Das publizistische Werk des kaiserlichen Diplomaten Franz Paul Freiherr von Lisola (1613 - 1674): Ein Beitrag zum Verhältnis von Absolutistischem Staat, Öffentlichkeit und Mächtepolitik in der frühen Neuzeit [1 ed.] 9783428481828, 9783428081820


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German Pages 419 Year 1994

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Das publizistische Werk des kaiserlichen Diplomaten Franz Paul Freiherr von Lisola (1613 - 1674): Ein Beitrag zum Verhältnis von Absolutistischem Staat, Öffentlichkeit und Mächtepolitik in der frühen Neuzeit [1 ed.]
 9783428481828, 9783428081820

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MARKUS BAUMANNS

Das publizistische Werk des kaiserlichen Diplomaten Franz Paul Freiherr von Lisola (1613-1674)

Historische Forschungen Band 53

Das publizistische Werk des kaiserlichen Diplomaten Franz Paul Freiherr von Lisola (1613-1674) Ein Beitrag zum Verhältnis von Absolutistischem Staat, Öffentlichkeit und Mächtepolitik in der frühen Neuzeit

Von

Markus Baumanns

Duncker & Humblot . Berlin

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme

Baumanns, Markus:

Das publizistische Werk des kaiserlichen Diplomaten Franz Paul Freiherr von Lisola (1613 - 1674) : ein Beitrag zum Verhältnis von absolutistischem Staat, Öffentlichkeit und Mächtepolitik in der frühen Neuzeit / von Markus Baumanns. Berlin : Duncker und Humblot, 1994 (Historische Forschungen; Bd. 53) Zug!.: Köln, Univ., Diss., 1993 ISBN 3-428-08182-X

NE:GT

Alle Rechte vorbehalten © 1994 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fotoprint: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 0344-2012 ISBN 3-428-08182-X Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier gemäß der ANSI-Norm für Bibliotheken

Vorwort Die vorliegende Arbeit wurde im Sommer 1993 von der Philosophischen Fakultät der Universität zu Köln als Dissertation angenommen. Dank gilt meinem Doktorvater, Prof. Dr. Johannes Kunisch, der das Entstehen der Arbeit mit großem Interesse, anregenden Gesprächen und schließlich auch Vertrauen in die Fertigstellung trotz meiner Doppelbelastung durch Promotion und Beruf begleitet hat. Viele Anregungen verdanke ich auch dem Korreferenten Prof. Dr. Peter Burian, sowie Gesprächen mit Prof. Dr. Konrad Repgen, Bonn, und Prof. Dr. Franz Bosbach, Bayreuth. Ferner möchte ich mich bei vielen hilfreichen Mitarbeitern der Bibliotheken und Archive bedanken, in denen ich im Rahmen meiner Forschungen gearbeitet habe. Dabei bin ich besonders dem interessierten und anregenden Beistand Herrn Prof. Dr. Leopold Auers und seiner Kollegen im Haus-, Hof- und Staatsarchiv in Wien verbunden. Zu erwähnen sind außerdem die aufmerksame Betreuung und die angenehme Atmosphäre in der Herzog-August-Bibliothek in Wolfenbüttel, sowie die Hilfsbereitschaft der Bibliothekare der Österreichischen Nationalbibliothek und der Universitätsbibliothek in Wien, der Staatsbibliothek Stiftung Preußischer Kulturbesitz und der Staatsbibliothek Berlin, der Bibliotheque Municipale in Besanr;on und der Bibliotheque Nationale in Paris. Die Fertigstellung "meines Lisola" wäre nicht gelungen, hätte es nicht diejenigen gegeben, die in der näheren Umgebung das Projekt durch verschiedene Formen der Hilfestellung, durch mühsames Korrekturlesen, weiterführende Gespräche, logistische Unterstützung, durch Geduld, Verständnis und Zuspruch über Jahre hinweg und besonders in der letzten Phase mitgetragen haben. Diesen Personen danke ich an dieser Stelle von ganzem Herzen für ihre aktive Begleitung und nenne vor allem meinen Eltern, Severin Roeseling, Birgit Rummenhöller, Karina Kalweit und Torsten Schumacher. Dem Deutschen Akademischen Austauschdienst schulde ich Dank für die Gewährung eines Forschungsstipendiums, ebenso meinem Arbeitgeber, dem Presse- und Informationsamt der Bundesregierung, für die unproblematische Gewährung von Sonderurlauben im Rahmen der gesetzlichen Möglichkeiten. Schließlich bin ich dem Verlag Duncker & Humblot für die Aufnahme der Arbeit in die Reihe "Historische Forschungen", seiner Mitarbeiterin Frau Heike Frank für die gute Zusammenarbeit bei der Drucklegung verpflichtet. Köln, im Mai 1994

Markus Baumanns

Inhalt A. Einleitung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 11 B. Einführende Bemerkungen und Forschungsüberblick . . . . . . . . .. 17 I. Öffentlichkeit und öffentliche Meinung in der frühen Neuzeit. . . . . . . . . .. 1 7

1. Begriffsbestimmung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 8 2. Öffentlichkeit in der frühen Neuzeit - eine Forschungskontroverse ...... 2 1 3. Periodika und Zeitungswesen in der frühen Neuzeit .................. 24 11. Öffentliche Meinung und absolutistischer Staat. . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 38 1. Arkanhaltung und Repräsentationsbedürfnis des absolutistischen Hofes .. 38 Exkurs: Verhältnis von Obrigkeit und Öffentlichkeit in Staaten ohne Hof: die Generalstaaten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ................... 4 1 2. Propaganda . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ... 43 3. Steuerungsinstrumente des absolutistischen Staates ................. 50 a) Zensur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 50 b) Privileg ............................................... 56 c) Wertung staatlicher Steuerungsmechanismen. . ................. 58 4. Aktive Pressepolitik am Wiener Hof unter Leopold I. ................ 59 III. Öffentlicher Meinungsstreit in politischen Flugschriften der frühen Neuzeit - Gattungsbestimmung und Historiographie . . . . . . . . . . . . . .. 61 1. Flugschriften der frühen Neuzeit - eine Begriffsbestimmung ........... 61 2. Verschiedene Flugschriftentypen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .64 Exkurs: Distribution von politischen Flugschriften im 17. Jahrhundert .. 68 3. Flugschriften als Quellen ..................................... 73

c.

Die politische Publizistik in Europa zur Zeit Lisolas ........ 80 I. Die politische Publizistik in Frankreich ........................... 80

1. Antoine Bilains "Traite des droits" . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 88 2. Antoine Auberys "Des justes Pretentions du Roi sur l'Empire .......... 94 11. Die politische Publizistik in den Generalstaaten und im Reich .......... 100 1. Einzelne Autoren und Werke. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 104

8

Inhalt

D. Franz Paul Freiherr von Lisola - zu Forschung und Leben ..... 114 I. Forschungsüberblick ......................................... 114

11. Biographie Lisolas . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 127 I. 2. 3. 4. 5. 6. 7.

Von Besan~on nach Wien ................................... Erste Missionen ........................................ " Nordischer Krieg und Kaiserwahl .............................. Freunde und Feinde in Europa und am Wiener Hof ................ " Die französisch-holländischen Kriege und die Tripelallianz .......... Der Kölner Friedenskongreß . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. Rückkehr nach Wien und Tod .................................

127 129 131 136 142 15 1 157

III. Probleme bei der Bestimmung der Autorschaft Lisolas ............... 161

E. Ausgewählte Schriften Lisolas ............................. 165 I. Der "Bouclier d'estat et de justice" . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 165 1. Historischer Hintergrund und Aufbau ......................... " 165 2. Inhalt .................................................. 167 3. Methodische Bemerkungen .................................. 191

11. Die Tripelallianz in Lisolas publizistischem Werk .................. 199 1. "Reflexions sur la Triple-Ligue" . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. a) Historischer Hintergrund .................................. b)Inhalt ................................................ 2. "Conference infructueuse de Windisgrats" ....................... a) Historischer Hintergrund .................................. b) Aufbau und Inhalt ....................................... 3. "Remarques sur le Discours du Commandeur de Gremonville" ......... a) Historischer Hintergrund .................................. b) Aufbau und Inhalt ....................................... c) Methodische Bemerkungen ................................

199 199 201 204 204 208 215 2 15 216 225

III. "Denouement des Intrigues du temps" ........................... 227 I. 2. 3. 4.

Historischer Hintergrund .................................... 22 7 Aufbau und Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ....... 232 Methodische Bemerkungen .................................. 237 Inhalt .................................................. 239 a) Die Aktenlage in den "Lettres" .............................. 239 b) Inhaltliche Schwerpunkte ................................. 244 c) Stilistische Mittel .......... . ................ . ........... 254

IV. "Sauce au Verjus" ................... . ........ . ............. 257 I. Historischer Hintergrund .................................... 257 2. Inhalt .................................................. 263 3. Methodische Bemerkungen .................................. 276

Inhalt

9

V. Lisolas Schriften zur Verteidigung der Gefangennahme Fürstenbergs ..... 280 1. "Leure d'un Gentilhomme flamand a un Chevalier Anglois De la Chambre des Communes du Parlament, au sujet de I'Emprisonnement de Monsieur le Prince Guillaume de Furstenberg" ........................... 286 2. "Guilielmi Principis Furstembergii Detentio ad Caesaris Authoritatem, ad Tranquilitatem Imperii, ad Pacis Promotionem, Justa, Perutilis, Necessaria" .................................................. 289 3. "La Justification du Baron de Lisola de la visite donnee au Prince Guillaume de Furstemberg a Cologne" ............................. 295

VI. Motive des publizistischen Wirkens Lisolas ...................... 296

F. Rezeption des publizistischen Werks Lisolas ............... 306 I.

Die Adressaten ........................................... 306

11.

Wien - Haltung der kaiserlichen Regierung ...................... 312

III. Paris - Reaktionen der politischen Gegner . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .... 325 IV. Zeitgenössische und postume Rezeption. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 335

G. Zusammenfassende Bewertung ............................. 348 I.

Lisola - Protagonist und Vorreiter unter den Publizisten seiner Zeit. . .. 348

11.

Der Wiener Hof und der Publizist Lisola ......................... 351

III. Lisolas Publizistik im Spannungsfeld von absolutistischem Staat, Öffentlichkeit und Mächtepolitik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 353

Anhang - Werk-, Quellen- und Literaturverzeichnis ........ 356 I.

Übersicht über das publizistische Werk Lisolas ................... 356 1. Schriften, die Lisolas Autorschaft zuzuordnen sind ............. 357 2. Schriften, die nicht eindeutig Lisolas Autorschaft zuzuordnen sind .. 371 3. Schriften, die lediglich unter Lisolas Namen kursieren ........... 375

11.

Archivalische Quellenbestände ............................... 381

III. Gedruckte Quellen ......................................... 382 IV. Nachschlagewerke ........................................ 390 V.

Literatur ................................................ 393

A. Einleitung Gegenstand dieser Arbeit ist das publizistische Werk des kaiserlichen Gesandten Franz Paul Freiherr von Lisola. Seine diplomatische und publizistische Bedeutung wird auch in der neuesten Forschung gewürdigt. I Entsprechende Urteile stützen sich dabei auf Forschungen, die vor einhundert Jahren dem diplomatischen und kaum dem publizistischen Wirken Lisolas gewidmet waren. Die vorliegende Untersuchung bietet erstmalig eine zusammenhängende und vollständige Darstellung seines publizistischen Werks. Thema und Zielsetzung der Publizistik Lisolas, und damit nicht von der Ausrichtung seines diplomatischen Wirkens zu trennen, sind die von ihm früh erkannte konsequente Eroberungspolitik Ludwigs XIV. und die öffentliche Propagierung von politischen Konzepten für mögliche Gegenmaßnahmen des europäischen Mächtesystems. Der Versuch einer umfassenden, schlüssigen und modernen Forschungsansätzen genügenden Wertung dieses publizistischen Engagements bedingt die Auseinandersetzung mit dem Spannungsfeld, das zwischen absolutistischem Staat, Öffentlichkeit und Mächtepolitik im Zeitalter des frühneuzeitlichen Staates bestand.2 Um beurteilen zu können, welcher Stellenwert den publizistischen Aktivitäten Lisolas zukommt, ist es notwendig, auch die seinen Schriften zugrundeliegenden Bedingungen der öffentlichen Kommunikation seiner Zeit zu erläutern. Die Originalität seiner Schriften soll also im Rahmen des zeitgenössischen Kommunikationssystems und im Hinblick auf ihre Auswirkungen auf die europäische Mächtepolitik kritisch betrachtet werden. Da öffentliche Kommunikationssysteme nicht primär Forschungsgegenstand der Geschichtswissenschaften sind, war es für die Untersuchung fruchtbar, auf Methoden der Kommunikationswissenschaften zurückzugreifen. Danach läßt sich ein Kommunikationsvorgang durch Fragen nach dem Autor, dem InformaI An dieser Stelle sei nur auf die jüngste knappe Würdigung Lisolas durch Johannes Burkhardt: Der Dreißigjährige Krieg. Frankfurt 1992 (im folgenden zitiert als Burkhardt, Dreißigjähriger Krieg), S. 230f., hingewiesen. 2 Zum Begriff "Zeitalter des frühneuzeitlichen Staates" vgl.: Horst Dreitzel: Absolutismus und ständische Verfassung in Deutschland: ein Beitrag zur Kontinuität und Diskontinuität der politischen Theorie in der frühen Neuzeit (= Veröffentlichungen des Instituts für europäische Geschichte Mainz. Abt. Universalgeschichte, Bd. 24). Mainz 1992, S. 130.

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A. Einleitung

tionsgehalt, den Spezifika des Mediums, das die Information verbreitet, dem Personenkreis, der die Information aufnimmt und der Wirkung, die sie erzielt, erfassen. 3 Für Lisolas publizistisches Werk bedeutet dies, die diplomatischen und ereignisgeschichtlichen Umstände, unter denen er seine Schriften verfaßte, zu berücksichtigen und seine Intention und Motive zu ermitteln. Im Vergleich mit anderen Publizisten seiner Zeit sind die inhaltlichen und stilistischen Besonderheiten seiner Schriften herauszuarbeiten. Die zeitgenössische und postume Wirkung seiner Flugschriften sowie die Reaktion seiner Vorgesetzten und seines Dienstherrn, des Wiener Hofes und des Kaisers, müssen untersucht werden. Bei alledem werden die wenigen ausnahmslos um die lahrhundertwende erschienenen Darstellungen zu Leben und Werk Lisolas kritisch berücksichtigt. Das Spannungsfeld zwischen Diplomatie und Öffentlichkeit hat in der Forschung zur Publizistik der frühen Neuzeit wenig Beachtung gefunden. Für die Vorgehensweise der mit der Gattung Flugschriften des 17. und 18. Jahrhunderts befaßten Historiographie der lahrhundertwende ist Pribrams Umgang mit den Flugschriften Lisolas, die er im Ganzen wenig beachtet, durchaus repräsentativ. Er verwendete Lisolas Publizistik lediglich als Spiegel der diplomatiegeschichtlichen Ereignisse. Die für die Einordnung und Wertung von Lisolas Publizistik aus heutiger Sicht so interessanten Begriffe Öffentlichkeit und öffentliche Meinung, die die Adressaten und Rezipienten seiner Publizistik bezeichnen, benutzte er unreflektiert. 4 Die meisten Zeitgenossen Pribrams - überwiegend deutsche Historiker, die sich zwischen 1871 und 1914 nicht von ungefähr mit der antifranzösischen Flugschriftenliteratur der zweiten Hälfte des 17. Jahrhun3 Auch Martin Welke: Rußland in der deutschen Publizistik des 17. Jahrhunderts (1613-1689) (= Forschungen zur osteuropäischen Geschichte, Bd. 23). Berlin 1976 (im folgenden zitiert als Welke, Rußland), vgl. bes. S. 110, der mit demselben Quellenmaterial, nämlich Flugschriften, gearbeitet hat, nutzte diese aus der sog. Lasswell-Formel hervorgehenden Fragestellungen gewinnbringend. Die Formel wurde von Harold D. LassweIl 1948 aufgestellt in: The Structure and Function of Communication in Society. In: L. Bryson (Hg.): The Communication of Ideas. New York 1948, S. 37-51, hier: S. 37. Über die Bedeutung der Lasswell-Formel für die Kommunikationsgeschichte zur Zusammenführung von soziologischen und historischen Fragestellungen als konstituierende Elemente der Kommunikationswissenschaften vgl. die theoretischen Überlegungen von Kurt Koszyk: Kommunikationsgeschichte als Sozialgeschichte. In: M. Kaare / W. Schulz (Hgg.): Massenkommunikation (= Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, Sonderheft 30). Opladen 1989, S. 46-56, hier bes.: S. 51. 4 Alfred Francis Pribram: Franz Paul Freiherr von Lisola (1613-1674) und die Politik seiner Zeit. Leipzig 1894 (im folgenden zitiert als Pribram, Lisola), hier bspw.: S. 352: "Beeinflussung der öffentlichen Meinung durch eine dem Publikum geschickt vermittelte Kenntnis der leitenden Motive der einzelnen Mächte oder Parteien.", oder S. 533f.: "Lisola gehörte zu denen, die die Macht der öffentlichen Meinung sehr hoch stellten und darauf bedacht waren, nach ihren Kräften auf dieselbe einzuwirken. "

A. Einleitung

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derts beschäftigten - gingen ähnlich deskriptiv und unreflektiert mit der Quellengattung Flugschriften um. Nur Johannes Haller zeigte in seiner 1892 erschienenen Dissertation den Ansatz eines anderen Zugangs zur Tagespublizistik in bezug auf auswärtige Angelegenheiten. In seiner Einleitung stellte er entscheidende quellenkritische Fragen: "so ist es doch unerJäßlich, sich klar zu machen, weIchem Ideen- und Parteikreise die einzelne Schrift entstammt, ob sie nicht etwa bestimmte Zwecke verfolgt und weIches diese sind ... Haben wir es mit einer spontanen Äußerung der öffentlichen Meinung zu thun oder mit dem Versuch einer beteiligten Persönlichkeit, auf den Leser in bestimmtem Sinne zu wirken, also öffentliche Meinung zu machen? ... Ist die Stimme, die wir hören, 'unabhängig' oder 'offiziös'?"5 Haller nimmt seine Schlußthese vorweg: "auf die Stimmung weiterer Kreise haben auch im Zeitalter absoluter Fürstenmacht die Regierungen größeren Wert gelegt, als man von vornherein glauben sollte."6 Mit diesem Zugang zur Gattung der Tagespublizistik über auswärtige Angelegenheiten sollte Haller jahrzehntelang alleine bleiben. Erst Erich Everth richtete in seinem 1931 erschienen Werk "Die Öffentlichkeit in der Außenpolitik" das Augenmerk auf die hier interessierenden Fragen. Ausgehend von der Notwendigkeit einer "grundsätzlichen Klärung über die zunehmende Bedeutung der Öffentlichkeit in der modernen Welt" ging es Everth darum zu zeigen, "weIche Rolle die Publizistik in der Außenpolitik gespielt hat", die Bedeutung, "die das publizistische Element oder die Publizistik überhaupt in der Politik gewonnen hat", herauszuarbeiten, zu klären, ob und wie sie auf die Zeit, in der sie erschienen sind, wirken wollten und gewirkt haben, schließlich "in weIchem Umfang sie verbreitet waren, denn auch davon hing es ab, ob und wie sehr sie zu politischen Faktoren geworden sind."7 Weiter führte er aus: "Ich will vor allem herausheben, wie alt bereits die Beteiligung und Verwendung der Öffentlichkeit in der Außenpolitik ist, wie sie wohl zeitweilig eingeschränkt werden kann, aber immer wieder sich ausdehnt, und wie sie im großen gesehen zugenommen hat." Damit hob sich Everth bewußt von der Unbekümmertheit der Arbeiten ab, die sich zuvor mit Flugschriften zu auswärtigen Themen beschäftigten. Schließlich wies Andreas Gestrich in einem programmatischen Essay auf ein aktuelles Forschungsprojekt mit dem Arbeitstitel "Diplomatie und Öffentlichkeit" hin, das sich mit dem Verhältnis von Publizistik und Öffentlichkeit in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts beschäftigt.B Gestrich stellt die These auf, daß sich

5 Johannes Haller: Die Deutsche Publizistik in den Jahren 1668 - 1674. Ein Beitrag zur Geschichte der Raubkriege Ludwigs XIV. Diss. Heidelberg 1892 (im folgenden zitiert als Haller, Publizistik), hier: S. 2. 6 Ebd., S. 3. 7 Erich Everth: Die Öffentlichkeit in der Außenpolitik - von Karl V. bis Napoleon. Jena 1931, hier: S. III-V. 8 Andreas Gestrich: Politik im Alltag. Zur Funktion politischer Information im deutschen Absolutismus des frühen 18. Jahrhunderts. In: K. Gerteis (Hg.): Alltag in

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A. Einleitung

bereits für den hochabsolutistischen Staat in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts die Notwendigkeit ergab, eine öffentliche Meinung, die eine Eigendynamik entwickelte, als Machtfaktor auch in Belangen der auswärtigen Mächtepolitik zu berücksichtigen und deswegen eine gezielte Infonnationspolitik betreiben zu müssen. Gestrich sieht darin die Anerkennung einer sich bildenden selbständigen politischen Meinung der Untertanen durch die Führungselite des absolutistischen Staates. Damit sei der Boden für die bürgerliche Emanzipation und die Trennung von Staat und Bürgertum in der Aufklärung bereitet worden und ein Faktor für den Untergang des Ancien Regime entstanden. 9 Mit dieser Deutung wird sich die vorliegende Arbeit im Zusammenhang mit der Beziehung von absolutistischem Staat, Öffentlichkeit und Diplomatie bereits für die zweite Hälfte des 17 . Jahrhunderts auseinandersetzen. Das zum Verständnis und zur Einordnung des publizistischen Werks Lisolas wichtige zeitgenössische Kommunikationssystem wird im Forschungsüberblick des ersten Kapitels dargestellt. Er bietet eine Klärung des Begriffs Öffentlichkeit in der frühen Neuzeit mit dem Schwerpunkt auf der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts, eine Analyse des Verhältnisses von Staat und Öffentlichkeit im Zeitalter des frühneuzeitlichen Staates sowie eine Gattungsbestimmung und -abgrenzung des Mediums Flugschrift, das sich Lisola zunutze machte. Dabei soll nicht ein endgültiges Erklärungsmodell hochabsolutistischer Kommunikation dargestellt werden, sondern an zentralen Punkten die Grenzen und Möglichkeiten des Kommunikationssystems im Hinblick auf Lisolas Werk aufgezeigt werden. Nach einem Überblick über Protagonisten und Inhalte der pro- und antifranzösischen Flugschriftenliteratur zur Zeit Lisolas gibt das dritte Kapitel einen Überblick über Leben und Werk des Diplomaten und Publizisten. Das vierte Kapitel bietet eine Darstellung und Analyse von ausgewählten Schriften. Die exemplarische Einzelbetrachtung der Schriften wurde einer nach typologischen Gesichtspunkten ausgerichteten Vorgehensweise vorgezogen, da nur erstere es vennag, intensiver auf das Wechselspiel von historisch-politischem Hintergrund und Lisolas Argumentation im jeweiligen politischen Zusammenhang einzugehen. Typologische Bemerkungen zu inhaltlichen und darstellerisch-stilistischen Topoi und Besonderheiten folgen am Ende jeder Einzelbetrachtung und zusammenfassend im sechsten Kapitel. Die Auswahl der Schriften soll exemplarisch die inhaltliche und stilistische Vielfältigkeit von Lisolas Publizistik verdeutlichen und seine Entwicklung im Zusammenhang der Ereignisse darstellen. Das Kapitel schließt mit den Selbstzeugnissen, die von Lisola sowohl in seinen Schriften als auch in seiner Korrespondenz mit Wien überliefert sind. Sie geben Aufschluß über Intention und Motive seines publizistischen Engagements. der Zeit der Aufklärung (= Zeitschrift Aufklärung, Jg. 512). Hamburg 1991, S. 9-27, hier: S. 10. 9 Ebd. S. 26.

A. Einleitung

15

Das fünfte Kapitel beschäftigt sich mit der Rezeption des publizistischen Werks Lisolas. Es beantwortet Fragen nach den Adressaten seiner Schriften, also der Öffentlichkeit, an die sich Lisola wandte, nach dem Umgang des Wiener Hofes mit dem Engagement seines Gesandten sowie nach den Reaktionen des publizistischen und politischen Gegners, des Pariser Hofes. Die dieses Kapitel abschließenden ausgewählten Zeugnisse der sonstigen zeitgenössischen und postumen Wirkung seiner Publizistik runden das rezeptive Bild ab und schlagen den Bogen zur wissenschaftlichen Beschäftigung mit Lisolas Werk seit dem Ende des 18. Jahrhunderts. Zur Quellenlage ist festzustellen, daß einzelne seiner Schriften noch heute in fast allen größeren Bibliotheken Europas, besonders aber Deutschlands, der Niederlande, Belgiens und Frankreichs vorhanden sind. Für die vorliegende Untersuchung erwiesen sich die Altbestände der Herzog-August-Bibliothek in Wolfenbüttel, der Österreichischen Nationalbibliothek in Wien und der Bibliotheque Nationale in Paris als besonders hilfreich, da in diesen Bibliotheken die Werke Lisolas fast vollzählig greifbar sind. Darüber hinaus fanden sich vereinzelt weitere Auflagen und Ausgaben der Schriften, die durch gedruckte oder mikroverfilmte Bibliothekskataloge ermittelt oder im Laufe der Zeit bei verschiedenen Reisen in Deutschland und Europa en passant notiert wurden. Eine vollständige Übersicht über das publizistische Werk Lisolas mit allen greifbaren Ausgaben, Auflagen und Übersetzungen ist im Anhang beigefügt. Hier wurden auch die Fundorte der Schriften aufgeführt. In den Katalogen stößt man immer wieder auf das Problem der Autorschaft Lisolas, auf Schriften, die in den Katalogen Lisola zugewiesen werden, in Wahrheit aber nicht von ihm verfaßt wurden, und andere, die von ihm geschrieben wurden, und, da sie anonym oder unter Pseudonymen erschienen waren, dort unter anderen Autorennamen geführt werden. Kapitel D. III. setzt sich mit diesem Problem auseinander. In den genannten Bibliotheken war auch die Einsicht in die Originalschriften der gegnerischen und der freundlich gesinnten Publizisten möglich, auf die Lisola in seinen Werken eingeht. Für die Biographie Lisolas, die Entstehungsgeschichte seiner Schriften und die Ermittlung von Intention und Motiven seines schriftstellerischen Engagements erwiesen sich seine Briefe und Gesandtschaftsberichte, die er in ungewöhnlicher Häufigkeit und Ausführlichkeit nach Wien sandte und die zum allergrößten Teil im Haus-, Hof- und Staatsarchiv in Wien lagern, als unentbehrliche Quellengrundlage. Diese Bestände wurden zum Teil bereits von Pribram und Haller berücksichtigt; die erneute Durchsicht des Materials nach einhundert Jahren und zusätzliche Funde ermöglichten die Revision mancher Urteile und Antworten auf die hier untersuchten Fragen. 10 Archivalische Bestände des Hofkammerarchives erbrachten ergänzende Erkenntnisse.

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A. Einleitung

Quellengrundlage für die Ermittlung der zeitgenössischen und postumen Rezeption des publizistischen Werks Lisolas waren Gesandtschaftsberichte und Korrespondenzen Wiener Gesandter von europäischen und deutschen Höfen; sie sind ebenfalls im Haus-, Hof- und Staatsarchiv erhalten. Für die Rezeption Lisolas in Frankreich, in Deutschland und in den Generalstaaten konnte darüber hinaus auf ergiebige ältere und neuere Editionen von Gesandtschaftsberichten, Briefen und Memoiren von Zeitgenossen Lisolas, von Gegnern und Freunden seiner politischen Konzeption zurückgegriffen werden.

10 Gleichzeitig konnten viele unvollständige und aufgrund von Revisionen des Archivs überholte Fundnachweise Pribrams ergänzt und auf den neuesten Stand gebracht werden. Die genauen Angaben der benutzten Bibliotheken und Archive sind im Quellen- und Literaturverzeichnis zu finden.

B. Einführende Bemerkungen und Forschungsüberblick I. Öffentlichkeit und öffentliche Meinung in der frühen Neuzeit Wohlfeil bietet in seiner Beschreibung von "Refonnatorischer Öffentlichkeit" eine gültige Definition des Begriffs Öffentlichkeit: "'Öffentlichkeit' generell verstanden als Bezeichnung jener Allgemeinheit in gesellschaftlichen Kommunikations-, Infonnations- und Partizipations verhältnissen, die eine 'öffentliche Meinung' als Gesamtheit der gegenüber Staat und Gesellschaft fonnulierten, mannigfaltigen, oft sich widersprechenden, prinzipiellen und aktuellen Ansichten, Wünschen und Absichten der Mitglieder einer sozialen Einheit entstehen und fortwährend wirksam werden läßt."\ Öffentlichkeit ist ein verhältnismäßig junger Begriff der politisch-sozialen Sprache. Vor dem 18. Jahrhundert existierte in keiner europäischen Sprache ein Wort für den Sachverhalt, der heute gemeinhin als Öffentlichkeit bezeichnet wird. Das Wort wurde im politisch-sozialen Denken der Aufklärung "zu einem Begriff aufgewertet, der über theoretische Schriften, politische Programme und Gesetzesvorschriften diejenige soziale Wirklichkeit selbst mitgestaltete, die er bezeichnete. "2 Es soll also ein Begriff betrachtet werden, den es für den hier veranschlagten Untersuchungszeitraum - die zweite Hälfte des 17. Jahrhunderts - in der heutigen Bedeutung noch gar nicht gab. Das ist problematisch. Dennoch kann man das wagen, denn es kann "von einer Sache .. in den Quellen die Rede sein, wo das Wort fehlt, mit dem wir sie heute benennen."3 Umgekehrt kann der Begriff Öffentlichkeit vor der Aufklärung ganz andere Sachverhalte, bzw. dieselbe Sache in anderer Weise gefaßt haben, als das heute üblich ist. Bei der Bestimmung der Öffentlichkeit in der frühen Neuzeit ist eine Annäherung von zwei Seiten sinnvoll. Zunächst werden die etymologischen Wurzeln des Wortes und dessen \ Rainer Wohlfeil: "Reformatorische Öffentlichkeit". In: L. Grenzmann / K.Stackmann (Hgg.): Literatur und Laienbildung im Spätmittelalter und in der Reformationszeit. Symposion Wolfenbüttel 1981 (= Germanistische Symposien, Berichtsbände, Bd. 5). Stuttgart 1984, S. 41-52, hier S. 41. 2 Lucian Hölscher: Öffentlichkeit und Geheimnis. Eine begriffsgeschichtliche Untersuchung zur Entstehung der Öffentlichkeit in der frühen Neuzeit (= Sprache und Geschichte, Bd. 4). Stuttgart 1979 (im folgenden zitiert als Hölscher, Öffentlichkeit und Geheimnis), hier: S. 9. 3 Ebd. 2 Uaumanns

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B. Einführende Bemerkungen und Forschungsüberblick

Gebrauch in seinen verschiedenen Anwendungsgebieten in der frühen Neuzeit bestimmt. Dann wird betrachtet, ob, inwieweit und mit welchen Einschränkungen es im Untersuchungszeitraum das Phänomen gab, das wir heute als Öffentlichkeit oder öffentliche Meinung bezeichnen; es wird also eine qualitative Öffentlichkeit für den Untersuchungszeitraum definiert. Diese Sachbestimmung beschreibt bestimmte soziale und politische Strukturen als Kommunikationsstruktur im Untersuchungszeitraum. 1. Begriffsbestimmung

"Öffentlich" bildete sich bereits im Althochdeutschen aus "offen". Gegen "ofanlih", mittelhochdeutsch "offenlieh", setzte sich im 16. Jahrhundert im Oberdeutschen die Form "offentlieh" bzw. "öffentlich" durch. Der Zusammenhang des Wortes zur Bezeichnung von Herrschaft und sozialer Gemeinschaft, den das Wort im Laufe des 17 . Jahrhunderts erhielt, war nicht in der ursprüngliehen Bedeutung enthalten; öffentlich sein hieß: klar sein, offensichtlich, erkennbar zu Tage liegen. 4 Ein weiterer Traditionsstrang für den Begriff läßt sich bis in die mittelalterliche Rechtspraxis zurückverfolgen. Der Terminus "öffentliches Gericht" bezeichnete die öffentliche Form des Gerichts, die den Sinn hatte, eine gerechte Urteilsfindung zu sichern. Der Terminus hatte seine Wurzeln in der germanischen Rechtssprechung, die eine Gerichtsverhandlung unter offenem Himmel vorschrieb, und läßt sich seit 1285 belegen. 5 Nach den Strafrechtsreformen des 16. Jahrhunderts wurden die für die Blutgerichtsbarkeit zuständigen landesherrlichen Hochgerichte im Gegensatz zum lokalen Privat- oder Sondergericht öffentlich genannt. 6 Als öffentliche Verbrechen galten im 17. Jahrhundert die Delikte, die die öffentliche Sicherheit und das öffentliche Wohl bedrohten.1 Mit der Lehre vom Ius Publicum breitete sich mit Hermann Conring eine rechtshistorische Schule aus, die die deutsche Rechtstradition gegenüber der römischen hervorhob.8 Eine systematische Unterscheidung von "öffentlichem Recht" und Privatrecht nahm erst Kant in seiner "Metaphysik der Sitten" von 1797 vor. "Der neue Begriff 'öffentliches Recht', obwohl zunächst nur wörtliche Übersetzung von 'ius publicum', schloß dabei den Nebensinn ein, daß dieses Recht öffentlich nicht nur im Sinne von staatlich, sondern auch im Sinne der notwendi4 Lucian Hölscher: "Öffentlichkeit". In: O. Brunner I W. Conze I R. Koselleck (Hgg.): Geschichtliche Grundbegriffe, Bd. 4, 1979, S. 413-467 (im folgenden zitiert als Hölscher, Öffentlichkeit), hier: S. 414. 5 Ebd., S. 417. 6 Ebd., S. 419. 7 Ebd. 8 Zu Hermann Conring s.u. S. 86.

I. Öffentlichkeit und öffentliche Meinung in der frühen Neuzeit

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gen Publizität sei, die nach Kant jedes Gesetz brauchte, um mit Recht und Politik übereinzustimmen. "9 Seit dem Ausgang des 16. Jahrhunderts kündigte sich eine Präzisierung des Adjektivs öffentlich an, die sich auch auf den staatlichen Bereich ausdehnte. Bei Bodin waren personae publicae diejenigen, die sich im Gegensatz zu den personae privatae im zwischenstaatlichen Krieg formell gegenübertraten, also die souveränen Oberhäupter. 1O Thomas Hobbes benutzte das Attribut public im innerstaatlichen Bereich als Bezeichnung der höchsten Staatsgewalt. 11 "Publicus" taucht in der Verwaltungssprache des 17. Jahrhunderts im Zusammenhang mit der staatlichen Ordnung auf, in deren Zentrum der Fürst als Repräsentant der Landeshoheit stand. Gegen Ende des 17. Jahrhunderts wurden im Deutschen rechtssprachliche Äquivalente für das lateinische publicus gefunden: öffentliches Amt, öffentlicher Diener. 12 "Der Ausdruck 'öffentlich' trug also wie das lateinische 'publicus' zur Vereinheitlichung der Rechtsterminologie im Sinne einer grundsätzlichen Aufgliederung in eine öffentliche und eine private Rechtssphäre bei"13 und wurde im staatlichen Bereich gebräuchlich. Hölscher sieht eine Öffentlichkeit, die ihrem heutigen Verständnis - also Publizität - nahekommt, seit dem Ende des 17. Jahrhunderts sich entwickeln. Im 18. Jahrhundert war Öffentlichkeit eng an Bildung geknüpft, damit zugleich auch an Reichtum, der Bildung erst ermöglichte. Die gebildete Schicht innerhalb des Staatswesens begann, sich stärker in den Vordergrund zu schieben. Die Wurzeln der Öffentlichkeit liegen im Publikum. Zu öffentlichen Konzerten, die in Italien entstanden und zu denen jeder in der "London Gazette" eingeladen wurde, traf sich 1672 in London ein kaufmännisch-handwerkliches Publikum gegen Eintrittsgeld. 14 Gegen Ende des 17. Jahrhunderts begannen sich Adel und Bürgertum in Europa als gebildetes Publikum mit der Welt der Gelehrten zu verbinden. Es entstanden Gazetten und Rezensionsorgane, es entwickelte sich ein reflektierendes Bewußtsein für Mode und Geschmack. Hölscher konstatiert einen "Bedeutungswandel des Publikumsbegriffes vom Adressaten obrigkeitlicher Rechtsakte zur gebildeten bürgerlichen Gesellschaft", die sich aktiv und passiv geschmacksbildend am öffentlichen Austausch der Meinungen und Ansichten beteiligte. 15 Dieses Publikum bildete sich aus dem französischen "le public", das sich in Frankreich schon in der Mitte des 17. Jahrhunderts zum sozialen Schichtenbegriff entwickelt hatte und bereits in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts als Bezeichnung für das Theaterpublikum benutzt wurde. Die Hölscher, Öffentlichkeit, S. 429. Ebd., S. 422. 11 Ebd., S. 423. 12 Ebd., S. 425. 13 Ebd., S. 426. 14 Ebd., S. 432. 15 Ebd., S. 433.

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B. Einführende Bemerkungen und Forschungsüberblick

durch literarische Fehden und freie Zeitschriftenbeiträge geförderte Aktivierung des Publikums verhalf einem sich konstituierenden literarisch gebildeten Bürgertum zum Selbstverständnis "eines neuen Zusammenhangs jenseits der politischen Ordnung, den man gebildete WeIt nannte. Publikum und Öffentlichkeit traten in einen sich wechselseitig begründenden Zusammenhang."16 Seit der 2. Hälfte des 18. Jahrhunderts bezeichnete öffentlich nicht mehr nur den GeItungsbereich staatlicher Autorität, "sondern zugleich den geistigen und sozialen Raum, in dem diese sich legitimieren und kritisieren lassen muß."17 "Für das 19. Jahrhundert war damit der Weg gewiesen: das nun als 'mündig' postulierte bürgerliche Publikum drängte zur Teilhabe am öffentlichen Leben des Staates."18 Öffentlichkeit scheint erst nach 1750 aus dem Adjektiv öffentlich gebildet worden zu sein. Wurzeln des Begriffs der öffentlichen Meinung sind in der "Mahnung" als der klassischen Form autorisierter Bekanntmachung zu suchen, z.B. in den Türkenkalendern des 15. Jahrhunderts. Der Begriff Mahnung wurde verwendet, um durch die Verbreitung solcher Türkenkalender von päpstlicher Seite eine Öffentlichkeit für die spätmittelalterlichen Kreuzzugsaufrufe herzustellen. Im Laufe des 15. Jahrhunderts schwankte die Wortbedeutung für Mahnung jedoch. 19 Leibniz schrieb den verschiedenen Parteien im Staat, den "opinions de differens partis", zu, daß sie in unvermeidbarem Gegensatz zueinander stünden. 2o In England siegten 1688 die "Opinions", die moralischen und politischen Grundsätze des Bürgertums, über die Autorität des Königs. William Temple nannte sie in seinem "Essay upon the Original and Nature of Government" von 1680 "the true ground and foundation of all government" und begründete die Überlegenheit einer auf sie gegründeten Regierung gegenüber derjenigen, die sich nur auf ihre Hausmacht stützen konnte, mit dem Argument: "For Power arising from Strength, is always in those that are govemed, who are many: But Authority arising from opinion, is in those that Govem, who are few."21 John Locke bezeichnete in seinem "Essay Concerning Human Understanding" die "Law of Opinion", die allgemeine Meinung der Gesellschaft, als das strengste Kriterium moralischer Handlungen. 22 Bauer stellte sogar fest, 16 Ebd., S. 436. 17 Ebd., S. 438. 18 Ebd., S. 437. 19 Vgl. Michael Giesecke: Der Buchdruck in der frühen Neuzeit. Eine historische Fallstudie über die Durchsetzung neuer Informations- und Kommunikationstechnologien. Frankfurt 1991, hier: S. 259 und 747. 20 Hölscher, Öffentlichkeit, S. 448. 21 Zitiert nach ebd., S. 449; vgl. auch Wilhelm Bauer: Die öffentliche Meinung und ihre geschichtlichen Grundlagen. Tübingen 1914 (im folgenden zitiert als Bauer, Öffentliche Meinung), hier: S. 12f. 22 Hölscher, Öffentlichkeit, S. 449.

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daß im Laufe des 17. Jahrhunderts, ausgehend von England, "bald bewundernd, bald abwehrend die Herrschaft der 'Meinung' gepredigt" wurde. 23 Unmittelbar vor der Französischen Revolution gewann die "opinion publique" eine wichtige politische Bedeutung. Vor ihr hatte sich die königliche Politik zu verantworten. "Öffentliche Meinung" diente in Deutschland als Übersetzung für "opinion publique" und war untrennbar mit der Rezeption der Französischen Revolution und deren politischem und sozialem Milieu verbunden. 24 Während der Befreiungskriege konnte der Begriff mit dem politischen Programm des liberalen Bürgertums in Verbindung gebracht werden und wurde damit zu einem zentralen Begriff der politisch-sozialen Sprache. 25 2. Öffentlichkeit in der frühen Neuzeit eine Forschungskontroverse

Folgt man der Begriffsbestimmung von Öffentlichkeit und öffentlicher Meinung, so stellt sich als bestimmendes Merkmal das sich wandelnde Verhältnis der Untertanen zur staatlichen Obrigkeit heraus. Öffentliche Meinung und Öffentlichkeit entstand in dem Moment, als sich Obrigkeit und Untertanen schaft auseinanderzuentwickeln begannen. Diese Entwicklung beginnt beim Übergang von Staaten absolutistischer Prägung zu den Staatsgebilden der Aufklärung. Im Hintergrund entsprechender Forschungen steht Habermas' Unterscheidung von Öffentlichkeit in repräsentative und bürgerliche Öffentlichkeit und die Entwicklung des Bürgerlichen als ein konstituierendes Element des Staates. 26 Bürgerliche Öffentlichkeit entfaltete sich nach Habermas unter dem Vorzeichen des beginnenden Dualismus zwischen Gesellschaft und Staat als Widerspruch zur repräsentativen Öffentlichkeit, womit die Öffentlichkeit der politischen Führungsschicht des mittelalterlichen und absolutistischen Staates gemeint ist. "Repräsentativ" bezieht sich dabei nicht auf einen sozialen Bereich, sondern wird als Statusmerkmal verwendet. Die Repräsentation des Herrschers geschah nicht für das Volk, sondern als Aufführung vor dem Volk. 27 Die weitere Umgebung des Herrschers war von ihr ausgeschlossen und konnte nur 23 Bauer, Öffentliche Meinung, S. 10. 24 Lucian Hölscher: Die Wahrheit der öffentlichen Meinung. In: J. Schwartländer und D. Willoweit (Hgg.): Meinungsfreiheit - Grundgedanken und Geschichte in Europa und USA (= Tübinger Universitätsschriften, Bd. 6). Kehl/Straßburg 1986, S.51 - 62 (im folgenden zit. als Hölscher, Wahrheit), hier: S. 51. Dieser Essay ist auch für die philosophischen Hintergründe des Begriffes öffentliche Meinung seit der Antike ergiebig. 25 Hölscher, Öffentlichkeit, S. 450. 26 Jürgen Habermas: Strukturwandel der Öffentlichkeit. Untersuchungen zu einer Kategorie der bürgerlichen Gesellschaft (= Politica, Bd. 4). Neuwied 11962. Im fol~enden zitiert nach der Neuauflage von 1990, Frankfurt 21991. 7 Ebd., S. 61.

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passiv zuschauen. Maßgebliches Beispiel dafür war das spanisch-burgundische Hofzeremoniell der Habsburger, das im Hof des Barock fortlebte. Der Hof des Barock - so Habermas - büßte Öffentlichkeit ein. Turnier und Tanz als beispielhafte Formen der Repräsentation zogen sich in die barocken Schloßparks zurück und schlossen die Öffentlichkeit vollends aus. Habermas konstruiert damit eine starre Trennung zwischen der repräsentierenden Obrigkeit und dem Volk im Staat des Barockzeitalters. 28 Folgt man Habermas, so herrschte im Zeitalter des frühneuzeitlichen Fürstenstaates eine Art kommunikationslose Gesellschaft. Habermas' bürgerliche Öffentlichkeit identifiziert sich in erster Linie mit einer literarisch bestimmten Öffentlichkeit. Bürgerliche Öffentlichkeit ist bei Habermas einerseits definiert durch das Prinzip des allgemeinen Zugangs der Untertanen zum obrigkeitlichen Bereich des Staates durch Anschauung und Kritik, andererseits durch die Artikulation eines politisch emanzipatorischen Bewußtseins; sie bedeutet Anspruch des gebildeten und besitzenden Bürgers auf Teilhabe am öffentlichen, d.h. staatlichen Leben. 29 Von großer Wichtigkeit für diese Definition ist die Form der Artikulation der öffentlichen Meinung. Öffentliche Meinung und Öffentlichkeit sind nach diesem Ansatz eng an Schriftlichkeit gebunden, genauer: an typographische Schriftlichkeit. Erst die Erfindung des Drucks ermöglichte die Verbreitung von Meinungen auf breiter Basis. Die Rezeption von Gedanken durch eine Vielzahl von Menschen erlaubte die Konstituierung einer öffentlichen Meinung. Brachte der Buchdruck zunächst nur die Erstellung von religiösen und gelehrten Schriften mit sich, drangen die neuen Möglichkeiten des Druckes schon bald in den politischen Bereich ein und verschafften Meinungen durch verschiedene Gattungen typographischer Erzeugnisse Gehör: Bücher, Flugblätter, Flugschriften und seit Beginn des 17. Jahrhunderts auch Zeitungen und Zeitschriften. Betrachtet man Autoren und vor allem die Konsumenten dieser typographischen Erzeugnisse genauer, wird deutlich, wer am Diskurs zwischen Staat und Untertanen beteiligt war, was also Öffentlichkeit in der frühen Neuzeit war. Vor diesem Hintergrund muß man Habermas' umstrittene Definition frühneuzeitlicher Öffentlichkeit, mit der sich alle Historiker auseinandergesetzt haben, die sich mit dem absolutistischen und dem aufgeklärten Staat, mit Buchdruck, Propaganda, Zeitungswesen, Rezeptionsgeschichte und Leserschaftsforschung verschiedener Zeiträume der frühen Neuzeit beschäftigten, in Frage stellen. In seiner Untersuchung über Pressefreiheit und politische Öffentlichkeit stellt Schneider in enger Anlehnung an Habermas klar, daß politische Öffentlichkeit immer bürgerliche politische Öffentlichkeit meint. Eine andere als diese, deren Kennzeichen ein vom Bürgertum erzeugter Kommunikationsbereich sei, gebe es

28 29

Ebd., S. 64. Ebd., S. 79-83.

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nicht; öffentliche Meinung sei ein "Synkretismus von Einzelstimmen" dieses Kommunikationsbereiches. 30 Vocelka lehnt sich in seiner Habilitationsschrift zur Propaganda am Hof Rudolfs 11. im wesentlichen an Habermas' Definition von Öffentlichkeit an, variiert allerdings dessen Öffentlichkeitsbegriff. Für seinen Untersuchungsgegenstand will Vocelka nicht den Begriff der repräsentativen oder bürgerlichen Öffentlichkeit angewendet sehen; er konstruiert statt dessen den Begriff der "qualitativ repräsentativen Meinung".31 Vocelka schließt sich Habermas auch darin an, daß Öffentlichkeit im Zeitalter des absolutistischen Staates eingebüßt wurde. 32 Die Reichsstände seien "auch von kaiserlicher Seite als (wesentliche) Öffentlichkeit betrachtet" worden;33 die Versammlung der Stände auf dem Reichstag sei - nach Habermas'scher Terminologie - eine Versammlung der repräsentativen Öffentlichkeit gewesen. 34 Abschließend stellt Vocelka fest: Adressat der politischen Propaganda absolutistischer Fürsten sei "jene(r) Kreis von Menschen (gewesen, M.B.), dem eine herrschaftsstützende Funktion zukommt. "35 Ferner betont er, daß nur dann der gemeine Mann unmittelbares Ziel der Propaganda wurde, wenn die Mittlerfunktion der Stände, wie im Fall der Bauemkriege 159617, wegfieP6 Auch der Kommunikationswissenschaftler Duchkowitsch stellt fest, daß sich Öffentlichkeit als funktionaler Antipode zur Feudalherrschaft nur sehr zaghaft und mit dem Einsatz der periodischen Presse zu konstituieren begann. Er begründet seine Ansicht von einer zu Beginn der frühen Presse faktisch nicht vorhandenen Öffentlichkeit damit, daß die Träger der absolutistischen Herrschaft kein Interesse daran hatten, sich von einer breiten Öffentlichkeit in die Karten schauen zu lassen. Durch effiziente Informationskontrollen wie Zensur und Privilegien floß daher nur ein Bruchteil des tatsächlich vorhandenen Nachrichtenstroms in die frühe Presse ein. 37 Duchkowitsch erklärt damit implizit den von der Obrigkeit gesteuerten Informationsgrad einer wie auch immer gearteten Öffentlichkeit zu ihrem konstituierenden Merkmal. 30 Franz Schneider: Pressefreiheit und politische Öffentlichkeit. Studien zur politischen Geschichte Deutschlands bis 1848 (= Politica, Bd. 24). NeuwiedJBonn 1966, bes. S. Ilf. 31 Karl Vocelka: Die politische Propaganda Rudolfs 11. (1576-1612) (=Österreichische Akademie der Wissenschaften. Veröffentlichungen der Kommission für die Geschichte Österreichs, Bd. 9). Wien 1981, hier: S. 20. 32 Ebd., S. 17. 33 Ebd., S. 88. 34 Ebd., S. 89. 35 Ebd., S. 331. 36 Ebd. 37 Wolfgang Duchkowitsch: Absolutismus und Zeitung. Die Strategie der absolutistischen Kommunikationspolitik und ihre Wirkung auf die Wiener Zeitungen 1621-1757. Diss. Wien 1978, hier: S. 108.

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Fazit der für das Zeitungswesen der frühen Neuzeit so verdienstvollen Untersuchungen Blühms ist in diesem Zusammenhang die Feststellung, daß Zeitungen in erster Linie am absolutistischen Hof rezipiert wurden. Blühm stellt die frühen Zeitungen als eine Art Informationsbörse für Landesherren und ihre Räte dar, aus denen sie Informationen bezogen, die sie in ihrem politischen Handeln zu berücksichtigen hatten. Sie gaben Informationen nur kontrolliert heraus und waren um publikumswirksame Darstellung bemüht; Publikum sind hierbei die anderen Höfe, die Zeitungen bezogen. 38 An anderer Stelle erweitert Blühm den Rezipientenkreis von Zeitungen etwas, schließt aber breite Schichten in der GeseIlschaftsstruktur des Absolutismus als Rezipienten ausdrücklich aus. Adressaten seien zunächst Höfe, Adel, Klerus, Klöster, Gelehrte und das am Hof dienende Patriziat, im Laufe des 17. Jahrhunderts aber zunehmend mehr auch außerhöfisches und nicht-akademisches Publikum gewesen: Kaufleute in den Städten, Studenten und gebildetes Bürgertum. Für den gemeinen Mann seien Zeitungen keine Alltags- und Feiertagslektüre gewesen, wie etwa religiöse Gesangbücher und Kalender. Ein Hemmnis für eine direkte und umfassende Rezeption der periodischen Blätter durch die Masse der Mittel- und Unterschichten seien neben den Kosten auch die Sprache der Blätter, die genauso wenig die des Volkes war wie die periodische Zeitung einer Volkesstimme Ausdruck gab. Der gemeine Mann wurde nach Blühm z.B. in den Meßrelationen angesprochen. 39 3. Periodika und Zeitungswesen in der frühen Neuzeit

"Zeitung" bezeichnete ursprünglich nicht das heute bekannte Printmedium, sondern "alle Formen gesprochener, geschriebener und gedruckter Nachrichten" (Blühm).40 Die Verbreitung solcher "Zeittungen" hing eng mit der Einrichtung des Postwesens zusammen und fand im stark gegliederten Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts seine in Europa früheste Ausprägung. Innerhalb dieser Informationsstruktur sammelten, übermittelten und werteten Postmeister Nachrichten aus und machten sie durch Aushänge an Poststationen bekannt. Postwesen und Postmeister waren wirt38 Elger Blühm: Deutscher Fürstenstaat und Presse im 17. Jahrhundert. In: Daphnis, Bd. 11, 1982, S. 287-313 (im folgenden zitiert als Blühm, Deutscher Fürstenstaat), hier: S. 297. 39 Elger Blühm: Die ältesten Zeitungen und das Volk. In: W. Brückner I P. Blickle I D. Breuer (Hgg.): Literatur und Volk im 17. Jahrhundert. Probleme populärer Kultur in Deutschland (= Wolfenbütteler Arbeiten zur Barockforschung, Bd. 13). 2 Bde. Wiesbaden 1985, Bd. 2, S. 741-752 (im folgenden zitiert als Blühm, Älteste Zeitungen), hier: S. 745f. Zu den Meßrelationen vgl. Jörg Jochen Berns: "Parteylichkeit" und Zeitungswesen. Eine medienpolitische Diskussion an der Wende vom 17. zum 18. Jahrhundert. In: W. F. Haug (Hg.): Massen I Medien I Politik (= Argument-Sonderband 10). Karlsruhe 1976, S. 202-233 (im folgenden zitiert als Berns, Parteylichkeit), hier: S. 203. 40 Blühm, Älteste Zeitungen, S. 742.

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schaftlich eng mit der Obrigkeit, dem Kaisertum, verbunden, das sich des Informationsflusses bediente und ihn durch die wirtschaftliche Abhängigkeit der Post nach Belieben steuern konnte. Mit dem Aufkommen der periodischen und gedruckten Presse wandelte sich die Stellung des Postmeisters vom Nachrichtensammler und -übermittier zum Verleger der Nachrichten. Die ersten Postzeitungen, die beispielsweise "Ordinari- und Extraordinarizeitungen" hießen, entstanden, indem die Postleute Nachrichten sammelten, auswerteten und druckten. 41 Mit der bald erfolgten Umstellung der Zeitungen auf tägliches Erscheinen konnten sich die Postmeister, die ihre Zeitungen in Nebentätigkeit herausgaben, gegen das mittlerweile florierende, erwerbsmäßig arbeitende Zeitungsverlagswesen, das nach dem Prinzip des freien Marktes, nach Angebot und Nachfrage arbeitete, nicht mehr behaupten. Andere Wurzeln des Nachrichten-Periodikums stellten Flugblätter, die sich auf aktuelle Neuigkeiten bezogen, die sogenannte "Neue Zeittungen" und die bereits erwähnten Meßrelationen dar. Die "Relationes Semestrales" erschienen halbjährlich im Quartformat in bis zu 100 Seiten Stärke anläßlich der Frühjahrs- und Herbstmessen in Frankfurt und Leipzig. Eine der ersten nachweisbaren Meßrelationen wurde 1588 von dem österreichischen Gelehrten Michael von Aitzing in Köln herausgegeben. 42 Neben den auf die Messen bezogenen Buchanzeigen wurden auch Nachrichten veröffentlicht. Quellen waren Flugblätter, Einblattdrucke, "Neue Zeittungen",43 handschriftliche A visen, Kaufmannsbriefe und mündliche Informationen. Zu den Messen selber wurden in den "Relationes" Angebote, Verkehrsmöglichkeiten und sonstige Vorkommnisse veröffentlicht. Die ältesten Nachrichtenwochenblätter waren die "Relation" des Straßburger Verlegers Johann Carolus und der "Aviso" des Wolfenbüttelers Julius Adolph von Söhne. 44 In der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts wurden in über 30 Städten deutschsprachige, periodisch erscheinende Nachrichtenblätter gedruckt, die eine Auflagenstärke zwischen 300 und 500 Exemplaren und eine Leserschaft von acht bis zwölf Lesern pro Exemplar erreichten. Von 1609 bis 1700 lassen sich 162 deutsche Zeitungsunternehmen in mehr als 70 Städten nachweisen, die wöchentlich, halbwöchentlich und seit 1660 auch täglich erschienen. 45 41 Vgl. dazu, sowie allgemein zur engen Verbindung von Post, Nachrichtenübermittlung und gedruckter Zeitung: Martin Dallmeier: Die Funktion der Reichspost für den Hof und die Öffentlichkeit. In: Daphnis, Bd. 11, 1982, S. 399-431. 42 Dazu Erika Mozelt: Die gedruckten Vorläufer der modernen Zeitung. Diss. Wien 1956, hier: S. 10. 43 Zu den "Neuen Zeittungen" vgl. ebd., S. 39. 44 Zu den ersten deutschen Zeitungen vgl. das Standardwerk: Elger Blühm und Else Bogel (Hgg.): Die deutschen Zeitungen des 17. Jahrhunderts (= Studien zur Publizistik, Bd. 17 der Bremer Reihe). 2 Bde. Bremen 1971. 45 Die ältere Literatur zur Geschichte des Zeitungswesens bei Welke, Rußland. Für das erst durch die Forschungen Blühms gewonnene Zahlenmaterial vgl. Blühm, Älteste Zeitungen, S. 743ff.; vgl. auch Margot Lindemann: Geschichte der deutschen Presse (= Abhandlungen und Materialien zur Publizistik, Bd. 5). 2 Bde. Berlin 1969.

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B. Einführende Bemerkungen und Forschungsüberblick

Die Zeitungsschreiber sahen sich im Gegensatz zu den tendenziösen Flugblatt- und Streitschriftenverfassern als neutrale Chronisten. Trotzdem kam den Zeitungen als Plattform der Weitergabe von Informationen politische Bedeutung zu. Informationen konnten auch damals schon nicht wertfrei bleiben. Allein durch die Auswahl der Meldungen wurden Wertungen ausgegeben. Das neue Medium wurde auch von amtlichen Stellen genutzt, die auf diesem Weg offizielle Bekanntmachungen verbreiten ließen. Das Deutsche Reich nahm auf dem Sektor der periodischen Presse von Anbeginn an eine führende Stellung ein. In den anderen Ländern Europas erschienen periodische Zeitungen mit einer gewissen Verzögerung: in den spanischen Niederlanden und Holland seit 1620,46 in England seit 1621, in der Schweiz seit 1622, in Frankreich seit 1631,47 in Italien seit 1643, in schwedischer Sprache 1645, in Spanien und Portugal seit 1661 und in dänischer Sprache seit 1672. 48 Neben Zeitungen erschienen auch schon bald regelmäßig Zeitschriften. Dabei handelte es sich um in größeren Abständen herauskommende wissenschaftliche Rezensionsorgane, Gelehrtenzeitschriften, kommentierende und unterhaltende Blätter. 49 Neben Zeitungen und Zeitschriften entstanden seit Beginn der 2. Hälfte des 17. Jahrhunderts besonders im Deutschen Reich und in Holland auch andere, umfangreichere, politisch orientierte Periodika: Chroniken und Annalen. So er-

ND: Berlin 1988, hier: Bd. 1, S. 40; zusammenfassend neuerdings: Rainhard Wittmann: Geschichte des deutschen Buchhandels. Ein Überblick. Stuttgart 1991, S.109. 46Vgl. zu einzelnen Blättern: Eugene Hatin: Les Gazettes de Hollande et la Presse Clandestine. Paris 1865 (im folgenden zitiert als Hatin, Les Gazettes), hier: S.139ff. 47 Das erste französische Periodikum war die von Richelieu initiierte und von Theophraste Renaudot herausgegebene Wochenzeitung "Gazette". Zur weiteren Literatur: Joseph Klaits: Printed Press under Louis XIV. Absolute Monarchy and Public Opinion. Princeton 1976, hier: S. 7f.; Eugene Hatin: Histoire Politique et Litteraire de la Presse en France. 8 Bde. Paris 1859-1861 (im folgenden zitiert als Hatin, Histoire), hier: Bd. 1, 1859, S. 63-169; Roger Chartier: Pamphlets et Gazettes. In: Ders. und HJ. Martin (Hgg.): Histoire de l'edition Fran~aise. 4 Bde. Paris 1982-1986, hier: Bd. 2, S. 405-425 (im folgenden zitiert als Chartier, Pamphlets). 48 Berns, Parteylichkeit, S. 203f. 49 Zu den Anfängen des Zeitschriftenwesens vgl. die Forschungen von Joachim Kirchner: Das deutsche Zeitschriftenwesen, seine Geschichte und seine Probleme. Teil 1: von den Anfängen bis zum Zeitalter der Romantik. Wiesbaden 21958; Ders.: Geschichte der Zeitschrift: Von den Anfängen bis 1900. In: Ders.: Gesammelte Aufsätze. Stuttgart 1970, S. 124-152; Ders.: Zur Entstehungs- und Redaktionsgeschichte der Acta Eruditorum. In: Ders.: Gesammelte Aufsätze. Stuttgart 1970, S. 153-172; vgl. ferner Schneider, S. 79ff.

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schien in Holland zunächst der "Hollandsche Mercurius",5o Aitzemas "Historie of Verhae1 van Saken van Staet en Oorlogh" im Haag in den Jahren 1655 bis 1671 51 und Peter Valckeniers "Das verwirrte Europa", zunächst 1675 in Holland, dann 1677 auch weit verbreitet in deutscher Sprache. Von VaIckeniers Werk, in das auch Flugschriften Lisolas Eingang fanden, erschienen bis 1683 insgesamt drei Bände, wovon die letzten bei den Bände durch seinen Sekretär herausgegeben wurden. Valckenier, gebürtig aus Emmerich, ursprünglich Advokat in Amsterdam, übernahm später mehrere Gesandtschaften für die Generalstaaten bei den Kurfürsten am Rhein, in der Schweiz und in Frankfurt am Main. 52 Berichtet werden in dieser tendenziösen Chronik Ereignisse unter Zuhilfenahme verschiedener offizieller Dokumente, offener Briefe und Flugschriften. Wie aus dem Titel des zweiten Bandes deutlich hervorgeht, ist das Werk ganz im Geist der seit dem Ende der 60er Jahre in Holland gedruckten und verlegten politischen Schriften gegen die sich abzeichnenden französischen Expansionsbestrebungen geschrieben. Im Deutschen Reich erreichten aufwendige und in der Gesamtanlage sich über mehrere Jahrzehnte erstreckende Periodika wie das "Theatrum Europaeum" oder das "Diarium Europaeum" enorme Verbreitung. Das Theatrum Europaeum ist ein bislang wenig beachtetes Periodikum für die Jahre 1618 bis 1718, das in die chronologische Schilderung von politischen Ereignissen Dokumente offizieller 50Vgl. dazu Vticlav Cihak: Les Provinces-Unies et la Cour Imperiale 1667-1672. Quelques Aspects de leurs Relations Diplomatiques. Amsterdam 1974. Cihak schätzt Wirkungsgrad und Informationsgehalt des "Mercurius" recht hoch ein: "Le Mercure repn!sente en quelque sorte l'echo populaire des sujets qui preoccupaient les Etats Generaux. ", ebd. S. 23; Bela Köpeczi: Staatsräson und christliche Solidarität. Die ungarischen Aufstände und Europa in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts. Wien/Köln/Graz 1983, hier: S. 3Off. und 74. 51 Dazu: Ebd., S. 23, und weitere Literatur S. 184. 52 Zu Valckenier vgl. Johann Heinrich Zedler: Grosses vollständiges UniversalLexikon. 64 Bde. und 4 Erg.bde. Leipzig und Halle 1732 - 1754. ND: Graz 1961, Bd. 64, Spp. 157f; ferner Friedrich Meinecke: Petrus Valckeniers Lehre von den Interessen der Staaten (1928). In: Ders.: Werke. 9 Bde., München/Stuttgart 19571979, hier: Bd. 9: E. Kessel (Hg.): Brandenburg - Preußen - Deutschland, S. 162-173 (im folgenden zitiert als Meinecke, Valckenier). Valckeniers genaue Lebensdaten sind umstritten. Der gen aue deutsche Titel des Bandes: Petrus Valckenier: "Das verwirrte Europa oder Politische und Historische Beschreibung der in Europa fürnehmlich in dem Vereinigten Niederlanden I und in dessen Nachbarschafft I seither dem Jahre 1664 entstandenen ... ". Amsterdam 1677. Der zweite Band erschien 1680: Andreas Mullern: "Des verwirreten Europae Continuation oder wahre Historische Beschreibung derer in der Christenheit fürnehmlich aber in dem Vereinigtem Niederlande I Teutschland I und hernach in den angränzenden Reichen Fürstenthümern und Herschafften I zeither dem Jahre 1673, biß auff das Jahr 1676 durch die Waffen des Königes in Frankreich erregter blutiger Kriege I leidigen Empörung und Verwüstung" (im folgenden zitiert als Mullern, Bd. 2). 1683 brachte Mullern den dritten und letzten Band der Chronik für die Jahre 1676 bis 1682 heraus.

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und inoffiziellerer Art einfügte. Quellen sind Flugschriften, historische und zeitgenössische Berichte, offene und abgefangene Briefe, Manifeste, Verträge, staatliche Resolutionen, Dekrete, Erlässe, Schiffsnachrichten aus den Kolonien über fremde und neuentdeckte Länder u.a.m. Grundlage für die chronologische Schilderung von Ereignissen bilden die "Zeittungen".53 In der Verflechtung von chronologischer Darstellung und Abdruck der beschriebenen Textbausteine unterscheidet sich das Theatrum Europaeum im Aufbau von der jährlich erscheinenden Chronik Diarium Europaeum, in dem Chronik und Appendix getrennt voneinander sind. 54 Diese Periodika erreichten in Holland und Deutschland eine große Verbreitung. 55 Eine allzu breite Leserschaft dürften sie dennoch nicht gefunden haben. Diese aufwendigen und teuren Bände waren wohl nur in Hof-, Universitäts- und Stadtbibliotheken größerer Städte anzutreffen. Im stärker zentralistisch kontrollierten Frankreich erschienen in diesem Zeitraum vornehmlich literarisch ausgerichtete, staatlich gelenkte und geförderte Periodica, wie der "Mercure galant" seit 1672 und die "Gazette de France" ab 1675, die eine Fortsetzung von Renaudots "Gazette" darstellte. 56

53 Für den hier relevanten Zeitraum interessant der 11. Band mit dem Titel: "Theatri Europaei eilffter Theil oder außführlich fortgeführte Friedens- und KriegsBeschreibung 1 und was mehr von denkwürdigsten Geschichten in Europa 1 ... 1 zu Wasser und zu Lande 1 vom 1672ten Jahr biß ins 1679ste vorgegangen 1 und sich begeben haben ... ", Frankfurt 1682, hrsg. von Wolffgang Jacob Geiger. Unter verschiedenen Autoren und in teilweise drei oder zwei Auflagen erschienen insgesamt 21 Bände im Verlag Matthäus Merian; der 1. Band für die Jahre 1618 bis 1628 im Jahre 1635 (weitere Auflagen 1643 und 1662) noch unter dem Titel "Historische Chronik" und "Bücher auf das öffentliche Theatrum der Welt", der 21. Band für die Jahre 1716 bis 1718 im Jahr 1738; vgl. dazu: Zedler, Bd. 43, Spp.468ff., und Hermann Bingel: Das Theatrum Europaeum. Ein Beitrag zur Publizistik des 17. und 18. Jahrhunderts, Lübeck 1909, ND: Wiesbaden 1969. 54 "Diarium Europaeum insertis variis Actis Publicis oder Taeglicher GeschichtsErzählungen .. Theil 1 worinnen enthalten Theils was in dem Heil. Röm. Reich 1 theils auch in andern demselbigen angraenzenden und weit entlegenen Koenigreichen 1 Herrschaften und Landen 1 in ganz Europa 1... 1 Wobey abermals ein absonderlicher APPENDIX oder ANHANG Unterschiedlicher leßwuerdiger Schrifften und Acten I... 1 Franckfurt am Mayn 1 In Verlegung Wilhelm Serlins 1 Buchhändlers daselbst". Im Gegensatz zu Londorps Sammlung offiziöser Dokumente: Michael Caspar Londorp (Hg.): "Der Römischen kayserlichen Majestät und des Heiligen Römischen Reichs Geist- und Weltlicher Reichsstände I... 1 acta publica und schrifftliche Handlungen ... ", 18 Bde., Frankfurt am Main 1668 - 1721; finden im Diarium Europaeum verstärkt tendenziöse Druckwerke Platz. Für die hier relevante Zeit vgl. die Bände 28-31, die sich aus einer Sammlung von parteiischen Flugschriften und Manifesten zusammensetzen. Die chronologische Darstellung für die Jahre 1671 bis 1674 wird hier unterbrochen und in einem späteren Band in kn~per Form nachgeholt. 5 Zur Auflagenstärke dieser Periodika vgl. Welke, Rußland, S. 157ff.

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Aus der neueren Refonnationsforschung, die sich auch mit dem Entstehen der verschiedenen Fonnen von neuen Druckmedien wie Flugschriften und Flugblätter beschäftigte, geht hervor, daß mit der Erfindung des Buchdrucks eine breitere Untertanenschaft zur potentiellen Öffentlichkeit wurde. Die genauere Betrachtung der Rezipientenschaft des Zeitungswesens kann dann Aufschluß über die politische Öffentlichkeit des hier interessierenden Zeitrahmens geben. 57 Giesecke wehrt sich in seinem anregenden Werk über die Anfänge des Buchwesens gegen die Einschätzung Boockmanns und anderer, die einer breiten politischen Öffentlichkeit vor der Mitte des 18. Jahrhunderts jede Existenzberechtigung mit dem Argument absprechen, Auflagenhöhe und Preise von Drucken hätten ihre Rezeption durch eine breite Öffentlichkeit nicht zugelassen.58 Giesecke äußert Zweifel an der Methode, geschätzte Zahlen über Preise und Auflagenhöhe in ein Verhältnis von Kaufkraft, Bildungsstand und Einkommen zu setzen, um schließlich festzustellen, politische und konfessionelle Flugschriften hätten die breite Masse nicht erreicht. Er fordert dazu auf, den in der zeitgenössischen Flugschriftenliteratur immer wieder auftauchenden Topos, der gemeine Mann sei der Adressat für viele Schriften der Refonnationszeit gewesen, ernstzunehmen. Welchen Sinn hätte eine solch eindeutige Wendung sonst haben können? "Hier dreht es sich ja nicht um die Intentionen einzelner Autoren, sondern um eine Erwartung, die die Gesellschaft akzeptiert hat und die diese Zeit, Geld und Arbeit gekostet hat. "59 Giesecke beklagt die in der Forschung zu strenge Trennung zwischen oralen, skriptographischen und typographischen Infonnationssystemen. Diese Unterscheidung - mag sie methodisch

56 Dazu: Hatin, Les Gazettes, S. 16 und 226, und Andre Corvisier: La France de Louis XIV. 1643-1715. Ordre interieure et place en Europe. Paris 1979, hier: S.280ff. 57 Die französische Forschung über Zeitungswesen und Leserschaftsforschung muß hier ausgeschlossen bleiben. Sie kommt für Frlfnkreich zu etwas anderen Ergebnissen als die deutsche Forschung zum Deutschen Reich, was mit der Struktur Frankreichs als zentralistisch organisiertes Staatswesen im Untersuchungszeitraum zusammenhängt. Das föderalistisch strukturierte Deutsche Reich und die republikanisch verfaßten Generalstaaten kennzeichneten differenziertere Kommunikationsstrukturen. Zusammenfassend zur französischen Forschung: Chartier, Pamphlets, S.425. 58 Giesecke, S. 284f. Für Boockmanns Einschätzung der Sachlage repräsentativ ist dessen Diskussionsbeitrag zum Thema "Reformatorische Öffentlichkeit": Er bescheinigt Wohlfeils "reformatorischer Öffentlichkeit" als Ausnahmezustand für die reformatorischen Wirren im 16. Jahrhundert eine vorübergehende Existenzberechtigung, bevor dann allerdings wieder die starre Kommunikationsstruktur einer "ständischen" und "obrigkeitlichen" Öffentlichkeit in den Vordergrund träten; vgl. Wohlfeil, S. 54. 59 Giesecke, S. 287.

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B. Einführende Bemerkungen und Forschungsüberblick

auch von Nutzen sein - verzerrt jedoch die Suche nach der "politischen Öffentlichkeit". Die erwähnten Systeme arbeiteten Hand in Hand. Es wurde gelesen, gehört, diskutiert. Dieser Kommunikationsvorgang in Gänze machte erst die, dann allerdings heute schwer zu erfassende, politische Öffentlichkeit aus. 60 Mit der Erfindung des Buchdrucks wurde dieser Kommunikationsprozeß erheblich beschleunigt und erreichte vorher nicht gekannte Dimensionen. Nach seiner empirischen Untersuchung stellt Giesecke provokativ fest: "Zum Normalfall des Empfängers typographischer Informationen wird der 'gemain man' oder 'yederman', wie man sich im deutschen Sprachraum in der frühen Neuzeit ausdrückte. Wenn das Publikum der Frühdrucke tatsächlich nur aus auf Lateinschulen ausgebildeten Klerikern, Adeligen, Großkaufleuten und Universitätsangehörigen (i.w.S.) bestanden hätte, dann wäre weder die Bildung der neuen Ideale über die Rezipienten, noch die gegenwärtige Diskussion über die Alphabetisierungsrate in jener Zeit notwendig geworden. Die klassischen Schichtbezeichnungen reichen aber eben nicht mehr aus, um der Komplexität der Empfänger gerecht zu werden, von denen die Sender, die Autoren und Drucker bei ihrem Handeln und Erleben ausgingen. "61 Gieseckes Bewertung geht insofern über Wohlfeils Einschätzung hinaus, als dieser ähnliches nur für den Ausschnitt der Reformationswirren konstatiert, jener aber für die Ausprägung einer breiten Öffentlichkeit einen abrupten Beginn mit den Anfängen des Buchdrucks zu sehen glaubt, der sich dann mit potenzierter Geschwindigkeit zur Kommunikationssituation unserer Tage weiterentwickelt hat. 62 Wohlfeil wehrt sich in seiner sehr differenzierten Beurteilung des Phänomens Öffentlichkeit in der deutschen Reformation gegen ihre nahtlose Einordnung in den von Habermas u.a. postulierten Entwicklungsprozeß hin zu einer bürgerlichen Gesellschaft. Er legt ein spezifisch auf die Reformationswirren Anfang des 16. Jahrhunderts ausgerichtetes Kommunikationsmodell vor und weist ihm eine Sonderrolle in Form einer Unterbrechung der ansonsten bis zur Emanzipation der bürgerlichen Gesellschaft im 18. Jahrhundert starren und sich nur allmählich weiterentwickelnden Kommunikationsstruktur zu. Habermas Kategorien seien zu pauschal und lassen sich nach Wohlfeil nicht an eine bestimmte historische Epoche, besonders nicht an die der Reformationszeit anlegen: "Tagesschrifttum und Druckerzeugnisse jedweder Art entfalteten zwar eine bedeutende Wirksamkeit, charakterisierten aber nicht das Wesen der 'konkreten' städtebürgerlichen Kommunikationssituation. Sie war von Mündlichkeit - 'face to face' - bestimmt, und das bis ins 19. Jahrhundert. Damit war eine Bedingung nicht gege60 Ebd., S. 288 und 413. Daß Giesecke diesen Zusammenhang zwischen gedruckter Schriftlichkeit und mündlicher Weitergabe ausdrücklich sieht, verkennt Neddermeyer in seiner Rezension des Buches Gieseckes: Uwe Neddermeyer: Wann begann das "Buchzeitalter"? In: ZHF, Bd. 20, 1993, S. 205-216, hier: S. 209. 61 Ebd., S. 404. 62 Giesecke berücksichtigt Wohlfeils Überlegungen mit keinem Wort.

I. Öffentlichkeit und öffentliche Meinung in der frühen Neuzeit

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ben, die für eine Anwendung des Modells von Habennas unabdingbar ist - eine literarisch bestimmte Öffentlichkeit, also eine vom 'Wesen' her überregionale und damit 'abstrakte' Kommunikation. "63 Zur Unterfütterung dieser Aussage weist Wohlfeil auf die Bedeutung der Predigt, auf das Lesen nicht nur in persönlicher Lektüre, sondern auch als Lesung, auf die Verbindung von Bild und Text in Flugblättern, auf Fastnachtsspiele und Dramen als volkssprachliche Kommunikationselemente der Refonnationszeit hin. 64 Diese Fonnen regionaler Öffentlichkeit verbänden sich mit Fonnen "obrigkeitlicher Öffentlichkeit", und ähnlich wie Giesecke - erst diese "Partitur" (Scribner) von Sprechen, Hören, Schauen, Lesen, Diskussion und Aktion konstituiere das Phänomen "refonnatorische Öffentlichkeit".65 Damit stimmt Wohlfeil mit den Erträgen der neueren Refonnationsforschung überein, die zwar ergaben, daß das Lesevennögen weitgehend auf die Städte beschränkt war und sich die unmittelbare Wirkung der Lektüre in den städtischen Bürgerschaften abspielte, daß aber viele Leser "zugleich als Multiplikatoren der in den Büchern enthaltenen Meinungen anzusehen"66 seien. Wohlfeil schränkt allerdings ein, daß der so beschaffenen "reformatorischen Öffentlichkeit" wichtige Kriterien fehlen, die das moderne Verständnis von Öffentlichkeit ausmachen - "vor allem jene Kennzeichen, die dem bürgerlich-demokratisch-politischen Bezugssystem entstammen, Alphabetisierung voraussetzen und von einem gewissen Grad 'bürgerlicher' Bildung aus gehen."67 Es bleibt festzuhalten, daß zur Refonnationszeit eine breite politische Öffentlichkeit bestand, eine Öffentlichkeit, bei der auch der gemeine Mann Meinungsbildung und Diskussion zu zeitgenössischen politischen Themen betrieb - unter Beachtung der Tatsache, daß dieses Kommunikationssystem einer differenzierten Betrachtung bedarf, Kommunikationsmittel zu definieren sind und zu berücksichtigen ist, daß eine die Obrigkeit zum Handlungsbedarf zwingende öffentliche Meinungsäußerung nur sehr eingeschränkt möglich war. Wohfeil, S. 45. Ebd., S. 42. 65 Für die Flugschriften und Flugblättern angeschlossenen Distributionsmittel wie Predigt, öffentliche Lektüre, Bilder, Lieder und Mundpropaganda sind besonders die Forschungen Scribners verdienstvoll: Robert W. Scribner: How Many Could Read? In: W.J. Mommsen (Hg.): Stadtbürgertum und Adel in der Reformation. Stuttgart 1979, hier: S. 44f.; Ders.: For the sake of simple folk. Popular Propaganda for the German Reformation. Cambridge 1981; Ders.: Flugblatt und Analphabetentum. Wie kam der gemeine Mann zu reformatorischen Ideen? In: H.-J. Köhler (Hg.): Flugschriften als Massenmedium der Reformationszeit. (=Spätmittelalter und Frühe Neuzeit. Tübinger Beiträge zur Geschichtsforschung, Bd. 13). Stuttgart 1981, S. 65-76, hier: S. 75. 66 Bemd Moeller: Flugschriften der Reformationszeit. In: TRE, Bd. 11, 1983, S. 240-246, hier: S. 242. 67 Wohlfeil, S. 47. 63 64

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B. Einführende Bemerkungen und Forschungsüberblick

Vor diesem Hintergrund ist die Form von Öffentlichkeit zu sehen, die in dem für diese Untersuchung interessanten Zeitraum MitteIEnde des 17. Jahrhunderts relevant war. Es handelt sich dabei um die verhältnismäßig gut erforschte Rezipientenschaft des etablierten Zeitungswesens. Aufschlußreich für den Stellenwert und das Selbstverständnis von Zeitungen und Zeitungsrnachern der frühen Neuzeit ist eine gut dokumentierte Zeitungsdiskussion vom Ende des 17. Jahrhunderts zu Bedeutung, Aufgaben und Zielen der Zeitung. 68 Aus der Diskussion zwischen Ahasver Fritschs 1676 publizierten "Discursus de Novellarum, quas vocant Neue Zeitunge / hodierne usu et abusu" und Kaspar Stielers Abhandlung "Zeitungs Lust und Nutz" von 1695 geht hervor, daß das Zeitungswesen bereits in seiner frühen Phase eine bedeutende Rolle im öffentlichen Leben spielte. 69 Fritsch forderte den Meinungsaustausch einer breiten "Öffentlichkeit", wenn er erklärte, daß die Nachfrage nach Zeitungen vor allem deshalb groß sei, "daß man Gelegenheit habe einen nutzlichen Diseurs zu formiren I dadurch man erfahren möge wie ein ander die sache begreiffe I und obs überein komme mit denen Gedancken I die mir davon gefasset haben. "70 Stieler empfiehlt eine Präventivzensur durch die Obrigkeit, damit sie besser als bisher darüber unterrichtet sei, "wie weit und sicher unter das Volck kommen."71 Ausgehend von solchen und ähnlichen zeitgenössischen Zeugnissen, in denen das Interesse und die Rezeption der Zeitungen durch eine breite Öffentlichkeit dokumentiert werden, konstatieren Kommunikationsforscher und Historiker in Abgrenzung zu Habermas zunehmend das Vorhandensein einer wesentlich breiteren politischen Öffentlichkeit und einer wesentlich differenzierteren Kommunikationsstruktur seit den Anfangen des Pressewesens.

68 Zu dieser Zeitungsdiskussion: Karl Kurth (Hg.): Die ältesten Schriften für und wider die Zeitung (= Quellenhefte zur Zeitungswissenschaft, Bd. 1). BrünnIMünchenl Wien 1944; mit auszugs weisen Abdrucken: Die Zeitung. Deutsche Urteile und Dokumente von den Anfängen bis zur Gegenwart. Ausgew. und erläutert von Eiger Blühm und Rolf Engelsing. Bremen 1967 (im folgenden zitiert als Blühm/Engelsing, Die Zeitung), S. 51f., sowie mit weiterer Literatur: Berns, Parteylichkeit, S. 205-219. 69 Ahasverus Fritsch (1629-1701), Dr. jur. in Jena, 1661 Hof- und Justizrat bei der Familie v. Schwarzburg-Rudolstadt, dort 1681 Kanzler, Schriften zur Geschichte, Jura, Publizistik und Germanistik; vgl. zu seiner Person: ADB, Bd. 8, S. 108f. Kaspar Stieler (1632-1707), Mediziner und Rhetoriker, in Staatsdiensten in Eisenach, Jena und Weimar, Schriften zu Sprach wurzeln und Rhetorik; zu seiner Person vgl.: ADB, Bd. 36, S. 20lff. 70 Zitiert nach: Blühm/Engelsing, Die Zeitung, S. 219. 71 Zitiert nach: ebd .. S. 212.

I. Öffentlichkeit und öffentliche Meinung in der frühen Neuzeit

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In Ablehnung des Habennas'schen Modells und anderer Thesen, die vorrechneten, daß eine Zeitung für eine breite Schicht nicht erschwinglich war und deshalb nicht gelesen wurde, und mit dem Bewußtsein, daß es für die 2. Hälfte des 17. Jahrhunderts keine verläßliche Datenbasis bzgl. des Analphabetismus gibt, stellt Bems zu Recht fest: "Weder Preis- noch Bildungskriterien reichen hin, ein verläßliches Bild des Zeitungspublikums zu entwerfen. Zu klären ist damit nämlich durchaus nicht, wer überhaupt eine Zeitung zu Gesicht bekam und ob denn überhaupt Zeitungsmeldungen notwendigerweise nur durch eigenes Lesen rezipiert wurden.'0?2 Wie Scribner, Giesecke und Wohlfeil für die Refonnationszeit weist auch Berns für diese Zeit auf den Multiplikatoreffekt des Vorlesens hin und stellt fest, daß Nachrichtenblätter zumindest in den bedeutenden Zeitungsstädten, wie Hamburg, Frankfurt, Leipzig, Danzig, Köln, Wien, München, Stettin, Berlin und Nürnberg durchaus schon ein Massenpublikum hatten. Die Zeitungsrezeption war nicht nur auf die gebildeten Stände begrenzt: "Potentiell gehörten alle und in Wirklichkeit schon viele zum Zeitungspublikum. "73 Von vornherein bestand bei der Obrigkeit eine gewisse Angst vor dem Einfluß der sich zum Massenmedium entwickelnden Zeitung. Kaspar Stieler betonte in seinem erwähnten Beitrag zur Zeitungsdiskussion die Wichtigkeit der Zeitungslektüre: "Will aber wer klug sel,n / so muß er die Zeitungen wissen / er muß sie stets lesen / erwägen / mercken." 4 Interessant ist in diesem Zusammenhang auch, daß die Zeitungslektüre bereits in der 2. Hälfte des 17. Jahrhunderts als Unterrichtselement in der Schule nicht nur anempfohlen, sondern auch angewandt wurde. 75 In Auseinandersetzung mit Habennas' Definition der historischen bürgerlichen Öffentlichkeit, der als konstituierendes Merkmal neben pennanentem Waren verkehr und kontinuierlicher Staatstätigkeit auch kontinuierlicher Nachrichtenverkehr zuzuordnen sei,16 vennißt Berns bei Habennas' Erklärungsansatz über den Beginn des Zeitungswesens das Interesse des Zeitungsrezipienten. Dies führe zwangsläufig 72 Berns, Parteylichkeit, S. 220. Ein Beispiel einer solchen Berechnung bietet Welke. Er ermittelte eine Zahl von ca. 200.000 bis 250.000 deutschen Lesern von periodischer Tagespublizistik für die Mitte des 17. Jahrhunderts. Um 1675 umfasste die deutschsprachige Bevölkerung ca. 15 bis 16 Mio. Menschen; 3/4 davon lebten auf dem Land und waren - so Welke - keine Leser; ferner zieht er die Leseunkundigen in den Städten und dort lebende Arme ab und kommt so zum den Schluß, daß in Deutschland zu dieser Zeit eine potentielle Öffentlichkeit von kaum mehr als 1 Mio. Menschen bestand, die periodische Tagespublizistik demnach etwa nur 20 - 25% der als Leser überhaupt in Frage Kommenden erreicht hat; vgl. Welke, Rußland, S. 162-

164.

73 74 75 76

Berns, Parteylichkeit, S. 223. Zit. nach ebd., S. 224. Ebd., S. 225, und Welke, Rußland, S. 161. Habermas, S. 70f.

3 Baumanns

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B. Einführende Bemerkungen und Forschungsüberblick

zu einer schiefen Definition der "literarischen Öffentlichkeit" bei Habennas. Berns führt demgegenüber die Kategorie des Erkenntnisinteresses und eine differenzierte Betrachtung der Kommunikationsformen als konstituierende Merkmale einer tatsächlich vorhandenen breiten Öffentlichkeit in der 2. Hälfte des 17. Jahrhunderts ein. In gleicher Richtung stellt Gestrich fest, daß die politische Infonnation der Untertanen gerade auch in der Zeit des Absolutismus und der Geheimdiplomatie sprunghaft anstieg. Die regelmäßige Aufnahme von Neuigkeiten wurde für breite Teile der Bevölkerung zu einem Phänomen des Alltags. 77 Zwar war die Zeitung nicht für jedennann zugänglich, doch war das Zeitungslesen und -hören so weit verbreitet, daß Anfang des 18. Jahrhunderts oft über die "Zeitungs-Sucht" von Kleinbürgern und Bauern geklagt wurde, wie aus zeitgenössischen Quellen hervorgeht. 78 Bestätigung für diese Erweiterung des politischen Öffentlichkeitsbegriffes für die 2. Hälfte des 17. Jahrhunderts bietet zum Teil die Leserschaftsforschung. Zu berücksichtigen ist dabei auch die Frage, inwieweit und welche Fonnen der deutschen Sprache gebräuchlich waren und verstanden werden konnten. Anfang des 17. Jahrhunderts gab es in Deutschland keine einheitliche deutsche Schriftsprache. Das Hochdeutsche wurde um 1630 in der inneren Verwal77 Gestrich, S. 11. Seinen Forschungszugang zum Alltag formuliert Gestrich, S.9, so: "Neuere, sozialanthropologisch orientierte Alltagsgeschichte begreift sich nicht als eine Sozialgeschichte der politischen Emanzipation der Unterschichten. Ihr Bestreben ist vielmehr die Entschlüsselung von Herrschaft, Wirtschaft und Kultur aus schichtspezifischen Handlungs- und Interpretationszusammenhängen. " 78 Ebd., S. 2lf. Neugier und Neuigkeitssucht quer durch alle Schichten als Merkmal des 17. Jahrhunderts betont auch Peter Ukena: Tagesschrifttum und Öffentlichkeit im 16. und 17. Jahrhundert in Deutschland. In: Presse und Geschichte. Beiträge zur historischen Kommunikationsforschung. München 1977, S. 35-53, hier: S. 47. Wie Giesecke stellt auch Gestrich fest, daß bereits die Einführung des Buchdrucks nicht nur potentiell, sondern auch tatsächlich den Boden für einen freien Meinungsstreit über alle soziale Grenzen hinweg bereitet hat: Gestrich, S. 26, und Giesecke, S. 187: "... mit der Einführung der typographischen Medien in die europäischen Gesellschaften der frühen Neuzeit öffentliche politische Diskussionen technisiert. .. Die Kopplung des Buchdrucks an die Prinzipien des freien Handels schaffte darüber hinaus Raum für die Entfaltung einer weiteren Grundidee westlicher Demokratien: den freien Meinungsstreit über alle Standes- und Gruppengrenzen hinweg in den technisierten Informationsmedien. " Bereits Bauer betonte in seiner immer noch sehr brauchbaren und auf einer breiten Quellenbasis gründenden Geschichte der öffentlichen Meinung das "große Interesse in den unteren Schichten der Bevölkerung an den öffentlichen Ereignissen." Öffentlichkeit umfasse die gesamte Untertanenschaft: vgl. Bauer, Öffentliche Meinung, S. 78. Auf Formen der öffentlichen Meinungsäußerung der breiten Masse, der Volksstimme in Volksliedern und Sprichwörtern während des Dreißigjährigen Krieges weist Langer in seiner - marxistisch geprägten - Kulturgeschichte des Dreißigjährigen Krieges hin: Herbert Langer: Kulturgeschichte des Dreißigjährigen Krieges. Stuttgart 1978, S. 233-246, hier: S. 243ff.

I. Öffentlichkeit und öffentliche Meinung in der frühen Neuzeit

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tung in weiten Teilen Deutschlands als Amtssprache eingeführt. Dennoch wurde weiterhin nur das Niederdeutsche vom gemeinen Mann verstanden und im täglichen Sprachgebrauch bis weit ins 18. Jahrhundert hinein angewendet. Interessant ist, daß politische und religiöse Drucke diesen sprachlichen Zuständen Rechnung trugen. Aus Bremen ist bezeugt, daß von 39 zwischen 1581 und 1630 dort hergestellten deutschsprachigen Drucken drei Zehntel in Niederdeutsch abgefaßt und für das gemeine Volk bestimmt waren. 79 In gebildeten Teilen der Bevölkerung, in Städten und ohnehin bei staatlichen und kirchlichen Amtsträgern war das Hochdeutsche seit dem ersten Quartal des 17. Jahrhunderts akzeptiert und gebräuchlich. Aber die sprachliche Komponente erfaßt nicht vollständig den Rezipientenkreis der Zeitungen. Wie zur Reformationszeit betont die Leserschaftsforschung auch für das 17. Jahrhundert die Bedeutung von Formen kollektiven und damit nicht an die Alphabetisierung geknüpften Lesens. Als wirksamste Multiplikatoren der Tagespublizistik erwiesen sich Wirts- und Kaffeehäuser und Weinstuben in den Städten.8° Andere Formen kollektiver Leseerfahrung boten z.B. Tischgesellschaften, das "ZeitungsrnahI", bei dem sich Nachbarn regelmäßig zum Essen trafen, um anschließend die gemeinsam bezogene Zeitung zu studieren, Vorlesegesellschaften oder einfach Menschenmengen, die sich vor Posthäusern und A visen buden regelmäßig beim Erscheinen einer neuen Zeitung bildeten, um zu lesen und zu diskutieren. Bereits in der 2. Hälfte des 17. Jahrhunderts etablierten sich Abonnementsgemeinschaften in kleinen Städten und auf dem Land.8 1 79 Rolf Engelsing: Der Bürger als Leser. Lesergeschichte in Deutschland 15001800. Stuttgart 1974 (im folgenden zitiert als Engelsing, Bürger als Leser), S. 41. 80 Wittmann, S. 91ff., und Lindemann, Bd. 1, S. 42ff. 81 Martin Welke: Gemeinsame Lektüre und frühe Formen von Gruppenbildungen im 17. und 18. Jahrhundert: Zeitungs lesen in Deutschland. In: O. Dann (Hg.): Lesegesellschaften und bürgerliche Emanzipation. Ein europäischer Vergleich. München 1981, S. 29-53 (im folgenden zitiert als Welke, Gemeinsame Lektüre), hier: S. 36. Welke, S. 41, kommt zu dem abschließenden Urteil: "In allen Schichten und Ständen mit Ausnahme der sozial völlig Deklassierten wird bereits am Ende des 17. Jahrhunderts nach Zeitungen verlangt. Die seit dieser Zeit sich häufenden Klagen über die 'unzeitige Neue-Zeitungs-Sucht' und die um sich greifende 'Lesewut' lassen sich nach allem, was wir heute über den Umfang der Zeitungs produktion und die Formen der kollektiven Rezeption wissen, nicht als bloße rhetorische Überhöhung abtun." Vgl. auch die Regionalstudie von Wolfgang Adam: Lesen und Vorlesen am Langenburger Hof. Zur Lesefähigkeit und zum Buchbesitz der Diener und Beamten. In: P. Blickle I D. Breuer I W. Brückner (Hgg.): Literatur und Volk im 17. Jahrhundert. Probleme populärer Kultur in Deutschland (= Wolfenbütteler Arbeiten zur Barockforschung, Bd. 13).2 Bde. Wiesbaden 1985, hier: Bd. 2, S. 475-488. Daß auch die Verbreitung von Literatur aufgrund des zeitüblichen Vorlesens größer war, als die Zahl von Auflagen und Anzahl der Exemplare annehmen lassen, betont z.B. Rolf Tarot: Stadt und Literatur im 17. Jahrhundert. In: A. Schöne (Hg.): Stadt Schule - Universität. Buchwesen und die deutsche Literatur im 17. Jahrhundert. München 1976, S. 3-9. 3'

B. Einführende Bemerkungen und Forschungsüberblick

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Darauf, daß diese Öffentlichkeit im 17. Jahrhundert regen Anteil gerade an außenpolitischen Fragestellungen nahm, weist Gestrich hin. Gerade Diplomatie und Kriegsführung, der Prärogative des Landesherrn zugehörig, hatten auch ihre öffentliche Seite. Das Feld der äußeren Politik bot sich zur Steigerung der Reputation des absolutistisch regierenden Fürstenhauses mit Mitteln der Propaganda und gezielten Informationspolitik einer breiten Öffentlichkeit gegenüber an. 82 Als Beispiel sei hier nur auf die breite öffentliche Diskussion über das Türkenproblem des 16. Jahrhunderts hingewiesen. Schulze weist auf die Bedeutung der Türkenpublizistik, auf deren Multiplikator- und Informationswirkung der in diesem Zusammenhang massenhaft verbreiteten Einblattdrucke für die Bildung eines Kommunikationssystems innerhalb einer breiten Öffentlichkeit hin. 83 Ein weiteres Beispiel für die Verbindung von Außenpolitik, absolutistischem Staat und Öffentlichkeit bieten die Kriegsmanifeste als Kriegslegitimationen, nicht nur vor der europäischen Öffentlichkeit der politischen Akteure, sondern auch vor einer breiteren Öffentlichkeit. So sollte man die 1644 erstellte Definition eines solchen Manifestes durch den Straßburger Historiker und Juristen Johann Heinrich Boec1er im Hinblick auf ihren Adressatenkreis durchaus ernst nehmen: "Manifeste sind Staatsschriften, die der Monarch (oder die Republik) zu Kriegsbeginn in der ganzen Welt verbreiten läßt, um sein Recht darzulegen und

Gestrich, S. 12. Winfried Schulze: Reich und Türkengefahr im späten 16. Jahrhundert. Studien zu den politischen und den gesellschaftlichen Auswirkungen einer äußeren Bedrohung. München 1978, S. 24f.: "Der Nachrichtenstrom, der sich mit den Ereignissen an der Türkengrenze befaßte, kann deshalb trotz seiner unzulänglichen Berichterstattung, seinen Übertreibungen, falschen Zahlenangaben, seiner Vermischung von Kommentar und Nachricht, die wir immer wieder in den 'Zeitungen' feststellen können, insgesamt als Element verstanden werden, das in seiner nicht zu unterdrückenden Fülle und Detailliertheit die informative Grundlage Kommunikationsprozesses bildet... Obwohl die 'Neuen Zeitungen' keineswegs billig waren ... , müssen wir von einer weitgehenden Verbreitung des Inhalts ausgehen, wenn wir an die übliche Form der WeitervermittIung durch Pfarrer, Gasthäuser und Märkte denken." Schulze, S. 25: "Die Türkengefahr scheint mir unter kommunikationstheoretischen Aspekten neben Reformation und Bauernkrieg einer der bedeutenden Vorgänge in der Geschichte des 16. Jahrhunderts zu sein, die den Bruch mit dem feudalen Bild der Gesellschaft, die sich ihres kommunikativen Zusammenhangs gar nicht bewußt werden konnte, vorantreiben und ihn zugleich deutlich anzeigen.", ebd., S. 33: "Die Tatsache, daß die Diskussion über die Verteidigungspolitik des Reiches nicht auf den Kreis der politisch handelnden Personen und Gremien beschränkt blieb, muß aber doch als wichtiger Hinweis darauf interpretiert werden, daß der öffentlichen Diskussion, wie beschränkt diese auch bleiben mochte, ein neues Gewicht beigemessen wurde. Es ergab sich auf dieser Ebene ansatzweise ein Zusammenhang zwischen öffentlicher Diskussion und den Verhandlungen des Reichstages, in dessen Verhandlungen die öffentliche Diskussion expressis verbis einging." 82 83

I. Öffentlichkeit und öffentliche Meinung in der frühen Neuzeit

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zugleich die rechtmäßigen Gründe, die zum Krieg geführt haben, jedem und allen Menschen aufzuzeigen und zur allgemeinen Lektüre zu empfehlen. ,,84

Was also bedeutet Öffentlichkeit im Zeitalter des früh neuzeitlichen Fürstenstaates? Sicher sollte man nicht in das Extrem verfallen und in der mittleren und unteren Untertanenschaft des absolutistisch regierten Fürstenstaates nach einer politischen Mündigkeit suchen, die durch die Rezeption von Zeitungen und anderen politischen Druckwerken hervorgerufen wurde. Auch bleibt natürlich eine gewisse ständische, repräsentative Öffentlichkeit bestehen, aus denen sich die Träger des absolutistischen Staatswesens und seiner Politik rekrutierten und die entscheidende - im Sinne von Entscheidungen fällende - politische Öffentlichkeit bildete. Auch gab es Autoren und Adressaten der Reichspublizistik, einer reinen Gelehrtenpublizistik um die Verfassung und die Gestalt des Reiches, geschrieben und gelesen von juristischen Gelehrten, bei denen sich universitäre Lehre, Schriftstellerei und Staatspraxis zu verzahnen begannen, ein Kreis also, in dem viele den Weg vom Universitätslehrer zum Staatsmann, Berater oder Diplomaten am absolutistischen Fürstenhof einschlugen und damit die politische Elite eines Staatswesens ausmachten. 85 Doch läßt es sich nicht leugnen, daß im frühneuzeitlichen Fürstenstaat eine Öffentlichkeit in dem Sinne existierte, daß auch eine breite Mittel- und Unterschicht reges Interesse an politischen Vorgängen zeigte, typographische Erzeugnisse in verschiedenen Formen rezipierte und sich öffentliche Meinung bildete.86 Öffentliche Meinung und staatstragende Ob84 Zitiert nach Konrad Repgen: Kriegslegitimationen in Alteuropa. In: K. Gotto und H.G. Hockerts (Hgg.): Ders., Von der Reformation zur Gegenwart. Beiträge zu Grundfragen der neuzeitlichen Geschichte. Paderborn u.a. 1988, S. 67-83 (auch abgedruckt: Schriften des Historischen Kollegs, Bd. 9. München 1985; und HZ, Bd.241, 1985, S. 27-49.) (im folgenden zitiert als Repgen, Kriegslegitimationen), hier: S. 81; näheres zu Boecler s.u.Kap. C. 11. 85 Vgl. dazu Michael Slol/eis: Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland, Bd. I: Reichspublizistik und Policeywissenschaft 1600-1800. München 1988 (im folgenden zitiert als Slol/eis, Reichspublizistik), hier: Bd. I, S.231 und 256. 86 Das gilt für die im Zeitalter des frühneuzeitlichen Fürstenstaates existierenden so verschiedenen Staatswesen wie das Deutsche Reich, die Generalstaaten und Frankreich in unterschiedlichen Ausprägungsgraden. Die so geartete öffentliche Meinung und Öffentlichkeit konnte sich natürlich nicht so frei artikulieren wie im 18. Jahrhundert und ist damit schwerer greifbar. Diese Beschreibung der Öffentlichkeit geht insofern über das hinaus, was Bosbach als das "Prinzip der Öffentlichkeit" bezeichnet hat: "Es besagte, daß politische Vorgänge auch nicht mitentscheidenden Bevölkerungskreisen zwar nicht zur Mitwirkung, aber doch zur Beobachtung zu öffnen waren.": Franz Bosbach (Hg.): Feindbilder. Die Darstellung des Gegners in der politischen Publizistik des Mittelalters und der Neuzeit (=Bayreuther Historische Kolloquien, Bd. 6). Köln/Weimar/Wien 1992 (im folgenden zitiert als Bosbach, Feindbilder), hier: Einleitung, S. X -, als man berücksichtigen muß, daß mit der beschriebenen Beobachtung zwangsläufig auch ein Meinungsbildungsprozeß einherging; vgl. in diesem Sinne auch Köpeczi, S. 374.

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B. Einführende Bemerkungen und Forschungsüberblick

rigkeit begannen sich bereits im Zeitalter des absolutistischen Staatswesens zaghaft, aber erkennbar auseinanderzuentwickeln und als zwei Säulen einer Gesellschaft zu etablieren. 87 Kann auch keine Rede davon sein, daß diese Form der öffentlichen Meinung einen solchen Einfluß auf die hohe Politik gehabt hatte, wie das in den Staaten des aufgeklärten Absolutismus der Fall war, so handelt es sich bei der Gesellschaft des absolutistischen Staates eben um alles andere als um die von Habermas beschriebene starre, kommunikationslose und nur von einer repräsentativen Öffentlichkeit geprägte Gesellschaft. Habermas' Aussage, daß eine einem breiteren Publikum zugängliche Presse erst seit dem Ende des 17. Jahrhunderts entstanden ist, konnte von der Forschung mittlerweile widerlegt werden. Die an seine Aussage geknüpfte Feststellung Habermas', daß bis zur Etablierung der bürgerlichen Öffentlichkeit "der alte Kommunikationsbereich der repräsentativen Öffentlichkeit durch den neuen einer publizistisch bestimmten Öffentlichkeit nicht grundsätzlich bedroht" gewesen sei,88 gilt es auch im folgenden Kapitel mit einem Blick auf die Reaktion der absolutistischen Obrigkeit auf die Formen der beschriebenen Bildung einer breiteren Öffentlichkeit zu befragen.

11. Öffentliche Meinung und absolutistischer Staat J. Arkanhaltung und Repräsentationsbedütj"nis des absolutistischen Hofes

Einer der tragenden Pfeiler des absolutistisch regierten Staates bildeten die "Arcana Imperii". Dieser aus Tacitus' Annalen stammende politische Topos wurde in Deutschland vor allem durch den Historiker Amold Clapmarius eingeführt. 89 In seinem erstmals 1605 in Bremen erschienenen Werk "De Arcanis rerum Publicarum libri sex" definierte er: 87 Reinhart Koselleck: Kritik und Krise. Ein Beitrag zur Pathogenese der bürgerlichen Welt. FreiburglMünchen 1959, hier: S. 45ff., wies dieses Lösen der öffentlichen Meinung vom absolutistischen Staat im theoretischen Werk Lockes nach. Danach entzog sich bei Locke der Innenraum des menschlichen Gewissens der staatlichen Politik in einem Ablösungsprozeß und wurde durch das Medium der öffentlichen Meinung zum bürgerlichen moralischen Gesetz erhoben, das Druck auf den Staat ausübte. 88 Habermas, S. 72. 89 Clapmarius war seit 1600 in Altdorf als Professor für Geschichte und Politik tätig; vgl. zu seiner Person, seinen Werken und weiterer Literatur den Artikel Gerhard Oestreichs in der NDB, Bd. 3, S. 260, und Michael Stolleis: Arcana Imperii und Ratio Status - Bemerkungen zur politischen Theorie des frühen 17. Jahrhunderts. In: Ders.: Staat und Staatsräson in der frühen Neuzeit. Studien zur Geschichte des öffentlichen Rechts. Frankfurt 1990, S. 37-72 (im folgenden zitiert als Stolleis, Arcana Imperii), (zunächst abgedruckt in: Veröffentlichungen der Joachim-JungiusGesellschaft der Wissenschaft Hamburg, Nr. 39. Göttingen 1980), hier: S. 51-57.

11. Öffentliche Meinung und absolutistischer Staat

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"Arcana Rerumpublicarum sie definio; esse intimas et occultas rationes sive consilia eorum, qui in Republica principatum obtinent, turn ipsorum tranquillitatis, turn etiam praesentis Reipublicae status conservandi, idque boni publici causa. "90 Die Arcana Imperii bezeichnen die Hoheitsgebiete des absolutistischen Herrschers, den abgeschirmten politischen Raum, der ausschließlich der Handlungsgewalt des absolutistischen Herrschers vorbehalten war. Das Arcanum war eng verbunden mit dem Begriff der Staatsräson. In seiner Untersuchung der Diskussion zu den Begriffen Arcanum und Staatsräson in der zeitgenössischen rechtspublizistischen Literatur stellt Stolleis fest, daß die Arcana Imperii in der Literatur des frühen 17. Jahrhunderts als Legitimation für den entstehenden absolutistischen Staat verwendet wurden und ihre Wurzeln in den politischen Wirren des konfessionellen Streits hatten. Mit der normativen Beilegung der konfessionellen Auseinandersetzung im Westfälischen Frieden etablierte sich in Deutschland der in seinen Rechten gegenüber dem Kaiser gestärkte Ständestaat als eine Summe von ihrerseits wiederum absolutistisch regierten Territorialfürstentümern: "In Deutschland speziell war mit 1648 die Souveränität der Fürsten anerkannt, der materielle Wiederaufbau absorbierte alle Kräfte, und nur Ordnung und Förderung von oben versprachen Hilfe."9IAuch im übrigen Europa wurde die absolutistische Staatsform vorherrschend; die wenigen Ausnahmen und Variationen, vor allem in England und den Generalstaaten, vermochten das von Frankreich bestimmte Gesamtbild nicht umzuprägen. "Mit dieser innenpolitischen Beruhigung war ein wichtiges Antriebsmoment der Arcana-Literatur entfallen, denn ein Großteil der in diesen Büchern enthaltenen Vorschriften betraf gerade die Mittel, durch die sich ein Fürst gegen Opponenten im Innern durchsetzen" konnte. 92 Mitte des 17. Jahrhunderts trat in der Reichspublizistik an die Stelle des Begriffs der Arcana Imperii die Staatsräson als Legitimationstitel für ein tatkräftiges Staatshandeln vor allem nach außen. Was blieb, und worauf die Lehre von der Staatsräson aufbaute, war das Bewußtsein der absolutistischen Staatstheorie von einem Arkanbereich am Fürstenhof. Die Beanspruchung einer solchen Arkanzone trat als legaler Machtanspruch gegenüber den Untertanen auf. Kernstück des Arkanbereiches waren die Politica, 90 Das Werk erlebte bis 1672 insgesamt 13 Auflagen. Ich zitiere nach der Ausgabe: De arcanis rerum publicarum libri sex ... accessit ehr. Besoldi De eadem materia Discursus nec non Arnoldi Clapmarii ei aliorum conclusiones de iure Publico. Amsterdam 1641, hier: Buch I, Kap. V, S. 11. 9lSto lleis, Arcana Imperii, S. 71. Zu den staatstheoretischen Hintergründen des Absolutismus und weiterer Literatur vgl. Johannes Kunisch: Absolutismus. Europäische Geschichte vom Westfälischen Frieden bis zur Krise des Ancien Regime. Göttingen 1986 (im folgenden zitiert als Kunisch, Absolutismus), hier: S. 20ff und der Forschungsüberblick S. 184-188. 92 Stolleis, Arcana Imperii, S. 71; zur Arcana-Literatur vgl. auch Stolleis, Reiehspublizistik, S. 197ff.

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besonders außenpolitische Erwägungen, weil hier Gesichtspunkte der Geheimhaltung zu berücksichtigen waren. Kommunikationsverweigerung legte der Hof - so Schneider - besonders den Zeitungen gegenüber an den Tag; nicht zuletzt deshalb, weil das Zeitungswesen vom Hof als Produkt einer geringgeschätzten sozialen Schicht, der Einfachen und Ungebildeten, beurteilt worden sei. Zeitungen wurden vom Hof daher prinzipiell negativ bewertet und deren Auftreten steigerte die starre höfische Arkanhaltung. 93 Durchbrochen wurde diese Haltung des absolutistischen Hofes erst durch die "positive Außenpolitik" Friedrichs des Großen (Schneider), der selbst zur Feder griff. Recht undifferenziert zieht Schneider das Fazit: "Die absolutistische Herrschaftsform verschloß sich den Kommunikationsofferten der Untertanen. Das Arkanverhalten ist einmal begründet in der Anschauung 'L'Etat, c'est moi!', zum anderen in der vermeintlichen Unzweckmäßigkeit und Gefährlichkeit, Angelegenheiten des Staates im Räsonnement der Untertanen zu wissen."94 Eine weitere tragende Säule des absolutistischen Staates war das Bedürfnis des Herrschers nach Repräsentation seiner Herrschaftsidee in den verschiedenen Formen der barocken Hofhaltung: Gebäude- und Landschaftsarchitektur, höfische Feste und Hofzeremoniel1. 95 Diese Formen der Repräsentation vollzogen sich zunächst nicht direkt als Aufführung vor einer breiten Öffentlichkeit, wie Schneider behauptet,96 sondern zogen sich im Gegenteil in den barocken Hofgarten zurück, also aus den Städten hinaus in die auf dem Land errichteten Schlösser und Gärten. Diese Repräsentation wurde zu einer "Machtdemonstration in einer Sphäre hoheitlicher Unnahbarkeit" exklusiv für Fürst und Adel und im Wettstreit mit anderen Höfen Europas. 97 Zeremoniell und höfisches Fest hatten die Funktion einer Theateraufführung und fanden in bewußter Abgrenzung von den Untertanen statt. Dennoch war im Repräsentationsbedürfnis des Hofes ein erster Keim zur Öffnung. Gedacht als Fortsetzung der Aufführung höfischer Exklusivität erschien zum Beispiel im 15. Band des Diarium Europaeum von 1667 die Fest93 Schneider, S. 6lf. 94 Ebd., S. 66. 95 Aus der Fülle der Literatur dazu: Hubert eh. Ehalt: Ausdrucksformen absolutistischer Herrschaft. Der Wiener Hof im 17. und 18. Jahrhundert (= Sozial- und wirtschaftshistorische Studien, Bd. 14). München 1980; ferner neben weiterer Literatur: Kunisch, Absolutismus, S. 63-71 und 232f.; Heinz Schilling: Höfe und Allianzen. Deutschland 1648-1763 (= Das Reich und die Deutschen). Berlin 1989, S. 16-31; Heinz Duchhardt: Altes Reich und Europäische Staatenwelt 1648-1806 (= Enzyklopädie deutscher Geschichte, Bd. 4). München 1990, die Literaturangaben: S. 241. 96 Schneider definiert den Repräsentationszwang des absolutistischen Hofes als "ein Sich-Zeigen mit gleichzeitiger Aufforderung zur Akklamation.": Schneider, S.58. 97 Kunisch, Absolutismus, S. 65.

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folge der Hochzeit Leopolds mit Margarete in aufwendigen großformatigen und detaillierten Stichen von Festwagen, Feuerwerken und Pferdeballett. 98 Die Veröffentlichung eines solchen Repräsentationsaktes der kaiserlichen Macht und Würde in einem typographischen Medium weist - ob vom Hof intendiert oder nicht - über die Grenzen der höfischen Arkanhaltung hinaus. Zeitungen und Periodika, die ja zumindest potentiell eine breitere Öffentlichkeit erreichten, wurden auf diese Weise als höfische Repräsentationsmedien genutzt. 99 So, wie die staatliche Obrigkeit auf ein typographisches Medium zurückgriff, um sich zu repräsentieren, so förderte diese Veröffentlichung das Interesse einer breiteren Öffentlichkeit an Vorgängen des Hofes und an der Politik allgemein. 100 Parallel zur Abschottung der des Hofes bildete sich - vom Hof indirekt gefördert - eine begrenzte politische Öffentlichkeit, die die vemehrt aufkommenden typographischen Medien rezipierte und jetzt auch an politischen Vorgängen des Arkanbereichs teilhatte. Politische Öffentlichkeit und absolutistischer Staat sollten auf Dauer nicht unabhägig voneinander in einem Staatsgebilde bestehen bleiben können. Exkurs: Verhältnis von Obrigkeit und Öffentlichkeit an Staaten ohne Hof: die Generalstaaten Ein Sonderfall in der Staatsentwicklung in Europa waren die Generalstaaten. Es handelte sich dabei um einen Staat ohne Hof, ja in dem für diese Untersuchung entscheidenden Jahren sogar um ein Staatsgebilde ohne Monarch. Gemeinsam mit den anderen Staaten hatten die Generalstaaten nur eine Ständeversammlung, den "Staaten-Generaal" .101 Die Prinzen von Oranien blieben nach Zum Diarium Europaeum vgl.o.S 27f. Weitere Beispiele erwähnt auch Duchkowitsch, Absolutismus und Zeitung, S.1I4f. 100 Bei der öffentlichen Meinung handelt es sich grundsätzlich um ein Phänomen, "das politisch nur existiert in bestimmten Beziehungen zwischen Herrschaft und Volk, zwischen Regierenden und Regierten." Öffentliche Meinung meint "alle jene Verhaltensweisen von beliebigen Bevölkerungsgruppen, die geeignet sind, die Strukturen, Praktiken und Ziele der Herrschaft zu modifizieren oder auch zu konservieren.": UUa Ouo: Die Problematik des Begriffs der öffentlichen Meinung. In: Publizistik, Bd. 11, 1966, Heft 2, S. 99-130, hier: S. 118. Köpeczi, S. 373, spricht von einer zentral gesteuerten Öffentlichkeit. 101 Kunisch, Absolutismus, S. 60. Zur Staatsordnung der Generalstaaten zusammenfassend: Henry Mechoulan: Amsterdam au temps de Spinoza. Argent et Liberte. Paris 1990. Dt.: "Das Geld und die Freiheit". Amsterdam im 17. Jahrhundert. Stuttgart 1992, hier: S. 56-58. Hier und im folgenden wird an Stelle der staatsrechtlich korrekten Bezeichnung "Republik der vereinigten Niederlande" meist die auch im Sprachgebrauch der Zeit vorherrschende Kurzformel "Holland" oder in Gleichsetzung des Staatswesens mit der obersten Verfassungsinstitution der 98 99

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der Ablösung der nördlichen Generalstaaten von den südlichen, spanischhabsburgisch regierten Niederlanden Statthalter. Ihr Herr war nicht mehr der spanische König, sondern die "Herren Staaten". Der Haag, wo sich der Amtssitz des Statthalters befand, war nicht einmal eine Stadt. Eine Art Hof begann sich erst unter dem Statthalter Frederik Hendrik (1625-1647) zu bilden. Es handelte sich dabei vor allem um einen militärischen Hof, wo sich meist Offiziere aus allen Ländern Europas zusammenfanden. 102 Der frühe Tod Wilhelms 11. führte zur ersten statthalterlosen Zeit (1650-1672). Die zweite Periode ohne Statthalter begann nach dem Tod Wilhelms III. (1702-1747). In diesen Zeiten übernahm der Ratspensionär die Leitung des Staates. Ursprünglich Landesanwalt der Provinz Holland, war der Amtsinhaber seit der Unabhängigkeit Führer der holländischen Vertretung bei den Generalstaaten. Entscheidend für den Staat und für das Verhältnis von staatlicher Obrigkeit und Untertanenschaft in Holland war die Tatsache, daß Holland eine selbstbewußte junge Republik war, deren Bevölkerung sich zum großen Teil aus freien Bürgern und Kaufleuten zusammensetzte, die die Statthalter ehrten, solange diese ihre Pflicht erfüllten und den Staat schützten: "der Prinz bzw. dessen Stellvertreter ist Diener des Volkes und Volk bedeutete in Holland der freie, gebildete und vor allem kaufmännische Bürger."103 In Holland also konnte sich öffentliche Meinung bereits früh als politische Größe etablieren, da ihre Träger eine exponierte Stellung in diesem Staatswesen einnahmen. Den Kampf um die Freiheit des Wortes mit den fundamentalistischen Calvinistenpredigern, die als religiöse Eiferer eine restriktive Politik in der Behandlung von allem Gedrucktem und Gesagtem befürworteten, gewann die eindeutig dominierende Verbindung von Geld und Bildung; sie etablierte die Freiheit des Wortes in Holland. Es ist daher kein Zufall, daß eine Fülle von verhältnismäßig unabhängigen Periodika, die die europäische Politik betrafen, in Holland erschienen und daß sich hier politische Meinungsbildung im Vergleich zu den anderen Staaten Europas freizügig entwickeln konnte. Andererseits war die holländische Obrigkeit in ungleich größerem Maße als andere, absolutistisch regierende Machteliten in Europa auf das Wohlwollen und die günstige öffentliche Meinung ihrer se1bstbewußten Bevölkerung, die das merkantile Rückrat des Staates bildete,

Terminus "Generalstaaten" benutzt. Die Südprovinzen im spanisch-habsburgischen Herrschaftsbereich werden als "spanische Niederlande" bezeichnet. 102 August-Albert Keersmaekers: Der Hof und die öffentliche Meinung in Ländern ohne Hof. In: A. Buck / G. Kauffmann I BL Spahr I C. Wiedemann (Hgg.): Europäische Hofkultur im 16. und 17. Jahrhundert (= Wolfenbütteler Arbeiten zur Barockforschung, Bd. 8). 3 Bde. Hamburg 1981, Bd. 3, S. 625-629, hier: S. 625. 103 Ebd., S. 629.

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angewiesen. 104 In Anspielung auf die Gründung von Gazetten in Holland, wie die "Gazette de Bruxelles" (1649), die "Gazette de Leyde" (1680), die "Gazette de Rotterdarn" (1683) und den "Mercure historique et politique" (Den Haag, 1686), und mit Blick auf die Bedeutung der in Europa einmaligen Pressefreiheit in Holland schlägt Klaits den Bogen: "the French-Ianguage Dutch gazettes, whose messages were directed as much at readers outside Holland as within. In their editorial commentary the Dutch journals helped to shape the remarkably uniform ideology of opposition to Louis XIV that underlay the anti-French coalitions of the later wars. "105 Lisolas publizistischer Feldzug gegen Ludwig XIV. konnte sich vor diesem Hintergrund entfalten.

2. Propaganda Deutlich wird die Wechselbeziehung von öffentlicher Meinung, Publizistik und absolutistischem Staat im Bemühen des Staates um die Propaganda. Nach Vocelka ist politische Propaganda "der Versuch, die öffentliche Meinung im Sinne einer Parteiung zu beeinflussen. Sie geht also von jemandem - einer Gruppe, einer Einzelperson, einer Institution - aus, der Macht besitzt und festigt oder Macht anstrebt und zu erlangen versucht. Politische Propaganda ist daher immer auf jene ausgerichtet, die - allgemein gesprochen - 'Herrschende' wählen, stützen, an der Macht erhalten etc ... Inhalte werden grundSätzlich in allen einer Zeit zur Verfügung stehenden Mitteln (Medien) verbreitet..."106 Während der Repräsentation eine meinungsbestätigende Wirkung zukommt, die mit einer eher gefühlsmäßigen Basis, z.B. durch ein die Sinne ansprechendes Zeremoniell und Fest, operiert, versucht "politische Propaganda bewußt zu beeinflussen" und spricht somit "vorwiegend die intellektuelle Seite im Menschen" an. 107 Erste propagandistische Feldzüge, die sich der Drucktechnik bedienten, um eine breitere Öffentlichkeit zu erreichen, sind im Zusammenhang mit der Einführung einer allgemeinen direkten Reichssteuer gegen die Hussiten- und die 104 Auf diese Zusammenhänge und die Bedeutung der Amsterdamer Börse als sensibles Spannungsbarometer für die Verbindung von öffentlicher Meinung, internationaler Politik und Staatsführung in Holland hat - in der Forschung bisher unbeachtet bereits Grossmann hingewiesen: Julius Grossmann: Die Amsterdamer Börse vor zweihundert Jahren. Ein Beitrag zur Geschichte der Politik und des Börsenwesens im mittleren Europa (1672-1673). Haag 1876 (im folgenden zitiert als Grossmann, Amsterdamer Börse), hier: S. 73ff. und 97f. Die Verbindung von ökonomischer Konzentration und gesellschaftlicher Liberalisierung in Holland betont Mechoulan, S. 144: "Der gemeinsame Hang zur Habgier zieht eine gesellschaftliche Mobilität und damit eine gewisse Freiheit nach sich, die sich der theologisch-politischen Ordnun~ widersetzt." I 5 Klaits, S. 2lf. 106 Vocelka, S. 13f. 107 Ebd., S. 17.

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Türkengefahr im ausgehenden 15. Jahrhundert festzustellen. Die allgemeine Steuerpflicht, der "Gemeine Pfennig", ergab sich aus der unmittelbaren und individuellen Verpflichtung eines jeden Christen zum Schutz des Glaubens, der Kirche und der Christenheit - so lautete die gängige Argumentation des Kaisers. "Da man sich des gemeinen Mannes aber nicht sicher ist und soziale Unruhen als Folge der neuen steuerlichen Belastung fürchtet", setzte die Obrigkeit auf Aufklärung anstelle unmittelbarer Repression. 108 Durch die Türkenkriege geriet der gemeine Mann als soziale Kategorie noch vor der Reformation in das Blickfeld der Obrigkeit: "Zugleich verschmelzen in der Frage des Türkenkrieges die politische und soziale Öffentlichkeit." \09 Mit der Kriegsführung gegen die Türken war eine Grundform politischer Propaganda verbunden, die in der Darlegung der eigenen Rechtsposition und in der Verunglimpfung des Gegners bestand. Neben der gedruckten Bekanntmachung kaiserlicher Verfügungen und Reichsgesetzen seit 1474 in Form von offenen Briefen und Aushängen gelangten auf diese Weise massenhaft verbreitete, oft bebilderte Türkendrucke, meist in Einblattdrucken unter das Volk. Gerade in der Frage der Türkenkriege geriet Kaiser Maximilian I. zusätzlich dadurch in Argumentationszwang, weil er, nicht zu Unrecht, verdächtigt wurde, in dieser Angelegenheit vornehmlich habsburgische Interessen mit Hilfe des Reichs verfechten zu wollen. Bei den Türkendrucken handelte es sich zum ersten Mal seit Erfindung des Buchdrucks um eine großangelegte Propagandamaßnahme in einer Frage der auswärtigen Politik, die auf eine breite Öffentlichkeit abzielte - ein Umstand, dessen Bedeutung angesichts der herrschenden Ansicht, daß der gemeine Mann als Machtfaktor in der frühen Neuzeit nicht oder allenfalls in der besonderen Situation der Reformationswirren existiert hätte, nicht deutlich genug herausgestellt werden kann. Winfried Schulze hat auf die Bedeutung dieser Öffentlichkeitsarbeit als herrschaftsstützendes Instrument der herrschenden Schichten auch und vor allem gegenüber dem gemeinen Mann hingewiesen. I \0

108 Eberhard Isenmann: Politik und Öffentlichkeit im Zeitalter Friedrichs III. und Maximilians I. In: A. Buck / G. Kauffmann / BL Spahr / C. Wiedemann (Hgg.): Europäische Hofkultur im 16. und 17. Jahrhundert (= Wolfenbütteler Arbeiten zur Barockforschung, Bd. 8). 3 Bde. Hamburg 1981, hier: Bd. 3, S. 583-587, bes. S. 585. \09 Ebd. 110 Schulze, S. 36: "Die Türkengefahr wird in allen untersuchten Schriften als ein Faktor verstanden, der geeignet ist, die Funktionsweise der ständischen Gesellschaftsordnung zu stabilisieren, wenn nicht gar zu garantieren."; S. 41 f.: "Die propagandistische Ebene der öffentlichen 'Türkendiskussion' dieser Zeit war deshalb zugleich die von den weltlichen und geistlichen Obrigkeiten getragene Ebene, deren Position durch die Herausforderung der Türkengefahr bedroht war. Es mußte deshalb darauf ankommen, die Fähigkeit des bestehenden gesellschaftlichen Systems, die notwendige Sicherheit des Reiches zu gewährleisten, herauszustellen." und S. 46: "Man muß davon ausgehen, daß die Türkengefahr ein allen gesellschaftlichen Schichten intensiv vermittelter Bedrohungsfaktor war, der von seiner kommunika-

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Die kommunikative Beziehung zwischen Staat und gemeinem Mann während der konfessionellen Wirren der Reformationszeit sei nur kurz angedeutet. In einer von der Forschung gut dokumentierten und analysierten Fülle von Flugschriften und Einblattdrucken kämpften die miteinander konkurrierenden Streitparteien u.a. um die Gunst des gemeinen Mannes und versuchten, öffentliche Meinung propagandistisch zu beeinflussen. 111 Wie geschickt und ideenreich die staatslenkende Schicht des absolutistischen Staates bereits von Beginn der Existenz einer periodischen Publizistik an mit ihrer Hilfe Propaganda gerade in Fragen der auswärtigen Politik betrieb, sei an einigen Beispielen illustriert. "1610 machte Kardinal Khlesl, Bischof von Wien und Ratgeber König Matthias von Ungarn, den Versuch, Gerüchte über eigene Rüstungen durch die 'Casseta' verbreiten zu lassen, um damit Druck auf den Kaiser auszuüben; 1658 brachten die 'B.(erliner) Einkommende Ordinar- und Postzeitungen' eine Meldung über angeblich belauschte Äußerungen Karls X. Gustav, durch die aller Welt eine aus Schweden drohende Gefahr vor Augen gestellt werden sollte. 1660 - nach dem Frieden von Oliva - wurde dem Berliner Zeitungsdrucker Runge bei Strafe untersagt, das Verhältnis zu Stockholm durch antischwedische Nachrichten zu stören; 1671 ließ Kurfürst Karl Ludwig von der Pfalz die - wahre - Meldung des 'Haarlemer Couranten' von der Heirat seiner Tochter Elisabeth Charlotte mit dem Herzog von Orleans in der 'Heidelberger Zeitung' dementieren." 112 Die Obrigkeit lernte früh, die öffentliche Wirkung geschickt verbreiteter Falschmeldungen in ihre diplomatischen und militärischen Konzepte als Propagandamittel miteinzubeziehen. Der Dreißigjährige Krieg bot vielfältige Möglichkeiten und Anlässe für die Obrigkeit, propagandistisch und publizistisch in Fragen der Mächtepolitik tätig zu werden. Beispielhaft sei auf den sogenannten Kanzleienstreit hingewiesen. Unter dem Titel "Anhaltische Kanzlei" veröffentlichten die Diplomaten locher und Leucker 1621 in kaiserlichem Auftrag Teile der diplomatischen Korrespondenz des Winterkönigs, die den Kaiserlichen in die Hände gefallen war. Diese sollte der Öffentlichkeit beweisen, daß und mit welchen Methoden sich der Pfälzer bemühte, eine europäische Koalition gegen Habsburg zu formieren. Die Antwort ließ nicht lange auf sich warten. Im folgenden Jahr erschien die "Spanische Kanzlei"; darin veröffentlichte Ludwig Camerarius, Ratgeber König Friedrichs und Enkel des Humanisten, Briefe des Kaisers, die Soldaten Ernst von Manstiven Grundlage in allen Teilen des Reiches als wirksames Element der inneren Politik und Administration eingesetzt werden konnte." III Näheres dazu in Kap. B. III. 112 Blühm/Bogel, S. IX. Die unkommentierte Erwähnung einiger von der Forschung bereits untersuchter Fälle mag an dieser Stelle vor allem deswegen genügen, da das hier zu untersuchende publizistische Werk Lisola einen wesentlichen Beitrag zu Vielfalt und Methoden staatlich geförderter Propaganda zur Zeit des absolutistischen Staates liefern wird.

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felds abgefangen hatten und in denen sich der Kaiser mit päpstlichem Beistand bei der spanischen Regierung in Madrid und Brüssel um die Zustimmung zur Übertragung der pfälzischen Kurwürde auf Bayern bemühte. Beide Flugschriften erschienen in zahlreichen Auflagen und etlichen Nachdrucken. l13 Die Jahre 1626 bis 1630 lösten eine Flut von offiziösen Propagandaschriften aus, die vor spanischen und kaiserlichen Bestrebungen, eine kaiserliche Uni versalmonarchie aufbauen zu wollen, warnten; Chemnitz' alias Hippolithus a Lapides "Magna harologii Campana" von 1629 sei stellvertretend genannt. 1l4 Über den Brand Magdeburgs im Mai 1631 und die umstrittene Rolle Tillys dabei folgten weitere Flugschriften. 115 Grundlage der Untersuchung über die Rezeption und propagandistische Wirkung der Schlacht bei Nördlingen waren für Rystad zeitgenössische Kriegsberichte. 116 Noch deutlicher propagandistischen Charakter trug Gustav Adolphs Kriegsmanifest, das zunächst 1630 erschien und dann 20 Auflagen und 23 verschiedene Drucke erlebte. 117 Auch Gustav Adolph selbst und sein Widersacher Tilly wurden Zielscheibe propagandistischer Agitation. 118 Der Dreißigjährige Krieg brachte den Durchbruch der modernen Propaganda in Fragen der auswärtigen Politik mit sich, wenn auch Rystads Behauptung, "niemals vorher ist in politischem und konfessionellem Kampfe die Druckerpresse so intensiv eingesetzt worden" 119 nach den neueren Forschungsergebnissen eingeschränkt werden muß. Burkhardt schreibt den propagandistisch gesteuerten Medien des Dreißigjährigen Krieges, die gezielt Feindbilder aufbauten, sogar eine solche Wirkung zu, daß sie zu kriegstreibenden und kriegsverlängernden Faktoren wurden. 120 Wilke zeigt, daß Krisenzeiten wie der Dreißig113 Grundlegend dazu immer noch: Reinhold Koser: Der Kanzleienstreit. Halle 1874; vgl. auch Mentz, op.eit.; Langer, S. 240f., und Burkhardt, Der Dreißigjährige Krieg, S. 226; zu Camerarius: Friedrich Hermann Schubert: Ludwig Camerarius 15731651 (= Münchener historische Studien. Abt. Neuere Geschichte, Bd. 1). Kallmünz 1955; ferner NDB, Bd. 3, S. 105-107. 114 Vgl. dazu Mentz, S. 324; Zu den Propagandaschriften gegen die Universalmonarchie von kaiserlicher und französischer Seite vom 15. bis 18. Jahrhundert vgl. Bosbachs typologische Untersuchung: Franz Bosbach: Monarchia Universalis. Ein politischer Leitbegriff der frühen Neuzeit (= Schriftenreihe der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Bd. 32). Göttingen 1988 (im folgenden zitiert als Bosbach, Monarchia Universalis). 115 Vgl. Langer, S. 242, und Burkhardt, Der Dreißigjähriger Krieg, S. 227f. 116 Göran Rystad: Kriegsnachrichten und Propaganda während des Dreissigjährigen Krieges. Die Schlacht bei Nördlingen in den gleichzeitigen, gedruckten Kriegsberichten (= Publications of the New Soeiety of Letters at Lund, Bd. 54). Lund 1960. 117 Vgl. dazu Langer, S. 242, und Repgen, Kriegslegitimationen, S. 76-83. 118 Burkhardt, S. 228-230 und weitere Literatur dazu: ebd., S. 289. 119 Rystad, S. 3. 120 Burkhardt, Der Dreißigjährige Krieg, S. 230.

II. Öffentliche Meinung und absolutistischer Staat

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jährige Krieg einen Schub von Medienneugründungen auslösten. 121 Flugschriften und Drucke im Dienst des absolutistischen Staates waren während des Dreißigjährigen Krieges üblich und zeitigten ohne Zweifel ihre Wirkung. Nicht umsonst bemerkte Georg Friedrich von Waldeck in bezug auf den Dreißigjährigen Krieg, daß Kriege fortan "mit Gerüchten" geführt würden. Und eine anonyme holländische Flugschrift aus dem Jahr 1657 gibt einen Dialog zwischen einem Kaufmann und einem Prediger wieder, in dem der eine zum anderen bemerkt: "Versichert Euch, daß die beyde Wörtlein: Augspurgische Konfession und Teutsche Libertät der schwedischen Nation hiebevor im Teutschen Krieg mehr genutzt haben als 50.000 Türcken oder Cosacken."122 Für den Dreißigjährigen Krieg und die Folgezeit Ende des 17. und Anfang des 18. Jahrhunderts konstatiert Gestrich zu Recht ein zunehmendes Interesse weiter Teile der Bevölkerung an außenpolitischen Fragen. Die Greuel des Dreißigjährigen Krieges, die keinen Teil der deutschen Bevölkerung verschonte, sensibilisierten auch Unter- und Mittelschichten für mächtepolitische Auseinandersetzungen, die jetzt zu einer existentiellen Bedrohung eines jeden Menschen wurden. Auch die Tages- und Wochenpresse, ursprünglich angetreten, um Informationen wiederzugeben, konnte nicht mehr länger unparteiisch bleiben. Sie berichtete von Elend und Grausamkeiten und nahm durch die Weitergabe solcher Informationen Stellung. Sie klagte an und wurde selbständiger. Damit wurde sie auch für außenpolitische Fragen zu einem Machtfaktor: "Aus Gründen der Handlungs- und Herrschaftslegitimierung kam der künstlerischen und publizistischen Propaganda absolutistischer Herrscher auch in bezug auf mächtepolitische Auseinandersetzungen zentrale Bedeutung zu."123 Es bestand eine Notwendigkeit, auch Details tagespolitischer Entscheidungen und ihre Begründungen mit stark legitimierenden Charakter durch typographische Erzeugnisse oder Einwirkung auf die bestehende Presse an eine breite Öffentlichkeit zu tragen.

121 Jürgen Wilke: Geschichte als Kommunikationsereignis. Der Beitrag der Massenkommunikation beim Zustandekommen historischer Ereignisse. In: M. Kaare und W. Schulz (Hgg.): Massenkommunikation (= Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, Sonderheft 30). Opladen 1989, S. 57-71 (im folgenden zitiert als Wilke, Geschichte als Kommunikationsereignis), hier: S. 57. In diesem Zusammenhang vgl. auch Wilkes ebd. niedergelegte bedenkens werte Gedanken über die "Massenkommunikation als geschichtsbildende Größe", die die gegenseitige Befruchtung und ein wechselseitiges Bedingungsverhältnis von historischem Ereignis und Massenkommunikation feststellen. 122 Zitiert nach: Ruth Elsner von Gronow: Die öffentliche Meinung in Deutschland gegenüber Holland nach 1648. Diss. Marburg 1914, hier: S. 16. 123 Gestrich, S. 12. Vgl. allgemein für diese Zusammenhänge die Arbeit von Franz Matsche: Die Kunst im Dienst der Staatsidee Karls VI. Ikonographie, Ikonologie und Programmatik des "Kaiserstils" (= Beiträge zur Kunstgeschichte, Band 16/1 und 2), 2 Bde. BerlinlNew York 1981, bes. Bd. 1, S. 20ff. und 343ff.

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B. Einführende Bemerkungen und Forschungsüberblick

Zeitgleich entwickelte sich auch im Musterstaat des Absolutismus, in Frankreich, wie oben erwähnt, unter Richelieus Schirmherrschaft ein gesteigertes Interesse an gezielter Propaganda im Staatsinteresse auf typographischer Plattform. Dies galt auch und besonders für die französische Presse. 124 Die Notwendigkeit der Legitimierung von herrschaftlicher Autorität und Handeln vor einer breiten Öffentlichkeit hob der englische Diplomat, Staatstheoretiker und Freund Lisolas, Sir William Temple, in seinem 1672 erschienen "Essay upon the Original and Nature of Government" hervor, auf den Bauer hinwies. 125 Maßstab für die Stärke oder Schwäche einer Regierung - so Temple - sei die allgemeine, öffentliche Meinung. Entfremde sich die Regierung von den Sympathien der Öffentlichkeit, so verliere ihre Autorität an Boden: "A general Change of Opinion concerning the Person or Party like to be obeyed or fellowed by the greatest or strongest part of the People: According to which, the Power or Weakness of each is to be measured ... So as in effect all Government may be esteemed to grow strong or weak, as the general opinion of these Qualities in those that govern is seen to lessen or increase." 126 Grundsätzlich wurde die Zugehörigkeit der auswärtigen Politik zum Arkanbereich der Regierung im Zeitalter des absolutistisch regierten Staates anerkannt. Später verteidigte Rousseau dieses Monopol der Regierung. 127 Sogar die mit der Außenpolitik eng verwobene Geheimdiplomatie und die öffentliche Meinung sind fast niemals als Gegensätze empfunden worden. Zunächst aus Legitimationszwängen der Regierung, dann aber auch als propagandistische Waffe, traten außenpolitische Zusammenhänge - gesteuert und in Teilen - aus den Arcana Imperii an die Öffentlichkeit. So konnte z.B. die Androhung der Publizierung eines Geheimvertrages durch einen Vertragspartner den anderen, der sich 124 Vgl. dazu Howard M. Solomon: Public Welfare, Science and Propaganda in seventeenth Century France: The Innovations of Theophraste Renaudot. Princeton 1972, bes. S. 100ff.; Henri-Jean Martin: Le Livre fran~ais sous l'Ancien Regime. Paris 1987 (im folgenden zitiert als Martin, Livre), hier: S. 133-142; sowie die umfassende Arbeit von Michele Fogel: Les ceremonies de l'information dans la France du XVIe au milieu du XVIIe siede. Paris 1989 (im folgenden zitiert als Fogel, Ceremonies); näheres zur Situation in Frankreich s.u. Kap. C. I. 125 Bauer, Öffentliche Meinung, S. 12f. Die Bedeutung von Temples Leben und Werk - in der älteren Historiographie viel beachtet aber auch umstritten - bedürfte dringend einer neueren Wertung. 126 Zitiert nach der von H. Swift besorgten Ausgabe der Werke Temples: The Works of Sir William Temple. 2 Bde. 2. Aufl. London 1731, hier: Bd. I, S. 98f.; in diesem Zusammenhang ist auch die Legitimierung von Kriegen vor der öffentlichen Meinung zu sehen, die an die Bellum-Iustum-Lehre Thomas von Aquins anknüpft; vgl. dazu den Überblick bei Repgen, Kriegslegitimationen, S. 71-76, sowie die Charakterisierung von frühneuzeitlichen Kriegsmanifesten: ebd., S. 76-83; ferner: Burkhardt, Der Dreißigjährige Krieg, S. Ilf. 127 Ernst Fraenkel: Öffentliche Meinung und internationale Politik (= Recht und Staat, Heft 255/256). Tübingen 1962, S. 18.

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anschickte, wortbrüchig zu werden, unter Druck setzen, die tatsächliche Veröffentlichung ihn öffentlich diffamieren. 128 Publizität und Publizierung wurde zu einem Instrument der staatlichen Propaganda. Gleichzeitig betrieb die unabhängige Publizistik ihrerseits seit dem Dreißigjährigen Krieg die Thematisierung zeitgenössischer außenpolitischer Streitfragen. 129 Gestrichs weiterführende Argumentation sieht in der Zunahme der politischen Information, die von den Fürsten zur Herrschaftslegitimierung und -stabilisierung benutzt wurde, Ansätze zu einer Eigendynamik, die für den absolutistischen System bald zu einer existentiellen Bedrohung werden sollte. Der absolutistische Staat im späten 17. Jahrhundert bereitete mit dieser Öffnung den Boden für jene allmähliche Trennung von Staat und Untertan, für die bürgerliche Emanzipation von der Obrigkeit, wie sie hundert Jahre später in der Aufklärung ihren vorläufigen Höhepunkt finden sollte: "Nicht weil der Absolutismus die Bürger von jeder Teilhabe am Staat ausschloß, sondern weil er wegen seines strukturellen Legitimitätsdefizits immer weiteren Kreisen der Untertanen Einblick in seine Geheimnisse geben mußte, entfaltete sich gewissermaßen 'autopoietisch' die Kritik am Staat."130 Aus dieser Perspektive werden die Defizite in Habermas' Erklärungsmodell für den frühneuzeitlichen Fürstenstaat überdeutlich. Ein Modell zur Entwick128 Ein Beispiel dafür ist der geheime Teilungsvertrag über das spanische Erbe, den Leopold I. für den Fall einer Vakanz auf dem spanischen Thron unter französischem Druck am 19.1.1668 unterzeichnete. In den folgenden Jahrzehnten setzte Frankreich den Kaiser mit der Drohung der Veröffentlichung dieses Vertrages mehr als einmal unter Druck; dazu s.u.S. 143f. und vgl.: Leopold Auer: Konfliktverhütung und Sicherheit. Versuche zwischenstaatlicher Friedenswahrung in Europa zwischen den Friedensschlüssen von Oliva und Aachen 1660-1668. In: H.Duchhardt (Hg.): Zwischenstaatliche Friedenswahrung in Mittelalter und Früher Neuzeit (= Münsterische Historische Forschungen, Bd. 1). KölnlWien 1991, S. 155183 (im folgenden zitiert als Auer, Konfliktverhütung). 129 Kunisch weist beispielsweise in diesem Zusammenhang auf das 1712 erstmals erschienene Kompendium des als königlichen Hofgerichtsreferenten tätigen C.H.Schweder, "Theatrum historicum ... ", hin. Durch die Offenlegung der erbrechtlichen Hintergründe der Dynastien seiner Zeit sollte Einfluß auf das mächtepolitische Geschehen genommen werden. Schweders Absicht sei es gewesen, "zugleich einen Diskurs darüber zu eröffnen, was bislang noch selbstbewußt und diktatorisch zu den 'arcana imperii' gezählt wurde." Insofern sei die Veröffentlichung Beispiel für einen "Beitrag zu dem, was als 'Strukturwandel der Öffentlichkeit' umschrieben worden ist.": Johannes Kunisch: Der Nordische Krieg von 1655 - 1660 als Parabel frühneuzeitlicher Staatenkonflikte. (Erweiterte Fassung des gleichnamigen Aufsatzes in: H.Duchhardt (Hg.): Rahmenbedingungen und Handlungsspielräume europäischer Außenpolitik im Zeitalter Ludwig XIV. (= ZHF, Beiheft 11) Berlin 1991, S. 9-42) In: Johannes Kunisch: Fürst - Gesellschaft - Krieg. Studien zur bellizistischen Disposition des absolutistischen Fürstenstaates. Weimar/Wien 1992, S. 43-82 (im folgenden zitiert als Kunisch, Nordischer Krieg), hier: S. 48. 130 Gestrich, S. 26. 4 Baumanns

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lung der bürgerlichen und literarischen Öffentlichkeit, das die hier beschriebene Ambivalenz und den politischen Charakter einer breiten Öffentlichkeit im absolutistischen Staat nicht wahrnimmt und diese auf repräsentative Öffentlichkeit beschränkt, erklärt die Zusammensetzung der Öffentlichkeit im Zeitalter des Absolutismus nur unzureichend und verkennt damit die Sprengkraft, die bereits in der Gesellschaft des absolutistischen Staates für die Entwicklung einer aufgeklärten Gesellschaft angelegt war. 3. Steuerungsinstrumente des absolutistischen Staates

Ebenso schnell wie die absolutistische Machtelite lernte, gedruckte Presseerzeugnisse als Propagandamittel zu handhaben, wurden die Steuerungsinstrumente für die Informationspolitik auf typographischer Ebene entwickelt: Gegendarstellung, Bestrafung, Einfuhrverbote, das Verschweigen von Informationen, z.B. über innere Unruhen, und, als wichtigste Mittel, die Zensur und die Privilegienvergabe für typographische Medien. Der Wiener Hof war im späten 17. und 18. Jahrhundert schon früh damit erfolgreich, in der eigenen Residenzstadt und in seinem Machtbereich Organe zu errichten, die die eigene Außenpolitik offen oder versteckt unterstützten, indem sie sich Publizisten dienstbar machten. 131 Zensur, Nachrichtenselektion, Einflußnahme auf Zeitungsgründungen durch Privilegienvergabe, all dies waren Maßnahmen, die Fritsch, im Rahmen der erwähnten Zeitungsdiskussion auf die Gefahr unkontrollierter Veröffentlichung hinweisend, gefordert hatte: "Darum liegt es überhaupt im öffentlichen Interesse, die wahllose Verbreitung und Bekanntmachung von Neuen Zeitungen im Staate nicht zu gestatten. So pflegen· . weisere Fürsten sie als Selbstverständlichkeit ganz zu verbieten oder doch durch gewisse Vorkehrungen zu beschränken. Denn dafür haben die Fürsten zu sorgen, da es ja vor allem in ihren Pflichtenkreis fällt, auf jede Weise dafür vorzusorgen, daß der Staat keinen Schaden nehme."132 a) Zensur Seit Bestehen des Buchdrucks war sich die Obrigkeit über die Möglichkeiten des Mißbrauchs der Informationsverbreitung im klaren. Die Legitimität der Pressekontrolle war unbestritten. Sie ergab sich aus der Allzuständigkeit der weltlichen und geistlichen Herrscher für die Belange des Staatswesens. Geistliche und weltliche Zensur wurde gegen ketzerische Drucke erlassen. Die Zensur wurde relevant und brisant, als das mittelalterliche Prinzip, nach dem immer vorab entschieden werden konnte, welche Informationen sozialisiert werden durf131 132

Vgl. Duchkowitsch, Absolutismus und Zeitung, S. 26. Zitiert nach ebd., S. 28.

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ten, von der Entwicklung des freien Marktes für typographische Werke abgelöst wurde. Die skriptographische Informationspolitik hatte noch wirksame Instanzen, die Approbation und Weitergabe von für Wert erachtetem Wissen von vornherein zu organisieren. Da der Kunst des Schreibens lange nur das Personal obrigkeitlicher Instanzen, wie Kirche und Staat, mächtig waren, bestand eine Präventivzensur über das, was geschrieben werden sollte und konnte. Dies entsprach auch der mittelalterlichen Wirtschaftsordnung, die im wesentlichen eine Auftragsproduktion darstellte. Mit der Erfindung des Buchdrucks kehrte sich dieser Produktionsvorgang zeitlich um: "Man druckte und verbreitete seine Texte und überließ es anschließend dem Markt und dem nachträglichen Meinungsstreit, welche Informationen zum Gemeingut wurden." 133 Gegen diese Reihenfolge wandte sich die Papstkirche und kritisierte damit Luthers Werkveröffentlichungen: "Die zentrale Planbewirtschaftung von Informationen, die der altgläubigen Partei vorschwebte, konfligierte mit der freien Marktwirtschaft, die als Medium für die Verbreitung typographischer Informationen genutzt wurde."134 Unbeeindruckt von diesen Konflikten errichteten einzelne Bürger und Handwerker Institutionen und Druckereien und veröffentlichten, was ihnen ökonomisch einträglich erschien; eine Vorzensur konnte nicht stattfinden. Die erste bekannte kirchliche Zensur gegen typographisch erstellte Schriften erließ Sixtus IV. gegen häretische Schriften. 135 Das Mainzer Zensuredikt von 1485 erließ ein Übersetzungsverbot in die deutsche Sprache für Schriften, die nicht vorher durch eigens bestimmte Doctores und Magistros der Universität dazu autorisiert wurden. 136 Maximilian I. belegte in der ersten kaiserlichen Zensur gegenüber Gedrucktem 1512 die "den Juden förderlichen, dem Christglauben nachteiligen Bücher des Dr. Johannes Reuchlin" mit einem Druck- und Verbreitungsverbot. 137 Allgemein wurde im 16. Jahrhundert konfessionell bestimmte Zensuren beider Streitparteien und solche der staatlichen Obrigkeit gegenüber allzu feinsinniger Berichterstattung erlassen.l3 8 Maximilians Nachfolger Karl V. erließ im Zusammenhang mit den Reichsabschieden von Nürnberg (1524), Speyer (1529) und Augsburg (1530) verschiedene Zensurauflagen sowohl für weltliche als auch geistliche Stellen. Dabei wurde die weltliche Zensur im wesentlichen als ein verlängerter Arm der Kirche angesehen, und nicht selten waren die von den 133 Giesecke, S. 185f. 134 Ebd., S. 186. Die "Übersetzung" alter Zustände in der frühen Neuzeit in modernes Vokabular durch Giesecke problematisiert Neddermeyer nicht zu Unrecht: Neddermeyer, S. 206f. 135 Giesecke, S. 442. Zur kirchlichen Zensur zur Reformationszeit vgl. zusammenfassend : Joan Hemels: Pressezensur im Reformationszeitalter (14751648). In: H.-D. Fischer (Hg.): Deutsche Kommunikationskontrolle des 15. bis 20. Jahrhunderts. München u.a.1982, S. 13-35, hier S. 15-23. \36 Giesecke, S. 178f. 137 Ebd., S. 442; vgl. auch Hemels, S. 24. \38

4'

Giesecke, S. 444.

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Fürsten eingesetzten Personen Geistliche. 139 Erst in einem allmählichen Prozeß im Laufe des 17. Jahrhunderts bis weit ins 18. Jahrhundert hinein begannen sich weltliche und geistliche Zensur voneinander zu trennen, und es fand eine Entklerikalisierung von Zensurbehörden statt,140 Die erste reichs gesetzliche Bestimmung, die sich ausdrücklich nur auf weltlich-politische Schriften bezog, stammt aus dem Jahr 1715. 141 Ein anderes Spannungsfeld tat sich wegen der Zuständigkeit für Zensurbestimmungen zwischen Kaiser und Territorialfürsten auf. Die Reichspolizeiordnung von 1577 faßte die bis dahin erlassenen Zensurbestimmungen zusammen. Die Ordnung richtete sich gegen konfessionelle Druckerzeugnisse, die den politischen Frieden im Reich gefährdeten. Sollte sich die landesherrliche Obrigkeit als unfähig erweisen, die Unterbindung zu gewährleisten, so behielt sich die . kaiserliche Zensur ausdrücklich ein Einschreiten vor. In bezug auf die Zensur wurde das Reich in seiner Gesamtheit als überregionale Einheit, der Kaiser als übergeordnete Instanz betrachtet, 142 Am 16. März 1608 erließ Rudolph 11. eine "Constitution, wegen der Bücher Visitation", nach der die Buchhändler alle Bücher vor dem Verkauf bei der Büchervisitation anmelden mußten und Titel, Druck und Erscheinungsort wahrheitsgemäß aufzuführen hatten. Rudolfs Patent versuchte eine Verschärfung der Zensur zu erreichen und richtete sich an die Mitglieder der kaiserlichen Buchkommission in Frankfurt, Das Patent wurde gedruckt und an allen zentralen Orten zu jedermanns Kenntnis ausgehängt,143 Die Bücherkommission war das wichtigste Instrument der kaiserlichen Zensurpolitik im Reich. 1496 war in Straßburg ein Vorläuferinstrument gegründet worden, ein "Generalsuperintendent des Bücherwesens in ganz Teutschland". Über dessen Befugnisse und den Umfang des Bücherrechts kam es bald zum Streit zwischen Kaiser und Reichsständen. 144 Die Bücherkommission war seit 1579 eine Einrichtung, die unmittelbar vor der Abhaltung der Buchmesse in Frankfurt einberufen wurde und dann die vorgelegten Bücher über139 Vgl. Lindemann, Bd. 1, S. 53f., und Schneider, S. 32f. 140 Ebd., S. 33f. 141 Ulrich Eisenhardt: Die kaiserliche Aufsicht über Buchdruck, Buchhandel und Presse im Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation (1496-1806). Ein Beitrag zur Geschichte der Bücher- und Pressezensur (= Studien und Quellen zur Geschichte des deutschen Verfassungsrechts, Reihe A, Bd. 3). Karlsruhe 1970, hier: S. 58-60. Ältere Arbeiten zur politischen Zensur sind meist als Regionalstudien angelegt; vgl. Theodor Wiedemann: Die kirchliche Bücher-Zensur in der Erzdiözese Wien. In: AÖG, Bd. 50, 1873, S. 213-520; E. Krause: Zur Geschichte der Censur in Preußen im Anfang des 18. Jahrhunderts. In: Archiv zur Geschichte des deutschen Buchhandels, Bd. 7, 1892, S. 268-271; G. Sommer: Die Zensurgeschichte des Königreichs Hannover. Quakenbrück 1929. 142 Vocelka, S. 34f. 143 Ebd., und Lindemann, Bd. 1, S. 58. 144 Eisenhardt, S. 10.

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wachen sollte. Zu einer ständigen Kommission wurde sie im Jahr 1597. Mit Rudo1phs Patent von 1608 konzentrierte sie sich besonders auf das antikatholische Schrifttum und versuchte, eine Präventivzensur durchzusetzen. 145 Wie auf vielen anderen Gebieten gab es auch bei der Zensur Kompetenzstreitigkeiten zwischen Ständen und Kaisertum. Mit dem kaiserlichen Edikt von 1521 wurde potentiell die Vorzensur für alle in Druck gehenden Schriften eingeführt. Die landesherrlichen Obrigkeiten hatten das Recht und die Pflicht, über die Einhaltung dieser Bestimmung zu wachen. Kamen sie ihrer Pflicht nicht nach, wurden sie gegenüber dem Kaiser und der aufsichtsführenden Behörde, dem kaiserlichen Fiskal beim Reichskammergericht, strafbar. 146 Die Reichspolizeiordnung von 1577 sah vor, daß die kaiserlichen Organe sich selbst des FaUs annehmen konnten, wenn die zuständigen landesherrlichen Institutionen ihren Pflichten nicht oder ungenügend nachkamen. Dieses Kontrollsystem über die Einhaltung der Zensur blieb im wesentlichen so bis 1806 bestehen. Hemels faßt zusammen: "Es war also Sache der Landesherren, darauf zu achten, daß in ihren Territorien keine unzensierte Schriften hergestellt und verbreitet wurden. Ihnen oblag auch die Bestrafung derjenigen, die gegen die Reichsgesetze verstoßen hatten. Recht und Pflicht des Kaisers dagegen war es, darüber zu wachen, daß die Landesherren und ihre Behörden die ihnen durch die Reichsgesetze auferlegten Verpflichtungen erfüllten. Um dem Reichsrecht zur Durchsetzung zu verhelfen, konnte der Kaiser säumige landesherrliche Behörden und sogar Landesherren selber bestrafen und notfalls einen gerade anstehenden FaU durch seine eigenen Organe verfolgen lassen. Der Kaiser übte somit die Oberaufsicht über das Bücher- und Pressewesen im gesamten deutschen Reich aus. Zur Wahrnehmung dieses Aufsichtsrechtes bediente sich der Kaiser im wesentlichen seines Reichshofrates ... , der Bücherkommission in Frankfurt und seiner Fiskale."147 Ähnlich wurden die Kompetenzen zwischen Reichsstädten und Kaiser im Laufe der Zeit geregelt. 148 Ein konkurrierendes und stets unaufgelöstes Verhältnis bestand zwischen Kaiser und Landesherrn bei der Erteilung von Druckprivilegien. Auch nach dem Wegfall des Gottesgnadentums des Herrschers und dem Aufkommen der Vertragstheorie als theoretische Grundlegung des absolutistischen Staates war das Hoheitsrecht des Souveräns über die Bücher- und Presseaufsicht unbestritten. Das sechste von mehreren Rechten, die Hobbes in seinem "Leviathan" zur Ordnung des vertraglich grundgelegten Staates dem Souverän zuerkennt, gebietet ihm: 145 Ebd., S. 40 und 64. 146

Hemels, S. 24f.

147 Ebd., S. 25f. 148 Vgl. dazu: Jürgen Fromme: Kontrollpraktiken während des Absolutismus (1648-1806). In: H.-D. Fischer (Hg.): Deutsche Kommunikationskontrolle des 15. bis 20. Jahrhunderts. München u.a. 1982, S. 36-55, hier S. 44f.

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B. Einführende Bemerkungen und Forschungsüberblick "... darüber Richter zu sein, welche Meinungen und Lehren dem Frieden abträglich sind und welche dazu führen, und folglich, bei welchen Anlässen, wie weitgehend und bei was man den Menschen überhaupt vertrauen darf, wenn sie Reden an Volksmengen halten, und wer die Lehren aller Bücher vor Veröffentlichung überprüfen soll. Denn die Handlungen der Menschen entspringen ihren Meinungen, und eine gute Lenkung der menschlichen Handlungen, die Frieden und Eintracht unter ihnen bewirken soll, besteht in einer guten Lenkung ihrer Meinungen. Und obwohl in den mit Lehre zusammenhängenden Fragen ausschließlich an die Wahrheit zu denken ist, so steht dem doch ihre Regelung aus Gründen des Friedens nicht entgegen.,,149

Rechtlich wurde die Aufsicht über das Presse- und Buchwesen als kaiserliches Regal analog zum Post- oder Münzregal verstanden. Politisch gerechtfertigt wurde sie durch die "Arcana Imperii" sowie durch das Verlangen, davor bewahrt zu bleiben, durch Frage und Kritik zur unerwünschten Rechenschaft aufgefordert zu werden. ISO Der Westfälische Frieden schärfte das Verbot, den Religionsfrieden durch schriftliche Polemik zu untergraben, ein. In Artikel V. § 50 des Osnabrücker Friedensvertrages heißt es: "Die Behörden beider Bekenntnisse sollen mit Ernst und Strenge verhindern, daß jemand öffentlich oder privat in Predigten, Lehren, Disputationen, Schriften oder Ratschlägen (concionando, docendo, disputando, scribendo, consulendo) den Passauer Vertrag, den Religionsfrieden und insbesondere den gegenwärtigen Vertrag und seinen Wortlaut an irgendeiner Stelle bestreitet, in Zweifel zieht oder zuwiderlaufende Behauptungen daraus abzuleiten versucht (uspiam impugnet, dubiam faciat aut assertiones contrarias inde deducere conetur)."ISI Im Anschluß an den Westfälischen Frieden setzte in der Schaffung und Durchsetzung von Zensurbestimmungen im Deutschen Reich eine Flaute ein, die erst zu Beginn des 18. Jahrhunderts von neuer Aktivität auf diesem Sektor abgelöst wurde. 152 Auch in Wien versuchte der Kaiser, die den Wiener Buchdruckern schon während der letzten Jahrzehnte des 16. Jahrhunderts auferlegte Präventivzensur auf 149 Thomas Hobbes: Leviathan. Hg. von I. Fetscher. Frankfurt 1984, S. 139f. Zenkert wies zuletzt auf Hobbes' Empfehlung über einen strategischen Umgang mit der öffentlichen Meinung im Sinne des Machterhalts hin: Georg Zenkert: Die Macht der öffentlichen Meinung. In: Der Staat, Bd. 31, 1992, Heft 3, S. 321-345, hier: S.322-324. 150 Vgl. Jürgen Wilke: Leitideen in der Begründung der Pressefreiheit. In: M. Bobrowski I W. Duchkowitsch I H. Haas (Hgg.): Medien- und Kommunikationsgeschichte. Wien 1987, S. 92-104 (im folgenden zitiert als Wilke, Leitideen), hier: S.93. 151 Abgedruckt bei Arno Buschmann (Hg.): Kaiser und Reich. Klassische Texte und Dokumente zur Verfassungsgeschichte des Hl. Römischen Reiches Deutscher Nation. München 1984, S. 331. 152 Schneider, S. 53f.

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das Pressewesen im Laufe des 17. Jahrhunderts zu übertragen. Ziel war die Verhinderung sowohl politisch wie konfessionell unbotmäßiger Literatur und Berichterstattung. 153 Den Wiener Buchdruckern wurde 1621 befohlen, ihre Druckwerke der Universität Wien zur Approbation vorzulegen. Da die Jesuiten Träger der Universität waren, kam ihnen zunächst die Vormachtstellung in der Wiener Zensurpolitik zu. Unter Ferdinand III. lösten sich allmählich magistrale und bischöfliche Zensurgewalt auf. 1628 wurde zusätzlich eine Wiener Bücherkommission unter Kardinal Khlesl eingerichtet, deren Abgrenzung zu den Jesuiten nicht ganz eindeutig war. Auch später klagte Leopold I. mehrmals über die Wirkungslosigkeit der Zensurpolitik und ernannte selbst einen Zensor an der Universität. Der niederösterreichischen Regierung am Wiener Hof wurde schließlich, spätestens seit 1668 endgültig, die Oberaufsicht und die Befehlsgewalt über die Universität als Zensurbehörde zugesprochen. 154 Die älteste kaiserliche Zensur, die in Wien Zeitungen betraf, stammt aus dem Jahr 1632 und bezog sich auf handschriftliche Zeitungen, die ja durchaus noch eine Zeitlang neben den gedruckten existierten. Die älteste Zensur, die gedruckte Zeitungen betraf, wurde 1646 erlassen. Bis dahin, also noch recht lange, ging der Hof in Wien selbst mit einer gewissen Unbekümmertheit mit diesen weit verbreiteten Medien um. Eine der kaiserlichen Bücherkommission ähnliche Einrichtung existierte zur gleichen Zeit auch in Frankreich. Nach dem Tod Richelieus wurde die französische Bücheraufsicht zunächst nachlässiger gehandhabt. 1661 existierte in Frankreich eine Fülle von Druckereien, die sogar oppositionelle Schriften der Fronde oder der Jansenisten druckten. 1666 führte Colbert die Zensurkommission wieder ein und stattete sie mit einer ausgezeichnet funktionierenden Organisation und - im Vergleich etwa zum kaiserlichen Gegenstück - mit weit gehenden Kompetenzen aus. Die Anzahl der Druckereien wurde auf 30, die der königlichen Drucker auf fünf oder sechs festgelegt; insgesamt 56 Zensoren (im Jahr 17(0) wachten über die Einhaltung königlicher Bestimmungen. Nach dem Tod Colberts bekleidete Louvois das Aufsichtsamt über diese effiziente Behörde, den "Maitre de la Librerie".155

153 Helmut W. Lang: Die deutschsprachigen Wiener Zeitungen des 17. Jahrhunderts. Diss. Wien 1972 (im folgenden zitiert als Lang, Wiener Zeitungen), hier: S. 49. 154 Über das Spannungs verhältnis von weltlicher und geistlicher Zensurhoheit in Wien vgl. Duchkowitsch, Absolutismus und Zeitung, bes. S. 82f, 120ff. und 127f. 155 Vgl. dazu H.C. Mac Pherson: Censorship under Louis XIV. (1661-1715). New York 1929; H.-J. Martin: Livres, pouvoirs et Societe a Paris au XVIIe siede (15981701). 2 Bde. Genf 1969 (im folgenden zitiert als Martin, Livres, pouvoirs et Societe), hier: Bd. I, S. 442f. und 462-466; Klaits, S. 35ff.; Corvisier, S. 280f.; Daniel Roche: La police du Livre. In: Chartier/Martin, Bd. 2, S. 84-91, hier: S. 84; Ders.: La censure. In: Chartier/Martin, Bd. 2, S. 26-83.

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B. Einführende Bemerkungen und Forschungsüberblick b) Privileg

Im Rahmen der erwähnten Zeitungsdiskussion empfiehlt Kaspar Stieler in seinem "Zeitungs Lust und Nutz" von 1695 den Zeitungsrnachern das Ersuchen um die Präventivzensur oder eine behördliche Privilegierung. Nur so könnten sie sich der Verantwortung für das Gedruckte entledigen und seien im Fall einer Zensurüberprüfung durch die Obrigkeit entlastet: "Thun sie derhalben wol I wann I mit der Obrigkeit Vorwissen und Genehmhaltung I sie das Neue in die Druckerey geben und darmit sich aller Verantwortung befreyen I zumal I wenn es also an einem Orte herkommens ist I daß ein Aufseher darüber gehalten wird I welcher die Novellen censiret und prüfet I wie weit und sicher sie unter das Volck kommen mögen I und diese Prüfer I oder Censores müssen alsdann davor stehen I und den Zeitungs-Ausgeber vertreten. ,,156 Das Instrument, auf das Stieler hier anspielt, ist das von der Obrigkeit ausgegebene Privileg für ein Druckwerk oder ein Periodikum. Bei Stielers Empfehlung deutet sich an, daß Repressionsmaßnahmen der Obrigkeit sehr wohl auch Vorteile für die Drucker und Zeitungsmacher haben konnten. Das gezielt angewandte Privileg war ebenso wie die Zensur seit den Anfängen des Buchdrucks ein wichtiges Instrument der landesherrlichen Pressepolitik. "Privilegia Impressoria" gehen zurück auf das kaiserliche Bücherregal. Zuständig für die Inspizierung und Respizierung dieses kaiserlichen Hoheitsrechtes war seit dem Ende des 17. Jahrhunderts die Bücherkommission in Frankfurt, wie aus entsprechenden kaiserlichen Dekreten von 1692 und 1708 hervorgeht. 157 Das Druckprivileg von 1650 für den Breslauer Buchhändler Christoph Jorisch gestattete die Herausgabe der wöchentlich einlaufenden Avisen nur unter der Bedingung, "daß nichts wider das Hochlöbliche Haus von Österreich, das Vaterland ... gedruckt werde."IS8 Unter gleichen Bedingungen wurden die erwähnten kaiserlichen Druckprivilegien für das Theatrum Europaeum und das Diarium Europaeum vergeben. An die Verleihung des Druckprivilegs war allerdings noch keine automatische Druckerlaubnis geknüpft. Diese war ausschließlich an die Zustimmung eines zuständigen Zensors gebunden. Ein Druckprivileg konnte sowohl vom Kaiser als auch von einigen Landesherren verliehen werden, die Zuständigkeiten scheinen da nicht ganz so eindeutig geregelt gewesen zu sein wie bei der Zensur. Kaiserliche Druckprivilegien jedenfalls entfalteten bis 1740 nicht nur in den österreichischen Erblanden, sondern auch in allen Reichsterritorien ihre Autorität. Kaiserliche Exekutive waren wie bei der Zensur das Reichskammergericht und der Reichshofrat; bei diesen mußte der Antrag auf eine Pri156 Zitiert nach Berns, Parteylichkeit, S. 212; vgl. auch Blühm, Deutscher Fürstenstaat, S. 289; und Köpeczi, S. 114f. 157 Eisenhardt, S. 10. 158 Bruno Schierse: Das Breslauer Zeitungswesen vor 1742. Breslau 1902, S. 19f.

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vilegerteilung gestellt werden. 159 Das Druckprivileg verstand sich als Präventivzensur; es wurde nur erteilt, wenn der Inhalt des Druckwerks loyal war. "Das Privileg verpflichtete seinen Inhaber zur Loyalität, was für den Herausgeber einer Zeitung Publikationsbegrenzung aus Staatsräson hieß."160 Verbunden mit dem Privileg war die Auflage an den Drucker, Freiexemplare an den Hof und zentrale Behörden zwecks nachträglicher Überprüfung zu senden. 161 Es gab wichtige Argumente für einen Zeitungsherausgeber und Drucker, in die Privilegienvergabe einzuwilligen. Die Gründe sind vor allem im ökonomischen Bereich zu suchen. Giesecke stellt dazu bereits für den Beginn des Buchdrucks fest: "Die Privilegierung kann als eine Anwendung des allgemeinen wirtschafts steuernden Patentrechts auf die speziellen Verhältnisse des gewerblichen Presse- und Nachrichtenwesens angesehen werden. Sie stellt die Vergesellschaftung von Informationen ... , die als 'nützlich' für das Gemeinwohl der Gesellschaft angesehen werden, unter den besonderen Schutz der politischen Macht."162 Das Privileg diente dem Schutz des Druckers vor Plagiaten und Nachdrucken. Es bestand also ein wechselseitiges Geben und Nehmen zwischen Verleger und politischer Obrigkeit in dieser Frage. Bereits nach der Jahrhundertwende zum 16. Jahrhundert erklärten sich Landesherren und Magistrate in Deutschland zunächst vereinzelt, aber seit den 20er Jahren überraschend schnell und einhellig bereit, Druckern Privilegien für bestimmte Werke auf eine bestimmte Zeit - für meist nicht länger als zehn Jahre - zu gewähren. Nachdrucke anderer Verleger wurden während dieses Zeitraumes unter Strafandrohung und Konfiszierung verboten. 163 Diese Praxis übertrug sich im 17. Jahrhundert auch auf das Zeitungswesen. Der Fürstenstaat erkannte seinerseits zumindest vereinzelt den fiskalischen Wert der Presse. So kam es beispielsweise in Sachsen nach jahrzehntelangen erbitterten Konkurrenzkämpfen im Leipziger Zeitungs gewerbe Ende des 17. Jahrhunderts zu einem dauerhaften Pachtverhältnis zwischen Staat und Zeitungsexpedition. Die "Leipziger Zeitung" wurde Staatseigentum, mit dem Postwesen verbunden und an einen Herausgeber verpachtet, der an den Fürst regelmäßige Zahlungen leistete. "Absolutistischer Staat und kapitalkräftige 159 160

Duchkowitsch, Absolutismus und Zeitung, S. 29ff. Blühm, Deutscher Fürstenstaat, S. 303.

161 In Berlin lagen Zensur- und Privilegienaufsicht 1632 in der Hand eines Geheimen Rates, 1682 bei einem Geheimsekretär; Stuttgart besaß seit 1648 das Amt einer Herzoglichen Oberraths-Expedition; in Innsbruck war Erzherzog Ferdinand Karls Hofkanzlei 1649 zuständig; der Erzbischof von Salzburg hatte 1668 einen Rat und Cammerer mit dieser Aufgabe betraut; vgl.: Blühm, Fürstenhöfe, S. 304. 162 Giesecke, S. 445f. 163 Ebd., S. 449; vgl. dazu auch: Friedrich Lehne: Zur Rechtsgeschichte der kaiserlichen Druckprivilegien. Ihre Bedeutung für die Geschichte des Urheberrechtes. In: MIÖG, Bd. 53, 1939, S. 323-408.

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B. Einführende Bemerkungen und Forschungsüberblick

Presse konnten kein Interesse daran haben, sich das Leben schwer zu machen."164 Weitere Formen intensiver Zusammenarbeit auf dem Gebiet des Anzeigenwesens und der Berichterstattung über Hofnachrichten und Korrespondenten stützen diese These Blühms. 165 Natürlich konnten Privilegien Plagiate und Streitigkeiten um Privilegien nicht ganz ausschließen. Auch waren gefälschte Privilegien für Zeitungen und Bücher im Umlauf. Doch boten die Privilegien erste Sicherheiten in einem marktorientierten Bereich - und als solchen muß man das auf Konkurrenz begründete Zeitungswesen gleich nach dessen Aufkommen ansehen -, der in ein traditionell zentralistisch geordnetes Wirtschaftsleben als Novum eingetreten war. c) Wertung staatlicher Steuerungsmechanismen Faßt man die Ergebnisse der historischen Presseforschung über die Steuerungsmechanismen des Fürstenstaates im Zeitalter des Absolutismus zusammen, so stößt man auf ein Wechselverhältnis von Obrigkeit und Zeitungsrnachern. Die vermeintlichen Repressionsinstrumente, vor allem das Privileg, aber auch die Zensur, entpuppen sich als Elemente einer Entwicklung, die bis zum Urheberrecht unserer Tage reicht. Über die Wertung der Wirksamkeit der Zensur ist man sich in der neueren Forschung weitgehend einig. Giesecke stellt für das 15. und 16. Jahrhundert fest: "In Deutschland gingen die Zensurbestrebungen ... trotz aller drakonischen Strafandrohungen letztlich nicht an den Lebensnerv der neuen Produktions- und Verteilungsmechanismen von Informationen."I66 Zwar gab es vereinzelt Listen von Büchern, die zu drucken verboten bzw. erlaubt waren, aber dies war eher untypisch. Im Prinzip überließ man die "Visitation" oder "Approbation", wie die Zensur meist genannt wurde, der Willkür der einzelnen Städte. Ähnliches gilt auch für das Zeitungswesen im 17. Jahrhundert. "Man kann nicht sagen, daß die Zensur in den Landesfürstentümern immer und überall mit besonderer Strenge durchgeführt worden wäre. Ein Blick auf die Zensurpraxis in den Freien Städten zeigt, daß man dort ... vorsichtiger und penibler war ... Im allgemeinen scheint sich die Pressepolitik eines deutschen Fürstenstaates, sofern er sie betreiben konnte, auf die Beobachtung der fremden und auf die Beaufsichtigung der eigenen Zeitungen konzentriert zu haben."167 Die Gründe für die nur eingeschränkte Wirksamkeit der Zensur sieht Giesecke darin, daß man mit der Vorstellung einer zentral gesteuerten Informationsweitergabe dem Phänomen Buchdruck, das selbst anderen, nämlich den Markt- und Profitgesetzen pluralistischer Natur gehorchte, beizukommen versuchte. Besonders die Präventivzensur mußte deshalb Blühm, Deutscher Fürstenstaat, S. 308. 165 Ebd., S. 308ff.; Lang, Wiener Hof, S. 601. 166 Giesecke, S. 463. 167 Blühm, Deutscher Fürstenstaat, S. 304f.

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scheitern; die Marktkräfte erwiesen sich als stärker. 168 Nur das Privilegienwesen lag im wirtschaftlichen Interesse und setzte sich deswegen aus anderen als den beabsichtigten repressiven Gründen als Vorläufer des Patent- und Urheberrechts und daher als das wirksamere Steuerungsinstrument durch. "Von einem einseitigen Abhängigkeitsverhältnis der Zeitungen kann nur in Einzelfällen die Rede sein. Beider Interesse trafen sich. Der Drucker war auf die fürstliche Huld angewiesen. Er brauchte sein Privileg, um sich die Konkurrenz vom Halse halten zu können. Die staatliche Macht erkannte sehr schnell, daß sie der Dienstleistung der Presse bedurfte." Es bestand eine "Notwendigkeit der wechselseitigen Nutznießung." "Fürstenstaat und Presse im 17. Jahrhundert mußten nicht nur miteinander leben, sie lebten in gewisser Weise auch voneinander."169

4. Aktive Pressepolitik am Wiener Hof unter Leopold I. "Zur Zeit des Regierungsantritts Leopolds hatte sich das Wiener Pressewesen längst konsolidiert. Wien war Sammel- und Ausgangspunkt vieler Postlinien und gehörte zu den bedeutendsten Nachrichtenumschlagplätzen Europas."170 In der politisch bewegten Regierungszeit Leopolds war das Interesse des Hofes groß, für eine regierungskonforme Berichterstattung zu sorgen. Von seiten des Hofes wurde versucht, den gedruckten Zeitungen mit Hilfe der Zensur beizukommen. Die immer noch in Fülle erscheinenden geschriebenen Zeitungen entzogen sich dieser Regierungskontrolle, sofern sie nicht ganz verboten wurden. Gegen Ende der 60er Jahre des 17. Jahrhunderts hatten Zeitungen in Wien ein solches Ansehen erreicht, daß der Hof zu Mitteln einer aktiveren Pressepolitik griff. Ein Mittel bestand in der Neugründung von gedruckten Zeitungen. Auf diese Weise entstand der im Februar 1671 vom Wiener Druckerverleger Matthäus Cosmerovius gegründete "New ankommende Currier". Er wurde staatlich subventioniert und hatte offiziösen Charakter. Cosmerovius, der Giesecke, S. 467. Blühm, Deutscher Fürstenstaat, S. 312 und 309. Ob die hier umrissene Pressepolitik des absolutistischen Staates mit ihren Steuerungsinstrumenten nicht als ein weiterer Akt der "Sozialdisziplinierung" des Staates gegenüber seinen Untertanen - den Begriff führte Oestreich als konstituierendes Merkmal des absolutistischen Staates ein - zu werten ist, bliebe zu diskutieren; vgl. Gerhard Oestreich: Strukturprobleme des europäischen Absolutismus. Zunächst erschienen in: VSWG, Bd. 55, 1969, S. 329-347. Wiederabgedruckt in: Ders.: Geist und Gestalt des frühmodernen Staates. Ausgewählte Aufsätze von Gerhard Oestreich. Berlin 1969, S. 179-197. 170 Vgl. dazu und zu folgendem: Helmut W. Lang: Der Wiener Hof zur Zeit Leopolds I. und die öffentliche Meinung. In: A. Buck / G. Kauffmann / B.L. Spahr / C. Wiedemann (Hgg.): Europäische Hofkultur im 16. und 17. Jahrhundert (=Wolfenbütteler Arbeiten zur Barockforschung, Bd. 8). 3 Bde. Hamburg 1981 (im folgenden zitiert als Lang, Wiener Hof), Bd. 3, S. 601-605, hier: S. 601. 168 169

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B. Einführende Bemerkungen und Forschungsüberblick

nebenher noch andere Blätter herausgab, pflegte in der Berichterstattung des "Currier" engen Kontakt zum Hof. Das Blatt bot eine tagebuchartige Darstellung vom Alltagsleben des Kaisers und des Hofes. Von der hohen Politik war allerdings nur selten die Rede, und es überwogen Beschreibungen von Zeremoniellem, Personalangelegenheiten und Äußerlichkeiten mit beschränktem politischen Gehalt. Dennoch, und das war das Ziel des Wiener Hofes, fand der "Currier" schon bald europaweite Verbreitung. Er diente auswärtigen Zeitungen als Quelle. Teile wurden oft wörtlich in anderen Blättern nachgedruckt. Nachweisbare Abonnenten waren beispielsweise die Höfe in Dresden und Moskau und verschiedene Klöster. Auf diese Weise gelang dem Wiener Hof eine nicht zu unterschätzende Beeinflussung anderer Zeitungen und ihrer Leser. Auf die übrigen Wiener Zeitungen, die in Europa weit verbreitet waren, wirkte der Hof ein, indem er durch zeitlich limitierte Privilegien die unmittelbare Abhängigkeit der Drucker vom Hof stets betonte. Wurde Unbotmäßiges gedruckt, verlor der Drucker das Privileg für sein Blatt. Daneben wurden den Zeitungsredaktionen Nachrichten über die kaiserliche Familie und den Hof in Form von Zeremonialprotokollen und Informationen über Personal veränderungen, sowie über An- und Abreise von ausländischen Gesandten zur Verfügung gestellt. Agenten fremder Höfe und Korrespondenten, die gewerbsmäßig ihre Nachrichten vom Wiener Hof an auswärtige Blätter verkauften oder bei diesen angestellt waren, erfuhren eine Art von Pressebetreuung durch den Wiener Hof, indem bestimmten Beamten und Offizieren gestattet wurde, bestimmte Informationen weiterzugeben. Als besonders wirkungsvolles Instrument kaiserlicher Pressepolitik zur Beeinflussung der öffentlichen Meinung erwies sich die gezielte Veröffentlichung von personen bezogenen Informationen im "Currier", durch die den Rezipienten die Möglichkeit gegeben wurde, sich scheinbar mit den Informationen zu identifizieren. Damals wie heute erfreute sich der Klatsch von fürstlichen Höfen größter Beliebtheit. Auch nichtperiodische Drucke wurden als Mittel der Meinungsbildung eingesetzt. Lang erwähnt als Beispiel die Rechtfertigungsschriften, die der kaiserliche Hof im Zusammenhang mit der Hinrichtung der Führer der ungarischen Magnatenverschwörung 1671 schreiben ließ. Die Untersuchung des publizistischen Werkes Lisolas und der Reaktion des Wiener Hofes wird zu diesem Bereich Ergänzungen und Korrekturen geben. Die Forschungen Langs haben erwiesen, daß der Wiener Hof die Beeinflussung der öffentlichen Meinung, bzw. der Rezipienten von Zeitungen und politischen Druckwerken, als staatsstabilisierendes Element erkannt hatte und durch verschiedene Formen einer aktiven Pressepolitik umsetzte.

III. Öffentlicher Meinungsstreit in politischen Flugschriften

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IH. Öffentlicher Meinungsstreit in politischen Flugschriften der frühen Neuzeit - Gattungsbestimmung und Historiographie Druckerzeugnisse. die auf Breitenwirkung angelegt waren. spielten in allen Zeiten und besonders seit den Refonnationswirren in der frühen Neuzeit eine nicht zu unterschätzende Bedeutung für die Meinungsbildung weiter Teile der Bevölkerung. 171 1. Flugschriften - eine Begriffsbestimmung

Der Flugschrift ähnlich in seiner Verbreitung. aber mit kleinerem Umfang. meist nur aus einer Seite bestehend. oft illustriert durch einen Holz- oder Kupferstich. wurde das Flugblatt als ein Träger des Gedankenguts der Refonna-tion in Deutschland genutzt. Über den knappen Umfang. die ausgeprägte Bildlichkeit der Darstellung und eine Vereinfachung des Streitgegenstandes hin-aus läßt sich wenig Verbindliches über fonnale Kriterien des Flugblattes sagen. Gerade diese Charakteristika aber verstärkten nicht nur die Wirkung ihrer Spra-che. sondern wandten sich besonders an die Aliteraten. erweckten ihre Neugier und machten jene. die sonst vom politischen Streit ausgeschlossen waren. zum Publikum. das umworben wurde. l72 So wenig sich eine bestimmte Gruppe als Autoren von Flugblättern ausmachen läßt - Flugblätter wurden von kaiserlichen und fürstlichen Höflingen aus Propagandazwecken. aber ebenso von Druckern. Zeitungsmachern. Lehrern. Akademikern und Klerikern verfaßt -. so wenig läßt sich auch die Leserschaft der Flublätter definieren: "Although it is true that certain broadsheets were aimed at a specific audience. the c1ear split between the educated elite and the common folk that was consciously mutured in bell eslettres is not nearly as evident in political broadsheets."173 Flugblätter wurden wie Einblatt-Zeitungen durch werbendes Ausrufen von Zeitungssingern dem leseunkundigen Publikum bekannt gemacht. Sie gingen - einmal dort oder im Buchhandel erworben - von Hand zu Hand. wurden als Raumdekoration genutzt und erreichten selten mehr als eine (geschätzte) Auflage von 200 bis 300 Stück. 174 Gewisse inhaltliche Merkmale erlauben eine weitere Kategorisierung 171 Bosbach behauptet: "Wie die Geschichte Europas zeigt. wurden politische Auseinandersetzungen zu allen Zeiten von öffentlich verbreiteten Schriften begleitet. die parteilich das Geschehen kommentierten." vgl. Bosbach. Feindbilder. Einleitung. S. X. 172 Vocelka. S. 173 lohn Roger

33. Paas: The German Political Broadsheet 1600-1700 (bisher 2 Bde. für den Zeitraum von 1600-1615 und 1615-1619). Wiesbaden 1985 und 1986. hier: Bd. 1. S. 21f. 174 Ebd .• S. 24. Im Zusammenhang mit der propagandistischen Wirkung des

Flugblattes während der Reformationswirren und des Barock in Deutschland ist die Erforschung und Dokumentation dieser Quellengattung vor allem durch die Germanistik relativ weit gediehen; vgl. W. Harms / J.R. Paas / M. Schilling / A. Wang:

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B. Einführende Bemerkungen und Forschungsüberblick

von Einblattdrucken und Flugblättern. Sie waren meist religiösen oder politischen Inhalts und wurden als Träger von offiziellen Mandaten, Bekanntmachungen genutzt. Auf diese Weise wurden Lieddrucke, astronomische Drucke wie Kalender, Wetterprophezeiungen sowie Einblatt-Zeitungen mit Berichten über Sensationen, Kuriositäten und politischen und historischen Ereignissen veröffentlicht. 175 Die Übergänge zwischen Flugblättern, Zeitungen und Flugschriften waren fließend. Eine Unterscheidung zwischen den vielfältigen Formen des Flugblatts und der Flugschrift ist aber aufgrund gewisser grob-formaler Kriterien möglich. 176 Zedlers Universallexikon lehnt sich in seiner Definition der Flugschrift eng an den juristischen Gehalt des Wortes "öffentlich" an: "Libellus famosus, oder diffamatorius, ein Famos-Libell, Schmäh-Karte, Schmähe Schrifft, Pasquill, ist eine gewisse geschriebene Unbild, durch welches, mit Auslassung des Urhebers Namen, ein gewisses und famoses Laster einem vorgeworfen, und unter das Volck ausgesprenget wird."I77 "Famosus Libellus, ein Paßquill, ist eine solche Schrifft, welche von einem verborgenen Auctore animo infamandi ist ans Licht gegeben worden, und einem

Illustrierte Flugblätter des Barock. Eine Auswahl (= Deutsche Neudrucke. Reihe: Barock, Bd. 30). Tübingen 1983; darin die Einleitung von Wollgang Harms und Michael Schilling: Zum illustrierten Flugblatt der Barockzeit, S. VII-XVI; Wollgang Harms: Lateinische Texte illustrierter Flugblätter. Der Gelehrte als möglicher Adressat eines breit wirksamen Mediums der frühen Neuzeit. In: A. Schöne (Hg.): Bildungsexklusivität und volkssprachliche Literatur - Literatur vor Lessing - nur für Experten? (= Akten des VII. Internationalen Germanisten-Kongresses, Bd. 7). Tübingen 1986, S. 74-85. Zum Forschungsstand vgl.: Michael Schilling: Bildpublizistik der frühen Neuzeit. Aufgaben und Leistungen des illustrierten Flugblatts in Deutschland bis um 1700 (= Studien und Texte zur Sozialgeschichte der Literatur, Bd. 29). Tübingen 1990; sowie die typologische Untersuchung von Wollgang Harms: Feindbilder im illustrierten Flugblatt der frühen Neuzeit. In: Bosbach, Feindbilder, S. 141-178. 175 Vgl. dazu Christoph Weismann: Die Beschreibung und Verzeichnung alter Drucke. Ein Beitrag zur Bibliographie von Druckschriften des 16. bis 18. Jahrhunderts. In: H.-J. Köhler (Hg.): Flugschriften als Massenmedium der Reformationszeit (= Tübinger Beiträge zur Geschichtsforschung, Bd. 13). Stuttgart 1981, S. 447-614, hier: S. 499. 176 HarmslPaas/Schilling/Wangs' Verweigerung einer Unterscheidung zwischen diesen Gattungen der frühen publizistischen Drucke verwundert und ist wenig hilfreich: "Man hatte offenbar nicht das Bedürfnis, zwischen Flugblatt, Einblattdruck, Plakat und Flugschrift eindeutig zu differenzieren; wir können daher nicht auf das Vokabular jener Zeit selbst zurückgreifen, wenn wir die einzelnen publizistischen Phänomene des 17. Jahrhunderts unterscheiden wollen. Der Versuch, allzu scharf die Grenzen zwischen dem illustrierten Flugblatt und seinen Nachbarphänomenen umreißen zu wollen, wäre nicht zeit- und sachgemäß.", S. VII. 177 Zedler, Bd. 17, Sp. 773.

III. Öffentlicher Meinungsstreit in politischen Flugschriften

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ein Verbrechen, nach welchen auf den, so es begangen, Infamia, oder eine EhrenVerletzung käme, beymisset."178 "Libellus, ist eine kurtze und ordentlich verfaste und vor dem ludice competente producirte Schrifft, woraus des Klägers Intention und Ursach, warum er einen andern zu belangen befugt sey, erhellet, und er wahrscheinlich an Tag giebt." 179 Zedlers Universallexikon definiert eine Flugschrift - als Synonyme Pasquill, Libell, Pamphlet - also nach inhaltlich zu generalisierenden Merkmalen. In der Flugschrift ergreift ein Kläger anonym das Wort, um Anklage gegen eine mißliebige Person zu erheben. Die Flugschrift war auf ihren Charakter als Guristisehe) Streitschrift festgelegt. Im Gegensatz zum Flugblatt hatte die Flugschrift meist einen erheblich größeren Umfang; umstrittene Sachverhalte konnten ausführlich und eingehend dargelegt werden. Die Flugschrift besaß dadurch intensivere und differenziertere Betrachtungsmöglichkeiten als etwa das Flublatt. Ebenso wie das Flugblatt konnte die Flugschrift auch den Charakter einer Propagandaschrift besitzen und wurde auch meist so genutzt. Sie war darauf angelegt, Meinungen zu beeinflussen. Sie war von der Anlage her tendenziös, besaß oft satirischen Charakter und war ein Produkt tagespolitischer Ereignisse und nicht für die Ewigkeit geschrieben. "Die Flugschrift war ebenso wie das Flugblatt auf raschen billigen Absatz eingestellt... Die wanderten von Hand zu Hand, wurden rasch gelesen, lebhaft besprochen und verschwanden bald. Schon früh übersetzte man Flugschriften in fremde Sprachen und verkaufte sie im Ausland."180 Unter Berücksichtigung der Schwierigkeiten und Lückenhaftigkeit einer Definition des Mediums Flugschrift hat Köhler eine für die Flugschriften der Reformationszeit brauchbare Definition gefunden: "Eine Flugschrift ist eine aus mehr als einem Blatt bestehende, selbständige, nichtperiodische und nicht gebundene Druckschrift, die sich mit dem Ziel der Agitation (d.h. der Beeinflussung des Handelns) und / oder der Propaganda (d.h. Beeinflussung der Überzeugung) an die gesamte Öffentlichkeit wendet."181

178 Ebd., Bd. 9, Sp. 209. 179 Ebd., Bd. 17, Sp. 769. 180 Moult, S. 34f. 181 Hans-loachim Köhler: Fragestellung und Methoden zur Interpretation frühneuzeitlicher Flugschriften. In: Ders. (Hg.): Flugschriften als Massenmedium der Reformationszeit (= Tübinger Beiträge zur Geschichtsforschung, Bd. 13). Stuttgart 1981, S. 1-28 (im folgenden zitiert als Köhler, Fragestellung), hier: S. 3. Die Definition fußt auf seinen Forschungen in: Ders.: Die Flugschriften. Versuch der Präzisierung eines geläufigen Begriffs. In: FG für E.W. Zeeden, hg. von H. Rabe, H.Molitor und H.-C. Rublack. Münster 1977, S. 36-61. Weitere, aber nicht so knappe und präzise Definitionsversuche bei P.l. W. van Malssen: Louis XIV. d'apres les pamphlets repandus en Hollande. Paris 1937, S. 1-13; Hubert Carrier: Pour une definition du Pamphlet: Constantes du genre et caracteristiques originales des textes

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B. Einführende Bemerkungen und Forschungsüberblick

2. Verschiedene Flugschrijtentypen Für eine gültige Definition für die im 17. Jahrhundert kursierenden Flugschriften ist die Untersuchung charakteristischer Merkmale, die sich durch die Beantwortung der Fragen, die die Lasswell-Formel aufgestellt hat, hilfreich. Ein solcher Zugang in die inhaltliche Analyse ermöglicht auch die weitere Unterscheidung und Abgrenzung von anderen Flugschriftentypen, wie Manifest, Denkschrift etc., die in der Forschung berücksichtigt wurden. Bei seiner Untersuchung der deutschen Publizistik in den Jahren 1668-1674 umschrieb Haller bereits diese Fragen durch die Problematisierung seiner Quellengrundlage: Um den Quellenwert von Flugschriften zu bestimmen, sei es unerläßlich, "sich klar zu machen, welchem Ideen- und Partei kreise die einzelne Schrift entstammt, ob sie nicht etwa bestimmte Zwecke verfolgt und welches diese sind. Vor allem wird man stets die Frage stellen müssen: haben wir es mit einer spontanen Äußerung der öffentlichen Meinung zu tun oder mit dem Versuch einer beteiligten Persönlichkeit, auf den Leser in bestimmtem Sinne zu wirken, also öffentliche Meinung zu machen? ... auf die Stimmung weiter Kreise haben auch im Zeitalter absoluter Fürstenmacht die Regierungen größeren Wert gelegt, als man von vornherein glauben sollte. "182 Mentz problematisierte die Quellengattung Flugschrift hinsichtlich ihres Publikums folgendermaßen: "Man hat in letzter Zeit vielfach seine Aufmerksamkeit zugewandt, dabei zuweilen aber nicht genügend berücksichtigt, daß auch ein großer Teil dieser Schriften offiziösen Ursprungs ist. Ihr Zweck ist, die öffentliche Meinung zu beeinflußen, aber sie sind nicht selbst die öffentliche Meinung."183 Knapp ein Jahrhundert später stellt Bosbach in bezug auf die Tendenz von Flugschriften fest: "Die parteiliche Stellungnahme zu politischen Abläufen wurde als Kriterium für die Einordnung einer Schrift in diese Gruppe genommen, weil eine weitergehende Unterscheidung, etwa in regierungsoffizielle Propaganda im Gegensatz zu privaten Publikationen in den meisten Fällen nicht möglich iSt."184 Im folgenden stellt Bosbach sein Differenzierungsmodell der einzelnen Flugschriftenarten vor. Vor dem Hintergrund solcher methodisch-quellenkritischer Überlegungen lassen sich Flugschriften in vier Gattungen unterteilen, bei

polemiques du XVIe siecIe. In: Le Pamphlet en France au XVIe siecIe (=Collection de I'Ecole Normale Superieure de Jeunes Filles, Bd. 25). Paris 1983, S. 123-136. 182 Haller, Publizistik, S. 2f. 183 Mentz, S. 315. 184 Bosbach, Universalmonarchie, S. 15. Gerade bei neueren Untersuchungen wie bei Bosbach oder Stolleis -, die Flugschriften als Quellengrundlage benutzen, vermißt man übrigens die Beachtung des offiziellen oder des privaten Charakters einer Schrift, also die Aussage, ob es sich um öffentliche Meinung oder um eine von einer Autorität gesteuerte Meinung handelt, die Haller und Mentz angemahnt haben.

III. Öffentlicher Meinungsstreit in politischen Flugschriften

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der Hallers Aufteilung - mit einigen Abweichungen und Ergänzungen - die größte Plausibilität zukommt. Als erste Gattung von Flugschriften seien die offiziellen Flugschriften oder Manifeste angeführt. Hierbei handelt es sich um Deduktionen, Gegendeduktionen und Manifeste, die Fürsten und Regierungen herausgaben, um damit an die Öffentlichkeit zu appellieren. In ihnen wurden z.B. durch die Veröffentlichung von diplomatischen Briefwechseln das eigene außenpolitische Handeln interpretiert, kommentiert und begründet. 185 Noten ausländischer Gesandter am Hof konnten vor der offiziellen Übergabe an den Fürsten bereits veröffentlicht werden, um auf diese Weise den politischen Druck auf den Fürsten verstärken. Unter diese Kategorie fallen sowohl Kriegslegitimationen und die Publizierung speziell bearbeiteter zwischenstaatlicher Verträge, ebenso wie die Veröffentlichung des Gravelschen Memorials vom 1. Mai 1673 durch Lisola. 186 Ebenso zu dieser Kategorie sind die drei gleichzeitig publizierten Protestschreiben des schwedischen Gesandten am Wiener Hof, Esaias von Pufendorf, an den Kaiser anläßlich der Gefangennahme Wilhelms von Fürstenberg auf dem Kölner Kongreß im Frühjahr 1674 zu zählen. 187 Diese Schriftstücke waren offizielle Verlautbarungen an einen oder mehrere Adressaten, wurden aber an geeigneter Stelle und zu geeignetem Zeitpunkt als Politikum mit propagandistischer Funktion veröffentlicht. Sie erschienen einzeln, aber oft auch in größeren Sammlungen, in Londorps Acta publica, in Chroniken und Gazetten, wie dem Theatrum Europaeum oder dem Diarium Europaeum, oder wurden in stärker tendenziöse Chroniken eingearbeitet, in Valckeniers Verwirrtes Europa beispielsweise. Adressaten dieser offiziellen Verlautbarungen waren in erster Linie die Akteure der äußeren Politik, Fürstenhöfe, Diplomaten, Staatsbedienstete, Staatsmänner, und in zweiter Linie Gelehrte und Geistliche. Eine weitere Gattung von Flugschriften bilden die Relationen. Diese Bezeichnung setzte sich in der Forschung für Flugschriften durch, die in scheinbar - objektiver Art über vergangene Ereignisse Tatsachenberichte brachten. 188 Zeitgenössische Titel solcher Flugschriften waren z.B. "Copia Schreibens" oder "Extract Schreibens". Relationen bestanden aus Chroniken und Schlachten berichten. Auch sie wurden im Theatrum Europaeum und Diarium Europaeum abgedruckt. Der Große Kurfürst ließ einen seiner Offiziere einen Bericht über die Schlacht bei Warschau für das Theatrum Europaeum entwerfen, damit dieses für den Aufstieg Brandenburgs so entscheidende Ereignis im rechten Licht erschien. 189 Verfasser von Relationen waren Spione, Agenten und 185 186 187 188 189

Bosbach, Universalmonarchie, S. 15f., und Haller, Publizistik, S. 9f. S.u. S. 365f. Vgl.u. Kap. 0.11.3.

Mozelt, S. 38, und Haller, Publizistik, S. 8. Mentz, S. 314.

5 Baumanns

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B. Einführende Bemerkungen und Forschungsüberblick

Gesandte, die solche Nachrichten zu politischen Zwecken und im offiziellen Auftrag in dieser Form lancierten. Parteiische Tendenz und propagandistische Funktion dieser Flugschriften sind eindeutig. Die Dokumentationen des bereits erwähnten Kanzleienstreits sind ebenso unter diese Kategorie zu fassen wie etwa die Veröffentlichung des kompromittierenden Briefwechsels zwischen Lisola, Kramprich und Maximilian Heinrich von Köln durch Verjus und Wilhelm von Fürstenberg in den "Lettres et autres pieces curieuses", ein Beispiel antikaiserlicher propagandistischer Absichten der frankophilen Reichsdiplomatie. 19o Eine zeitgenössische Zusammenstellung solcher halboffizieller und offizieller Flugschriften für die 2. Hälfte des 17. Jahrhundert bietet auch "Der Verkleidete Götter-Both / Mercurius ... Gedruckt im 1674sten Christ-Jahr", von dem 1675, 1677 und 1687 Fortsetzungen erschienen. 191 Ebenso wie bei den Manifesten waren auch hier die Akteure des politischen HandeIns und Staatsbedienstete an den Fürstenhöfen die Adressaten der Flugschriften. Die dritte Gattung von Flugschriften umfaBt Streitschriften und Traktate, in denen mehr oder weniger unabhängige Zeitgenossen, Gelehrte, Diplomaten und Beamte zur Feder griffen. Es ging hierin ausschließlich um tagespolitische Ereignisse, um aktuelle politische Streitfragen. Die Autoren blieben fast immer anonym, obwohl Eingeweihten die Verfasser bekannt gewesen sein dürften. Sie verfolgten unterschiedliche Intentionen bei ihren Veröffentlichungen. Sie schrieben aus Eifer und Idealismus - so Lisola und Frischmann -, aus dem Wunsch nach größerem Ansehen beim Dienstherrn - wie etwa Fran~ois de Callieres und Boineburg l92 - oder um ihren politischen Ansichten, auch in Absprache mit der Obrigkeit, bei einer breiteren Öffentlichkeit Geltung zu verschaffen und dadurch Handlungsträger zu beeinflussen - wie Lisola, die Brüder Verjus, Gottfried von Jena, Boineburg, Leibniz u.a. 193 Der Gestaltungsmöglichkeit waren keine Grenzen gesetzt: nüchterne juristische Abhandlung wurden ebenso verfaßt wie fingierte Briefwechsel zwischen zwei Streitparteien, Streitgespräche und ironische Satiren. Bei dieser Art von Flugschriften konnten sich neben politischer Aussagekraft auch künstlerische und kreative Begabungen und Phantasien entfalten. Streitschriften wurden zur Plattform von Argument Vgl. u.Kap. D.m. Haller, Publizistik, S. 8. Die Ausgabe von 1687 - aus dem französischen Original übersetzt - erschien unter dem Titel "Historischer und Politischer Mercurius, vorstellendt den itzigen Zustand Europae und grosser Herren Interesse, sambt allen von einen Monat zum anderen an Höfen und im Felde vorlauffenden und mit einigen Politischen Bedencken erläuterten Staats-, Kriegs- und Friedens-Sachen." in Köln; Fundort z.B.: VB Köln, Sign. GB XI 513d. 192 Zu de Callieres vgl. die Einleitung zu Neuherausgabe und Kommentierung eines seiner Hauptwerke "De la Maniere de negocier", 1716 u.ö. durch: H.M.A. Keens-Soper und K. W. Schweizer (Hgg.): Fran90is de Callieres: The Art of Diplomacy. New York 1983; zu seiner Person vgl. DBF, Bd. 7, S. 902f. 193 Zu den einzelnen Publizisten s.u. Kap. C.I. und C.II. 190

191

III. Öffentlicher Meinungsstreit in politischen Flugschriften

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und Gegenargument. Zur Schrift erschien nicht selten eine direkte Antwort und Erwiderung. Auch Paralleldrucke von Original und Erwiderungen waren häufig. Autoren solcher Schriften konnten durchaus von Fürsten protegiert werden, es gab auch Auftragsarbeiten. Die meisten der Schriften Lisolas sind diesem Genre zuzurechnen. Die Adressaten gingen über die politischen Akteure der beiden erstgenannten Gattungen hinaus. Je nach Art der Gestaltung wurde auch eine breitere, letztlich aber gebildete Öffentlichkeit in diese Form von Agitation miteinbezogen. Der Quellenwert solcher Schriften ist hoch, da sie "reich an Aufschlüssen über Vorgänge sind, die sich hinter den Kulissen der Diplomatie abspielen."194 Jedes größere politische oder militärische Ereignis veranlaßte die Veröffentlichung solcher Schriften. Im 17. Jahrhundert erschienen sie in Buchform, in vielen Übersetzungen und in großer Verbreitung, je nach dem, ob das Werk Anklang fand oder nicht. Erfolgreiche Schriften wurden zusätzlich in zeitgenössischen Chroniken und Gazetten aufgenommen; auch hier sind wieder das Theatrum Europaeum und das Diarium Europaeum zu erwähnen. Titel solcher Schriften begannen häufig mit "Unpartheyisches Urtheil", "Wahrsager", "Gespräch", "Streitgespräch" oder "Anmerckungen".195 Das Vorwort eines Bandes des Diarium Europaeums, das sich an den Leser richtet, bezieht sich auf diese Streitschriften. Durch Beifügung unterschiedlicher Flugschriften verschiedener sich widersprechender politischer Anschauungen versuchte das Diarium Europaeum dem Leser einen Überblick über das Spektrum der Meinungen zu bieten und ihm auf diese Weise die Bildung einer eigenen Meinung zu ermöglichen: "Derselbe wird sich I seinem hochreiffen Urtheil nach I von selbsten zu beschneiden wissen I daß I wann unterschiedliche Partheyen Krieg miteinander führen I dieselbe ihr vermeyntes Recht nicht allein mit den Waffen I sondern auch mit der Feder zu behaupten sich bemühen. Gleichwie nun der bißherige Verleger deß Diarii Europaei sich jederzeit beflissen I sich aller Partheyligkeit zu enthalten: als hat derselbe auch hierinnen fortfahren.''' 96 Streitschriften kursierten besonders in Holland, den spanischen Niederlanden und in Deutschland. Auch innerhalb Frankreichs blühte seit dem Ende des 16. Jahrhunderts trotz harter Zensuren und Pressionen der illegale Austausch von Streitschriften zu kontrovrsen Themen, wie der Vertreibung der Hussiten, der Verfolgung von Protestanten und Personalentscheidungen am Hof. 197

194 Haller, Publizistik, S. 13; um so erstaunlicher ist die Tatsache, daß gerade dieses Genre von Flugschriften, mit Ausnahme der erwähnten Werke Bosbachs, in der modernen Historiographie wenig Beachtung gefunden hat. 195 Diese Titelsammlung wurde dem 28. Band des Diarium Europaeum von 1674 entnommen. 196 Einleitung des 29. Bandes des Diarium Europaeum von 1674. 197 Vgl. Bauer, Öffentliche Meinung, S. 242f. Näheres zur französischen Flugschriftenliteratur in Kap. c.r.

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B. Einführende Bemerkungen und Forschungsüberblick

An andere Adressaten richtete sich die Gelehrtenpublizistik, der theologische, philosophische aber vor allem der staatstheoretische, juristische und verfassungsrechtIiche Gelehrtendisput auf der Plattform der Flugschriften. In dem hier interessierenden Zusammenhang können unpolitische Flugschriften vernachlässigt werden. Erwähnenswert ist nur der große Bereich der Reichspublizistik, wo sich vor allem Juristen zu Wort meldeten, also die Gelehrtenpublizistik über Verfassung und Gestalt des Deutschen Reiches. Austragungsorte dieser Diskussionen waren neben der Publizistik auch die Universitäten. Durchaus gab es bei den Autoren Überschneidungen verschiedener Tätigkeitsfelder. Schriftsteller zu Themen des öffentlichen Rechts wurden durch eine diplomatische Tätigkeit, die sie neben ihrem Gelehrtendasein ausübten, in die praktische Politik und Staatsverwaltung an den Höfen eingebunden. 198 Als bekanntester Vertreter dieser Gattung von Streitschriften sei Samuel Pufendorf mit seinem "De Statu Imperii Germanici" von 1667 genannt. 199 Exkurs: Distribution von politischen Flugschriften im 17. Jahrhundert Für die Frage, wer den Rezipientenkreis stellte, der von politischer Flugschriftenliteratur erreicht wurde, und sie konsumieren konnte, ist ein Blick auf die Distributionsmechanismen und damit zusammenhängende Hintergründe des Buch-, Verlags- und Druckwesens von Bedeutung. Flugschriften wurden über den Buchhandel und fahrende Buchhändler vertrieben, und zwar nach marktwirtschaftlichen Prinzipien, wie das Giesecke für die frühen Drucke festgestellt hat. Politische Flugschriften wurden bei ihrer Vermarktung als Bücher behandelt. Nach dem Westfälischen Frieden erlebte der durch den Dreißigjährigen Krieg brachliegende Büchermarkt in Deutschland einen kurzen Produktionsschub, der sich bis zur zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts bei 826 neuen Titeln pro Jahr einpendelte.2OO Wittmann stellt eine blühen198 Stolleis , Reichspublizistik, S. 256; zur Gelehrtenpublizistik vgl. Dreitzel, op.cit. Klaus Malettke: Altes Reich und Reichsverfassung in französischen Traktaten des 17. Jahrhunderts. In: H. Duchhardt IE. Schmitt (Hgg.): Deutschland und Frankreich in der frühen Neuzeit. FS für Hermann Weber (= Ancien Regime, Aufklärung und Revolution, Bd. 12). München 1987, S. 221-258, weitet den Blick auf literarische Erzeugnisse französischer Gelehrter, für die die Verfassung des Deutschen Reiches ebenfalls Anlaß zu Reflexionen bot. 199 Erstausgabe unter dem Pseudonym Severini de Monzambano Veronensis: De Statu Imperii Germanici ad Laelium fratrem, dominus Trezolani, Iiber unus. Genevae, apud Petrum Columesium 1667; im folgenden wird nach der deutschen Ausgabe: Samuel Pufendorf Die Verfassung des deutschen Reiches, hg. von H. Denzer. Stutt~art 1984 (im folgenden zitiert als Pufendorf, Verfassung), zitiert. 20 So die Zahlen aus den Frankfurter und Leipzigern Buchmeßkatalogen. Zum Vergleich: zwischen 1610 und 1619 erreichte der deutsche Buchmarkt der frühen Neuzeit seinen Höchstand mit einem Jahresdurchschnitt von 1587 Neuerscheinungen, vgl.: Wittmann, S. 76. Für einen allgemeinen Überblick über den Buchhandel

III. Öffentlicher Meinungsstreit in politischen Flugschriften

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de Buchkultur in Deutschland vor Ausbruch des Dreißigjährigen Krieges fest. Eine Erholung von den kriegerischen Wirren und Zerstörungen fand, unter gewandelten Vorzeichen, erst viele Jahrzehnte später statt. In Deutschland war in dieser Zeit ein deutlicher Anstieg des volkssprachlich-nationalen Marktes, der auf der Leipziger Messe repräsentiert wurde, zu Lasten der Internationalität und Latinität des Buchwesens, das in Frankfurt anzutreffen war, zu verzeichnen. 201 Dies ennöglichte eine größere Rezeption der Bücher durch breitere Schichten. Der Buchhandel gliederte sich seit seinen Anfängen bis ins 18. Jahrhundert hinein in vier Marktzweige, die zunächst noch eng miteinander zusammenhingen, sich aber allmählich voneinander trennten. Der Drucker und Verleger genoß häufig eine finanzielle Absicherung als Hof-, Kanzlei-, Universitäts- oder Ratsbuchdrucker. Seine Haupteinnahmequelle lag bei der Veröffentlichung von amtlichen Schriftstücken, Gebet- und Erbauungsbüchern, Kalendern, vennehrt aber auch bei Flugschriften, "Neuen Zeitungen" und privilegierten Periodika. An ihn richtete sich die Privilegienerteilung der staatlichen Obrigkeit. 202 Die Verlagshäuser gaben sogar Verlagskataloge mit ihren Neuerscheinungen heraus. 203 Oftmals in Personalunion mit dem Druckerverleger gab es den Buchhändler, wenn auch der direkte Ladenverkauf gegenüber dem Markthandel auf Wochenund Tagesmärkten zweitrangig gewesen zu sein scheint. 204 Belieferten diese größeren Unternehmen überwiegend ein städtisches Publikum, erreichten andere Marktinstanzen auch die ländliche Bevölkerung. Die Buchbinder betrieben mit

bietet sich die Literatur im Deutschen Reich an. Sie ist nicht nur am besten erforscht, sondern war neben dem holländischen Buchhandel der am stärksten ausgebildete in Europa. In seinen Marktmechanismen ist der deutsche Buchhandel der frühen Neuzeit repräsentativ und mit dem holländischen vergleichbar. Bei den genannten Zahlen fehlen allerdings die politischen Flugschriften, die kaum auf den Buchmessen auftauchten, wie eine Durchsicht der Meßkataloge in der HAB Wolfenbüttel ergab. Auch die Schriften Lisolas, weder im französischen Original noch in der deutschen Übersetzung, sind hier aufgeführt. 201 Wittmann, S. 78. 202 Ebd., S. 81. 203 Vgl. dazu lose! Benzing: Die Buchdrucker des 16. und 17. Jahrhunderts im deutschen Sprachgebiet (= Beiträge zum Buch- und Bibliothekswesen, Bd. 12). Wiesbaden 1963 (im folgenden zitiert als Benzing, Buchdrucker); Ders.: Die deutschen Verleger des 16. und 17. Jahrhunderts. In: Archiv für Geschichte des Buchwesens. Separatdruck, Bd. 18, 1977 (Neubearbeitung der in der AGB 2 veröffentlichten Liste) (im folgenden zitiert als Benzing, Verleger); Helmut W. Lang: Die Buchdrucker des 15. bis 17. Jahrhunderts in Österreich. Mit einer Bibliographie zur Geschichte des österreichischen Buchdrucks bis 1700 (= Bibliotheca Bibliographica Aureliana, Bd. 42). Baden-Baden 1972 (im folgenden zitiert als Lang, Buchdrucker). 204 Wittmann, S. 79.

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B. Einführende Bemerkungen und Forschungsüberblick

ihrem Handwerk und einem ausgeprägten Wanderhandel ein Kleingewerbe und waren in zunftähnlichen Zusammenschlüssen organisiert. An die Adresse dieser drei Marktzweige gingen Lisolas Klagen, daß Buchhändler schlechte und gute Flugschriften zusammenbanden, um damit die qualitativ schlechteren Druckwerke besser verkaufen zu können. Oft würden auch Text und Anordnung so verändert, daß man seine eigenen Schriften nicht mehr wiedererkennen könne: "L'avidite des Iibraires qui ont rassemble quelques fragments mutiles et mal soudes ensemble de deux ou trois de ses ecrits, qu'ils ont livres aux presses avec tant des fautes que l'auteur lui-meme ne les reconnaissant meme plus."205 Die letzte Gruppe umfaßt Gelegenheitsbuchhändler wie Studenten, Geistliche und Kaufleute, die Bücher und Flugschriften neben anderen Waren vertrieben, damit durchs Land zogen und einen Großteil der ländlichen Bevölkerung auf Markttagen erreichten. 206 Bücher und Flugschriften wurden im 17. Jahrhundert eher über den Tauschhandel als über den Verkauf erworben. 207 Die Buchproduktion war daher oft weniger am Leser als vielmehr am Händler und seinen Absatzmöglichkeiten und -bedürfnissen orientiert. Besonders Flugschriften, die tagespolitische Ereignisse reflektierten, wechselten ihren Besitzer oft. 208 Höhe und Umfang der Auflagen von Flugschriften waren sehr unterschiedlich und lassen sich wie bei Flugblatt und Zeitung nur andeutungsweise und vorsichtig schätzen: bei flugschriften und Periodika des 17. Jahrhunderts wurden zwischen 500 und 1000 Exemplare pro Auflage ermittelt. Angaben, die Verleger über den Umfang einer Auflage machten, sind unzuverlässig, da sie nach oben und unten abgerundet .wurden. 209 Einige erfolgreiche und vieldiskutierte Flugschriften erreichten in ganz Europa zahlreiche Auflagen und Übersetzungen in bis zu sieben Sprachen so Lisolas Bouclier. 205 Franz Paul Lisola: Le Denouement des Intrigues du temps ... 0.0. 1673, Au Lecteur; näheres s.u. Kap. E.I11. 206 Vgl. Wittmann, S. 83. 207 Vgl. Christian Wagenknecht: Buchwesen und Literatur im 17. Jahrhundert. In: A. Schöne (Hg.): Stadt - Schule - Universität. Buchwesen und die deutsche Literatur im 17. Jahrhundert. Barock-Symposion der DFG 1974 in Wolfenbüttel. München 1976, S. 461-469, hier S. 467. Wittmann bezeichnete den Buchhandel der Barockzeit als "Tauschzeitalter": Wittmann, S. 421. Weiterführende und ältere Literatur zum Entstehen des modernen Buchhandels und zum Buchhandel des 17. Jahrhundert: ebd. S. 420ff.; vgl. auch das ausführliche Literaturverzeichnis in Gunter Grimm: Rezeptionsgeschichte. München 1977. 208 Vgl. Rudolf Meyer: Die Flugschriften der Epoche Ludwigs XIV. Eine Untersuchung der in schweizerischen Bibliotheken enthaltenen Broschüren (1661-1679). Basel I Stuttgart 1955, S. 15f. 209 Lindemann, S. 40.

III. Öffentlicher Meinungsstreit in politischen Flugschriften

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Der deutsche Buchmarkt war von Strafen und Repressionen der staatlichen Obrigkeit weitgehend verschont; eine wirksame Zensur konnte sich nie ganz durchsetzen und traf allenfalls Unvorsichtige. Demgegenüber standen Frankreichs Druckereien weitgehend unter strenger staatlicher Kontrolle. Die französische Polizei konnte jedoch einen blühenden Schmuggel mit politischer Flugschriftenliteratur nach Frankreich und das illegale Herstellen von "nouvelles ala main", dem französischen Pendant zu den deutschen "Neuen Zeitungen", in kleinen provinziellen Druckereien nicht verhindern. 210 Trotz, vielleicht aber auch gerade wegen der scharfen Beschränkungen, standen die französischen Autoren politischer Flugschriften überwiegend dem oppositionellen Lager nahe. 211 Die regierungsfeindlichen französischen Flugschriften wurden meistens in den Generalstaaten gedruckt und gelangten von da aus illegal in das Reich Ludwigs XIV.212 Auch innenpolitische Oppositions schriften verbanden sich in den Generalstaaten oft mit außenpolitischen Themen, die den Interessen Hollands oder nach 1688 auch denen Englands dienten. Die fremdländischen Autoren antifranzösischer Flugschriften arbeiteten mit den französischen Oppositionellen in Holland zusammen. Die Schriften erschienen anonym. Zusätzlich wurde ihre Herkunft durch fingierte Drucker und Druckorte verschleiert. 213 Charakteristische fingierte Druckorte solcher antifranzösischer Flugschriften französischer, englischer, deutscher, österreichischer oder holländischer Autoren sind die Stadtnamen Villefranche, Charleville, Cologne, Strasbourg oder Liege, die mit einer realen Stadt nichts zu tun hatten, bewußt irreführend eingesetzt wurden und meist Pseudonyme für holländische und niederländische Druckorte wie Rotterdam, Amsterdam, Leiden und Brüssel waren. 214 Eine Fiktion war auch das zuerst von Elzevier im Jahre 1660 verwendete Druckerpseudonym "Pierre du Marteau", unter dem auch einige Schriften Lisolas erschienen. Seit 1680 trat es 210 Vgl. Meyer, S. 27; vgl. auch den Fall Patin, in dessen Bibliothek die französische Polizei einen großen Bestand oppositioneller politischer Literatur gefunden hatte, u.a. Lisolas Bouclier, was wahrscheinlich zu seiner Ausweisung aus Frankreich führte; s.u. S. 340f. 211 Friedrich Kleyser: Der Flugschriftenkampf gegen Ludwig XIV. zur Zeit des pfälzischen Krieges (= Historische Studien, Bd. 270). Berlin 1935, S. 22. 212 Ebd., S. 23, und Leonce Janmart de Brouillant: La Liberte de la Presse en France aux XVIIe et XVIIIe siecles. Histoire de Pierre du Marteau, Imprimeur a Colo~ne. Paris 1888, S. 62. 21 Vgl. dazu die unverzichtbaren Handbücher Emil Wellers: Lexikon Pseudonymorum. Wörterbuch der Pseudonymen aller Zeiten und Völker. Regensburg 21886 (im folgenden zitiert als Weller, Pseudonyme), und Ders.: Die falschen und fingierten Druckorte. Repertorium der seit der Erfindung der Buchdruckerkunst unter falscher Firma erschienenen deutschen, lateinischen (Bd. I) und französischen (Bd. 2) Schriften. 2 Bde., Leipzig 21864. ND: Hildesheim 1960 (im folgenden zitiert als Weller, Druckorte). 214 Diese Beispiele sind den Schriften Lisolas, wie sie bei Weller zum Teil verzeichnet sind, entnommen: ebd., Bd. 2, S. 21 und 24-27.

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B. Einführende Bemerkungen und Forschungsüberblick

unter der Bezeichnung "A Cologne, chez Pierre Marteau" auf und war bis ins 19. Jahrhundert hinein unter der deutschen Übersetzung "Peter Hammer in Köln am Rhein" bekannt. 215 Andere fingierte und reale niederländische Drucker, bei denen auch Schriften Lisolas verlegt wurden, waren Jean Laurent im Haag und Arnoult Leers in Rotterdam - real Arnoult Leers der Ältere, der in Rotterdam von 1644 bis 1674 verlegte. 216 Hinter vielen dieser fingierten Orte und Verleger steckte das renommierte Verlagshaus Elzevier, das Niederlassungen in Leiden (1580/1581-1712), im Haag (1590-ca.1665), in Amsterdam (1638-1681) und Utrecht (1667-1675) hatte. 217 Das traditionsreiche Familienunternehmen erlebte Mitte des 17. Jahrhunderts in Leiden mit der Herausgabe von antiken Klassikern in Kleinformat (seit 1629), orientalischen Drucken und französischen literarischen Texten seine Blütezeit. Die Amsterdamer Niederlassung machte sich einen Namen mit der Herausgabe von griechischen, lateinischen und zeitgenössischen Autoren wie Descartes, Comenius und Hobbes in verschiedenen Übersetzungen. Besonders die Haager Niederlassung entwickelte sich in der 2. Hälfte des 17. Jahrhunderts zu einem europäischen Zentrum der Flugschriftenliteratur gegen Ludwig XIV. Lisolas Schriften hatten in diesem Haus einen beträchtlichen Marktanteil. 218

215 Kleyser, S. 24; ferner Weller, Druckorte, Bd. 2, S. VII. Zum Drucker Pierre Marteau vgl. Brouillant, S. 98f., und August Moeltzner: Zwanzig Jahre maskierte Druckerarbeit. Pierre du Marteaus Drucke aus den Jahren 1660-1680 in der königlichen Bibliothek zu Berlin. In: Beiträge zum Bibliotheks- und Buchwesen. FS für Paul Schwenke. Berlin 1913, S. 197-204. Moeltzner stellte fest, daß es sich bei Marteau um ein Drucker-Kollektivpseudonym handelte, unter dem verschiedene Druckereien, u.a. auch Elzevier, Schriften herausgaben, ebd., S. 199; ferner Köpeczi, S. 114, und Wol/gang Schmitz: Kölns Name als Zeichen der Freiheit: das fiktive Impressum Pierre Marteau. In: W. Schäfke (Hg.): Der Name der Freiheit. 2 Bde. Köln 1988, hier Bd. 2, Ergänzungsband zur Ausstellung des Kölnischen Stadtmuseums, S. 73-79, mit weiterer Literatur. 216 Vgl. zu Leers: J.A. Gruys I C. de Wolf (Hgg.): Thesaurus. Nederlandse Boekdrukkers en Boekverkopers tot 1700 (= Bibliotheca Bibliographica Neerlandica, Bd. 13). Nieuwkoop 1980, hier S. 57, 133 und 148; ferner allgemein: diess.: A Short-Title Catalogue of Books printed at Hoorn before 1701 (=Bibliotheca Bibliographica Neerlandica, Bd. 12). Nieuwkoop 1979, und Elly Cockx-Indestege u.a. (Hgg.): Quaerendo. A quarterly journal from the Low Countries devoted to manuscripts and printed books. 18 Bde., Amsterdam 1971-1988. 217 Zu Elzevier vgl. das Standardwerk von Alphonse Willems: Les Elzevier Histoire et annales typographiques. Brüssel 1880; Edouard Rahir: Catalogue d'une Collection unique de volumes imprimes par les Elzevier et divers typographes Hollandais du XVIIe Siecle. Paris 1896, ND: Nieuwkoop 1965 (Schriften Lisolas bei Elzevier vgl. S. 376-387); Wittmann, S. 77, und R. Breugelmans: Elzevier. In: Lexikon des gesamten Buchwesens, bisher 3 Bde, Stuttgart 1987-1991, hier Bd. 2, 1989, S. 458f.; dort auch weitere Literatur. 218 Vgl. die Schriften Lisolas im Anhang, S. 356ff.

III. Öffentlicher Meinungsstreit in politischen Flugschriften

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Mit der Herausgabe dieser politischen Schriften, die europaweit an eine breitere Öffentlichkeit gerichtet waren "les Elzeviers ont 'democratise' le livre."219

3. Flugschriften als Quellen Neben anderen Forschungsaspekten ist die Reformationsgeschichte immer wieder als Kommunikationsereignis eingeschätzt worden. Bernd Moeller hat die Reformation in Deutschland als "book event" bezeichnet. Neuere Überlegungen der Kommunikationswissenschaft gehen sogar so weit, daß sie die Reformationswirren als Musterbeispiel für die These aufführen, daß der Massenkommunikation seit der Etablierung des Buchdrucks eine geschichtsbildende Bedeutung zukommt. Massenkommunikation sei notwendige Vorbedingung für das Entstehen historischer Ereignisse und bestimme Gestalt und Verlauf des Ereignisses. 22o Der Erfolg der reformatorischen Abspaltung von der römischen Kirche sei auf das Vorhandensein der Druckerpresse als Verbreitungsmittel für das eigene Gedankengut gegründet gewesen. 221 Noch bevor sich die periodische Zeitung voll entwickelt hatte, waren Flugblätter und Flugschriften zu entscheidenden Medien geworden. Ihre Inhalte waren tendenziös und kämpferisch, trugen aber auch zu einer verbesserten Information und zur "Differenzierung vorhandener Informationen" bei. 222 Für den Bereich der Flugschriften der Reformationszeit sind Zahlen ermittelt worden. Danach erschienen zwischen 1501 und 1530 insgesamt etwa 10.000 verschiedene Ausgaben von Flugschriften. Allein aus dem Jahr 1524 sind etwa 2.400 Flugschriftendrucke bekannt. Insgesamt kursierten in Deutschland zwischen 1501 und 1530 etwa 10 Millionen 219 So zitiert Brunetiere in seinem Vorwort zu Rahirs Werk den maßgeblichen Forscher zum Haus Elzevier, Alphonse Willems: Rahir, S. VII. Die sichersten Indikatoren für die Zugehörigkeit von Druckschriften zu den Häusern Elzevier sind die Schmuckblätter und Medaillons, die die Ausgaben von Elzevier vorne auf dem Titelblatt, am Textbeginn, bei Kapitelüberschriften und Kapitel- oder Buchende schmücken. Sie unterscheiden sich oft nur durch geringe Abweichungen und wurden von Rahir zusammengestellt: ebd., S. 421-462. 220 So bei Wilke, Geschichte als Kommunikationsereignis, S. 59. Moellers Bezeichnung der Reformation als "book event": Bernd Moeller: Stadt und Buch. Bemerkungen zur Struktur der reformatorischen Bewegung in Deutschland. In: W.J. Mommsen (Hg.): Stadtbürgertum und Adel in der Reformation. Stuttgart 1979, S. 2539, hier: S. 30. 221 Dabei sei das Meinungsklima in Deutschland in den für die Reformation entscheidenden 20er Jahren des 16. Jahrhunderts überwiegend von den publizistischen Erzeugnissen der Reformatoren geprägt gewesen, während die katholischen Positionen in der Publizistik eher zurückstanden: vgl. Wilke, Geschichte als Kommunikationsereignis, S. 62. 222 Vgl. Hans-Joachim Köhler: Erste Schritte zu einem Meinungsprofil der frühen Reformationszeit. In: V. Press I D. Stievermann (Hgg.): Martin Luther. Probleme seiner Zeit. Stuttgart 1986, S. 244-281 (im folgenden zitiert als Köhler, Meinungsprofil), hier S. 261.

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B. Einführende Bemerkungen und Forschungsüberblick

F1ugschriftenexemplare. 223 Mit den Reformationswirren wurde in Deutschland der erste öffentliche Meinungsstreit auf typographischer Basis in Form von Streitschriften ausgetragen. Giesecke stellt fest, daß die Werke Luthers "als Beiträge zu einem neuen Typus öffentlicher Diskussion gedacht und gestaltet" waren. 224 Ignatius von Loyola schrieb im August 1554 an seinen in Wien weilenden Ordensbruder Petrus Canisius: "Die Neueren verstehen es ihre falschen Lehren mundgerecht zu machen und dem Fassungsvermögen der Masse anzupassen, indem sie ihre Lehre vor der Menge verkünden und zugleich kurze Broschüren unter das Volk werfen, die von vielen verstanden und gekauft werden können ... , daß auch die unserigen zur Abwehr einige Verteidigungsschriften oder Traktate herausgeben, und zwar gut und kurz geschriebene, damit sie schnell zur Stelle sind und von vielen gekauft werden können. Damit ließe sich nicht nur dem Übel abhelfen, das die Gegner durch ihre Schriften anrichten, sondern es wäre zugleich etwas zur Massenverbreitung der gesunden Lehre getan, wenn man bescheiden, aber lebendig, die Irrgänge oder Schliche der Neueren aufdeckt."225 Die Geschichtsforschung in der DDR schenkte den auf die Reformationswirren folgenden Streitschriften zu den Bauemkriegen große Beachtung. 226 Auf die propagandistische Wirkung der Schriften zu den Türkenkriegen unter Maximilian I. wurde bereits hingewiesen. Auch die geistliche Seite meldete sich mit propagandistischer Flugschriftenliteratur zur Türkengefahr zu Wort. Als Beispiel sei der Türkenkalender Calixtus' III. 1454/55 mit dem Titel "Eyn manung der cristenheit widder die dürken" und seine Türkenbulle von 1456 erwähnt. 227 Politische Flugschriften der nachreformatorischen Zeit, solche des späten 16. und des 17. Jahrhunderts, wurden fast ausschließlich in der Forschung der Jahrhundertwende bearbeitet. Die Untersuchungen waren überwiegend deskriptiv, meist ohne jede methodische und gattungsmäßige Diskussion und oft vor dem Hintergrund der eigenen Gegenwart tendenziös. In dieser Weise gesichtet wurden die Flugschriften zum Schmalkaldischen Krieg,228 die Jesuitenpubli223 Zusammenfassend ebd., S. 249f. Zur umfangreichen Literatur über die Flugschriften der Reformationszeit vgl. außer den bereits genannten den Beitrag von Moeller, op.cit., sowie die ebd., S. 245f., angegebenen weiteren Hinweise. 224 Giesecke, S. 47. 225 Ebd., S. 780f. 226 Adolf Laube I Hans Werner Seiffert u.a. (Hgg.): Flugschriften der Bauernkriegszeit (hg. v. der Akademie der Wissenschaften der DDR). Ost-Berlin 1975; KölnlWien 21978. 227 Aufbau, Beschreibung, Distributionsmittel und weitere Literatur. vgl.: Giesecke, S. 256ff. 228 Vgl. O. Waldeck: Die Publizistik des Schmalkaldischen Krieges. In: Archiv für Reformationsgeschichte, Bd. 7, 1910, S. 1-55, und Bd. 8, 1911, S. 44-133. Der Beitrag ist nach thematischen Gesichtspunkten sortiert: Schriften zu den Ursachen

III. Öffentlicher Meinungsstreit in politischen Flugschriften

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zistik vor Ausbruch des Dreißigjährigen Krieges 229 und zum Dreißigjährigen Krieg selbst in seinen verschiedenen Aspekten, nämlich den religiösen 230 und politisch-militärischen Ereignissen sowie zu anderen Streitfragen des Krieges 231 . Vier Hauptthemen lassen sich dabei feststellen: 1. die böhmische Frage als Streitfall zwischen Publizisten-Anwälten der Kurpfalz und der Liga;232 2. die heftig kritisierte Brandsetzung Magdeburgs unter TiIlys Kommando; 3. die Person Gustav Adolfs und 4. die Person TiIlys.233 In unmittelbarer Nachfolge des Dreißigjährigen Krieges wurde der sogenannte Wildfangstreit von einer heftigen publizistischen Auseinandersetzung begleitet. 234 Schätzungen zufolge erschienen rund 10.000 Flugschriften im Zusammenhang mit dem Dreißigjährigen Krieg. Diese Zahl bietet einen Anhaltspunkt "für die enorme Dichte und Tiefe des damaligen Kommunikationswesens ... , das marktwirtschaftIich organisiert war und glänzend funktioniert hat. "235 Der des Krieges, Schriften zu Rechtsfragen, Schriften zum Krieg in Sachsen, neben einem Schriftenverzeichnis. 229 Vgl. Richard Krebs: Die politische Publizistik der Jesuiten und ihrer Gegner in den letzten Jahrzehnten vor Ausbruch des Dreissigjährigen Krieges (=Hallesche Abhandlungen zur neueren Geschichte, Bd. 25). Halle 1890. Hier erfolgt eine Bearbeitung von insgesamt 62 deutschen Flugschriften zu religiösen Streitfragen. Beigefügt sind ein ausführlicher Anmerkungsapparat und ein Schriftenverzeichnis. 230 Vgl. Hellmut Rosenfeld: Flugblatt, Flugschrift, Flugschriftenserie, Zeitschrift. Die "Hussiten-Glock" von 1618 im Rahmen der Entwicklung der Publizistik. In: Publizistik, Bd. 10/4, 1965, S. 556-580. Rosenfeld berücksichtigt vor allem publizistische Hintergründe und Aspekte. 231 Vgl. Max Grünbaum: Über die Publicistik des Dreissigjährigen Krieges von 1626-1629. Halle 1880; Karl Mayr-Deisinger: Die Flugschriften der Jahre 16181620 und ihre politische Bedeutung. München 1893; Rystad, op.cit.; losef lansen: Patriotismus und Nationalethos in den Flugschriften und Friedensspielen des Dreißigjährigen Krieges. Diss. Köln 1964; Walfgang Hans Stein: Richelieu unter den Komödianten. Zur Darstellung Frankreichs in der deutschen Flugblattliteratur des Dreißigjährigen Krieges. In: H. Duchhardt / E. Schmitt (Hgg.): Deutschland und Frankreich in der frühen Neuzeit. FS für Hermann Weber (= Ancien Regime, Aufklärung und Revolution, Bd. 12). München 1987, S. 259-292. 232 Ein Protagonist auf kurpfälzischer Seite war Ludwig Camerarius. Zu erwähnen ist ferner Bogislav Philipp Chemnitz, der teilweise unter dem Pseudonym Hippolithus a Lapide auf antikaiserlicher Seite veröffentlichte; dazu: Bauer, Öffentliche Meinung, S. 248, und NDB, Bd. 3, S. 198-200. 233 Vgl. dazu: Burkhardt, Dreißigjähriger Krieg, S. 225ff. 234 Der Wildfangstreit zwischen dem Pfälzer Karl Ludwig und Johann Philipp von Schönborn, Kurfürst von Mainz, brach um den Anspruch des Pfälzers aus, alle Unehelichen und Heimatlosen über die Landesgrenzen hinaus als seine Leibeigenen zu betrachten, was einem Wiederaufleben des ausgreifenden Hegemonialanspruchs der Kurpfalz bedeutete; vgl. dazu Valker Press: Zwischen Versailles und Wien. Die Pfälzer Kurfürsten in der Geschichte der Barockzeit. In. ZGO, N.F., Bd. 91, 1982, S. 207-262, hier: S. 227f. 235 Repgen, Kriegslegitimationen, S. 70.

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B. Einführende Bemerkungen und Forschungsüberblick

bereits erwähnte aus der DDR-Historiographie stammende neuere kulturgeschichtliche Beitrag Langers vermag in dem Kapitel "Zeitung, Krieg der Federn, Volkesstimme" ein buntes und fundiertes Szenario der großen typographischen Vielfalt jener bewegten Jahre nachzuzeichnen und befindet sich damit in guter Gesellschaft einiger Wiener Arbeiten. 236 Die Rezeption des Westfälischen Friedens in der zeitgenössischen Flugschriftenliteratur und die politische Literatur unmittelbar nach 1648 bis Ende der 60er Jahre - eine Zeit dürftiger Flugschriftenproduktion - stellt ein Forschungsdesiderat dar. 237 Einen langfristigen Produktionsschub für Flugschriftenliteratur in Deutschland und Europa löste erst wieder die Außenpolitik Ludwigs XIV. aus. Diese Phase erfreute sich vor allem in der deutschen Forschung Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts großer Beliebtheit, was nicht verwundern kann. Die antfranzösische Flugschriftenliteratur zur Zeit Ludwigs XIV. bot willkommene Parallelen zur deutsch-französischen Gegenwart vor dem 1. Weltkrieg. Auch der Wunsch nach nachträglicher Rechtfertigung für die Annexion ElsaßLothringens 1871 dürfte ausschlaggebend für die Beschäftigung mit dieser Zeit und ihren Flugschriften gewesen sein. Entsprechend nationalistisch gefärbt und mit antifranzösischen Ressentiments durchsetzt fielen diese Arbeiten aus. 238 In

236 Langer, op.cit. Verdient um die Flugschriftenliteratur des Dreißigjährigen Krieges und des 17. Jahrhunderts allgemein machten sich in der neueren Forschung einzelne Arbeiten, die bei der Wiener Kommunikationswissenschaftlerin Marianne Lunzer angefertigt wurden; vgl. die Aufstellung von Man/red Bobrowski: Dissertationen bei Marianne Lunzer 1963-1984. In: M. Bobrowski / W. Duchkowitsch / H.Haas (Hgg.): Medien- und Kommunikationsgeschichte. Wien 1987. 237 Zu erwähnen ist nur die Arbeit zu den Schriften zur Kaiserwahl von 1658 von earl Emil Goerler: Über die Publizistik zur Kaiserwahl des Jahres 1658. Diss. Halle 1893. Zu den verschiedenen Altemativprojekten zur Wahl des Habsburgers vor allem von seiten Philipps von Schönborn, zum Engagement Ludwigs XIV. in dieser Angelegenheit und zur Errichtung des Rheinbundes wäre noch eine erhebliche Anzahl nicht untersuchter Bestände von Flugschriften zu sichten. 238 Ferdinand Hein/ein: Einige Flugschriften aus den Jahren 1667 - 1678. In: Programm des Realgymnasiums in Waidhofen an der Thaia. 8., 11. und 13. Jahresbericht: Wien 1877, Iglau 1880 und Iglau 1882 (im folgenden zitiert als Hein/ein I, 11 bzw. II1); Hans von Zwiedineck-Südenhorst: Die öffentliche Meinung in Deutschland im Zeitalter Ludwigs XIV. 1650 - 1700. Stuttgart 1888; Haller, Publizistik; Karl Hö/scher: Die öffentliche Meinung in Deutschland über den Fall Straßburgs während der Jahre 1681 bis 1684. Nach Druckwerken und Handschriften der k. Hof- und Staatsbibliothek zu München. München 1896; Paul Schmidt: Deutsche Publizistik in den Jahren 1667 - 1671. In: MIÖG, Bd. 28, 1907, S. 577630; K/eyser, op.cit.; vgl. dazu auch Bosbach, Der französische Erbfeind, S. 121f. überraschend wertfrei demgegenüber eine fundierte und auf breiter Quellenbasis gegründete Arbeit der französischen Forschung aus dem Jahr 1914 (!): Hubert Gillot: Le Regne de Louis XIV et I'opinion publique en Allemagne. Paris 1914.

III. Öffentlicher Meinungsstreit in politischen Flugschriften

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der neueren Forschung fand diese Phase wenig Beachtung. Erst die jüngsten typologischen Untersuchungen Bosbachs rücken die in der deutschen und europäischen pro- und antifranzösischen Publizistik verwendeten propagandistischen Topoi wieder ins Bewußtsein. 239 Die Erforschung der französischen Flugschriftenliteratur von Richelieu bis Ludwig XIV. geschah vereinzelt, aber ergiebig in Frankreich,240 von englischer241 und von deutscher Seite. 242 Ein Zentrum der europäischen Publizistik des 17. Jahrhunderts und der Flugschriftenproduktion war die bereits skizzierte freigeistige bürgerliche Republik Holland. Die wegen ihres blauen Umschlages "Blaeuboecxskens" genannten Flugschriften, auf deren Quartblättern alle politische Ereignisse der Zeit durch den Austausch von Argumenten diskutiert wurden, gehörten seit Beginn des 17. Jahrhunderts zum Alltag der holländischen Bürger. 243 Es war üblich, daß die "Livres bleus" rege ausgetauscht und diskutiert wurden, und dies nicht nur in staats tragenden und ämterbesitzenden Kreisen. Der niederländische 239 Bosbach, Monarchia Universalis, und Bosbach, Der französische Erbfeind; Köpeczi, op.eit. verwendet als Quellengrundlage Flugschriften, Zeitungen und Chroniken, um die sich darin widerspiegelnde Bewertung der ungarischen Aufstände in der Öffentlichkeit zu erfassen; vgl. bes. S. 8f. Was die formale und inhaltliche Erforschung der Gattung Flugschrift, die wesentliche Impulse durch die deutsche Forschung dieser Jahre erfahren hat, angeht, so muß auch heute nach etwas verändertem Forschungsstand noch der Feststellung Kleysers zugestimmt werden, daß den Ergebnissen der deutschen Historiographie zur deutschen Flugschriftenliteratur allgemein Geltung auch für das europäische Flugschriftenwesen zukomme: Kleyser, S. 21. 240 Vgl. A. Legrelle: La Diplomatie Fran~aise et la Succession d'Espagne. 2 Bde, hier: Bd. 1: Le premier traite de Partage (1659-1697). Paris 1888, bes. die Einleitung; Brouillant, op.eit.; Camille Georges Picavet: La Diplomatie Fran~aise au temps de Louis XIV, 1661-1715. Paris 1935, bes. S. 210-217 und 310-322; Malssen, op.eit.; Helene Duccini: Les Pamphlets politiques sous Louis XIII. In: Bulletin de la Soeiete d'Histoire Moderne (= Supplement a la Revue d'histoire moderne et contemporaine, Vol. 1), Serie 13, 81e annee, Paris 1982; Micheie Fogei: Propaganda, communication, publication. Points de vue et demande d'enquete pour la France des XVIe - XVIIe siecles. In: Culture et Ideologie dans la genese de l'Etat moderne (= Actes de la Table Ronde 1984, Collection de I'Ecoie fran~aise de Rome, Bd. 82). Rom 1985, bes. S. 325-336; Fogei, Ceremonies; Chartier, Pamphlets, berücksichtigt die Entwicklung der französischen Flugschriftenliteratur seit Richelieu sowie zur Haltung Ludwigs XIV. zu diesem Medium. 241 Klaits, op.cit. 242 Carl Ringhoffer: Die Flugschriftenliteratur zu Beginn des spanischen Erbfolgekrieges. Berlin 1881 (mit einem ausführlichen Rückgriff auf die 2. Hälfte des 17. Jahrhunderts); Rolf Anger: Die Flugschriftenpublizistik zur Zeit der Pariser Fronde (1648-1652). München 1952; zuletzt: Rainer Babel: Frankreichs Gegner in der Politischen Publizistik der Ära Richelieu. In: Bosbach, Feindbilder, S. 95-116; dort, S. 98f., auch weitere Literatur dazu. 243 Vgl. dazu Bauer, Öffentliche Meinung, S. 242, und Cihak, S. 20ff.

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B. Einführende Bemerkungen und Forschungsüberblick

Staatsmann van den Goes sandte seinem Bruder am 5. Januar 1668 ein "blaeu boextie" mit dem Titel "De dubbele Victorie", in dem der aktuelle innenpolitische Streit zwischen der Oranierpartei und dem Statthalter um ein weiteres Argument bereichert wurde. Der Briefwechsel der bei den Brüder ist voll von Hinweisen auf Austausch und Kommentierung von Flugschriften. 244 Von der Forschung wurden diese bedeutenden holländischen Streitschriften kaum beachtet. 245 Auch die facettenreiche Landschaft früherer holländischer Periodika ist wenig bearbeitet worden. 246 Vereinzelte Ansätze zur Rezeption des Bildes der Niederlande in Deutschland in diesen Jahren des 17. Jahrhunderts stammen von deutscher Seite. 247 Seit dem Regierungsantritt Ludwigs XIV. in Frankreich konzentrierte sich zunächst allmählich, mit Erscheinen von Lisolas Bouclier aber beschleunigt die niederländische und die in den Niederlanden erschienene Flugschriftenliteratur auf die drohende politisch-militärische Übermacht Frankreichs. Holland wurde zum Zentrum einer internationalen Flugschriftenproduktion, die in der 2. Hälfte des 17. Jahrhunderts gegen die französische Politik Stellung bezog. 248 Es ist festzuhalten, daß die europäischen politischen Flugschriften der zweiten Hälfte des 17. bis ins 18. Jahrhundert hinein von Themen der auswärtigen Politik dominiert wurden. 249 Die Dominanz der Politik Ludwigs XIV. prägte das öffentliche Meinungsbild in Europa über Jahrzehnte entscheidend. Strittige innenpolitische Themen fanden in der Flugschriftenliteratur als reine Gelehrtenliteratur Eingang in die Verfassungsdiskussion in Deutschland. Religiöse und konfessionelle Themen führten in dieser Zeit ein Schattendasein. Die Grobgliederung der Flugschriftengattungen der 2. Hälfte des 17. Jahrhunderts sowie der Forschungsüberblick zeigen die große Bandbreite, die den 244 C.l. Gonnet (Hg.): Briefwisseling tusschen de Gebroeders van der Goes (1659-1673). 2 Bde., Amsterdam 1899 und 1909, hier Bd. 1, S. 403; weitere Hinweise: Bd. 1, S. 475, 483, 488, und Bd. 2, S. 311, 314,401.

245 Seit wenigen Jahren ist u.a. die Universität Groningen damit beschäftigt, eine für die Forschung allgemein zugängliche Datenbank aller in Holland gedruckten, verlegten und kursierenden Druckschriften der frühen Neuzeit, vor allem des 17. Jahrhunderts, zu erstellen; frd!. Hinweis von Dr. Josef Hermanns, Universität Groningen. 246 Ygl. dazu nur Hatin, Les Gazettes. 247 Ygl. Elsner von Gronow, op.cit.; Gustav Schönle: Deutsch-niederländische Beziehungen in der Literatur des 17. Jahrhunderts. Leiden 1968 (literarisch orientiert); Franz Petri: Vom deutschen Niederlande-Bild und seinen Wandlungen. In: Rhein. Yierteljahrsblätter, Jg. 33, 1969, S. 172-196 (u.a. werden hier auch politische Flugschriften berücksichtigt, dabei stützt sich Petri auf die Dissertation Hallers, Publizistik). 248 Ein Überblick über diesen Produktionsschub vermittelt Kap. C.II. 249Ygl. dazu das immer noch anregende Werk Everths, op.cit.

III. Öffentlicher Meinungsstreit in politischen Flugschriften

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Quellenwert von Flugschriften ausmacht: von offiziösen Kriegslegitimationen bis zur Wiedergabe der öffentlichen Meinung und der Diskussionsplattform der Blauhefte in Holland sind alle Arten von gedruckten politischen Schriften unter dem Sammelbegriff Flugschrift zusammengefaßt worden. Köhlers eingangs zitierte Definition ist für den Bestand der Flugschriftenliteratur der 2. Hälfte des 17. Jahrhunderts zu variieren. Klammert man die hier nicht relevante Gelehrtenpublizistik aus, dann könnte eine für diese Zeit gültige Definition der Flugschrift in Anlehnung an Köhlers Versuch lauten: Eine Flugschrift ist eine aus mehr als einem Blatt bestehende, selbständige, auch im offiziellen Auftrag verfaßte oder protegierte, nicht periodische, gebundene oder im Rahmen anderer umfassender Chroniken und Gazetten veröffentlichte, nach marktwirtschaftlichen Grundsätzen vertriebene Druckschrift, die sich mit dem Ziel der Agitation und Propaganda meist in außenpolitischer Thematik an eine breite Öffentlichkeit, die ungefähr mit der der Zeitungsrezipienten übereinstimmt, wendet und manchmal auch öffentliche Meinung widerspiegelt.

c.

Die politische Publizistik in Europa zur Zeit Lisolas

Dieses Kapitel bietet einen exemplarischen und deskriptiven Überblick über die europäische politische Publizistik in der 2. Hälfte des 17 . Jahrhunderts bis 1674. Vor dem Hintergrund der zu Lebzeiten Lisolas - allerdings nur spärlich kursierenden frankophoben und frankophilen Flugschriftenliteratur läßt sich sein Werk analysieren. Bei der frankophilen Publizistik liegt der Schwerpunkt der Betrachtung weniger auf den deutschen als vielmehr auf den französischen Erzeugnissen; mit diesen nämlich setzte sich Lisola in erster Linie auseinander. I Die deutschen und holländischen Pamphlete dieser Jahre werden nach ihren Beziehungen zu Lisolas Schriften, seinem Gedanken- und Ideengut, als deren Vorläufer oder Rezipienten behandelt.

I. Die politische Publizistik in Frankreich Übereinstimmend kommt die Forschung zu dem Ergebnis, daß der politischen Flugschriftenliteratur in Frankreich zur Regierungszeit Ludwigs XIV. im Vergleich etwa zur Zeit Richelieus - staatlicherseits keine allzu große Bedeutung zugemessen wurde. 2 Eine zentral gesteuerte, reglementierte und effiziente Zensur sorgte in Frankreich im Gegensatz zu Holland, zum Deutschen Reich und selbst zum Wiener Hof dafür, daß die Produktion von Flugschriften außerhalb des staatlichen Bereichs undenkbar war. 3 Die den Staat führende Machtelite beanspruchte den Arkanbereich besonders der auswärtigen Politik für sich. Die Informationspolitik des Versailler Hofes vor allem in auswärtigen Angelegenheiten war außerordentlich restriktiv. 4 Eigeninitiative von Publizisten, einer der Hauptgründe für die Vielfalt von Pamphleten in den anderen europäischen Staaten, konnte sich nicht entwickeln. Dennoch gab es vereinzelte Versuche auch innerhalb der staatslenkenden Schicht, die, an die Tradition der

I Als einziger frankophiler deutscher Publizist findet Frischmann in diesem Kapitel Berücksichtigung. Einen Überblick über die deutschen Publizisten, die sich für Ludwig aussprachen, bietet Schmidt, S. 597ff. 2 Vgl. etwa Kleyser, S. 26 3 S.o. Kap. B.lI.3.a). 4 Dazu näheres bei Picavet, S. 311-322.

I. Die politische Publizistik in Frankreich

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französischen Flugschriftenliteratur unter Richelieu anknüpfend, auf die Bedeutung der Beeinflussung der öffentlichen Meinung aufmerksam machen wollten. 5 Blickt man genauer auf die französischen Flugschriften zur Zeit Ludwigs XlV., so lassen sich Zeiten verstärkter und weniger starker Flugschriftenproduktion feststellen. Klaits vermutet, daß die Schwankungen und Widersprüche in der Beurteilung der Bedeutung publizistischer Erzeugnisse weniger auf Ludwig selbst als vielmehr auf die wechselnden Minister im Amt des Staatssekretärs des Äußeren zurückzuführen sind. 6 Vor allem in den Jahren des Devolutionskrieges 1667/68 bemühte sich Jean Baptiste Colbert um überzeugende Argumente in der Öffentlichkeit für Ludwigs Vorgehen. 7 Er engagierte den betagten Poeten Jean Chapelain, der mit erheblichem finanziellen Aufwand, Kontakte zu Schriftstellern und Gelehrten in ganz Europa herstellen und diese gegen Bezahlung für die Abfassung solcher Schriften gewinnen sollte. 8 Der Erfolg dieser Anstrengungen war jedoch im großen und ganzen eher dürftig. Es gelang nicht, 5 Vgl. etwa den Briefwechsel zwischen Louis Verjus und Arnauld de Pomponne, in dem der Diplomat und Publizist Verjus den Staatssekretär des Äußeren von der Notwendigkeit einer Reaktion auf die Schriften Lisolas zu überzeugen versuchte, um die öffentliche Meinung dadurch zu beeinflußen: s.u.S. 33lf. 6 Klaits, S. 86f. Einen gründlichen Überblick über die in Frankreich in diesen Jahren erschienen Flugschriften bieten: lacques Le Long (Hg.): Bibliotheque Historique de la France contenant le Catalogue de tous les Ouvrages. Paris 1719. Nouvelle edition in 5 Bden. Paris 1768-1778, hier und im folgenden: Bd. 2, Livre 1II: "Histoire Politique de France", S. 866ff. (im folgenden zitiert als Le Long, Bd. 2); ferner: L. Andre / E. Bourgeois / H. Hauser / A. Molinier (Hgg.): Les Sources de l'Histoire de France depuis les Origines jusqu'en 1815. Hier: Troisieme Partie: Le XVIIe siecle (1610-1715), hg. von Louis Andre. Bd. 4: Ders. (Hg.): Journeaux et pamphlets. Paris 1924, und Bd. 8: Ders. 1 E. Bourgeois (Hgg.): Histoire Provinciale et Locale. Paris 1935 (im folgenden zitiert als Les Sources, Bd. 4 bzw. Bd. 8). 7 Zur Person Jean-Baptiste Colberts vgl. Klaus Malettke: Jean-Baptiste Colbert. Aufstieg im Dienste des Königs (= Person und Geschichte, Bd. 99/100). Göttingen u.a. 1977 (im folgenden zitiert als Malettke, Colbert); lean Meyer: Colbert. Paris 1981; Paul Sonnino: Jean-Baptiste Colbert and the origines of the Dutch War. In: European Studies Review, Bd. 13, 1983, S. 1-11, sowie Roland Mousnier (Hg.): Un nouveau Colbert. Paris 1985. 8 Chapelain arbeitete bei diesem Projekt erfolgreich mit Autoren wie Moliere, Racine, Conring, Boecler, Heinsius u.a. zusammen. Zu seinen Aktivitäten im Zusammenhang mit diesem Schriftstellerzirkel vgl. Gustav Cohn: Ludwig XIV. als Beschützer der Gelehrten. In: HZ, Bd. 23, 1870, S. 1-16; zu Person und Werk die umfassende und gründliche Biographie von Georges Collas: Un poNe Protecteur des Lettres au XVIIe siecle. Jean Chapelain (1595-1674). Etude Historique et Litteraire d'apres des Documents inedits. Paris 1911 (besonders beachtenswert das darin dokumentierte Verhältnis zwischen Chapelain und Conring (S. 435-443) und der Briefwechsel zwischen Chapelain und Colbert (S. 349-388»; vgl. ferner zu seiner Person DBF, Bd. 8, Sp. 408f.; Klaits, S. 86f., und H.l. Martin: La direction des lettres. In: R. Chartier/HJ. Martin: Histoire de l'Edition Fran~aise. 4 Bde. Paris 1982-1986, hier: Bd. 2, S. 65-75, hier: S. 65f. 6 ßaumanns

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C. Die politische Publizistik in Europa zur Zeit Lisolas

das zweifelhafte Vorgehen Ludwigs gegen Holland überzeugend darzustellen. Vor allem nach Erscheinen von Lisolas Bouclier wurden nur noch wenige von Colbert initiierte Schriften geschrieben, noch weniger gedruckt, und keine hatte eine nachhaltige Wirkung. Aubery, Bilain und Dupuy - das waren die Namen der wenigen, die sich auf französischer Seite in diesem Genre hervortaten. Die Fülle der französischen Pamphlete aus der Zeit Richelieus, in denen ein wiedererstarkendes französischen Nationalbewußtsein Ansprüche auf Territorien des Reichs und andere angrenzende Gebiete formulierte, ist bekannt. 9 Die Besitzansprüche, die Ludwig XIV. im Devolutionskrieg und in den Reunionen durchzusetzen versuchte und die Aubery und Bilain in Flugschriften faßten, haben dort ihre Vorläufer. Richelieu ließ juristische Gutachten wegen der Rechtstitel der französischen Krone und ihrer Ansprüche auf Länder und Herrschaftsrechte, die sowohllehnsrechtlicher, privatrechtlicher als auch dynastischer Natur waren, erstellen und in Flugschriften über Frankreichs Grenzen hinaus verbreiten. Die juristische Erörterung bezog sich dabei grob auf zwei Standpunkte: 1. Der französische König betrachtete sich als rechtmäßiger Nachfolger der Karolinger und Erbe Karls des Großen. Daraus leiteten sich Ansprüche auf die Kaiserkrone, Teile des Deutschen Reichs und Italiens ab; 2. Nach der römischen Tradition bestanden Ansprüche auf Gallien, den Rhein, die Alpen und die Pyrenäen. Proklamiert wurde die Unveräußerlichkeit der Krondomänen und die Unverjährbarkeit aller königlichen Rechte auf die Domänen. Richelieu erweiterte den Domänenbegriff weit über die damaligen Grenzen des Königreichs hinaus. Inhalt der Flugschriften war die Legitimierung dieser unveräußerbaren und unverjährbaren Rechte auf Territorien wie Navarra, Aragon, Neapel, Sizilien, Mailand, Flandern, Artois, Sedan, Orange, Burgund, Lothringen, Bar, Metz, Toul, Verdun, das linke Rheinufer, die linksrheinische Pfalz und Teile des Elsaß.lO Sie wirkte bis in die Schriften Auberys und Bilains zum Devolutionsrecht hinein. Für Ludwig XIV. war die Verteidigung des Staates und seine Ausdehnung nicht nur ein Gebot der Staatsräson, sondern 9 Auch für diese Schriften bietet Le Long einen ersten Überblick; vgl. ansonsten: Meinecke, Staatsräson, S. 18lff.; Ernst Kaeber: Die Idee des europäischen Gleichgewichts in der publizistischen Literatur vom 16. bis zur Mitte des 18. Jahrhunderts. Berlin 1907. ND: Hildesheim 1971; Bauer, Öffentliche Meinung, S. 243ff., und Fritz Dickmann: Rechtsgedanke und Machtpolitik bei Richelieu. In: Ders. (Hg.): Friedensrecht und Friedenssicherung. Göttingen 1971, S. 36-78 und 160-171; Darauf, daß es in Frankreich zur Zeit Richelieus und Mazarins eine Fülle von Schriften gab, die sich kontrovers auch mit dem Fronde-Aufstand oder kritisch mit der Politik Richelieus und Mazarins auseinandersetzten, kann hier nur hingewiesen werden; vgl. dazu Bauer, Öffentliche Meinung, S. 243; Chartier, Pamphlets, sowie Babel, S. 98ff., mit Inhaltsangaben ausgewählter Pamphlete zu Richelieus Zeiten, Beschreibung der dort verwendeten Topoi sowie weiteren Literaturhinweisen. 10 Vgl. Babel, S. 58ff.

I. Die politische Publizistik in Frankreich

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auch eine Pflicht, die ihm durch diese Fundamentalgesetze der Monarchie auferlegt waren. Militärische Maßnahmen, die zur Realisierung von Forderungen gemäß dem Grundsatz der Unveräußerlichkeit des Krongutes notwendig wurden, waren legitime Akte. 11 Aus der großen Zahl solcher Pamphlete seien exemplarisch einige herausgegriffen. Nicht zufällig erschienen die Autorennamen, die in den 20er und 30er Jahren bekannt wurden, in den 60er Jahren des 17. Jahrhunderts erneut, entweder weil die Autoren wieder veröffentlichten oder weil ihre Werke neu aufgelegt wurden. Der Jurist Pierre Dupuy wurde von Richelieu beuftragt, eine Liste der Territorien und fremden Fürstentümer zusammenzustellen, auf die die französische Krone Anspruch erheben konnte. 12 In einem Brief vom 27. Oktober 1631 verkündeten Dupuy und sein Mitautor Theodore Godefroy die Fertigstellung dieses auf drei Bände angewachsenen Werkes und kündigten eine Fortsetzung der Arbeit an. 13 Dupuy starb 1651. 1655 kamen weitere Auflagen dieser Abhandlung in Paris heraus: "Traitez touchant les droits du roy tres-chrestien sur plusieurs estats et seigneuries possedees par divers princes voisins: et pour prouver qu'il tient a juste titre plusieurs provinces contestees par les princes estrangers". 1670 erlebte dieses Werk eine neue, überarbeitete Auflage in zwei Teilen. Diese vorläufig letzte Ausgabe entwickelte sich zu einem Sammelwerk aller Ansprüche des französischen Königtums. 14 Im Jahr 1632 erschien das Werk des Juristen Jacques de Cassan "Recherches des Droits des Rois de France sur les Royaumes, Duches, Comtes, Villes et Pays occupes par les Princes Etrangers."15 De Cassan schrieb 1665 ein Werk zum Devolutionsrecht des fran11 Vgl. dazu auch: Klaus Malettke: Ludwigs XIV. Außenpolitik zwischen Staatsräson, ökonomischen Zwängen und Sozialkonflikten. In: H. Duchhardt (Hg.): Rahmenbedingungen und Handlungsspielräume europäischer Außenpolitik im Zeitalter Ludwigs XIV. (= ZHF, Beiheft 11). Berlin 1991, S. 43-72 (im folgenden zitiert als Malettke, Ludwig XIV.), hier bes. S. 47. 12 Ebd., S. 61. Bekannter als Pierre Dupuy wurde sein Bruder Jacques. Beide wurden 1645 Bibliothekare des Königs. Jacques tat sich durch seine bibliothekarischen Arbeiten hervor; vgl. DBF, Bd. 12, 1970, Spp. 596f. Lisola geht in seinem Bouc1ier auf das Werk Dupuys ein; vgl.u.Kap. E.I. 13 Abdruck des Briefes in: Le Lang, Bd. 2, S. 867. 14 Ein Exemplar der Ausgabe von 1655 befindet sich in der UB Köln; bei Le Long verzeichnet unter der Nr. 28754: Bd. 2, S. 866f.; Le Long führt auch Auszüge aus dem Werk an, die als gesonderte Flugschriften gedruckt wurden: ebd., Nr. 28836-28838, S. 873. 15 Die Recherches erschienen in 2. Auflage 1643 in Rouen, dann in Paris 1646, 1649 und 1663; vgl. dazu: Le Long, Bd. 2, Nr. 28752, S. 866; ferner Kaeber, S. 46; Karl Hölscher, S. 4-9; Cecchini, S. 39; Gillot, S. 65; Bauer, Öffentliche Meinung, S. 244, und Dotzauer, S. 102. Zu Jacques de Cassan: vgl. DBF, Bd. 7, 1954, Sp. 1316. 6"

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zösischen Königs in Flandern unter dem lateinischen Titel "Deductio Ex qua probatur cIarissimis Argumentis non esse lus Devolutionis in Ducatu Brabantiae nec in aliis Belgii Provinciis Ratione Principum earum, prout quidem conati sunt asserere."16 De Cassan war königlicher Rat und erster Advokat beim Gerichtshof von Beziers. Seit 1617 hatte er sich einen Namen als Autor kleinerer Schriften gemacht. Die "Recherches" widmete er Richelieu; der Wortlaut dieser Widmung gibt die Tendenz und Intention des Werkes wieder: "Les titres de cette Couronne, la Premiere du monde, vous doivent estre legitimement presentez, puisque toutes vos actions ne tendent qu'a l'accroissement de sa grandeur et de sa gloire. Ce sont de Puissans moyens entre vos mains, pour relever les interests du Roy et faire valoir les advantages que la Justice luy donne sur tant de sceptres usurpez."17 De Cassan begründete die Ansprüche der französischen Krone auf die oben genannten Gebiete damit, daß Amulf nach dem Tod des kinderlosen Karls des Dicken unter dem Vorwand der Vormundschaft über den dann in Frankreich eingesetzten Karl den Einfältigen illegitimerweise die Kaiserkrone an sich riß, die damit an das Deutsche Reich fiel. Hintergrund dieser Streitigkeiten bildete das Versäumnis Karls des Grossen, die Kaiserkrone über ein Reichsgrundgesetz im Reich zu verankern; er begnügte sich damit, daß das Kaisertum in seinem Hause erblich war. Die unter seiner Ägide erfolgten Teilungen zerstückelten das Erbe weiter. Mehrere französische Nachkommen protestierten vergeblich gegen diese illegitime Aneignung der Kaiserkrone durch das Reich: u.a. Hugo Capet, Philipp I. und Ludwig der Dicke. Vor diesem Hintergrund seien - so de Cassan die französischen Könige den deutschen Kaisern nicht nur gleichgestellt, sondern im Grunde sei das Deutsche Reich ein Bestandteil der Krone Frankreichs. Der Herzog Henri von Rohan widmete Richelieu seine berühmte Schrift "De l'interest des Princes et Estats de la Chrestiente", die in erster Auflage 1638 erschien. Rohan, eine schillernde Figur während der Hugenottenaufstände in Frankreich, Kondottiere im Dienst Venedigs, schließlich in der Armee Bernhards von Weimar dienend und 1638 gefallen, verteidigte in seiner Schrift die Konzeption der auswärtigen Politik Richelieus und betonte das notwendige Gleichgewicht zwischen Frankreich und Spanien in Europa. 18 Ende der 60er bis Mitte der 70er Jahre des 17. Jahrhunderts erschienen neue Autorennamen, die sich in diesem Sinne an die Öffentlichkeit wandten. Der Historiker Guy Joly, Stadtrat in Paris, antwortete 1667 auf zwei Schriften des niederländischen Rechtsgelehrten Peter Stockmans, der das Devolutionsrechtjuri16 Vgl. dazu Schmidt, S. 44, und Gillot, S. 67. 17 Zit. nach Karl Hölscher, S. 5. 18 Vgl. näheres zu Rohan und seinem Werk: Kaeber, S. 40f.; Meinecke, Staatsräson, S. 192-231; Babel, S. 106f. Lisola setzte sich in seinem Bouclier intensiv mit Rohans Theorie auseinander: s.u. S. 186f.

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stisch zu demontieren versucht hatte,19 mit der Schrift "Remarques po ur servir de reponse a deux ecrits imprimes a Bruxelles, contre les droits de la Reine sur le Brabant et sur divers lieux des Pays-Bas."20 Die französische Flugschriftenliteratur zwischen 1667 und 1674 war durch Lisolas publizistische Aktivitäten geprägt. Von Lisola persönlich angegriffene Politiker nahmen den Fehdehandschuh auf und antworteten mit denselben Mitteln. Neben Verjus - auf den später näher einzugehen sein wird - wurde Georg d'Aubusson de la Feuillade publizistisch tätig. Er lebte von 1612 bis 1697, war Jesuit, Erzbischof von Ambrun, Bischof von Metz und Dekan der theologischen Fakultät der Sorbonne. Er übernahm Gesandtschaften nach Venedig und Madrid. 21 1674 war er mit seiner Schrift "Droits du Roi a la succession d'Espagne" publizistisch in Erscheinung getreten. Im gleichen Jahr brachte er das Pamphlet "La Defense de Marie-Therese d'Autriche, Reine de France, a la succession des Couronnes d'Espagne" in Paris heraus. Damit setzte er sich gegen Lisolas Angriffe in dessen "L'Orateur Fran~ois" zur Wehr. Lisola hatte die Rede des Erzbischofs vom 30. Juli 1673 anläßlich des Durchzugs Ludwigs XIV. durch Metz untersucht und darin einen weiteren Beweis für das französische Streben nach Vorherrschaft über ganz Europa bis hin zum Osmanischen Reich gesehen. Aubusson hatte die Replik während seines Madrider Aufenthaltes verfaßt und zu einem Zeitpunkt veröffentlicht, als am Wiener Hof die Kriegspartei, die zu einem Krieg gegen Frankreich aufrief, begann, sich durchzusetzen. Er rühmte sich, in Madrid die Gültigkeit der Ansprüche Maria Theresias anhand der Fundamentalgesetze Spaniens, der Vorläufer ähnlicher Entscheidungen in der spanischen Geschichte und der Urteile des königlich-spanischen Gerichtshofes überprüft zu haben. Aus diesen Vorlagen ergäbe sich zweifelsfrei die Legitimität der französischen Forderungen. 22 Der deutsche Publizist Johann Frischmann diente zunächst in Württemberg, dann in Schweden und machte sich zum Sprachrohr der protestantischen Fürsten gegen die Habsburger im Reich. Zwei Schriften, die im Zusammenhang mit der Wahl Leopolds zum Kaiser standen und 1657 erschienen, brachten ihn ins französische Lager. Dem "Collegium electorale" und dem "Collegium reliquorum imperii deputatorum", die die Wahl frage in Form von Sitzungsberichten behandelten, folgten bis zum "Triumphator Batavicus" von 1672 eine lange Reihe 19 Zu Joly vgl. Zedler, Bd. 14, Sp. 1081; zu Stockmans s.u. S. 105f.

Weitere Auflagen 1668 in unterschiedlichen Ausgaben: Le Long, Bd. 2, Nr. 28869, S. 875; vgl. auch Malssen, S. 156. Bekannt wurde Joly, der eine maßgebliche Rolle im Fronde-Aufstand spielte, vor allem durch seine Memoiren, die über die Ereignisse in Frankreich zwischen 1648 und 1665 berichteten und nach seinem Tod 1718 in Rotterdam, Amsterdam und Köln erschienen. 21 Zu Leben und Werk vgl. Zedler, Bd. 2, Sp. 2116; Les Sources, Bd. 4, Nr. 2962, und Le Long, Bd. 2, Nr. 28876, S. 876. 22 Vgl. Les Sources, Bd. 4, Nr. 2962. 20

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mehr oder weniger umfangreicher Streitschriften, die vom französischen König protegiert wurden. 23 Frischmann, dessen Schriften durch Jean Chapelain von Straßburg nach Paris geschickt wurden, kannte auch Lisolas Bouclier. 24 Er wurde zum uneingeschränkten Fürsprecher der expansiven Politik Ludwigs XIV. in Holland und im Reich. Ein anderer deutscher Publizist, der zum Sprachrohr Ludwigs im Reich wurde, war der Gelehrte und Professor für Naturphilosophie, Medizin und Politik an der Universität Helmstedt, Hermann Conring. 25 Conring, in erster Linie Gelehrter, war von dem Ehrgeiz beseelt, auch in Fragen der großen Politik Kompetenz und Einfluß zu gewinnen. Bereits 1660 bot er sich an, die Ansprüche der französischen Königin auf die spanischen Niederlande in einer Denkschrift herzuleiten. Auch für eine Kaiserwahl Ludwigs XIV. wollte er sich publizistisch engagieren. Nach dem Ausbruch des französisch-holländischen Krieges setzte er seine Hoffnung auf Ludwig als starken Kaiser des Reiches, so auch in den Jahren 1670 bis 1674 Gravel gegenüber. Zur gleichen Zeit allerdings arbeitete er an einer Neuherausgabe seines erstmals 1654 erschienen Werkes liDe finibus Imperii Germanici" - einer Schrift, die im Auftrag Leopoldsl. auch gegen die französischen Gebietsansprüche gerichtet war. Diese widersprüchliche Haltung erklärt sich aus der Tatsache, daß er für ständig wechselnde Auftraggeber schrieb. Er vermied daher eine eindeutige Stellungnahme zu den außenpolitischen Fragen seiner Zeit. 26 1667 verfaßte er schließlich eine Denkschrift über die auf das Devolutionsrecht gestützten Erbansprüche Maria Theresias, deren geplante Veröffentlichung in Amsterdam durch den Frieden von Aachen vorerst obsolet war und nicht weiter verfolgt wurde. 23 Die einzige Monographie zu Frischmann von Paul Wentzcke: Johann Frischmann - ein Publizist des 17. Jahrhunderts. Straßburg 1904; eine Liste seiner Schriften bieten Schmidt, S. 597-600, und Gillot, S. 320f.; vgl. ferner Bauer, Öffentliche Meinung, S. 249; Meyer, S. 304; NDB, Bd. 5, S. 621, sowie Chapelains Urteil über Frischmann in seinem Brief an Colbert vom 22.10.1672: Lettres, Instructions et Memoires de Colbert. 8 Bde. Paris 1861-1882. ND: Liechtenstein 1979 (im folgenden zitiert als Colbert, Lettres), hier: Bd. 5: Pierre Clement (Hg.): Fortifications, Sciences, Lettres, Beaux-Arts, Batiments. Paris 1868/Liechtenstein 1979, S. 648f. 24 Frischmann erhielt den Bouclier am 17. September 1667 Uulianischer Kalender) in Straßburg: Wentzcke, S. 113 und 130. 25 Zu Conring (1606-1681) und seinen Aktivitäten in diesem Zusammenhang: Colbert, Lettres, Bd. 5, S. 587-650; Cohn, S. 5-12. Allgemeiner zu Conrings Leben und publizistischem Werk vgl. Meyer, S. 39 und 270; NDB, Bd. 3, S. 342f.; den Sammelband von Michael Stolleis (Hg.): Hermann Conring (1606-1681). Beiträge zu Leben und Werk (= Historische Forschungen, Bd. 23). Berlin 1983 (im folgenden zitiert als Stolleis, Conring), sowie Dreitzel, S. 33-58. 26 Vgl. Johannes Kunisch: Hermann Conrings mächtepolitisches Weltbild. In: Stolleis, Conring, S. 237-254 (im folgenden zitiert als Kunisch, Conring), hier: S.243 und 254.

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Weitere französische Flugschriften in deutschen und lateinischen Übersetzungen finden sich in verschiedenen Bänden des Diarium Europaeum. Ein großer Teil solcher Schriften erschienen ab dem 15. Band des Diarium Europaeum von 1667. Neben zwei französischen Schriften finden sich hier viele auf dem Regensburger Reichstag kursierende Manifeste, Streitschriften und offene Briefe für und gegen die französischen Ansprüche und den Einfall Ludwigs in die Niederlande. 27 Die Titel einiger Schriften anonymer Autoren seien hier angeführt, um einen Eindruck der damals herrschenden Stimmung zu vermitteln: "Der aller-christlichsten Königin Rechte auff verschiedene Lande und Herrschafften der Reiche Spanien" von 1667, "Divers Traitez sur les Droits et les Prerogatives des Roys de France. Tirez des Memoires Historiques et Politiques de M.C.S.S.D.S.", 1666 in Paris in französisch/deutschem Paralleldruck herausgegeben, "De la Preseance de l'Empereur sur les Rois et qu'il ne la doit point avoir sur le Roy de France / Von dem Vorsitz deß Kaysers über die Könige / und daß er denselben nicht haben soll über den König in Franckreich", 0.0., o.J., und zu den Auseinandersetzungen um Lothringen: "Remarques sur la Lorraine pour montrer quels sont les Princes qui l'ont possedee depuis l'establissement de la Monarchie Fran~oise. Et les Droicts que le Roy y peut prendre" in französisch und deutscher Sprache. 28 Eine weitere französische Schrift, mit der sich Lisola in seinem Bouclier auseinandersetzte, waren die 1667 erschienenen "LXXN Raisons qui prouvent plus clair que le jour, que la Renonciation de la Reine est nulle", in der Amable de Bourzeis, Mitglied der Academie fran~aise, die Verzichterklärung der französischen Königin auf Territorien bei ihrer Heirat mit Ludwig für ungültig erklärte. Bourzeis wurde von Richelieu zum Abt ernannt, war 1635 in die Academie und 1663 von Colbert in die bereits erwähnte königliche Zensurkommission berufen worden. Neben dieser einzigen juristischen Schrift gab er etliche theologische Abhandlungen heraus. 29 Nachdem 1674 in Europa vorerst das französische Allianzsystem erschüttert war, verstärkten französische Autoren ihre Aktivitäten auf dem Feld der Publizistik. Mouslier, der französische Gesandte in der Schweiz, erhielt den Autrag, die in der Schweiz kursierenden Flugschriften genau im Auge zu behalten. Gegen die aggressiven niederländischen Libellisten solle man eine "escadron d'anti-Cardonniers ... et d'anti-gazettiers" aufstellen - so ein Vorschlag des französischen Festungsbaumeisters Vauban. 3o Kriegsminister Louvois Vgl. näheres in Kap. EI. Allesamt entnommen dem Appendix des 16. Bandes des Diarium Europaeum von 1668. 29 Zu Bourzeis' (1606-1671) Leben und Werk vgl. DBF, Bd. 7, Paris 1954, Sp. 20; zu seiner Schrift: Le Long, Bd. 2, Nr. 28859, S. 875. 30 Meyer, S. 34f.; zu Vauban vgl. Kunisch, Absolutismus, S. 11. 27 28

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plante zusammen mit seinem Feldherrn Luxembourg ein Pamphlet mit dem Titel "Reflexions d'un Hollandois refugie a Hambourg, addressees a un ami", zu dessen Ausführung es allerdings nicht kam. 31 J. Antoine Bilains "Traite des droits"

1667 erschien Antoine Bilains "Traite des droits de la reine tres-chretienne sur divers etats de la monarchie d'Espagne" mit einem Umfang von 80 Seiten und in zwei Teilen in einer königlichen Druckerei in Paris. 32 Das Gesamtwerk erlebte ebenso wie jeder der beiden Teile - der "Dialogue" wurde auch separat 1667 in Rouen gedruckt - mehrere Auflagen und Übersetzungen: die lateinische Übersetzung des Gesamtwerkes besorgte Jean-Baptiste Duhamel,33 die deutsche ein deutscher Jurist namens Grutmeier. 34 Ferner gab es eine spanische Bearbeitung. Der Dialogue wurde durch Valentin Bigorre in die englische Sprache übersetzt. 35 Antoine Bilain war Parlamentsadvokat in Paris und starb 1672. 36 Im ersten Teil seiner Schrift beschäftigt sich Bilain mit dem Erbverzicht - der Renonciation -, den Maria Theresia, Tochter aus der ersten Ehe des spanischen Königs Philipps IV. und Gattin Ludwigs XIV., bei ihrer Heirat 1659 leisten mußte. Ludwig - so Bilain - könne die Unrechtmäßigkeit eines solchen Verzichtes nicht dulden. Der Erbanspruch auf spanische Territorien sei nach wie vor gültig: 31 Camille Rousset: Histoire de Louvois et de son Administration politique et militaire. 4 Bde. Paris 1862-1873, hier: Bd. 1, S. 433ff. 32 Die Titel der Teile lauten: "Renonciation non valable que la reine de France a faite de la succession a la couronne d'Espagne et des pays qui en dependenL" und "Dialogue sur les droits de la reine tres chretienne". 33 Die lateinische Übersetzung erschien 1667 in Paris. Duhamel war u.a. Mitglied der Akademie der Wissenschaften in Paris; zu ihm vgl. DBF, Bd. 12, 1968, Sp. 15f., sowie Colbert, Lettres, Bd. 5, S. 619f. 34 Leipzig 1668; zu Grutmeier bzw. in anderer Schreibweise Grusemeier vgl. Colbert, Lettres. Bd. 5, S. 624f., sowie Cohn, S. 10. 35 Le Long, Bd. 2, Nr. 28847, S. 873f.; Les Sources, Bd. 4, Nr. 2940, S. 306f.; vgl. ferner: Paul Sonnino: Louis XIV and the Origins of the Dutch War. Cambridge 1988 (im folgenden zitiert als Sonnino, Louis XIV), hier: S. 9; Ders. (Hg.): Memoires for the Instruction of the Dauphin. New York 1970 (im folgenden zitiert als Sonnino, Memoires), S. 129-131; Cecchini, S. 37; Malssen, S. 14f.; Meyer, S.43 und 146; Köpeczi, S. 123. Grundlegend ist Mignets Sammlung zeitgenössischer Dokumente und Schriften im Zusammenhang mit der französischen Haltung zur spanischen Erbfolgeproblematik: Franrois Auguste Alexis Mignet (Hg.): Negociations relatives a la succession d'Espagne sous Louis XIV. 4 Bde. Paris 18351842, hier: Bd. 2, S. 61-89. Wohl fälschlicherweise ordnen manche Forscher den Traite der Autorschaft Guy Jolys, andere einem Sekretär Turennes, Duhan de Jaudun, zu: Les Sources, Bd. 4, S. 873, und Picavet, S. 212f.; Ringhoffer, S. 5, erwähnt Bourzeis als lateinischen Übersetzer. 36 Vgl. zu seiner Person: DBF, Bd. 6, Sp. 456.

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"Elle demand seulement ce qui lui appartient par la plus etroite rigueur des coutumes dans les successions de leurs pere, mere et frere communs; est-il rien de plus juste que cette pretention? Elle est fille, et par consequent heritiere; la nature est son titre, et la loi est sa raison; il ne lui faut point d'autre faveur que celle du droit commun, ni d'autre eloquence que la voix du sang. Sa cause dans tous les tribunaux est sans aucune difficulte; il n'y a que dans la conseil d'Espagne Oll elle puisse n'etre pa si favorable: mais il ne sera pas difficile de faire voir que la renonciation sur laquelle il voudrait se fonder est un dereglement sans exemple, et, a vrai dire, un pur prestige de politique et d'ambition qui ne peut surprendre que les faibles ou les ignorants; ,,37 Ziel seines Werkes sei es, 'Tune, de faire voir en quoi consistent les droits de la reine; l'autre, de detruire la renonciation qui lui peut etre objectee; et parce que cette renonciation semble faire un obstacle a l'etablissement de ses droits, la premiere partie de cet ecrit est destinee a renverser cette barriere par toutes les nulli tes de fait et de droit qui se recontrent dans cette renonciation; et la derniere, a etablir les droits de la reine par le contrat de mariage de sa mere, par la disposition des coutumes et par l'usage inviolable qui s'est toujours observe a l'egard des souverains dans l'espece meme des biens qui lui sont echus et qu'elle demande au roi catholique son frere."38 Bilains Urteil über den Erbverzicht fällt eindeutig aus: "La renonciation est nulle, parce qu'on ne s'etudie qu'a retablir les choses dans l'ordre du droit commun et dans les lois de la nature dont cette constitution les a tellement devoyees, que les plus celebres docteurs l'ont traitee d'exorbitante. En effet, il est etrange qu'encore qu'elle reconnaisse que le droit civil soit contraire, elle ne laisse pas de l'abroger: comme s'i! appartenait a la puissance ecclesiastique de disposer en une chose purement temporelle, qui ne regarde que l'ordre des successions; mais il est encore bien plus etrange qu'elle ne se fonde pour valider un contrat, qui d'ailleurs est nul, que sur la consideration du serment, quoique chacun sache que le serment ne puisse etre un lien d'iniquite, pour faire executer une disposition injuste, et que s'il s'emploie pour serrer le noeud de l'obligation, il n'en forme neanmoins jemais le premier engagement."39 Quellen seiner juristischen Erörterung bilden die Festlegungen von Erbrechten in überlieferten und zeitgenössischen Rechtskodifikationen. Aus der auf dem "Droit civil", dem "Droit canon" und dem regionalen "Droit d'Espagne" fußenden Rechtsprechung und aus dem mittelalterlichem Rechtsverständnis über die Eignung eines Herrschers für sein Amt, der "qualite des personnes", zieht Bilain den Schluß, daß die Unveräußerbarkeit der Erbrechte für die französische Königin und damit für Ludwig feststehe. 40 Auch aus naturrechtlichen Gründen

37 Zit. nach Mignet, Bd. 2, S. 66f. 38 Ebd., S. 67. 39 Ebd., S. 69f. 40 Zu dem dem mittelalterlichen Rechtsverständnis entnommenen Argument der Eignung eines Herrschers und den daraus abzuleitenden Rechten als typisches

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nach denen der Tochter ihr Erbe nicht streitig gemacht werden dürfe, könne der Erbverzicht von 1659 nicht standhalten. "Enfin, si on l'examine par les raisons d'equite et de faveur, qu'est-i! au monde de plus juste, oe plus specieux et de plus favorable que le droit de la reine? Puisqu'une fille qui demande son patrimoine agit selon la nature, une pupille qui demande son bien a son tuteur agit selon les lois, et une princesse qui veut rentrer dans des souverainetes que sa naissance lui donne agit selon les ordres du ciel. Ne peut-on pas dire sans exageration qu'il n'y eut jamais exemple d'une renonciation si etrange, puisqu'i! ne s'y rencontrait rien de pere que la supreme autorite, ni d'enfant que la profonde obeissance?"41

Im zweiten Teil begründet Bilain, warum nach dem Tod ihres Vaters Philipp IV. das Erbrecht der Königin auf einige Gebiete in den spanischen Niederlanden auch nach den dort geltenden brabantischen Privatrecht - dem Devolutionsrecht nicht streitig gemacht werden könne. Bei diesen Rechtsansprüchen beruft sich Bilain ausdrücklich auf das regional geltende Privatrecht: "Les annales de Brabant rapportent que la coutume de Brabant ayant introduit un droit de devolution, par lequel les enfants, des le moment de la mort du pere ou de la mere, sont saisis de la propriete de tous les flefs qui appartiennent au survivant des deux conjoints, en sorte que, de proprietaire qu'il etait, i! devient simple usufruitier, il arriva qu'en l'annee 1230 se mut difficulte entre le duc et ses enfants, pour savoir si ce droit de devolution pouvait s'appliquer a l'egard da la souverainete, de maniere que la femme du duc etant decedee, il ne put rien aliener de son domaine au prejudice des enfants: lequel differend ayant ete propose devant Henri, roi des Romains, i! jugea, avec tous les princes de l'empire, que ce droit se devait ob server dans la succession de la souverainete aussi bien que dans celle des sujets, et pronon~a sur ce fondement que, si le duc entreprenait d'aliener quelque partie de son domaine, i! serait libre au prince son fils de le revendiquer comme son propre et legitime heritage, en vertu de ce droit de devolution, qui öte au survivant et transfere a ses enfants la propriete de tous les fiefs qui lui appartiennent. "42

Bilain zitiert den entsprechenden Artikel des brabantischen Privatrechts: "11 faut donc voir s'i! y a une coutume qui contienne cette disposition en faveur des enfants, et si l'application qu'on en fait a la reine est juste. Voici l'article:'Si un homme ou une femme ont des enfants, et que l'un des deux vienne amourir, par la separation du mariage la propriete des flefs venus du cote du plus vivant passe a l'enfant ou enfants nes du meme mariage, et le plus vivant n'a plus aux memes fiefs qu'un usufruit Mreditaire.' Ce texte est si claire qu'il n'a besoin ni de glose ni de commentaire; ou ajoutera seulement que la nation est tellement prevenue en faveur de ce droit de devolution, qu'i! n'en est point de plus universellement

Argument der zeitgenössischen Flugschriftenliteratur unter Ludwig XIV. vgl. Bosbach, Monarchia Universalis, S. 118. 41 Zitiert nach Mignet, Bd. 2, S. 73. 42 Ebd., S. 77.

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repandu dans les articles de la coutume, ni que les docteurs du pays aient plus curieusement exagere. "43 Aus diesen und anderen privatrechtlichen Regelungen definieren sich, Bilain zufolge, eindeutig die Rechte Ludwigs und seiner Gattin auf verschiedene Territorien und Städte: "Le Roi tres-chretien declare qu'il pn!tend et demande pour la reine son epouse le duche de Brabant avec toutes ses annexes qui seront ci-apres expliquees, la seigneurie de Malines, Anvers, la Haute-Gueldre, Namur, Limbourg, Dalen et les autres places d'au dela Meuse, le Hainaut, I'Artois, Cambrai, la Bourgogne et le Luxembourg; et quoique ordinairement les droits de succession s'exercent plutöt qu'ils ne se prouvent, parce qu'etant fondes sur la nature et sur la loi ils saisissent I'Mritier de plein droit, et produisent, comme les rayons du soleil, \eur lumiere en un instant, neanmoins ce grand prince veut bien, pour l'amour de la paix, qu'on descende dans le detail, en appliquant les articles de la coutume sur chaque chef de ses pretentions;,,44

In einer weiteren ausführlichen Erörterung erklärt Bilain, daß nach dem Devolutionsrecht Erbansprüche der Kinder aus erster Ehe Vorrang vor denen aus zweiter Ehe Vorrang hätten, gleichgültig, ob es sich dabei um männliche oder weibliche Nachkommen handele. Maria Theresia, Tochter Philipps IV. aus seiner ersten Ehe mit Elisabeth, der Tochter Heinrichs IV. von Frankreich, habe also Vorrang vor den Ansprüchen Karls, des späteren Karl 11. von Spanien, dem Sohn Philipps aus seiner zweiten Ehe mit Maria Anna, der Schwester Leopolds. Bilain zieht das Fazit: "Voila donc en generale et en particulier quels sont les droits de la reine sur tous les divers etats de la monarchie d'Espagne, et de quelle maniere ils lui sont devolus. Certes, comme le roi tres-chretien ne les pourrait negliger sans honte, le roi catholique ne les pourrait retenir sans injustice. La France les demande par la loi du mariage. L'Espagne les doit par la loi du sang. Et les etats y so nt obliges par la loi de leurs coutumes. Elle est l'epouse du premier . Elle est la soeur du second . Elle est la souveraine des autres, et nut des trois ne lui peut manquer qu'il ne viole ou les obligations d'un sacrement, ou les devoirs de la naissance, ou les principes de la fidelite. Toute I'Europe ales yeux ouverts pour voir comment un mari si illustre, un frere si puissant, des sujets si fideles s'acquitteront envers, une princesse si auguste de droits si sacres et si inviolables. ,,45 43 Ebd., S. 79. 44 Ebd., S. 77f., vgl. auch ebd., S. 86. 45 Ebd., S. 87. Bilains Werk ist ganz im Geist des absolutistischen Selbstverständnisses verfaßt: "La raison est que la loi fondamentale de I'etat ayant forme une liaison reciproque et eternelle entre le prince et ses descendants d'une part, et les sujets et leurs descendants de I'autre, par une espece de contrat qui destine le souverain a regner et les peuples a obeir, nulle des parties ne peut seule, et quand il lui plait, se delivrer d'un engagement si solenneI, dans lequel ils se so nt donnes les

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Bei Bilains Schrift, die von Colbert angeregt wurde und unter Mitarbeit Chapelains entstand,46 handelt es sich nicht um eine aus eigener Initiative heraus verfaßte Flugschrift, sondern um ein offiziöses Dokument. Der "Traite" war in der königlichen Druckerei gedruckt worden, und Ludwig ließ dem deutschen Übersetzer Grutemeier persönlich eine stattliche Bezahlung zukommen. 47 Der französische König ließ die Schrift Anfang Mai 1667 kurz vor dem Einmarsch französischer Truppen in Flandern durch seine Diplomaten an alle europäischen Regierungen verteilen. Bilains Schrift ist ein Kriegsmanifest. 48 Auf dem Postund Kurierweg gelangten jeweils mehrere Exemplare u.a. nach Wien, Holland, Stockholm, Kopenhagen, an den Papst und den Herzog von Savoyen.49 Auch Gravel, der französische Gesandte am Regenburger Reichstag, erhielt etliche Exemplare mit der Weisung, sie dort zu verteilen. Am 25. März 1667 berichtete die österreichische Gesandtschaft am Reichstag davon, daß Gravel einige "TractätIein", die die Rechte der französischen Königin auf Gebiete in Burgund zu begründen suchten, unter den Reichstagsgesandten verteile. 50 Am 8. Mai 1667 sandte Lionne den französischen Gesandten in Madrid, George Aubusson, die spanische Übersetzung des Traite, die ein Franzose angefertigt habe. Er, Lionne, habe persönlich die Übersetzung in mehr als 12 Tagen überarbeitet. 51 Castel-Rodrigo, als Statthalter der spanischen Niederlande einer der Hauptbetroffenen des bevorstehenden Aufmarsches Ludwigs, besaß seit den ersten Maitagen ein Exemplar des Traite. 52 Er verurteilte das Vorhaben Ludwigs, zeigte sich

uns aux autres pour s'entr'aider mutuellement; I'autorite de regner n'etant pas moins une servitude en sa maniere que la necessite d'obeir en est une, puisqu'iI est constant que ceux qui naissent d'une condition privee ne sont pas plus obliges par leur naissance a servir I'etat et a obeir, que les princes du sang royalle sont par la leur a commander et a regner chacun a son rang: de sorte que comme ils ne sont entres dans cette union et dans cette alliance de prince et de sujets que par la voie d'un consentement mutuel, iI est certain qu'ils n'en peuvent sortir que par la meme voie d'un commun consentement.", ebd., S. 75. 46 Les Sourees, Bd. 4, S. 306, und Picavet, S. 213. 47 Nach Picavet, S. 213, 10.000 Livres, nach Les Sourees, Bd. 4, S. 306, nur 1.000 Livres. 48 Bei dem Begriff Kriegsmanifest folge ich den Merkmalen, die Repgen für Kriegsmanifeste als konstituierend bezeichnet hat: eine offiziöse Schrift, die über verschiedene Übersetzungen gezielt weit verbreitet wurde und der Legitimation von Kriegen diente: Repgen, Kriegslegitimationen, S. 79f. 49 Vgl. Mignet, Bd. 2, S. 90. 50 In diesem Schreiben erfolgte keine Titelangabe, statt dessen aber eine Inhaltsangabe. Als Beilage zum nächsten Bericht vom 29. Mai sandte die Gesandtschaft ein Exemplar nach Wien: HHStA, Reichsakten, Kt. 13, Fz. 9. 51 Mignet, Bd. 2, S. 61. 52 Dies geht aus einem Schreiben des französischen Gesandten in Brüssel, de las Fuentes, an Lionne vom 12. Mai hervor: ebd., S. 91.

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aber von der Drohung unbeeindruckt, wie er in einem Brief an Ludwig vom 14. Mai zu verstehen gab. 53 Am 8. Mai wurden mehrere Exemplare der Schrift nach Madrid geschickt, die dort am 16. Mai eintrafen. 54 Aubusson konfrontiert Maria Anna, die die Vormundschaft für Karl übernommen hatte, persönlich mit dem Pamphlet: "J'ai pn!sente ensuite a la reine d'Espagne la lettre de votre majeste, celle de la reine et un livre espagnol touchant les droits de la reine, et elle re~ut le tout fort paisiblement. Elle m'ecouta aussi avec une attention particuliere, tenant son eventail qu'elle remuait quelquefois, et d'autres fois elle retenait dans les endroits qui lui etaient plus sensibles. Elle me repondit. 'J'ai ecoute avec beaucoup d'attention ce que vous m'avez represente; je traiterai cette affaire avec mes ministres, et vous ferai savoir ma reponse."'5S" Aubusson kritisiert den Traite als ungenügend. In dem Brief an Lionne vom 19. Mai wies er darauf hin, daß es sich bei der Renonciation um eine spanische Rechtsetzung handele, die sich dem französischen und übrigen europäischen Rechtsverständnis entzöge. Der Autorität einer solchen Doktrin sei mit den Rechtsbegriffen des droits civil oder des droit romain nicht beizukommen. Nach spanischem Rechtsverständnis läge ein "Mayorazgo" vor, ein Ältestenrecht, das zwar den spanischen Juristen bekannt, ausländischen Kollegen allerdings völlig unbekannt sei:

"Je n'avais pas eu le loisir de lire les livres qu'il a plu a votre majeste de m'envoyer, quoique j'en aie parcouru quelque chose en gros: mais comme toute l'affaire se reduit a deux points, savoir, a la renonciation generale de la reine a la couronne d'Espagne et au droit municipal de devolution en certaines provinces des Pays-Bas, le premier point est beaucoup mieux entendu ici qu'en France, parce qu'il ne s'agit pas d'une simple renonciation dans les termes du droit civil ou romain, mais d'une renonciation a un mayorazgo, tel qu'est la couronne d 'Espagne, qui n'est bien connu que des jurisconsultes du pays, et ou les renonciations so nt impossibles suivant la doctrine de tous les tribunaux d'Espagne. L'on s'arrete, toutefois, en France dans la these generale ou est le faible de la cause, et on laisse l'hypothese ou est son fort que l'on ne peut pas y savoir; sur quoi j'ai quelques observations des lois, de l'histoire et des jugements du pays."56

Damit verwarf Aubusson den Traite in grundlegenden Teilen seiner Argumentation. Auch das Devolutionsrecht - so Aubusson - würde aus spanischer Sicht anders interpretiert werden. In einem ausführlichen Brief an Ludwig 53 Abdruck des Briefes ebd., S. 93-95. Dieser Brief Castel-Rodrigos fand ebenso, wie der oben zuletzt zitierte Satz aus dem Traite, Eingang in die "Instructions du Dauphin" Ludwigs. Vgl.: Charles Dreyss (Hg.): Memoires de Louis XIV pour l'Instruction du Dauphin. 2 Bde. Paris 1860, hier: Bd. 2, S. 176. 54 Aubusson bestätigte den Erhalt am 19. Mai: Mignet, Bd. 2, S. 99. 55 Über diese Audienz berichtete Aubusson am 19. Mai nach Paris: ebd., S. 102f. 56 Ebd., S. 103.

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vom 22. Mai war er bemüht, den König über die Bedeutung des "Mayorazgo" aufzuklären. Ludwig ging es aber sicher nicht um eine juristisch einwandfreie Rechtsauslegung, sondern um Gebietserwerbung. Bilains Schrift war vorgeschoben, um den Anschein von Rechtmäßigkeit zu wahren. So ist auch nichts über eine Entgegnung Ludwigs auf Aubussons Ausführungen bekannt. 57 2. Antoine Auberys "Des justes Pretentions du Roi sur I 'Empire"

Kurioserweise blieb die Wirkung von Bilains offiziell geförderter Schrift weit hinter dem Echo zurück, das ein zur gleichen Zeit illegal und gegen den ausdrücklichen Wunsch Colberts veröffentlichtes Pamphlet erreichte: "Des justes prt!tentions du Roi sur l'Empire" des französischen Parlaments advokaten Antoine Aubery (1616-1695).58 In Deutschland erschien neben der Übersetzung ein Auszug von der Hand eines geschäftstüchtigen Schreibers. 59 Aubery war bereits früh durch Schriften hervorgetreten, deren Titel sein politisches Programm andeuteten. 1649 veröffentlichte er "De la Preeminence de nos roys et de leur preseance sur l'empereur et le roy d 'Espagne. Traitte historique dedie a monseigneur le chancelier" .60 1662 folgte die "Dissertation historique et politique sur le traite conclu entre le roi de France et le duc Charles touchant la 57

Der Brief Aubussons vom 22. Mai ist abgedruckt: Ebd., S. 111-117.

58 Zuerst erschienen bei Bertier, Paris 1667, in Quartformat auf 159 Seiten. Im

folgenden wird aus dem Exemplar der Staatsbibliothek Berlin (West) zitiert. Vgl. dazu: Dotzauer, Der publizistische Kampf, passim; ferner: Le Long, Bd. 2, Nr. 28776, S. 869; Schmidt, S. 582f. und 62lf.; Gillot, S. 65ff.; Karl Hölscher, S.lOff.; Scheichl, Leopold, S. 65; Georges Livet: Louis XIV et l'Allemagne. In: Problemes de Politique Etrangere sous Louis XIV (XVIIe Siecle Bulletin de la Societe d'Etude du XVIIe siecle, No. 46/47). Paris 1960 (auch in englischer Fassung in: R. Hatton (Hg.): Louis XIV and Europe. London 1976, S. 60-81.), S. 48; Les Sources, Bd. 4, Nr. 2939, S. 305f.; Cecchini, S. 38; Meyer, S. 43, 126-132 und 280; Klaits, S. 88; Köpeczi, S. 123. Vgl. auch die wertende Stellungnahme zu den französischen Ansprüchen, wie sie bei Aubery formuliert wurden, bei Valckenier, Bd. 1, S. 28f. und 552. Zu Leben und Werk Auberys vgl. ferner: DBF, Bd. 4, Sp. 98-100. 59 Titel des deutschen Auszugs: "Die Französische Staats-Reguln aus einem Tractat A. Aubery, Advocatens des Parlaments zu Paris und königl. Raths, welchen er: Von den rechtmässigen Ansprüchen Seines Königs zu dem Römischen Reich, und von dessen Vorzug über den Röm. Kayser betitelt, und mit einem v. 19. Julii 1659 datirten königlichen Privilegio, in diesem 1667. Jahr, zu Paris bey Antonio Bertier ans Licht gegeben. Aus dem Original getreulich excerpirt, und hiermit allen hierbey Interessierten, insonderheit der Teutschen Nation, zu bedenken vorgestellet. Gedruckt im Jahr 1667"; so bei Zwiedineck-Südenhorst, S. 20; Schmidt, S. 621; Haller, Publizistik, S. 25; Gillot, S. 67. Meyer, S. 280, und Dotzauer, Der publizistische Kampf, S. 111, erwähnen eine niederländische Übersetzung bei Pierre Marteau von 1667; Schmidt, S. 621, spricht von einer lateinischen Übersetzung. 60 In BN Paris, Sign. Lb 37.1395.

I. Die politische Publizistik in Frankreich

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Lorraine avec la f: Un Diplomate franc-comtois. Fran~ois de Lisola, sa vie, ses ecrits, son testament, 1613-1674. In: Annales franccomtoises, Nouvelle serie, Bd. 12, 1900, S. 100-123, 175-197, 270-287, 366-379, 449-459; Bd. 13, 1901, S. 38-47, 216-231; Bd. 14, 1902, S. 34-46, 136-153; unter demselben Titel zusammenhängend in Dole 1902 erschienen. Longin stützt sich auf die Forschungen Pribrams, Hallers und Klopps, berücksichtigt zusätzlich gedruckte Quellenbestände bei Mignet, Estrades, zeitgenössische Gazetten, wie den "Mercure", die "Gazette de France" und die Archivbestände der Archive von Besan~on und der Franche-Comte. Er richtet sein Augenmerk besonders auf die Beziehungen Lisolas zu seiner Heimat - in dieser Hinsicht geht Longins Untersuchung über die Ergebnisse Pribrams hinaus. 16 A.F. Pribram: Franz von Lisola und der Ausbau der Tripelliga in den Jahren 1670 und 1671. In: MIÖG, Bd. 30, 1909, S. 444-500 (im folgenden zitiert als Pribram, Tripelliga). Pribram berücksichtigt hier die damals im HHStA wiedergefundene Korrespondenz Lisolas von 1670 und 1671. 17 Ludwig Hüttl: Franz Paul Freiherr von Lisola. In: NDB, Bd. 14, S. 686-688.

I. Forschungsüberblick

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Deutschland und Österreich zu Ende des 19. Jahrhunderts verbreiteten Abneigung gegen alles Frankophile geprägt, läßt Pribram es jedoch oft an Distanz zu seinem Forschungsgegenstand und dessen politischer Ideologie fehlen. Liest man in der Biographie über Lisola, so fällt auf, wie tendenziös Pribram die französische Politik bewertet und wie er sich mit den antifranzösischen und prohabsburgischen Tendenzen der politischen Idee Lisolas identifiziert. So wird Ludwig XIV. zum "nimmersatten" König. 18 Die Charakterisierung Mazarins fällt immer emotional aus: Pribram spricht vom "stark verhüllte Zorn Mazarins" nach dessen diplomatischen Niederlage bei der Kaiserwahl von 1658. 19 König Johann Casimir wird mit den Worten beschrieben: "... das weiche, leicht entflammbare, jeder Regung zugängliche Herz Johann Casimirs ... ", oder als "polternder König" bezeichnet. 2o Die einem harten Durchgreifen Frankreichs gegenüber stets zögernden Wiener Geheimräte werden zu "Beschwichtigungsräthen".21 Das opportunistische Verhalten des Großen Kurfürsten bei plötzlichen Kehrtwendungen bei Bündnissen nimmt Pribram grundSätzlich in Schutz und zeigt die Notwendigkeiten auf, derentwegen der Kurfürst zu seinem Verhalten gezwungen wurde. 22 Lisola selbst nimmt bei Pribram eine hervorragende SteIlung ein. Er sieht in ihm einen Diplomaten, dessen Eifer, Kompetenz, Voraussicht, argumentative Klarheit sowie Exaktheit und Integrität er zu betonen nicht müde wird. 23 Lisolas größte Leistung sieht Pribram in seinen mahnenden Berichten nach Wien - und dies gerade dann, wenn die Wiener Regierung seine unerwünschten Verbesserungsvorschläge abwies, ferner in seiner Verhandlungsführung: Lisola agiere z.B. in den Generalstaaten "nicht wie ein Beamter, sondern wie der Bevollmächtigte eines befreundeten Fürsten". 24 Folge der grundlegenden Forschungen Grossmanns und Pribrams war, daß der Name Lisolas aus der historischen Forschung zu verschiedenen Aspekten der Politikgeschichte in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts nicht mehr fortzudenken war. Ohne daß es seitdem zu einer weiteren Einzeluntersuchung gekommen wäre, wurden sein Name und seine diplomatische Tätigkeit in kaum einer Überblicksdarstellung der Politikgeschichte der Zeit von 1648 bis 1674 vergessen. 25 Pribram, Lisola, S. 625. 19 Ebd., S. 190. 20 Ebd., S. 160. 21 Ebd., S. 574. 22 Ebd., S. 607 u.ö. 23 Ebd., S. 116, 222, 242, 385, 486, 636 u.ö. 24 Pribram, Tripelliga, S. 445. 25 Als Beispiel für eine neuere Überblicks darstellung der Politikgeschichte des 17. Jahrhunderts unter besonderer Berücksichtigung Lisolas sei genannt: Lucien Bily: Les Relations internationales en Europe. XVIIe - XVIIIe siecle. Paris 1992, darin bes. S. 225. 18

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D. Franz Paul Freiherr von Lisola - zu Forschung und Leben

Im ersten Teil der vierzehnbändigen Geschichte des Hauses Stuart, der sich mit der englischen Politik gegenüber Frankreich von 1668 bis in die 70er Jahre hinein beschäftigt, stützt sich der österreichisch-englische Historiker Onno Klopp fast ausnahmslos auf die Berichte Lisolas, die dieser als kaiserlicher Gesandter von London nach Wien geschickt hatte. Für Klopp gibt es keine gründlichere und exaktere Quellengrundlage für die englische auswärtige Politik als diese Beobachtungen und Analysen Lisolas aus London. 26 Klopp verwendet zum Teil noch nicht veröffentlichte Berichte aus dem Haus-, Hof- und Staatsarchiv in Wien, zum größeren Teil lehnt er sich an die bereits durch Grossmann edierten Relationen Lisolas an. Auch neuere Darstellungen der englischen Geschichte erkennen Lisolas Bedeutung. Keith Feiling gebührt das Verdienst, in seiner Darstellung der englischen Außenpolitik der Jahre 16601672 neben den durch Klopp und Pribram edierten Quellen auch die im Public Record Office in London vorhandenen Quellen Lisolas herangezogen zu haben. Feilings Bewertung Lisolas ist identisch mit der seiner historiographischen Vorgänger: "It was his misfortune that he was too big for his employers and that the brakes from Vienna were always grinding against this impulsive vehement machine.'t27 Haleys Darstellung der englischen Politik fußt ebenfalls auf Ergebnissen von Pribram und Klopp. Er bezieht sie in seine Forschungen über das Verhältnis zwischen dem englischen Gesandten, Politiktheoretiker, Publizisten und Freund Lisolas, Sir William Temple, und dem holländischen Ratspensionär Johan de Witt ein. 28 In der grundlegenden Biographie Johan de Witts berücksichtigt Rowen die archivalischen Bestände des Algemeen Rijksarchief in Den Haag zur Darstellung der diplomatischen Aktivitäten im Haag in den Jahren 1670 bis 1672 und cha-

26 Onno Klopp: Der Fall des Hauses Stuart und die Succession des Hauses Hannover in Groß-Britannien und Irland im Zusammenhange der europäischen Angelegenheiten von 1660-1714. 14 Bde. Wien 1875-1888, hier: Bd. 1: Die Zeit Karls 11. von England (1660-1674). Wien 1875. Klopp warf Ranke in der Nummer 76 von 1874 der Wiener Zeitschrift "Vaterland" vor, die historische Bedeutung Lisolas verkannt zu haben: vgl. dazu: Ludwig Freiherr von Pastor (Hg.): Briefe von O. Klopp an Johannes Janssen. In: Hochland, Bd. 11., 1918/19, S. 495 (frd!. Hinweis von Thomas Schuld). Auch früher schon wurde bedauert, daß Ranke die Ergiebigkeit und Qualität der Berichte Lisolas übersehen habe: Ottokar Lorenz: Analecten zur englischen Geschichte des 16. und 17. Jahrhunderts. In: HZ, Bd. 21, 1869, S. 305-351, hier: S. 336. 27 Keith Feiling: British Foreign Policy 1660-1672. London 1930. 21968, hier: S. 211. 28 K.H.D. Haley: An English Diplomat in the Low Countries. Sir William Temple and John de Witt, 1665-1672. Oxford 1986, hier z.B. S. 316.

I. Forschungsüberblick

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rakterisiert den Diplomaten als "the emperor's hyperactive and wide-ranging diplomat".29 Das für die holländisch-kaiserlichen Beziehungen der Jahre zwischen 1667 und 1672 aufschlußreiche Buch von Vaclav Cih