätzen, wenn man sie auf eine Stufe mit Werbeagenturen stellte. Sie sind berufen, für die Bildung des Staatswillens (nicht eines imaginären Volkswillens) die Vorschläge zu machen, zwischen denen dann durch Entscheidung des aktiven Staatsvolks gewählt wird. Das geschieht aber nicht so, dass dieses einen Willen bildete, sondern, wenigstens in der Demokratie, durch die Mehrheit der abgegebenen Stimmen. Was die Menschen wirklich wollen, wenn sie ihre Stimme abgeben, wird gar nicht gefragt. Wohl aber ist der Vorschlag, den die Parteien machen, für die Staatswillensbildung genau so wichtig wie die Wahl, bei der sonst nichts zu wählen wäre. Deswegen bedürfen die Parteien der Anerkennung als Staatsorgane mit spezifischer Aufgabe genau so wie die Wählerschaft (als das Volk) und die Regierung. Die Parteien sind nicht von selbst da, sondern müssen von Interessenten an einer gewissen programmatischen Ausrichtung des Staatswillens gegründet werden. Der Umfang solcher Gründungen muss für ein ausreichend großes Angebot von Wahlmöglichkeiten genügen. Welcher Umfang ausreicht, kann ohne Rückfall in einen vorgegebenen Spielraum finaler Spezialisierung nicht von irgend einer sich berufen fühlenden übergeordneten Instanz (etwa einer Kirche) entschieden werden, sondern nur aus der Wählerschaft heraus, je nach den Wünschen, die sich bezüglich der Staatswillensbildung in ihr bilden. Wer nicht wählen kann, was er zu wählen wünscht, ohne Unmögliches zu verlangen, der kann nicht wählen. Daher muss jedem Angehörigen der Wählerschaft, eventuell nur zusammen mit einer ausreichend großen Schar von Gesinnungsgenossen aus dieser, die Gründung einer politischen Partei mit ihm beliebendem Programm gestattet werden. Ausgenommen sind natürlich Kriminelle mit verbrecherischen Programmen. Auch nur zur Abwehr echter Verbrechen, nicht wegen politischer Missliebigkeit, dürfen Parteien, die einmal gegründet sind, verboten werden. Ein Parteiverbot hat denselben final spezialisierenden, der Bildung des Staatswillens die Zwecksetzungsfreiheit entziehenden Effekt wie eine Einschränkung der Gründungsfreiheit. Die günstigsten Bedingungen hat der moderne Parteienstaat bei demokratischer Organisation der Wählerschaft. Diese ist demokratisch, wenn sie drei Prinzipien genügt: dem Maximalprinzip, dem Majoritätsprinzip und dem Prinzip der Parteigründungsfreiheit. Das Maximalprinzip verlangt, dass möglichst viele Angehörige des passiven Staatsvolks auch Angehörige des aktiven Staatsvolks und damit der 310 https://doi.org/10.5771/9783495860755 .

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Wählerschaft sein sollen. Das Majoritätsprinzip vertraut die Entscheidung der einfachen Mehrheit der Stimmen, der Überzahl der Zustimmungen über die Ablehnungen, an. Das Prinzip der Parteigründungsfreiheit wurde eben erläutert. Die drei Prinzipien stellen so gut wie möglich sicher, dass die Freiheit der Wahl von Staatszwecken nicht durch Randbedingungen beeinträchtigt wird. Grundsätzlich ist der Parteienstaat aber auch ohne demokratische Verfassung möglich. Undemokratisch im modernen Sinn, freilich auch kein Parteienstaat, war durch Verletzung des Maximalprinzips die antike Demokratie in Athen seit der Reform des Perikles und Ephialtes: Die Mehrheit des passiven Staatsvolks (Frauen, Metöken, Sklaven) war nicht zur Volksversammlung zugelassen. Dafür hatte die attische Demokratie der modernen die Volkssouveränität voraus. Im modernen Parteienstaat ist das Volk nicht souverän, sondern als Wählerschaft eine der drei gleichberechtigten Säulen des Staates neben den Parteien und der Regierung. Eine Verdrehung der Prinzipien des Parteienstaates tritt ein, wenn bei einer Wahl keine Partei eine ausreichende Mehrheit gewinnt, um die Führung der Regierung zu übernehmen, und auf eine Koalition mit anderen Parteien angewiesen ist, um mit diesen zusammen das Kabinett zu bilden. Dann müssen Kompromisse zwischen Parteiprogrammen geschlossen werden, deren Ergebnis ein Mischprogramm ist, das der Wähler nicht vorhersehen konnte. Er kann in vielen Fällen nicht einmal abschätzen, welche Programme welcher Parteien in das Kompromiss eingehen, da oft verschiedene Koalitionen möglich sind. Auf diese Weise wird der Wählerschaft die Kompetenz entzogen, unter den Programmen der Parteien so zu wählen, dass das siegreiche Programm zum Staatszweck erhoben wird, den die es anbietende Partei durch Führung der Regierung in die Tat umzusetzen versuchen darf. Der einzelne Wähler kann nur noch wie beim Würfeln mit dem Zufall spielen, aber nicht mehr das Gewicht seiner Stimme in eine Waagschale werfen, die je nach dem, wie die Mehrheit stimmt, steigen oder fallen wird, so dass er jedenfalls Einfluss, wenn auch nicht entscheidenden Einfluss auf das Ergebnis ausübt. Der Staatszweck wird nicht mehr vom Volk ausgewählt, sondern von einigen führenden Parteifunktionären, die sich gegenseitig Zugeständnisse machen. Das ist eine Perversion des Parteienstaates, eine Entmachtung des Wählers, eine Ungerechtigkeit gegen die ihm zukommende Rolle, bei der Auswahl des Staatszweckes, wofür die bereitgestellten Machtmittel eingesetzt werden sollen, mitzuwirken. 311 https://doi.org/10.5771/9783495860755 .

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Um diese Perversion zu vermeiden und dem aktiven Staatsvolk, das sich im Allgemeinen mit der Wählerschaft decken wird, sein Recht im Parteienstaat zu verschaffen, ist ein Wahlrecht von Nöten, das die Koalitionsbildung vermeidet oder wenigstens zur Ausnahme herabsetzt. Der einfachste und sachgemäßeste Weg zu diesem Ziel besteht darin, die relativ stärkste Partei, die mehr Stimmen als irgend eine andere gewonnen hat, mit der absoluten Mehrheit der Parlamentsmandate zu belohnen, wodurch sie in die Lage versetzt wird, allein die Regierung zu übernehmen. Die andere, etwas kleinere Hälfte der Mandate wird nach dem Verhältniswahlrecht auf die übrigen Parteien verteilt. Dieses Verfahren ist logisch und gerecht: Die Wählerschaft ist berufen, den Staatszweck durch Wahl unter den von den Parteien angebotenen Programmen zu bestimmen und die das gewählte Programm anbietende Partei zwecks Ausführung mit der Führung der Regierung zu betrauen. Welches Programm auf diese Weise den Sieg davonträgt, kann sich nur danach richten, welche Partei die größte Zustimmung der Wählerschaft gewonnen hat, gemessen an der Zahl der Stimmen. Wenn man diesen einfachen und konsequenten Weg nicht gehen will, bietet sich als zweitbeste Möglichkeit das reine Mehrheitswahlrecht für die Wahl in Wahlkreisen an. Es ist weniger sicher, weil es die absolute Mehrheit der Parlamentsmandate für nur eine Partei und deren Programm zwar sehr wahrscheinlich, aber nicht unausweichlich macht, und weniger gerecht, weil es leicht dazu führen kann, dass die Partei, die die meisten Wählerstimmen bekommen hat, nicht die siegreiche Partei ist. Dennoch liefert auch das reine Mehrheitswahlrecht, sofern die Wahlkreise unparteiisch abgegrenzt sind, ein faires Ergebnis nach objektivierbaren, der Willkür entzogenen Regeln. In dem unwahrscheinlichen Fall, dass zwei Parteien die stärksten mit genau derselben Stimmenzahl sind, muss man jedenfalls auf es zurückgreifen. Ganz unzulänglich ist aber die bei deutschen Verfassungsgerichten gegenwärtig herrschende Meinung, das reine Verhältniswahlrecht, das die Proportion der Stimmzahlen bei der Wahl durch die Proportion der Mandate im Parlament getreu abbilden lässt, sei die gerechteste und demokratischste Form des Wahlrechts. Seine Gerechtigkeit ist bloßer Schein, ein Deckmantel der Ungerechtigkeit, dem Volk seine Kompetenz zur Auswahl des Staatszweckes zu nehmen und diese Kompetenz auf die Händler mit Kompromissen bei der Koalitionsbildung zu übertragen. Zum Schluss will ich zur Illustration ein trotz schlechten Wahl312 https://doi.org/10.5771/9783495860755 .

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rechts insgesamt gut gelungenes Beispiel des modernen Parteienstaates vorstellen, die Bundesrepublik Deutschland gemäß dem Grundgesetz von 1949, wobei ich vom Föderalismus absehe. Das Kabinett besteht aus dem Bundeskanzler, der die Richtlinien der Politik bestimmt, und den Bundesministern, die ihre Ressorts im Rahmen der Richtlinien selbständig führen. Mit den Richtlinien der Politik bestimmt der Bundeskanzler die Zwecke der Staatstätigkeit; er überwacht ihre Einhaltung. Die Selbständigkeit, mit der die Minister die Geschäfte ihrer Ressorts führen, umfasst die Auswahl der Mittel für die vom Bundeskanzler festgelegten Zwecke. Partner des Kabinetts sind in erster Linie die Parteien, die die Regierung tragen, im Idealfall eine einzige, vom Bundeskanzler geleitete Regierungspartei. Aus dem Programm bzw. den Programmen dieser Partei (Parteien) entnimmt der Bundeskanzler seine Richtlinien; mit ihr (ihnen) befindet er sich in beständigem Dialog über Metamorphosen der Richtlinien und Programme entsprechend den Erfordernissen der politischen Lage. Die vom Bundeskanzler, gegebenenfalls mit Hilfe eines Koalitionsausschusses – eines dann wesentlich mitentscheidenden, in der Nominalverfassung nicht erwähnten Staatsorgans –, besorgte Verständigung zwischen der Regierung und den n > 0 Regierungsparteien gibt dem Parlament die Anleitung für dessen gesetzgeberische Arbeit, die im Wesentlichen eine Gehilfentätigkeit für das Kabinett ist; der Rahmen der Gesetzgebung wird vom Kabinett und den maßgeblichen Parteien festgelegt. Die Macht des Parlaments beruht weniger auf der Gesetzgebung als auf dem Auftrag, das Kabinett zu kontrollieren. Das Parlament ist das Diskussionsforum, in dem vor den Augen und Ohren der Öffentlichkeit die Parteien ihre Staatszweckvorschläge an einander messen und diesen entsprechend das Kabinett, das ihnen Rechenschaft schuldig ist, kritisieren. Damit die Kontrollfunktion wirksam wird, bedarf das Parlament des Untersuchungsrechts und des Rechts, das Kabinett abzusetzen; in der Bundesrepublik ist dies das Recht, den Bundeskanzler zu wählen und durch die Wahl seines Nachfolgers aus dem Amt zu entfernen. Ein besonders wirksames Kontrollrecht ist das Budgetrecht, mit dem das Parlament in die Tätigkeit des Kabinetts eingreift, allerdings gezügelt durch seine Bindung an dieses durch die Parteien. Eine wichtige Seitenstellung am Rand der politischen Tätigkeit hat der Justizapparat, der der Kirche des Mittelalters darin gleicht, dass er final spezialisiert und daher nicht mit der Unruhe belastet ist, sich die Zwecke seiner Tätigkeit selbst suchen zu müssen. Daher kann er als ruhender 313 https://doi.org/10.5771/9783495860755 .

Unverbindlich geltende Normen

Pol in der Unruhe des politischen Betriebs angerufen werden, zwar nicht, wie die Kirche im Mittelalter, als die eingestandene und primäre Quelle finaler Inspiration, aber als Schiedsrichter, der den gordischen Knoten durchhaut, wenn die Spannungen zwischen den verfassungsmäßigen Organen zu groß werden. Das ist die Aufgabe des Bundesverfassungsgerichts, die dadurch noch wächst, dass die Regierung und die Parteien schwierige Probleme, bei denen sie durch klare Entscheidungen das Gesicht vor der Wählerschaft zu verlieren und unbeliebt zu werden fürchten, gern an das Bundesverfassungsgericht delegieren, das seine Entscheidungen als bloße sachgerechte Auslegung der Verfassung tarnen kann. So steht es über dem Streit in einer Mittelstellung zwischen Schlichtungsmacht und Richtlinienkompetenz.

3.3.3

Staat und Recht

Kein Staat wird darauf verzichten können, Streitigkeiten unter seinen Bürgern zu schlichten und Strafen gegen solche zu verhängen, die sich seinen Anordnungen widersetzen. Dadurch allein wird er nicht zum Hüter des Rechts; er kann diese Aufgaben an spezielle Verwaltungsorgane, z. B. die Polizei, delegieren. Dabei wird er dennoch unweigerlich in das Recht hineingezogen; denn Streit und Strafe wecken auf dieser oder jener Seite Zorn (Empörung) und Scham, und das sind rechtliche Urgefühle, die zusammen mit ihren Vorgefühlen Autorität besitzen, Normen verbindliche Geltung zu verleihen, teilweise sogar Autorität mit unbedingtem Ernst. Dadurch unterscheiden sie sich von anderen, auch äußerst lebhaften Gefühlen, mit denen der Staatsbetrieb auf vielen Gebieten seiner Tätigkeit befasst ist, z. B. Kampfeseifer, nationale Begeisterung, Furcht, Entsetzen, Trauer, Wehmut; deren Autorität ist meist geringer ausgeprägt und reicht damit nur zu bedingtem Ernst. Autorität mit unbedingtem Ernst haben religiöse, göttliche, heilige Gefühle, auf deren Autorität die verbindliche Geltung von Kernnormen einer Rechtskultur für die Angehörigen der in dem betreffenden Rechtsvolk dominanten Kerngruppe beruht. Einem solchen Rechtsvolk anzugehören, ist keine Sache von Ausnahmemenschen; die Rechtsgefühle sind ubiquitär und schon kleinen Kindern geläufig. Indem sich der Staat mit Streit und Strafen befasst, begegnet er also einem Reich von Normen mit verbindlicher Geltung, denen er von sich aus nur Normen mit unverbindlicher, wenn auch unter Umständen 314 https://doi.org/10.5771/9783495860755 .

Der Staat

durch die Staatsgewalt mit harten und glaubhaften Drohungen bewaffneter, Geltung entgegensetzen kann. Er stößt auf die gemeinsame Situation eines Rechtsvolkes, in der sich aus Erfahrungen am Unrecht Maßstäbe für das Unerträgliche an Empörendem und Beschämendem gebildet haben. Es kann sich auch um mehrere solche Rechtsvölker handeln, wenn z. B. im Staatsgebiet Populationen mit grundverschiedenen Rechtsüberzeugungen siedeln. Dann bleibt der Staat kaum je unparteiisch; im Allgemeinen schließt er sich der im Staatsgebiet dominierenden Rechtskultur an, z. B. einer »westlich« zivilisierten gegen eine auf Blutrache und Ehrenmorde eingeschworene. Die Berührung mit dem Recht einer Rechtskultur ist für den Staat nicht nur eine Herausforderung, sondern auch ein Gewinn, der ihm durch den allmählichen Übergang vom Recht zum Staat erleichtert wird. Die Kernnormen der Rechtsordnung, die von der im Volk als gemeinsame Situation dominierenden Rechtskultur getragen wird, gelten mit einer vom Staat unabhängigen Verbindlichkeit; als ihr Anwalt ist der Richter dem Staat gegenüber autonom. Diese Normen bedürfen aber von sich aus der Ergänzung durch unübersehbar viele Randnormen, zu deren Setzung der Staat berufen ist, weil er allein die nötige Macht hat, um ihre Geltung zu garantieren; damit gestaltet er am Recht. Diese Brücke erlaubt ihm einen allmählichen und fast unmerklichen Übergang zu den unechten Rechtsnormen, die er aus rechtsfremdem Interesse in Geltung setzt, aber wegen ihrer Familienähnlichkeit mit den Randnormen mit dem Abglanz des Rechts umkleiden kann. Dabei können diese unechten Rechtsnormen dem Gehalt nach rechtswidrig sein, wenn z. B. die Regierung, um eine Wählergruppe für sich zu gewinnen, dieser einen ungerechtfertigten Vorteil verschafft oder ein Staat aus Feindschaft gegen andere Staaten seine und deren Bürger an harmlosem Verkehr hindert, oder wenn ein Staat sein Verkaufsmonopol ausbeutet, wie die ägyptischen Ptolemäer das Salzmonopol. Immer werden sich mehr oder weniger plausible Gründe finden lassen, um auch solchen Normen ein Nachbarrecht neben den rechtlich unerlässlichen, wenn auch nicht in ihrer besonderen Bestimmtheit rechtlich erforderlichen, Randnormen zu gewähren, so dass beide Normtypen, die Randnormen und die unechten Rechtsnormen, nahezu nahtlos in einander übergehen. Die Verankerung im Rechtsgefühl, die den echten Rechtsnormen verbindliche Geltung verleiht, kommt auf diese Weise auch vielen anderen Vorschriften, die dem Staatswillen angepasst sind, zugute, und es entsteht ein doppelt gefes315 https://doi.org/10.5771/9783495860755 .

Unverbindlich geltende Normen

tigtes, vom Recht her mit Autorität, vom Staat her mit Macht ausgestattetes Gewebe aus Normen, das Prestige mit Brauchbarkeit für geordnete Lebensführung vereinigt. Zu dieser Brauchbarkeit gehört erstens die Rechtssicherheit im strengen Sinn, d. h. die Aussicht auf einen einigermaßen verlässlichen Schutz gegen das unerträglich Empörende und Beschämende, und zweitens die Legalsicherheit in einem abgesteckten Rahmen des gesetzlich Erlaubten, in dem sich die Menschen mit ihren Planungen, besonders den wirtschaftlichen, vertrauensvoll bewegen können, abgesichert durch hinlängliche Stabilität des Rahmens. Diese ist wiederum im Recht verankert, weil es Unrecht wäre, das Vertrauen der Menschen, auf dem sie ihre Planungen aufbauen, durch unzeitige und willkürliche Änderungen des legalen Rahmens zu enttäuschen. Der vom Staat unterhaltene Justizapparat befindet sich zwischen Recht und Staat in einer zweideutigen Lage. Dem Recht dient er durch Rechtsfindung (2.2.8), dem Staat durch Mitwirkung bei der Ausführung des Staatswillens. Dass auch der Staat dem Recht dient und die Rechtsordnung durch Randnormen füllt, erleichtert die Synthese beider Aufgaben, die aber notwendig labil bleibt, weil der Staat als final unspezialisierte Organisation nicht in den Dienst am Recht eingefangen werden kann. Die Richterkunst ist daher eine diplomatische Kunst der Abstimmung zweier Stimmen, die nicht einheitlich komponiert sind.

3.4 Das Geld 3.4.1

Begriff des Geldes

Staat und Geld sind die wichtigsten Formen von Macht als Institution, und sie gleichen sich auch als final unspezialisierte Institutionen der Zwecksetzung; bei so enger Verwandtschaft sind sie zugleich entgegengesetzt, indem der Staat die final unspezialisierte Zwecksetzungsmacht im Gruppenleben, das Geld sie im Leben des Individuums bereitstellt. Sie ergänzen sich als Normenkomplexe wie Vorder- und Kehrseite von Münzen. Dieses Verhältnis fordert dazu heraus, nach dem Staat das Geld zu behandeln. Einer der schärfsten Kritiker der heutigen Volkswirtschaftslehre in ihren Reihen hält ihr vor: »Die Frage nach der Natur des Geldes wird 316 https://doi.org/10.5771/9783495860755 .

Das Geld

überhaupt nicht mehr gestellt. Es genügt, wenn man durch ›geeignete Annahmen‹ für die öffentliche Diskussion formal präpariert zeigen kann, dass dies oder jenes geschieht, wenn man diese oder jene geldpolitischen Maßnahmen ergreift.« 538 Das mag genügen, wenn es sich nur um den geschickten Umgang mit Geld handelt, aber der Philosoph soll grundsätzlicher fragen, weil das Leben mit Geld nicht nur durch einzelne Vor- und Nachteile, sondern schon dadurch, dass es sich um Geld handelt, die Menschen unter Druck setzt. Die Jagd nach Geld verzerrt ihr Leben oder reißt es mit sich; die Kultur des Geldes im Zins und im Kapitalismus zieht ihm von Aristoteles und seinem Gefolge an über Karl Marx bis zu Keynes den Vorwurf der Perversion in Täuschung und Ungerechtigkeit zu, und manche setzen, wie Silvio Gesell mit dem Vorschlag des Schwundgeldes, auf ein Ende dieser Kultur, auf die Entmachtung des Geldes. Dessen Fluch und/oder Segen kann nur in einer philosophischen Besinnung gründlich geprüft werden, und daher ist eine Philosophie des Geldes, die es trotz des so benannten Buches von Georg Simmel 539 noch nicht gibt, ein dringendes Bedürfnis, gerade heute, wo sich durch eine mathematisch gestützte reine Finanzwirtschaft (ohne Dienst an Bedürfnissen außer dem Geldgewinn) ein Abgrund spekulativen Leichtsinns mit Aussicht auf eine wirtschaftliche Katastrophe aufgetan hat. Um dieser philosophischen Aufgabe zu genügen, ist es nötig, nicht um das Geld herumzureden, sondern eine Eigenschaft aufzudecken, die sein Wesen in dem Sinn scharf bestimmt, dass alles Geld im heutigen Sinn und nur dieses davon getroffen wird und dieses Merkmal ausreicht, um Rechenschaft von der Bedeutung des Geldes für das menschliche Schicksal abzulegen. Kein Hindernis soll mir bei diesem Versuch die Warnung von Adolph Wagner (1835– 1917) sein: »Ein knapper, einheitlicher, aus einer einfachen (Haupt-) Funktion gebildeter Geldbegriff (…) lässt sich nicht richtig bilden.« 540 538 Karl-Heinz Brodbeck, Die Herrschaft des Geldes. Geschichte und Systematik, Darmstadt 2009, S. 794 539 Georg Simmel, Philosophie des Geldes, Leipzig 1900, 2. Auflage 1907, als Taschenbuch (2. Auflage) Frankfurt a. M. 1993. Das Buch umkreist mit einem schwer durchschaubaren Geflecht von Etüden aus Vermutungen, Vergleichen, Exkursen das Geld wie eine geheimnisvolle Wesenheit, der man sich nur von fern nähern kann, und präzisiert nirgends das Thema. Einen Leitfaden durch das Buch mit sorgfältiger Auswertung und Einordnung seiner Motive liefert Paschen v. Flotow, Geld, Wirtschaft und Gesellschaft. Georg Simmels Philosophie des Geldes, Frankfurt a. M. 1995. 540 Zitat nach: Wilhelm Gerloff, Geld und Gesellschaft, Frankfurt a. M. 1952, S. 99

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Unverbindlich geltende Normen

Als Geld behandle ich nur das Vollgeld im modernen Sinn; Vorformen, von denen die Völkerkunde berichtet, bezeichne ich als Vorgeld. Mein Ansatz zur Bestimmung des Geldbegriffs ist die Tatsache: Für Geld, aber auch nur für Geld, kann man alles erwerben, was auf einem Markt zum Tausch angeboten wird. Ein Markt ist eine Institution des Angebotes mehrerer Sorten von Objekten (namentlich Waren und/oder Dienstleistungen) zum Tausch. Es gibt intime Güter wie Liebe und Treue, die getauscht werden können, aber nicht auf einem Markt, weil ihr Tausch sich der Regelung durch eine Institution entzieht; sie sind im Allgemeinen nicht für Geld zu haben. Andere Güter sind käuflich. Kauf ist Tausch gegen Geld. Dabei wird Kaufkraft ausgeübt. Wie verhält sich das Geld zur Kaufkraft? Zwei Antworten sind möglich: Geld hat Kaufkraft – Geld ist Kaufkraft. Das Geld, das Kaufkraft hat, ist das an eine bestimmte Währung gebundene Geld, der Dollar, das Pfund, der Yen. Dieses Geld meint der amerikanische Ökonom Irving Fisher mit dem Satz: »Geld ist soviel wert, wie seiner Kaufkraft, d. h. dem Kehrwert eines Preisindex entspricht.« 541 Er meint: Je höher die Preise sind, desto geringer ist die Kaufkraft des Geldes. Aber auch die andere Fassung des Geldbegriffs wird in der Literatur vertreten: »Die heutigen Verkehrstatsachen (…) nötigen zu einer Auseinandersetzung zweier Geldbegriffe, auf die Liefmann mit Recht Wert gelegt hat: dem Geld als Erscheinungsform steht Geld als kaufkräftiger Wertbetrag, kurz als Kaufkraft gegenüber.« 542 »Das Geld als Kaufkraftmenge ist die Triebkraft der sozialwirtschaftlichen Bewegungen und zugleich ihr Ordner, der Zeit und Gangart bestimmt.« 543 Für meine Wahl zwischen beiden Möglichkeiten orientiere ich mich an dem angegebenen Merkmal: Für Geld, aber auch nur für Geld kann man alles erwerben, was auf einem Markt angeboten wird. Geld ist hiernach sowohl zureichend als auch notwendig für beliebigen Tauscherwerb am Markt. Dagegen ist das Geld einer bestimmten Währung dafür zwar zureichend, aber nicht notwendig. Wenn z. B. auf einem Markt in Japan eine Ware für Yen, aber nicht für Dollar angeboten wird, kann man Yen für Dollar kaufen und mit den Yen die Ware erwerben. Die Kaufkraft Zitiert nach Brodbeck (wie Anm. 538) S. 604 O. v. Zwiedinek, Allgemeine Volkswirtschaftslehre, 1932, S. 176, zitiert nach: Wilhelm Gerloff, Die Entstehung des Geldes und die Anfänge des Geldwesens, 3. Auflage Frankfurt a. M. 1947, S. 163 543 Gerloff, wie Anm. 540, S. 107 541 542

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Das Geld

ist also nicht wie das Geld, das Kaufkraft hat, an eine Währung gebunden, und das von mir durch ein Merkmal charakterisierte Geld auch nicht. Das Geld, das ich meine, die auch notwendige, nicht nur zureichende Bedingung für beliebigen Erwerb am Markt, ist also allgemeiner als das Währungsgeld, indifferent gegen den Unterschied wechselseitig konvertibler Währungen, und dieses indifferent Gemeinsame ist die Kaufkraft. Daraus ergibt sich: Geld ist Kaufkraft. Was aber ist Kaufkraft? Eine gewisse Macht, d. h. Steuerungsfähigkeit: die Fähigkeit, einen Vorrat beweglicher Sachen in Bewegung zu setzen, die Bewegung im Verlauf zu führen und anzuhalten (1). Diese Definition ist allgemeiner als die von Max Weber, Macht sei »jede Chance, innerhalb einer sozialen Beziehung den eigenen Willen auch gegen Widerstreben durchzuführen, gleichviel, worauf die Chance beruht.« 544 Außer der befehlenden Macht mag auch die Macht über die eigenen Glieder beim mühsamen Aufstehen vom Sofa oder die Macht des Charmes und der Tränen einer Frau in Webers Definition Platz haben, nicht aber die Macht der stürzenden Kurse, die den Makler zum eiligen Verkauf gefährdeter Wertpapiere treiben, die Macht des Marktes mit Konkurrenzdruck, die Macht der öffentlichen Meinung, der Diskurse (Foucault), des Soges, den der technische Fortschritt ausübt, all der unpersönlichen Mächte, die im Betrieb der modernen Gesellschaft überhand nehmen. Sie haben Platz in meiner Definition neben dem Geld. Was für eine Macht ist das Geld? Geld ist Tauschmacht. Tauschmacht ist die Macht, durch eine Gabe eine Gegengabe des Empfängers auszulösen und dabei vorauszusehen, von welcher Art diese sein wird und wer sie empfangen wird, eventuell auch durch eine Kette von Empfängern hindurch, die sich zum Kreis schließen, also zum ursprünglichen Geber zurückführen kann. Solche Verlängerung gehört aber nicht wesentlich zur Tauschmacht. Die Begriffe von Gabe und Gegengabe sind ganz allgemein zu verstehen, ohne Rücksicht auf Gunst und Ungunst. Ich belege das mit einigen absichtlich grotesken und extremen Beispielen von Dienstleistungen. Tauschmarkt übt aus, wer einer Dame ein Kompliment macht, in Voraussicht eines freundlichen Lächelns als Gegengabe, oder einer Ohrfeige. Tauschmacht übt der Offizier aus, der einem Rekruten befiehlt (Gabe), einen Gefange544 Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, 1. Halbband, 5. Auflage, Tübingen 1976, S. 28

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Unverbindlich geltende Normen

nen zu fesseln (Gegengabe). Tauschmacht übt der Räuber aus, der seinem Opfer eine Pistole auf die Brust setzt (Gabe) und es dadurch zur Herausgabe seiner Barschaft nötigt (Gegengabe). Aber längst nicht alle Macht ist Tauschmacht, nicht einmal die Macht, einen Angreifer wie diesen Räuber in die Flucht zu schlagen. Was für eine Tauschmacht ist das Geld? Diese Frage führt auf den genauen Geldbegriff, den Adolph Wagner für unmöglich hielt: Geld ist diejenige Tauschmacht, die durch ihre Ausübung übertragen wird. Durch dieses Merkmal unterscheidet es sich von allen anderen Tauschmächten, z. B. den beim direkten Gütertausch ausgeübten. Wer z. B. Eier gegen Käse oder ein Flugzeug gegen ein Haus tauscht, erlangt dadurch nur zufällig Tauschmacht, und auch dann, wenn es ihm gelingt, das Erworbene weiterzutauschen, nicht notwendig dieselbe, weil mangels des Einsatzes von Geld ein Vergleichsmaßstab fehlt. Bei kaum einer anderen Machtausübung kommt wie bei der Geldausübung vor, dass der Mächtige seine Macht durch deren Ausübung verliert und dieselbe Macht weitergibt. Dieses Merkmal ist zwar schon sehr bezeichnend, aber noch nicht spezifisch genug, um Geld von Vorgeld zu unterscheiden. Als Tauschmittel hat Geld »anfangs nur eine beschränkte Verwendungsfähigkeit oder Kaufbreite. (…) Verschiedene unter einander nicht vertretbare Geldsorten sind nebeneinander in Gebrauch, deren jede Kaufmacht nur gegenüber einer bestimmten Gütersorte darstellt.« 545 »Eine Eigentümlichkeit frühen Geldgebrauches ist es, dass regelmäßig verschiedene Geldsorten nebeneinander bestehen, von denen jede nur für ganz bestimmte Leistungen und Käufe verwendbar ist. So bestehen namentlich in der Südsee auf manchen Inseln und Inselgruppen recht komplizierte und streng eingehaltene Geldordnungen.« 546 Die Schwelle vom Vorgeld zum Vollgeld wird überschritten, wenn diese Schranke der finalen Spezialisierung fällt, so dass dasselbe Geld zum Erwerb beliebiger Gegengaben auf allen Märkten verwendet werden kann. Daher lautet die vollständige Definition des Geldes: Geld ist diejenige final unspezialisierte Tauschmacht, die durch ihre Ausübung übertragen wird. Das gilt natürlich nur für das Geld im hier gemeinten Sinn, nicht für das Geld einer bestimmten Währung, z. B. dem Dollar. Das Währungsgeld verhält sich zum Geld als Kaufkraft wie der Nennwert einer Aktie zum effektiven oder Kurswert. Es 545 546

Gerloff, wie Anm. 542, S. 190 Gerloff, wie Anm. 540, S. 87

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Das Geld

ist bloßes Nenngeld, »Erscheinungsform«.542 Das reale oder effektive Geld findet, Konvertierbarkeit des Währungsgeldes vorausgesetzt, Grenzen seiner Unspezialisiertheit nur in der Beschränktheit des Angebots am Markt. Geld steht zwar auch im Dienst menschlicher Bedürftigkeit, d. h. des Ausgleichs von Mängeln durch Vermittlung begehrter Güter, doch ist das nicht seine spezifische Aufgabe als Geld. Diese Aufgabe könnte nämlich auch ohne Geld erfüllt werden. Es könnte eine voll entwickelte Tauschwirtschaft mit ebenso breitem Angebot und reichhaltiger Verzweigung wie bei uns, aber ohne Geld geben. Das wäre eine reine Clearingwirtschaft, deren Organisation man sich so vorzustellen hätte: Die staatliche Obrigkeit würde eine Clearingstelle mit vielen überall im Land verteilten Niederlassungen einrichten und direkten Tausch unter den Untertanen, ohne Vermittlung durch die Clearingstelle, nach Möglichkeit verhindern. Eine Rechnungseinheit würde eingeführt werden; in ihr würden die Beträge amtlich festgesetzt, die für Leistungen und Lieferungen der Untertanen gezahlt werden. Die Clearingstelle würde Preise in der Rechnungseinheit für alle von ihr angebotenen dinglichen Güter und Dienstleistungen festsetzen; für diese hätte sie ausreichende Stäbe angestellter oder freier Mitarbeiter. Jeder Untertan könnte von der nächsten Niederlassung im Rahmen der ihm verfügbaren Beträge der Rechungseinheit dingliche Güter und Dienstleistungen anfordern. Alle Tauschbedürfnisse könnten wie bei uns befriedigt werden, aber Geld wäre trotz der Zahlung in Rechnungseinheiten nicht vorhanden, weil der Clearingstelle mit der Zahlung keine Tauschmacht übertragen werden würde. Sie verwendet den eingezahlten Betrag ja nicht weiter, um irgend etwas zu kaufen, sondern benützt ihn nur zur Verrechnung, um festzustellen, was sie auszuliefern hat. Ihre Vorräte besorgt sie sich durch Zahlungen nach der festgesetzten Tabelle, ohne irgend eine Deckung zu benötigen. Wenn einmal zu viel gezahlt worden ist, um alle tabellarisch gedeckten Lieferwünsche zu befriedigen, werden die Preise amtlich angepasst, und die Gefahr der Inflation ist gebannt. Das System kann nur funktionieren, wenn es gelingt, direkten Tausch unter den Untertanen weitgehend zu unterbinden, da es sonst schwer fallen würde, in der Clearingstelle für alle gewünschten und bezahlbaren Lieferungen Vorräte bereitzuhalten. Solche Schwierigkeiten brauchen hier nicht erörtert zu werden, zumal an die Realisierung des Systems nicht zu denken ist. Hier interessiert nur die Möglichkeit. Bei dieser kommt es nur darauf an: Die finale Unspezialisiertheit der Tau321 https://doi.org/10.5771/9783495860755 .

Unverbindlich geltende Normen

schmacht käme in dem System zu kurz. Zwar könnten die Untertanen die Art der Gegengabe für den eingezahlten Betrag auswählen, aber dabei müssten sie sich an die von der Clearingstelle (oder direkt von der Obrigkeit) festgesetzten Preise halten, während sie in einer Geldwirtschaft Preisdifferenzen verschiedener Anbieter ausnützen können, um entweder das billigste Angebot vorzuziehen oder ein teureres zu wählen, weil ihnen der teurere Erwerb wegen besserer Beratung, größerer Vertrauenswürdigkeit des Lieferanten, irgend welcher Zusatzeigenschaften des Liefergutes oder aus anderen Gründen mehr zusagt. Ein Beispiel ist die freie Arztwahl. Die Clearingstelle würde auf Anforderung einen passenden Arzt bereitstellen und dafür den festgesetzten Betrag an Rechnungseinheiten kassieren; der Privatpatient sucht sich aber den passenden Arzt seines Vertrauens, und das kann er nur, wenn er Geld in der Tasche hat. Es stellt sich also heraus, dass ausgedehnte Tauschwirtschaften ohne Geld möglich sind 547 , aber nur um den Preis einer Abweichung vom Ideal finaler Unspezialisiertheit. Die final optimal unspezialisierte Tauschmacht verlangt nach Geld. Dessen spezifizierte Aufgabe ist also nicht die Hilfe zur Beseitigung empfundener Mängel durch Tausch, sondern die Freiheit der Wahl, die es seinem Inhaber eröffnet, die Ziele für den Einsatz seiner Macht selbst zu bestimmten, sogar auf Kosten eigener Bedürfnisse, indem er diese für Andere oder eine von ihm heilig gehaltene Sache aufopfert. Geld wird als Geld, statt nur als Hilfsmittel beim Tauschen, zur Freigabe individueller menschlicher Macht benötigt. Erst durch das Geld überschreitet der Mensch die Schranke zur Mündigkeit im Sinne der vollen Geschäftsfähigkeit. Mündigkeit ist freie Verfügbarkeit eigener Mittel für alle rechtlich und moralisch erlaubten Zwecke, die dem Mächtigen belieben. Dafür ist dem Individuum, sofern es keine souveräne Herrschaft über hinlängliche Ressourcen ausübt, Geld nötig. Das unmündige Kind wird erzogen, d. h. man schreibt ihm vor, was es tun und lassen soll, um sein Verhalten zweckmäßig (tunlichst in seinem eigenen Interesse) zu steuern. Der Mensch, den man aus solcher Steuerung von außen in die Mündigkeit entlässt, könnte ohne Geld die volle Geschäftsfähigkeit nur unzulänglich be-

547 Gegen Brodbeck, wie Anm. 538, der S. 840 schreibt: »Um das Geld aus den Funktionen des Tauschens ›ableiten‹ zu können, muss man die Existenz umfangreicher Tauschgesellschaften voraussetzen. Doch diese Existenz ist ohne Geld unmöglich.«

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Das Geld

tätigen; erst das Geld verschafft ihm eine an die Regelung seiner Zwecksetzung aus eigenem Belieben elastisch angepasste Institution. Staat und Geld sind als Institutionen final unspezialisierter Macht nah verwandt, aber auch entgegengesetzt. Im Staat sind die Mächte vieler Menschen und andere Potenzen zum geordneten Einsatz für immer erst – auf längere oder kürzere Zeit – zu bestimmende Zwecke zusammengefasst; das Geld wird als final unspezialisierte Tauschmacht über alle Teilnehmer am Markt ausgestreut, in der Weise, dass diese Macht sich bei der Ausübung von selbst zu einem anderen fortwälzt. Dadurch entsteht ein optimaler Verteilungserfolg; jeder, der am Markt erfolgreich etwas anbietet, kommt in den Besitz solcher final unspezialisierter Macht. Geld ist eine Macht, die wandert, wenn sie nicht von der Ausübung zurückgehalten wird. Da mit den Menschen auch die Zielsetzungen wechseln, erreicht die Verteilung des Geldes nicht nur eine Vielzahl von Inhabern, sondern auch eine Vielzahl von Zwecken, die mit der Ausübung der Macht verfolgt werden; das Geld sorgt also dafür, dass das Potential finaler Unspezialisiertheit durch eine bunte Fülle von Spezialisierungen ausgenützt wird. Der Staat braucht eine Spitze, die den zusammengefassten Machtmitteln einen Zweck, den jeweiligen Staatswillen, aufsetzt; er ist die monokratische Organisation final unspezialisierter Macht mit optimalem Sammlungseffekt. Das Geld ist die polykratische Institution final unspezialisierter Macht mit optimalem Verteilungseffekt. Wenn die Inhaber von Teilmächten der zur Staatsmacht gebündelten bzw. als Geld verteilten Macht als Beiträger bezeichnet werden, gilt der Satz: Gleicher Anteil aller Beiträger an der Staatsmacht ist unmöglich, am Geld als Macht aber möglich. Im Fall des Staates würde der gleiche Anteil die einstimmige Festlegung des Staatswillens verhindern, sogar in der plebiszitären Demokratie, in der die Mehrheit entscheidet, so dass die Minderheit ohne Einfluss auf das Ergebnis bleibt; im Fall des Geldes ist die Gleichverteilung nicht ausgeschlossen, wenn auch aus gleich (3.4.4) zu erörternden Gründen unwahrscheinlich. Segen und Fluch liegen beim Geld dicht bei einander. Der Segen besteht darin, dass der gemeine Marktteilnehmer dank des Geldes aus der Dienstbarkeit, sich die Zwecke für den Einsatz seiner Macht vorgeben lassen zu müssen, befreit wird. Diesen Segen meinte Schlosser, als er 1798 zur Geldkritik des Aristoteles anmerkte: »Mich dünkt vielmehr, dass wir bei manchem großem Übel, das durch das Geld in die Welt gebracht worden ist, doch dieser Erfindung allein es zu danken 323 https://doi.org/10.5771/9783495860755 .

Unverbindlich geltende Normen

haben, dass nun nicht neun Zehntel der Menschen dem glücklichen einen Zehntel, das im Besitz der Liegenschaften wäre, dienstbar sein müssen.« 548 Der Fluch des Geldes ist die ihm eingepflanzte Verführung zur Sucht der Mehrhaberei, der Pleonexie nach Aristoteles, als einer Form der Sogwirkung des Machthungers, des »Willens zur Macht« (Nietzsche). Diese Verführung beruht darauf, dass unter den käuflichen Waren auch das Geld sich befindet, so dass man mit Geld Geld kaufen kann, und, wenn man geschickt verfährt, mehr Geld. Der Wille zum Geld als Wille zur Macht hat keinen Sättigungspunkt, wie ihn natürliche Bedürfnisse des Körpers haben, denn Macht als Steuerungsfähigkeit auf einer Stufe kann von einer Steuerungsfähigkeit auf einer höheren Stufe abermals gesteuert werden: Macht kann sich Macht unterwerfen und dadurch als mächtiger erweisen. Die Jagd nach Macht geht immer weiter, wenn sie einmal als Ziel statt als Mittel zu anderen Zielen entdeckt ist, und als Jagd nach Geld ganz besonders schnell, weil dessen Ausübung zunächst ein Verlust an Macht ist, der den Jäger sofort nach Kompensation und Überkompensation verlangen lässt. Zum Geld als Geld gehört dieser Exzess seines Einsatzes aber keineswegs, denn es ist final unspezialisiert. Ausübung von Geld ist sein Gebrauch als Tauschmacht. Außerdem kann es auf manche andere Weise verwendet werden, etwa als Geschenk, Buße, Tribut, heute meist in Gestalt von Steuern. Eine Sonderstellung hat die Bestechung von Amtspersonen. Sie ist eine Ausübung von Geld, das wie beim Kauf übertragen wird, mit amtlicher Begünstigung als Gegengabe. Gewöhnlich gibt es dafür keinen Markt, aber bei hinlänglicher Korruption kann sich eine Institution mit festen Tarifen für das Einhandeln von Bevorzugungen für Bestechungsgelder herausbilden. Dann ist das ein Markt wie andere auch. Für jede Verwendung des Geldes gibt es Institutionen, für seine Ausübung die Institution des Marktes. Einer Organisation bedarf es dafür nicht unbedingt. Einfache Märkte, sowohl für Kauf wie für geldlosen Tausch, können ohne Zulassungsbeschränkungen für Personale auskommen; dann darf dort jeder als Käufer oder Anbieter auftreten. Kompliziertere Tauschsysteme von der Art städtischer, nationaler und internationaler Wirtschaften verlangen strengere Regelung, auch abgesehen von den juristischen Zulassungsbeschränkungen aus Unmün548 J. G. Schlosser, Aristoteles’ Politik und Fragment der Ökonomik, 1. Abteilung 1798, S. 57, zitiert nach Gerloff, wie Anm. 540, S. 114 f.

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Das Geld

digkeit. Solche Regeln dienen der Systematisierung und der Stabilisierung des Geldverkehrs. Die Systematisierung obliegt der Währung. Eine Währung ist eine systematische Organisation der Wege von Geld. Dass sie sich als Markenzeichen eine gewisse Münzsorte gibt, die auch Papierform annehmen kann, z. B. den Dollar, kommt erst nach der Quantifizierung des Geldes (3.4.2) in Betracht. Die Stabilisierung bewirkt durch Kontrolle und Bedrohung mit Sanktionen, dass die Regeln der Währung hinlänglich eingehalten werden, um dieser das Vertrauen zu erwerben, das für flüssigen Geldverkehr unerlässlich ist. Dazu ist heute eine Beteiligung des Staates und seiner Unterorganisationen erforderlich. Sowohl in die Systematisierung als auch in die Stabilisierung der Ausübung von Geld auf entwickelten und verzweigten Märkten greifen Organisationen ein. Das Geld ist die Tauschmacht, die es ist – final unspezifisch, durch seine Ausübung übertragen – durch Formung dieser Ausübung in einer Institution, die durch systematisierende und stabilisierende Organisationen geschützt und getragen wird.

3.4.2

Quantifizierung des Geldes

Die Wesensbestimmung des Geldes ist für keine Anwendungen brauchbar, ehe gesagt werden kann, was mehr Geld ist und wie viel Geld etwas ist. Diese beiden Fragen geben die Stufen einer Quantifizierung des Geldes an. Zuerst ist eine relative Quantifizierung erforderlich, durch die für zwei beliebige Gelder A und B bestimmt wird, in welchem Größenverhältnis sie stehen. Danach folgt die absolute Quantifizierung, durch die jedem Geld auf einer festen Skala ein Zahlenwert zugeschrieben wird, wie der Wärme durch die Temperaturskala des Thermometers. Dieser Wert richtet sich nach dem Preis einer Ware, die gerade für das betreffende Geld gekauft werden kann. Geldwert und Preisstufe sind also gleich. Ich beginne mit der relativen Quantifizierung. A und B seien Gelder, M sei ein Markt, auf dem n Warensorten zum Kauf angeboten werden. Die Zahl n kann beliebig gewählt werden, egal, wie bunt das Angebot am Markt ist; es kommt nur auf die der Willkür des Betrachters überlassene Definition der Sorten an. Ich verlange, dass sowohl für A als auch für B von jeder Sorte wenigstens ein Exemplar gekauft wird; wenn die Abgrenzung der Exemplare nicht auf der Hand liegt, kann sie willkürlich, etwa nach Gewicht, bestimmt werden, ähnlich, etwa nach 325 https://doi.org/10.5771/9783495860755 .

Unverbindlich geltende Normen

der Zeit, bei Dienstleistungen. Was das Mehrfache (oder Wenigerfache) an Exemplaren einer einzigen Sorte ist, liegt auf der Hand. Den entsprechenden Begriff für Exemplare aus verschiedenen Sorten erkläre ich so: Das i-fache einer Sorte A ist gleich dem j-fachen einer Sorte B, wenn genau dasselbe Geld, das für den Kauf des i-fachen benötigt wird, auch für den Kauf des j-fachen gerade ausreicht. Durch Vergleich der Differenzen lässt sich dann das Mehr oder Weniger bestimmen. Nun sei f (Sr) mit r = 1, 2, …, n ein der Bedingung genügender Kauf, bei dem A ausgeschöpft wird; jeder Wertverlauf dieser Funktion ist also eine Verteilung von A auf die n Sorten. Ferner sei k eine rationale Zahl > 0. Ich sage, dass B das k-fache von A ist, wenn die beiden folgenden Bedingungen erfüllt sind. (1) Bei jeder vollständigen Ausschöpfung von B durch Kauf an M, wobei von jeder der n Sorten mindestens ein Exemplar erworben wird, kann mindestens das k-fache von f (Sr), also k x f (Sr), gekauft werden. (2) Bei mindestens einer vollständigen Ausschöpfung von B durch Kauf an M, wobei von jeder der n Sorten mindestens ein Exemplar gekauft wird, kann höchsten k x f (Sr) gekauft werden. Die Definition ist folgendermaßen begründet: Zu (1): Wenn B mindestens das k-fache von A ist, muss jeder Kauf, bei dem B ausgeschöpft wird, in der Lage sein, mindestens k x f (Sr) so viele Exemplare einzunehmen, wie für vollständige Ausschöpfung von A erworben werden können. Zu (2): Wenn B mehr als das k-fache von A wäre, müsste jede vollständige Ausschöpfung von B in der Lage sein, mehr als das k x f (Sr)-fache an Exemplaren der n Warensorten zu erwerben. Wenn mindestens eine Ausschöpfung von B höchstens dazu reicht, das k x f (Sr)-fache zu erwerben, kann nicht für jede gelten, dass sie mehr leisten kann. Also ist dann B nicht mehr als das k-fache von A. Wenn beide Bedingungen erfüllt sind, ist B also mindestens das k-fache von A, aber nicht mehr als das k-fache von A, also genau das k-fache von A. Wenn k > 1 ist, ist B > A, wenn k = 1 ist, ist B = A, wenn k < 1 ist, ist B < A. Ohne Beschränkung der Allgemeinheit wähle ich ein beliebiges Größenverhältnis verschieden großer Gelder A und B; sie mögen sich wie 4 : 5 verhalten. Mit diesem Beispiel will ich nun die absolute Quantifizierung vornehmen. Des einfachen Ausdrucks halber identifiziere ich dabei die Gelder A und B mit ihren 326 https://doi.org/10.5771/9783495860755 .

Das Geld

Besitzern, wodurch ich nicht ausschließen will, dass diese außerdem mehr Geld besitzen. A und B werden gebeten, für einen Augenblick ihre Gelder A und B vollständig (bis zur Erschöpfung) so aufzuwenden, dass von jeder der n Sorten auf M außer einer, die besonders leicht stückelbar ist, genau ein Exemplar gekauft wird, von der ausgezeichneten Sorte – ich nenne sie »Standardsorte« – aber so viel, wie für das verbleibende Geld gekauft werden kann. Ohne Beschränkung der Allgemeinheit darf unterstellt werden, dass es sich bei der Standardsorte um Gold handelt. Das Verhältnis 4 : 5 wird sich dann auf den Goldbesitz übertragen; der Überschuss von B über A ist verkörpert in einem Fünftel des Goldbesitzes von B. Dieses Fünftel kann nun dank der Stückelbarkeit von Gold in Hundertstel oder Tausendstel aufgespalten werden. Ich wähle ein Hundertstel, also ein Fünfhundertstel des Goldbesitzes von B. Das Geld, das jemand zum Kauf eines solchen Fünfhundertstel von B auf M aufwenden muss, soll als Einheit des Geldquantums bestimmt werden; es entspricht dem Preis eines Fünfhundertstels. Ich bezeichne das zum Erwerb für diesen Preis erforderliche Geld als 1 P. Da Geld unspezifische Tauschmacht ist, kann man für alle anderen Warenarten ermitteln, was ihr Preis ist, d. h., wie viel Geld, ermittelt durch Multiplikation oder Division von 1 P, aufgewendet werden muss, um ein Exemplar der betreffenden Sorte zu kaufen; der Übergang zu vielen Exemplaren ist trivial. Die Standardsorte dient zunächst als Vergleichmaßstab, doch kann sie, wenn die Übertragung gelungen ist, durch irgend eine andere ebenso stückelbare Sorte ersetzt werden. Es ist wichtig, bei der Bestimmung des Einheitsquantums nicht den gesamten Goldbesitz von A und B, sondern den in Gold ausgewiesenen Überschuss von B über A als Grundlage zu wählen. Nur dann kann nämlich von der unübersichtlichen Zusatzbedingung abgesehen werden, dass mehr oder weniger große – wahrscheinlich erhebliche – Teile von A und B für den Kauf je eines Exemplars der n–1 Sorten (abzüglich der Standardsorte) ausgegeben werden müssen. Was für die Standardsorte übrig bleibt, wäre nicht abschätzbar. Dagegen ist der Überschuss von B über A unabhängig von allen übrigen Ausgaben von A und B. Es bleibt noch das Bedenken zu berücksichtigen, dass vielleicht der Markt M so groß und die Anzahl seiner Sorten so umfangreich ist, dass niemand genug Geld hat, um von jeder Sorte ein Exemplar zu kaufen. In diesem Fall wähle man einen bescheideneren Teilmarkt von M, der 327 https://doi.org/10.5771/9783495860755 .

Unverbindlich geltende Normen

diesen Bedenken nicht mehr unterliegt. Wenn die absolute Qualifizierung auf diesem Teilmarkt erfolgt ist, kann sie durch Multiplikation und Division von 1 P mühelos auf den Gesamtmarkt übertragen werden. Darüber hinaus kommt es auf die größere oder geringere Anzahl der Sorten, die von der Sortendefinition abhängt, für die absolute Quantifizierung nicht an, weil die Funktion f (Sr) zulässt, dass bei jeder beliebigen Aufteilung des Warenangebots auf Sorten genau dieselben Waren gekauft werden, solange beide Gelder reichen, um von jeder Sorte ein Stück zu kaufen. Auch entsteht nicht das sonst für die Erstellung eines Preisindex dornige Problem der Auswahl eines Warenkorbs, denn wegen der finalen Unspezialisiertheit des Geldes sind alle Waren gleichberechtigt. Das Einheitsquantum Geld, und damit jedes Vielfache von ihm, bedarf einer sinnfälligen Repräsentation als Ausweis. Auf deren mehr oder weniger körperliche Gestalt kommt es nicht an; außer um Metall, Papier oder die nur durch Software enträtselbaren Spuren in den Festplatten von Computern würden auch regelmäßige Schwingungen von Schallwellen oder Laserpulsen den erforderlichen Dienst leisten. Zudem bedarf die Repräsentation der Anbindung an eine Währung, weil das Geld nur in einer solchen Institution Bestand hat. Daher drückt man dem Repräsentanten, der Erscheinungsform542 des Geldes mit dem Betrag 1, das Markenzeichen einer Währung auf und spricht von einem Dollar, einem Maria-Theresien-Taler usw.

3.4.3

Kritik der Wirtschaftswissenschaft

Der Hauptgegensatz meiner Geldtheorie gegen alle bisherigen Wirtschaftslehren seit Aristoteles besteht darin, dass ich Geld nicht als Zugabe zu einem Wert oder Nutzen von Waren auffasse, als Hilfsmittel beim Tausch zur Befriedigung von Bedürfnissen, sondern als eine Art von Macht, die sich im Medium des Tausches entfaltet: als die Macht, sich die Zwecke für den Einsatz eigener Macht aus einem (mehr oder weniger) breiten Angebot von Möglichkeiten zu wählen, ohne Vorgaben von außen oder aus natürlichen Bedürfnissen, mit einer Verteilungswirkung, die jedem, der etwas anzubieten hat, die Chance gewährt, an dieser Macht teilzunehmen. Demgemäß werfe ich der Wirtschaftswissenschaft seit Adam Smith vor, dass sie die Bedeutung des Geldes für die Wirtschaft gewaltig unterschätzt. »Unter den Annahmen der klassischen Theorie, also bei flexiblen Güterpreisen und 328 https://doi.org/10.5771/9783495860755 .

Das Geld

Nominallöhnen, hat die Geldmenge grundsätzlich keinen Einfluss auf die realen Größen, wie Beschäftigung, Produktion, relative Preise und Realzins. Da diese realen Variablen aber die in Wirklichkeit relevanten ökonomischen Größen darstellen, gab es für die klassischen Nationalökonomen ›nichts Bedeutungsloseres als das Geld‹ ; sie sprachen in diesem Zusammenhang von ›Geldschleier‹, der sich gewissermaßen über das Geschehen im realen Sektor der Volkswirtschaft legt. Wer durch diesen Schleier nicht hindurchblickt, lässt sein Urteil also fälschlicherweise von den monetären Vorgängen beeinflussen.« 549 Das ist nach Wicksell und Keynes insofern anders geworden, als der Geldmengensteuerung ein beträchtlicher – oft verhängnisvoller – Einfluss auf das wirtschaftliche Gleichgewicht und Wachstum zugeschrieben wird, aber derselbe Wicksell schreibt noch 1928: »Die bewusste Elimination der Geldfunktion, die Vorstellung, dass Handel letztlich Gütertausch sei, die Auffassung des Kapitals als Realkapital statt seiner Geldsumme und die Konzeption der Löhne als Reallöhne – diese Annahmen seien die entscheidenden Schritte gewesen, die der Nationalökonomie erstmals wissenschaftlichen Charakter verliehen hätten.« 550 Hiernach käme die Wirtschaftswissenschaft erst zu sich selbst, wenn sie die Geldwirtschaft als bloßen Nebenschauplatz der Realwirtschaft (mit Tausch in Produktion und Konsum) versteht. Das Geld wird nur bei seiner äußeren Erscheinung als Nominal- und Währungsgeld genommen, nicht als elementare Macht, die sich im Medium des Tausches entfaltet. Das ist immer noch der Standpunkt der Geldtheorie. »In der Nationalökonomie wird der Geldbegriff heute allgemein von der Geldfunktion her bestimmt: Alles, was Geldfunktion ausübt, ist Geld. Dabei unterscheidet man folgende Funktionen des Geldes: (a) Geld als 549 Otmar Issing, Einführung in die Geldtheorie, 10. Auflage München 1995, S. 108; vgl. John Stuart Mill: »Von der Sache her kann es in der Wirtschaft und Gesellschaft kein unbedeutenderes Ding geben als Geld – außer als Informationsmittel, um Zeit und Arbeit zu sparen. Geld ist eine Maschine, die schnell und bequem tut, was ohne es ohnehin, wenngleich weniger schnell und bequem, getan würde. Und wie viele andere Maschinen übt es eine eigentümliche und unabhängige Eigengesetzlichkeit nur dann aus, wenn es in einen unordentlichen Zustand gerät.« (Principles of Political Economy with some of their Applications to Social Theory [1848/1871], hg. v. W. Astley, London 1909, reprinted 1965, S. 488, von mir zitiert nach: Joachim Stadermann, Otto Steiger, Allgemeine Theorie der Wirtschaft, 1. Band: Schuldökonomik, Tübingen 2001, S. 190) 550 Karl Pribram, Geschichte des ökonomischen Denkens, übersetzt von Horst Bruhmann, Frankfurt a. M. 1983, Band II S. 879, nach Knut Wicksell in: Schmollers Jahrbuch für Gesetzgebung, Verwaltung und Volkswirtschaft 52, 1928, S. 775

329 https://doi.org/10.5771/9783495860755 .

Unverbindlich geltende Normen

Tausch- und Zahlungsmittel (…) b) Geld als Wertaufbewahrungsmittel (…) c) Geld als Recheneinheit.« 551 Aber zur Funktion als Tauschund Zahlungsmittel und als Recheneinheit wird kein Geld benötigt, wie das Beispiel der Clearingwirtschaft (3.4.1) zeigt, und was soll der Wert sein, der als Geld aufbewahrt wird? Der Wert als Tausch- und Zahlungsmittel ist schon durch (a) abgedeckt, und ein Wert, der aus der verkauften Ware in das erlöste Geld übergegangen wäre, kommt auch nicht in Frage. »Non olet«, »es stinkt nicht«, sagte Kaiser Vespasian über Münzgeld, das durch ein Geschäft mit einer stinkenden Flüssigkeit erworben war, und ebenso wenig geht der Wohlgeruch verkauften Parfüms auf das Kaufgeld über, so wenig wie ein anderer Wert seiner Quelle. Tatsächlich kann der Wert, der als Geld aufbewahrt wird, nur in Macht bestehen. Erst, wenn man einsieht, dass Geld primär Macht ist, wird der Zweck seiner Aufbewahrung verständlich: Macht kann man sammeln und für künftigen Einsatz aufbewahren. Es lohnt sich, »das Pulver trocken zu halten«. Unverträglich wird vom bloßen Gütertausch her auch der Geldzins, denn Zinserträge leisten keinen Dienst zum Tausch. Die auffälligste und beständigste Erscheinung des Geldes im Wirtschaftsbetrieb ist der Preis. Die Wirtschaftswissenschaft nähert sich dem Preis vom Wert der Ware her, die durch Kauf getauscht wird. Die wichtigste Neuerung in der Geschichte der modernen Wirtschaftswissenschaft ist der Übergang von der objektiven zur subjektiven Wertbestimmung. Die alten Klassiker (Locke, Adam Smith, Ricardo, Marx, Mill) bestimmen den Wert objektiv, als eigenen Wert der Ware, gemessen an der Arbeitszeit, die in der Gesellschaft durchschnittlich zu deren Produktion benötigt wird. Das ist aus vielen Gründen unhaltbar, rein logisch aber wegen eines Zirkels, der entsteht, wenn man auf diesem Weg den Preis ermitteln will. Der Wert richtet sich nämlich nicht nach der Zeit für Arbeit überhaupt, sondern, wenn überhaupt, nach der Zeit für qualifizierte Arbeit, und für deren Qualität auf der zugehörigen Stufe hat man oft kein Maß als den Preis, der dafür gezahlt wird. An die Stelle der objektiven Wertbestimmung setzte sich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts die subjektive. Der Wert der Ware ist demnach der Wert, den sie für die Wünsche und Bedürfnisse des Käufers hat. Diese subjektive Theorie erschien in Gestalt der Grenznutzenlehre, die in den beiden Gesetzen von Gossen zusammengefasst ist: 551

Issing, wie Anm. 549, S. 1 f.

330 https://doi.org/10.5771/9783495860755 .

Das Geld

1.

2.

Der Wert einer Warensorte mindert sich proportional zu ihrer abnehmenden Knappheit und bemisst sich bei ausreichendem Angebot nach dem Wert des letzten zur völligen Befriedigung des Bedarfs noch erforderlichen Stückes. Wenn Bedarf nach Waren aus mehreren Sorten besteht, gleicht sich der Wert der dringlicher benötigten Sorten an den Wert der wenigst dringlichen in Richtung auf das arithmetische Mittel aller Sortenwerke an.

Vor dem Geld scheitert die Wertbestimmung nach dem Grenznutzen daran, dass dem Bedarf nach Geld nicht, wie dem Bedarf nach natürlichen Gütern, ein Sättigungspunkt eingepflanzt ist, an dem man erwarten könnte, dass der Bedarf gestillt wäre; das wurde unter 3.4.1 ausgeführt. Geld hat keinen Grenznutzen. Gegen einen Aufbau des wirtschaftlichen Wertkalküls auf den Begriff des Nutzens ist überdies einzuwenden, dass Nutzen im erfolgreichen Einsatz von Mitteln für Zwecke besteht und erst von diesen aus zu beurteilen ist; welche Zwecke aber ein Käufer verfolgt; ist mit wirtschaftswissenschaftlichen Methoden nicht erkennbar. Dieser Einwand entfällt, wenn (mit Pareto und seinen Nachfolgern) statt des Nutzens die Präferenzen der Tauschenden als empirische Grundlage des Kalküls gewählt werden; denn verschiedene Zwecke und Strategien sind mit denselben Präferenzen vereinbar. Gegen die den Präferenzen zugemutete Tragfähigkeit für den Kalkül des Tauschpreises entstehen aber andere Bedenken. Man stellt sich vor, dass der einzelne Marktteilnehmer mit einer hinlänglich breit angelegten Präferenzordnung die Objekte seines Kaufs auswählt. Dessen Präferenzen richten sich aber oft nach seinen Annahmen über die Präferenzen anderer Teilnehmer und können daher nur unter Voraussetzung eines Systems von Wechselwirkungen beim Präferieren, nicht zur Konstruktion eines solchen Systems unter Voraussetzung fester Individualpräferenzen, verwendet werden. Ferner können sich beim Marktteilnehmer zwei entgegengesetzte Präferenzordnungen durchkreuzen, eine positive Ordnung des Vorziehens und eine negative der Ablehnung und Abwehr. Das Resultat eines solchen Konflikts braucht keine einheitliche Präferenzordnung zu werden; es kann auch in Zufallsentscheidungen bestehen. Ohnehin ist Ordnung der Präferenzen keine Voraussetzung der Teilnahme am Markt. Darüber hinaus ist der subjektiven Theorie, ebenso wie der objektiven, der Weg vom Wert zum Preis der Ware durch einen Zirkel ver331 https://doi.org/10.5771/9783495860755 .

Unverbindlich geltende Normen

sperrt. Oft kann nämlich der Wert nur aus dem Preis bestimmt werden. Das ist das Prinzip der Auktion. Welchen Wert eine Bedürfnisbefriedigung oder Präferenz für den Bieter hat, ergibt sich allein aus dem Preis, den er zu zahlen bereit ist. Dieselbe Abhängigkeit besteht bei komplexen Dienstleistungen, z. B. Erstattung von Gutachten. Die Präferenz des Auftraggebers für einen Gutachter, verglichen mit anderen Gutachtern oder dem Verzicht auf ein Gutachten, lässt sich nur dem Preis entnehmen, den er für das Gutachten zu zahlen bereit ist. Eine logisch saubere Einführung des Preisbegriffs ist von der Wertbetrachtung her, und daher in der Sicht der bisherigen Wirtschaftswissenschaft, offenbar nicht möglich. »Im Verlauf der Diskussion über das Preisproblem wurde der Nachweis erbracht, dass jeder Versuch, den subjektiven Wertbegriff zur Bildung der Preise zu benützen, von der Annahme eines bestehenden Preissystems abhängig ist.« 552 Meine Behandlung des Geldes entgeht diesem Zirkel, weil ich Geld nicht als Diener im Tausch, sondern als Macht beim Tauschen verstehe, und den Preis entsprechend als Preis für die Gelegenheit, beim Tauschen die Macht eigener Zwecksetzung auszuüben. Eine zirkelfreie Einführung des Preisbegriffs steht im vorigen Abschnitt. Die Wirtschaftswissenschaft wurde bei Adam Smith und seinen Nachfolgern zur Zurückstellung des Geldes hinter den Tauschwert der Ware durch ihre Opposition gegen die zuvor herrschende Lehre des Merkantilismus veranlasst. Die Merkantilisten hatten Verständnis für den Eigenwert des Geldes als Macht, aber sie verfielen einem nicht geringeren Missverständnis als ihre Gegner und Nachfolger, indem sie die polykratische Macht des Geldes als Anhängsel der monokratischen Macht des Staates behandelten, also die Komplementarität dieser beiden ebenbürtigen Institutionen final unspezialisierter Macht übersahen. Obendrein verstanden sie Geld viel zu konkret als Edelmetall und nicht als Tauschmacht, die durch ihre Ausübung übertragen wird. So sahen sie über die Verteilungschancen des Geldes hinweg und reduzierten es auf einen sterilen Staatsschatz.

552

Pribram, wie Anm. 550, Band I S. 682

332 https://doi.org/10.5771/9783495860755 .

Das Geld

3.4.4

Dynamik des Geldes

Geld als Tauschmacht, die durch ihre Ausübung übertragen wird, hat im Augenblick der Übertragung beim Empfänger dieselbe Größe wie beim Geber, aber danach schwankt seine Größe unter dem Einfluss von Kräften, die sich im Wesentlichen auf vier Dimensionen verteilen lassen: Geldschöpfung und Geldvernichtung; Beschleunigung und Verzögerung des Geldumlaufs; Vermehrung und Verminderung des Angebots an Waren, sowohl schon vorhandener als auch neu eingeführter Sorten; erfolgreiche und missglückte Spekulation. Spekulation ist Ausübung von Geld in Absicht auf mehr Geld. Sie kann sich in die anderen drei Typen einmischen, bewirkt aber auch eigene Effekte. Von den drei Alternativen betrifft jeweils die erste Seite die Geldvermehrung, die zweite die Geldverminderung. Unter dem Einfluss der vier Prozesse steigen und sinken die Preise. Preiserhöhung vermindert das Geld, während Preiserniedrigung (Verbilligung) es nicht unbedingt vermehrt, sondern nur, wenn Geldschöpfung und Geldumlauf dafür sorgen, dass ausreichend gekauft (Geld ausgeübt) wird. Zu den vier Wirkfaktoren der Schwankung der Geldmenge will ich nun der Reihe nach etwas sagen. Geldschöpfung: Ursprung des Geldes ist das Ansehen. Wilhelm Gerloff hat gezeigt, dass unter den Vorformen des Geldes an erster Stelle das Hortungsgeld steht, bestehend aus kostbaren, prestigehaltigen Gütern, die nur bei besonderen Gelegenheiten zum Tausch freigegeben werden, und dass erst danach die Entwicklung zu beliebig umlaufendem Tauschgeld einsetzt. 553 Durch die privilegierten Objekte wird Ansehen übertragen und gestückelt; so wirkt es in den Tausch hinein, der sich daher nicht unvermittelt an die anfängliche Hortung anschließt. Das »Tauschgeld oder Kaufgeld (…) hat von seinen ersten Anfängen an in immer steigendem Maße der Vermittlung des Güterverkehrs dienen können und gedient, weil es immer ein Gut war, das zugleich der Befriedigung anderer starker Bedürfnisse genügte, vor allem aber unmittelbar oder mittelbar dem Geltungsbedürfnis.« 554 »Das, was in der sozialen Unterscheidung als Zeichen oder besser auch als Faktor sozialen Ansehens, politischer und ökonomischer Macht angesehen wird, das 553 554

Wie Anm. 542, S. 70 Gerloff, wie Anm. 540, S. 83

333 https://doi.org/10.5771/9783495860755 .

Unverbindlich geltende Normen

erstreben als Mittel der Erringung der Gleichstellung auch die auf den unteren Sprossen der sozialen Stufenleiter Stehenden.« 555 Im voll entwickelten Geld setzt sich das zum imponierenden Objekt geronnene Ansehen als Edelmetall fort, speziell als Gold. Der Inhaber tauscht ein Stück Ansehen in Gestalt von Gold gegen die gewünschte Ware ein und überträgt mit dem Gold das Ansehen auf den Lieferanten, der damit weitertauscht usw. Ansehen ist das Urgeld, das im Gewand imponierender Trägerobjekte in die Richtung seiner Übertragung strömt und dabei quantifiziert werden kann. Als das grundlegende Motiv der Einführung von Geld kann demnach das Bestreben gelten, Ansehen in Macht (vom Geldtyp) zu verwandeln. Als Vehikel der Geldschöpfung aus Ansehen hat sich das Gold merkwürdig lange gehalten, bis zur Aufhebung des Goldstandards im Weltwährungssystem durch Präsident Nixon 1973. Der Irrtum, Gold – ein nur durch strahlende Anschaulichkeit, kaum durch nützliche Verwendbarkeit auffälliges Metall – mit Geld zu verwechseln, hat Spanien nach der Entdeckung des goldreichen Amerika an den Rand des Ruins gebracht. Wer Gold ernten konnte, schöpfte damit Geld. Inzwischen ist die Geldschöpfung als Berufsaufgabe von den Banken übernommen worden; Zentral- oder Notenbanken und Geschäftsbanken teilen sich in diese Arbeit, zu der bei der Zentralbank die planmäßige Geldvernichtung kommt. Die Banken haben ein Monopol der Geldschöpfung aber nur für das auf eine Währung lautende Nominalgeld, nicht für die reale Tauschmacht Geld. Jedes handelbare Wertpapier ist Geld, sogar jeder Wechsel; Privatpersonen können also ebenso wie Finanzinstitute Geld schöpfen, erst recht natürlich juristische Personen. Bei keiner Geldschöpfung kann aber festgelegt werden, wie viel Geld geschöpft worden ist. Das stellt sich erst am Markt heraus und unterliegt dem Einfluss der übrigen drei Triebkräfte. Wenn sehr viel Geld geschöpft wird, verdrängen sich die neuen Gelder am Markt beim Kauf der verfügbaren Waren, so dass, wenn deren Angebot nicht kauffördernd vergrößert wird, die Preise steigen und das Geld abnimmt. Geldumlauf: Das Maß für seine Geschwindigkeit in einer Zeiteinheit ist das Produkt zweier Quotienten. Der Wert jedes Quotienten, entsprechend des Produktes, steigt mit dem Zähler und sinkt mit dem Nenner. In dem ersten Quotienten ist Zähler der Betrag des am Markt 555

Gerloff, wie Anm. 542, S. 52

334 https://doi.org/10.5771/9783495860755 .

Das Geld

ausgeübten Geldes, Nenner die Differenz zwischen dem gesamten verfügbaren Geld und diesem Betrag. Je größer der Quotient ist, desto mehr ist von dem vorhandenen Geld in der Zeit ausgegeben worden. In dem zweiten Quotienten ist Zähler die Zahl der Kaufakte in der Zeit, Nenner die Summe der dabei erlösten Preise. Dieser Quotient steigt mit der Häufigkeit der Geldausübungen in der Zeit. Dadurch wächst das Geld, weil es durch seine Ausübung übertragen wird; der durchschnittliche Marktteilnehmer bekommt mit wachsender Zahl der Ausübungen das umlaufende Geld schneller wieder in die Hand und kann es noch einmal einsetzen, wodurch seine Tauschmacht zunimmt und daher, da es sich um den Durchschnitt handelt, die gesamte am Markt verfügbare Tauschmacht Geld. Dafür ist aber erforderlich, dass die Preise nicht zu hoch sind. Die Häufigkeit der Geldausübungen sorgt dafür, dass ein Sinken der Preise nicht durch Brachliegen des Angebots zur Geldvernichtung führt; wenn diese Gefahr ausgeschlossen ist, steigt das Geld mit dem Sinken der Preise. Deswegen gehört die Summe der erlösten Preise in den Nenner der Quotienten. Alle in den Quotienten enthaltenen Größen werden am Markt gemessen, die Gesamtheit des verfügbaren Geldes vielleicht mit Hilfe von Börsenkursen. Während die Vergrößerung des Quotientenproduktes das Geld vermehrt, wird es durch dessen Verkleinerung vermindert. Angebot: Wer von einer Warensorte mehr Exemplare als vorher zum Kauf anbietet, will durch den Verkauf mehr Geld verdienen. Da dessen Vorrat aber begrenzt ist, kommt er mit seinem Vorhaben nur zum Zuge, wenn er pro Exemplar weniger Geld verlangt, so dass der Preis sinkt, es sei denn, dass sein Angebot so attraktiv ist, dass er Geld von der Ausübung an anderen Angeboten abzieht. Dann müssen deren Preise sinken. Sinken der Preise lässt das Geld aber wachsen, es sei denn, dass das Angebot keine Käufer findet; dann wird beim Anbieter, falls er kostenträchtig produziert hat, Geld vernichtet, wie gleich (3.4.5) ausgeführt wird. Diese Geldvernichtung kann das Geldwachstum bei den Käufern mehr oder weniger ausgleichen. Ein vermehrtes Angebot, das genügend Käufer findet, vermehrt dagegen das Geld. Das gilt auch für die Einführung neuer Warensorten. Dann steigt die Tauschmacht am Markt schon deshalb, weil sie sich auf ein breiteres Spektrum von Gegengaben erstreckt.

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Unverbindlich geltende Normen

Spekulation: Die bisherige Wirtschaftswissenschaft (seit Aristoteles) behandelt das Geld als bloßes Zubehör beim Tausch von Waren, als Tauschmittler und Wertmaßstab für den Preis; das so verstandene Geld ist Diener am Nutzen durch Tausch. In dieser Konzeption lässt sich die Spekulation nur mühsam unterbringen, weil sich in ihr das Geld auf der Jagd nach mehr Geld selbständig macht. Die Verwendung des Geldes zur Spekulation wird dann verdächtig, vielleicht verwerflich als Pervertierung seiner natürlichen Rolle. Das ist schon der Tenor der Zinskritik des Aristoteles. 556 Sie beruht auf einer Verkennung des Geldes als bloßes Nominalgeld; die Erscheinungsform wird für das reale Geld gehalten, für die final unspezialisierte Tauschmacht, die durch ihre Ausübung übertragen wird. Für diese ist die Ausübung von Geld gegen Geld ebenso natürlich wie die Ausübung von Geld gegen Nichtgeld. Ich werde gleich zeigen, dass die kostenträchtige Produktion von Waren für den Kauf am Markt selbst schon Spekulation ist; wer diese verwirft, schneidet der Marktwirtschaft also die Lebensader ab. Auswüchse der Spekulation soll man bekämpfen, aber nicht die Spekulation als solche schlecht reden. Geld ist aber auch die Tauschmacht mit optimaler Verteilungschance, und sie könnte für alle Marktteilnehmer gleich sein; wie kommt es dazu, sich trotzdem mehr oder weniger in den Händen einiger Reicher anzusammeln? Das liegt, außer an Glücksumständen und institutionell, meist staatlich, verfügten Umverteilungen (z. B. durch Tribute, etwa in Form von Steuern), an der unterschiedlichen Bereitschaft und Fähigkeit der Menschen zur Spekulation. Aber auch diese ist weitgehend von Glückszufällen abhängig. Die Physiker Bouchard und Mézard statteten bei einer Computersimulation fiktive Agenten mit gleichem Investitionsgeschick aus und stellten fest, dass manche durch glückliche Zufälle mehr Vermögen anhäufen konnten als andere. »Diesen Glückspilzen stand anschließend mehr Geld für weitere Investitionen zur Verfügung, was ihre Chancen auf weitere Gewinne zusätzlich erhöhte. (…) Das Ergebnis des Modellversuchs war, dass sich das Vermögen ganz automatisch bei einer kleinen Minderheit ansammelte.« 557

Politik 1258a38–b8 Mark Buchanan, Warum die Reichen reicher werden und Ihr Nachbar aussieht wie Sie. Neue Erkenntnisse der Sozialphysik, Frankfurt a. M./New York 2008, S. 197 f. 556 557

336 https://doi.org/10.5771/9783495860755 .

Das Geld

3.4.5

Kredit, Zins und Profit

Kredit ist der Tausch von Geld gegen Geld mit planmäßiger Verzögerung der Gegengabe (des gekauften Geldes). Der Kreditgeber gibt Macht in Gestalt von Geld ab in der Hoffnung, dafür mehr Geld zurückzugewinnen, doch ist dieser Erfolg zweifelhaft: erstens, weil durch die Verzögerung die Gefahr entsteht oder wächst, dass die Gegengabe ganz ausbleibt; zweitens, weil inzwischen das Geld durch seine unter 3.4.4 erörterte Dynamik geschwächt sein kann. Dazu kommt der Nachteil zeitweiligen Entzugs von Macht in Gestalt des als Kredit vorgestreckten Geldes. Für diese Nachteile erhält der Kreditgeber einen Ausgleich, der ihm durch Aussicht auf Gewinn die Verzögerung der Gegengabe schmackhaft macht. Das ist der Zins. Zins ist die Belohnung des Geldgebers durch Aussicht auf Geldgewinn dafür, dass er die durch Verzögerung der Gegengabe entstehenden Nachteile und Risiken auf sich nimmt. Der in Aussicht gestellte Zins wird entweder allmählich in Raten bis zur Tilgung (der Erstattung des Nennbetrages des kreditierten Währungsgeldes) oder en bloc am Ende der Verzögerung gezahlt; seine Höhe kann von Anfang an feststehen oder von Umständen abhängen, die noch nicht vorauszusehen sind. Einen Unterschied zwischen Geldzins und Realzins mache ich nicht, da er nur für das Nominalgeld einer Währung Sinn hätte, während ich das reale Geld, die Tauschmacht als Kaufkraft, betrachte. Auch Raten- und Kreditkartenkäufe spielen sich zwischen Geld und Geld ab, nur auf dem Umweg über Waren anderer Art. Böhm-Bawerk verstand den Zins als Ausgleich für den Verzicht, einen Ertrag, statt gegenwärtig oder bald, erst in fernerer Zukunft zu erhalten; aber dann müsste sich der Zins ermäßigen, je näher das Ende der Verzögerung der Gegengabe rückt, und das ist nicht üblich. Kreditgewährung pflegt Spekulation auf Vermehrung von Geld zu sein. Sie kann aber auch zur Vernichtung von Geld führen, wenn der Kredit platzt, indem die Tilgung und/oder der Zins ausbleibt. Zur Absicherung gegen diese Gefahr werden Pfänder genommen, meist in Gestalt dinglicher Güter, die beim Platzen des Kredits den Eigentümer wechseln; es kann sich aber auch um Dienstleistungen handeln, doch ist so etwas im gegenwärtigen Wirtschaftsbetrieb nicht vorgesehen. Das genommene Pfand wird am Markt zum Verkauf angeboten; wenn sich Käufer finden, kann die durch Geldvernichtung entstandene

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Unverbindlich geltende Normen

Schwächung des Geldes mehr oder weniger ausgeglichen werden, da erfolgreiche Angebote von mehr Waren das Geld vermehren (3.4.4). Die wichtigste Form des Kredits besteht in den Kosten der Produktion von Waren für den Markt. Die Kosten sind ein Kredit, den der Produzent (Unternehmer) sich selbst gibt, entweder aus eigenem Kapital (bei ihm angesammeltem Geld) oder durch Geldschöpfung, sei es in Gestalt von Krediten, die ihm die Geschäftsbanken gewähren, sei es durch eigene Geldschöpfung, etwa Ausgabe von Aktien oder Wechseln. Mit den Mitteln des Kredits an sich als Kreditnehmer bezahlt der Produzent die Anfertigung des Produkts, verteilt auf Planungskosten, Bereitstellungskosten (Rohstoffe, Zukäufe), Herstellungskosten (Arbeitslöhne) und weitere Aufwendungen. Man sollte aber säuberlich unterscheiden zwischen dem Obergeschäft, den Kosten der Produktion als zu verzinsendem Kredit des Produzenten an sich, und den Untergeschäften der aufgezählten Arten. Das Obergeschäft ist eine Spekulation mit dem Ziel des erfolgreichen Angebots des Produkts am Markt; die Untergeschäfte sind spezielle Geldleistungen mit dem Ziel der Herstellung und Bereitstellung des Produkts. Das Obergeschäft ist erfolgreich, wenn der Kredit erstens getilgt wird (durch einen Verkaufserlös, der die Kosten einbringt) und zweitens Zinsen bringt (in Gestalt von Gewinn oder Profit). Für die herkömmliche Wirtschaftswissenschaft, die das Geld als Diener beim Kauf nützlicher Güter versteht, ist der Profit ein Stein des Anstoßes. »Verglichen mit der Aufmerksamkeit, die in den verschiedenen ökonomischen Doktrinen den übrigen Merkmalen des Verteilungsprozesses geschenkt wurde, blieb die Profittheorie bis zum ersten Weltkrieg ein Stiefkind des ökonomischen Denkens. David Ricardo hatte überhaupt keine klare Profittheorie vorgeschlagen. Marshall sah im Profit praktisch ein Einkommen, das die Unternehmer verdienen. In den Gleichgewichtsmodellen der mathematischen Schule gab es für Profit keinen gesonderten Platz. Einige Mitglieder der österreichischen Schule, die den Unternehmergewinnen besondere Aufmerksamkeit zollten, behandelten sie in Analogie zu absoluten oder Differentialrenten. Weit verbreitet war die verschwommene Definition des Profits als Kompensation für den Betrag, den die kapitalistischen Unternehmer zu den Produktionsprozessen leisten. Marxisten vertraten weiterhin den Begriff des Profits als ›Mehrwert‹, der dem Arbeitsertrag entzogen werde, und benützten die Theorie der fallenden Profitrate als Hauptargument für die Zusammenbruchstheorie. Andere sozialistische Autoren, wie die Fabier, die diese Argumentation nicht 338 https://doi.org/10.5771/9783495860755 .

Institutionen der Macht

teilten, begründeten ihre Vorschläge für eine Sozialreform mit dem Argument, dass Profit ein ›unverdientes Einkommen‹ sei.« 558 In meinen Augen ist der Profit ein selbstverständliches Element der Produktion, ebenso unentbehrlich, um das Geld für die Kosten hervorzulocken, wie der Zins für andere Kredite. Allerdings unterscheidet sich der Zins der Produktionskosten von den meisten anderen Zinsarten dadurch, dass er in seiner Höhe nicht im voraus festgelegt werden kann und auch erst am Ende seiner Laufzeit, nämlich beim Verkauf der Ware zu mindestens kostendeckenden Preisen, als zusätzlicher Gewinn anfällt. Für einen hinlänglich weiten Zinsbegriff bereitet diese Sonderstellung des Profits keine Schwierigkeit. Wenn nicht einmal die Tilgung der Kosten, der kostendeckende Verkauf, gelingt, ist das in Gestalt der Kosten eingesetzte Geld aus dem Kredit vernichtet, obwohl sein Gegenwert im Untergeschäft der speziellen Aufwendungen an deren Empfänger, z. B. die Lohnarbeiter, als Tauschmacht übertragen worden ist. Das eigene Kapital, wenn die Produktion mit ihm finanziert wurde, ist geschmolzen; die Kredite der Banken können nicht mehr beglichen, Wechsel und Aktien nicht mehr bedient werden – wenigstens im schlimmsten Fall, wenn der Schaden nicht eingedämmt werden kann. Um solches Unglück zu vermeiden, muss zweierlei gelingen: Die produzierten Waren müssen Käufer zum Kauf verlocken, und diese müssen genügend Geld haben. Zum Glück befördert das erste Gelingen das zweite; denn das Gefallen der Käufer an der Ware bescheinigt den Geldumlauf, und diese Beschleunigung vermehrt das Geld (3.4.4).

3.5 Institutionen der Macht Das menschliche Leben ist zwischen Leben aus primitiver Gegenwart und Leben in entfalteter Gegenwart, plakativ gesprochen: zwischen Tiersein und Personsein, ausgespannt (2.2.2.; 2.5.3; 3.1.4). Das Tier lebt aus dem Erschrecken: Das gleitende, in Dauer und Weite ergossene Dahinleben bricht ab im leiblich engenden plötzlichen Einbruch des Neuen, der Dauer zerreißt, sie ins Vorbeisein verabschiedet und Gegenwart als primitive, in der die fünf Momente hier, jetzt, sein, dieses, ich verschmolzen sind, exponiert. Die primitive Gegenwart ist der Ur558

Pribram, wie Anm. 550, S. 818 f.

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Unverbindlich geltende Normen

sprung von Identität als absoluter (dieses zu sein, selbst zu sein, verschieden von etwas, noch nicht als relative Identität mit etwas) und von Subjektivität, ich zu sein. Ihr, dem Maximum leiblicher Engung, schließt sich der vitale Antrieb an, in dem Engung und Weitung verschränkt sind. Er transportiert Identität und Verschiedenheit in alle routinierten Verrichtungen, die dadurch vor Verwechslungen geschützt sind. Die Verschränkung im vitalen Antrieb spreizt sich zur Konfrontation in antagonistischer Einleibung auf; dadurch werden Begegnungen und Kontakte möglich. Aus gleitendem Dahinleben, primitiver Gegenwart, leiblicher Dynamik im und um den vitalen Antrieb und leibliche Kommunikation mit antagonistischer und solidarischer Einleibung bildet sich das Leben aus primitiver Gegenwart, wie es Tiere und Säuglinge immer nur und Personen immer noch führen. Es ist voll von Situationen. Eine Situation ist Mannigfaltiges, das durch eine binnendiffuse Bedeutsamkeit aus Bedeutungen, die Sachverhalte, Programme oder Probleme sind, zusammengehalten wird. Die Bedeutsamkeit ist in dem Sinn binnendiffus, dass in ihr nicht alle Bedeutungen einzeln sind; einzeln ist, was eine Anzahl um 1 vermehrt. Die menschliche, satzförmige Rede hebt einzelne Bedeutungen aus der Bedeutsamkeit von Situationen heraus und vernetzt sie. Dadurch werden einzelne Sachen irgend welcher anderer Art gleichfalls möglich, weil Einzelheit die Verbindung absoluter Identität mit Bestimmtheit als Fall einer Gattung und diese Bestimmtheit ebenso wie die bestimmende Gattung eine Bedeutung ist. Die primitive Gegenwart entfaltet sich zur Welt als dem Rahmen möglicher Vereinzelung: Der absolute Ort leiblicher Enge wird zum System sich gegenseitig bestimmender relativer Orte (Ortsraum); der absolute Augenblick des Plötzlichen wird zum relativen Augenblick durch die Beziehung des Früheren zum Späteren oder Gleichzeitigen in einer modalen Lagezeit mit Fluss der Zeit; das Sein der primitiven Gegenwart wird zum Sein im Gegensatz zum Nichtsein überhaupt; die absolute Identität entfaltet sich zur relativen; der absolut identische Bewussthaber des Lebens aus primitiver Gegenwart wird durch Selbstzuschreibung, sich für einen Fall von Gattungen zu halten, zum einzelnen Subjekt, zur Person. Viele Bedeutungen, die für die Person subjektiv sind, so dass höchstens sie diese sagen (im Fall von Sachverhalten: aussagen) kann, verlieren durch Neutralisierung diese Subjektivität; aus der Neutralisierung von Bedeutungen folgt die Fremdheit von Sachen. Die Subjektivität zieht sich von den neutralen Bedeutungen und fremden Sachen in eine 340 https://doi.org/10.5771/9783495860755 .

Institutionen der Macht

Sphäre des Eigenen zurück, aber mit breiten Grauzonen zwischen den subjektiv gebliebenen Bedeutungen und den neutral gewordenen. Die Sphäre des Eigenen umfasst die (sich stetig, aber nicht kurzfristig, verändernde) zuständliche persönliche Situation (Persönlichkeit der Person) und die persönliche Eigenwelt. Diese Minimalskizze dient zum Verständnis des Folgenden. Im Leben aus primitiver Gegenwart liegt die Macht beim Nomos ganzheitlicher Situationen, der die Zuwendung des vitalen Antriebs zu Programmen steuert. Dadurch werden Lebensordnungen stabilisiert. Nach Entfaltung der primitiven Gegenwart zur Welt können die Situationen durch Entnahme und Vernetzung einzelner Bedeutungen und sonstiger Sachen aufgebrochen und zu Konstellationen umgruppiert werden. Dieser Entdeckung planender Willkür muss eine willkürliche Steuerung aufgeprägt werden, um eine mehr oder weniger stabile Ordnung zu bewahren oder wiederherzustellen. So entstehen Institutionen menschlicher Macht mit willkürlichem Verfügen über die Steuerung ihrer Inszenierungen. Solche Macht ist heilsam, indem sie der Entordnung durch Beliebigkeit entgegenwirkt. Sie kann in zwei Typen von Institutionen Platz finden. Der erste Typ umfasst die final spezialisierten Institutionen wie die schlichte Familie (mit Zuständigkeit für Haushaltung, Lebensunterhalt, Nachwuchspflege), Kirche, Justiz, Polizei, Vereine mit verschiedener Zielsetzung usw. In dieser Form gleicht sich die Macht gewissermaßen der tierischen des Lebens aus primitiver Gegenwart an, weil die Zuwendung des vitalen Antriebs durch einen vorgegebenen Programmgehalt gesteuert wird, der nun aber nicht mehr der Nomos einer Situation mit binnendiffuser Bedeutsamkeit ist, sondern eine einzelne Bedeutung, ein Zweck oder eine Verbindung mehrerer Zwecke. Noch näher stehen dem Leben aus primitiver Gegenwart Institutionen, die keinen Zweck verfolgen, aber an der Steuerung des Lebens in der Welt als entfalteter Gegenwart teilnehmen, wie Sprachen, Sitten, Konventionen; sie schienen die Willkür nicht durch Organisation, sondern durch den Nomos einer Situation. Auf der anderen Seite spezifisch personaler Ermächtigung, weit ab von durch die Institution selbst vorgegebener Zwecksetzung, stehen Institutionen und Organisationen der Macht, die final unspezialisiert sind, aber mit der Aufgabe, für bereitgestellte Macht eine nach Belieben wählbare Zwecksetzung zu ermöglichen. Diese Institutionen realisieren die dem Menschen durch Entfaltung der primitiven Gegenwart zur Welt freigegebene Chance des wählerischen Zugangs zu einzelnen 341 https://doi.org/10.5771/9783495860755 .

Unverbindlich geltende Normen

Normen als den Zwecken, die er sich gemäß seinen Wünschen oder aus anderen Gründen setzen kann. Hölderlin hat diese Freiheit prägnant in das dichterische Wort gebracht: Alles prüfe der Mensch, sagen die Himmlischen, Dass er, kräftig genährt, danken für alles lern’, Und verstehe die Freiheit Aufzubrechen, wohin er will. 559 Von solchen Institutionen gibt es zwei Haupttypen: einen monokratischen, den Staat, und einen polykratischen, das Geld. Beide entsprechen der Weltform des personalen Lebens in entfalteter Gegenwart durch die Chance für die Menschen, mit ihrer Macht aufzubrechen, wohin sie dank eigener Wahl wollen, aber das Geld mehr als der Staat, weil es durch seine Flüssigkeit dafür geeignet ist, dass die Macht freier Zwecksetzung die einzelnen Personen durchläuft und jeder zuteil wird. Die Freigabe der Vereinzelung von Macht, die vom Geld optimiert wird, ist die Hochstilisierung der Grundlage von Person und Welt: der Entbindung von Einzelheit aus Situationen als Quelle der Entfaltung der primitiven Gegenwart zur Welt. Diese Aristie des Geldes ist aber kein Freibrief für seine beliebige Verwendung. Der Segen des Geldes ist mit dem Fluch der Verführung zur Sucht im Sog des Willens zur Macht behaftet. Die Geschichte des Privatkapitalismus ist reich an solchen Auswüchsen, und einer der schlimmsten gehört der jüngsten Zeit (seit etwa vier Jahrzehnten) an, seit eine raffinierte Weiterbildung der Finanzmathematik die Jagd nach Geld auf die Bahn einer reinen Finanzwirtschaft setzte, die nur noch nach Geld um des Geldes willen strebt und nicht mehr darauf achtet, welches Schicksal dabei der Tausch anderer Güter erleidet, selbst wenn dieser davon auch Vorteile hat. Diese Perversion gilt es steuern. Eine gründliche Abhilfe kann aber nicht beim Geld ansetzen, sondern nur bei der Erziehung der Gesinnung zur Einheit von Recht und Pflicht, in dem Sinn, dass das Recht des Einzelnen zur Wahrnehmung seiner finanziellen Chancen zugleich eine Pflicht zum Dienst an menschlichen und tierischen Lebewesen und/oder an überpersönlichen Gütern ist. Da eine solche Erziehung aber schwer in die Breite der Tat umzusetzen ist, empfiehlt es sich, nach Zwischenlösungen in Form der Organisation zu suchen. Eine Möglichkeit wäre, alle Geldinstitute in öffentliche Träger559

Lebenslauf, 2. Fassung, 4. Strophe

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Institutionen der Macht

schaft zu überführen, die sich in Deutschland an Sparkassen und Landesbanken, ehe diese in den Sog der Jagd nach Geld um Geldes willen gerieten, einigermaßen bewährt hat. Außerdem könnte man das Interesse der Agenten (Manager) der Finanzwirtschaft am Erfolg der Produktion von Gütern, die nicht Geld sind, durch zwei Maßnahmen fördern: erstens Prämien nicht für den wirtschaftlichen Erfolg des eigenen Finanzinstituts, sondern für den der Kreditnehmer; zweitens Engagement der Bankmanager für diesen Erfolg durch Entsendung in die Aufsichtsräte der mit Krediten bedachten Unternehmungen (personelle Verflechtung statt Entflechtung).

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Personenregister

Ågel, Vilmos 207, 208 Aischylos 40, 101, 150, 175, 178 Al Gazzali 184 Albertini, Rudolf von 296, 297, 305 Alexander der Große 128 Alexy, Robert 44, 47 Ali 184 Alkman 161 Allmers, Richard 237 Ambrosiaster 294 Ambrosius 182, 293 Ammann, Hermann 212 Angelus Silesius 168 Anselm von Canterbury 179 Apel, Karl-Otto 44 Apfelbach, Hans 56 Archidamos 97 Aristoteles 43, 64, 82, 87, 137, 178, 198, 199, 222, 258, 291, 317, 323, 324, 328, 336 Arnisaeus, Henning 299 Artemis 177 Auden, Wystan Hugh 143 Augustinus 82, 162, 181, 186, 187, 301 Augustus 292 Auroux, Sylvain 236 Austin, John L. 223 Athanasius 186 Badura, Peter 292 Baetke, Walter 155 Baldus, Manfred 80 Bälz, Erwin 125 Barclay, Robert 164 Basilius von Caesarea 161

Baudelaire, Charles-Pierre 156, 166 Baumann, Jürgen 75, 120, 134 Behrends, Okko 80 Bellarmin, Robert 294 Benedict, Ruth 93, 96 Benz, Ernst 178 Bernheim, Ernst 294 Betz, Wilhelm 267 Bickerton, Derek 242 Bierwisch, Manfred 229, 266 Binding, Karl 109 Birnbaum, 79 Bodin, Jean 296 Böhm-Bawerk, Eugen 337 Bolgár, Franz von 97 Bonifaz VIII 185, 294 Bouchard 336 Brahms, Johannes 237 Braithwaite, William C. 164 Brandon, Robert B. 36, 37 Brandt, Willy 98 Brentano, Clemens 17 Brentano, Franz 27, 28, 31 Brodbeck, Karl-Heinz 317, 318, 322 Brunner, Otto 286 Buchanan, Mark 336 Bücheler 159 Bühler, Charlotte 59, 220 Buisson, Ludwig 75, 295 Burke, Edmund 309 Busher 304 Caesar 176 Catull 159 Chomsky, Noam 216, 228, 231, 232

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Personenregister Church, Alonzo 38 Churchman, John 164 Cicero, Marcus Tullius 94 Conrad, Klaus 220 Coseriu, Eugenio 210 Damkowski, Wulf 293 Dareios 289 Daumier, Honoré 77 Davidson, Donald 39 Demmerling, Christoph 147 Demokrit 59 Descartes, René 26, 28, 90, 274 Deuterojesaja 178 Dodds, Eric Robertson 96 Donovan 246 Dornes, Martin 222 Dreitzel, Horst 299 Drexler, Albert 235, 246 Droste-Hülshoff, Annette von 238 Ebel, Wilhelm 77 Elias, Norbert 82 Empedokles 163 Engels, Friedrich 283 Ephialtes 311 Etzioni, Amitai 280 Euripides 153 Evers, Hans Ulrich 100 Faul, Erwin 309 Fichte, Johann Gottlieb 143, 169, 170 Fichtenau, Heinrich 294, 295 Fink, Nikolaus 251 Finkenzeller, Roswin 256 Fischer, Bobby 84 Fisher; Irving 318 Flotow, Paschen von 317 Fodor, J. A. 232, 266 Foucault, Michel 319 Frege, Gottlob 263 Freund, Michael 304 Friedrich, Carl Joachim 100 Friedrich der Große 259 Frisch, Karl von 240

Gablentz, Otto Heinrich von der 112 Gage, Phineas 128, 131, 182 Gallas, Wilhelm 90, 136 Gandhi 111 Gebühr, Otto 260 Gelasius 294, 295 George, Stefan 187 Gerland, Heinrich 103 Gerloff, Wilhelm 317, 318, 320, 324, 333, 334 Gesell, Silvio 317 Geyser, Joseph 29 Gilen, Leonhard 149 Gipper, Helmut 272 Girgensohn, Karl 221 Glasenapp, Helmuth von 163 Glinz, Hans 253 Goethe, Johann Wolfgang von 42, 53, 54, 57, 69, 82, 106, 108, 126, 140, 172, 173, 187, 203, 204, 205 Gogh, Vincent van 175 Goodwin 304 Gorch Fock 288 Göring, Martin 299 Gossen, Carl Theodor 330 Gottfried von Straßburg 62, 159 Gräf, Erwin 103, 108 Grasmann, Günther 93 Grassaille, Charles de 295, 297 Graumann, Carl Friedrich 219 Grewendorf, Günther 232 Grimm, Jakob 103 Großheim, Michael 143 Grosz, George 77 Günther, Louis 108 Gutmann, Bruno 103 Habermas, Jürgen 35, 44, 45, 47 Hadamik, W. 119 Hägerström, Axel 79 Hahn, Hans 32 Halladsch, Mansur al 168 Hamm, Fritz 232 Harrington 299 Hartmann, Nicolai 43, 69, 75, 112, 193, 194, 195, 196, 197

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Personenregister Hartung, Fritz 81, 298 Hebbel, Friedrich 78 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 46, 159, 160, 195, 285, 286, 303 Heidegger, Martin 28, 173, 174, 175, 176, 177, 194 Heiler, Friedrich 169, 220 Heine, Bernd 256 Heinrich I 293 Heinrich II 293 Heisenberg, Werner Karl 129 Helbig, Gerhard 223 Herder, Johann Gottfried 46, 236 Hermas 163 Herodot 289 Herzog von Enghien 113 Herzogin von Sagan 71 Hespe, Klaus 285 Hilarius von Poitiers 161 Hirzel, Rudolf 71 Hitler, Adolf 174 Hobbes, Thomas 286 Hoebel, Adamson E. 76, 101 Hoffmann, Ernst Theodor Amadeus 16 Hofmannsthal, Hugo von 267 Hölderlin, Friedrich 174, 176, 342 Holme, Thomas 164 Holzhauer, Heinz 136 Homer 149 Horaz 127, 184 Hörmann, Hans 234 Huegel, Friedrich von 169 Humboldt, Wilhelm von 209, 273, 282, 283 Hume, David 26, 60, 143 Hussein 184 Husserl, Edmund 24, 28, 29, 31, 52, 131, 144 Ibsen, Henrik 77, 78 Ignatius von Antiochien 177 Ihering, Rudolf von 72, 84, 92, 93 Issing, Otmar 329, 330 James, William 131

Jellinek, Georg 105, 107, 296 Jeschek, Hans-Heinrich 90, 119, 133, 136 Jesus 69, 110, 111, 160, 162, 175, 176, 177, 185, 186, 260 Johannes Cassanus 219 Johannes von Damaskus 160 Jones, Rufus Matthew 164 Jung, Erich 76 Justinian 71 Kainz, Friedrich 212, 240, 241 Kambyses 289 Kant, Immanuel 14, 46, 54, 57, 59, 90, 129, 141, 143, 144, 152, 153, 154, 155, 156, 177, 179, 184, 189, 190, 191, 195, 251 Kaser, Max 79, 87 Katharina von Genua 169 Katz, Jerrold Jacob 232, 266 Kaufmann, Armin 118, 134 Kaufmann, Arthur 136 Keller, Gottfried 102 Kern, Eduard 102 Kern, Ernst 292 Kelsen, Hans 41 Keynes, John Maynard 317, 329 Kiefner, Wolfgang 178 Kierkegaard, Søren 143 Klages, Ludwig 238 Kleist, Heinrich von 64, 106, 107, 142, 268 Kluxen, Kurt 305 Knabe, Lotte 294 Koll, H. G. 270 Koller, Rudi 210 Kölver, Ulrike 256 König, Otto 239 Kotarbiñski, Tadeusz Marian 31 Kramer, Sigismund 67 Krause, K. Chr. F. 90 Kremer, Alfred von 179, 184 Kretschmer, Ernst 178 Kripke, Saul A. 13 Kropotkin, Pjotr Alexejewitsch 283 Külpe, Oswald 220

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Personenregister Kutschera, Franz von 29 Kyrill von Jerusalem 160 Landmann, Edith 187 Larenz, Karl 80 Latte, Kurt 79, 80, 177, 178 Lautner, Julius 103 Le Bret, Johann Friedrich 296, 301 Le Vassor 299 Lees, Günther 101 Lehmann, Christian 256 Leibholz, Gerhard 307, 308 Leibniz, Gottfried Wilhelm 41 Leifer, Franz 291 Lenau, Nikolaus 156, 166 Les´niewski, Stanisław 31 Libet, Benjamin 132 Liefmann 318 Linnermann, M. 90 Liszt, Franz von 104, 136, 279 Livius 79 Llewellyn, K. N. 99 Locke, John 299 Lorenz, Konrad 212, 241 Luther, Martin 150, 151, 180, 217, 269, 272 Lykophron 87 Macchiavelli, Niccolò 302 Malblanc, Alfred 272 Malinowski, Bronislaw 93 Marshall, Alfred 338 Marx, Karl 77, 317, 330 Maurer, Georg Ludwig 103 Maximus Confessor 186 Mayer, Max Ernst 75 Mayer-Gross, W. 220 Meier, Christoph 45, 69 Melanchthon 162 Mendelssohn-Bartholdy, Albrecht 77 Messner, Johannes 60 Metzger, Wolfgang 61, 63 Meyer, Renate E. 280 Meyer-Cording, Ulrich 74 Mézard, Marc 336 Mezger 134

Mill, John Stuart 329, 330 Milton, John 304 Mimnermos 158 Mommsen, Theodor 77, 291 Montesquieu 291, 299, 300, 303, 304, 307 Mörike, Eduard 53, 55, 192 Möser, Justus 101 Müller, Bruno 53 Napoleon Bonaparte 113 Newton, Isaac 180 Nietzsche, Friedrich 46, 58, 142, 166, 167, 168, 205, 324 Nilsson, Martin P. 165, 177 Nipperdey, Hans Carl 74 Nixon, Richard Milhous 334 Noda, Yosiyuki 93 Noiré, Ludwig 246 Nottarp, Hermann, 101 Ochl 246 Odrich, Peter 93 Ogden, Charles Kay 263 Origenes 160 Otto I 293 Otto II 293 Otto III 293 Otto, Rudolf 54, 150, 153, 154, 155, 156, 193 Ovid 166 Owen, John 304 Pareto, Vilfredo 331 Parker, Alexander 164 Paulus 162, 163, 177, 181, 186, 187 Peirce, Charles Sanders 44 Perikles 95, 290, 298, 311 Petrus Lombardus 162 Philipp der Schöne 294 Pindar 164 Platon 31, 59, 70, 82, 106, 163, 166, 178, 198, 287, 290 Plautus 87 Pomponius Mela 166 Preuß, Hugo 298

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Personenregister Pribram, Karl 329, 332 Properz 159 Protagoras 106, 143 Pütter 60 Quaritsch, Helmut 297 Quidort, Jean 294 Quine, Willard Van Orman 40 Raabe, Wilhelm 56 Radbruch, Gustav 99 Ramsey, Frank Plumpton 37 Raulff, Ulrich 187 Reemtsma, Jan Philipp 105, 107 Rembrandt 260 Ricardo, David 330, 338 Richards, Ivor Armstrong 263 Rickert, Heinrich 27 Ringgren, Helmer 150 Rivarol, Antoine de 255 Röhrich, Lutz 224 Rosenkranz, Bernhard 231, 237, 246 Ruge, Arnold 305 Rünke, Henricus Cornelius 58 Ruysbroeck, Jan van 168 Ruzler, Erwin 60 Sade, Marquis de 43, 44 Sallust 291 Sapir, Edward 226 Sartre, Jean-Paul 46, 192 Saussure, Ferdinand de 207, 215, 263 Scharastani 179 Scheler, Max 14, 28, 43, 144, 193, 195 Schieder, Theodor 305 Schiller, Friedrich 57, 85 Schlosser, J. G. 323, 324 Schmidhäuser, Eberhard 104, 105, 110 Schmidt, Wilhelm 236 Schmitt, Carl 298 Schmitt, Uwe 94 Schmitz, Hermann 29, 30, 32, 33, 52, 56, 59, 60, 62, 69, 71, 74, 113, 126, 128, 132, 137, 142, 143, 150, 153, 154, 156, 157, 183, 186, 190, 193, 201, 211, 213, 250

Schneeberger, Guido 174 Scholz, Richard 294 Schraepler, Ernst 81 Schramm, Percy Ernst 295 Schreiber, Rupert 80 Schubiger, Maria 247 Schulz, Andrea 210, 242 Schulz-Schäffer 84 Scott, W. Richard 280 Searle, John 223 See, Klaus von 86 Seiler, Hansjakob 256 Seneca 151, 166 Serziska, Fritz 256 Seuse, Heinrich 167, 168, 170 Seydel, Max 285 Shaftesbury, Anthony Ashley Cooper 54, 153, 154 Shakespeare, William 142 Siber, Heinrich 291, 296 Siger von Brabant 273 Simmel, Georg 173, 317 Simon, Thomas 83, 301 Sina, Peter 79 Smith, Adam 210, 328, 330, 332 Smith, Monroe 99 Söderblom, Nathan 165 Solon 158, 290 Sophokles 22, 64, 82, 149 Stadermann, Joachim 329 Stegmüller, Wolfgang 35 Steiger, Otto 329 Steinmetz, S. R. 101 Sternefeld, Wolfgang 232 Stetter, Christian 209 Stirner, Max 22, 142 Stoker, Henricus 151 Strache, Karl-Heinz 99 Straub, Johannes 294 Staub, Marianne 272 Strehle, Hermann 245 Stegmüller, Wolfgang 35, 263 Stumpf, Carl 210 Suarez, Francisco 294 Süßmilch 236

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Personenregister Tacitus 292, 301 Tarski, Alfred 31, 38 Terenz 87 Tersteegen, Gerhard 175, 176 Tesnière, Lucien 258 Theophano 71 Thomas von Aquino 273 Thukydides 70, 95, 97, 290 Tiberius 292 Trabant, Jürgen 209 Treitschke, Heinrich von 101, 297 Trimborn, Hermann 166 Uexküll, Jakob von 241 Ullman, Stephen 263 Vergil 166 Vespasian 330 Vogel, Thilo 99 Wagner, Adolph 317, 320 Waiblinger, Wilhelm 56 Walgenbach, Peter 280 Walker, A. D. M. 144 Wallace, G. 144 Wandruszka, Mario 255

Weber, Marianne 53 Weber, Max 53, 77, 286, 299, 319 Weinrich, Harald 215, 251, 253, 254 Weisgerber, Leo 265, 266, 267, 273, 281 Welzel, Hans 104, 117 Wemstock, Stefan 176 Werner, Oskar 150 Whorf, Benjamin Lee 228, 273, 281 Wicksell, Knut 329 Wieland, Christoph Martin 203, 204 Wilda, Wilhelm Eduard 70 Williams, Roger 304 Windelband, Wilhelm 27 Windscheid, Bernhard 84, 85 Wittgenstein, Ludwig 13, 34, 215, 216, 224 Wlosok, Antonie 95 Wolf, Erik 90 Xenophon 82, 290 Ziehen 178 Zitelmann 73 Zutt, Jürg 203, 234 Zwiedinek, O. von 318

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Sachregister

Abschied 20 Absicht 132 Absolutismus 297 Abstrakte, das 32 Achtbarkeitsprinzip 139, 140 Achtung 57, 58, 66, 69, 70, 72, 141, 152, 153, 188, 194 Adjektiv 252, 253, 257, 258, 269, 270, 271 Adressat 14, 191 Adressatengruppe 88 Adressatengruppe, äußere 89 Aidos 70, 71, 72, 73, 140, 141, 156 Akrasie 21 Aktiv 258 Akzent 227, 265 Allmacht 181, 182, 183, 184, 185 Anderskönnen 121, 133, 135 Angebot 333, 334, 335, 338 Angst 25, 140, 151 Ansehen 333, 334 Anspruch 39, 223, 229 Anstand 72, 82, 92, 93 Antrieb, vitaler 19, 21, 25, 50, 51, 66, 132, 167, 200, 212, 237, 239, 241, 243, 245, 247, 248, 340, 341 Anwesenheit 56, 57 Anzahl 11, 32, 51, 77, 220, 249, 256, 340 Aphasie 220 Aphrodite 82, 157, 158, 161, 164, 177 Apollon 176, 177, 178, 180 Appell 13, 39, 223, 229 Apraxie 12, 214 Ares 177

Ärger 63, 64, 65 Artemis 176, 178, 180 Artikel, unbestimmter 273 Athene 177 Atmosphäre 49, 53, 54, 55, 56, 57, 58, 60, 61, 62, 64, 67, 74, 77, 79, 93, 101, 102, 103, 110, 111, 149, 150, 155, 156, 158, 160, 161, 162, 163, 164, 166, 168, 170, 173, 175, 176, 177, 178, 190, 193 Attribut 19, 29, 30, 31 Aufklärung 184, 186 Aufmerksamkeit 118 Auftragsregel 277 Augenblick, absoluter 20, 340 Augenblick, relativer 340 Auktion 332 Ausbausprache 217, 218 Ausdruck 172 Ausübung 320, 323, 324, 325, 332, 333, 335 Augenblick, relativer 20 Auslegung 98, 99, 100 Ausleibung 167, 169, 170, 184 Ausnahmezustand 298 Ausruf 230 Aussage 35, 37, 223 Außenwelt 154, 194 Autorität 17, 18, 22, 25, 26, 27, 39, 43, 44, 56, 57, 59, 65, 79, 88, 98, 99, 100, 106, 110, 140, 141, 142, 148, 149, 153, 154, 155, 156, 157, 158, 159, 163, 164, 166, 170, 180, 191, 193, 194, 196, 197, 314, 316 Äquivalenz, analytische 263

351 https://doi.org/10.5771/9783495860755 .

Sachregister Äquivalenzklasse 114 Äquivalenzrelation 218, 261, 262, 277 Bamberger Reiter 175 Bangigkeit 66 Bedeutsamkeit, binnendiffuse 12, 13, 19, 25, 32, 45, 46, 51, 55, 137, 143, 155, 170, 172, 175, 176, 200, 201, 202, 213, 220, 221, 233, 239, 243, 249, 265, 267, 268, 269, 274, 275, 280, 281, 340, 341 Bedeutung 12, 19, 21, 32, 51, 52, 136, 155, 170, 172, 200, 201, 202, 211, 212, 213, 215, 216, 218, 219, 220, 221, 222, 227, 236, 237, 238, 243, 244, 249, 252, 259, 260, 264, 265, 267, 272, 273, 274, 281, 340, 341 Bedeutung, neutrale 21 Bedeutung, objektive 142 Bedeutung, subjektive 21, 142, 155, 201 Bedingung, notwendige 116 Bedingung, zureichende 116 Bedürfnis 328 Begeisterung 191, 194, 196 Behauptung 35, 36, 37, 38, 39, 113, 223, 224, 229 Beklommenheit 25 Besetzung 277, 278 Bestechung 324 Bestimmtheit 19, 253, 256, 258, 260, 340 Bestimmung 29, 50, 130, 136, 137, 249, 251, 253, 256, 257, 258, 259 Betroffensein, affektives 11, 20, 21, 23, 30, 31, 32, 33, 34, 48, 50, 53, 105, 119, 125, 126, 127, 128, 129, 131, 132, 142, 155, 157, 165, 182, 183, 184, 185, 193, 194, 200 Bewegungsfreiheit 121, 122, 123 Bewegungssuggestion 51, 66, 67, 173, 188, 244, 245, 246, 247, 249 Bewunderung 191, 194, 196 Bewussthaben 126 Bewussthaber 20, 29, 49, 154, 163, 200, 340

Bewusstsein 49 Bezeichnung 236, 263, 264 Beziehung 127, 128, 168, 169, 221, 222, 250, 251, 252, 253, 254, 255, 258 Bienensprache 240 Bild 203, 259, 265 Bindung, kompakte 248 Blick 66, 67, 93, 167 Budgetrecht 307, 313 Bundesgerichtshof 133 Bundeskanzler 313 Bundesrepublik Deutschland 313 Bundesstaat 287, 289 Bundesverfassungsgericht 299, 314 Buße 324 Charakter, höchstpersönlicher 141, 144 Charakter, synästhetischer 51, 173, 188, 244, 245, 246, 247, 249 China 92 Christentum 13, 45, 82, 160, 161, 183, 185, 187, 188, 274, 304 Clan 284 Clearingwirtschaft 321, 330 common law 99 Cromagnon-Zeitalter 242 Dahinleben 339, 340 Dame 71 Dankbarkeit 58, 66 Darstellen 222, 223 Darstellung 211, 223, 227, 236, 237, 239, 252, 259, 260, 272 Dauer 18, 50, 51, 52, 339 Demokratie 288, 307, 310, 323 Demokratie, direkte 308 Demokratie, attische 298, 311 Denken 219, 221, 222, 255, 273, 274, 275 Denken, diskursives 251, 255 Dependenzgrammatik 258 Determinismus 124, 127, 129, 131 Deutsche, das 273 Dichtung 172, 174

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Sachregister Dienstleistung 318, 319, 326, 332 Dionysos 153, 177 Diskurstheorie 44, 48 Duell 68, 91, 97, 101, 102 Dynamik, leibliche 166, 188, 238, 243, 244, 245, 247, 249, 268, 340 Egoismus 65 Ehe 278, 279 Ehrfurcht 58, 187, 188, 191, 194 Ehrfurcht, zarte 57, 69 Eigenname 264 Eigenwelt, persönliche 21, 52, 201, 202, 341 Eindruck, vielsagender 13, 171, 173, 175, 178, 234, 243, 273 Einheit von Recht und Pflicht 342 Einheitspartei 306 Einleibung 19, 167, 200, 212, 237, 238, 241, 243, 244, 246, 248, 249 Einleibung, antagonistische 51, 233, 340 Einleibung, solidarische 51, 212, 213, 218, 246, 247, 340 Einzelheit 32, 52, 77, 201, 209, 221, 222, 237, 239, 240, 250, 256, 260, 340, 342 einzeln 11, 13, 15, 19, 20, 25, 32, 51, 77, 136, 143, 146, 147, 154, 155, 170, 202, 209, 213, 215, 236, 240, 249, 264, 275, 340 Ekstase 170 Emanzipation, personale 18, 21, 22, 23, 52, 53, 67, 82, 98, 100, 106, 127, 141, 142, 145, 146, 147, 148, 153, 154, 180, 188, 191, 201, 202, 203, 204, 205, 241 Emotionslähmung 125 Empörung 65, 141, 189, 191, 196 Enge 66, 67, 166, 167, 242, 243, 248 Engung 19, 21, 25, 51, 66, 166, 167, 200, 237, 243, 248, 340 Engung, privative 66, 237 Ente 244 Entrüstung 64 Entzücken 194

epikritisch 247, 248, 268 Ereignis 113, 115 Erfolg 124, 125, 134, 214 Ergriffenheit 18, 22, 53, 60, 71, 72, 105, 111, 119, 140, 149, 157, 180, 191, 192 Erlaubnis 85 Erlösung 185, 186 Ermächtigungsregel 277 Ernst 57, 58 Ernst, absoluter 144, 151, 154 Ernst, bedingter 18, 22, 67, 82, 88, 98, 106, 138, 188, 191, 194, 196, 314 Ernst, feierlicher 190 Ernst, unbedingter 18, 22, 67, 81, 82, 88, 91, 106, 139, 140, 141, 148, 149, 153, 154, 155, 156, 157, 158, 159, 160, 163, 164, 166, 170, 175, 180, 189, 191, 192, 196, 197, 314 Eros 157, 161 Erotik 156, 158, 164 Erschrecken 339 Erstspracherwerb 231, 233 Erwerb vom Nichtberechtigten 78 Erzeugerschaft 30 Erziehung 106 Essen 71 Eudämonismus, anthropozentrischer 185, 188 Eutrapelie 72 Evidenz 17, 18, 22, 24, 25, 26, 27, 28, 29, 31, 39, 59, 89, 102, 115, 142, 191 Exekutive 307 Existenz 19, 30, 31, 39, 40 Existenz-Inductivum 19, 30, 41 Existenzsatz 30, 31 Expedition, sizilische 290 Explikation 172, 201, 212, 218, 219, 220, 221, 243, 244, 274 Explikationswahrheit 174 Fahrlässigkeit 116, 117, 118, 138 Fahrlässigkeit, unbewusste 123, 125 Fall 19, 20, 49, 50, 77, 98, 136, 146, 200, 201, 208, 221, 222, 249, 257, 259, 340

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Sachregister Familie 284 Fassung 52, 202, 203, 204, 205 Fassungslosigkeit 51 Faszination, erotische 158, 159 Fehlschluss, naturalistischer 14 Ferneempfänglichkeit 238 Fides 71, 79, 158, 159, 160, 178 Fiktion 259, 260 Finalität 114, 116 Finanzwirtschaft, reine 342 Finger, zeigender 67 Fläche 66, 241, 242 Fluss der Zeit 20, 51, 250, 340 Folge, logische 19 Formant 224, 225, 226, 227, 229, 230, 231, 233, 236, 251, 260, 261, 264, 265, 268, 272 Formant, doxischer 261, 262, 263, 264 Formant, körperhaltiger 224, 225, 262, 265 Formant, körperloser 224 Formantenkörper 224, 226, 227, 262, 264 Fraktionszwang 308 Französische, das 273 Frau 184, 267, 268 Freiheit 78, 84, 89, 120, 122, 124, 129, 132, 135, 136, 284, 291, 302, 308, 311, 342 Freimut 60, 162 Fremdwelt, persönliche 21, 23, 52, 201, 202 Freude 54, 55, 56, 60, 61, 63, 64, 66, 160, 162 Friede 162, 163 Friede, formaler 302 Frivolität 22, 45, 142 Frömmigkeit, mystische 169 Frömmigkeit, prophetische 169 Fühlen 53, 56, 60 Furcht 61, 63, 149, 151 Gattung 19, 20, 21, 32, 39, 49, 50, 77, 136, 146, 147, 200, 201, 208, 209, 215, 221, 222, 223, 249, 256, 257, 259, 263, 273, 274, 340

Gebärde 66, 67 Gefühl 18, 22, 27, 31, 48, 49, 52, 53, 54, 55, 56, 57, 58, 59, 60, 64, 68, 69, 70, 71, 74, 88, 89, 91, 92, 96, 97, 101, 102, 110, 111, 112, 115, 119, 120, 135, 140, 141, 142, 147, 149, 153, 154, 155, 156, 157, 159, 160, 162, 164, 168, 170, 173, 175, 177, 178, 180, 186, 187, 190, 191, 193, 194, 196, 197, 314 Gefühl, gerichtetes 66, 67 Gefühl, göttliches 156, 160, 167, 175, 182 Gefühl, kathartisches 63 Gefühl, zentriertes 61, 62, 63, 104 Gefühlsbasis 149 Gefühlskontrast, sozialer 56 Gefühlsraum 64 Gegenwart 18, 30, 50, 51 Gegenwart, entfaltete 202, 222, 339, 341, 342 Gegenwart, primitive 19, 20, 25, 50, 52, 67, 200, 201, 202, 240, 242, 249, 260, 339, 340, 341 Gehirn 131, 132, 136 Gehorsam 11, 14, 15, 26, 27, 31, 79, 88, 110, 141, 154, 166, 180, 188, 223, 276 Geist, heiliger 60, 160, 161, 162, 163, 168, 177, 178, 185 Geld 281, 302, 316, 317, 318, 319, 320, 321, 322, 323, 324, 325, 326, 327, 328, 329, 330, 331, 332, 333, 334, 336, 337, 338, 339, 342, 343 Geldmengensteuerung 329 Geldschöpfung 333, 334, 338 Geldumlauf 333, 334, 339 Geldvernichtung 334, 335, 337 Gelegenheit 85 Geltung 14, 15, 23, 46, 100 Geltung, absolute 14, 15 Geltung, automatische 15, 23, 166 Geltung, flexible 15, 16, 23 Geltung, objektive 143 Geltung, subjektive 143 Geltung, unverbindliche 16, 42, 45, 59

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Sachregister Geltung, verbindliche 16, 17, 18, 22, 23, 27, 43, 45, 46, 48, 59, 79, 82, 88, 142, 149, 151, 156, 159, 166, 188, 191, 192, 213, 314, 315 Gemeinwohl 282, 290, 301 Generalnorm 81 Gerechtigkeit 78, 196, 197 Gesamtperson 309 Gesamtsprache 218 Geschehen 251, 252 Geschenk 324 Geschlechtsakt 247 Geschmack 71, 72, 73, 74, 76, 82, 83, 92, 95, 107, 109, 191 Geschmacksurteil 189, 191 Geschworene 102 Gesetz 300 Gesetz, Berner’sches 109 Gesetzgebung 299, 307, 313 Gesinnung 118, 125, 126, 127, 128, 129, 131, 133, 135, 136, 137, 138, 139, 140, 143, 182, 197 Gesinnungsmerkmale der Vorsatzverbrechen 137 Gesundheit 198, 199, 200, 202, 203, 204, 205 Gewaltenteilung 299, 300, 301, 303, 306 Gewissen 141, 148, 149, 150, 151, 153, 156 Gewissen, richtendes 141 Gewissen, warnendes 141 Gewissensgefühl 141, 146, 149, 151, 153, 154, 156, 191, 196, 197 Gewissensscham 67 Gewohnheitsrecht 73, 74 Glauben 229 Gleichheit 78 Gliedstaat 287, 289 Glück 58, 184, 185, 187 Gnade 111 Gold 334 Gott 150, 168, 169, 176, 178, 179, 180, 181, 182, 183, 184, 185, 186, 187, 236

Götter 156, 170, 175, 176, 177, 180, 182, 297 Göttlich 156, 157 Göttliche, das 22, 154, 155, 156, 164, 179, 180, 181, 182, 183, 192 Grammatik 225, 252 Grauzone 21, 202, 205 Grenznutzen 330, 331 Grundsatz der durchgängigen Bestimmung 129, 131, 260 Halbding 68, 74, 115 Halbwahrheiten 38 Haltung, innere 203 Handeln aus Affekt 116, 119, 135 Handlung 113, 115 Hass 63, 64 Heer, stehendes 302 Heilige, das 155, 193 Herrschaft 284, 322 Himmel 166 Höflichkeit 72, 92 homo sapiens sapiens 242 huaca 165, 166 Humanität 46, 48 Husserl’sche Puppe 16 Hybridsprache 261 Hypostase 177, 178, 180 Hysteriker 147 Idee, platonische 193, 194 Identifizierung 50, 200, 259 Identifizierung, spielerische 52, 203, 259, 260, 265 Identität 18, 19, 29, 113, 168, 170, 214, 239, 259, 260, 262, 263 Identität, absolute 18, 19, 20, 49, 50, 51, 52, 77, 146, 147, 200, 201, 213, 221, 239, 250, 260, 340 Identität, relative 18, 20, 49, 50, 52, 201, 221, 222, 340 Idiome 226 Imperativ, kategorischer 143 imperium 291, 292, 295, 297 Impersonalien 251 Implikation 212

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Sachregister Individuum 322 Indeterminismus 124, 127 Initiative 66, 106, 107, 122, 124 Initiative, unabhängige 124, 127, 131 Innenwelt 49, 52, 154 Inspiration, finale 293, 294, 297, 301, 304, 306, 314 Institution 77, 87, 149, 182, 183, 275, 276, 277, 278, 279, 280, 284, 287, 288, 316, 318, 323, 324, 325, 341, 342 Institution, einfache 275, 276, 277, 278 Institution, final spezialisierte 341 Institution, final unspezialisierte 341 Institution, zusammengesetzte 275, 276, 277, 278 Inszenierung 275, 276, 277, 279, 288, 341 Intelligenz, leibliche 213 Intimität 116 Intonation 227 Introjektion 154 Ironie 224 Ironie, romantische 142 Islam 89, 183, 184, 185 ius, altrömisches 79, 80 Jahwe 150, 166 Jakobinerklub 305 Japan 93, 94 Justine-Juliette-Argument 43, 193 Justizapparat 313, 316 Kabinett 307, 308, 309, 313 Kameralistik 302, 303 kami 165, 166 Kapitalismus 317, 342 kategorematisch 264 Katharsis 63, 66, 67, 68, 101, 102 Kauf 318, 324, 325, 326, 330, 331, 334, 335, 339 Kaufkraft 318, 319, 337 Kausalität 114, 115, 116, 133 Kausalität der Unterlassung 116 Kausalität, konkurrierende 116 Kennzeichnung 113, 264

Kerngruppe 81, 88, 89, 91, 106, 138, 181, 314 Kernnorm 81, 82, 88, 89, 90, 91, 98, 99, 100, 105, 106, 109, 118, 138, 139, 140, 181, 314, 315 Kind 75, 126, 138, 139, 141, 222, 231, 234, 314 Kirche 293, 295, 297, 301, 304, 306, 310, 313, 314 Kirche, katholische 279 Klassenkampf 91 Klassifikationssprache 259 Klassifizierung 271 Koalition 311 Koalitionsausschuss 313 Kohärenztheorie 35 Kommunikation, leibliche 19, 166, 167, 233, 244, 249, 340 Kompatibilisten 124 Kompetenz 233 Kompetenz, motorische 239, 240 Komplex 275, 287 Konkrete, das 32 Kongruenzregel 227, 228 Konsensustheorie 35, 44 Konstellation 51, 172, 221, 222, 232, 239, 266, 341 Kontext, substitutionssensitiver 40, 41, 262 Konvention 341 Kooperationsbeschränkung 276 Körper 66 Körperform 224 Körperschema, motorisches 66, 213 Kosten 338, 339 Krankheit 198, 199, 205 Kredit 337, 338, 339, 343 Krieg 102, 190 Kriterium 262 Kriterium des Seins 25, 30 Kryptomorph 228, 229, 231 Kulturnorm 75, 77 Kummer 64, 140 Kundgabe 230 Kunstwerk 174, 275

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Sachregister Labilität der Person 52 Lachen 202 Lagezeit, modale 20, 51, 340 Lateinische, das 273 Lautung 247, 249 Lautverschiebung, hochdeutsche 248 Leben, abenteuerliches 46, 48 Leben aus primitiver Gegenwart 19, 20, 21, 51, 52, 53, 200, 201, 202, 222, 242, 339, 340, 341 Lebensführungsschuld 120, 123, 134, 135 Legalsicherheit 316 legitim 286, 287 Legitimität 42 Leib 51, 55, 66, 119, 166, 241, 242, 243 Leibesinsel 241 Leibniz-Prinzip 41 Leiteindruck 172 lektón, stoisches 263 Lexikon 262, 264 Licht 176 Liebe 22, 55, 60, 63, 69, 74, 152, 156, 157, 158, 159, 162, 169, 172, 175, 176, 186, 187 Liebe, persönliche 197 Liebesekstase 169 Lied 35, 223 List der Vernunft 303, 306 Lust 58, 59, 190, 194, 198, 204 Macht 11, 17, 44, 60, 69, 71, 122, 151, 156, 164, 165, 166, 182, 183, 184, 185, 190, 194, 239, 284, 285, 286, 287, 290, 291, 302, 303, 315, 316, 319, 320, 322, 323, 324, 328, 329, 330, 332, 333, 334, 337, 341, 342 Majoritätsprinzip 310, 311 Malen 242 Mandat 308, 309, 312 Mann 184 Mannigfaltiges, chaotisches 16 Mannigfaltiges, numerisches 16 Mannigfaltiges, zwiespältiges 16, 18, 29, 188 Mannigfaltigkeit, chaotische 137

Mannigfaltigkeit, diffus chaotische 214, 239 Mannigfaltigkeit, konfus chaotische 214, 239 Mannigfaltigkeit, numerische 215 Mannigfaltigkeitstypus 215 Markt 318, 323, 324, 325, 326, 331, 334, 335, 338 Marktwirtschaft 336 Maximalprinzip 310 Megaloprepeia 72 Megalopsychie 72 Mehrheitswahlrecht 312 Mehrparteienbetrieb 306 Merkantilismus 302, 332 Menge 20, 51 Mensch, guter 197 Menschenrecht 81, 85, 90, 91 Metapher 268 Metaphysik 179, 181 Milde 176 Minister 313 Mitspielberechtigter 276, 277, 278 Mitspielberechtigung 277 Mitteilung 218 Mittel 284, 287, 295, 309, 313, 322, 331 Mittelwahl 304 Monotheismus 178, 179, 180, 181, 183 Moral 15, 22, 78, 140, 141, 142, 144, 147, 149, 153, 154, 180, 181, 189, 191, 194, 303 moral insanity 146 Morph 224, 225, 226, 227, 229, 252, 265 Morph, körperhaltiges 225, 226, 227, 264 Morph, körperloses 227, 228 Morphkörper 225 Mund 243, 244, 248, 249 Mundgebärde 244 Mündigkeit 322 Musik 55, 65 Mut 66 Mystik 166, 184

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Sachregister Nachahmung 246 Nächstenliebe 186, 187, 188, 195 Nachtwächterstaat 285 Nacktheitstabu 82 Name 264 Natur 199, 202, 203, 204, 205 Natur der Sache 116 Naturrecht 48, 144 Naturrechtslehre 43 Neandertaler 242 Nenngeld 321 Neoinstitutionalismus 280 Neue, das 18, 50, 339 Neutralisierung 21, 52, 155, 201, 340 Neutralität 143, 202, 205 Neuwahl 307, 308, 309 Nichtseiende, das 52, 241, 260 Nichtsein 20, 29, 51, 68, 340 Nirvana 163, 164 Niveau 18, 21, 22, 53, 67, 82, 98, 100, 106, 138, 141, 142, 145, 146, 147, 148, 154, 180, 188, 191, 202, 203, 204 Nominalgeld 334, 336, 337 Nominalverfassung 288, 300, 313 Nomos 13, 14, 15, 17, 18, 74, 75, 76, 97, 101, 102, 112, 121, 174, 214, 215, 232, 236, 239, 240, 280, 341 Norm 11, 13, 14, 15, 16, 17, 18, 22, 23, 24, 27, 31, 39, 42, 44, 46, 47, 59, 65, 79, 80, 81, 83, 86, 88, 98, 100, 121, 142, 143, 144, 145, 149, 156, 159, 166, 181, 188, 190, 191, 192, 194, 196, 197, 314, 315, 316, 341 Norm, ästhetische 188 Norm, ästhetoide 188, 191 Norm, erotische 18 Norm, moralische 18 Norm, rechtliche 18 Norm, religiöse 18 Nötigung, exigente 16, 17, 22, 25, 26, 27, 28, 66, 69 nulla poena sine lege 109 Numinose, das 54, 60, 153, 154, 155, 156, 161, 176

Objektgruppe, äußere 88, 89 Odin 177 Ökonomik, politische 302 Organisation 183, 275, 278, 279, 280, 282, 283, 284, 286, 287, 288, 299, 323, 324, 325, 341, 342 Organisation, einfache 279 Organisation, zusammengesetzte 278, 279 Ort, absoluter 20, 67, 340 Ort, heiliger 54, 166 Ort, relativer 20, 66, 67, 340 Ortsraum 20, 51, 55, 242, 340 Ostkirche 185, 186 Parlament 307, 308, 309, 312, 313 Parrhesia 162 Partei 305, 306, 307, 308, 309, 310, 311, 312, 313, 314 Parteienstaat 311 Parteienstaat, moderner 303, 304, 308, 309, 310, 311, 313 Parteigründungsfreiheit 310, 311 Parteiprogramm 306, 311 Partizip 258 Passiv 258 Pathos 42 Peinlichkeit 54, 71, 77 Person 19, 20, 21, 22, 23, 51, 52, 53, 61, 115, 126, 128, 141, 154, 160, 162, 168, 175, 188, 198, 199, 200, 203, 204, 205, 284, 340, 342 Personal 277, 278, 279, 284, 324 Personal, abgeschlossenes 277 Person, juristische 87 Personifikation 175, 178 Persönlichkeit 21, 52, 96, 97, 137, 143, 175 Perspektive 14, 15, 16, 17, 18, 22, 44, 88, 106, 138, 139, 140, 142, 143, 145, 146, 148, 149, 156, 191, 197 Pfand 337 Pflanze 238 Phänomenologie 48 Phantasie 260 Philia 157, 158

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Sachregister Phobos 157 Pietät 88 Plakat 156, 170, 171, 173, 174, 175, 177, 178, 186 Plakatierung 172, 174, 175, 176, 178 Plakatwahrheit 174 Planung 284, 285 Plebiszit 308 Pleonexie 324 Pluralismus 89 Poesie 265, 268 Positivismus 41, 42 Potenz 284, 323 Präferenz 331, 332 Präposition 272 Präventionsstaat 285 Preis 325, 330, 331, 332, 333, 334, 335, 336 Preisindex 318, 328 Privatsprache 210 Problem 12, 13, 32, 45, 50, 51, 56, 115, 137, 142, 155, 170, 201, 208, 211, 216, 223, 227, 236, 249, 252, 259, 280, 288 Problem, neutrales 21 Problem, praktisches 12 Problem, psychophysisches 213 Problem, theoretisches 12 Produktion 338, 339 Profit 338, 339 Programm 11, 12, 13, 14, 15, 24, 31, 32, 39, 45, 50, 51, 56, 79, 106, 137, 142, 155, 170, 201, 202, 208, 211, 213, 216, 223, 227, 236, 239, 241, 249, 252, 259, 288, 307, 308, 309, 310, 312, 313, 340 Programm, neutrales 21 protopathisch 247, 248, 268 Prozess 80, 97, 100, 101, 102, 103, 110, 250 Prozessrhetorik 102 Puritaner 304 Quäker 164, 178, 181 Quantenphysik 129

Rache 63, 64, 67, 68, 92, 107, 108, 189 Randgruppe, äußere 88, 89 Randgruppe, innere 88, 89 Randnorm 83, 84, 87, 97, 98, 100, 109, 138, 315, 316 Randscham 66 Raum 55, 56, 57, 241 Raum, flächenloser 55 Raum erlebter Anwesenheit 173 Reaktion, spontane 123 Realisierung 24, 25 Realverfassung 288 Rechenschaftsfähigkeit 122 Recht 42, 43, 48, 49, 59, 60, 61, 63, 64, 65, 67, 68, 72, 73, 74, 75, 76, 78, 83, 84, 88, 91, 92, 96, 98, 103, 104, 110, 115, 116, 141, 189, 194, 314, 315, 316 Recht, englisches 98 Recht, subjektives 84, 85, 86, 87, 92, 93 Rechtsfindung 97, 98, 99, 100, 101, 102, 316 Rechtsfriede 101, 102, 103, 105, 107 Rechtsgefühl 48, 60, 69, 74, 75, 83, 86, 89, 91, 92, 93, 98, 99, 101, 102, 103, 108, 109, 117, 134, 149, 315 Rechtsgefühl im engsten Sinn 69, 70, 72, 73 Rechtsgefühl im weiteren Sinn 73, 96 Rechtsgefühl im weitesten Sinn 73, 79, 91, 97, 98, 99, 100, 107 Rechtsgenosse 78, 79, 88, 102, 103 Rechtsgut 79, 81, 84, 86, 87, 88 Rechtskultur 48, 91, 92, 93, 95, 97, 117, 133, 134, 139, 140, 194, 314, 315 Rechtskultur der Scham 92, 93, 94, 95, 96 Rechtskultur des Zorns 92, 94, 111 Rechtsnorm 80, 81, 82, 83, 84, 86, 88, 97, 98, 99, 100, 112, 138 Rechtsnorm, unechte 83, 84, 87, 98, 100, 109, 138, 315 Rechtsordnung 79, 80, 81, 83, 84, 86,

359 https://doi.org/10.5771/9783495860755 .

Sachregister 87, 88, 89, 90, 91, 97, 109, 138, 140, 315, 316 Rechtssicherheit 316 Rechtsprechung 299 Rechtsvolk 78, 79, 81, 88, 89, 91, 97, 101, 104, 106, 111, 112, 138, 140, 141, 181, 314, 315 Rechtszustand 76, 77, 78, 79, 80, 81, 88, 89, 91, 101, 102, 104, 105, 107, 108, 109, 111, 118, 141 Rede 207, 208, 211, 212, 213, 214, 215, 216, 222, 224, 230, 236, 237, 239, 249, 260 Rede, poetische 267 Rede, satzförmige 19, 32, 51, 155, 172, 174, 201, 209, 212, 239, 249, 256, 340 Rede, sprachliche 211, 218, 233, 236, 250, 256 Rede, tierische 212, 247 Redlichkeit 197 Reduktionismus 194 Redundanztheorie 34, 37, 38 Reflexion 188 Reflexivität 127 Regalien 292, 293, 295, 296, 297, 299 Regel 13, 146, 202, 208, 210, 211, 213, 216, 218, 223, 224, 225, 226, 230, 233, 236, 260, 275, 276, 279, 287, 298, 325 Regierung 306, 307, 308, 310, 311, 312, 313, 314 Regierungsprogramm 295 Regression, personale 21, 52, 201, 202, 204 Regung, leibliche 48, 53, 118, 120 Regung, ganzheitliche leibliche 198 Reichsgericht 76, 89, 100 Reinheit 196 Relativismus 144 Religion 22, 144, 149, 179, 181, 191, 197, 303 Religion, epigonale 149, 182, 183, 184 Religion, ursprüngliche 149, 181, 182, 183 Religion der Pflicht 151, 152

Ressentiment 141 Ressourcen 284, 285, 287, 289, 293, 297, 322 Rezept 214, 215 Richtlinien der Politik 300, 313 Richtung, abgründige 66 Richtung, leibliche 66, 67, 140, 248 Richtung, unumkehrbare 242, 243 Richtung, zentripetale 67 Richtungsraum 66 Rohheit 118, 138 Rolle 276, 277 Rollenbeschränkung 276 Rollenbestimmung 276, 297 Rom 94, 95, 109 Roman 35, 37, 223 Römer 79, 80, 91, 108, 159, 270, 291 Ruf 19, 51, 172, 201, 212, 238, 247 Sachverhalt 12, 13, 16, 18, 19, 24, 25, 26, 27, 28, 31, 32, 34, 39, 40, 41, 45, 47, 48, 51, 55, 79, 113, 115, 116, 122, 137, 142, 155, 170, 201, 208, 211, 216, 223, 227, 229, 236, 240, 241, 249, 252, 256, 259, 261, 262, 263, 265, 280, 288, 340 Sachverhalt, neutraler 21 Sachverhalt, subjektiver 142 Sachverhalt, untatsächlicher 24, 25, 50 Sägen 126, 169 Säugling 15, 19, 34, 51, 200, 340 Satz 13, 34, 39, 115, 202, 211, 212, 213, 214, 216, 218, 224, 229, 234, 254, 260, 263, 264 Satz vom ausgeschlossenen Dritten 129 Satzbau 273 Satzbau, deutscher 252, 253 Satzbau, französischer 252, 254 Satzung 97, 98, 99, 100, 109, 134 Schachspieler 255 Schalennorm 82, 83, 88, 98, 99, 100, 109, 138, 188 Scham 22, 27, 48, 54, 60, 61, 62, 63, 64, 66, 67, 68, 69, 70, 71, 72, 73, 74, 76, 80, 82, 91, 93, 94, 101, 104, 105, 107,

360 https://doi.org/10.5771/9783495860755 .

Sachregister 108, 109, 111, 112, 133, 140, 141, 146, 149, 151, 156, 197, 314 Scham, katastrophale 66 Scham, rechtliche 76 Schamgemeinschaft 76 Schamhaftigkeit 70, 71, 72, 73, 92, 95, 96, 97, 141 Schamkultur 96, 97 Scharia 91 Schechinah 166 Schimpanse 241 Schlussregel, logische 15, 31 Schmerz 25, 115 Scholastiker 26 Schönheit 188, 192 Schrei 19, 51, 172, 201, 212, 238, 247 Schrödinger’sche Katze Schüchternheit, moralische 148 Schuld 78, 104, 106, 112, 113, 117, 118, 120, 121, 123, 133, 134, 135, 136, 137, 138, 139, 146, 151 Schuldbewusstsein 151 Schuldgefühl 140, 141, 149, 156, 197 Schuldkultur 96 Schuldtatbestand 134 Schwank 224 Schwellung 19, 51, 66, 167, 237, 245, 247, 248 Schwere, reißende 66, 115 Seele 49, 53, 131, 163, 194 Sehnsucht 66 Seiende, das 241 Sein 12, 14, 17, 18, 20, 22, 25, 26, 31, 39, 59, 68, 260, 340 Selbstanwendung 193 Selbstbestimmung 303 Selbstgegebenheit 28, 29, 31 Selbststeuerung 125, 127 Selbsttäuschung, emotionale 146, 147 Selbstverstrickung, unbeliebige 127 Selbstverstrickung, unwillkürliche 126 Selbstzuschreibung 20, 21, 49, 50, 52, 200, 201, 202, 340 Selbstzweck 285, 286 Selektionsregel 227, 228

Sensibilität, rechtliche 73, 76, 92, 93, 107 Sexualität 82 Shinto 165 Shiva 177 Sichbewussthaben 20, 49, 200, 202 Sicherungsrecht 104, 115, 120, 140 Sicherungsverwahrung 113, 140 Sichthaber 14, 15, 16, 17 Signal 211, 230, 261 Singen 126, 169, 212 Singularismus 143, 154 Singwettkampf 101, 102 Sinn 216, 259, 260, 263, 264, 265, 268, 269 Sinn, partieller 260, 261, 262, 268 Sinn, totaler 260, 261, 262, 268 Sippe 284 Sitte 71, 76, 95, 109, 275, 341 Situation 12, 13, 15, 19, 25, 32, 45, 46, 47, 55, 74, 75, 76, 101, 102, 112, 121, 137, 143, 154, 155, 156, 160, 166, 170, 172, 175, 190, 200, 201, 202, 209, 211, 212, 213, 214, 218, 221, 222, 224, 230, 232, 233, 236, 237, 238, 239, 240, 243, 244, 246, 249, 256, 259, 263, 265, 266, 267, 268, 269, 273, 274, 275, 315, 340, 341, 342 Situation, aktuelle 13, 32, 45, 51, 55, 118, 156, 209, 210, 234, 243, 274, 288 Situation, implantierende 96, 234 Situation, impressive 13, 51, 165, 170, 171, 173, 178, 213, 234, 243 Situation, persönliche 21, 52, 68, 96, 137, 143, 171, 172, 201, 205, 234, 341 Situation, prospektive partielle 205 Situation, segmentierte 13, 51, 170, 171, 172, 173, 174, 175 Situation, zuständliche 13, 32, 45, 46, 51, 55, 74, 96, 97, 156, 159, 209, 234, 239, 274, 280, 281, 288 Sollen 14

361 https://doi.org/10.5771/9783495860755 .

Sachregister Souveränität 296, 297, 298, 300, 301, 303, 306 Spannung 19, 51, 66, 166, 237, 244, 247 Spekulation 333, 336, 337, 338 Spezialisierung, finale 310, 320 Spezialsprache 218 Spiel 275 Spielraum 119, 120 Sprache 13, 34, 51, 74, 171, 202, 207, 208, 209, 210, 211, 212, 213, 214, 215, 216, 217, 218, 219, 222, 223, 224, 225, 226, 227, 228, 230, 231, 232, 233, 234, 235, 236, 237, 238, 239, 240, 241, 242, 243, 246, 249, 251, 255, 256, 258, 260, 261, 263, 265, 272, 273, 274, 275, 277, 279, 280, 341 Sprache, indogermanische 256, 257, 259 Sprache, klassifikatorische 256 Sprache, polysynthetische 251 Spracheinheit 218 Sprachgenossen 217, 260 Sprachkompetenz 225, 265 Sprachkompetenz, passive 218 Sprachverständnis 217, 222, 223, 224 Sprechakt 223, 224 Sprechen 202, 207, 208, 209, 210, 211, 213, 214, 215, 216, 218, 222, 223, 236, 237, 244, 265 Sprechen, chorisches 212 Sprechverständnis 216 Spruch 13, 34, 39, 115, 211, 213, 214, 215, 216, 217, 218, 219, 221, 223, 224, 225, 227, 228, 229, 230, 231, 236, 254, 259, 260, 263, 264, 265, 267, 269, 272 Staat 83, 84, 87, 89, 91, 275, 277, 282, 283, 284, 285, 286, 287, 288, 289, 291, 293, 296, 297, 298, 299, 302, 303, 304, 306, 314, 315, 316, 323, 325, 332, 342 Staat, antiker 289, 291, 292 Staatsbetrieb 288, 299, 300, 301, 304, 305

Staatsgebiet 284 Staatssouveränität 297 Staatsvolk 284 Staatsvolk, aktives 288, 310, 312 Staatsvolk, passives 288, 310 Staatswille 287, 288, 295, 302, 303, 308, 309, 310, 315, 316, 323 Staatswillensbildung 306, 310 Staatszweck 284, 288, 290, 294, 301, 306, 311, 312 Staatszweckvorschlag 308, 313 Ständestaat, dualistischer 293, 297 Standpunkt 13, 45, 46, 47, 146, 274 Steinschleuderargument 38 Stellungnahme 119, 126, 127, 189, 194, 197 Stellungsregel 227 Steuer 324, 336 Stille 58, 59 Stimme 211, 237, 243, 246 Stoiker 26, 122, 178 Stolz 162 Störung, anankastische 23 Strafe 42, 80, 92, 93, 104, 105, 107, 108, 110, 134, 136, 139, 314 Strafrecht 80, 81, 104, 115, 120, 134, 135, 139 Strafzweck 106, 107 Stumpfheit 118, 138 Subjekt 20, 52 Subjektivität 18, 20, 21, 22, 23, 33, 50, 52, 127, 128, 155, 182, 200, 201, 202, 205, 340 Subjektivität, strikte 143 Substantiv 257, 258, 269, 270, 271 Sucht 23, 324, 342 Sufi 184 Sühne 107 Sympathiegefühl 69 Synkategorematika 226 Synkretismus 183 Synonymie 261, 264 Syntagma 225, 226, 229, 265, 268 System 214, 215, 232, 275 Tacitismus 286

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Sachregister Tapferkeit 196, 197 Tatbestand 112, 134 Tatsache 18, 24, 25, 27, 29, 31, 32, 33, 34, 37, 38, 39, 40, 41, 48, 59, 79, 113, 114, 115, 116, 121, 124, 128, 142, 190, 191, 260 Tatsache, neutrale 33, 50, 105 Tatsache, objektive 19, 30, 31, 32, 33, 40, 50, 59, 105, 120, 127, 128, 129, 131, 132, 135, 181, 182 Tatsache, subjektive 20, 29, 31, 32, 33, 40, 50, 60, 105, 127, 128, 129, 131, 132, 135, 155, 180, 181, 182, 200 Tatsächlichkeit 33, 35, 36, 39, 48, 116, 127, 142, 182, 223, 229 Tausch 318, 322, 324, 328, 329, 332, 333, 336, 337 Tauschmacht 319, 320, 322, 323, 324, 325, 326, 332, 333, 334, 335, 336, 337, 339 Tauschwirtschaft 322 Text 219 Theologie 170 Theorie, pragmatische 35 Theorie, synergistische 246 Tier 15, 19, 34, 51, 61, 86, 90, 118, 122, 126, 172, 180, 188, 199, 200, 202, 205, 212, 213, 218, 236, 237, 238, 239, 241, 243, 244, 249, 275, 339, 349 Tierschutz 90 Tories 305 Trauer 56, 57, 63, 66, 140 Tribut 324, 336 Tugend 69, 197 Typus, nächster institutioneller 279 Übersetzung 261, 268 Überzeugung 26, 34, 36, 37, 39, 280 Überzeugung, deterministische 124 Umgangsform 275 Unabhängigkeit 122, 124, 297 Unachtsamkeit 117, 118, 133, 138 Unentschiedenheit 129 Ungehorsam 112 Unglück 184

unio mystica 168 Universalienstreit, mittelalterlicher 273 Unlust 58, 59, 190, 194 Unrecht 48, 49, 60, 61, 64, 65, 66, 67, 68, 73, 74, 75, 76, 78, 88, 94, 104, 105, 113, 114, 117, 118, 120, 133, 134, 135, 139, 196, 315, 316 Unrecht, sicherungsrechtliches 112 Unrecht, strafrechtliches 112 Unrecht, verbrecherisches 112, 113, 115, 116, 119 Unrechtsgefühl 60 Unterlassung 113, 116, 117, 118, 133, 138 Unterschied 221, 222 Unspezialisiertheit, finale 288, 289, 292, 301, 302, 303, 321, 322, 323, 328 Unwert 193, 194, 195, 196, 197, 198 Unzumutbarkeit 137, 138, 140 Urgefühl, rechtliches 61, 68, 70, 73, 76, 91, 101, 102, 104, 107, 140, 314 Urheber 114, 116, 124, 128 Ursache 114, 115, 116, 124, 127, 128, 129 Verankerungspunkt 61, 62, 63, 64, 65, 67, 68, 70, 73, 104, 107, 112, 156 Verantwortung 120, 121, 122, 123, 144, 291 Verantwortung, sittliche 89, 121, 122, 123, 124, 125, 128, 136, 137, 143, 148 Verantwortungsbewusstsein, normales sittliches 122 Verantwortungsfreiheit 120, 121, 122, 123, 124, 125, 127, 132, 133, 135 Verb 253, 254, 257, 258, 269, 272 Verbindlichkeit 22, 42, 44, 81, 82, 98, 194, 196, 315 Verbindung, umkehrbare 66, 242 Verbotskenntnis 138, 139 Verbrechen 76, 81, 86, 104, 106, 107, 108, 109, 111, 112, 113, 120, 133, 134, 136

363 https://doi.org/10.5771/9783495860755 .

Sachregister Verbrecher 105, 107, 110, 112, 113, 120, 133, 134 Verdichtungsbereich 61, 62, 63, 64, 65, 66, 69, 70, 73, 76, 93, 104, 105, 107, 112, 133, 156 Verdienst, sittliches 197, 198 Verein 278 Vereinzelung 51, 52, 155, 201, 213, 222, 240, 241, 243, 249, 252, 257, 340, 342 Verfassung 287, 288, 289, 297, 298, 300, 303, 306, 308, 309, 311 Vergangenheit 30 Vergegenständlichung, psychologistisch-reduktionistisch-introjektionistische 154, 190, 194, 274 Vergeltung 106, 107, 108, 109, 139, 140 Verhalten, rationales 121, 124 Verhaltensmuster 208, 236 Verhaltensmuster, ganzheitliches 80, 81 Verhältnis 126, 127, 130, 169, 250, 251, 252, 253, 254, 255, 256, 257, 258 Verhältnis, unspaltbares 126, 169, 170, 184, 201 Verhältniswahlrecht 312 Vernunft 141, 142, 163, 200 Verschiedenheit 19, 113, 200, 213, 214, 221, 222, 239, 340 Verschlusslaut, explosiver 247 Verstand, anschauender 251, 252 Verstand, intuitiver 255 Versunkenheit 126, 167, 168, 169, 170, 184 Verwaltung 299 Verwechslung 239, 259, 260, 340 Verzeihung 110, 111, 112 Verzweiflung 54 Volksbegehren 308 Volkssouveränität 298, 311 Volkstribun 292 Volumen, dreidimensionales 241 Volumen, dynamisches 241 Volumen, flächenloses 241

Voraussetzungsregel 229, 230, 231, 266 Vorgefühl 69, 70, 71, 73, 96, 108, 109, 149, 156, 164, 314 Vorgefühl, rechtliches 69, 73, 74, 75, 76 Vorgeld 318, 320 Vorgestalt 219, 221 Vorsatz 116, 117, 119, 120, 133 Wahl 123, 125, 306, 307, 308, 310, 311, 312, 322, 342 Wählen 121, 123, 124 Wählerschaft 306, 308, 310, 311, 312 Wahlfreiheit 121, 122, 123, 124, 133, 135 Wahrheit 24, 28, 30, 34, 35, 36, 37, 173, 174, Wahrheitsbegriff, faktizistischer 34, 35, 37, 38, 39, 40 Wahrheitsbegriff, rationalistischer 34, 35 Wahrheitstheorie, faktizistische 34, 36, 38, 39 Wahrheitstheorie, rationalistische 34, 36, 37, 38, 44 Wahrheitswert 264 Wahrnehmung 136 Währung 318, 319, 325, 328 Währungsgeld 321, 329, 337 Wandbemalung, eiszeitliche 242 Ware 318, 325, 328, 330, 331, 333, 334, 336, 338 Warenkorb 328 Wasserfallillusion 16 Weib 267, 268 Weinen 202 Weite 18, 66, 67, 140, 166, 242, 243, 248, 339 Weitung 19, 51, 66, 166, 167, 200, 237, 243, 248 Weitung, privative 66, 167, 237, 238, 240, 241, 243, 247, 248 Welt 20, 51, 201, 202, 222, 223, 240, 241, 242, 260, 340, 341, 342 Welt, persönliche 21, 201

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Sachregister Weltanschauung, 273 Weltbild, materialistisches 131, 132 Weltbild, naturwissenschaftliches 274 Weltspaltung 59, 154, 194, 274 Wert 43, 44, 48, 59, 192, 193, 194, 195, 196, 197, 198, 325, 328, 330, 331, 332 Wert, höherer 196 Wert, stärkerer 196, 197 Wertbestimmung, objektive 330 Wertbestimmung, subjektive 330 Wertethik 43 Wertethik, materiale 192 Wertkonflikt 195 Wertsynthese 196 Werttheorie 43, 44, 48 Wertung 194, 196 Westkirche 185 Whigs 305 Wille zur Macht 324, 342 Willensfreiheit 120, 125, 131, 135, 195 Willkür 341 Wind 115 Wirklichkeit 12, 25, 27, 30, 37, 39, 40, 59 Wirtschaft 328 Witz 16, 35, 37, 57, 223, 224 Wohlfahrt 302, 303 Wohlfahrtsstaat 285, 303, 306 Wohnung 173 Wollen 52, 100, 120, 125, 127, 129, 131, 132, 181, 287 Wollust 63 Wonne 163, 164 Wort 225, 226, 233, 236, 260, 263, 265, 268, 269 Wortbildung 269, 271, 273 Wortkörper 226, 265, 269 Wunsch 11, 13, 23, 79, 142, 284, 341 Wurzel 225, 229, 265 Wurzel, absolute 225 Wurzelkörper 225

Wut 64, 65 Zeichen 215 Zeichnen 242 Zeit 115 Zeitalter, ironistisches 143 Zeitgeist 171 Zielsetzung des Staatsbetriebs 300 Zins 317, 330, 337, 339 Zorn 48, 60, 61, 62, 63, 64, 65, 66, 67, 68, 69, 70, 72, 73, 74, 76, 78, 80, 91, 93, 94, 96, 101, 104, 105, 106, 107, 108, 109, 111, 112, 115, 117, 119, 133, 140, 149, 150, 151, 156, 187, 197, 314 Zorn, rechtlicher 76 Zufriedenheit 205 Zukommen 130 Zukunft 30 Zulassungsbeschränkung 276, 324 Zunge 245 Zustimmung 26, 27 Zuweisungsregel 277 Zuweisungsregel, absolute 277 Zuweisungsregel, relative 277 Zwang 121, 122, 286, 287 Zwangsneurose 23 Zweck 16, 24, 214, 281, 282, 283, 284, 285, 286, 287, 288, 289, 290, 295, 299, 300, 301, 306, 309, 313, 322, 323, 328, 331, 341 Zwecksetzung 282, 284, 300, 302, 306, 309, 316, 323, 332, 342 Zwecksetzungsfreiheit 310 Zwecksetzungsorganisation 283, 303, 309 Zweckverband 281, 282, 283, 303 Zweckwahl 287, 293 Zwiespalt 16, 17, 21, 22, 23, 52, 120, 129, 192, 202, 204, 205 Zyklothymiker 55

365 https://doi.org/10.5771/9783495860755 .

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