»Das Publikum wird immer besser«: Literarische Adressatenfunktionen vom Realismus bis zur Avantgarde [1 ed.] 9783412516024, 9783412516000


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»Das Publikum wird immer besser«: Literarische Adressatenfunktionen vom Realismus bis zur Avantgarde [1 ed.]
 9783412516024, 9783412516000

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Lorella Bosco, Giulia A. Disanto (Hg.)

»DAS PUBLIKUM WIRD IMMER BESSER« Literarische Adressatenfunktionen vom Realismus bis zur Avantgarde

„Das Publikum wird immer besser“ Literarische Adressatenfunktionen vom Realismus bis zur Avantgarde Herausgegeben von Lorella Bosco und Giulia A. Disanto

Böhlau Verlag Wien Köln Weimar

Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Universität Bari und des Instituts für „Studi Umanistici“ der Universität Salento sowie mit den FFABR-Fonds beider Herausgeberinnen.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://dnb.de abrufbar. © 2020 by Böhlau Verlag GmbH & Cie., Lindenstraße 14, D-50674 Köln Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Umschlagabbildung: Moriz Jung, Gespräch eines Redakteurs mit einem Staatsmann. Postkarte, Wien 1907. Korrektorat: Ulrike Weingärtner, Gründau Satz: SchwabScantechnik, Göttingen Vandenhoeck & Ruprecht Verlage | www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com ISBN 978-3-412-51602-4

Inhalt

Heinrich Kaulen Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  7 Giovanni Tateo „Aber wir wollten nicht nur schaffen, wir wollten auch wirken.“ . . . . . . . . . . . . . . .  15 Die Zeitschriften der Brüder Hart: Mediale Präsentationen für die literarische Öffentlichkeit Jelena U. Reinhardt Max Reinhardt und sein Publikum: Vom Kabarett zum Massentheater . . . . . . . . . .  47 Serena Grazzini / Sabrina Ballestracci Das Schon-jetzt und Noch-nicht der Moderne . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  63 Ironisches Komplizentum zwischen Autor und Leser bei Otto Julius Bierbaum Theresa Homm „Ich, dem der Wunsch des Lesers stets eher Verbot als Befehl war“ . . . . . . . . . . .  89 Der Leser in den Texten der Fackel von Karl Kraus Christine Kanz Grenzaufhebungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 107 Else Lasker-Schülers literarische Briefe an „wirklich lebende Menschen“ Oliver Ruf Medien der Avantgarde . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 117 Zur Gegenöffentlichkeit publizistischer ‚Aufruhr‘

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Inhalt

Lorella Bosco Die Varietékünstlerin und ihr Publikum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 145 Strategien der Beobachtung, der Verdinglichung und der Entortung in Emmy Hennings’ frühen Prosatexten Giulia A. Disanto Das Publikum der avantgardistischen Manifeste . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 173 Hermann Dorowin Jura Soyfer und sein Publikum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 191

Vorwort Heinrich Kaulen

Das Erzählen ist in den letzten Jahren in den Kulturwissenschaften wieder zu einem viel beachteten und breit erforschten Phänomen geworden.1 Dabei richtet sich die Aufmerksamkeit nicht mehr nur auf das schriftliche und fiktionale Erzählen, und hier speziell auf die textimmanenten Fragen nach den Erzählinstanzen, der Binnenstrukturierung des Erzählprozesses oder auf die Temporalität und die Topographie der erzählten Welt, die lange Zeit im Zentrum insbesondere der germanistischen Erzählforschung standen. Längst wird das Erzählen als ein Phänomen interdisziplinärer kulturwissenschaftlicher Forschung wahrgenommen, 2 das sich seit alters her in ganz unterschiedlichen Kommunikationspraktiken vollzogen hat, weil es zu den grundlegenden anthropologischen Fähigkeiten des Menschen gehört, mit denen er sich in der Wirklichkeit sprachlich zu orientieren und seine eigene Identität zu definieren versucht.3 Und die rasante Medienexpansion des 20. und 21. Jahrhunderts hat unseren Blick dafür geschärft, wie breit und heterogen das Spektrum der Medien und Genres ist, in denen sich in der Gegenwart das Erzählen manifes1

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Vgl. dazu: Hühn, Peter von/Pier, John/Schmid, Wolf/Schönert, Jörg (Hg.): Handbook of Narratology, Berlin 2009; Martínez, Matías/Scheffel, Michael (Hg.): Einführung in die Erzähltheorie. 10. Aufl., München 2016; Martínez, Matías: Erzählen. Ein interdisziplinäres Handbuch, Stuttgart 2017. Vgl. Strohmaier, Alexandra: Kultur – Wissen – Narration. Perspektiven transdisziplinärer Erzählforschung für die Kulturwissenschaften, Bielefeld 2013; Martínez, Matías (Hg.): Wirklichkeitserzählungen. Felder, Formen und Funktionen nicht-literarischen Erzählens, Stuttgart–Weimar 2009. Siehe dazu näher Iser, Wolfgang: Das Fiktive und das Imaginäre. Perspektiven literarischer Anthropologie. Frankfurt a. M. 1991; Weiland, Marc: Mensch und Erzählung. Helmuth Plessner, Paul Ricœur und die literarische Anthropologie, Stuttgart 2019.

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tiert. Erzählen ist längst nicht mehr nur eine Domäne alltagsspezifischer Kommunikation oder elaborierter Kunstformen wie des Epos, der Novelle und des neuzeitlichen Romans. Narrative Strukturen, die uns aus dieser Jahrhunderte alten literarischen Tradition vertraut sind, haben längst auch in den audiovisuellen Medien, im Film und in aktuellen Fernsehserien, in Computerspielen und im Internet ihren festen Platz.4 Das Erzählen ist, unabhängig von dem ausdifferenzierten und sehr heterogenen Spektrum an Medienformaten und Genres, ein Kommunikationsprozess, der nicht nur durch seinen Gegenstand und die Erzählinstanz, sondern wesentlich auch durch den bei dieser Interaktion in den Blick genommenen Adressaten konfiguriert wird. Die komplexe Wechselwirkung zwischen diesen Instanzen ist in der älteren Forschung in Bezug auf das literarische Handlungssystem und die empirischen Leser vornehmlich literatursoziologisch oder, im Hinblick auf das Symbolsystem und den ‚Leser im Text‘, rezeptionsästhetisch erforscht worden. Wolfgang Iser und Hans Robert Jauss wollten seit den 1960er Jahren bekanntlich eine „Literaturgeschichte des Lesers“ begründen und alle Texte primär von ihrer Adressatenfunktion aus erschließen.5 Seither ist es in der Erzählforschung bei der Untersuchung dieser Fragen merklich stiller geworden,6 obwohl neuere Konzepte aus dem Bereich der Kultursoziologie oder Kultursemiotik hinreichend Ansatzpunkte dafür bieten, sie aus einer veränderten Perspektive erneut aufzunehmen und weiterzuentwickeln. Diese Lücke zu schließen und die Frage nach dem adressatenspezifischen Erzählen wieder konsequent in den Mittelpunkt zu rücken, ist die Intention des vorliegenden Bandes, von dem einzelne Beiträge erstmals in einem von den Heraus4 5

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Nünning, Ansgar: Narrative Genres im Internet. Theoretische Bezugsrahmen, Mediengattungstypologie und Funktionen, Trier 2012; Friedmann, Joachim: Transmediales Erzählen. Narrative Gestaltung in Literatur, Film, Graphic Novel und Game, Konstanz 2016. Jauß, Hans Robert: Literaturgeschichte als Provokation, Frankfurt a. M. 1970; Iser, Wolfgang: Der implizite Leser. Kommunikationsformen des Romans von Bunyan bis Beckett, München 1972; Link, Hannelore: Rezeptionsforschung. Eine Einführung in Methoden und Probleme, Stuttgart 1976. Zusammenfassend für die neuere Forschung: Schmid, Wolf: Textadressat [Art.], in: Anz, Thomas (Hg.): Handbuch Literaturwissenschaft. Bd. 1: Gegenstände und Grundbegriffe, Stuttgart 2013, S. 171–181.

Vorwort

geberinnen geleiteten Panel beim Bayreuther Germanistentag zur Diskussion gestellt worden sind. Dabei konzentriert sich der Schwerpunkt des Bandes auf die Zeit zwischen dem literarischen Realismus und den Avantgardebewegungen des 20. Jahrhunderts, also auf eine tief greifende Umbruchperiode, in der gerade die traditionelle Adressatenfunktion von Literatur einerseits in eine historische Krise gerät, andererseits vielfältige neue Bestimmungen und konzeptionelle Veränderungen erfährt. Die revolutionären Kunstbewegungen, die im späteren 19. und zu Anfang des 20. Jahrhunderts in vielfacher Ausprägung aufkamen und unter der Bezeichnung „Avantgarde(n)“ in die Literatur- und Kunstgeschichte eingegangen sind,7 bestanden aus Gruppen oder Einzelpersonen, die sich durch ihre ästhetische Praxis ausdrücklich von den herrschenden Gesellschaftsnormen und von den gängigen Vorstellungen von Kunst als Institution abgrenzen wollten. Die mit einer Haltung des Protests und der Provokation verbundene Suche nach einer neuen Funktionsbestimmung der Kunst zielte programmatisch auf eine radikale Veränderung des bisherigen Verhältnisses zwischen Künstler und Öffentlichkeit ab, wie es sich nicht zuletzt in der Vorliebe der Avant­garde(n) für die Veröffentlichung von Manifesten dokumentierte. Die überkommene Rolle der Adressatinnen und Adressaten im künstlerischen Schaffensprozess wurde neu definiert, und dabei wurden die überkommenen Strukturen und Strategien des literarischen Kommunikationsprozesses grundsätzlich auf den Kopf gestellt. Diese Entwicklung war jedoch in der Literaturgeschichte des neunzehnten Jahrhunderts bereits vielfach vorgezeichnet und schon im Naturalismus und im Modernismus deutlich erkennbar. Hauptziel des vorliegenden Bandes ist eine Rekonstruktion der allmählichen Veränderungen von Adressatenfunktion und Publikumsbegriff im Zeitraum vom Realismus bis zur Avantgarde. Die optimistische Formel, „das Publikum“ werde in dem genannten Zeitraum „immer besser“, die als Obertitel dieser Publikation firmiert, ist einem Brief des Dada-Künstlers Hugo Ball aus

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Vgl. van den Berg, Hubert/Fähnders, Walter (Hg.): Metzler Lexikon Avantgarde, Stuttgart 2009.

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dem Jahr 1916 entnommen.8 Von besonderem Interesse sind beim Blick auf die Adressatenfunktion der Literatur in dem genannten Zeitraum die spezifischen Legitimationsinteressen der Künstler, aber auch die Ausschluss- und Einschlussmechanismen im literarischen Feld: Die Ausgrenzung des Künstlers aus einer Öffentlichkeit, von der er sich abgestoßen fühlt oder gegen die er sich auflehnt, bringt ihn dazu, sich an eine ‚würdigere‘ Öffentlichkeit zu richten oder eine solche, womöglich zukünftige theoretisch als Fluchtpunkt des eigenen Schaffens zu postulieren bzw. sie zumindest experimentell in ersten Versuchen zu antizipieren. Der Sammelband analysiert diesen Prozess für den genannten Zeitraum anhand von exemplarischen Texten und Autoren in seinen vielfältigen Facetten. Das Spektrum reicht dabei von den Zeitschriften des Naturalismus bis zur „Fackel“ von Karl Kraus, vom Theater des 19. Jahrhunderts bis zur Dramatik Jura Soyfers aus den 1930er Jahren, von den Briefen Else Lasker-Schülers bis zu den diversen Manifesten und Medien der Avantgarde. Giovanni Tateo behandelt die Zeitschriften der Brüder Hart im Kontext des Naturalismus als gezielte mediale Präsentationen für die literarische Öffentlichkeit. Dabei geht er vor allem den Veränderungen der editorischen Intentionen nach, die sich in der regen Publikationstätigkeit der beiden Brüder beim Wechsel von einem Zeitschriftenprojekt zum nächsten manifestieren. Trotz aller Akzentverschiebungen wird als gemeinsamer Zielpunkt die Absicht der Herausgeber erkennbar, zur Herausbildung eines neuen und breiteren Publikums beizutragen, mit dem sie ihren neuen ästhetischen Weg sowie ihre Vorstellung von einer künftigen Gesellschaft teilen können. Jelena U. Reinhardt zeichnet am Beispiel des Erfolgsregisseurs Max Reinhardts die Entwicklung „vom Kabarett zum Massentheater“ nach. Reinhardt geht, wie gezeigt wird, einen konsequenten Weg von der kabarettistischen Kleinkunst zu seinen späteren Großrauminszenierungen, und das immer mit dezidiertem 8

Ball, Hugo: Brief an Maria Hildebrand vom 1.1.1916. In: Ders.: Briefe 1904–1927, hg. von Schaub, Gerhard/Teubner, Ernst, Göttingen 2003, Bd. 1, hier S. 102.

Vorwort

Blick auf das von ihm avisierte Zielpublikum. Die Aktivierung des Publikums macht aus diesem einen „vierten Schöpfer“ (neben Autor, Schauspieler und Regisseur) des modernen Theaters. Dem „ironischen Komplizentum zwischen Autor und Leser bei Otto Julius Bierbaum“ ist der instruktive Beitrag von Sabrina Ballestracci und Serena Graz­ zini gewidmet. Leitend ist dabei die Vision einer im Medium der Kunst vorweg genommenen neuen Gemeinschaft von Künstler und Publikum. Diese Idee bestimmt noch die narrative Strategie des Erzählers Otto Julius Bierbaum, durch Ironie und literarische Stilisierung die Leser offen oder verdeckt zu Komplizen des Autors zu machen. Auf diesem Weg kommt es zu einer spielerischen Dynamisierung der Leserrolle sowie zu einer Neudefinition des Verhältnisses zwischen Autor und Publikum, die gerade in ihrem Schwanken zwischen Tradition und Innovation als repräsentativ für den allmählichen Übergang zur literarischen Moderne gelten kann. Bierbaum bleibt dabei eine Figur des Übergangs, und seine ästhetischen Strategien werden ihre radikale Entfaltung erst in den Avantgarden nach 1900 finden, deren Praxis auf eine prinzipielle Entdifferenzierung von Kunst und Lebenspraxis drängt. Eine ganz andere Variante des Adressatenbezugs erkennt Theresa Homm bei dem berühmten Wiener Fackel-Herausgeber Karl Kraus, der das Verhältnis zwischen Autor und Rezipient in seiner Zeitschrift ständig programmatisch reflektiert. Für den Satiriker Kraus ist der Leser nicht potenzieller Bündnispartner, sondern, sofern er die literarischen Strategien und die Intention des Zeitungsprojekts nicht durchschaut, selbst Teil des verhassten Kulturbetriebs, also sein Widersacher und Feind. Der Beitrag rekonstruiert das Verhältnis von Autor und Leser textnah an prägnanten Passagen aus der Fackel und untersucht Funktion und Wandel der diversen Leseransprachen von Kraus. Ist der Leser anfangs noch zumindest unter bestimmten Bedingungen als vertrauter Partner denkbar, wird der Ton ihm gegenüber im Laufe der Jahre immer a­ ggressiver – in demselben Maße, in dem das Bemühen, ihn zu einem adäquaten Leser heranzubilden, offensichtlich zum Scheitern verurteilt ist.

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Christine Kanz wendet sich Else Lasker-Schüler und ihrer literarischen Epistolographie zu. Sie erkennt in den Briefen der Künstlerin nicht nur eine beständige Genre- und Medienvermischung, sondern weist nach, dass auch die Inhalte und die Adressierungen der hier versammelten „Briefe“ Entdifferenzierungen zwischen Fiktion und Faktualität darstellen. Dabei gelangt sie im Hinblick auf die Funktion der Adressierungen zu einer Typologie von vier Hauptfunktionen, die sie an ihrem Textkorpus im Detail exemplifiziert und illustriert. Die Selbstinszenierung der Autorin erweist sich als eine durchaus raffinierte Strategie und ist so angelegt, dass sie im Spiel mit ihren Adressatinnen und Adressaten de facto selbst stets die Regisseurin und Hauptakteurin bleibt. Oliver Ruf geht in seinem Beitrag über die „Medien der Avantgarde“ dem Versuch nach, in den Jahren nach 1910 eine subkulturelle „Gegenöffentlichkeit“ gegen die herrschenden Medien zu etablieren. Die Zeitschriften, in denen das vornehmlich geschah, werden im Hinblick auf ihre Formen und Funktionen, die beteiligten Künstler, die Publikationsorte und die spezifische Medien­ programmatik im Einzelnen charakterisiert. Der „publizistische Aufruhr“, der dabei inszeniert wurde, war an die Großstadt und an Institutionen wie das großstädtische Caféhaus gebunden und zielte auf eine neue, eingreifende und umwälzende Form der Öffentlichkeit. Lorella Bosco diskutiert die Beziehung zwischen Kunst und Öffentlichkeit am Beispiel der dadaistischen Varietékünstlerin und Schriftstellerin Emmy Hennings. An fünf Prosatexten der Autorin wird nachgezeichnet, wie sich Hennings immer wieder neu des prekären Standorts weiblicher Autorschaft versichert, ohne je zu einer eindeutigen Identitätsfestlegung zu gelangen. Sie treibt in enger Verbindung ihrer literarischen und theatralischen Praxis ein bewegliches Spiel mit den herrschenden Autorschafts- und Geschlechtermustern und reflektiert ihre eigene Rolle speziell in Hinsicht auf die spezifische Blickkonstellation, die zwischen Performerin und Publikum, zwischen Beobachtungssubjekt und Beobachtungsobjekt besteht. Kern ihrer Selbstinszenierung ist das strategisch geschickt eingefädelte Spiel mit den Erwartungen und Gendervorstellungen eines vom zeitgenössischen Frauenbild geprägten Publikums.

Vorwort

Auch der Beitrag von Giulia A. Disanto bewegt sich im historischen Kontext der Avantgardebewegungen des frühen zwanzigsten Jahrhunderts. Die Verfasserin verfolgt am Beispiel der avantgardistischen Manifeste die neue Hinwendung zum Publikum und zur Rezeption als einem „kollektiven Akt“, die sich im Bruch mit der Autonomieästhetik in dieser Zeit vollzieht. Vom Futurismus bis zum Dadaismus wird von der europäischen Avantgarde die Funktion der Rezipienten im ästhetischen Prozess neu bestimmt. In Performances und anderen Aktionsformen wird der Zuschauer vom unbeteiligten Betrachter zum Akteur und Ko-Produzenten des ‚Werks‘. Die Aktivierung des Publikums fungiert dabei als konstitutiver Bestandteil einer auf die Aufhebung der Kunst im Alltagsleben und auf die Umwälzung des Bestehenden gerichteten kulturrevolutionären Praxis. Der abschließende Aufsatz von Hermann Dorowin über „Jura Soyfer und sein Publikum“ weitet den Blick bis in die dreißiger Jahre des zwanzigsten Jahrhunderts aus. Der österreichisch-jüdische Autor, der 1939 im KZ Buchenwald starb, hat in seinen theoretischen Schriften, wie Dorowin präzise und textnah entwickelt, immer wieder die soziale Zusammensetzung seines Adressatenkreises reflektiert. Dabei zeigt sich in seiner praktischen Theaterarbeit eine zunehmende Öffnung der Zielgruppe von der anfänglichen Orientierung auf das klassen­ bewusste Proletariat oder sogar die ideologische Agitation von Parteimitgliedern hin zum Volkstheater für breitere Schichten im Sinne der „Volksfront“-­Konzepte, aber auch in der Nachfolge Nestroys und anderer österreichischer Vorläufer. Der Autor leitet aus einem offeneren, klassenübergreifenden Begriff des ‚Volkes‘ in den „Mittelstücken“ aus seinen letzten Lebensjahren eine veränderte, nicht mehr von der Partei garantierte Adressatenfunktion ab. Den drohenden ‚Anschluss‘ seines Landes an das nationalsozialistische Deutschland vor Augen, bekennt er sich nun selbstbewusst zur Autonomie der österreichischen Kultur. In den Beiträgen des vorliegenden Bandes wird anhand verschiedener Textsorten das gesamte Spektrum literarischer Adressatenfunktionen vom Naturalismus bis zur Avantgarde ausgemessen. Die historische Transformation der Adressatenfunktion in Theorie und literarischer Praxis wird an exemplarischen

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Fallbeispielen aus dem genannten Zeitraum im Detail rekonstruiert. Die versammelten Beiträge bieten aber auch instruktive Einzelstudien zu den hier versammelten Autoren und Genres, die unabhängig von der leitenden narratologischen und diachronischen Perspektive des Bandes mit Gewinn gelesen werden können.

„Aber wir wollten nicht nur schaffen, wir wollten auch wirken.“ Die Zeitschriften der Brüder Hart: Mediale Präsentationen für die literarische Öffentlichkeit Giovanni Tateo Trotz ihrer jeweils oft nur kurzen Erscheinungsdauer produzierten die literarischen Zeitschriften, die im Wilhelminischen Deutschland wesentlich zur theoretischen Begründung des Naturalismus beitrugen, insgesamt eine publizistische Materialmenge beträchtlichen Umfangs. Prominente Beispiele sind die von den Brüdern Heinrich und Julius Hart gegründeten literarischen Zeitschriften seit dem Ende der 1870er Jahre sowie andere, teils auch langlebigere periodische Veröffentlichungen, die die literarische Debatte bis zu den Anfängen des Hauptmann’schen Theaters begleiteten. Auffallend ist, dass sich die Haupt­ akteure des deutschen Naturalismus von Beginn an nicht darauf beschränkten, theoretische Positionen innerhalb der Zeitschriften auszuarbeiten.1 Vielmehr zielte ihr weitaus ehrgeizigeres Vorhaben vor allem auf die Förderung von Periodika und Publikationsorganen, 2 die das bereits bestehende Marktangebot erweitern oder nach Möglichkeit auch erfolgreich damit konkurrieren sollten. Die Neuheit bildete deshalb ein distinktives Merkmal, das es nach außen hin 1 2

Eine ausführliche Rekonstruktion der Naturalismus-Anfänge mit Blick auf den politischen Kontext der 1870er Jahre liefert Bernhardt, Rüdiger: Die Programmschriften des frühen deutschen Naturalismus, in: Weimarer Beiträge 28 (1982), S. 5–34. Baumann, Christiane: Die „Vorkämpfer“ des deutschen Naturalismus – frühe Netzwerke und Zeitschriften Ende der 1870er Jahre, in: Studia Niemcoznawcze 52 (2013), S. 215–239, hier S. 221 f., bietet ein detailliertes Profil der zwischen 1877 und 1881 gegründeten Zeitschriften. Es handelt sich um Projekte, „die nicht nur konzeptionell-inhaltliche Übereinstimmungen zu den frühen Hartschen Zeitschriften aufweisen, sondern darauf hindeuten, dass […] die ‚Bahnbrecher‘ in ihrem Rebellieren gegen Politik, Staat und etablierte Kunstinstitutionen und in ihren Bestrebungen zur Erneuerung und Modernisierung des Literatur- und Kunstbetriebes […] einen naturalistische Programmatik vorbereitenden publizistischen Diskurs führten“.

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zu rechtfertigen und hervorzuheben galt.3 Einen bedeutenden Beitrag zur komplexen Legitimations- und Werbekampagne, mit deren Hilfe man zugleich den innovativen Charakter der Zeitschriften selbst beweisen wollte, lieferte auch eine Reihe von Texten, allen voran, aber nicht ausschließlich solchen mit einleitender Funktion, denen aus literarhistorischer Sicht traditionellerweise ein exponierter Stellenwert zugewiesen wurde. Die vorliegende Studie unternimmt den Versuch, die betreffende Textsorte grundsätzlich als integralen Bestandteil ihres konkreten editorischen Kontexts zu betrachten. Der Fokus ist dabei besonders auf diejenigen Texte gerichtet, die mehr oder weniger bewusst eine metanarrative Funktion für die paratextuelle Organisation der betreffenden Publikationsprojekte als Gesamtheit übernahmen.4 Dies ermöglicht es, einer offensichtlichen Priorität besser gerecht zu werden, die die literarischen Diskurse selbst setzen und die sich für die junge, vom Naturalismus angeregte Autorengeneration als geradezu strategisch erweist: die Schaffung einer möglichst konsistenten Leserschaft, die in das neue kritische Projekt miteinbezogen werden und dieses mittragen sollte. Auf genau dieses Ziel nimmt auch Heinrich Hart in seinen literarischen Erinnerungen unter dem Titel Wir West­ falen Bezug, wenn er hinsichtlich der Umstände, die ihn 1878, zusammen mit seinem Bruder Julius, zur Gründung ihrer zweiten Zeitschrift, der Deutschen Monatsblätter, bewogen hatten, bekennt: „Aber wir wollten nicht nur schaffen, wir wollten auch wirken“.5 3

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Ab 1870 ist für die literarische Produktion in Deutschland eine deutliche Expansion zu registrieren: „Die Titelproduktion stieg von 12 843 im Jahr 1875 auf 18 059 im Jahr 1890“; Füssel, Stephan: Das Autor-Verleger-Verhältnis in der Kaiserzeit, in: Hansers Sozial­ geschichte der deutschen Literatur vom 16. Jahrhundert bis zur Gegenwart, Bd. 7: Naturalismus, Fin de siècle, Expressionismus (1890–1918), hg. von York-Gothart Mix, München 2000, S. 137–154, hier S. 137. Eine signifikante Funktion erhält dabei auch der literarische Zeitschriftenmarkt; vgl. dazu auch Butzer, Günter/Günter, Manuela: Literaturzeitschriften der Jahrhundertwende, ebd., S. 116–136. Ich verwende „Paratext“ bzw. „paratextuell“ im Sinne von Gérard Genette: Seuils, Paris 1987 (dt.: Paratexte. Das Buch vom Beiwerk des Buches, aus dem Französischen von Dieter Hornig, mit einem Vorwort von Harald Weinrich, Frankfurt a. M. 2001). In: Hart, Heinrich: Gesammelte Werke, hg. von Julius Hart, unter Mitwirkung von Wilhelm Bölsche, Dr. Hans Beerli, Wilhelm Holzamer, Franz Hermann Meißner, 4 Bde.,

Aber wir wollten nicht nur schaffen

Auf das offizielle äußere Gewand, in dem sich die von den Brüdern Hart zwischen 1877 und 1890 herausgegebenen Zeitschriften bei ihren potenziellen Lesern präsentierten, weist bereits ein Blick auf die gewählten Titel hin. Die deutliche Präferenz für die Typologie eher nüchterner und besänftigender Titel versteht sich gleichwohl nicht als bloßer Vorwand, zu dem Zweck, das polemische Potenzial einzudämmen. Ganz im Gegenteil ging es darum, dem eigenen Programm sowohl seitens der Vorgängergeneration und der eigenen, der kulturellen Verspätung bezichtigten Zeitgenossen als auch seitens der übrigen Gesellschaftskreise eine breitest mögliche Akzeptanz zu sichern. Es ging also erkennbar darum, sich in die etablierte Kulturszene einzuführen, deren Autorität man implizit anerkannte, sowie die dort geltenden Normen auch in formaler Hinsicht zu erfüllen, um so einen aktiven und positiven Beitrag zu den literarischen Projekten jener Jahre beisteuern zu können.6 Einen deutlich schärferen Ton schlägt erst die dritte Zeitschrift, Kritische Waffengänge (Frühjahr 1882 bis Frühsommer 1884) an.7 Denn bereits der Titel, ­ erlin 1907, Bd. 3, S. 11–96, hier S. 44. Im Folgenden wird diese autobiographische Schrift B aus der eben genannten Ausgabe als WW zitiert. 6 Unter diesen Vorzeichen drängt sich die Assoziation zum Konzept des „Felds“ auf und zu der damit verknüpften Vision des alle Bereiche des sozialen Lebens, somit auch das kulturelle Leben, beherrschenden Agons, im Sinne des literarhistorischen Diskurses von Pierre Bourdieu: Les règles de l’art: genèse et structure du champ littéraire, Paris 1992 (dt.: Die Regeln der Kunst. Genese und Struktur des literarischen Feldes, übersetzt von Bernd Schwibs und Achim Russer, Frankfurt a. M. 1999). Vgl. Magerski, Christine: Die Kon­ stituierung des literarischen Feldes in Deutschland nach 1871. Berliner Moderne, Literaturkritik und die Anfänge der Literatursoziologie, Tübingen 2004. Die Studie beschäftigt sich auch mit dem Beitrag der Brüder Hart (S. 48–54). 7 Die Kritischen Waffengänge (Otto Wiegand, Leipzig) werden als KW zitiert, mit Angabe des Hefts und der Seiten. Nach Schlawe, Fritz: Literarische Zeitschriften. Teil I. 1885– 1910, Stuttgart 1961, S. 17, stellen die sechs Hefte dieser Publikation keine Zeitschrift im eigentlichen Sinne dar. Ebenso Cowen, Roy C.: Der Naturalismus. Kommentar zu einer Epoche. 3., bibliographisch erweiterte Aufl., München 1973, S. 69, mit Blick auf die alleinige Verfasserschaft der Brüder Hart. Obwohl im Prospekt auf der Umschlagseite 4 des ersten Hefts der Kritischen Waffengänge von einer Zeitschrift gesprochen wird, wurde diese Publikation in der Zeitschriftenschau des ebenso von den Brüdern Hart edierten Allgemeinen Deutschen Literaturkalenders für das Jahr 1882 nicht aufgeführt; vgl. Tillmann, Curt: Die Zeitschriften der Gebrüder Hart, Diss., München 1923, S. 91.

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eine offenkundige kämpferische Variante zu den Kritischen Gängen Friedrich Theodor Vischers, setzte ein deutliches Signal für die beabsichtigte kulturelle Herausforderung, was die Forschung wiederholt dazu veranlasst hat, hier den eigentlichen Beginn des Naturalismus festzumachen.8 Hingegen charakterisierten sich die übrigen Zeitschriften allein durch die Definition ihrer publizistischen bzw. periodischen Gattungsform und setzten für die Mission einer extrem synthetischen Vermittlung der programmatischen Inhalte dann auf die öffentliche Verbreitung. Das gilt gleichermaßen für die beiden vorausgehenden Zeitschriften, also die Deutsche Dichtung (Frühjahr bis Herbst 1877)9 und die Deutschen Monatsblätter (April 1878 bis September 1879),10 wie für die beiden nachfolgenden Periodika, d. h. die Berliner Monatshefte (April bis September 1885)11 und das Kritische Jahrbuch (März 1889 – Februar 1890).12 So präsentierte sich das erste Heft der Deutschen Dichtung als „Organ für Dichtung und Kritik“ (was im zweiten und dritten Heft in „Vierteljahrschrift für Dichtung und Kritik“ umgewandelt wurde). Bereits wenige Monate nachdem die Deutsche Dichtung ihr Erscheinen eingestellt hatte, kamen die Deutschen Monatsblät­ ter heraus, die in offenkundiger Kontinuität zu ihrem Vorgängerorgan bereits den Anspruch manifestierten, als „Centralorgan für das literarische Leben der Gegenwart“ anerkannt zu werden. Präsentierten sich zudem die Berliner 8 Vgl. dazu Meyer, Theo: Einleitung zu: Theorie des Naturalismus, Stuttgart 1984, S. 3–49, hier S. 17; Sprengel, Peter: Geschichte der deutschsprachigen Literatur 1870–1900, München 1998, S. 135; Bunzel, Wolfgang: Nachwort zu: Heinrich Hart/Julius Hart: Lebenserinnerungen. Rückblicke auf die Frühzeit der literarischen Moderne (1880–1900), Bielefeld 2006, S. 303–320, hier S. 303. 9 Die Deutsche Dichtung (hg. vom Westfälischen Verein für Literatur; Verlag der Coppenrath’schen Buch- und Kunsthandlung, Münster) wird als DD zitiert, mit Angabe des Hefts und der Seiten. 10 Die Deutschen Monatsblätter ( J. Kühtmann’s Buchhandlung, Bremen) werden als DM zitiert, mit Angabe des halbjährigen Bandes und der Seiten. Das III./IV. Heft ( Juni–Juli 1879) wurde von Max Stempel herausgegeben, der auch das folgende und letzte Hefte besorgte (V./VI., August–September 1879). 11 Die Berliner Monatshefte ( J. C. C. Bruns’, Minden) werden als BM zitiert, mit Angabe des Hefts und der Seiten. 12 Das Kritische Jahrbuch (Verlagsanstalt und Druckerei AG J.F. Richter, Hamburg) wird als KJ zitiert, mit Angabe des Hefts und der Seiten.

Aber wir wollten nicht nur schaffen

Monatshefte allgemein als Zeitschrift „für Litteratur, Kritik und Theater“, so zielte der lange Untertitel des Kritischen Jahrbuchs, „Beiträge zur Charakteristik der zeitgenössischen Literatur sowie zur Verständigung über den modernen Realismus“, noch auf eine ausschließlich gegenwartsbezogene Programmatik. Diese auf den ersten Blick homogene Entwicklung lässt unschwer einen paradigmatischen Wechsel der Redaktionslinie erkennen, mit dem eine Adaption der programmatischen Schwerpunkte und kommunikativen Strategien an die Kontingenz der jeweiligen kulturellen Aktualität korreliert. So verorteten sich die ersten beiden Zeitschriften, die Deutsche Dichtung und die Deutschen Monatsblätter, bei aller Unterschiedlichkeit grundsätzlich auf einer Linie mit den zahlreichen periodischen Publikationen literarisch-kulturellen Inhalts, die in den 1870er Jahren neu auf den Markt drängten (Die Gegenwart, 1872–1931; Deutsche Rundschau, 1874–1963; Deutsche Revue, 1877–1931) bzw. sich dort bereits seit einigen Jahren etabliert hatten (Das Magazin für die Literatur des In- und Auslandes, 1832–1915; Grenzboten, 1841–1922; Preußische Jahrbücher, 1858–1932). Mit den Kritischen Waffengängen wurde hingegen bereits eine Innovation vorgeschlagen. Einen Beweis dafür liefert die nahezu monothematische Organisation der insgesamt sechs von den Herausgebern jeweils gemeinsam firmierten Hefte unterschiedlichen Umfangs (zwischen 55 und 74 Seiten). Diese zielten darauf ab, der Ideenwerkstatt zur weiteren Förderung und Verbreitung einer nationalen Volkskunst einen neuen Anstrich zu verleihen. Die programmatischen Leitlinien waren mit der an den Leser gerichteten berühmten Anfangsbotschaft Wozu, Wogegen, Wofür? (KW 1, 3–8) in aller Klarheit abgesteckt worden. Eine analoge Funktion übernahm im zweiten Heft der ausdrücklich so titulierte Sendbrief. Adressat war Otto Fürst von Bismarck, an den die Brüder Hart einen gemeinsamen dringlichen Aufruf zur staatlichen Förderung und Unterstützung der Literatur und des Theaters, der Zeitschriften und Jahrbücher richteten (KW 2, 3–8). Ähnlicher meta- bzw. paratextueller Konventionen bedienten sich auch 1885 Michael Georg Conrad (1846–1927) und, fünf Jahre danach, Otto Brahm (1856–1912) für die Münchner Wochenschrift Die Gesellschaft bzw. die Berliner Freie Bühne. Zeitlich parallel zu Conrad und Brahm machten im Übrigen auch die Brüder Hart selbst in ihren beiden letzten publizistischen Projekten, den Berliner Monatsheften und dem Kritischen Jahrbuch, erneut davon Gebrauch,

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während eine derartige Strategie dem redaktionellen Konzept ihrer beiden frühen Zeitschriften in dieser expliziten Form noch fremd war. Denn genauer betrachtet entbehren auch die Deutsche Dichtung und die Deutschen Monatsblätter keineswegs einer Programmschrift, sondern verlagern diese sozusagen von den Anfangsseiten weg bzw. streuen sie direkt in die verschiedenen Beiträge ein. Auch formal unterscheiden sich dabei die von den Brüdern Hart beigesteuerten Stellungnahmen dieser Art gegenüber dem literarischen Proto-Manifest, das dem Leser mit seiner expliziten Appellstruktur quasi eine Art von ‚Gebrauchsanweisung‘ an die Hand liefert. Vielmehr entspricht die für beide fraglichen Blätter gewählte Form der des thematisch breit angelegten historisch-literarischen Essays. Jenseits des von den Verfassern gleichwohl fortgeführten traditionellen Konzepts dieser Literaturform strebten diese dabei eine Inventur der kulturellen Tendenzen der Gegenwart an, wobei die zugrunde gelegte Werteskala auch jene Momente der jüngeren und jüngsten Vergangenheit mit berücksichtigen sollte, die auf die zukünftige Erneuerung vorauswiesen. Ein extremes Beispiel liefert in dieser Hinsicht die vom Westfälischen Verein für Literatur13 herausgegebene und von Albert Gierse und Heinrich Hart redigierte Deutsche Dichtung. Denn das erste Heft der Zeitschrift eröffnete keineswegs mit einer einleitenden Schrift, sondern unmittelbar mit vier Gedichten aus der Feder des erst 18-jährigen Julius Hart. Das erste, An die deutsche Poesie (DD 1, 3–5, hier 3), ist eine an die Gattungstradition der paränetischen Elegie angelehnte Hymne, die das einschlägige rhetorische Instrumentarium in den Dienst einer Klage über die aktuelle Lage der deutschen Poesie stellt. Zu lange schon verharre diese im träumenden Zustand, „Kranzumwundenen Haars/ […] im duftenden Frühlingswald/An der epheuumhangenen Quelle,/Wo [ihr] schattet der Buche Geäst“ (V. 1–4), und sei scheinbar nicht mehr im Stande, sich in angemessener Weise den drängenden Fragen der Gegenwart zu stellen. Es folgt der Appell für eine selbsterneuernde Aktion, die es der literarischen 13 Dazu Bruns, Karin: Westfälischer Verein für Litteratur [Münster], in: Wülfing, Wulf/ Bruns, Karin/Parr, Rolf (Hg.): Handbuch literarisch-kultureller Vereine, Gruppen und Bünde 1825–1933, Stuttgart–Weimar 1998, S. 495 f.

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Kultur ermöglichen sollte, sich des ihrer ursprünglichen Natur höchsteigenen patriotischen Primats wieder zu bemächtigen. In diesem Sinne versteht sich der geradezu martialische Aufruf, sich „vom Haupte den Rosenkranz“ zu reißen, um sich „ins fließende Haar […] den wuchtigen Helm“ zu drücken, „die blitzende Brünne“ anzulegen, „zum schneidig schlagenden Schwerte“ zu greifen, und so gerüstet, „stahlblauen Auges […]/Auf den dampfendheißen Schlachtplatz“ zu treten (V. 27–30). Im Schlussappel der letzten drei Verse scheint sich die lyrische Stimme gewissermaßen direkt an das deutsche Volk zu richten und steigert so noch das Pathos ihrer Worte: „Die Stunde ist da, die Stunde ist da,/Jetzt ist nicht Zeit zum müden Schlafe,/Wachet und streitet in heiligem Kampf “ (V. 65–67). Die literarische Qualität des poetischen Ergusses eines 18-Jährigen, mit dem die Publikationen der Deutschen Dichtung einsetzt, sei dahingestellt. Gleichwohl liefert dieser ein Zeugnis für die grundsätzliche Problematik des Versuchs, in den Jahren nach Sedan der drohenden Gefahr einer Marginalisierung der deutschen Literatur mit dem demonstrativen Eintreten für die vom Kaiserreich repräsentierte nationale Sache entgegenzuwirken. Ein zentraler Stellenwert für die hier vorgeschlagene Konstruktion einer literarischen Identität scheint in diesem Sinne der Suche nach einer geeigneten Legitimierungsstrategie zuzukommen. Die Pflicht zum Wachrütteln des in bukolischer Landschaft dahinträumenden Mädchens wird auf ein neues literarisches Konzept projiziert, um so den gerade im Augenblick der höchsten Not scheinbar geschwundenen Kontakt mit der historischen Aktualität wiederherzustellen und auf diese Weise die Dichtung zu vergangenen Höhen zurückzuführen. Aus dieser Perspektive erhält auch die Dialektik von Vergangenheit und Gegenwart, von Obsoletem und Erneuerung, historischer Erinnerung und Aktualität eine andere Konnotation. Das Veraltete, Überholte, ist nicht ausschließlich eine der Vergangenheit zuzuweisende Charakteristik. Denn auch die Gegenwart kann insoweit Anzeichen des Veralteten aufweisen, wie sie an vergangenen Schemata festhält. Aber auch umgekehrt vermag die rückwärtige Erinnerung, insofern sie im Zeichen des Kontakts mit der historischen Realität steht, zur Erneuerung beizutragen.14 Mit Hilfe die14 Der unternommene Versuch, das kulturelle Erbe, das Erneuerungsbedürfnis und die Wiedererweckung des Nationalgefühls in Einklang zu bringen, war in mehr als einer Hinsicht

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ses Gedichts, das sich mit seinem rhetorischen Instrumentarium ausdrücklich in die klassisch-humanistische Tradition stellt, sollte die Position einer neuen Generation oder, genauer gesagt, zunächst noch einer Gruppe aufstrebender oder bereits etablierter Schriftsteller gegenüber der historischen Aktualität und der kulturellen Situation der neuen Bismarck-Ära verkündet werden. Zu erwähnen ist auch die Kollokation des Gedichts in der Zeitschrift direkt hinter dem Titelblatt, dessen Bedeutung über rein typographisch-formale Überlegungen hinauszuweisen scheint. Denn auf der Titelseite selbst findet sich direkt unterhalb der editorischen Metadaten, d. h. Titel („Deutsche Dichtung“), Untertitel („Organ für Dichtung und Kritik“), Publikationsform („Vierteljahrschrift“) und Herausgeber („herausgegeben vom Westfälischen Verein für Literatur“), eine Liste aller Mitwirkenden, die der kollektiven Valenz der Stimme des Gedichtsprechers unwillkürlich Nachdruck verleiht. Das letztere Requisit, also die Liste der Mitwirkenden, wird in den zweiten Band übernommen, im dritten dann aber durch die druckoptisch abgestufte Angabe „Unter Mitwirkung [kleiner gedruckt] der ersten Dichter und Schriftsteller Deutschlands und Österreichs [größer gedruckt]“ ersetzt. Die in den beiden Ausgaben des Deutschen Jahrbuchs dann noch einmal wiederkehrende Entscheidung für eine namentliche Aufzählung der Mitwirkenden auf der Titelseite war im Übrigen kein Novum, sondern findet in der zeitgenössischen Publizistik häufiger Verwendung.15 Eine solch strategisch anmutende editorische Maßnahme verproblematisch. Das zeigt sich nicht zuletzt daran, wie Julius Hart innerhalb des Gedichts auf die historische Figur des Hermann referiert (vgl. V. 36–45), die seit dem Humanisten Ulrich von Hutten als Schlüsselfigur eines nationalen deutschen Gründungsmythos fungiert hatte. Dabei ist zu beachten, dass zwei Jahre vor dem Erscheinen der Zeitschrift die feierliche Einweihung des berühmten Nationaldenkmals zu Ehren des Cheruskers im Teuteburger Wald bei Detmold in Anwesenheit des Kaisers stattgefunden hatte. Zum Hermann-Mythos vgl. Münkler, Herfried: Die Deutschen und ihre Mythen. 4. Aufl., Reinbek bei Hamburg 2015, S. 165–180. 15 Ein Beispiel dafür liefern die Vordeckel der ersten drei Jahrgänge der Grenzboten, der berühmten Zeitschrift, die der Prager Journalist lgnaz Kuranda (1812–1884) in Brüssel gegründet hatte und die sich in den Jahren danach zum einflussreichsten Sprachrohr des national-liberalen Bürgertums entwickelte. Im Untertitel hieß sie zunächst Blätter für Deutschland und Belgien, ab 1842 Eine deutsche Revue, ab 1845 Zeitschrift für Politik und

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rät deutlich Heinrich Harts Anspruch auf eine Rolle als Protagonist der kulturellen Erneuerung in der deutschsprachigen literarischen Öffentlichkeit seiner Zeit,16 wie er selbst mit Stolz in seinen Erinnerungen festhält (WW 33). Eine programmatische Stoßrichtung kündigt sich insbesondere in einem anderen Beitrag Heinrich Harts an, diesmal in der üblicheren Essayform, der mit Zur Entwicklung der Künste betitelt ist und in der Forschung gemeinhin als frühestes Zeugnis des aufkommenden Naturalismus betrachtet wird.17 Innerhalb des ersten Hefts der Deutschen Dichtung stößt man auf diesen Text allerdings erst nach längerem Blättern.18 Ähnlich wie die an der äußeren „Schwelle“ der Zeitschrift positionierte gereimte Elegie ist auch dieser interne Text, der eine Reflexion über philosophisch-ästhetische Fragen bietet, thematisch ganz auf die Perspektive einer poetischen Erneuerung im Zeichen der stärkeren Nähe zur historischen Kontingenz zentriert. Auch bei dieser Gelegenheit sucht man

Literatur und ab 1871 Zeitschrift für Politik, Literatur und Kunst. Vgl. Obenaus, Sibylle: Literarische und politische Zeitschriften. 1848–1880, Stuttgart 1987, S. 38–43, hier S. 38. Bedeutsam ist die Zeitschrift, weil Schmidt und Freytag hier die Theorie des Realismus entwickelten. In dem Jahrzehnt seit 1848 waren sie bestimmend für den literarischen Diskurs in Deutschland. 16 Hier erscheinen vor allem folgende Namen: Robert Hamerling (1830–1889), Leopold von Sacher-Masoch (1836–1895), Arthur Fitger (1840–1909), Emil Vacano (1840–1892), Joseph Kürschner (1853–1902), Hans Herrig (1845–1892), Johannes Proelß (1853–1911), Felix Dahn (1834–1912), Wilhelm Henzen (1850–1910), Otto Hammann (1852–1928). Sowohl auf der Liste der ersten Umschlagseite des ersten Hefts der Deutschen Dichtung, als auch dem entsprechenden Gegenstück in Wir Westfalen fehlt der wichtige Name von Peter Hiller (1854–1904). 17 DD 1, 28–30. Die Schrift erscheint an erster Stelle in Brauneck, Manfred/Müller, Christine (Hg.): Naturalismus. Manifeste und Dokumente zur deutschen Literatur. 1880–1900, Stuttgart 1987, S. 3–5. Hingegen bleibt sie unerwähnt in der Anthologie von Ruprecht, Erich (Hg.): Literarische Manifeste des Naturalismus. 1880–1892, Stuttgart 1962, die hingegen mit Neue Welt eröffnet. 18 D. h. im Anschluss an eine narrative Studie von Emil Vacano, Die Astern (DD 1, 6–10), ein Gedicht von Hans Herrig, Die Todten (ebd., 10 f.), eine philologisch-germanische Studie von Ludwig Noiré, Die Frithjofsage und ihre Übersetzer (ebd., 12–20), einige von Hart selbst beigesteuerte Fragmente aus der dramatischen Trilogie ‚Lucifer‘ (ebd., 20–24), eine Skizze Margarethe Halms, Ein Traum vom Glücke (ebd., 24–26), eine Nänie an Anastasius Grün von Karl Viktor von Hansgirg (ebd., 26) und schließlich einige Gedichten von Otto Pauly (ebd., 27 f.).

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vergeblich nach literarischen oder kulturellen Vergangenheits- und Gegenwartsbezügen, die die allgemeine vitalistische und immanentistische Botschaft, die bereits das an die deutsche Poesie adressierte gereimte Monitum charakterisiert, konkret untermauern. So konzentriert sich das Interesse ganz darauf, zwei auf den künstlerischen Ausdruck bezogene Entwicklungsmodelle umzumodeln. Dabei handelt es sich einerseits um das Modell des Hegelianers Max Schasler (1819–1903), das, im Sinne Winckelmanns, das Primat des Kunstwerks als der vollkommenen Synthese von Ideal und Realität, Sinnlichkeit und Geist bestätigte, sowie andererseits um das Modell des Kulturhistorikers und Volkskundlers Wilhelm Heinrich von Riehl (1823–1897), demzufolge „die heutige Poesie […] Epigonenkunst [sei]“ (DD 1, 30). In Harts Kritik an Riehls negativem Urteil über die zeitgenössische Dichtkunst kommt vor allem die Überzeugung zum Ausdruck, sich in einer neuen Phase der kulturellen Wiedergeburt zu befinden, in der die vordergründigen Signale des Epigonentums vielmehr auch als Vorboten der Erneuerung gedeutet werden könnten („es sind keine Epigonen, Progonen sind es neuer Blüthezeit“, DD 1, 30). Zur Stützung der letzteren Hypothese beruft sich Hart auf Rudolf Gottschall (1823–1909), einen damaligen Erfolgsautor und Redakteur der Zeitschriften Blätter für literarische Unterhaltung und Unsere Zeit: „Unsere Poesie ist diejenige, welche sich nicht vom Leben abwendet, sondern ihr göttliches Gewand schürzt, die strahlende Stirn neigt und Bausteine aufrafft und mit starker Hand mittragen hilft zum großen, erhabenen Bau einer besseren Zukunft“ (ebd.). Präzisere Angaben zu den editorischen Zielsetzungen der Deutschen Dich­ tung finden sich einmal in einer Rezension von Julius Hart, die im dritten Heft der Zeitschrift erschien, sowie zum anderen in zwei jeweils auf der Umschlagseite 4 des ersten und dritten Hefts abgedruckten Texten. Im ersten Fall handelt es sich um eine eingeschobene Bemerkung in einer ausführlicheren Abhandlung zweier Erzählwerke, die im selben Jahr auf den Markt gekommen waren: Wilhelm Langes Übersetzung von Turgenjews Roman Die neue Generation,19 und Leopold von Sacher-Masochs sechsteiligem Novellenzyklus Das Eigen­ 19 E. Wallroth Berlin. Der Roman Now ist im deutschen Sprachraum auch unter dem Titel Neuland verbreitet.

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tum. Letzterer erschien als zweiter Teil des Werks Das Vermächtnis Kains, dessen erster Teil, Die Liebe, bereits 1870 publiziert wurde und gleichfalls sechs Erzählungen umfasst, darunter die berühmte Venus im Pelz. Den beiden osteuropäischen Schriftstellern erkennt Hart das Verdienst zu, „culturgeschichtliche“, d. h., auf das reale Leben gerichtete Erzählungen geschaffen zu haben, die, insbesondere in Sacher-Masochs Fall, aus eben diesem Grund ein konkretes Bezugsmodell für „eine neue Poesie“ boten. In beiden Beispielen zeichnete sich für Hart die Möglichkeit eines neuen literarischen Konzepts ab, das „auf dem Boden der Ethik“ aufruhte (DD 3, 74–78, hier 76), womit eine von seinem Bruder in dessen Aufsatz Zur Entwicklung der Künste formulierte Idee wieder aufgenommen wird. Hart präsentiert hier ein makrohistorisches Synthesemodell, das von Homer zu Shakespeare führt, von denen der erste für das Streben nach der „schönen Form“, der zweite für die „Poesie der Leidenschaft, der charakteristischen Individualität“, steht. Innerhalb eines solchen Modells bot ihm nämlich „die ethische Poesie“ dank ihrer Fähigkeit „das Einzelne zum Symbol des Allgemeinen“ zu verklären, den Ausgangspunkt für einen neuen Aufbruch. Man nahm dies an „dem überall eindringenden Sonnenlichte“ wahr: Die Deutsche Dichtung hat den Gedanken [daß die Poesie der Ethik bedürfe]

überallhin zu vertreten gesucht. Wir müssen deshalb auch einen Dichter, wie Sacher-Masoch, der ein gewaltiger Vertreter dieses Gedanken ist und mit allen

Waffen seines Geistes die flache Poesie, die noch flachere Kritik der Jetztzeit

bekämpft, als den Unseren anerkennen und werden seine Sache vertreten, wo immer wir es können“ (ebd.).

Julius Harts Argumentation, die auf die Legitimierung der eigenen literarischen Identität mittels einer Aufwertung nicht der Neuheit an sich, sondern der qualitativen Überlegenheit der Neuheit gegenüber der „flachen Poesie“ und der „noch flachere[n] Kritik der Jetztzeit“ zielt (ebd.), wird in zwei vollkommen symmetrischen Kommunikationen wieder aufgenommen. Beide lehnen sich an ritualisierte literarische Praktiken an, im ersten Fall, Zur Beachtung!, an das Ritual des Grußschreibens im zweiten, An die Leser!, an das der Verabschiedung. Wie die Titel bereits signalisieren, wenden sich beide direkt an die

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Leser, und zwar sowohl an die Abonnenten als auch an die Gelegenheitsleser bzw. an jeden, der bereit war, für eine Mark und zwanzig Pfennige ein Exemplar der Zeitschrift zu erwerben. Beide Texte sind jeweils an den „Schwellen“ des ersten und dritten Hefts der Deutschen Dichtung angebracht, auf den Umschlagseiten 4, also jenem diskursiven Ort des verlegerischen Peritexts, der für Genette aufgrund seines spezifischen medialen Potenzials „strategisch von größter Bedeutung“ ist.20 Tatsächlich finden sich in den Zeitschriften der Epoche immer häufiger Werbeanzeigen für aktuelle Verlagspublikationen, so etwa auch in den Berliner Monatsheften. Beide Mitteilungen an den Leser, deren erste von den Redakteuren gemeinsam anlässlich des ersten Erscheinens der Zeitschrift erstellt wurde, während Heinrich Hart in der zweiten sein Ausscheiden aus dem Redaktionsausschuss bekanntgab, werden genutzt, um die Gründe für die Publikation der Zeitschrift genauer darzulegen. An erster Stelle wird die empfundene Dringlichkeit reklamiert, ein „allumfassendes Organ für deutsche Poesie“ zu gründen, das sich mit einem neuen kulturellen Angebot an „alle Gebildeten des Deutschen Volkes“ richten sollte, und so eine bestehende Lücke zu schließen. Zugleich sollten dabei keinerlei Zugeständnisse auf qualitativer Ebene gemacht werden, d. h., die Zeitschrift sollte kein „asylum medio­ critatis“ werden, sondern sich im Gegenteil „mit allen Kräften der Tändel- und Scheinpoesie“ widersetzen (DD 1, Umschlagseite 4). Dieser Gedanke wird in einer Schrift auf der Umschlagseite 4 des dritten Hefts wieder aufgenommen. Ungeachtet der nach wie vor ungelösten Schwierigkeiten, mit dem das editorische Unternehmen von Beginn an zu kämpfen hatte (vor allem finanzieller Art, da die Zahl der Abonnenten, wie ein Zwischensatz in Wir Westfalen feststellt, kaum gereicht hätte, einen mittelgroßen Saal zu füllen), 21 wird hier der Sinn einer beharrlichen Fortführung des Unternehmens untermauert. Denn auch wenn die Zeitschrift inzwischen „die warme Theilnahme unserer besten Dichter und aller Freunde der Poesie“ gewonnen hatte, war „die Zeit tieferen Kunstlebens und Kunststrebens für unser Volk“ noch nicht gekommen. Es war deshalb notwendig, „die Unmännlichkeit, Verschränktheit und Afterkunst 20 Genette: Paratexte, S. 31. 21 WW 33.

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der Gegenwart“ weiterhin zu bekämpfen, habe man doch schon durch gezielte Förderung „manche herrliche Perle dem poetischen Schatze Deutschlands einverleibt, manche[n] kräftige[n] Gedankenkeim in die Seelen der Leser gepflanzt, wo er knospen und reifen mag“ (DD 3, Umschlagseite 4). Die den Lesern und Abonnenten der Zeitschrift verkündete Absicht Heinrich Harts, den Redaktionsausschuss schweren Herzens zu verlassen, um sich „einem größeren, umfassenderen Unternehmen und besonders den eigenen Arbeiten“ (ebd.) zu widmen, war real. Im Herbst 1877 übersiedelten die Brüder Hart von Münster nach Berlin, wo sie sich sechs Monate lang aufhalten sollten, und im April des nachfolgenden Jahres setzte die Publikation der Deutschen Monats­ blätter ein. Trotz ihrer im Vergleich zur Deutschen Dichtung repräsentativeren und klarer gegliederten Aufmachung verzichtete die neue Zeitschrift gleichwohl nicht auf das ausgewählte und zugleich breit gestreute anthologische Profil, das bereits das Vorgängerorgan charakterisiert hatte, wobei sich lyrische, dramatische, erzählerische und essayistische Originalbeiträge abwechseln. Ebenso wenig fehlt eine eigene Rubrik für Rezensionen und Notizen zu aktuellen Publikationen, mit einem ausgeprägten Interesse für die Zeitschriften. Auch wenn die jeweiligen Hefte grundsätzlich in sich abgeschlossen sind, weisen sie dennoch eine halbjährlich konzipierte durchgehende Seitenzählung auf, sodass sich die Anzahl der Bände, die während des anderthalbjährigen Bestehens der Zeitschrift herauskommen, auf insgesamt drei beläuft. Jedem dieser jeweils knapp 700 Seiten umfassenden Bände ist ein „Register“ vorgeschaltet, in dem jeder einzelne Beitrag einer spezifischen Rubrik zugewiesen ist. Ebenso waren die Beitragszahlungen, die sich auf je sechs Mark beliefen, halbjährlich zu entrichten, wie dem regelmäßigen Hinweis am unteren Rand der drei Titelblätter zu entnehmen ist. Ein Novum, das auf den breiteren Rezeptionskreis hinweist, den die Monatsschrift gegenüber der vorausgehenden Vierteljahrschrift anstrebte, liefern die den Heften auf nicht durchnummerierten Seiten angehängten Werbeanzeigen mit Informationen über aktuelle Neuerscheinungen. Die autorepräsentativen Praktiken, die im ersten Heft der Deutschen Monats­ blätter gewählt wurden, scheinen im Hinblick auf die äußere Kollokation, d. h. ihre Verlagerung vom äußeren Rand in das Innere der Zeitschrift, ein ähnliches

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mediales Dispositiv zu bemühen wie das oben erörterte Eröffnungsritual im ersten Heft der Deutschen Dichtung. Dies belegt insbesondere der Verzicht auf die, wenn auch nicht obligatorische, Konvention eines Vorworts an die Leser. Ersetzt wird dieses durch den erneut von Heinrich Hart firmierten Aufsatz historischliterarischen Zuschnitts Neue Welt, dem ein zweifellos bedeutsamer, aber nicht direkt ins Auge springender Platz zugewiesen ist. Denn anders als der Verfasser selbst in seinem autobiographischen Profil mit der Zitierung ausführlicher Abschnitte glauben macht, aber auf einer Linie mit Zur Entwicklung der Künste in der Deutschen Dichtung, erfüllt auch dieser Aufsatz zumindest formal nicht die Funktion einer Einführung in die Deutschen Monatsblätter. Denn er findet sich dort nicht zu Beginn, sondern ihm geht eine längere „Erzählung in Versen“, Die Frau des Propheten, von Hans Herrig voraus. Diese Art der indirekten, quasi versteckten Präsentation gegenüber der eigenen Leserschaft scheint auf einen Gedanken zu rekurrieren, der am Beginn von Zur Beachtung formuliert wird: „Es bedarf keiner langen Auseinandersetzung über unsere Ziele: Was wir bringen, bezeichnet unser Wollen“ (DD 1, Umschlagseite 4). Mit anderen Worten: Die Zeitschrift selbst ist Ausdruck ihres Inhalts, sodass sich jedwede Absichtserklärung oder, wenn man so will, Metanarration als überflüssig erweist bzw. sich in einer Tautologie auflöst, sollte es dem Verlagsprodukt konkret gelingen, die seine Realisierung determinierenden Absichten zu integrieren. Der Aufsatz Neue Welt, der, zusammen mit Zur Entwicklung der Künste, als frühes Beispiel für die Ausarbeitung eines kulturellen Bezugsrahmens für den beginnenden Naturalismus zu betrachten ist, 22 liefert eine breit angelegte Analyse des knappen halben Jahrhunderts deutscher Literaturgeschichte vom Tod Goethes bis zur unmittelbaren Gegenwart. Dem Weimarer Autor, der eine schon von Lessing und Herder angestoßene Entwicklung zu Ende geführt hatte und vor allem als „modern und unhellenisch“ erscheint (DM 1, 15), wird das Verdienst zuerkannt, durch die Benutzung einer lebendigen Sprache, wie sie Gellert und Gottsched noch fremd gewesen war, die deutsche Literatur aus ihrer dienenden Rolle befreit zu haben. Während Heine lediglich als „ein 22 DM 1, 14–23. Die Schrift ist auch in diesem Fall mit einem entsprechenden Kommentar aufgenommen in Brauneck/Müller: Naturalismus, S. 7–18.

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Vorläufer der Neuzeit [gilt], weil sein Verstand ganz unbedingt, seine Empfin­ dung nur bedingt modern war“, erhält Karl Gutzkow, „die epochemachendste Persönlichkeit unserer Culturgeschichte“, eine signifikante Rolle (ebd., 16). In diesem Kontext verwendet Hart wieder das Wort „Naturalismus“, im Sinne der „elementare[n], aus dem Herzen der Natur aufquellende[n] Empfindung“ (ebd.), wie sie allerdings auch Gutzkow noch nicht völlig zuerkannt wird. Unverkennbar ist die Harts Rekonstruktion tragende morphologische Betrachtungsweise. Die Kulturgeschichte wird als Prozess des fortschreitenden Niedergangs und Alterns gesehen, einer graduellen „Erschöpfung des geistigen, aber noch weit mehr des Empfindungs- und Phantasielebens“, an dessen Ende die „Epigonendichtung“ steht, eine auf „glatte, durch Lektüre vermittelte Reproduktion“ präkonstituierter Modelle beschränkte Kunstform (ebd.). Ab den 1850er Jahren erkennt Hart drei Faktoren, die dazu beigetragen haben, „der Welt eine neue Basis“ zu liefern: „[…] die Neubildung der staatlichen und gesellschaftlichen Verhältnisse“, „der naturwissenschaftliche Materialismus“ und der Pessimismus Schopenhauers (ebd., 17). Von diesem Pessimismus leiten sich für Hart wiederum „drei große Richtungen in der Literatur“ ab, deren gemeinsamer Wesenszug in der „Tendenz auf den Naturalismus“ zu suchen ist: „der neudeutsche Quietismus“ Hieronymus Lorms (1821–1902), „die Musikdramatik Richard Wagners“ und erneut „die slavisch-germanische Poesie“ Turgenews und Sacher-Masochs (ebd., 18). Als die Rede auf die dritte Richtung kommt, weichen die kritischen Töne nahezu vollständig den Worten entschiedener Begeisterung. Im Rahmen eines ausdrücklichen Plädoyers für die Hinwendung zu einem kulturellen Modell mit stärkerer Affinität zur germanischen Identität, das den Bruch mit den als fremd empfundenen französischen Vorbildern vollzieht, werden bezeichnenderweise Werke und Autoren „aus den Grenzländern Deutschlands“ (ebd., 20) im Osten Europas, also Russland und Galizien, sowie, nachgeordnet, auch aus den skandinavischen Ländern, gebührend erwähnt. Mit Turgenew, nicht zuletzt wegen seiner wiederholten längeren Aufenthalte in Deutschland im Anschluss an seine akademische Ausbildung in Berlin zweifellos dem westlichsten russischen Schriftsteller seiner Zeit, würdigt Hart im Rahmen seiner literarhistorischen Rekonstruktion erneut einen Erzähler, der nicht nur dem breiten Lese-

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publikum bekannt war, sondern dessen Werke zudem im Bewusstsein vieler zeitgenössischer Schriftsteller, auch in Österreich, Anklang gefunden hatten. Beispielhaft genannt seien hier nur Theodor Storm 23 sowie, auf Donauseite, der Spätrealist Ferdinand von Saar; Saar sollte in den 1880er Jahren zwei Novellen, Tambi (1882) und Ginevra (1890), publizieren, die unmittelbar von Mumu (1854) bzw. Frühlingswogen (1873) beeinflusst waren. Während Hart diese beiden Werke, zusammen mit den Romanen Aufzeichnungen eines Jägers (1852) und Neuland (1876), als Beispiele einer gelungenen Erzählkunst zitiert, klingt die Wertschätzung von Sacher-Masochs Das Vermächtnis Kains noch überzeugender. Die Erzählsammlung steht für Hart im Rang einer „grandiosen Dichtung, einer modernen Divina Comedia“, in der „jede der Schöpfungen eine poetische und wahrhaft kulturgeschichtliche That“ sei; sie bildet den „ersten großartigen Versuch, wurzelnd im fruchtbaren Boden des Naturalismus die Darstellung modernen Lebens und moderner Anschauung mit den höchsten ethischen Tendenzen zu verknüpfen“ (ebd., 21). Im Werk des galizischen Autors scheinen gar „Göthe’s Realismus und Schiller’s Idealismus“ zur Synthese zu gelangen (ebd.). Derselbe Stellenwert, der im Bereich der Erzählkunst den Impulsen aus dem slawischen Osten zukommt, wird im Hinblick auf das Theater auch den Norwegern Henrik Ibsen und Bjørnstjerne Bjørnson eingeräumt. Insgesamt betrachtet sieht Hart die deutsche Literatur seiner Zeit innerhalb der von ihm abgesteckten Leitlinien also an einem „Wendepunkt“ ihrer Entwicklung, jenseits dessen sich der Blick auf „eine neue Welt, ein neues Leben“ und damit die Möglichkeit „einer wahrhaft nationalen Poesie“ öffnet (ebd.). Diese Poesie musste sich dem übermächtigen Intellektualismus, der „Reflexion und Bücherweisheit“ (ebd.), entziehen, um so mit der Öffnung gegenüber den gesellschaftlichen und ethischen Idealen die eingebüßte Spontanität zurückzugewinnen. 23 Vgl. dazu Laage, Karl Ernst: Theodor Storm und Iwan Turgenjew. Persönliche und literarische Beziehungen, Einflüsse, Briefe, Bilder, Heide in Holstein 1967; und Rammelmeyer, Alfred: Die geschändete Hostie. Zu einer Motivübereinstimmung in „Rasskaz otca Alekseja“ von Ivan Turgenev und Theodor Storms „Renate“, in: Frankfurter Abhandlungen zur Slavistik 24 (1977), S. 235–262 (wieder abgedr. in: Ders.: Aufsätze zur russischen Literatur und Geistesgeschichte, hg. von Reinhard Lauer, in Zusammenarbeit mit Alexander Graf und Matthias Rammelmeyer, Wiesbaden 2000, S. 436–462).

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Eine solche Politik der Öffnung, die die Deutschen Monatsblätter konkret mit der Publikation zahlreicher Beiträge umzusetzen versuchten, wird auch in der Mitteilung An die Leser bekräftigt, die, ohne Seitenzählung, in der Ausgabe von Mai/Juni 1879 zwischen dem Inhaltsverzeichnis und einer autobiographischen Schrift von Leopold von Sacher-Masoch abgedruckt ist.24 Die betreffende Mitteilung liefert formal und inhaltlich ein Pendant zu jenem Text Zur Beachtung!, der sich auf der Umschlagseite 4 des dritten Hefts der Deutschen Dichtung, d. h. an einem im Hinblick auf die mediale Sichtbarkeit erstrangigen Ort, findet. In An die Leser verabschieden sich die Brüder Hart von ihren Abonnenten, um sich „mehr als bisher der eigenen Produktion zu widmen“, also mit der bereits zwei Jahre zuvor in der Deutschen Dichtung bemühten Begründung. Gleichzeitig wünschen sie dem Freund Max Stempel, der ihnen in der Direktion der Zeitschrift nachfolgte, viel Erfolg, in der Gewissheit, dass die Zeitschrift unter seiner Leitung der Absicht treu bleiben würde, „die Literatur der Gegenwart zu heben und ihre Verbreitung zu fördern“.25 Auf der Rückseite folgt Stempels Danksagung, die unverhüllt Werbung in eigener Sache betreibt, indem sie den einzigartigen Stellenwert hervorhebt, den die Deutschen Monatsblätter mit dem engagierten Auftrag, „rein literarische Interessen in gleich umfassender Weise“ zu vertreten, für das kulturelle Panorama der Zeit beanspruchen konnten. In diesem Auftrag, der insbesondere die rigorose Einhaltung des qualitativen Standards der eingereichten Beiträge bedeutet hatte, erkannte die Zeitschrift ihre eigene Existenzberechtigung. Versäumt Stempel dabei einerseits nicht, erneut auf den Erfolg hinzuweisen, den sich die Monatsschrift in kurzer Zeit hatte sichern können, so werden andererseits nicht die bereits in den analogen Mitteilungen der Deutschen Dichtung signalisierten „Schwierigkeiten“ verschwiegen, die „Hindernisse, die hemmend im Wege stehen“ und die zur Erreichung des „noch in dämmernder Ferne“ liegenden Ziels durch ernste Anstrengung zu überwinden waren. Die Deutsche Dichtung und die Deutschen Monatsblätter scheint dieselbe Handhabung des medialen Dispositivs zu verbinden, das der in der Zeitschrift 24 Leopold Ritter von Sacher-Masoch: Autobiographie, in: DM 3, 259–269. 25 Hart, Heinrich/Hart, Julius: An die Leser, ebd., unpag. Vorderseite.

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‚versteckte‘ literarhistorische Essay, ebenso wie die im Peritext platzierte Mitteilung an die Leserschaft erkennen lassen. Damit bestätigt sich wiederum die zuvor erwähnte enge Kontinuität beider Zeitschriften. Bei einem Vergleich der beiden Aufsätze Harts, Zur Entwicklung der Künste und Neue Welt, sind zudem die entschieden weitere Perspektive sowie die diverse, konsequenter in den Dienst der Konsensbildung gestellte rhetorische Gestaltung des letzteren unübersehbar. Dabei wird der Appell an die vermeintlich traditionellen Kerneigenschaften der deutschen Identität im Namen des kollektiven Volksgeistes geführt, und zwar mittels der wiederholten Verwendung eines inklusiven, unterschwelligen ‚Wir‘. Dieses kommt insbesondere in den Formen des Possessivpronomens zum Tragen und verweist so implizit auf ein kollektives Wertesystem und kulturelles Erbe. Entsprechend wird Goethe als „unser Dichter“ definiert; ebenso nachdrücklich ist die Rede anschließend von „unserem Jahrhundert“ und „unserer Zeit; „unserer Culturgeschichte“, „unserer Poesie“ und „unserer ganzen Epigonenkunst“; ebenso von „unserer Seele“, „unserem Blut“, „unserer Natur“ usw.26 Die doppelte metanarrative Strategie, die hier für die Vermittlung eines wesent­ lichen Teils des medialen Konzepts der Zeitschrift gewählt wird, bestimmt ebenso die einleitenden Rituale nachfolgender Publikationen. Das gilt auch dort, wo sich wie in den Kritischen Waffengängen am Beginn der Zeitschrift ein Text wie Wozu, Wogegen, Wofür? findet, der sich schon vom Titel her eindeutig als ein an das „verehrte Publikum“ gerichtetes programmatisches Proto-­ Manifest charakterisiert.27 Entsprechend stellen die Herausgeber in diesem Fall der einleitenden Schrift den Prospekt auf der Umschlagseite 4 des ersten Hefts zur Seite, der eine erhellende Synthese ihres programmatischen Vorhabens liefert. Dieses zielt auf eine regelmäßig erscheinende Publikation, die mit ihrer konsequenten Ausrichtung auf die zeitgenössische Kultur die sowohl von neuen Verlagsprojekten und Theaterereignissen als auch von den laufenden ästhetisch26 Hervorhebung G. T. 27 KW 1, 8. Zu den Funktionen des Vorwortadressaten im Paratext vgl. Genette: Paratexte, S. 188 f.

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literarischen Debatten ausgehenden Impulse direkt auffangen und neue, aufstrebende Persönlichkeiten der literarischen Szene wahrnehmen sollte. Für die Legitimierung des Projekts wird das übliche Argumentationsmuster bemüht, nämlich das dring­liche Bedürfnis nach Schließung einer bestehenden Marktlücke reklamiert und das Fehlen von Zeitschriften beklagt, „in denen es möglich wäre, ausführlich ein eigenes Prinzip, und eigene Anschauungen zu entwickeln, […] um eine fortdauernde vollkommene unabhängige Kritik üben zu können“. Wie oben bereits für analoge Phänomene beobachtet, verknüpft sich diese Argumentation auch hier mit einer rhetorischen Strategie, die nach geistiger Identitätsstiftung strebt. Entsprechend machen die Herausgeber im Text erneut von einem inklusiven ‚Wir‘ Gebrauch („die Besten unseres Volkes“, „unsre nationale Wiedergeburt“, „unsre Cultur“). Auf diese Weise machten sich die Verfasser implizit zum Sprachrohr ihres potenziellen Lesepublikums, das das tendenziell negative Urteil über die deutsche Literatur der Gegenwart teilte und den Beginn einer neuen Phase im Zeichen „eine[r] echt nationale[n], realistische[n] und ideenstarke[n] Dichtung“ herbeisehnte. Zu dieser Erneuerung beabsichtigt die Zeitschrift also einen wichtigen Beitrag zu leisten, indem die Herausgeber „mit Entschiedenheit allem Cliquewesen, allem Reklamethum, allem Greisenhaften, allem Dilettantismus und aller Ideallosigkeit [entgegentreten wollen] – zum Heile des schaffenden Jungdeutschlands und unsrem schwankenden, zweifelnden Publikum zur Lehre “. So „unsicher, unzureichend oder überschwenglich [sic!]“ der Aufsatz Neue Welt dem Autor selbst auch in seinem autobiographischen Profil erscheinen mochte (WW 44), bildet er tatsächlich den Ausgangspunkt für die Einführung der Brüder Hart zum ersten der (insgesamt) sechs monographischen Hefte der Zeitschrift. Der rote Faden zwischen beiden Schriften wird formal dadurch signalisiert, dass die einführenden Sätze zu Goethe in der Neuen Welt am Beginn von Wozu, Wogegen, Wofür? wörtlich wieder aufgenommen werden.28 Der von den betreffenden Sätzen aus entwickelte Diskurs im Vorwort der Kritischen 28 Es handelt sich um die ersten 22 Zeilen von Neue Welt (DM 1, S. 14), die wiederum exakt den 26 Zeilen der ersten Seite in Wozu, Wogegen, Wofür? (KW 1, 3–8, hier 3) entsprechen. Die betreffende Einführung zu den Kritischen Waffengängen ist nicht abgedruckt bei

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Waffengänge bekräftigt mit einer Reihe von „Prophetien in kritischer Form“29 im Wesentlichen die zuvor ausgearbeiteten Leitgedanken, angefangen bei dem von Hart gedichteten Appell An die deutsche Poesie. Die Argumentationsstruktur folgt dabei der von den drei Interrogativpronomen abgesteckten Reihenfolge. Gegenstand des „Wogegen?“ ist eine gegenwärtige Literatur, die auf vergangene Vorbilder rekurriert oder sich sklavisch den aus Frankreich importierten kulturellen Tendenzen anzupassen bereit ist, d. h. eine Literatur, in der eine „Verrohung des Stils“, eine „Sprache, welche bereits conventional erstarrt ist“, und das „Ueberwuchern eines eklektischen Dilettantismus“ dominieren, und die somit kein „Recht auf diesen Namen“ hat (KW 1, 5–6). Mit ihrem stetigen „Haschen nach stofflichen Effekten“ erweist sich diese Literatur allein fähig zur Auslösung einer „Fluthwoge novellistischer Fabrikarbeit“ bzw. zu einer „maßlosen Verflachung des Theaters“ (ebd.). Zielobjekt des polemischen Diskurses sind jedoch daneben ebenso eine minderwertige Literaturkritik („dieses um sich fressende Castratenthum der Kritik“; ebd.) und ein literarisches Publikum, das als Geisel des allgemein dominierenden schlechten Geschmacks seine Urteilsfähigkeit eingebüßt hatte („dieser unglaubliche Geschmackswirrwarr im Publikum“; ebd.). Allerdings genügte es aus Sicht der Verfasser nicht, die erklärten Missstände zu bekämpfen: „[…] kein Kampf in der Welt ist eine bloße Negation; indem man das eine, das Gegnerische bekämpft, vertheidigt man ein anderes, dessen Sieg man wünscht“ (ebd., 8). Das „Andere“, dem man zum Sieg verhelfen will, war die neue, „aus der germanischen Volksseele heraus“ entstandene Literatur, eine national bodenständige Literatur, „echt […] nicht dem Stoffe nach, sondern dem Geiste“ (ebd., 7). Die für die Antwort auf das „Wofür?“ gewählten Worte scheinen – wie übrigens unterschwellig die gesamte Abhandlung – einen auf Herder und die Romantik zurückgehenden Gedanken aufzugreifen und diesen zugleich unter das zeittypische messianische Vorzeichen zu rücken.30 Brauneck/Müller: Naturalismus, wohl aber bei Ruprecht: Literarische Manifeste des Naturalismus, S. 20–23, wo allerdings die erwähnten Eingangszeilen ausgelassen sind. 29 Soergel, Albert: Dichtung und Dichter der Zeit. Eine Schilderung der deutschen Literatur der letzten Jahrzehnte. Zweiter unveränderter Abdruck, Leipzig 1912, S. 83 und 81. 30 Siehe dazu Wunberg, Gotthart: Utopie und Fin de siècle, in: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 43 (1969), S. 685–706; wieder abgedruckt

Aber wir wollten nicht nur schaffen

Kohärent zu der durch diese Ähnlichkeit vorgezeichneten Absicht sind die Brüder Hart in den publizierten Artikeln ein weiteres Mal darum bemüht, das Inventar für einen Bezugsrahmen der deutschen Gegenwartsliteratur zu erstellen, wobei sie sich vorzugsweise auf solche Phänomene konzentrieren, die mit Blick auf das erstrebte nationale und realitätsnahe Literaturideal anzuprangern oder zu würdigen waren. Ein solches Ideal reduziert sich nicht auf eine einfache Kontraposition von Vergangenheit und Gegenwart, sondern verbindet sich vielmehr mit der komplexeren Problematik von Tradition und kulturellen Trends sowie vor allem mit dem Thema der literarischen Qualität. In diesem Sinne sind die entschieden negativen Äußerungen über das Theater dreier damaliger Erfolgsautoren wie Otto Bürger (1846–1911), Heinrich Kruse (1815–1902) und Paul Lindau (1839–1919) zu interpretieren, wobei der letztere auch als Kritiker negativ beurteilt wird. Die Sensibilität und spontane Reaktionsfähigkeit der Brüder Hart für/auf die von den kulturellen und literarischen Debatten der Aktualität gestellten Herausforderungen findet eine Bestätigung in den Beiträgen zu Émile Zola und Friedrich Spielhagen. Die betreffenden Analysen zielen darauf ab, die Unstimmigkeiten innerhalb der theoretischen Diskurse beider Autoren bzw. bei Spielhagen auch der narrativen Struktur seiner Romane aufzuzeigen. Von dem französischen Romancier, der 1882, also zeitgleich zum Aufsatz Für und gegen Zola, den Zyklus Rougon Macquart zur Hälfte abgeschlossen hatte, fanden L’Assommoir (1877) und Nana (1880) Berücksichtigung, also der siebte und neunte Roman des Zyklus, sowie die gerade mal zwei Jahre vor dem Aufsatz der Harts publizierte theoretische Schrift Le Roman Experimen­ tal. Analog dazu datiert die Publikation von Spielhagens Beiträgen zur Theorie und Technik des Romans ins Vorjahr der kritischen Reflexion Friedrich Spielha­ gen und der deutsche Roman der Gegenwart innerhalb des ihm gewidmeten thematischen Hefts, zugleich des sechsten und letzten der Kritischen Waffengänge. Die Herausbildung von etwas Neuem zeichnet sich für die Brüder Hart hingegen mit dem Projekt des Schriftstellers Adolph L’Arronge (1838–1908), Sohn des Schauspielers und Theaterdirektors Theodor Everhart L’Arronge, ab; in: Ders.: Jahrhundertwende. Studien zur Literatur der Moderne. Zum 70. Geburtstag des Autors, hg. von Stephan Dietrich, Tübingen 2001, S. 149–167.

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Adolph hatte 1883 in Berlin das Deutsche Theater mit Sitz in dem von ihm aufgekauften und renovierten Friedrich-Wilhelmstädtischen Theater ins Leben gerufen.31 Den „wahren und großen Dichter[n] unserer Zeit“ (KW 5, 7) zugerechnet wird ferner der Schriftsteller Adolf Friedrich von Schack (1815–1894), Mitglied der Münchener Akademie der Künste und Wissenschaften und Kunstsammler (in seinem Besitz waren u. a. die noch heute in der Sammlung Schack vereinten Gemälde von Bonaventura Genelli, Anselm Feuerbach, Moritz von Schwind, Arnold Böcklin und Franz von Lenbach). Die mit Hilfe des besonderen editorischen Konzepts realisierte kritische Leitlinie der Zeitschrift zeigte bald Erfolge. So konnten die Herausgeber bereits in einer Notiz auf der Umschlagseite 4 des zweiten Hefts stolz verkünden, zahlreiche „Kundgebungen herzlichster Sympathie“ wie auch „manche Angriffe heftigsten Charakters“ erhalten zu haben – beides Zeichen für die Erfüllung des gesetzten Ziels, Einfluss auf die literarische Öffentlichkeit zu nehmen. Bei dieser Gelegenheit wird auch der editorische Plan vorgestellt, der auf insgesamt zehn Hefte ausgerichtet war. Die diesem Plan zugrunde liegende Absicht zielte auf die Entwicklung einer „Reihe von ästhetisch-­k ritischen Gedanken“, die in einem zweiten Moment in einem Band zusammengeführt werden sollten. Bekanntlich stellte die Zeitschrift aber mit dem sechsten Heft ihr Erscheinen ein. Die in der „Literarischen Reklame“ auf der Umschlagseite 4 des zweiten Hefts beworbenen Beiträge des dritten Hefts, ebenso wie diejenigen, die noch danach auf den Umschlagseiten 4 des fünften Hefts angekündigt wurden, konnten nicht mehr in Druck gehen. Darunter finden sich „Das Drama der Gegenwart“ und „Deutsche Kritik und deutsche Kritiker. Am Ausgange des Jahrhunderts“, die jeweils für die siebte bzw. achte Nummer vorgesehen waren. Ab dem dritten Heft der Zeitschrift sind die auf den Umschlagseiten 4 platzierten Mitteilungen durch werbewirksame kurze, positiv gestimmte Berichte über das Editionsprojekt ersetzt, die zeitgenössischen Zeitungen und Zeitschriften entnommen waren.

31 KW 4, 3–69. Das Thema dieses Aufsatzes war schon in den Deutschen Monatsblättern angesprochen worden; vgl. dazu Tillmann: Die Zeitschriften, S. 104 f.

Aber wir wollten nicht nur schaffen

Die breite Resonanz, die die Kritischen Waffengänge bei den Lesern der literarischen Boheme Berlins und Münchens erzielten, sicherte den Brüdern Hart gleichwohl die Reputation als Bezugspunkt für eine Gruppe junger Schriftsteller, unter denen Wilhelm Arent (1864–1913), Hermann Conradi (1862– 1890), Otto Erich Hartleben (1864–1905) und Karl Henckell (1864–1929) zu nennen sind. Die bisherige, diachronisch ausgerichtete Analyse hat die prägende Funktion des historisch-literarischen Essays für Zur Entwicklung der Künste und Neue Welt deutlich gemacht. Beide beanspruchten in Bezug auf die Deutsche Dichtung und die Deutschen Monatsblätter jeweils eine einführende Rolle, auch wenn sie innerhalb der Zeitschrift nicht an vorderster Stelle zu finden waren. Ebenso deutlich wurden die vielfältigen intertextuellen Vernetzungen, die diese beiden Aufsätze mit anderen, innerhalb der betreffenden Hefte unterschiedlich verteilten metanarrativen Texten eingehen und so ein Dispositiv der Eigenwerbung einführen, das auf den Dialog mit dem Leser gerichtet ist. In den Kritischen Waffengängen verwandelt sich eine solche Rhetorik in eine Art programmatisches Proto-Manifest, das eine Reihe typischer Bestandteile des Umschlagprospekts integriert, ohne dass auf letzteren gleichwohl verzichtet wird. Auch für die Berliner Monatshefte wird ein Apparat der Legitimierung und Bewerbung des editorischen Produkts entworfen, wobei sich allerdings der Stil der programmatischen Eröffnungsschrift des ersten Hefts ebenso wie der peritextuellen Prospekte durch eine gewisse rhetorische Nüchternheit charakterisiert. Von April bis September 1885 erscheinen insgesamt sechs Hefte, deren Umfang zwischen 116 (erstes Heft) und 88 Seiten (letztes Heft) variiert. Mit der fortlaufenden Paginierung verstanden sich die Hefte zugleich (ähnlich wie die Deutschen Monatsblätter) als integrale Bestandteile des ersten Bandes, der mit einer eigenen Titelseite sowie einer gemeinsamen Inhaltsangabe ausgestattet ist (BM, v–viii). Unter Rückgriff auf eine bereits im dritten Heft der Deut­ schen Dichtung verwendete Strategie wird auf der Titelseite, direkt unterhalb des Zeitschriftentitels selbst, die Verwirklichung des Projekts „Unter Mitwirkung der hervorragendsten Dichter und Kritiker“ verkündet. Dieselbe Formel findet sich auch auf den Umschlagseiten der nachfolgenden Einzelhefte wieder. Mit ihr korrespondiert im Prospekt auf der Umschlagseite 3 des zweiten und dritten

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Hefts „eine stattliche Liste“32 mit 69 alphabetisch aneinandergereihten Unterstützern des Projekts, unter denen sich Namen von Autoren, die bereits an den ersten beiden Zeitschriften mitgearbeitet hatten, neben solchen finden, die mit keinem Beitrag vertreten sind. Darunter ist auch eine Reihe von Schriftstellern der älteren Generation wie Marie von Ebner-Eschenbach, Gottfried Keller, Paul Heyse, Conrad Ferdinand Meyer, Wilhelm Raabe und Theodor Storm. Der Diskurs zu den eigenen Zielsetzungen, mit dem sich die Berliner Monats­ hefte der literarischen Öffentlichkeit präsentieren, ist auf zwei, komplementär strukturierte Texte verteilt: einen einleitenden Teil, Zum Geleit (BM 1, 1–2), mit dem sich Heinrich Hart im ersten Heft ausdrücklich an seine Leser wendet, und den Prospekt selbst, der gleichzeitig auch eine editorische Gliederung bietet. Letztere wiederum erscheint bezeichnenderweise nicht auf der Umschlagseite desselben, sondern erst des zweiten und dritten Hefts. Der Prospekt bietet eine synthetische Version derselben Argumentation, die Hart bereits in Zum Geleit auf zwei Seiten in detaillierterer Form entfaltet hatte: Die „Berliner Monatshefte“ sollen in eine Lücke unseres Culturlebens treten, ihr Ziel ist es, ein umfassendes Bild von den Strömungen zu geben, welche die

gegenwärtige Entwicklung der deutschen Litteratur und des Theaters bedingen, ihre Tendenz ist es, die Elemente zu erkennen und zu unterscheiden, welche eine Aufwärtsentwicklung dieser Litteratur ermöglichen, und ihr Ruf ergeht daher an alle Kreise des Publikums, sowie der Dichter und Schriftsteller, die eine solche ersehnen und erstreben.

In der Einleitung bietet Heinrich Hart noch einmal alle behandelten Themen an, wobei er sich allerdings weder der Gestaltungsmittel des historisch-­ literarischen Prosaessays bedient, auf die Zur Entwicklung der Künste und Neue Welt setzten, noch des prophetisch-messianischen Pathos, der den Stil des einführenden Aufsatzes im ersten Hefts der Kritischen Waffengänge charakterisiert hatte. Mit dem ersten Satz wird allgemein der Legitimationsdiskurs wieder aufgenommen, die Frage der „Existenzberechtigung“ der Zeitschrift, die in der 32 Tillmann: Die Zeitschriften, S. 124.

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Deutschen Dichtung und den Deutschen Monatsblättern allerdings in den Texten auf den Umschlagseiten 4 bzw. im Grußwort von Max Stempel an die Leser thematisiert wurde.33 Die Zeitschrift habe „durch sich selbst die Berechtigung ihres Daseins zu erweisen“, und zwar in dem Maße, wie es ihr gelingen würde, sich mit einem ausgewählten kritischen Angebot und der „Ermunterung und Förderung der Schaffenden“ (BM 1, 1) einen Platz zu erobern, den noch kein anderes Organ zur deutschen Gegenwartsliteratur besetzt hatte. Mit einem Zitat von Heronimus Lorm registriert Hart in Deutschland das Fehlen eines literarischen Publikums, und dies, obwohl die Literatur „heute mehr denn je das erste und höchste Glied des Kulturlebens bilden [sollte], denn um des Zerfalles der meisten anderen idealen Elemente willen vermag nur sie dem Verfall des Volksgeistes selbst einen festen Damm entgegenzusetzen“ (ebd., 2). Für die Wiederherstellung des dafür notwendigen Volksgeists fordert er eine neue literarisch-kulturelle Erziehung („unsre […] und unsrer Mitarbeiter Sache ist es, [das Publikum] zu einem litterarischen zu erziehen“; ebd., 1), um so die vorherrschende „Geschmacksverwirrung“ (ebd.) zu kontrastieren; das Erziehungs­ modell zeigt, allerdings auf einer progressiven Stufe, Ähnlichkeit mit dem Binom vom „Pflügen und Pflegen“ aus dem einführenden Aufsatz der Kritischen Waffengänge (KW 1, 7). Die Verantwortung für diese Geschmacksverwirrung sei größtenteils nicht in der natürlichen Anlage des Publikums zu suchen, sondern vielmehr in dem Verhalten der literarischen Kritik selbst, „die täglich den klarsten ästhetischen Gesetzen Hohn spricht und, zu faul, das Talent zu begreifen, die nichtssagende Mittelmäßigkeit in den Vordergrund schiebt“ (BM 1, 1). In diesem Sinne wird in aller Deutlichkeit eine Frage aufgeworfen, die in den vorhergehenden Programmschriften bereits zwischen den Zeilen anklingt und die explizit Max Stempel formuliert hatte.34 Es geht darum, eine ganz spezifische Priorität zu setzen, d. h., eine immer größere Menge von potenziellen ‚Nutznießern‘ zu erreichen. Ein solches Ziel sei nur dadurch zu verwirklichen, dass man sich, anders als der größte Teil der literarischen Zeitschriften, nicht „an die litterarischen Berufskreise“, sondern „an das allgemeine litteratur­ 33 Wie Anm. 25. 34 Ebd.

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fähige Publikum“ wandte (ebd.). Von hier aus versteht sich auch die erklärte Bereitschaft zur Öffnung gegenüber einer Pluralität von Beiträgen, denen nur eine Schranke gesetzt wird: die der Qualität, „des Talents gegen die Mittelmäßigkeit“ (ebd., 2). Einer solchen Öffnung entspricht die entschiedene Distanzierung von der dazu gegensätzlichen Hypothese, eine literarische Schule zu gründen, denn „Realismus, Naturalismus, Idealismus, und alle sonstigen Ismen“ seien nichts anderes als „Schulenbleme“, ein dogmatisches Festhalten an einer bestimmten Theorie, „das I-anerthum für die Persönlichkeit“ (ebd.). Die der Öffnung zugewiesene Bedeutung, die auch die Befreiung von jedweden ideologischen Zwängen einschloss, um so immer breitere Publikumskreise für sich gewinnen zu können, manifestiert sich konkret im auffallenden Interesse für das Theater. Als zentrales soziales Aggregationsmoment bot das Theater insofern ein äußerst wirkungsvolles, weil nicht an die grundsätzlich beschränkte äußere Reichweite der Druckmedien gebundenes Instrument der kulturellen Diffusion. Ein solches Interesse war zwar keineswegs eine Neuheit, kommt aber in den ersten beiden Zeitschriften vorwiegend mit der Publi­ kation literarischer Texte und kritischer Schriften literarhistorischen Inhalts zum Tragen und nicht mit spezifischen Beiträgen zum Thema des Theaterlebens im weitesten Sinne, wie in den Kritischen Waffengängen z. B. der Aufsatz über Adolph L’Arronge.35 Das Theater erhält nunmehr eine primäre Funk-

35 Tillmann (Die Zeitschriften, S. 124 f.) setzt das Projekt der Berliner Monatshefte in Bezug zu den Aussagen der Brüder Hart in ihrem Aufsatz Das „Deutsche Theater“ des Herrn L’Ar­ ronge in den Kritischen Waffengängen: „Es gilt aber auch ein Organ zu schaffen, welches sich nicht an der meist aphoristischen Dramaturgie der vornehmen Tagespresse genügen läßt, sondern in tief eindringender Weise, ausführlich alle bei einer Bühnendarstellung in Betracht kommenden Momente berücksichtigt. Wir müssen ein Blatt haben, das die dramatische Dichtung der Gegenwart so liebevoll und eingehend recensiert, wie Lessing die Poesie seiner Zeit in der Hamburgischen Dramaturgie besprach […]. Eine theatralische Zeitung, welche unter den jetzigen Umständen sowohl geistige, wie materielle Früchte tragen will, muss sich anlehnen an eine Weltstadt (Berlin oder Wien), welche durch ein reiches Bühnenleben ausgezeichnet ist […]. Dramaturgische und theaterhistorische Essays, eingebende Biographien und Charakteristiken hervorragender Intendanten, Direktoren, darstellender Künstler und Künstlerinnen, Dramatiker, Dramaturgen usw. schließen sich dem kritischen Teile an“ (KW 4, 65 ff.).

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tion, es „bildet den Mittelpunkt des litterarischen Lebens“ (ebd., 2), wie es die Berliner Monatshefte im Übrigen auch in ihrem Titel ankündigten, indem sie sich als Zeitschrift „für Litteratur, Kritik und Theater“ definierten. Entsprechend findet sich in den einzelnen Heften jeweils eine spezifische Rubrik mit dem Titel „Theaterbriefe“, die dem traditionellen Rezensionsteil („Literarische Rundschau“) vorangestellt ist und 15 bw. 19 Seiten (im ersten bzw. zweiten Heft) umfasst, während sie in den nachfolgenden drei Heften merklich reduziert sowie im sechsten Heft schließlich gänzlich eingespart wird. Auch für den Bereich des Theaters erklärt Hart seine Absicht einer „Säuberung“ von den schlechten Gewohnheiten der „Lässigkeit“, „Kleinlichkeit“, „Gemeinheit“ und bemüht dabei erneut die landwirtschaftliche Metaphorik „einer planvolleren Durchackerung“ (ebd., 2). Der im Vergleich zu den Kritischen Waffengängen deutlich nüchternere Ton der Zeitschrift brachte nicht die erhofften Resultate. Man verlor jene Leser, die von einer Publikation dieses Typs eine stärkere Bereitschaft erwarteten, sich mit neuen Konzepten und Parolen in die aktuelle literarische Debatte einzubringen, ohne dass es zugleich gelang, neue hinzuzugewinnen. Trotz der in einer Stellungnahme auf der Umschlagseite 3 des vierten Hefts nochmals manifestierten Überzeugung, dass es den Berliner Monatsheften im ersten Vierteljahr ihres Bestehens gelungen wäre, „die Berechtigung ihrer Eigenart“ unter Beweis zu stellen, musste die Zeitschrift zwei Monate darauf ihr Erscheinen einstellen. Heinrich Hart informierte seine Leserschaft darüber in den Mittheilun­ gen auf einer der letzten Seiten des ersten Hefts. Die bereits für das OktoberHeft geplante Übergabe der Zeitschrift an den neuen Verleger war im letzten Moment gescheitert. Um den gänzlichen Verlust des von den Berliner Monats­ heften angestoßenen literarischen Projekts zu verhindern, empfahl man den Abonnenten, sich an die Gesellschaft zu wenden.36

36 BM 6, 601: „Meine Absicht ist es, die Monatshefte mit Dr. Conrad’s prächtiger ‚Gesellschaft‘ zu verschmelzen; wir entwaffnen dadurch uns’re Gegner, die uns vorwerfen, daß uns’re Bestrebungen sich zersplittern und daß aus der Concurrenz ein Meinungskampf hervorgehe, und ich habe den Trost, daß wenigstens die Tendenz der ‚Monatshefte‘ ­fortlebt.“

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Zusammen mit dem von 1886 bis 1888 von Karl Bleibtreu herausgegebenen Magazin für die Litteratur des In- und Auslandes wurde die Münchener Zeitschrift tatsächlich zum führenden Organ der oppositionellen Literaten bis 1890, als in der kulturellen Szene auch Otto Brahms Freie Bühne für modernes Leben zunehmend an Bedeutung gewann. Ein Vergleich des einleitenden Beitrags der Berliner Monatshefte mit dem von Michael Georg Conrad firmierten Pendant der Gesellschaft, Zur Einführung, zeigt die Verwendung eines zwar grundsätzlich ähnlichen, im Einzelnen jedoch unterschiedlich deklinierten programmatischen Repertoires. Im ersten Fall geht es um die Literatur als primäres In­­ strument einer gesamtkulturellen Erneuerung der Gesellschaft; im zweiten Fall wird die Bandbreite dieser Erneuerung auch in politischer Hinsicht zugrunde gelegt. Geht es Heinrich Hart erneut darum, „durch die Kritik aller in guter oder schlechter Hinsicht hervorstechenden Schöpfungen einen Überblick […] über das gesammte Gebiet des heutigen nationallitterarischen Schaffens“ zu bieten (BM 1, 1), so führt Conrad mit dem scharfen Ton der Streitschrift einen rigorosen Angriff gegen die vorherrschende Unterhaltungsliteratur, indem er der „Lüge“, der „entsittlichende[n] Verlogenheit“, im Sinne der „MoralitätsNotlüge“, einen ethischen Wahrheitsbegriff entgegenstellt. Unter diesen Vorzeichen erfolgt zugleich die Konstruktion einer geistigen Identität, deren Kern das Konzept einer „wahren Geistesaristokratie“ bildet.37 Der Unterschied zum Projekt der Brüder Hart ist evident, wenn auch subtil: Es geht nicht mehr um die Förderung „eine[r] neue[n] literarische[n] Blütenperiode“, sondern um die „Durchsetzung einer aufgeklärten, nationalen Kultur“.38 Es zeigt sich also, dass die Kurzlebigkeit der Berliner Monatshefte in enger Verknüpfung mit dem parallelen Projekt der Gesellschaft zu betrachten ist. In ähnlicher Weise war auch der von den Brüdern Hart dreieinhalb Jahren später gegründeten neuen Zeitschrift, dem Kritischen Jahrbuch, von dem lediglich zwei Hefte gedruckt wurden (im März 1889 bzw. im Februar 1890), das Schicksal beschieden, sich mit dem Erfolg eines anderen, vom medialen Konzept 37 Jg. 1, H. 1, 1. Jan. 1885, S. 1–3. 38 Brauneck/Müller: Naturalismus, S. 35.

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und vom Marktanteil der Gesellschaft vergleichbaren Verlagsprojekt messen zu müssen. So datiert die erste Ausgabe des Kritischen Jahrbuchs neun Monate vor dem Erscheinungsbeginn der mit dem gleichnamigen Theaterverein verbundenen Zeitschrift der Freien Bühne für modernes Leben. Für die Gründung des Vereins wurde im Frühjahr ein erstes Treffen organisiert, an dem, zusammen mit Otto Brahm, Maximilian Harden, Theodor Wolff, Paul Schlenther, Julius Elias, Julius Stettenheim, Paul Jonas und Samuel Fischer, auch die Brüder Hart teilnahmen (vgl. WW 69 f.). Publizierten einerseits im Januar desselben Jahres Arno Holz und Johannes Schlaf unter dem Titel Papa Hamlet die drei Prosaskizzen, mit denen sie die Erzähltechnik des von ihnen bereits theorisierten Sekundenstils überprüften, so wurde andererseits am 29. September 1889 im Lessingtheater Gespenster von Henrik Ibsen als erstes Stück der Freien Bühne aufgeführt. Es folgten am 20. Oktober und am 27. November die Uraufführungen von Gerhart Hauptmanns Vor Sonnenaufgang bzw. Hermann Sudermanns Die Ehre. Das Kritische Jahrbuch präsentierte sich dem Publikum mit einer klaren, essenziellen thematischen Gliederung. An die erste, monographischen Essays gewidmete Rubrik schließt sich eine Kritische Rundschau, die typographisch in Spalten angeordnet ist. Im zweiten Heft kam eine neue, tatsächlich nur vier Seiten umfassende Rubrik mit dem Titel Aus dem litterarischen Leben hinzu (KJ 2, 130 f.). Die Namen der Mitarbeiter, unter denen Ferdinand Avenarius, Wilhelm Bölsche und Karl Henckel hervorstechen, erscheinen auf dem Umschlag. Die Funktion des metanarrativen medialen Dispositivs übernehmen das von den beiden Herausgebern gemeinsam firmierte Vorwort sowie zwei rein informativ gehaltene kurze Mittheilungen, die sich jeweils auf den letzten Seiten beider Hefte finden (KJ 1, 155, und 2, 133 f.). Ebenso wenig fehlen, allerdings nur im ersten Heft, fünf angehängte nicht paginierte Seiten mit „Anzeigen“ aktueller Buchpublikationen, von denen der überwiegende Teil aus der Feder der Brüder Hart selbst stammt. Die einführende Botschaft in der gewohnten essayistischen Form ist auch in diesem Fall bemüht, die die Realisierung des Projekts steuernden Voraussetzungen zu erörtern. Das hier formulierte zen­ trale Anliegen, einen Beitrag zur Erneuerung des zeitgenössischen kritischen Diskurses liefern zu wollen, verortet sich in evidenter programmatischer Kon-

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tinuität sowohl zu den Berliner Monatsheften als auch zuvor zu den Kritischen Waffengängen, an deren spezifischer definiertes Konzept das Kritische Jahrbuch zudem wieder anschließt. Während in den Berliner Monatsheften mit Zum Geleit allerdings eher generell gegen die weit verbreitete „Geschmacksverwirrung“ polemisiert wird, gewinnt die Argumentation im vorliegenden Fall schärfere Konturen und richtet den Fokus gezielt auf die literarische Avantgarde jener Jahre. Den Ausgangspunkt dafür bildet ein dezidiert negatives Urteil gegenüber einem bestimmten Teil der Jugend. Ihm wird vorgeworfen, die legitime Forderung nach einer modernen, zeitgemäßen Literatur im Sinne einer Radikalisierung jener Prämissen zu interpretieren, die den Brüdern Hart seit der Deutschen Dichtung als programmatische Basis gedient hatten, um eine signi­ fikante Gruppe aufstrebender Literaten um sich zu sammeln. Mit dieser Radikalisierung aber hatte er den Kerngedanken des ursprünglichen Projekts, d. h., die Rückkehr „zur Natur, zu den Quellen der Wirklichkeit“, grundsätzlich verschoben: Statt um die „Natur“ gehe es ihm jetzt um „den Naturalismus, und zwar den tendenziösen einseitig pessimistischen Naturalismus, und alles Moderne ging ihm in dem einen Begriff Sozialismus auf “ (KJ 1, 3 f.). An die Stelle des anfänglichen Enthusiasmus – so die Narration der beiden Harts – sei angesichts der unerfüllt gebliebenen Erwartungen rasch die Desillusionierung und vor allem das Gefühl der Orientierungslosigkeit getreten. Man hatte auf die Nachahmung und Einbürgerung eines typisch französischen Modells des Naturalismus gesetzt und danach bemerkt, dass eine solche Operation keinen Spielraum für die Konstruktion von etwas Neuem ließ. Man hatte die literarische Zukunft unter dem Vorzeichen der sozialen Dichtung entworfen, angesichts der Tatsache, dass diese mit Dostojewski, Tolstoi und Ibsen bereits den schwerlich zu übertreffenden Höhepunkt ihrer Ausdrucksfähigkeit erreicht hatte, jedoch nur unbefriedigende Resultate erzielt. Dies erforderte also, nun „mit demselben Eifer, wie einst gegen die Versandung, so jetzt gegen die Versumpfung der Literatur, gegen alle Einseitigkeiten und Spielereien“ (KJ 1, 5) vorzugehen. Man musste eingreifen, wobei das Ziel stets dasselbe blieb, nämlich „alle anmaßende Mittelmäßigkeit, Kleinlichkeit und Gemeinheit“ zu kontrastieren und zugleich „alles Große, Echte, Tiefe“ zu fördern. Das zentrale Moment dieser stetig auf die „Erneuerung“ und „Gesundung“ der nationa-

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len Literatur gerichteten Operation wird ein weiteres Mal in „Reformation der Kritik“ fixiert. Im Wesentlichen hieß dies, „eine objektive Kritik zu schaffen, die, ausgerüstet mit dem geistigen Werkzeug, das die Größten der Dichter und Denker zusammengetragen, jeder literarischen Erscheinung mit mehr als subjektivem Beifall oder Tadel gerecht wird, und die unser Volk erziehen hilft zum innerlichen Verständnis, zur Theilnahme für alles Bedeutende“ (ebd.). Es geht also um eine Kritik, die sich weder als „eine bloße Anzeige, oder ein selbstherrliches Zeugnis […], oder auch ein Produkt parteiischer Vorurteile“ versteht noch in der „Betrachtung des Stofflichen und der Tendenz“ erschöpft, sondern die ihre Aufmerksamkeit vielmehr darauf richtet, „was Kunst erst zur Kunst macht“ (ebd.), indem sie dem nachspürt „was eine Schöpfung ästhetisch bedeutet und werth ist“ (ebd., 6). Es geht also darum, der literarischen Kritik das Bewusstsein zu restituieren für die zentrale Rolle, die ihr innerhalb der literarischen Entwicklung zufällt, und genau diese Aufgabe scheint der neuen Zeitschrift zugewiesen zu werden, die darin zugleich, wie die Brüder zwar nicht hier, so aber doch bei anderen Gelegenheiten argumentiert hatten, ihre eigentliche „Existenzberechtigung“ findet. Die kritische Ideenwerkstatt, die die Harts mit dem Kritischen Jahrbuch hatten errichten wollen, zeitigte nicht den gewünschten Erfolg, und nicht nur deswegen, wie Albert Soergel – allerdings mit Blick auf die Berliner Monats­ hefte hervorhob, weil die Zeitschrift „zu wenig radikal“ war.39 Die tieferen Gründe sind wohl eher darin zu suchen, dass man für die Antworten auf die drängenden Bedürfnisse der Gegenwart den Blick rückwärts auf die glorreiche Vergangenheit der deutschen literarkritischen Tradition (Lessing, Schiller, Goethe, Wilhelm von Humboldt, Tieck und Schlegel) richtete (vgl. ebd., 5). Ähnlich suchte man für entscheidende Fragen wie die nach dem Verhältnis von Kunst und Wissenschaft versöhnende Lösungen im Zeichen eines erneuerten Klassik-Gedankens, wie ihn insbesondere Heinrich Hart in seinem Aufsatz Die realistische Bewegung. Ihr Ursprung, ihr Wesen, ihr Ziel im ersten Heft der Zeitschrift formuliert (KJ 1, 40–56). Gerade auch der Versuch, die Zeitschrift nicht mehr wie im Fall der Berliner Monatshefte auf den erzieherisch finalisier39 Soergel: Dichtung und Dichter der Zeit, S. 86.

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ten Dialog mit dem breiten, nicht literarisch tätigen Publikum zuzuschneiden, sondern einen ästhetisch-literarischen Diskurs zu führen, der sich gezielt „an die litterarische Berufskreise“ richtete, trug sicher nicht zur breiteren Diffusion bei. Entsprechend konnte sich in der Zwischenzeit eine Zeitschrift wie die Freie Bühne für modernes Leben, mit einem innovativen, ganz konkret mit den Aktivitäten einer Theatergesellschaft verbundenen Konzept in der literarischen Szene durchsetzen.

Max Reinhardt und sein Publikum: Vom Kabarett zum Massentheater Jelena U. Reinhardt

Denn freilich mag ich gern die Menge sehen, Wenn sich der Strom nach unsrer Bude drängt, Und mit gewaltig wiederholten Wehen Sich durch die enge Gnadenpforte zwängt […]. J. W. Goethe, Faust. Vorspiel auf dem Theater

Zu Beginn des 20. Jahrhunderts veränderte der Regisseur Max Reinhardt radikal die Vorstellung, die die Zuschauer in Deutschland vom Theater hatten.1 Um es mit Hofmannsthals Worten zu sagen: Reinhardt hat in den zwanzig Jahren, seit er Direktor eines oder mehrerer Thea-

ter ist, nie einen Augenblick lang aufgehört, dem Publikum seinen Geschmack zu diktieren: und gerade diesem Umstand verdankt er heute die ungeheure Autorität, die er in Europa bei der großen Masse genau so besitzt wie bei den

Künstlern und den Ästheten. Er hat in diesen zwanzig Jahren unzählige Stücke

von Autoren aller Nationen auf die Bühne gebracht; […] er greift nach jedem neuen Stück Arbeit wie ein Kind nach einem neuen Spielzeug: mit der ganzen

Unbekümmertheit eines Phantasten, der – bevor er die Zuschauer bezaubert – vor allem sich selbst bezaubern will […].2

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Fazio, Mara: Lo specchio, il gioco, l’estasi. La regia teatrale in Germania dai Meininger a Jessner (1874–1933), Roma 2003, S. 81 f. Hofmannsthal, Hugo von: Reinhardt bei der Arbeit, in: Ders.: Gesammelte Werke in Einzelausgaben – Aufzeichnungen, hg. von Herbert Steiner, Frankfurt a. M. 1959, S. 336.

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Jelena U. Reinhardt

In diesen wenigen Zeilen weist der Wiener Autor auf einige der Grundzüge hin, die die Theatertätigkeit des Regisseurs charakterisieren. Reinhardt hat schon sehr früh die Bedeutung des Kontakts zur Öffentlichkeit erkannt, sowohl zu den kleineren Gruppen der Gesellschaft, die an den Theatergenuss bereits gewöhnt waren, als auch zu dem neuen, bis dahin ausgeschlossenen Publikum der großen Massen der Arbeiterklasse. Es war für ihn undenkbar, alleine zu arbeiten, sogar während der Proben brauchte er immer die Anwesenheit eines Publikums.3 Um ein tiefes Gefühl der Verbundenheit aufzubauen, veränderte er die Zuschauer selbst, indem er sie zu einem wesentlichen Teil seines künstlerischen Schaffens machte. Dieser tief greifende Wandel der Rolle des Betrachters wirkt sich einerseits auf das Spiel insgesamt aus, da die Arbeit des Regisseurs und die der Schauspieler dadurch zwangsweise beeinflusst wird, andererseits auf die Zuschauer, die eine neue Rezeptionsweise der Aufführung erleben, aber vor allem eine erneute Wahrnehmung von sich selbst entwickeln. In seinen erfolgreichsten Jahren in Berlin, das sich nicht nur in eine große Metropole, sondern auch in eine richtige „Bühnen-Stadt“4 verwandelt hatte, galten die Aufführungen des Regisseurs als ein besonderes Ereignis. Dies­ bezüglich schreibt Lotte Eisner Folgendes: We should remember that Max Reinhardt, from 1907 to 1919 (when the revolution brought Piscator and his Constructivist theatre to the fore), was a sort

of „Kaiser“ of the Berlin theatre. He had become so important that in solid

middle-class families everybody skipped the newspaper headlines to read Alf-

red Kerr’s article on the previous night’s performance. Berliners often went to the Reinhardt theatre several times a week, for the programme changed daily.5 3 4 5

Kindermann, Heinz: Hermann Bahr. Ein Leben für das europäische Theater, Graz–Köln 1954, S. 64. Seit 1869 ist das Theater als ein regelrechtes Massenmedium zu betrachten. Vgl. hierzu Marx, Peter W.: Max Reinhardt. Vom bürgerlichen Theater zur metropolitanen Kultur, Göttingen 2006, S. 89. Eisner, Lotte H.: The Haunted Screen, London 1969, S. 47. Diese Passage wurde in der deutschen Ausgabe, Die Dämonische Leinwand [1955] ausgelassen. Der Autorin zufolge wurden verschiedene Fassungen des Textes angefertigt, in Bezug auf das unterschiedliche

Max Reinhardt und sein Publikum

Angesichts eines solchen Erfolgs erhebt sich die Frage, was eigentlich damals das Berliner Publikum so anzog. Es darf nicht vergessen werden, dass zu jener Zeit das Theater eine für uns heute unvorstellbare und mit der gegenwärtigen Situation überhaupt nicht vergleichbare Resonanz fand: „Die kulturelle Wirkung des Theaters (mit all seinen Nebenformen) reichte weit über die tatsächlich anwesenden Zuschauer hinaus“,6 da die theatralischen Formen die kollektive Imagination der Modernität in verschiedener Hinsicht prägten. Zur Erweiterung von Reinhardts Publikum trug seine Fähigkeit bei, Grenzen zu überschreiten: jenseits der Bühne, sodass die Zuschauer sich als Teil des Schauspiels empfinden konnten, jenseits der Theater-Gehäuse, um immer neue – sowohl innere als auch äußere – Räume zu erkunden, jenseits Deutschlands, um auf Tourneen Europa zu durchqueren und letztendlich die Vereinigten Staaten zu erreichen. In einem sehr frühen Stadium seiner Tätigkeit, im Jahr 1902, wie es aus seiner programmatischen Rede, in der Form eines Gesprächs mit dem Dramatiker und dann Mitarbeiter Arthur Kahane hervorgeht, konnte er sich schon drei Bühnen vorstellen, je nach Art der Aufführung, um verschiedene Gruppen des Publikums durch ein vielfältiges Theaterangebot miteinzubeziehen: „Man müßte eigentlich zwei Bühnen nebeneinander haben, eine große für die Klassiker und eine kleinere, intime, für die Kammerkunst der modernen Dichter […]. Und eigentlich müßte man noch eine dritte Bühne haben, lachen Sie nicht, ich meine es in vollem Ernst […]“.7 Reinhardt stellte sich diese dritte Bühne so klar vor, dass er sie im Detail beschreiben konnte: Es sollte ein monumentales Werk sein, von der Enge des Alltags abgelöst und für die Veranstaltung eines Festivals geeignet; ein Amphitheater im Geist der Griechen, aber nicht nur für die Darstellung griechischer Werke geplant, sondern auch für die große Kunst aller Zeiten. In dieser Beschreibung konzentriert er sich besonders auf die Notwendigkeit, wesent-

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Publikum, an das das Buch gerichtet wurde. Siehe dazu Eisner, Lotte H.: Die dämonische Leinwand, Frankfurt a. M. 1975, S. 11 f. Marx: Max Reinhardt, S. 90. Aus einem Gespräch Max Reinhardts mit Arthur Kahane in: Fuhrich, Edda/Prossnitz, Gisela (Hg.): Max Reinhardt. Die Träume des Magiers, Salzburg–Wien 1993, S. 34.

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liche architektonische Änderungen vorzunehmen, um den Bühnenrahmen zu eliminieren, um jegliche Grenzen zwischen Bühne und Publikum sowie zwischen Kunst und Wirklichkeit zu beseitigen.8 Aber bevor er dieses grandiose Projekt tatsächlich realisieren und endlich seinem Publikum eine neue Rolle zuweisen konnte, musste er zunächst eine regelrechte theatralische Revolution9 ins Leben rufen, die im Kleinen anfing, um Großes zu erreichen, aber ohne jemals das Kleine zu vergessen:10 Er beginnt nämlich mit den Formen der Kleinkunst, also mit dem Kabarett, um schließlich die größeren Massen durch seine Großrauminszenierungen zu erreichen. Obwohl letztere eine monumentale und rituelle11 Auffassung seines Theaterschaffens darstellen, zeigt sich bei genauerer Betrachtung eine gewisse Kontinuität mit dem Kabarett. Im Laufe der Jahre nahm die Öffentlichkeit immer wieder einen wichtigen Platz innerhalb der alltäglichen Praxis auf der Bühne und der künstlerischen Konzeption des Regisseurs ein, denn er war davon überzeugt, dass die Existenz des Theaters auf dem Publikum selbst beruhe: „Theater ist eine zusammengesetzte Kunst und kann nicht wie andere Künste für sich selbst existieren. Es besteht überhaupt nur, wenn es aufgenommen wird und gut aufgenommen wird.“12 8 Ebd. 9 Fuchs betont in seinem bezeichnenderweise mit dem Titel Die Revolution des Theaters 1909 erschienenen Buch die Zentralität der Funktion des Zuschauers innerhalb des Schauspiels. Vgl. Fuchs, Georg: Die Revolution des Theaters. Ergebnisse aus dem Münchner Künstlertheater, München–Leipzig 1909, S. 95. Fischer-Lichte erkennt die Bedeutung dieses Diskurses in ihren Überlegungen über die Entdeckung des Zuschauers im 20. Jahrhundert. Vgl. Fischer-Lichte, Erika: Die Entdeckung des Zuschauers. Paradigmenwechsel auf dem Theater des 20. Jahrhunderts, Tübingen 1997, S. 9. 10 Reinhardts kabarettistische Phase wird vom Großteil der Forschungsliteratur unterschätzt und als ein marginaler Aspekt seines Gesamtwerkes betrachtet. Dieser Standpunkt wurde auch von Reinhardts Sohn Gottfried geteilt und gefördert, als er schrieb: „Max Reinhardt war alles andere als ein Kabarettist.“ Reinhardt, Gottfried: Der Liebhaber. Erinnerungen seines Sohnes an Max Reinhardt, München–Zürich 1973, S. 241. Vgl. hierzu Marx: Max Reinhardt, S. 34–54. 11 Bezüglich der rituellen Formen in Reinhardts Theater siehe Fischer-Lichte, Erika: Theatre, Sacrifice, Ritual: Exploring Forms of Political Theatre, London–New York 2005. 12 Reinhardt, Max: Von der modernen Schauspielkunst und der Arbeit des Regisseurs mit dem Schauspieler, in: Fetting, Hugo (Hg.): Max Reinhardt. Leben für das Theater. Schriften und Selbstzeugnisse, Berlin 1989, S. 416.

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­ eshalb hat Reinhardt versucht, den Geschmack der Zuschauer zu prägen, D sodass er an der Entwicklung ihres Identitätsbewusstseins teilnehmen konnte. Mit seinen theatralischen Neuerungen trug er zu einem grundlegenden Prozess bei, nämlich zu der „Entdeckung“ des Zuschauers im 20. Jahrhundert,13 als das Publikum tatsächlich aufgefordert wurde, sich aktiv zu beteiligen;14 denn gerade durch seine Vorstellungskraft soll die Darstellung vervollständigt werden. In der Reinhardt’schen Vision, jedoch, macht das Publikum viel mehr: Indem der Zuschauer eine emotionale Reaktion auf das Schauspiel zeigt bzw. seine Erschütterung den Darstellern auf der Bühne vermittelt und dadurch seine starke Beteiligung ausstrahlt, kann er die Imaginationskraft des Schauspielers selbst verdoppeln. Dennoch kann das Publikum den gegenteiligen Effekt erzeugen, indem es die Aufführung negativ beeinflusst, sodass an solchen Abenden die Einzigen, die wirklich durchfallen, die Zuschauer und nicht die Schauspieler sind. In solchen Fällen ist jede Anstrengung meistens vergeblich und ein Fiasko ist nicht zu verhindern, aber manchmal gibt es Raum für eine Gegenreaktion der Schauspieler, sodass ein echter Kampf zwischen den Parteien stattfindet: „Ein solcher Ringkampf mit einem Gegner, der unsichtbar im Dunkel bleibt, aber in jeder Bewegung deutlich fühlbar ist, entfesselt meistens besondere Kräfte und intensiviert die dramatische Erregung der Vorstellung.“15 Schließlich führt Reinhardt die Idee ein, dass das Publikum genauso wie die Darsteller auch der Aufführung gerecht werden sollte: Es gibt in der Geschichte des Theaters zahlreiche Fälle, in denen unsterbliche

Meisterwerke in ihren Uraufführungen einen Mißerfolg erlebten, und zwar

13 Vgl. dazu Fischer-Lichte: Die Entdeckung des Zuschauers, S. 9–38. 14 Die aktive Beteiligung des Zuschauers an der Inszenierung war schon für Richard Wagner ein wichtiger Punkt seiner Überlegungen. Die Vorstellung eines aktiven Zuschauers wird in der Moderne aufgegriffen und auf verschiedene Weise interpretiert. Besonders extrem ist die Auffassung der Avantgardisten, die einerseits sich über die Passivität des Publikums im bürgerlichen Theater beklagen und andererseits die Rolle des aktiven Zuschauers betonen. Vgl. dazu Fischer-Lichte: Die Entdeckung des Zuschauers, S. 10 f. 15 Reinhardt, Max: Über den Schauspieler, die Schauspielkunst und das Publikum. Notizen, in: Fetting: Max Reinhardt, S. 439.

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einen Mißerfolg des Publikums. Aber selbst wenn die Schauspieler, durchdrungen von dem Wert des ihnen anvertrauten Werkes, ihre Kräfte bis zum

letzten Atemzug dafür einsetzen, senkt sich der Schlußvorhang oft über eine verlorene Schlacht.16

Betrachtet man die Theatergeschichte im Allgemeinen, geht hervor, dass die Aufmerksamkeit immer schon auf den Geschmack des Publikums gerichtet war, man denke nur z. B. an die Zentralität des Zuschauers innerhalb des Dialogs zwischen dem Dichter, dem Theaterdirektor und der Lustigen Person im Prolog des Faust, Auf dem Theater. Das Publikum wird jedoch an der Diskussion nicht beteiligt und bleibt im Gegenteil passiv. Das Interesse an den Zuschauern, wie Reinhardt selbst bemerkt, ist meistens begrenzt: „Mit dem Studium des Publikums haben sich Theaterleute aller Zeiten befaßt. Die Ursache dafür ist immer ökonomischer und auch künstlerischer Art gewesen.“17 Mit anderen Worten, von Beginn des bürgerlichen Theaters an wird das Publikum als Objekt betrachtet, „das sozial zu disziplinieren und ästhetisch zu bilden ist, dem aber eine Mitwirkung jenseits des bloß kontemplativen Zuschauens zunehmend verwehrt bleibt“.18 Reinhardts erneute Einstellung gegenüber dem Publikum fügt sich in jenen epochalen Wandel ein, den Erika Fischer-Lichte auf die Veränderung der Struktur der theatralischen Kommunikation im europäischen Theater zurückführt. Während am Ende des 18. Jahrhunderts der Schwerpunkt der Theateraufführung auf die Personen auf der Bühne und ihre interne Kommunikation gelegt wurde, veränderte sich die Perspektive im folgenden Jahrhundert deutlich: Das Verhältnis zwischen Bühne und Zuschauern gewann zunehmend an Interesse, also wurde die externe Kommunikation 16 Fetting: Max Reinhardt, S. 440. 17 Ebd. 18 Höhne, Steffen: Das Theaterpublikum. Veränderungen von der Aufklärung bis in die Gegenwart, in: Zukunft Publikum: Jahrbuch für Kulturmanagement 2012, hg. von Sigrid BekmeierFeuerhahn u. a., Bielefeld 2012, S. 29–52, hier S. 29. Siehe dazu auch: Jackob, Alexander: Theater und Bilderfahrung. In den Augen der Zuschauer, Bielefeld 2014; Gerlach, Klaus (Hg.): Der gesellschaftliche Wandel um 1800 und das Berliner Nationaltheater, Hannover 2009; Kindermann, Heinz: Die Funktion des Publikums im Theater, Wien–Köln–Graz 1971.

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stark betont.19 Das heißt, dass der Zuschauer, neben Autor, Schauspieler und Regisseur, zum „vierten Schöpfer“ wird.20 Allerdings kann diese Kommunikation nur funktionieren, wenn alle Beteiligten – und besonders der Zuschauer – mitwirken.21 Reinhardt stimulierte gerade diese aktive Teilnahme, die seiner Meinung nach auf einer unauflöslichen und teilweise mysteriösen Verbindung zwischen Publikum und Szene beruht: Die Welt des Theaters besteht aus einer beleuchteten und einer verdunkelten Hälfte. Ist die beleuchtete Hemisphäre der Theaterwelt, auf der so viele Fak-

toren und Aktivitäten zusammenströmen, schon schwer zu regieren, so scheint die unbekannte Menge, welche die verdunkelte Hälfte bevölkert, nahezu unberechenbar. Und doch entscheidet die dunkle Welt das Schicksal der hellen.22

Hier wird die Menge als eine unergründliche und unvorhersehbare Realität dargestellt, die dennoch viel über das Schauspiel bestimmt. Nachdem Reinhardt die Komplexität des Phänomens der Masse erkannt hatte, hat er durch seine theatralische Tätigkeit versucht, eine Rolle für die „unbekannten“ Mengen im Publikum zu definieren, um sie zu einem bestimmten Zeitpunkt und auf ganz besondere Weise sogar auf die Bühne zu stellen, also auf die beleuchtete Hälfte der Theaterwelt, wo er das Gefühl hatte, als Regisseur handeln zu können und daher einen Einfluss über sie auszuüben. Im Grunde genommen veränderte Reinhardt die Beziehung zwischen der beleuchteten und der dunklen Hälfte des Theaters, unter der Annahme, dass es sich um zwei Teile derselben Einheit handelte. Diese Einstellung kann als Vo­ raussetzung der performativen Wende betrachtet werden, indem die „leibliche Ko-Präsenz von Akteuren und Zuschauern“23 erkennt wird. Anfangs versuchte der Germanist und Theaterwissenschaftler Max Herrmann, diese Wende zu 19 Vgl. Fischer-Lichte: Die Entdeckung des Zuschauers, S. 9. 20 Meyerhold, Wsewolod: Der Zuschauer als ‚vierter Schöpfer‘, in: Lazarowicz, Klaus/Balme, Christopher (Hg.): Texte zur Theorie des Theaters, Stuttgart 1991, S. 475–477. 21 Vgl. Fischer-Lichte: Die Entdeckung des Zuschauers, S. 9. 22 Ebd. 23 Fischer-Lichte, Erika: Ästhetik des Performativen, Frankfurt a. M. 2004, S. 47.

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definieren. Vor allem gab er der Aufführung eines Theaterstücks eine herausragende Stellung, indem er sie über den Text stellte, sodass einerseits das physische Dasein und die Reaktionen des Publikums und andererseits die Beziehung zwischen Darsteller und Zuschauer zunehmend an Bedeutung gewannen.24 Bezeichnenderweise sind diese Ideen nicht aus rein theoretischen Reflexionen entsprungen, sondern das Ergebnis eines aktiven Betrachters, der durch seine Anwesenheit an der Darstellung selbst teilnimmt. Insbesondere scheint Max Hermann direkt von Reinhardts Theaterpraxis beeinflusst worden zu sein.25 Reinhardts zunehmende Ablösung von Otto Brahms Ensemble im Deutschen Theater und der Beginn seiner kabarettistischen Unternehmungen markieren zum einen das Ende seiner Erfahrung innerhalb des Naturalismus, zum anderen den Ausgangspunkt großer Neuerungen. Ab 1898 wurde das Café Metropol in Berlin zum Treffpunkt einer Gruppe von Freunden, Schauspielern, Schriftstellern, Malern und Komponisten, die von den gleichen Ideen und dem gleichen Wunsch nach Veränderung animiert waren und einen Verein gründeten, Die Brille, mit dem Zweck die bereits im Namen angekündigte Kurzsichtigkeit des Spießbürgertums hervorzuheben. Zu Silvester 1900 traten sie im Künstlerhaus auf: Sie präsentierten Kurzparodien und literarisch-musikalische Sketches, die sie selbst verfasst hatten. Das improvisierte Programm wurde zum Erfolg; dies war der erste Schritt zur Geburt des literarischen Kabaretts Schall und Rauch, das im Januar 1901 offiziell eröffnet wurde.26 Schließlich hatte Schall und Rauch auch den geeigneten Raum gefunden; es handelte sich um Arnims Festsäle, Unter den Linden 44, die von dem Architekten 24 Vgl. Fischer-Lichte: Performativität. Eine Einführung, Bielefeld 2012, S. 19. Max Hermann besuchte häufig die Berliner Theater und war von den Inszenierungen des Regisseurs hochbegeistert. Er hat Reinhardt sogar dazu eingeladen, Mitglied der Gesellschaft der Freunde und Förderer des Theaterwissenschaftlichen Instituts an der Universität Berlin zu werden, was er tatsächlich annahm. 25 Vgl. Fischer-Lichte: Theatre, Sacrifice, Ritual, S. 28. 26 Schall und Rauch wurde fünf Tage nach der Gründung des Wolzogen’schen Bunten Theaters eröffnet. Ernst von Wolzogen hatte in der Tat das erste deutsche Kabarett – oder Überbrettel, wie man es in Berlin nannte – im Haus der Sezessionsbühne gegründet, die wenige Monate nach seiner Entstehung scheiterte. Vgl. Fiedler, Leonhard M.: Max Reinhardt, Reinbek bei Hamburg 1975, S. 29.

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Peter Behrens zu einem ranglosen Theater mit 366 Plätzen umgebaut wurden. Bei dem Entwurf des Projekts zeigte sich sofort die Bedeutung, die Reinhardt den Inszenierungsorten und der intimen Verbundenheit zwischen Szene und Publikum zuschrieb: „Von der Bühne müssen meiner Ansicht nach unbedingt Stufen ins Publikum führen. Das können wir gut brauchen und erhöht die Intimität, vielleicht an jeder Seite ein paar Stufen, worauf in der Skizze gleich Rücksicht genommen werden möge.“27 Reinhardt war von Anfang an die Seele des Unternehmens, obwohl er offiziell noch am Deutschen Theater engagiert war.28 Im Schall und Rauch wurden hauptsächlich kleine h ­ umoristisch-satirische Szenen, Parodien und Einakter dargeboten. Am meistens wurden Fragen über den Alltag der Theaterwelt behandelt, z. B. der Theaterbetrieb, die Rolle des Schauspielers, die verschiedenen Schauspielstile und dramatischen Moden; denn: [Schall und Rauch] war ganz aus dem Theater geboren und für Theatermenschen gedacht und beschränkte sich, im Gegensatze zu den anderen Überbret-

teln, lediglich darauf, Dinge des Theaters und der ihm dienenden Literatur in selbstverfaßten kleinen Szenen satirischer Beobachtung und stilparodistischen Variationen aufs witzigste zu verspotten.29

Die Anwendung von Komik hat wesentlich dazu beigetragen, die Enge des Naturalismus zu überwinden. Viele Hauptnummern aus dem Programm stammten von Max Reinhardt selbst.30 Besonders berühmt wurde die Don Carlos-Bearbeitung Don Carlos an der Jahrhundertwende. Tetralogie der Stiel­arten,

27 Aus einem Brief Max Reinhardts an Berthold Held, Nordseebad Fanõ Dänemark-­Kurhaus, 4. August 1901, in: Fetting: Max Reinhardt, S. 80. 28 Der Name Max Reinhardt als Regisseur stand zum ersten Mal in Berlin auf dem Zettel, als Serenissimus, eine Hofgeschichte aus dem 18. Jahrhundert in vier Akten von Leo Feld gegeben wurde (25. September 1902). Vgl. Fiedler: Reinhardt, S. 36. 29 Rothe, Hans (Hg.): Max Reinhardt. 25 Jahre Deutsches Theater, München 1930, S. 22. 30 Einige der von Reinhardt verfassten Texte wurden zu einem Schall und Rauch-Bändchen zusammengefasst; es handelt sich um die einzige von dem Regisseur veröffentlichte literarische Arbeit: Reinhardt, Max: Schall und Rauch, Erster Band, Berlin 1901. Vgl. Fiedler: Reinhardt, S. 31.

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eine Parodie sowohl des klassischen Repertoirestücks als auch der modischen „-ismen“ der Zeit.31 Endlich wurde nicht nur die elende Seite des Lebens auf der Bühne dargestellt, sondern auch „die zwanglose Fröhlichkeit, die Improvisation, die so etwas wie die Seele des Cabarets ausmacht“.32 Das Berliner Publikum amüsierte sich und brachte das Unternehmen zum Erfolg. Der ausgelassene Humor der frühen Schall und Rauch-Vorstellungen ist „nur vor dem Hintergrund einer umfassenden Heiterkeit zu begreifen, die bereit ist, alles – auch sich selbst – in Frage zu stellen“.33 Der junge Thomas Mann war besonders von der Don Carlos-­Parodie begeistert: Er hat eine ganze Nacht darüber Tränen gelacht und konnte daraus eine allgemeine Lehre ziehen: „Am Anfang der Wiedergeburt des Theaters aus dem Geist des Theaters stand die Parodie.“34 In diesem Rahmen erweist sich, dass das Parodistische und Satirische oder, besser gesagt, das dadurch ausgelöste Lachen einigermaßen zur sogenannten performativen Wende geführt hat. Die treibende Kraft des Lachens setzt den Körper der Zuschauer in Bewegung, sodass nicht nur psychische, sondern auch physische Prozesse angeregt werden;35 die körperliche Präsenz und die Reaktionen des Publikums werden also zu notwendigen Bestandteilen der Aufführung. In dieser Hinsicht, erscheint Schall und Rauch als Keimzelle, einerseits von Reinhardts Theaterimperium, andererseits von seiner erneuerten Theatersprache, indem das Kabarett als ein „Trojanisches Pferd zur Durchsetzung einer 31 Vgl. Fiedler: Reinhardt, S. 30. 32 Zit. Kim, Yun Geol: Der Stellenwert Max Reinhardts in der Entwicklung des modernen Regietheaters. Reinhardts Theater als suggestive Anstalt, Trier 2006, S. 75. 33 Sprengel, Peter (Hg.): Schall und Rauch: Erlaubtes und Verbotenes. Spieltexte des ersten Max-Reinhardt-Kabaretts (Berlin 1901–1902), Berlin 1901, S. 16. Zum Thema der Komik im deutschen Kabarett, siehe Grazzini, Serena: Kleines Format, Kulturkritik, Nähe zum Leben. Über die literarischen Anfänge des deutschsprachigen Kabaretts, in: KulturPoetik 14 (2014), S. 24–42. 34 Mann, Thomas: Gedenkrede auf Max Reinhardt, in Boeser, Knut/Vatková, Renata (Hg.): Max Reinhardt in Berlin, Berlin 1984, S. 64. 35 Fischer-Lichte deutet darauf hin, dass der Zweck des traditionellen Theaters darin bestand, hauptsächlich psychische Prozesse anzuregen. Vgl. Fischer-Lichte: Theatre, Sacrifice, Ritual, S. 13.

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neuen Theaterform“36 beigetragen hat. Darüber hinaus wird das Kabarett zu einer Experimentierbühne, die neue Formen der künstlerischen Darstellung und der Kommunikation mit den Zuschauern erprobt. Die Ausdrucksmöglichkeiten der Sprache werden erweitert und die Reaktionen des Publikums dadurch geweckt. Insbesondere durch die mimischen Elemente, durch die stummen Formen der Pantomime und des Tanzes wird der phänomenale Leib hervorgehoben, was im Zuschauer eine ähnliche Reaktion provoziert, indem dieser wiederum erkennt, dass er auch eine eigene Körperlichkeit besitzt. Dieses Bewusstsein wurde durch die körperliche Nähe der Zuschauer im Überbrettl mit den ‚kleinen‘ Räumen und ‚kleinen‘ Gesellschaften begünstigt; 37 doch im Kabarett bleibt die Individualität des Betrachters zentral, und es gibt keine wirkliche Identifizierung mit dem Geschehen auf der Bühne. Im Gegensatz zu anderen unzähligen Kabaretts, die im Zuge der Brettlmode entstanden und sich nicht lange halten konnten, schuf Schall und Rauch den Übergang zu einer intimen Kunstbühne, der von Anfang an geplant war und nur aufgrund des überwältigenden Erfolges hinausgeschoben wurde.38 Nach dem ersten Enthusiasmus bewirkte die überwiegende Auseinandersetzung mit Fragen rein theoretischer Natur über Theaterangelegenheiten eine gewisse Distanziertheit der Öffentlichkeit gegenüber den Schall und RauchAbenden. Im Großen und Ganzen erschienen die Inszenierungen als Atelierscherze von Theaterleuten, die ihre Sehnsucht nach Erneuerung darstellten.39 Die parodistischen oder satirischen Anspielungen wurden oft nicht verstanden, deswegen wurde ein neues Angebot angefertigt, das mehr der Sensibilität eines größeren Publikums entsprechen konnte.40 Ende Januar 1902 erhielt 36 Sprengel: Schall und Rauch, S. 10. 37 Die Kabaretts waren nicht unbedingt klein im strengsten Sinne des Wortes, denn die Bedeutung von ‚klein‘ „weist vor allem auf das ‚Enge‘ hin und bezieht sich auf die Körpernähe, auf die die intime und gemeinschaftliche Atmosphäre der Anstalt zurückzuführen ist“. Vgl. Grazzini: Kleines Format, S. 33 f. 38 Vgl. Sprengel: Schall und Rauch, S. 38. 39 Vgl. Bab, Julius: Das Theater der Gegenwart. Geschichte der dramatischen Bühne seit 1870, Leipzig 1928, S. 117. 40 Vgl. Wafner, Kurt: „Einfach Klassisch!“ – und noch mehr. Eine Nachbetrachtung, in: Beilage zum Reprint der Programmzeitschrift [des zweiten] „Schall und Rauch“, Berlin 1985, S. 10.

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Schall und Rauch zusammen mit der Konzession für abendfüllende Stücke den Beinamen Kleines Theater. In der Tat wendete sich Reinhardt dem neuen Drama zu, indem er Stücke von Strindberg, Maeterlinck, Wilde, Hofmannsthal inszenierte. Im Einklang mit seiner künstlerischen Einstellung, förderte Reinhardt weiterhin das Gefühl der Intimität und die Kommunikation zwischen Darstellern und Publikum. Am 30.  Oktober 1903 wurde Hofmannsthals Bearbeitung der Sopho­ kleischen Elektra im Kleinen Theater von Max Reinhardt uraufgeführt. Die Inszenierung sorgte für einen Skandal; vor allem Gertrud Eysolds Darstellung der Elektra schockierte das Publikum. Mit ihrem Spiel überschritt sie die Grenze zwischen dem semiotischen Körper und dem phänomenalen Leib: Die Zuschauer waren nicht nur mit einer Figur konfrontiert, sondern auch mit dem wirklichen Körper der Schauspielerin. Von einem Teil der Kritik wurde die Aufführung als ein Wendepunkt in der Geschichte des modernen Theaters angesehen, denn das Verhältnis zwischen Bühne und Publikum hatte sich wesentlich verändert: Alle Anwesenden waren Mitbeteiligte einer Performance, die über die Grenzen einer nur auf dem Text basierenden Theateraufführung hinausging, um die Merkmale eines Rituals anzunehmen, in dem Darsteller und Zuschauer eine soziale Gemeinde bildeten.41 Neben der Behandlung von theoretischen Themen bezüglich der Theaterkunst werden also Probleme von allgemeinem Interesse in Angriff genommen; die Bühne wird zu einem Ort, in dem soziale Dynamiken Ausdruck finden, wo die Beziehungen zwischen Individuum und Gesellschaft diskutiert und neu verhandelt werden. In diesem Kontext scheint Reinhardts Monumentaltheater von erheblicher Bedeutung zu sein; denn durch seinen Entwurf von einem Theater als Fest bzw. als festlichem Ritual, das sich nicht nur als Erweiterung, sondern auch als Gegenbild des bürgerlichen Theaters erweist, greift der Regisseur über das Repertoire bürgerlicher Kultur hinaus.42 Wie bereits von Anfang seiner Laufbahn klar erdacht, strebte er nach einem Theater für das Volk nach dem Vorbild der antiken Festspiele: Alle Schichten der Bevölkerung 41 Vgl. Fischer-Lichte: Theatre, Sacrifice, Ritual, S. 13 42 Marx: Reinhardt, S. 84.

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sollten endlich zum Kunsttheater Zugang haben. Die erste Gelegenheit in der Richtung der Großrauminszenierungen ergab sich im Sommer 1910 anlässlich der Festspiele in München, wo der Regisseur König Ödipus von Sopho­k les in der Bearbeitung von Hofmannsthal vor fast 3000 Zuschauern aufführte. Gleich danach dachte er an die Möglichkeit, ein ständiges „Theater der Fünftausend“ im Zirkus Schumann in Berlin einzurichten. Der Zirkus wurde von dem Architekten Hans Poelzig in das Große Schauspielhaus umgebaut, und am 28. November 1919 wurde das erste Großraumtheater Deutschlands eröffnet.43 In Reinhardts Monumentalaufführungen befanden sich die Mengen sowohl im Publikum als auch auf der Bühne. Die Einstudierung von Massen­szenen hatte eigentlich die Arbeit des Regisseurs schon sehr früh gekennzeichnet, besonders bei der Inszenierung von Shakespeare- und Schiller-Dramen. Durch den Einsatz der Massenregie wird die Menge auf der Bühne zu einem lebhaften Element, „zu einer Einheit vieler Körper, deren Grenzen zum Publikum hin verschwimmen“.44 Nach Heinz Herald war die Masse vor Reinhardt, „auf der deutschen Bühne – und auch auf der des Auslands – eine amorphe, schwerfällige, leblose Statisterie gewesen […]. Aus hundert Einzelmenschen, die ihre Individualität nicht verlieren, formt er ein geschlossenes dramatisches Element – die Menge“.45 Genauso wie in der griechischen Antike sollte das Theater wieder zu einem Fest werden, dem Treffpunkt der Polis, wo sich die Bürger als Teil einer Gemeinschaft fühlen und sich gleichzeitig mit den Helden auf der Bühne in einem allgemeinen und kathartischen Gefühlsaustausch identifizieren können. Deshalb sollte das Publikum nicht als ordnungslose Gruppierung von Einzelnen wirken, sondern als eine Einheit, die sich zu dem Zauber des Schauspiels hingezogen fühlt, sodass die Masse sich auf zwei Ebenen entfaltet: auf der einen Seite die Zuschauer und auf der anderen die Schauspieler, also die „beleuchtete“ und die „verdunkelte“ Hälfte des Theaters, die Masse und ihre Spiegelung. Mit anderen 43 Vgl. Hostetter, Anthony: Max Reinhardt’s Großes Schauspielhaus – its Artistic Goals, Planning, and Operation, 1910–1933, New York 2003. 44 Marx: Reinhardt, S. 114. 45 Herald, Heinz: Max Reinhardt. Bildnis eines Theatermannes, Hamburg 1953, S. 28.

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Worten, die Masseninszenierungen sollten als ein Spiegel für die Mengen der Zuschauer fungieren, damit sie sich, indem sie sich wiedererkennen, als Teil der Handlung empfinden.46 Schließlich sollten sich die Schranken zwischen den Akteuren und der Öffentlichkeit auflösen: Die Schauspieler streckten sich dem Publikum entgegen und die Zuschauer wurden in das Spiel hineingezogen. Durch das erzeugte Gemeinschaftsgefühl wurde die Aufführung zu einem Ritual, eine Idee, die hauptsächlich dank des großen Erfolges von Nietzsches Geburt der Tragödie aus dem Geist der Musik (1872) wieder in den Vordergrund rückte. In der Tat ist es das Ritual, das die Bewegungen der Masse auszeichnet und ein Gefühl der Nähe und der Zusammengehörigkeit erzeugt; auf diese Weise liegen Ritual und Theater dicht beieinander. Insbesondere spielte die körperliche Präsenz in den Großrauminszenierungen genauso wie bei den Ritualen eine wichtige Rolle. Reinhardt selbst betonte diesen Zusammenhang und war davon überzeugt, dass es die wahre Sendung des Theaters sei: […] das Wort aus dem Grab des Buches herauszuheben, ihm Leben einzu-

hauchen, es mit Blut zu erfüllen, mit dem Blut von heute, und es damit in eine lebendige Beziehung zu uns zu bringen […]. Die edlen Toten von vor hundert,

vor vierhundert, vor tausend Jahren stehen auf den Brettern wieder auf. Es ist das unsterbliche Wunder der Auferstehung, das die Bühne heiligt.47

Das auf der Bühne erzeugte Leben machte sowohl die Schauspieler als auch die Zuschauer auf die eigene Körperlichkeit aufmerksam. Vor allem für die Zuschauer handelte es sich um ein ganz besonderes Ereignis. Die großen Spielermassen bewegten sich auf der breiten Fläche der Arenabühne und einige Schauspieler erschienen plötzlich mitten im Publikum, sodass die Zuschauer, um der Aufführung zu folgen, ebenfalls gezwungen waren, sich zu bewegen. Das Zuschauen wurde buchstäblich zu einer körperlichen Aktivität, die nicht 46 Vgl. Reinhardt, Jelena U.: Max Reinhardt e Schiller: l’evoluzione dell’immagine della massa. Da un teatro che dà gioia agli uomini a un teatro in cui la gioia è asservita al potere, in: Treder, Uta/Dorowin, Hermann (Hg.): Auguri. Schiller!, Perugia 2011, S. 49–67. 47 Fetting: Max Reinhardt, S. 458.

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nur auf Augen und Ohren beschränkt war, sondern den ganzen Körper einschloss.48 Eine solche Beteiligung des Betrachters nahm dem Theater die Illusion, eine universelle Wahrheit darstellen zu können. Die Vielfalt der Standpunkte wurde aber auch auf andere Weise gefördert, indem der Regisseur neben den Großrauminszenierungen im Souterrain, den ehemaligen Zirkusstallungen, ein zweites Schall und Rauch etablierte, dessen Leitung er Rudolf Kurz anvertraute. In Reinhardts Vorstellung sollte das Programm des neuen Kabaretts als Parodie auf die Inszenierungen im „Oberhaus“ wirken. Zehn Tage nach der Eröffnung des Großen Schauspielhauses mit der Aufführung der Orestie von Äschylos (in der deutschen Übertragung von Karl Vollmoeller) wurde in den Kellerräumen eine Parodie davon inszeniert, das Puppenspiel Einfach Klassisch! Eine Orestie mit glücklichem Ausgang von Walter Mehring, zu der George Grosz die Figurinen und Decors entwarf und John Heartfield lebensgroße Puppen anfertigte. Also, nachdem die Zuschauer das Gefühl der Zusammengehörigkeit durch die Monumentalaufführung erlebt hatten, bestand die Möglichkeit, das ganze Spiel unter einer anderen Perspektive zu sehen, und zwar der Komik. Wenn auch auf verschiedene Weise, wird der Betrachter in beiden Theaterformen – wie schon bei dem ersten Schall und Rauch – zur Bewegung angeregt. Also entwickelt sich der Zuschauer schließlich über das bloß kontemplative Zuschauen hinaus und wird zum Mitspieler. Das zweite Schall und Rauch mit seinen mehr als 1000 Plätzen wurde bald eines der bedeutendsten Kabaretts der Weimarer Republik und zum Treffpunkt von Expressionisten und Dadaisten. Obwohl anfangs das Große Schauspielhaus, besonders durch seine Masseninszenierungen, sich als ein beträchtlicher Publikumserfolg erwies, konnte es sich auf die Dauer nicht durchsetzen, auch wegen der veränderten politischen Lage in Deutschland nach dem Ersten Weltkrieg. „Dem Theatermann versagte sich die Masse als Zuschauer“,49 die verdunkelte Hälfte des Theaters handelte unberechenbar und bestimmte das Schicksal der hellen. Doch, während Reinhardts Konzept eines Volkstheaters nach 1918 48 Vgl. Fischer-Lichte: Theatre, Sacrifice, Ritual, S. 61. 49 Braulich, Heinrich: Max Reinhardt. Theater zwischen Traum und Wirklichkeit, Berlin 1969, S. 168.

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tatsächlich gescheitert zu sein scheint, finden seine wichtigsten ästhetischen Ideen in zukünftigen Masseninszenierungen eine Weiterentwicklung, die über das Theater hinausgeht.50 Die Verbindung zwischen Publikum und Darstellern war also nicht ganz unterbrochen, sondern nur aufgeschoben, bis zu dem Zeitpunkt, in dem beide Hälften ihren Beitrag zu der Aufführung erneut leisten konnten, denn: „Es braucht Talent, die Dinge zu erzeugen, und Talent sie zu empfangen. Fehlt die Zeugungskraft oder die Kraft der Empfängnis, so kann nichts Lebendiges entstehen und das Ganze schrumpft zusammen zu einem körperlosen leeren Schattenspiel.“51

50 Reinhardts Massentheater hat nachhaltige Wirkungen entfaltet, beginnend vom stummen Film bis zu den öffentlichen Veranstaltungen. Vgl. Eisner: The Haunted Screen; Amann, Markus: Massenpsychologie und Massendarstellung im Film, München 1985; Mosse, George L.: The Nationalization of the Masses. Political Symbolism and Mass Movements in Germany from the Napoleonic Wars through the Third Reich, New York 1974; ders.: Mass and Man. Nationalist and Fascist Perception of Reality, New York 1980. Siehe dazu auch: Reinhardt, Jelena U.: The Representation of the Working-Class in Fritz Lang’s Metropolis: Shaping of the Shapeless Crowds, in: Di Nunzio, Novella/Troilo, Matteo (Hg.): Lavoro! Storia, organizzazione e narrazione del lavoro nel XX Secolo, Roma 2016, S. 259– 269; Reinhardt: Max Reinhardt e Schiller, S. 49–67. 51 Fetting: Max Reinhardt, S. 416.

Das Schon-jetzt und Noch-nicht der Moderne Ironisches Komplizentum zwischen Autor und Leser bei Otto Julius Bierbaum1 Serena Grazzini / Sabrina Ballestracci

1. Der moderne Traum einer durch Kunst gestifteten neuen Gemeinschaft: Einleitende Bemerkungen Meine liebe, teure und unbegreiflich blonde gnädige Frau, Herrin und Gebieterin! Stellen Sie sich, bitte, einmal vor, Sie säßen in einem mit himmelblauer

Seide austapezierten Pavillon, hätten ein weißes Mullkleid an, das von rosafarbenen Schleifen gerafft, also kurz wäre […] und […] winkten […] recht lebhaft und fröhlich und riefen: „Ah, les chansons nouvelles, mon cher, n’est-ce pas? Enfin!“2

Dieses Zitat ist Otto Julius Bierbaums Text Ein Brief an eine Dame anstatt einer Vorrede entnommen, der als spielerische Einleitung zur Gedichtsammlung Deut­ sche Chansons (Brettl-Lieder) verfasst wurde. Der kleine, geschmackvoll gestaltete und mit Bildern der Autoren versehene Band erschien zu Weihnachten 1900 und erfüllte Werbezwecke: Er diente der Ankündigung der ersten deutschsprachigen Kleinkunstbühne und damit der Präsentation einer neuen Idee der 1

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Der vorliegende Beitrag wurde von beiden Autorinnen gemeinsam konzipiert und in seinen einzelnen Teilen im Detail besprochen. Serena Grazzini hat Abschnitte 1–3, Sabrina Ballestracci Abschnitt 4 verfasst. Bei Abschnitt 5 haben beide Autorinnen gemeinsam zur Niederschrift beigetragen. Dieser Zusammenarbeit liegt die Überzeugung zugrunde, dass ein Austausch zwischen literatur- und sprachwissenschaftlicher Perspektive einen analytischen und interpretatorischen Mehrwert in Bezug auf das hier behandelte Thema darstellt. Bierbaum, Otto Julius (Hg.): Ein Brief an eine Dame anstatt einer Vorrede, in: Deutsche Chansons (Brettl-Lieder). Von Bierbaum, Dehmel, Falke, Finckh, Heymel, Holz, Liliencron, Schröder, Wedekind, Wolzogen, Berlin–Leipzig 1900.

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literarischen Produktion und Rezeption in Deutschland.3 Sowohl durch ihre editorische Gestaltung als auch durch die stilistischen Eigenheiten von Bierbaums Einleitung antizipierte die Anthologie jenen „eigentühmliche[n] Reiz [und] Zauber“,4 den das Kabarett zumindest in der Vorstellung seiner Gründer auf die Besucher ausüben sollte und den Hanns Heinz Ewers 1904 in seiner Retrospektive auf den Erfolg des Pariser Cabarets Chat Noir mit folgenden Worten beschrieb: „Das neue, das, was das Publikum unwiderstehlich anzog, war die Tatsache: hier lernte es die Künstler selbst von Angesicht zu Angesicht kennen […]. Richtige lebendige Dichter, Maler, Tonkünstler und Bildhauer, nicht einen oder den andern nur, wie in irgend einer Abendgesellschaft, sondern gleich eine ganze Reihe […], in ihrem ureigensten Element!“ Dem fügt er mitgerissen hinzu: „So etwas war in keinem Salon zu finden! […] Nichts schonten [die Künstler auf dem Podium], nicht einmal das dreimalheilige Publi­kum, vor dem doch jeder vernünftige Theaterdirektor, Sänger, Schauspieler stets ehrfurchtsvoll auf dem Bauch liegt.“5 Diese Nähe von Künstler und Publikum, die Freiheit des Umgangs miteinander, der Traum einer dichterischen, ungezwungenen Gemeinschaft, die Überwindung der Salonkultur, sie werden – bei aller Ambivalenz des Unternehmens – sowohl durch die Buchgestaltung der Deutschen Chansons hervorgerufen als auch in Bierbaums Einleitung entworfen: Der sich selbst fiktionalisierende Autor wendet sich mit ironisch gebrochener Ehrfurcht an eine (fiktive) Frau, die wie eine scheinbar liebevolle Karikatur der kultivierten Leserinnen porträtiert wird. Die sich auf die Neuerscheinung freuende Dame ist die Projektion der realen Leserschaft in die Fiktion, und der oben erwähnte Passus 3

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Es handelte sich um das Bunte Theater (Überbrettl), das am 18. Januar 1901 im Bau der Berliner Sezessionsbühne eröffnete. Zum literarischen Kabarett in Deutschland in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts, vgl. u. a. Greul, Heinz: Bretter, die die Zeit bedeuten. Die Kulturgeschichte des Kabaretts, 2 Bde., München durchges. und erw. Ausg. 1971; McNally, Joanne/Sprengel, Peter (Hg.): Hundert Jahre Kabarett. Zur Inszenierung gesellschaftlicher Identität zwischen Protest und Propaganda, Würzburg 2003, insbes. S. 7–63; Grazzini, Serena: Kleines Format, Kulturkritik, Nähe zum Leben. Über die literarischen Anfänge des deutschsprachigen Kabaretts, in: KulturPoetik 1/14 (2014), S. 24–42. Ewers, Hanns Heinz: Das Cabaret, Berlin–Leipzig 1904, S. 12. Ebd., S. 12–13.

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weist auf eine erzählerische Strategie hin, die zahlreiche Werke Bierbaums kennzeichnet. Sie besteht darin, durch Ironie und literarische Stilisierung die Leser zu Komplizen des Autors zu machen und sie für eine neue Auffassung von Literatur zu gewinnen, die im Falle des hier erwähnten Beispiels im Text auch erläutert wird. Die (recht sanft ausfallende) Satire zielt auf jene herkömmlichen Ideen, Haltungen und Erwartungen in Bezug auf dichterische Werke und ihre Rezeption, von denen die Leser Abstand nehmen sollten, um das Streben des Autors und seinesgleichen nach der Verwirklichung dieser neuen Idee zu teilen. Empathie und Identifikation des Lesers mit der Dame oder mit der Erzählinstanz werden durch dieses ironische Spiel sowohl gefördert als auch erschwert, was zu einer Dynamisierung der Leserrolle und der auktorialen Instanz im Verhältnis zum Erzählten führt. Der spielerische Gestus des Einbezugs des Lesers in den Text zielt letztendlich auf eine Neudefinition des Verhältnisses zwischen Autor und (hier Lese-)Publikum, und inszeniert jene Wechselbeziehung zwischen den Aktanten der literarischen Kommunikation, die dem in der Moderne verbreiteten und auch für Bierbaum wichtigen Ideal einer durch Kunst und Literatur neu gestifteten Gemeinschaft zugrunde lag. In der Jahrhundertwende wirkte dieses Ideal als Ansporn für wichtige Entwicklungen, die sich prägend für die literarische und kulturelle Moderne erwiesen. Dazu zählten das rege Zeitschriftenwesen, Gruppenbildungen und Künstlergemeinschaften sowie auch die eben erwähnte Gründung von literarischen Kabaretts gleich am Anfang des 20. Jahrhunderts. Bierbaum nahm aktiv an diesen Entwicklungen teil und spielte sowohl in der Berliner als auch in der Münchener Moderne als Autor und als Kulturvermittler eine wichtige Rolle.6 Obwohl er sich nach dem Scheitern des intimen, kabarettistischen von ihm 1901 6

Bierbaums Bedeutung für die Moderne ist in der Literaturgeschichtsschreibung stark vernachlässigt worden. Erst neulich hat sie die ihr gebührende kritische Würdigung in folgendem Sammelband gefunden: Weyand, Björn/Zegowitz, Bernd (Hg.): Otto Julius Bierbaum – Akteur im Netzwerk der literarischen Moderne, Berlin 2018. Als dieser Aufsatz verfertigt wurde, war der Band noch im Druck. Die Autorinnen bedanken sich bei den Herausgebern, die ihnen die Druckfahnen zur Verfügung gestellt haben. In den verschiedenen Aufsätzen haben sie eine Unterstützung für die hier geführte Arbeit und eine Bestätigung einiger Thesen gefunden.

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gegründeten Trianon-Theaters von diesen Erfahrungen allmählich abwandte, gehörte er zu den Autoren, die sich am meisten für die Durchsetzung und Verbreitung der Moderne einsetzten.7 Man denke z. B. an seine frühe Zusammenarbeit mit Michael Georg Conrad und der „Gesellschaft für modernes Leben“, an deren erstem öffentlichen Abend er den berühmten Vortrag Deutsche Lyrik von heute hielt, der daraufhin 1891 in den Münchener Flugschriften veröffentlicht wurde; seine Herausgeberschaft des Modernen Musen-Almanachs (1893– 1894); seine vielen feuilletonistischen Beiträge; seine Künstlermonographien (über Hans Thoma, Franz von Stuck, Arnold Böcklin, Fritz von Uhde); die Gründung der relativ kurzlebigen, aber wichtigen und sowohl literarisch als auch künstlerisch sehr anspruchsvollen Zeitschriften Pan und Die Insel; seine Tätigkeit von kurzer Dauer als Redakteur der Zeitschrift Freie Bühne für den Entwicklungskampf der Zeit, die ursprünglich den Titel Freie Bühne für moder­ nes Leben trug und unter seiner Leitung bezeichnenderweise in Neue Deutsche Rundschau umbenannt wurde;8 seine Steckbriefe, erlassen hinter 30 literarischen Uebelthätern gemeinschaftlicher Natur (1900), die einen ersten (verkannten) Entwurf der literarischen Karikatur als neue Gattung darstellten.9 Dank seinem Engagement als Schriftsteller, Übersetzer, Feuilletonist, Herausgeber, Gründer und Mitarbeiter von Zeitschriften sowie Mitwirkender bei 7

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Zu Bierbaums schriftstellerischem Werdegang vgl. Wilkening, William H.: Otto Julius Bierbaum: The Tragedy of a Poet, Stuttgart 1977. Zum Trianon-Theater vgl. Bierbaum, Otto Julius: Im Memoriam Trianon-Theater. Berlin unter den Stadtbögen, in: Die Insel 2 (1902), S. 123–131. Dieser Namenwechsel ist in der Tat von Bedeutung, weil er die Institutionalisierung der Moderne signalisierte. Was auch Bierbaum in Ein Brief an eine Dame anstatt einer Vorrede in ironischer Anlehnung an Karl Bleibtreu als die „Revolution der Litteratur“ kennzeichnete (vgl. Bierbaum, Ein Brief, S. VIII), hatte sich nun durchgesetzt, sodass das wichtigste publizistische Organon der Moderne auf das Adjektivwort modern nunmehr verzichten und mit der konservativen Deutschen Rundschau von Julius Rodenberg konkurrieren konnte. Bierbaum, Ein Brief. Vgl. Grazzini, Serena: La „Neue Rundschau“, la „Moderne“, l’Europa, in: Donnarumma, Raffaele/Grazzini, Serena (Hg.): La rete dei modernismi europei. Riviste letterarie e canone (1918–1940), Perugia 2016, S. 245–261. Vgl. Seidel, Robert: „Wenn in der bildenden Kunst die Karikatur erlaubt ist, warum nicht in der Literatur?“ Otto Julius Bierbaums Steckbriefe aus gattungs- und mediengeschichtlicher Perspektive, in: Weyand/Zegowitz (Hg.): Otto Julius Bierbaum, S. 127.

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der ersten deutschen Kleinkunstbühne verdient es Bierbaum, als eine zen­trale Figur der Moderne und als eine typische Erscheinung der Übergangszeit zwischen dem 19. und dem 20. Jahrhundert betrachtet zu werden. An seinem Schreiben können sowohl literarische Experimentierlust als auch das Festhalten an traditionellen Erzählmustern beobachtet werden, die auf die für die damalige Übergangsepoche kennzeichnenden ästhetischen Schwankungen hinweisen. In dieser Hinsicht kann seinem Werk ein exemplarischer Charakter zugeschrieben werden, und seine Untersuchung gewährt Einblicke in die Veränderungen, durch die viele Autoren der Jahrhundertwende das Verhältnis zwischen Autor und Empfänger zu revolutionieren trachteten. Es ging um Versuche, die ansatzweise eine Richtung einschlugen, die ihre volle Entfaltung erst später in den Avantgarden fand. Anhand von Bierbaums Werk soll es im Folgenden darum gehen, die Keime dieser Richtung in ihrem historischen und epistemologischen Zusammenhang hervorzuheben und die Aufmerksamkeit auf die Rolle zu lenken, die die Adressatenfunktion dabei spielt. Das Thema wird aus kulturpoetischer und sprachwissenschaftlicher Perspektive behandelt. Abschnitte 2 und 3 bieten eine kultur- und literaturwissenschaftliche Überlegung über Bierbaums Erzählwerk im Kontext der Moderne und der angestrebten Überwindung der Trennung zwischen Literatur und Leben. Abschnitt 4 präsentiert die linguistische Analyse des exemplarisch gewählten und oben zitierten Ein Brief. Diese Untersuchung hebt hervor, wie die Erzählinstanz und ihr Bezug auf den Leser versprachlicht werden, und zeigt die Verschränkung von fiktiver und realer Adressatenfunktion in Bierbaums Vorrede. Ein kurzer Vergleich mit anderen, radikaleren Autoren der damaligen Zeit schließt den Aufsatz ab (Abschnitt 5).

2. Die Moderne als Auftrag: Bierbaums Schwankungen zwischen Experimentierlust und Bewusstsein des Scheiterns Es ist keine Neuheit: Die Suche der selbsternannten Modernen nach einer den Herausforderungen der Modernität angemessenen Literatur und Kunst zielte u. a. darauf ab, die Grenzen zwischen Produzent und Rezipient, zwischen Fiktion und Wirklichkeit, zwischen Kunst und Leben, zwischen E- und U-­­Kultur,

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zwischen sprachlichem und körperlichem Ausdruck zu überwinden, mit der idealen Vorstellung des künstlerischen Werks als Gesamtkunstwerk oder in dem Wunsch nach einem künstlerisch und literarisch gestalteten Alltagsleben; oder aber auch in der Überzeugung, Literatur könne und solle soziale und kulturelle Veränderungen herbeiführen oder zumindest sozial- und erkenntniskritische Absichten verfolgen. Es handelte sich um verschiedene, miteinander sogar konkurrierende Vorstellungen, die allerdings in den Betrachtungen und den Werken mehrerer Autoren in der Wendezeit zum 20. Jahrhundert zumindest als Tendenzen koexistierten. Der stilistische Synkretismus war nicht nur ein Epochenmerkmal, sondern auch Kennzeichen etlicher einzelner Autoren, die auf die schnellen sozialen und kulturellen Veränderungen des modernen Zeitalters und auf den Verlust eines normstiftenden Konsens in Bezug auf Kunst und Literatur mit einer gewissen Unsicherheit oder aber mit Experimentiereifer reagierten.10 Trotz aller individuellen Unterschiede fanden die Autoren der Moderne ihren gemeinsamen Nenner in der Aufwertung des Verhältnisses der Literatur zur eigenen Zeit. Von Nietzsches zweiter Unzeitgemäßen Betrachtung angeregt, entwickelten sie nämlich ein Selbstbewusstsein als revolutionäre Gegner des Historizismus und des literarischen und künstlerischen Epigonentums. Dementsprechend definierten sie sich und ihre Literatur in Bezug auf die Aktualität, allgemein gesprochen auf das moderne Zeitalter, und erhoben den Anspruch, zwar zeitgebunden, jedoch ohne deswegen zeitgemäß zu sein und zu schreiben. In ihrer Hinwendung zur Gegenwart, im Plädoyer für das Hier und Jetzt der Literatur, für die Jugend – metonymisch aufgefasst als ein vom Ballast der Geschichte befreites Leben – entwickelten sie sowohl eine neue Sensibilität gegenüber der Wirklichkeit als auch eine Reflexion über den sich verändernden Status des Schriftstellers oder des Künstlers. Die Moderne wurde als ein

10 Die reichste Dokumentation dieses Synkretismus bieten nach wie vor folgende Metzler-­ Bände: Brauneck, Manfred/Müller, Christine (Hg.): Naturalismus. Manifeste und Dokumente zur deutschen Literatur 1880–1900; Ruprecht, Erich/Bänsch, Dieter (Hg.): Jahrhundertwende. Manifeste und Dokumente zur deutschen Literatur 1890–1910, Stuttgart 1981.

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gemeinsamer Auftrag aufgefasst, den jeder auf persönliche, d. h. individuelle Weise zu verwirklichen hatte.11 Die Allgemeinheit der damals proklamierten Parolen (Persönlichkeit, Leben, Jugend, Revolution), ihr ans Schablonenhafte grenzender Charakter deutet auf den Versuch hin, aus der Moderne eine Lebenshaltung und ein allumfassendes Projekt zu machen, das nicht nur die Künste und die Literatur, sondern das Leben in der Gesamtheit seiner Erscheinungen betreffen sollte. Dies führte zu einer allgemeinen Offenheit gegenüber voneinander differierenden Stilrichtungen und zu einer Vielfalt an ästhetischen Erfahrungen, die oft extrem kurzlebig waren. In seinem 1907 erschienenen Zeitroman Prinz Kuckuck. Leben, Taten, Meinungen und Höllenfahrt eines Wollüstlings lässt Bierbaum die damaligen, vom Naturalismus bis zur Gegenwart sich alternierenden und überkreuzenden literarischen Richtungen und Moden, denen er selber gefolgt war, satirisch Revue passieren.12 Dieser damals höchst erfolgreiche Roman ist u. a. deswegen besonders interessant, weil er ein manchmal unsicheres Urteil Bierbaums über die verschiedenen künstlerischen und literarischen Erfahrungen offen an den Tag legt, die seine charakterlose Hauptfigur macht. Die Unsicherheit des Urteils deutet auf eine Spaltung in Bierbaums Bewusstsein hin: Er teilte den die Moderne charakterisierenden Wunsch nach einer Aufhebung der Trennung von Literatur und Leben, Dichter und Publikum; zugleich erhob er aber auch den Verdacht, dass die verschiedenen ästhetischen Erfahrungen der Moderne, wenn sie nicht einfach in Leerlauf gerieten, diese Tren11 Mit Bierbaums Worten ausgedrückt: „Die Moderne, – ich habe das Bannerwort genannt, unter dem wir fechten. Das Wort ist an sich nicht besonders glücklich, aber es ist doch gut, daß wir es haben, denn es hat die begriffsengen Worte Realismus und Naturalismus verdrängt, die durchaus nicht voll deckend sind für unsere Bestrebungen. Besonders unpassend waren sie für Kennzeichnung der neuen Lyrik, für welche es nur ein Schlagwort giebt, und dies ist das Grundwort der Moderne: Individualismus. Schrankenlose Freiheit und kühnste Wahrhaftigkeit der künstlerischen Persönlichkeit: das ist es.“ Bierbaum, Otto Julius: Deutsche Lyrik von heute. Vortrag gehalten am ersten öffentlichen Abend der Gesellschaft für modernes Leben, in: Münchner Flugschriften 2 (1891), hier S. 7. 12 Zum Roman, vgl. Stankovich, Dushan: Otto Julius Bierbaum – eine Werkmonographie, Bern–Frankfurt a. M. 1971, S. 126–148; Ackerman, Roy L.: ‚Bildung‘ and ‚Verbildung‘ in the Prose Fiction Works of Otto Julius Bierbaum, Bern–Frankfurt a. M. 1974.

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nung womöglich bekräftigen konnten. Trotz seiner offenkundigen satirischen Absicht schwankt der Roman – und mit ihm sein Autor – zwischen Faszination für die Moderne und der Befürchtung bzw. dem Bewusstsein ihres Scheiterns. In der Tat sind viele Hauptfiguren Bierbaums scheiternde Künstler, die ihre Erlösung erst in der Liebe zu einer Frau oder in einem paradoxen Freitod finden. Ein Beispiel des zweiten Typs bietet nicht nur Prinz Kuckuck, sondern auch der Boheme Willibald Stilpe, die Hauptfigur des Romans Stilpe. Ein Roman aus der Froschperspektive (1897), den man nach Ackerman als einen Verbildungsroman definieren kann:13 Stilpe träumt von einer „Renaissance aller Künste und des ganzen Lebens vom Tingeltangel her“14 und gründet ein Variété nach französischem Muster. Allerdings scheitert er in seinem Unternehmen und fühlt sich von seinem Publikum nicht verstanden und ausgegrenzt. Diese erlittene Ausgrenzung führt in eine bewusst gewählte und fatale Selbstausgrenzung: An einem Theaterabend hält Stilpe provokatorisch eine „Dissertation über den Selbstmord“15 und inszeniert daraufhin einen Selbstmord auf der Bühne; am Abend darauf wiederholt er noch einmal dieselbe Nummer, aber dieses Mal wird der Selbstmord nicht vorgespielt, sondern tatsächlich begangen, wie die am Anfang begeistert applaudierenden Zuschauer mit Schrecken feststellen müssen, als der Vorhang das dritte Mal aufgeht. Bierbaums Roman ist voller Ironie gegenüber der Figur Stilpe, dennoch darf das durch Stilpe entworfene künstlerische und literarische Ideal nicht als ein ironisches aufgefasst werden; eher gilt die erzählerische Ironie der Unfähigkeit der Boheme-Figur, über Proklamationen hinauszugehen und ihre Träume in Wirklichkeit umzusetzen. Das Scheitern dieser und anderer Künstlerhaupt­ figuren sieht Bierbaum letztendlich in der Besonderheit des modernen Zeit13 Vgl. Ackerman: ‚Bildung‘ and ‚Verbildung‘, S. 64. Eine neue überzeugende Perspektive auf den Roman bietet Birgit Ziener, die ihn zu Recht im Zusammenhang mit Bierbaums Versuch einer Versimplifizierung und Popularisierung der Literatur liest. Ziener, Birgit: Das Triviale und das Komische. Verfahren literarischer Selbstpopularisierung in Otto Julius Bierbaums Pankrazius Graunzer und Stilpe, in: Weyand/Zegowitz (Hg.): Otto Julius Bierbaum, S. 128–145, hier S. 145. 14 Bierbaum, Otto Julius: Stilpe. Ein Roman aus der Froschperspektive, Berlin 1909, S. 357. 15 Ebd., S. 396–397.

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alters begründet: Die vielen Stimuli, die von außen kommen, das rasche Tempo des modernen Lebens und der modernen Entwicklung erschweren die synthetische Entwicklung der Persönlichkeit, ohne die Kunst für Bierbaum nur dilettantische Experimentierlust bleibt, wie dies an der Künstlerfigur Kaktus anschaulich gemacht wird: Die verschiedensten Jahresausstellungen, deren jede eine neue Richtung aufbrachte, gingen keineswegs an [Kaktus] vorüber, denn jede rührte an seinen Standpunkt. […] Das war dann immer um die Zeit, wo schon wieder zwei

neue Richtungen alt geworden waren. So wurde er nach und nach, aber immer mindestens ein Jahr zu spät, Impressionist, Pointillist, Symbolist, Neu-Idealist

und überhaupt alles auf -ist, was man heutzutage werden kann, wenn man eine Palette und Geschicke hat.16

Der Künstler, der nach Bierbaum innerlich unruhig ist, riskiert mehr als alle anderen Menschen, dem Rausch der verschiedenen Stimuli zu unterliegen oder, im besten Fall, einfach allein zu bleiben.17 So wie das Beispiel der Figur Stilpe zeigt, mündet die Suche des charakterlosen, Moden hinterherjagenden Künstlers sehr leicht in den ständigen Kampf um die Anerkennung des Publikums, was ihn endgültig zur Einsamkeit und einer ausgegrenzten Position verurteilt. Die stilistischen Brüche dieses Romans sowie der meisten Texte Bierbaums weisen allerdings auf die Ähnlichkeit des Verfassers Bierbaum mit seinen Figuren hin, und die Ironie gegenüber der Figuren ist nicht selten als die melancholisch stimmende Selbstironie des Autors und als eine Ironie gegenüber den Literaten der Moderne zu verstehen, die ihre Wunschvorstellungen nicht zu verwirklichen und ihr Versprechen einer literarischen Wende oft nicht einzulösen wussten. Diese für Bierbaum typische Ambivalenz zeigt allerdings, wie wichtig ihm auf der Suche nach einer Literatur, die ihren Anschluss an das moderne Leben finden sollte, das Experimentieren mit verschiedenen Wegen 16 Bierbaum, Otto Julius: Märchengeschichte, zit. in Ackerman: ‚Bildung‘ and ‚Verbildung‘, S. 43. 17 Zum Thema des Künstlers bei Bierbaum, vgl. Ackerman: ‚Bildung‘ and ‚Verbildung‘, S. 40 ff.

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war. Es ging im Grunde um den modernen Wunsch nach Aufhebung jenes Spannungsverhältnisses zwischen Literatur und Lebenspraxis, das in der behandelten Zeit an neuer Prägnanz gewann, welches allerdings das bürgerliche Zeitalter von Anfang an charakterisiert und schrittweise in die (oft missverstandene) Autonomie der Ästhetik auf der einen Seite, in die stets wachsende Trivialisierung der Unterhaltungsliteratur auf der anderen geführt hatte.18 Die Modernen versuchten, diesen Hiatus zu überwinden, und viele Autoren – darunter auch Bierbaum – wendeten sich mit doppelter Absicht der Unterhaltungskultur zu: Sie versuchten einerseits, gängige Unterhaltungsformen zu nobilitieren, andererseits die Literatur für breitere Kreise zugänglich zu machen – und taten dies in der Hoffnung, einen Widerstand gegen das technokratische und rationalistische Zeitalter zu leisten.

3. Anthropologische Wende, leserorientierte Literatur, Unterhaltung Das Spannungsverhältnis zwischen Literatur und Leben, zwischen Unterhaltung und hohen Ansprüchen der Kunst bildete nicht nur das Thema vieler Romane und Erzählungen von Bierbaum, sondern es prägte auch deren Stil und Form. Wie in der Einleitung angedeutet, bediente er sich nicht selten ironischer Schreibweisen, um u. a. Kritik an verbreiteten Erwartungen an die Literatur auf eine unterhaltsame, scheinbar harmlose Weise auszuüben und um die Leser für eine moderne Auffassung der Literatur und des Lebens zu gewinnen.19 Durch ironisches Erzählen versuchte er, ein Spiel zwischen alten 18 Für einen geschichtlichen Überblick der hier skizzierten Entwicklung, vgl. Bürger, Christa: Tradition und Subjektivität, Frankfurt a. M. 1980, S. 82–91. Zur „Dichotomisierung zwischen dem Hochgeschätzten und dem lediglich Unterhaltsamen“ am Anfang des 20. Jahrhunderts, vgl. Bollenbeck, Georg: Tradition Avantgarde Reaktion. Deutsche Kontroversen um die kulturelle Moderne 1880–1945, Frankfurt a. M. 1999, insbes. S. 159–178. 19 Bierbaums Ironie ist allerdings meistens ambivalent. Was Alessandro Fambrini in Bezug auf den kurzen Roman Die Schlangendame (1896) zurecht hervorhebt, ist in der Tat ein Merkmal des Autors: Seine spielerische Schreibweise führt vorwiegend zu einer Entschärfung des antibürgerlichen Potenzials seiner Texte und gerät leicht in Jugendstil-­Arabesken, die

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und neuen Formen der literarischen Produktion und Rezeption zu treiben und dadurch den starren, auf Arbeitsteilung basierenden literarischen Kommunikationsprozess in Bewegung zu setzen. Was Bierbaum für sich und seinesgleichen beanspruchte, war die Aufhebung des Mangels einer Vermittlung zwischen „Schaffenden“ und „Empfangenden“.20 Das Engagement für die Durchsetzung der Moderne, die wichtige ästhetische und soziale Aufgabe, die man ihr zuschrieb, führten zum Nachdenken darüber, welche die geeigneten Strategien sein könnten, um das bürgerliche Publikum für die neuen und zu verbreitenden Kunst- und Lebensansichten zu gewinnen. Zu diesen Vermittlungsstrategien gehörten allgemein auch der performative Charakter der Werke, die starke Orientierung an den Leser und der Versuch, diesen in den literarischen Text miteinzubeziehen. Bierbaums Texte erweisen sich auch unter diesem Gesichtspunkt beispielhaft, vor allem wenn man die Breite der Textsortenpalette betrachtet, auf die er zurückgriff. Sein Werk besteht nämlich nicht nur aus lyrischen Gedichten, Romanen, Erzählungen und (misslungenen) Dramen, sondern auch u. a. aus Reiseberichten in Briefform, Kalendergeschichten, Almanachen, feuilletonistischen Beiträgen und Vorreden.21 Was die zuletzt erwähnten Textsorten angeht, ist es eigentlich kaum nötig, zu betonen, dass sie für die damalige Zeit keine neuen Formen der Literatur oder der literarischen Vermittlung darstellten; vielmehr griff Bierbaum auf jenen Vorrat an Gattungen zurück, den die Tradition zur Verfügung stellte und den er zum großen Teil ironisch zu verwenden versuchte, nicht um mit der Tradition zu brechen, sondern um sie im Sinne seiner modernen Zwecke den kulturellen Sprengstoff der Themen einbüßen. Vgl. Fambrini, Alessandro: La vita è un ottovolante. Il circo nella letteratura tedesca tra 800 e 900, Pasian di Prato 1998, S. 133–136. 20 So lauten Bierbaums Begriffe in im zweiten Heft von Pan (1895–1896) veröffentlichten Ein Gespräch. Für eine Analyse des Gesprächs und der in ihm entworfenen Vermittlerrolle, die sich Bierbaum für sich vorstellt, vgl. Bunzel, Wolfgang: Auf dem Weg zur „angewandten Lyrik“. Otto Julius Bierbaums Moderner Musen-Almanach, in: Weyand/Zegowitz (Hg.): Otto Julius Bierbaum, S. 48 ff. 21 Eine Gesamtbibliographie von Bierbaums Werken bietet Stankovich: Otto Julius Bierbaum, S. 224 ff.

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umzufunktionieren. Es handelte sich dabei offensichtlich um populäre und/ oder leserorientierte idealtypische Textsorten, die sich dafür eigneten, die vom englischen Muster der Arts & Crafts-Bewegung inspirierte Idee einer „angewandten“ Literatur zu verwirklichen.22 Bierbaums Orientierung zum Leser hin ist allerdings nicht nur an der Textsortenauswahl, sondern auch stilistisch festzustellen, indem das Erzählen adressatenspezifisch wird oder aber auf einer fiktiven kommunikativen Situation baut, die die Autor-Leser-Kommunikation literarisch stilisiert. Sehr beliebt sind bei ihm z. B.: die Form des Briefes, die dem Geschriebenen den Status einer Mitteilung an jemanden verleiht, der stellvertretend für den realen Leser steht; in früheren Erzählungen die Einfügung einer älteren Figur, die jüngeren Zuhörern eine Geschichte erzählt, nicht selten mit didaktischer Absicht; die Selbstinszenierung der Erzählinstanz, die sich in der Ichform an den Leser wendet und Informationen vermittelt oder das Erzählte kommentiert. An der Lyrik geübt, verwendet Bierbaum außerdem oft eine emotionale Sprache – typisch ist bei ihm z. B. ein exzessiver Gebrauch von Ausrufe- oder Fragezeichen –, durch die eine persönliche Mitteilung des Ichs an sein Gegenüber (den Leser) inszeniert wird. Diese Performativität der Sprache, die in Abschnitt 4 am Beispiel der Vorrede zu den Deutschen Chansons genauer untersucht wird, bildet eine Konstante in seiner Literatur. Auch in diesem Fall lohnt es sich, daran zu erinnern, dass es sich um keine neuen Formen des Erzählens handelt, auffällig ist aber, wie oft sich Bierbaum ihrer bedient. Diese massive Häufigkeit signalisiert deutlich sein Bestreben, eine Nähe zum Leser herzustellen, nicht zuletzt um ihn für seine modernen Ideale zu gewinnen. Es ist nämlich hervorzuheben, dass Bierbaums Ich-Erzähler als Figur kaum definiert ist: Das Ich erfüllt überwiegend die Funktion einer erzählenden Stimme, womit aber die (falsche) Annahme suggeriert wird, es handle sich dabei um den Autor selbst, der zu seinen Lesern spricht und z. B. die wahre Geschichte eines Freundes erzählt. Daraus entsteht ein Spiel zwischen Fiktion und Wirklichkeit, woraus jene Dynamik von Empathie und Abstand des Lesers dem Gelesenen gegenüber entsteht, auf die oben hingewiesen worden ist. 22

Vgl. Anm. 33.

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Diese starke Orientierung auf den Leser findet ihren Grund in dem bei den Autoren der Moderne stark ausgeprägten Bewusstsein einer anthropologischen Wende, die Bierbaum in Ein Brief an eine Dame anstatt einer Vor­ rede auf prägnante Weise beschreibt, wenn er behauptet, der heutige Mensch könne kaum mehr, „großen dramatischen Zusammenhängen […] folgen“ und wolle nur „Abwechslung, – Variété“.23 Abgesehen davon, dass es sich um einen Werbetext für das Kabarett und dessen literarische Würde handelt und Bierbaum selbst auf die lange Form keinesfalls verzichtet hat, ist es für das hier behandelte Thema wichtiger, auf das Bewusstsein des veränderten kognitiven Horizonts des modernen Lesers hinzuweisen, das direkte Auswirkungen auf die Überlegung über die Beschaffenheit der literarischen Werke hatte, damit sich der Leser in einer im Grunde kunstfeindlichen Zeit von ihnen noch angesprochen fühlen konnte. In dieser Hinsicht verdient der Text Ein Brief eine besondere Aufmerksamkeit, weil Bierbaum hier versuchte, eine Gemeinschaft von Leser und Autor literarisch zu gestalten und auf diese Weise den Leser schon durch die bloße Lektüre des Gedichtbandes am Vorhaben teilhaben zu lassen, das zur Gründung des Kabaretts geführt hatte. Dieses Vorhaben stellt Bierbaum in seinem Text sowohl argumentativ als auch literarisch vor. Mit unübersehbaren und ironischen Bezügen auf Schiller einerseits, auf Nietzsche andererseits betont er die Heiterkeit der im roten Büchlein enthaltenen Chansons, und er hebt deren unterhaltenden Charakter hervor. Im folgenden Zitat wird das Ziel dieses unterhaltenden Tons auf anschauliche Weise dargestellt: 23 Bierbaum: Ein Brief, S. XII. Ähnlich, auch wenn mit anderen Schwerpunkten, drückt sich Freiherr von Levetzow in der Einleitung zu dem von ihm 1902 herausgegebenen Band Buntes Theater aus: „Wir streben nach Kürze und Vertiefung, nach Prägnanz und kräftiger Kompaktheit. Durch die grossen Erfindungen und geistigen wie technischen Umwälzungen des vergangenen Jahrhunderts ist das Tempo des Weltpulses wieder einmal beschleunigt worden. Wir haben keine Zeit mehr! Und daher wollen wir Kürze und Präzision überall. In offenbarem Gegensatze zum Symptom aller Dekadenz, dem Ausfliessen in die Breite und dem Überwuchern der Detailausführung, wollen wir wieder Kürze, Tiefe und Grosszügigkeit. […] So ist das Varieté, wie wir es träumen. Tiefe und Kürze zugleich; Extrakte, Abwechslung, Kontraste und daher keine Ermüdung, mehr Aufnahmefähigkeit.“ Freiherr von Levetzow, Karl Michael (Hg.): Buntes Theater, Berlin 1902.

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„Oui, ma chère, voilà les chansons nouvelles.“ Und nun führten Sie die goldne

Stielbrille ans Auge und begännen sofort zu blättern, zu naschen, zu lesen,

und die kleinen heitern Refrains flögen von Ihren frischen Kirschenlippen auf und jagten sich zwischen den vergoldeten Liebesgöttchen über den Spiegeln

und Fensterbögen. Schöner aber, heiterer und silbersüßer als die graziösesten

Refrains, klänge Ihr Lachen, Ihr luftiges, gesund volles Kinderlachen, wenn

Sie – oh glücklicher Dichter! – ein Lied fänden, das Ihnen besonders lustig und lieblich schiene. Ich aber läge die ganze Zeit vor Ihnen auf den Knien und

genösse das holdeste aller Schauspiele: Wie sich die Schönheit an der Heiterkeit der Kunst erfreut, wie die Worte der Dichter von den Küssen des schöns-

ten Mundes ins Leben getragen, durch die Berührung mit den Lippen einer schönen Frau erst recht lebendig werden.24

Die Reaktion der lesenden Frau ist eine literarische und ironisch überspitzte Projektion der gewünschten Reaktion des Werkempfängers: Die Heiterkeit der Texte sollte ansteckend wirken und sich auf diesen übertragen. Leichte Ironie wird zum Mittel, eine Sprache noch zu verwenden und auf Umgangskonventionen noch hinzuweisen, die nunmehr als altmodisch gelten, sodass sie nur noch ironisch verwendet werden können. Der Spott ist nämlich nicht zu überlesen, aber er wird in einer Form ausgedrückt, die die Verspottete (in diesem Fall: die „unbeschreiblich blonde gnädige Frau“) noch dulden kann, sie kann sogar mit dem Dichter lachen, der den gleichen Spott auch gegen sich selbst richtet. Die Verbindung von Anmut und Ironie ist die stilistische Formel, um Behauptungen auszusprechen oder Ausdrücke zu verwenden, die – wären sie ernst gemeint – auf Ärger, Irritation und Ablehnung stoßen könnten. Die Trennung von Dichter und Leser wird betont, aber nur um sie in Wirklichkeit aufzuheben. Wie diese Aufhebung sprachlich inszeniert wird und wie Bierbaum den Leser zum Komplizen des Autors macht, wird im Folgenden an der textuellen Gestaltung der Vorrede genauer untersucht.

24 Bierbaum: Ein Brief, S. VI–VII.

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4. Dialogizität, Argumentation und Adressatenfunktion: Eine linguistische Analyse der Vorrede zu Deutschen Chansons (Brettl-Lieder) Wenn die Vorrede eine Textsorte ist, in der die Adressatenfunktion ein prototypisches Merkmal bildet, auch wenn sie implizit bleiben sollte, gilt dies umso mehr für den Brief, bei dem der Adressat normalerweise expliziert wird. Indem er die Vorrede durch einen fiktiven Brief ersetzt, hebt Bierbaum die Adressatenfunktion seines Textes stark hervor und treibt ein eigentümliches ironisches Spiel mit dem wirklichen Leser, das symptomatisch für die Kunstauffassung ist, die er vermitteln möchte. Schon im Titel wird klar, welche wichtige Rolle der ausgewählte Wortschatz dabei spielt und wie dieser dazu beiträgt, jene ironische Schwankung zwischen Wirklichkeit und Fiktion zu schaffen, die typisch für Bierbaums Texte ist. Die Präposition anstatt, die die Nominalphrasen Ein Brief an eine Dame und eine(r) Vorrede verbindet, negiert nämlich nicht die Funktion der Vorrede, sondern ist Zeichen eines Substitutionsverfahrens, das den ganzen Textinhalt charakterisiert: Indem der Autor die Vorrede durch einen Brief an eine namenlose Dame ersetzt, wird die Dame zu einer Figur der Vorrede, die den vom Autor gemeinten realen Leser ersetzt.25 Der Leser seinerseits wird dazu angeregt, sich mit der Figur der Dame zu identifizieren, wodurch auch er zur Funktion des Textes wird. Andererseits kann er Abstand zur Figur behalten, weil er weiß, dass sie bloß fiktiv ist – und darüber hinaus noch eine Karikatur. An diesem Spiel zwischen Identifikation und Abstand des Lesers mit der Dame setzt die Ironie des Autors an, der selbst fiktive Züge annimmt, 25 Die einzige explizite Angabe ist die räumlich-zeitliche am Anfang des Briefes: „München im Saharetmonat: September 1900“ (S. V). Durch die Hinzufügung des Namens der berühmten und sehr beliebten Tänzerin Saharet, Pseudonym von Clarissa Rose Campell, weist Bierbaum auf eine spezielle Form der Unterhaltung und auf das damalige kulturelle Klima hin, das für die Gründung eines deutschen Kabaretts besonders günstig war. Die Frage nach der Herkunft und der Lebensgeschichte von Saharet ist noch heute umstritten. Sicher ist es, dass sie viele deutsche Künstler faszinierte. Besonders berühmt ist z. B. das Porträt Saharet (1902) von Franz von Stuck, der sich in seinem malerischen Werk intensiv mit dem Tanz beschäftigte. Vgl. Reisinger, Hanna: Porträts von Tilla Durieux: Bildnerische Inszenierung eines Theaterstars, Göttingen 2016, S. 118–119.

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indem er fingiert, der Autor eines Briefs anstatt einer Vorrede zu sein. Hinzu inszeniert der Verfasser im Lauf des Textes ein imaginäres Gespräch mit der Dame, an die er den Brief richtet, wodurch der Fiktivitätsgrad sowohl beider Figuren als auch des Textes eine Steigerung erfährt. Trotz all dem bleibt der Text eine Vorrede, durch die sich der Verfasser an sein Lesepublikum wendet, das er ebenso umwerben will: Unter dem Deckmantel der Ironie und der Unterhaltung versteckt sich die reale appellative und argumentative Textfunktion: Der Autor will seine eigene Kunstauffassung nicht auf eine seriöse Weise darstellen, obwohl seine Intention letztendlich sehr wohl ernst gemeint ist. Der Text zeichnet sich durch eine Textsortenmischung aus: Es können insgesamt drei Text(sorten)ebenen unterschieden werden – die Ebene des Briefes, die Ebene des fiktiven Dialogs und diejenige der Vorrede. Die sprachliche Analyse trägt dazu bei, zu zeigen, durch welche textuellen Strategien die Verschränkung der genannten Textebenen erreicht wird und welchem Ziel sie dabei dient. Um Erzählinstanz und Adressatenfunktion in diesem vielschichtigen Text zu beschreiben, erweisen sich einerseits die Prinzipien und Methoden der Gesprochene-Sprache-Forschung als besonders hilfreich, die sich mit der grammatischen Beschreibung der Merkmale des spontanen Gesprächs beschäftigt und bei der „Adressat“ unter dem Begriff „Gesprächspartner“ vorkommt;26 auf der anderen Seite helfen die Prinzipien und Methoden der Textgrammatik und -linguistik sowie der stilistischen Linguistik, die den geschriebenen Text als einen Dialog zwischen Autor und Empfänger auffassen und methodologisch ermöglichen, die wichtigsten stilistischen Textmerkmale sowie Text­ sortenmischungsverfahren herauszukristallisieren.27 26 Die gesprochene Sprache ist per definitionem Dialog, weil sie prototypischerweise die Anwesenheit von zwei oder mehreren Gesprächspartnern voraussetzt, die miteinander interagieren und gleichzeitig zur sprachlichen Produktion beitragen. Vgl. Fiehler, Reinhard: Gesprochene Sprache, in: Duden (Hg.): Duden. Die Grammatik. Unentbehrlich für richtiges Deutsch, hg. von Angelika Wöllstein und der Dudenredaktion, Berlin, 2016, S. 181–1260; Costa, Marcella/Foschi Albert, Marina: Grammatica del tedesco parlato. Con un saggio introduttivo di Reinhard Fiehler, Pisa 2017. 27 In der geschriebenen Sprache sind Produktion und Rezeption nicht zwei gleichzeitig ablaufende Prozesse: Erst produziert der Schreiber den Text, danach wird dieser von einem Leser rezipiert, und der Leser kann nur in einer späteren Zeitphase auf die Mitteilung

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Bierbaums Text schwankt zwischen konzeptueller Mündlichkeit und Schriftlichkeit.28 Es gibt nämlich in der Vorrede sowohl Textstellen, in denen die dialogische und scherzhafte Form vorherrscht, als auch Textstellen, in denen eine ernste und argumentative Form überwiegt. Dieses ständige Schwanken zwischen unterhaltender Dialogizität und ernstgemeinter Argumentation bildet die Dimension, an der sich das Komplizentum Autor-Leser realisieren soll: Die dialogische und scherzhafte Form, die die fiktive Ebene des Textes (Brief an eine Dame) charakterisiert, ist die stilistische Strategie, durch die die vom Autor intendierte und über die literarische Fiktion hinausgehende Funktion des Textes, d. h. eine appellative und argumentative, eingeführt wird. Diese appellative Funktion ist durch Details erkennbar. Vorwiegend fiktiven Charakter haben vor allem die ersten beiden Abschnitte: Einige Textmerkmale sind unüblich für eine argumentative, wenn auch appellative Textsorte, wie es die Vorrede normalerweise ist, und deswegen auch besonders auffällig. Abgesehen von der Briefform, die durch Angabe von Datum, Ort und die Grußformel am Anfang und die Schlussformel mit der Unterschrift am Ende markiert wird, sind Anführungs-, Frage- und Ausrufezeichen relativ häufig, die eine direkte Rede bzw. das Gespräch mit der blonden Dame signalisieren („Aber was wollen Sie denn? Die Geschichte ist ja beinahe ganz wahr!?“).29 Auffällig im ersten Teil des Textes sind auch Sprachmittel, die typisch für die reagieren. Das Konzept der Dialogizität ist aber auch in der Textwissenschaft nicht ganz ausgeschlossen: Der Begriff „Dialog“ kommt außerdem auch in den poststrukturalistischen Ansätzen vor, die den Text nicht als eigenstehende Einheit, sondern als Beitrag zum Diskurs zwischen Texten ansehen. Vgl. Weinrich, Harald: Textgrammatik der deutschen Sprache, Mannheim u. a. 1993; Adamzik, Kirsten (Hg.): Texte – Diskurse – Interaktionsrollen: Analysen zur Kommunikation im öffentlichen Raum, Tübingen 2000; Sandig, Barbara: Textstilistik des Deutschen, Berlin u. a. 2006. 28 Die Bezeichnungen „konzeptuelle Mündlichkeit“ und „konzeptuelle Schriftlichkeit“ wurden von Koch und Österreicher (1985) eingeführt, um genauer die Umstände zu beschreiben, unter denen ein Text produziert wird: Koch und Österreicher unterscheiden zwischen Medium bzw. Mittel (Luft vs. Papier) und Konzeption bzw. kommunikativer Strategie (Sprache der Nähe vs. Sprache der Distanz). Vgl. Koch, Peter/Österreicher, Wulf: Sprache der Nähe – Sprache der Distanz. Mündlichkeit und Schriftlichkeit im Spannungsfeld von Sprachtheorie und Sprachgeschichte, in: Romanisches Jahrbuch 36 (1985), S. 15–43. 29 Bierbaum: Ein Brief, S. VII.

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mündliche Kommunikation sind und der Dynamisierung des Kommunikationsprozesses dienen: Es handelt sich um Ausdruckspartikeln („oh, hm! hm!! hm!!!“), 30 d. h. Sprachmittel, die Reaktionen des Sprechers bzw. des Hörers ausdrücken.31 Durch einen solchen für eine Vorrede unüblichen Gebrauch der Interpunktion und der Ausdruckspartikeln erhält der Text einen scherzhaften Charakter und stellt sich dem Leser als eine Einladung zu einer spielerischen Komplizenschaft mit dem Verfasser des Briefes dar. Im fiktiven Dialog mit der Dame wird die scherzhafte Form sogar zu sanfter Ironie. Es werden Pronomina und Phrasen mit Appellfunktion gebraucht, mit denen sich Autor und Dame ansprechen oder sich selbst bezeichnen („Sie“, „Ihnen“, „Ihr“, „ich“, „mir“, „mein“, „Sie, Madame la Marquise“).32 Diese Sprachmittel werden normalerweise in der mündlichen Kommunikation benutzt, um auf die Gesprächspartner zu verweisen; in Bierbaums Text bezeichnen sie zwar die sprechende und die hörende Person, diese sind aber nicht real, sondern fiktiv. Mittels der Fiktion inszeniert Bierbaum die Überwindung der Trennung von Autor und Leser, die zu Gesprächspartnern werden sollten. Vom vierten bis zum siebten Abschnitt herrscht dagegen eine eher argumentative Form vor: Die Textgestaltung wird regelmäßig, und die Kommunikationsart nähert sich eher der Schriftsprache an. Auffällig ist aber vor allem, dass die Pronomina, die die zwei Gesprächspartner im ersten Teil des Briefes bezeichnen (ich und Sie) nun nicht mehr häufig Verwendung finden: Der Verfasser richtet sich immer noch an die Dame und verwendet dabei die SieForm, aber Sie ist nicht mehr das häufigste Pronomen. Das Pronomen ich verschwindet sogar vollständig und an seiner Stelle taucht das Pronomen der ers30 Ebd., S. V. 31 Die Ausdruckspartikeln sowie alle Partikeln – Bejahungs- und Negationspartikeln (ja, nein), Abtönungspartikeln (denn in Sätze wie Was ist denn los?) und Diskursmarker (also in Ausdrücke wie Also, was machen wir heute) – sind von Blühdorn (2012) als illokutive Konnektoren klassifiziert, d. h. als Konnektoren, die dazu dienen, Sprechakte miteinander zu verbinden. Sie sind typisch für die gesprochene Sprache, im Gegensatz zu anderen Konnektoren, z. B. die epistemischen (vgl. Anm. 34), die typischer für die Schriftsprache sind. Vgl. Blühdorn, Hardarik: Verknüpfungseigenschaften von Satzkonnektoren im Deutschen, in: Deutsche Sprache 3 (2012), S. 193–220; vgl. dazu auch Fiehler: Gesprochene Sprache, S. 1233–1234. 32 Bierbaum: Ein Brief, S. V–VII.

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ten Person Plural wir auf, mit dem der Schreiber bzw. Sprecher sich selbst und andere Autoren der „Angewandten Lyrik“ bezeichnet, was wiederum als ein Beispiel für die Substitutionsverfahren gilt, die den ganzen Text charakterisieren.33 Dieser Übergang zur ersten Person Plural ist auch auf einer anderen Ebene wichtig: Die Dame in der Fiktion und der Leser in der Wirklichkeit partizipieren nun an dem Vorhaben einer Gruppe, als ob sie selber Teil dieser Gruppe wären. Sprachlich wird also eine Gemeinschaft inszeniert, die es in der Wirklichkeit erst noch zu gründen gilt. Der zentrale Textteil kennzeichnet sich durch die Häufigkeit von Konnektoren wie Adverbien, Konjunktionen und Subjunktionen, die typisch für das argumentative Schreiben sind: Es handelt sich um epistemische Konnektoren, die im Gegensatz zu den Partikeln, die den ersten Teil charakterisieren, nicht die Mündlichkeit, sondern die Schriftsprache kennzeichnen. 34 Epistemische Konnektoren dienen Bierbaum dazu, Gründe und Schlussfol33 Ein Beispiel dafür: „Indessen muß ich gestehen, daß auch wir recht ernste Absichten haben, indem wir unsere Kunst in den Dienst des Tingeltangels stellen. Wir haben nun einmal die fixe Idee, es müßte jetzt das ganze Leben mit Kunst durchsetzt werden. Maler bauen heute Stühle, und ihr Ehrgeiz ist, daß das Stühle seien, die man nicht bloß in Museen bewundern kann, sondern mit denen sich die vier Buchstaben ohne Einbuße an ihrem Wohlbefinden wirklich in Berührung setzen können. So wollen auch wir Gedichte schreiben, die nicht bloß im stillen Kämmerlein gelesen, sondern vor einer erheiterungslustigen Menge gesungen werden mögen. Angewandte Lyrik, – da haben Sie unser Schlagwort“ (ebd., S. IX–X). 34 „Illokutiv“, „deontisch“ und „epistemisch“ sind drei der von Blühdorn (2010) und Blühdorn/Lohnstein (2012; vgl. auch Blühdorn 2012) postulierten semantischen Domänen, zu denen Konnektoren zugeordnet werden können. Dem semantischen Modell von Blühdorn gehören noch zwei semantische Domänen: die räumliche und die zeitliche. Die fünf Domänen unterscheiden sich den Objekten nach, die die Konnektoren miteinander verknüpfen, und können ihrer zunehmenden konzeptuellen Komplexität nach eingeordnet werden: Physische Gegenstände gehören der Raumdomäne, Sachverhalte der ­Zeitdomäne, Wissensobjekte bzw. Propositionen der epistemischen Domäne, Wollensobjekte der deon­ tischen Domäne und Sprechakte der illokutiven. Vgl. Blühdorn, Hardarik: A semantic typology of sentence connectives, in: Harden, Theo/Hentschel, Elke (Hg.): 40 Jahre Partikelforschung, Tübingen 2010, S. 215–231; Blühdorn, Hardarik/Lohnstein, Horst: Verumfokus im Deutschen: Versuch einer Synthese, in: Lohnstein, Horst/Blühdorn, Hardarik (Hg.): Wahrheit – Fokus – Negation, Hamburg 2012, S. 171–262.

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gerungen, Handlungen bzw. Mittel und Ziele, also Propositionen bzw. Ausdrücke, die Wissensobjekte enthalten, miteinander zu verbinden. Es werden insbesondere instrumentale, kausale, konzessive und konditionale Konjunktionen, Subjunktionen und Adverbien wie „indem“, „nun“, „nicht bloß … sondern“, „so“, „aber“, „durch“ verwendet. Auch der häufige Gebrauch von Modal­verben weist darauf hin, dass es sich um einen argumentierenden Textteil handelt, durch den der Verfasser seine moderne Idee von Kunst erläutert und sie dem Leser nahelegt, der hier auch eine neue Form von Literatur (das Chanson) kennenlernt. 35 Durch die Mischung von dialogisch-scherzhaften und seriös-argumentativen Kommunikationsmodalitäten inszeniert Bierbaum eine Verwandlung, die der reale Adressat seines Textes (der Leser) durchmachen sollte, und zwar folgendermaßen: Er sollte im Idealfall das Fauteuil verlassen und sich ins Kabarett begeben. Bierbaum umwirbt seinen Leser, und dank des Tricks des fiktiven Gesprächs mit der Dame nimmt er sich dabei die Freiheit einer kolloquialen Sprache: Kunst für das Variété. Aber ist das nicht eine schändliche Profanation? Heißt

es nicht, einen unziemlichen Scherz mit der Muse der lyrischen Dichtkunst

treiben, wenn man die Kinder, die man ihrer Huld verdankt, auf ’s Brettl stellt? Lyrik und Tingeltangel, – wie reimt sich das zusammen? Werden die Hoch-

notpeinlichen nicht sagen: Da seht ihrs nun, dahin sind sie glücklich gelangt

mit ihrer Revolution der Litteratur, – erst auf die Freie Bühne und nun in die Singspielhalle …! …? Ach, meine blonde Königin, sie werden es freilich sagen, und sie werden schrecklich saure Gesichter dazu schneiden, und es wird gar

nicht lieblich sein, zu hören, was für Tempelschänder wir sind. Das ist nun so. Und es wäre gar nicht nett, wenn es anders wäre. Das Variété-Theater des

35 „Aus diesem Worte kann man die ästhetischen Gesetze des Chansons, wie wir es meinen, ziehen. Es müssen Lieder sein, die gesungen werden können; das ist das Erste. Das Zweite und nicht minder wesentliche aber ist, daß sie für eine Menge gesungen werden können, die nicht etwa, wie das Publikum eines Konzertsaales, darauf aus ist, ‚Große Kunst‘ kritisch zu genießen, sondern die ganz einfach unterhalten sein will.“ (Bierbaum: Brief, S. X)

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Lebens wäre entsetzlich langweilig, wenn nicht auch die Steifleinenen ihre Knock-About-Nummern hätten.36

Die zitierte Passage ist sehr stark dialogisch geprägt: Sie enthält Fragesätze, einen unüblichen Gebrauch der Interpunktion und Satzstrukturen, die typisch für die gesprochene Sprache sind, beispielsweise Ausdruckspartikeln („Ach“), Appellative („meine blonde Königin“), Topikalisierungen („Lyrik und Tingeltangel, – wie reimt sich das zusammen?“), Ausklammerungsphänomene („mit ihrer Revolution der Litteratur – erst auf die Freie Bühne und nun in die Singspielhalle“), Ellipsen („Kunst für das Variété“) und koordinierende Konjunktionen mit illokutiver Funktion („und“ und „aber“, die am Satzanfang verwendet werden)37. Die seriöse und argumentative Funktion ist jedoch nicht abwesend und taucht insbesondere auf lexikalischer Ebene auf: durch die Häufigkeit von Substantiven, die sich auf die literarische Welt beziehen („Revolution der Litteratur“, „Freie Bühne“, „Singspielhalle“), und von Konnektoren, die literaturhistorische Ereignisse temporal anordnen („erst … und nun“). Es sind im Text noch weitere Phänomene vorhanden, die signalisieren, dass der Text ständig zwischen Dialogizität und Argumentation, zwischen Pathos und Ironie, zwischen Unterhaltung und Seriosität schwankt. Als Beispiel dafür gilt die Polysemie der schon genannten Konjunktionen „und“ und „aber“, die im ganzen Text vorkommen und verschiedene Funktionen bzw. Bedeutungen aufzeigen. In manchen Fällen nehmen sie tendenziell eine illokutive Funktion an, wie in der zitierten Stelle; in anderen Fällen behalten sie dagegen ihre ursprüngliche Funktion und Bedeutung: Sie werden als additive bzw. konzessive Konjunktionen verwendet, die dazu dienen, zwei Aussagen miteinander zu verbinden, die zur Domäne des Wissens gehören. Polyseman36 Ebd., S. VIII–IX. 37 Und und aber haben in diesem Fall keine koordinierende Funktion, sie nehmen vielmehr die Funktion von Gesprächspartikeln an, d. h. als Einleiter eines neuen Gesprächsbeitrags oder als konversationelles Fortsetzungssignal bzw. als Signal der Rederechtbeanspruch­ ung. Vgl. Günthner, Susanne: „… weil – man kann es ja wissenschaftlich unter­suchen“ – ­Diskurspragmatische Aspekte der Wortstellung in ‚weil‘-Sätzen, in: Linguistische Berichte 143 (1993), S. 37–59.

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tische Konnektoren sind typisch für literarische bzw. poetische Texte, weil diese durch einen hohen Kreativitäts- und Variabilitätsgrad gekennzeichnet sind.38 Im Fall des analysierten Textes dient aber das Poetische bzw. Kreative dem Argumentierenden, ohne allerdings diesen Anschein zu haben. Dass der Text einen so hohen Variabilitätsgrad besitzt, liegt daran, dass Bierbaum eine adressatenspezifische Textsorte, nämlich den Brief, wählt. Indem er sich mit der Dame unterhält, erläutert er dem Leser seine Poetik, letzterer wird durch diese Strategie dazu eingeladen, den Text zu interpretieren und dessen Bedeutung mitzukonstruieren. Der Leser seinerseits ist auch das Ergebnis einer Art von Ersatzverfahren: Er ist der heutige Stadtmensch, der im Gegensatz zum ‚Menschen von gestern‘ steht. Dieses Konzept wird auch im Text thematisiert: Der heutige Stadtmensch hat, wenn Sie Gütige mir das gewagte Wort erlauben, Variéténerven; er hat nur noch selten die Fähigkeit, großen dramatischen

Zusammenhängen zu folgen, sein Empfindungsleben für drei Theaterstunden auf einen Ton zu stimmen; er will Abwechslung, – Variété.39

Substitution und Gegensatz sind hier textuell und begrifflich feststellbar. Es handelt sich um drei durch Semikolon miteinander verbundene Sätze, die die gleiche syntaktische Struktur (SVO-Ordnung)40 haben und semantisch betrachtet ähnliche Satzglieder enthalten: Das Subjekt ist immer dasselbe und bezeichnet eine bestimmte Person („der heutige Stadtmensch“). Auch die Verbformen sind semantisch gleich oder ähnlich („hat“, „hat“, „will“). Ähnliche Bedeutung haben auch die Akkusativobjekte, die menschliche Fähigkeiten bzw. poetische Begriffe bezeichnen („Variéténerven“, „Fähigkeit“, „Abwechselung – Variété“). In welchem semantischen Verhältnis die ersten zwei Sätze 38 Vgl. Ballestracci, Sabrina/Ravetto, Miriam: La polisemanticità del segno letterario. Analisi dei connettivi „also“, „dann“ e „nun“ in „Der Prozess“ di Franz Kafka, in: Ballestracci, Sabrina/Grazzini, Serena: Punti di vista – Punti di contatto. Studi di letteratura e linguistica tedesca, Firenze 2015, S. 121–148. 39 Bierbaum: Ein Brief, S. XI–XII. 40 Subjekt-Verb-Akkusativobjekt.

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zueinander stehen, wird durch die Konnektorenkombination „nur noch selten“ ausgedrückt. In welchem semantischen Verhältnis der dritte Satz zu dem zweiten oder zu den ersten beiden steht, wird dagegen nicht versprachlicht und soll vom Leser erschlossen werden. Dabei hilft die Analyse der schon genannten Konnektorenkombination: Der Ausdruck „nur noch selten“ hat nicht nur eine temporale Bedeutung, sondern weist auch auf eine Negationsrelation hin, bei der der Gedanke der Kontraposition zum Stadtmenschen von gestern und des Gegensatzes der neuen Kunst zur alten implizit bleibt. Da­ raus ergibt sich, dass die Relation nicht einfach bloß eine temporale, sondern auch eine substituierende (der Mensch von heute anstatt des Menschen von gestern und die Kunst von heute anstatt der Kunst von gestern) sowie eine adversative ist (der heutige Stadtmensch vs. der gestrige Stadtmensch; Variété vs. lange Theaterafführungen).

5. Bierbaum im Vergleich: Abschließende Bemerkungen Die sprachliche Analyse der Vorrede zeigt, wie behutsam und umsichtig Bierbaum verfährt, um den Leser auf etwas Neues vorzubereiten und den Weg zur Moderne zu ebnen. Das soll heißen: Er bereitet einen Übergang vor. Dabei erweist er sich selber in der Vorrede und überhaupt in seiner literarischen Gesamtproduktion als ein Autor des Übergangs, der Vorstellungen ankündigte, die erst andere, radikalere Autoren in literarische Praxis umsetzen konnten. Man denke z. B. an Wedekind, den Bierbaum sehr bewunderte und den er für seine Deutschen Chansons gewinnen konnte:41 In jenem Büchlein z. B. wurde unter anderen auch Wedekinds Texts Der Tantenmörder veröffentlicht, in dem sich der Sprecher (der Mörder) am Ende des Gedichtes an nicht weiter charak-

41 Über Wedekind wird Oskar Panizza in einer in der Gesellschaft (1892, H. 3) erschienen Rezension zurecht behaupten: „Da habt Ihr ihn! Das ist der Dichter nach Eurem Programm!“. Zit. in Austermühl, Elke/Vinçon, Hartmut: Franz Wedekinds Dramen, in: Piechotta, Hans Joachim/Wuthenow, Ralph-Rainer/Rotheman, Sabine (Hg.): Die literarische Moderne in Europa. Formationen der literarischen Avantgarde. Bd. 2, Opladen 1994, S. 304.

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terisierte Richter wendet: „Ihr aber, o Richter, ihr trachtet/Meiner blühenden Jugend – Jugend nach“.42 Auf einer Bühne gespielt, führt dieser Satz über die Fiktion hinaus in die Wirklichkeit des Kabaretts, sodass sich die Zuschauer als Richter angesprochen fühlen können. Zugleich versteht sich der Text als eine Persiflage der modernen nietzscheanisch geprägten Jugendideologie. Wenn Bierbaum in seiner Vorrede gegen das Schiller’sche Wort ankündigte, die Kleinkunstbühne soll keine ethische, sondern eine ästhetische Anstalt sein, beweist Wedekind das genaue Gegenteil: Die ethische Tragweite des Textes steht nicht im Widerspruch zur Unterhaltung, zugleich ist Wedekinds ironisches Spiel Teil einer modernen Ästhetik, die das Potenzial schwerwiegender und anhaltender Umwälzungen entfaltet, und direkten Anschluss an die Lebenswelt hat. Ein anderes radikales Beispiel bietet Christian Morgenstern, und abschließend sei hier seine Groteske Egon und Emilie. Kein Familiendrama erwähnt, in der die Figur Emilie (die Ehefrau) und die Figur Egon (der Ehemann) ein ganz seltsames Familiendrama aufführen. Emilie will das Drama inszenieren, für das sie auch erfunden worden ist. Egon spielt nicht mit und bringt Emilie zur Verzweiflung: Den mit großem Pathos beladenen Worten der Frau, die ihn darum bittet, das Drama zu spielen, antwortet der Mann mit Schweigen. Die kleine Szene endet so: Emilie: „Keine Antwort, kein unartikulierter Laut, nicht einmal ein Blick!

Stein, Stein, Eis. Grausamer, der du mich um meine Rolle gebracht hast, unnatürlicher Mensch, der du hier ein Familiendrama in seinen Windeln erwürgst …

Er ist stumm, er bleibt stumm, ich gehe. Nun, so falle denn, Vorhang wieder, kaum dass du dich erhoben hast; so geht denn, ihr lieben Leute, nach Hause.

Ihr saht, ich tat mein Möglichstes. Alles umsonst. Der Unmensch will kein Drama, er will seine Ruhe haben. Lebt wohl.“ (Ab)

Egon (erhebt sich): „Sehr richtig, ich will meine Ruhe haben, ich will kein

Familiendrama. Um euretwillen, liebe Zuschauer, sollte ich diesem Wasserfall von Weibe durchaus zu Willen sein? Um eurer schönen Augen willen mich mit

42 Wedekind, Frank: Der Tantenmörder, in: Bierbaum (Hg.): Deutsche Chansons, S. 195–196.

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ihm in endloses Geschwätz verwickeln? Ich denke nicht daran. Geht jetzt nur heim und kommt zu der Erkenntnis, dass ihr heute zum ersten Male in eurem

Leben auf der Bühne einen wahrhaft vernünftigen Mann gesehen habt, einen

Mann, der das Sprichwort ‚Reden ist Silber, Schweigen ist Gold‘ nicht nur im Munde führte, sondern furchtlos befolgte. Lebt wohl.“ (Ab)43

Beide Figuren versprachlichen den Abschied vom alten Theater, jede tut dies aber auf ihre eigene Weise: Gemeinsam ist ihnen nur die abschließende ans Publikum gerichtete Schlussformel „Lebt wohl“. Emilies Rede ist reich an verschiedenen Formen von Negationen, und in der Tat stellt Emilie die (negierte) Theaterfigur bzw. die alten Theaterformen dar – oder um es mit Bierbaum zu sagen: die langen Theateraufführungen. In Egons Part sind die einzigen Negationen („kein Familiendrama“, „Ich denke nicht daran“) auf Emilies Wunschvorstellungen gerichtet, ansonsten herrschen bei ihm positive Ausdrücke vor sowie verschiedene Absichtserklärungen („Ich will“) und Fragen, mit denen er sich an den Zuschauer wendet und ihn über das Unvernünftige der alten Theaterformen aufklärt. Die Figur Egon sagt sich damit von ihrer herkömmlichen Rolle los. Emilies Worte, die zum semantischen Feld des Mordes gehören („der du mich um meine Rolle gebracht hast“, „ein Familiendrama in seinen Windeln erwürgen“), beschreiben dagegen genau das, was auf der Bühne aufgeführt wird: Die Todeserklärung des alten Theaters. Morgensterns Groteske ist komplex. Ihr Witz besteht nämlich vor allem darin, dass die durch den Titel des kleinen Stückes im Publikum suggerierte Erwartung eines Familiendramas eigentlich doch befriedigt wird: Das Ehepaar zerstreitet sich in der Tat, ohne dass dabei ein dramatisches Stück entstünde. Dem Publikum wird hier sicherlich nicht geschmeichelt, im Gegenteil. Dennoch, dank der ironischen Wende der Szene, wird den Erwartungen der Zuschauer Rechnung getragen, die überkommenen Formen werden dabei als alt charakterisiert und durch neue ersetzt. Der Adressat kann also wider43 Morgenstern, Christian: Egon und Emilie. Kein Familiendrama, in: Ders.: Werke und Briefe. Kommentierte Ausgabe. Bd. IV: Episches und Dramatisches, hg. von Reinhardt Habel und Ernst Kretschmer, Stuttgart 2001, S. 336.

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standslos seinen Standpunkt wechseln, dem Künstler (hier in der Rolle des Egons) wird applaudiert, und er kann nicht nur seine Ruhe, sondern auch die Bewunderung seiner Zuhörer genießen, jene Bewunderung, um die Bierbaums Künstlerfiguren erfolglos kämpfen. Dass Bierbaum zu solcher Radikalität nicht gelangte und im Grunde an Erzählformen gebunden blieb, die er selbst als überholt betrachtete und nur noch ironisch verwendete, ohne sie deswegen wirklich aufgeben zu können, spricht nicht gegen seine historische Bedeutung. Sein Bewusstsein des historischen Moments, seine schriftstellerischen Tätigkeiten, sein Bemühen als Kulturvermittler sind ausgerechnet in ihrer Ambivalenz symptomatisch für den unebenen Weg, den die Moderne durchstolperte, um vom bloßen Schlagwort zu einer soliden ästhetischen Wirklichkeit zu werden. Bei Bierbaum ist die angekündigte Moderne schon jetzt und gleichzeitig noch nicht. Und für ein angemessenes, nicht einseitiges Verständnis der damaligen Kulturpoetik ist der eine Pol genauso wichtig wie der andere.

„Ich, dem der Wunsch des Lesers stets eher Verbot als Befehl war“ Der Leser in den Texten der Fackel von Karl Kraus Theresa Homm

Der Herausgeber der Fackel verzweifelt an seinen Lesern. Sie beten ihn an, schicken ihm Briefe und verstehen doch seine Texte nicht, weil sie geistig viel zu beschränkt und nicht an Literatur interessiert sind, sondern nur an Skandalgeschichten. So stellt Kraus 1907 seine Leser dar.1 An vielen Stellen der Fackel wird entweder über den Leser oder zum Leser gesprochen. Die Auseinandersetzung mit dem Leser bewegt sich dabei in einem Rahmen, der von der Beschwörung einer „moralischen Inselwelt“2, zu der Satiriker und Publikum gehören, bis hin zur Publikumsverfluchung reicht. 3 Das Verhältnis der Fackel zu ihren Lesern verändert sich jedoch im Laufe ihrer Geschichte, wie sich auch Konzept und äußere Erscheinung der Zeitschrift ändern.4 Versucht man das Verhältnis von Autor und Leser mit den Mitteln der Erzähltextanalyse zu fassen, etwa mit einem Kommunikationsmodell mit Sprecher- und Adressateninstanzen, stößt man schnell an die Grenzen des Modells, da es sich bei den meisten Texten der Fackel weder um im engeren Sinne fiktionale Texte noch um im engeren Sinne erzählende Texte handelt 1

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Kraus, Karl: Die Fackel, Nr. 232–233, 9 (Oktober 1907), S. 1. Alle Texte der Fackel (F) stammen aus der Online Ausgabe des Austrian Academy Corpus: AAC-Fackel. Online Version: „Die Fackel. Hg. von Karl Kraus, Wien 1899–1936“, http://corpus1.aac.ac.at/­ fackel/ (Datum des Zugriffs: 10.10.2018). Im Folgenden werden die einzelnen Nummern nur noch in der üblichen Kurzform angegeben. F 766–770, 71, vgl. Stocker, Brigitte: Rhetorik eines Protagonisten gegen die Zeit. Karl Kraus als Redner in den Vorlesungen 1919 bis 1932, Wien 2013, S. 88. Vgl. Stocker: Rhetorik, S. 169. Zur Entwicklung der Fackel vgl. Krolop, Kurt: Vom „Kampfblatt“ zur „Kriegsfackel“. Die Werdejahre des „Antimediums“, in: Lunzer, Heinz/Lunzer-Talos, Victoria/Patka, Marcus G. (Hg.): „Was wir umbringen“. ‚Die Fackel‘ von Karl Kraus, Wien 2006, S. 8–31.

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und die Erzählforschung sich bei ihren Modellen nahezu ausschließlich an Romanen orientiert, sodass ihre Erkenntnisse nur eingeschränkt auf andere Formen des Erzählens übertragbar sind. Die satirischen Essays der Fackel sollen die zeitgenössische Wirklichkeit darstellen. Gleichwohl verfügen auch diese Texte über einen gewissen Erzählanteil, bei dem eine Instanz über ein Geschehen mit verschiedenen anderen handelnden Personen berichtet und reflektiert, sodass durchaus eine ähnliche Kommunikationssituation wie bei erzählenden Narrativen besteht. 5 Obwohl die journalistische Publikationsform der Fackel als Zeitschrift zunächst rein faktuales Erzählen erwarten lässt,6 weist Edward Timms in seiner Kraus-Biographie eindrücklich darauf hin, dass das Ich der Texte ein satirisch überzeichnetes Konstrukt ist.7 Mit dem Sprecher, der satirischen Stimme, wie Timms ihn nennt, tritt somit ein fiktionales Element in den Text ein.8 Karl Kraus unterscheidet entsprechend zwischen den Lesern, „die nur ein stoffliches Interesse zur Lektüre der ‚Fackel‘ treibt“,9 die die Fackel wie eine Zeitung lesen, und denen, „die meine Art und Richtung verstehen“,10 die Fackel also auch als poetisches Kunstwerk wahrnehmen. Der discours schließt eine fiktionale Erzählinstanz ein, die histoire stammt aus dem Bereich der Realität. Es handelt sich um poetisch-faktuales Erzählen, das in der Erzähltheorie jedoch meist unberücksichtigt bleibt. So schreiben Martínez und Scheffel zwar, dass sich Erzählungen „mit Hilfe der Merkmalspaare ‚real vs. fiktiv‘ und ‚dichte-

5 Vgl. Schmid, Wolf: Textadressat [Art.], in: Anz, Thomas (Hg.): Handbuch Literaturwissenschaft. Bd. 1: Gegenstände und Grundbegriffe, Stuttgart 2013, S. 171–181, S. 175. 6 Vgl. Martínez, Matías: Erzählen im Journalismus, in: Klein, Christian/Martínez, Matías (Hg.): Wirklichkeitserzählungen. Felder, Formen und Funktionen nicht-literarischen Erzählens, Stuttgart–Weimar 2009, S. 179–191, S. 184. 7 Vgl. Timms, Edward: Karl Kraus. Apocalyptic Satirist. Culture and Catastrophe in Habsburg Vienna, New Haven–London 1986, S. 169. 8 Vgl. Djassemy, Irina: Der ‚Productivgehalt kritischer Zerstörerarbeit‘. Kulturkritik bei Karl Kraus und Theodor W. Adorno, Würzburg 2002, S. 328. 9 F 232–233, 44. 10 Ebd.

Ich, dem der Wunsch des Lesers

risch vs. nichtdichterisch‘“ klassifizieren lassen,11 nennen aber einzig für die Kombination „real und dichterisch“ kein passendes Beispiel, als würde „dichterisch“ per se Fiktionalität voraussetzen.12 Schaeffer zeigt, dass die Grenze von Fakt und Fiktion nicht immer leicht zu ziehen ist, da das Paar Fakt/Fiktion „logically heterogeneous“13 ist. Um zu determinieren, ob etwas „Fakt“ ist, sind semantische Kriterien ausreichend; um etwas als „Fiktion“ zu klassifizieren (und nicht als Lüge), sind jedoch Kontext und Herangehensweise entscheidend.14 Martínez und Scheffel haben bei ihrer Klassifikation eindeutige Erzähltexte im Blick. Die Fackel ist, was dies betrifft, jedoch ein Zwitter, da sie lediglich einzelne erzählerische Passagen enthält (wenn über einen Sachverhalt berichtet wird), während der größte Teil eher einen reflektierenden und argumentierenden Charakter hat. Daher kann allenfalls als Hilfsbegriff von einem „Erzähler“ der Fackel die Rede sein. Das Problem der Fiktion wird in der Kraus-Forschung zur Fackel in erster Linie in Bezug auf den „Erzähler“ der Fackel verhandelt, angestoßen durch Timms, der an Berichten von Zeitgenossen nachzuweisen versucht, dass Karl Kraus als Person vom Charakter mitnichten dem Satiriker-Ich der Texte gleicht.15 Djassemy16 und Stocker17 weisen beide unter Berufung auf die Erzähltheorie darauf hin, dass diese Unterscheidung eigentlich selbstverständlich sein sollte, verkennen aber, dass sie im journalistischen Medium, das hier zunächst den Kontext bildet, meist nicht relevant ist. Im Unterschied zum Roman handelt es sich nicht um eine geschlossene fiktionale Welt. Während 11 Martínez, Matías/Scheffel, Michael (Hg.): Einführung in die Erzähltheorie. 10. überarbeitete und aktualisierte Aufl., München 2016, S. 12. 12 Ein häufiges, wenn auch unzutreffendes Vorurteil, wie Rühling darlegt. Vgl. Rühling, Lutz: Fiktionalität und Poetizität. [Art.], in: Arnold, Heinz Ludwig/Detering, Heinrich (Hg.): Grundzüge der Literaturwissenschaft. 8. Aufl., München 2008, S. 25–51, S. 25. 13 Schaeffer, Jean-Marie: Fictional vs. Factual Narration [Art.], in: Hühn, Peter von/Pier, John/Schmid, Wolf/Schönert, Jörg (Hg.): Handbook of Narratology, Berlin 2009, S. 98– 114, S. 110. Vgl. auch Rühling: Fiktionalität, S. 28. 14 Vgl. ebd. 15 Vgl. Timms: Kraus, S. 169–187. 16 Vgl. Djassemy: Productivgehalt, S. 323–345. 17 Vgl. Stocker: Rhetorik, S. 41–51.

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der Erzähler Marcel in Prousts Recherche trotz der Namensgleichheit mit dem Autor ausschließlich als Teil der textinternen Welt betrachtet werden kann, wird die Grenze zwischen textinterner und textexterner Welt in den Essays der Fackel permanent überschritten – etwa wenn das Ich der Texte auf der Bühne von dem realen Kraus verkörpert wird oder das satirische Rollenspiel vor Gericht fortgesetzt wird und wiederum Thema der Fackel wird. Originalzitate aus Presse, Gerichtsunterlagen und Leserbriefen sind Bestandteil der Aufsätze. Die Trennung von realem Autor, implizitem Autor und explizitem Autor mag zwar auf einer theoretischen Ebene immer vorhanden sein,18 sie wird aber für die Interpretation erst wirklich relevant, wenn es erkennbare Diskrepanzen zwischen implizitem und explizitem Autor bzw. Leser gibt. Für die Satire spielt zudem die Identifikation von realem Autor und text­inter­ nem Ich eine große Rolle, da sie die Autorität der Argumente untermauern kann.19 Der appellative Charakter des satirischen Essays ist deutlich stärker ausgeprägt als bei Romanen. Die Textanalyse soll sich im Folgenden auf prägnante Passagen aus der Fackel konzentrieren, die sich dezidiert mit dem Verhältnis von Autor und Leser beschäftigen, und Wandel und Funktion der Leseransprachen untersuchen.

1. Anfänge der Fackel Im ersten Heft der Fackel schildert der Herausgeber, wie sich die Stimme des Texts nennt, zunächst sein Programm. Er will einen „Kampfruf “20 ausstoßen gegen die Korruption in Politik, Wirtschaft und Presse und gegen die „Apathie“21 der Öffentlichkeit. Die Zeitschrift soll dabei politisch ungebunden

18 Vgl. Schmid: Textadressat, S. 178. 19 Vgl. Schwind, Klaus: Satire in funktionalen Kontexten. Theoretische Überlegungen zu einer semiotisch orientierten Textanalyse, Tübingen 1988, S. 79; Stocker: Rhetorik, S. 46 f. 20 F 1, 1. 21 Ebd.

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bleiben. „Freudig trägt er das Odium der politischen ‚Gesinnungslosigkeit‘“, 22 gibt der Herausgeber bekannt. Durch die positive Umdeutung eines Begriffs, der eigentlich als Vorwurf gemeint ist, markiert er seine Position als Sonderling und Außenseiter. Die Bezeichnung als „Kampfruf “ gegen die Gedankenlosigkeit impliziert, dass die Hoffnung besteht, einen Teil der trägen Masse aufwecken zu können. Die Fackel rechnet mit einer zweigeteilten Leserschaft, bestehend aus quasi idealen Lesern, die die Ansichten der Fackel teilen und nur auf ihren „Ruf “ gewartet haben, und den Lesern, die sich im Gegenteil provoziert fühlen und nicht umgestimmt werden wollen. Auch der Gegner soll angesprochen werden, seine „Rachsucht“23 herausgefordert werden. Im zweiten Aufsatz der ersten Nummer schildert der Autor seine Erfahrungen bei der Tagespresse, wo ihm ein „Maulkorb“24 auferlegt worden sei. Bevor die eigentlich gesellschaftlichen und politischen Inhalte zur Sprache kommen, macht sich das satirische Ich, das deutlich mit Karl Kraus als dem Autor der Krone für Zion identifiziert wird, selbst zum Thema und schildert seine Motivation zur Herausgabe der Fackel: die Korruption der Presse, die die freie Meinungs­ äußerung in einem der bestehenden Blätter unmöglich macht. Es gilt, den ganzen daran hängenden Kulturbetrieb herauszufordern und zu provozieren. Die Reaktionen der Presse werden genauestens studiert und triumphierend in die Zeitschrift aufgenommen. Auffällig bei der Selbstdarstellung ist, dass es von Anfang an nur um Karl Kraus als Autor bzw. als Autorfigur geht, nicht um Karl Kraus als Privatperson. Dass es dem Autor in den ersten Jahren wichtig ist, eine feste Leserschaft aufzubauen und Gleichgesinnte zu finden, zeigen die direkten Leseransprachen aus dieser Zeit. Meistens handelt es sich um höfliche Floskeln, die Autor und Leser in Einklang zeigen. Wer den Autor beleidigt, beleidigt auch den (idealen) Leser. Wird Kraus selbst angegriffen, so will das satirische Ich „meine Leser damit verschonen“.25 Als die Fackel wegen eines tät22 Ebd. 23 F 1, 4. 24 F 1, 5. 25 F 4, 20.

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lichen Angriffs auf Kraus „ein paar Tage später erscheint, als kalendarisch in Ordnung gewesen wäre“, 26 entschuldigt er sich bei seinen Lesern „für die kleine Unregelmäßigkeit“.27 Das Recht der Leser auf den Text wird dem eigenen Recht auf körperliche Unversehrtheit übergeordnet. Dadurch bildet die Autorfigur den ethisch größtmöglichen Kontrast zu ihren Angreifern, während gleichzeitig das Publikum emporgehoben wird. Der Autor erscheint als Diener seines Publikums, der seine Pflicht – ehrliche Berichterstattung – zu erfüllen hat, koste es, was es wolle. Im gleichen Heft bittet er seine Leser um Vergebung seiner „Jugendsünden“, 28 der Mitarbeit bei der Neuen Freien Presse. Die Abrechnung mit dem ehemaligen Arbeitgeber trägt die Form einer Abbitte, eines Entschuldigungsschreibens. Während das satirische Ich genüsslich die Arbeitsweise und die Verlogenheit der Zeitung zur Schau stellt und die eigene Überlegenheit beweist, tut er so, als fürchte er die Verdammung durch seine Leser. „Ich bitte meine Leser um Verzeihung: Ich habe damals ein paar Literaturkritiken, Plaudereien u. dgl. für die ‚Neue Freie Presse‘ geschrieben“ (F 5, 7). Das Pathos der Selbstanklage kontrastiert mit der Nichtigkeit des Delikts, das ja überhaupt nur aus Perspektive der Fackel als solches bezeichnet werden kann. Wieder hebt er so den Leser als Instanz empor, der der Autor Rechenschaft schuldig ist, wenn er es mit seinen moralischen Ansprüchen ernst meint, während er sich zugleich von seinem Gegner, der Neuen Freien Presse, abhebt. Daneben wird die Gemeinschaft mit dem Leser auch recht konventionell dadurch gefestigt, dass die gemeinsame Textgrundlage der bisherigen Fackel-Hefte beschworen wird 29 oder den Lesern für ihre freundlichen Zuschriften gedankt wird. 30 Es kommt zum regelmäßigen direkten Austausch mit Lesern, da bei Kraus zahlreiche Leserbriefe eingehen, die er in der Rubrik „Antworten des Herausgebers“ beantwortet, und er immer wieder um Hilfe in dringenden Angelegenheiten gebeten wird, bspw. 26 F 5, 3. 27 Ebd. 28 F 5, 5. 29 Vgl. z. B. Formulierungen wie: „Die Leser der Fackel wissen …“ (F 24, 1). Vgl. auch F 32, 7 oder F 48, 18. 30 Vgl. z. B. F 40, 28.

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veröffentlicht er 1903 den Hilferuf eines entlassenen Reporters nebst Aufforderung zur Spende, der er selbst mit gutem Beispiel vorangeht.31 Der passive Leser wird zum aktiven Handeln aufgefordert, er soll nicht mehr nur „mit Interesse und Sympathie verfolgen“, 32 sondern selbst handelnd tätig werden. Die Grenze zwischen textinternem und textexternem Raum wird durch den Appell überschritten.

2. Ästhetische Wende Erste Bilanzen und Veränderungen im Selbstbild der Fackel konstatiert Krolop ab Herbst 1902.33 Kraus beginne, ein „Erziehungsziel“ 34 für seine Leser zu formulieren. Sie sollen „anders lesen“ 35 lernen. Mit steigender Popularität äußert sich zunehmend Unmut gegenüber einem Lesertypus, der die Fackel zwar begeistert verschlingt, ihrem Ansinnen und ihrer Form aber keinerlei Verständnis entgegenbringt. Die träge Gesellschaft, die im ersten Heft so gegeißelt wurde, liest amüsiert mit, ohne sich im Geringsten angegriffen oder auch nur im mindestens aus ihrer Trägheit aufgescheucht zu fühlen. Was für den Autor Herzenssache ist, ist für sie Unterhaltung. Während negative Aufmerksamkeit durch die Presse ein Erfolg ist, ist die positive Aufmerksamkeit dieses Kreises eher Beweis mangelnder Wirksamkeit. Die Fackel richtet sich von nun an immer häufiger und zunehmend aggressiver explizit gegen diesen Teil der Leserschaft. Die „Antworten des Herausgebers“ gehen bald über die ursprünglich üblichen zwei Seiten hinaus, bis sie manchmal mehr als die Hälfte eines Hefts einnehmen.36 Zunächst sind davon meist einzelne anonyme Schreiber von Leserbriefen betroffen – ein Beispiel: „Sie wollen wissen, was ich auf den Artikel eines wohldisciplinierten Wiener Reclame­ 31 Vgl. F 131, 12 f. 32 Ebd., S. 13. 33 Krolop: Kampfblatt, S. 13. 34 Ebd., S. 14. 35 Ebd. 36 Vgl. z. B. F 217.

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advocaten, in welchem ich zur Abwechslung wieder einmal getödtet wurde, ‚antworten‘ werde. Nichts“, 37 teilt der Herausgeber einem „Neugierige[n]“ 38 mit. „Ich beschäftige die Leser der ‚Fackel‘ nur mit Angelegenheiten, die mir ein öffentliches Interesse zu berühren scheinen.“ 39 Der Leser will genussvoll eine Antwort auf den Angriff lesen, stattdessen wird er selbst zum Objekt der Satire, da er Neugierde und Vergnügen vor die Wirkung der Texte im Kampf gegen die Presse stellt. Der Herausgeber verlangt die Hoheit über seine Texte zurück. Dass er nicht das Bedürfnis hat, aus persönlichen Gründen zu antworten, soll ihn erneut vom eigentlichen Gegner unterscheiden, der sich im Gegensatz dazu von Kraus’ Provokationen beleidigt und zum Zurückschlagen gedrängt fühlt. „Nun ist es ja möglich, daß eine meiner Privatsachen zufällig mit einer öffentlichen Angelegenheit congruent ist: ich bin wiederholt schon Versuchsobject für diese und jene im allgemeinen Interesse anzugreifende Methode gewesen“,40 fährt Kraus fort. Nicht individuelle Polemiken, sondern allgemeine Missstände bilden den Stoff der Satire. Dieses Argument, der Darstellung des Allgemeinen im Individuellen als Aufgabe der Dichtung rückt Kraus’ Argumentation in die Nähe von Aristoteles’ Poetik41 und seine Texte damit hin zur Kunst. „Es ist mir verwehrt, meine Leser auf den Ocean der Niedertracht mitzunehmen, der seit Jahren mein Schifflein umbrandet“,42 schließt er. Durch die Betonung der Masse an beleidigenden Publikationen, die dazu führt, dass der einzelnen keine Bedeutung mehr beigemessen werden kann, führt der Herausgeber die Wirkmächtigkeit seiner Zeitschrift und die Niedertracht seiner Gegner vor. In den Jahren 1906 und 1907 werden die Klagen über diejenigen Leser, die nur am Inhalt der Fackel interessiert sind, aber kein Verständnis für ihre Form auf bringen, immer häufiger. „In Wien glaubt man offenbar noch immer, daß

37 F 131, 18. 38 Ebd. 39 Ebd. 40 Ebd. 41 Aristoteles: Poetik, übersetzt und hg. von Manfred Fuhrmann, Stuttgart 1982, Kap. 9, S. 31. 42 F 131, 18.

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ich der Inhaber eines ‚Aufdeckungsbureaus‘ bin“, klagt Kraus im Mai 1907.43 Er wird noch deutlicher: „[…] der gesunden Dummheit muß ich immer wieder abwinken, wenn sie mich für die schlechte Bezahlung der Beamten eines Bankinstituts oder für die ungenügende Lüftung eines Hörsaals der technischen Hochschule […] interessieren möchte.“44 Für Kraus steht die Unterscheidung vom Journalisten und damit die Anerkennung als Autor auf dem Spiel. Für die genannten Fälle sei die „sozialdemokratische Publizistik“45 zuständig, nicht er, „weil meine Feder kein Automat ist“.46 In der Forschung wird diese Zeit als „Ästhetische Wendung“ der Fackel bezeichnet.47 Sie wird zunehmend selbstreflexiver, indem das Schreiben zum Thema wird und die Fackel versucht, sich als Kunst zu behaupten. Das Verhältnis von Form und Inhalt wird neu ausgerichtet und das ursprüngliche traute Verhältnis von Autor und Leser verkehrt: in dieser Stadt bin ich zum Diener der Aktualität bestellt, zum abhängigsten Journalistendasein verurteilt. Ich, dem der Wunsch des Lesers stets eher Verbot als Befehl war, könnte doch das wahre Ideal der publizistischen Freiheit, das mir vorschwebt, nur erreichen, wenn ich die Feder niederlege.48

War im April 1899 noch die Presse schuld an der Einschränkung der Autorenfreiheit und der Leser das Maß aller Dinge, wird nun der Leser selbst zum Problem. Die „Antworten des Herausgebers“ werden von nun an gestrichen. Durch die Wechselwirkung von Schreiben und Lesen im Medium Zeitschrift kann Kraus auf Fehlrezeptionen reagieren. Häusler spricht von dem „Versuch der Leserlenkung, damit sein [Kraus’] Werk nicht mehr nur als satirischer Kommentar zu aktuellen Aufregern wahrgenommen werde, sondern als zeitloses

43 F 226, 23. 44 Ebd. 45 Ebd. 46 Ebd., S. 23 f. 47 Vgl. Krolop: Kampfblatt, S. 14–18. 48 F 232–233, 1.

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Sprachkunstwerk“49. Es geht um die Inszenierung als Künstler, wie in Kraus’ Klage über die Leser deutlich wird, die nicht bis Oktober auf die neue Fackel warten konnten (das letzte Heft erschien im Juli): Liege ich denn auf der faulen Haut, wenn mich der Stoff, den ich bewältigen soll, überwältigt hat? […] Auch darin unterscheide ich mich von den Journalisten: wenn ich zum Schreiben komme, ist die schwerste Arbeit schon vorü-

ber. Es ist ganz gleichgültig, ob man ein Drama schreibt oder eine Glosse. Es kommt nur darauf an, ob Herz oder Hand die Feder geführt hat.50

Unter der Hand negiert er die Gattungspoetik, indem er die hohe Literatur von den ihr zugewiesenen Gattungen löst und an die Ernsthaftigkeit des Schreibens bindet. Auch eine Glosse kann Kunst sein, und ein Drama ist nichts wert, wenn es nur mechanisch als Massenprodukt geschrieben wurde. Er versucht, textexterne Welt und textinterne Welt zu trennen, indem er seinen Texten die Funktion abspricht, die ihnen als Satire in der textexternen Welt von begeisterten Lesern zugewiesen wird: das „Niederreißen als eine nützliche Arbeit, die dem Aufbauen vorangehen müsse“.51 Damit distanziert er sich deutlich von den „reformorientiert[en]“52 Anfangsjahren der Fackel und weist eine übliche Legitimationsstrategie der Satire zurück.53 Stattdessen erklärt er: „Es kommt ausschließlich auf das Pathos an.“54 Das Schreiben wird als „Geburt“55 bezeichnet und damit als Schöpfungsprozess markiert. Konträr zur kurzen Lebensdauer journalistischer Gebrauchstexte kündigt Kraus seinen Aufsätzen eine Auferstehung als Sammelband an, 56 damit „das bißchen Stil“, 57 wie er in iro49 Häusler, Maximilian: Die Ethik des satirischen Schreibens. Karl Kraus, Hermann Broch und Robert Musil, Heidelberg 2015, S. 35. 50 F 232–233, 42 f. 51 Ebd., S. 43. 52 Krolop: Kampfblatt, S. 11. 53 Vgl. Schwind: Satire, S. 72. 54 Ebd. 55 Ebd., S. 44. 56 Vgl. Krolop: Kampfblatt, S. 16 f. 57 F 232–233, 44.

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nischer Bescheidenheit sagt, zur Geltung kommen kann, wenn das „stoffliche Interesse des Tages“58 erloschen ist. Der Leser wird in diesen selbstreflexiven Passagen hart angegangen. „Kein anderes Publikum, dem ein Schriftsteller in zwangloser Folge die derbsten Sottisen sagte, würde sie mit einer Verlängerung des Abonnements erwidern.“59 Der Autor versteht seine eigene Leserschaft nicht mehr, und sie versteht ihn nicht: „Ich vertrat die absurdesten Ansichten über Dinge der Geschlechtsmoral, man glaubte an den ethischen Ernst nicht, hielt’s für Schweinerei und schickte mir Einladungen.“60 Das satirische Ich behauptet, mit allem durchkommen zu können, weil es nicht beim Wort genommen werde. Seine Essays zum Umgang mit Sexualität, die es im ironischen Selbstwiderspruch als „absurd“ bezeichnet, würden von seiner Leserschaft als „Skandalsucht“61 und „Schweinerei“62 konsumiert, die Beleidigungen nicht persönlich genommen. Um die Abgrenzung zur restlichen Gesellschaft satirisch zu vollziehen, behauptet Kraus den Verlust seiner Leser als leider unerreichbares Wirkungsziel: „Und beinahe glaube ich schon, daß selbst dann eine ernstliche Verstimmung meiner Anhänger nicht zu befürchten wäre, wenn es mir wirklich gelänge, sie davon zu überzeugen, daß es mir mit jedem Wort, das ich schreibe Ernst ist“, seufzt das satirische Ich und relativiert gleich wieder: „Natürlich gelingt mir das nicht.“63 Damit beharrt es auf der Annahme, dass das Verhältnis zwischen ihm und seinen Lesern essenziell auf einem Kommunikationsproblem gründet. Stocker weist dergleichen Stellen in erster Linie Unterhaltungsfunktion zu.64 Um dies zu erklären, wird die Aufspaltung von impliziter und expliziter Autor- bzw. Leserinstanz relevant. Dadurch, dass Kraus sich einerseits eines journalistischen (also nicht poetischen) Mediums bedient, das von der Identität von Autor und textinternem Ich ausgeht, und er andererseits da­rauf pocht, dass 58 Ebd. 59 F 232–233, 43. 60 Ebd. 61 Ebd., S. 44. 62 Ebd. 63 Ebd. 64 Stocker: Rhetorik, S. 65.

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er als Dichter wahrgenommen wird, bleibt die Kommunikationssituation der Texte in der Schwebe. Wenn der Autor schimpft und sich ausdrücklich gegen eine Leserschaft richtet, von der er sagt, dass sie ihn am Schreiben hindere, dass sie dumm sei usw., handelt es sich – geht man von einem poetischen Text aus – um eine Kommunikation innerhalb des Textes zwischen einem expliziten Autor und einem expliziten Publikum, das durch die genannten Eigenschaften charakterisiert wird. Gleichzeitig richtet sich der Text implizit an ein verstehendes Publikum, das über die dummen Leser lacht, die den Text entweder wörtlich nehmen und die Fackel tatsächlich abbestellen oder die sich nicht angesprochen fühlen, weil sie den Ernst verkennend die Ansprache nur als textinternes Spiel wahrnehmen und deshalb genau das machen, was der Text ihnen vorwirft. Im realen zeitgenössischen Publikum ist sowohl von Lesern auszugehen, die dem expliziten Leser ähneln und in der Realität entsprechend reagieren, als auch von Lesern, die den hohen Anforderungen, die an den impliziten Leser gestellt werden, einigermaßen gerecht werden. Komik wird dadurch erzeugt, dass es sich einerseits nur um ein Spiel zwischen verschiedenen Ebenen handelt, andererseits zu einem gewissen Grad aber durchaus ernst gemeint ist, schließlich ist die Fackel nicht darauf ausgerichtet, Gewinn abzuwerfen, also nicht auf eine große Leserschar angewiesen. Die Ansicht des satirischen Ich ist zudem deutlich als ungewöhnlich und verquer markiert. Es soll sich von den ruhmsüchtigen, automatengleichen Berufsschreibern abheben, die sich nach gesellschaftlicher Anerkennung sehnen. Die Übertreibung in die entgegengesetzte Richtung, die Darstellung als Autor, der gerne auf seine Leser verzichten und dafür selbst das Schreiben aufgeben würde, lässt eine ironische Perspektive auf das geifernde satirische Ich zu, die die Wahrnehmung als textinterne Figur möglich macht. Die Drohung, mit dem Schreiben aufzuhören, wird von Kraus immer wieder als satirisches Mittel eingesetzt. Im Oktober 1908 kündigt der Herausgeber in einem offenen Brief an das Publikum (übertitelt Apokalypse) den Weltuntergang und die Einstellung der Fackel aufgrund des „fieberhaften Fortschritt[s] der menschlichen Dummheit“65 an. Anlässlich des bevorstehenden zehnjäh65 F 261–262, 1.

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rigen Jubiläums der Fackel rechnet Kraus mit seinen Lesern ab und beklagt die Wirkungslosigkeit der Satire. Der Satiriker erkenne zwar die Übelstände, befinde sich aber in der Rolle der Kassandra, da niemand auf ihn höre.66 Seine Daseinsberechtigung zieht er daher ausschließlich aus seinem „künstlerischen Ausdruck“,67 den wiederum die wenigsten Leser zu schätzen wüssten. Er klagt erneut über die Zudringlichkeit der Leser, die ihm vorschreiben wollten, was er zu schreiben habe, und behauptet, diesen, sofern sie eins hätten, das Abonnement der Fackel zu entziehen.68 Anders als der Schauspieler, der auf die Wechselwirkung zwischen Bühne und Publikum für seine Performance angewiesen ist, sei der Schreiber vom Leser schließlich unabhängig.69 Nicht einmal auf zukünftige Leser mit einem besseren Verständnis könne er mehr hoffen, da der Weltuntergang bereits in Sicht sei. „Ich weiß, ich bin größenwahnsinnig: ich weiß, daß meine Zeit nicht kommen wird.“ 70 Die Drohung, mit dem Schreiben aufzuhören (d. h. die Ankündigung des Endes der textinternen Welt), dient ebenso wie die Prophezeiung des Weltuntergangs (der realen Welt) zur Markierung der Texte, in denen ein wirklich zentrales gesellschaftliches Problem behandelt wird, da sie Aufmerksamkeit auf sich ziehen und keine weitere Steigerung zulassen.71 Zu einer erneuten anhaltenden Thematisierung des Verhältnisses von Autor und Leser kommt es 1919–1920. Es wird nicht möglich sein, auf alle Beispiele aus diesem Zeitraum einzugehen, da das Unverständnis des Lesers in fast jeder Nummer zur Sprache gebracht wird, denn „[e]ine der unangenehmsten Begleiterscheinungen der Fackel sind ihre Leser“.72 Kraus betont in seiner Kritik durchgehend, seine eigene mühsame Arbeit: „Sie müssen nämlich wissen, so ein Autor – so einer – liest zwanzig bis dreißigmal, was er geschrieben hat, ehe er es erscheinen läßt, prüft und wägt jedes Wort, ja selbst die 66 67 68 69 70 71 72

Ebd., S. 7. Ebd., S. 8. Vgl. ebd., S. 10. Vgl. ebd., S. 8. Vgl. Häusler: Ethik, S. 35; Stocker: Rhetorik, S. 52. Vgl. der Titel Die Letzten Tage der Menschheit für das Drama zum Ersten Weltkrieg. F 546–550, 71.

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Stellung jedes Wortes in der Zeile.“ 73 Der Leser hingegen „liest nur einmal, was weit weniger als keinmal ist“ 74 und verliert damit jede Berechtigung, über den Text zu urteilen, der auch nicht für ihn geschrieben ist, sondern „nur für den einen Leser […], der’s als Schreiber gelesen hat“.75 Das satirische Ich streitet jeglichen Willen, einen Leser zu überzeugen, ab, da es auf Leser verzichten könne, doch „häufig bieten sie noch das Ärgernis, daß sie gar nicht abonniert sind, so daß man nicht einmal in der Lage ist, für sie das Abonnement aufzugeben“.76 Die Überzeugung des Lesers, die als Hauptziel der Satire gilt,77 wird abgestritten, der Text müsse lediglich den eigenen Ansprüchen genügen. Damit stellt Kraus sich in die Tradition der Hoch­literatur.78 Kraus nimmt ihr Kommunikationsproblem in seinen Text auf und droht den Lesern, „daß es gegen die Fackel, die ihren Lesern längst weit gefährlicher ist als ihren Feinden, keinen anderen Schutz gibt, als sich von ihr abzuwenden“.79 Die Kritik am expliziten Leser kann als Handlungs­anweisung für den intendierten Leser gelesen werden: „Die unter ihnen guten Willens sind und frei von jener hoffnungslosen Intelligenz, die alles Geistige nach seinem Wert fürs Fortkommen abschätzt, haben die Sprache nie nach dem Stoff gewertet, wohl aber den Stoff vorgezogen, der die Sprache war.“80 Die positive Norm, die dem Text eingeschrieben ist,81 ist Bildung, die nicht nach ihrem Zweck beurteilt wird, positive Norm ist der ‚Geist‘, den es zu erhalten gilt. Das Fehlen dieses Geistes kann ideal an den eingehenden Leserbriefen verdeutlicht werden, „so erscheint mir die Polemik gegen einen beliebigen Briefschreiber

73 F 544–545, 33. 74 Ebd., S. 34. 75 Ebd. 76 F 546–550, 72. 77 Vgl. Schwind: Satire, S. 70. 78 Vgl. Link, Hannelore: Rezeptionsforschung. Eine Einführung in Methoden und Probleme, Stuttgart 1976, S. 60 f. Sie nennt als Beispiel Goethes Spätwerk, das auch in der späten Fackel eine große Rolle spielt. 79 F 546–550, 72. 80 F 554–556, 33. 81 Vgl. Schwind: Satire, S. 74.

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nicht nur durch die Bedeutung des Anlasses, sondern auch durch die Größe des Themas fundiert“.82

3. Radikalisierung Eine neue Dimension nimmt die Satire über den Leser 1933 an. Während Kraus zuvor immer nur mit der Einstellung der Zeitschrift gedroht hat, lässt er sie nach der Machtergreifung Hitlers, als die neue Fackel mit großer Spannung erwartet wird, tatsächlich acht Monate lang nicht erscheinen. Erst im Oktober 1933 veröffentlicht er das mit vier Seiten dünnste Heft mit einem Nachruf auf Adolf Loos und dem Gedicht Man frage nicht.83 Die Druckfahnen für den ursprünglich geplanten, erst posthum nach Ende des Zweiten Weltkriegs als Dritte Walpurgisnacht veröffentlichten ca. 300 Seiten starken Text hatte Kraus zurückgezogen. Nach weiteren acht Monaten des Schweigens erscheint erst eine Zusammenstellung der Reaktionen auf das Schweigen84 und dann die umfangreiche Fackel 890–905 mit dem paradoxen Titel Warum die Fackel nicht erscheint. Schon der Text der Dritten Walpurgisnacht nimmt ihren Ausgangspunkt beim unzufriedenen Leser, der „die Leistung verlangt, die als Stellungnahme bezeichnet wird“,85 da Kraus ja, „sooft ein Übel nur einigermaßen seiner Anregbarkeit entgegenkam, auch das getan hat, was man die Stirn bieten nennt“.86 Mit seiner Forderung verkennt der Leser die Gefahr des Nationalsozialismus, denn „es gibt Übel, vor denen sie [die Stirn] nicht bloß aufhört eine Metapher zu sein, sondern das Gehirn hinter ihr, das doch an solchen Handlungen seinen Anteil hat, sich keines Gedankens mehr fähig dächte“.87 Der Ton ist insgesamt resignativer. Das satirische Ich kann den Wunsch seiner Leser zwar verstehen – 82 83 84 85

F 554–556, 33. F 888. F 889. Kraus, Karl: Dritte Walpurgisnacht, in: Ders.: Schriften, Bd. 12, hg. von Christian Wagenknecht, Frankfurt a. M. 1989, S. 12. 86 Ebd. 87 Ebd.

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sie teilen als gemeinsame Norm den Hass auf die Nationalsozialisten – doch die Leser unterschätzen die Größe der Gefahr und die Unfassbarkeit der Vorgänge. Die Überführung der Metapher „die Stirn bieten“ ins Wörtliche zeigt auf, dass nach einem bloß verbalen Angriff mit direkter körperlicher Gewalt bis zum Tod gerechnet werden muss. Wörtliche und bildliche Sprache sind nicht mehr zu trennen.88 Die Ereignisse seien außerdem zu unbegreiflich, zu unlogisch, um sie sprachlich fassen zu können. Ziel des Schreibens müsse die „Erhaltung geistiger Möglichkeiten sein“,89 was das Überleben voraussetzt, nur dann kann man das „Denken in Sicherheit bringen“.90 Im Zentrum des Texts steht das Ausmaß der drohenden Gefahr. Indem Kraus auch den Leser, der die Bedrohung nicht erkennt, zum Objekt der Satire macht, vermeidet er das Risiko, die Nazis zu verharmlosen, indem er sich über sie lustig macht. Die konkreten Gründe, warum sich Kraus gegen eine Veröffentlichung der Dritten Walpurgisnacht entschied, sind unbekannt.91 Fest steht jedoch, dass er Vorkehrungen traf, um den Text vor der Vernichtung durch die Nationalsozialisten zu retten.92 Damit ist er nicht mehr nur in satirischer Übertreibung an eine Nachwelt gerichtet: Erst die Überlebenden der NS-Herrschaft können ihn gefahrlos lesen. Die letzten Hefte der Fackel beschäftigen sich entsprechend mit der Sache des ‚Geistes‘, für die stellvertretend Goethe und Shakespeare stehen. Bei den Lesungen liest Kraus fasst nur noch Shakespeares Dramen, was in diesem Zusammenhang durchaus ein politisches Statement ist.93 Leser, die dies nicht akzeptieren wollen, sollen nun in vollem Ernst vergrault werden, nicht nur in satirischer Übertreibung, „so wird eine Reduzierung der Leserschaft der Fackel auf solche erstrebt, die sich auch für Shakespeare interessieren. Was darüber 88 Vgl. Greiter, Almut/Pelinka, Anton: Karl Kraus und der Austrofaschismus, in: Krebs, Gilbert/Stieg, Gerald (Hg.): Karl Kraus et son temps. Karl Kraus und seine Zeit, Asnières 1989, S. 55. 89 Ebd. 90 Ebd., S. 15. 91 Vgl. Djassemy: Productivgehalt, S. 361. 92 Stremmel, Jochen: „Dritte Walpurgisnacht“. Über einen Text von Karl Kraus, Bonn 1982, S. 55. 93 Vgl. Stocker: Rhetorik, S. 69.

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ist, das ist von Übel“.94 Mit dem vermeintlichen Schweigen über Hitler und dem Eintreten für den Austrofaschismus mit der Begründung, dass Dollfuß sich konsequenter gegen die Nationalsozialisten stelle als die österreichischen Sozialdemokraten, hat Kraus die Toleranzgrenze der realen Leser überschritten. Der Leserkreis der Fackel ist in den letzten Jahren seines Lebens auf ein Minimum reduziert.

94 F 890–905, 312.

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Grenzaufhebungen Else Lasker-Schülers literarische Briefe an „wirklich lebende Menschen“ Christine Kanz

1. Grenzaufhebungen und ihre Differenzierungen „Liebe Eiskühler“ (MH 53),1 „Sir!“ (MH 97), „Liebe Jungens“ (MH 15), „Liebe Nordpolforscher“ (MH 28), „Sehr edle Gesandte“ (MH 54) – Else Lasker-­ Schülers literarische Briefe an „wirklich lebende Menschen“2 – unter ihnen Karl Kraus, Herwarth Walden, Arnold Schönberg, Emil Nolde, Albert Ehrenstein, Alfred Döblin, Paul Cassirer und Oskar Kokoschka – sind ‚fiktive Zeugnisse‘ der Berliner Kulturwelt vor dem Ersten Weltkrieg. Zusammen bilden sie den 1912 erschienenen „Liebes-Roman“ Mein Herz, der Fortsetzungs- und Brief­ roman in einem ist. Er enthält auch zahlreiche Zeichnungen der Avantgardistin. Diese Genre- und Medienvermischung ist nicht die einzige Grenzauf­hebung, die der Text vollzieht: Auch die Adressierungen der hier versammelten „Briefe“ sind ebenso wie deren Inhalte häufig Grenzaufhebungen zwischen Fiktion und Faktualität. Den Adressierungen der Briefe kommen dabei ganz unterschiedliche Funktionen zu. Ich habe bislang vier Hauptfunktionen ausgemacht, die im Folgenden vorgestellt werden sollen.

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Der Roman wird im Folgenden unter der Sigle MH (bzw. Nw für das Nachwort der Herausgeberin) und Seitenangabe in Klammern zitiert nach der folgenden Ausgabe: LaskerSchüler, Else: Mein Herz. Ein Liebesroman mit Bildern und wirklich lebenden Menschen, hg. von Ricarda Dick, Frankfurt a. M.–Leipzig 2007 (Entspricht der Ausgabe Frankfurt a. M. 2003). „Ein Liebesroman mit Bildern und wirklich lebenden Menschen“ – so lautet der Untertitel des Textes.

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2. Vier Funktionen der Adressierung 2.1 Adressierungen als ‚Aufmacher‘ zu den Briefinhalten „Herwarth!“ – Ausrufezeichen! (MH 21) – so lautet eine Adressierung an ihren Ehemann Herwarth Walden, mit dem sich die 43-jährige Lasker-Schüler während der Entstehungszeit der Briefe nach Norwegen – ab Spätsommer 1911 – in einer Phase der Beziehungsauflösung befand. Die Reise nach Norwegen – über Dänemark und Schweden –, die der Herausgeber der expressionistischen Zeitschrift Der Sturm mit seinem Freund Kurt Neimann Ende August 1911 unternahm, bildete den Anlass für die fiktiven Briefe, die zunächst in loser Folge im Sturm veröffentlicht wurden. Die vergleichsweise strenge Adressierung unterscheidet sich von den übrigen zum einen durch das Ausrufezeichen, zum anderen durch das Weglassen einer liebe- oder humorvollen Beifügung, wie sie die Briefeschreiberin üblicherweise für Herwarth Walden parat hatte. Solche liebevoll-neckenden Adressierungen konnten von „lieber Herwarth“ über „liebe Nordpolforscher“ (MH 28) oder „liebe Kameraden“ (MH 35), „liebe Brüder“ (MH 34) bis hin zu „liebe Jungens“ (MH 15) oder gar „liebe Kinder!“ (MH 21) reichen. Dabei nimmt die Tonlage der Adressierung jeweils die Färbung des dann folgenden Briefinhalts vorweg. So ergeht in dem erwähnten Brief, der mit ‚Herwarth – Ausrufezeichen‘ adressiert ist, eine Zurechtweisung wegen potenzieller ehelicher Untreue. Neben Eifersucht oder Zorn klingen immer wieder auch Trauer um den Verlust der Liebe sowie der Vorwurf, allein gelassen zu werden, durch  – und zwar auch in Briefen mit durchaus humorvoll-ironischen Adressierungen. Diese fungieren außerdem als ‚Aufmacher‘ für Klagebriefe über die Ignoranz der Verleger sowie für Bitten um finanzielle Unterstützung aber auch als ‚Auftakte‘ für Auslassungen zu anderen Autor/innen und Künstler/innen sowie nicht zuletzt für provokative kunstpoetische Statements (vgl. MH 101).

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2.2 Adressierungen als Elemente des „Spiels im Spiel im Spiel“ An den Adressierungen ist das dichterische Verfahren unmittelbar ablesbar: Es ist ein Spiel mit fiktiven und realen Elementen bzw. ‚ernsten‘ Bezugnahmen auf Freund/innen, Verleger/innen, Kritiker/innen, Schriftstellerkolleg/ innen, Künstler/innen. In einem Brief an Karl Kraus berichtet die Briefschreiberin im November 2011, sie habe „Sehnsucht die Leute alle zu kleiden, damit ein Spiel zu Stande kommt“ (MH Nw 201). Sie vergibt Rollen an die adressierten „Mitspieler“. Paul Cassirer redet sie mit „Sir“, Max Oppenheimer mit „Abbé“ an, und Richard Dehmel bezeichnet sie als den „Großkalif[en] aller Dichtung“. Dabei werden nicht nur die Grenzen zwischen Erlebtem und Erdachtem überschritten, sondern manchmal auch die des Anstands und guten Geschmacks – vor allem aus der Sicht der explizit Adressierten, deren Reaktionen von Belustigung bis hin zu Empörung reichen. Die „norwegischen Briefe“ seien „ja wunderschön“, meint etwa der Autor Peter Baum, doch möge die Schriftstellerkollegin doch bitte „endlich“ seine „Familie aus dem Spiel […] lassen“ (MH 34). Karl Kraus verwahrt sich immer wieder dagegen, ohne sein Einverständnis in Mein Herz auftreten zu müssen – und dann auch noch als „Kardinal“, „Minister“ oder gar „Dalai Lama“ (MH 60). An den Briefinhalten stören ihn die „kleinen Thatsächlichkeiten“. Walden hingegen, selbst oft Gegenstand von Ironie und Spott, empfindet die Briefe als „unerhört dichterisch und gestaltet“ (MH Nw 158). In einem, an die „sehr edlen Gesandten“ adressierten Brief erzählt die Verfasserin von einem Leser, der sich über ihre Beschreibung Peter Baums empört habe. Ihr Text sei ein „Massenlustspiel“ (MH 52, MH 55) habe sie ihm entgegnet, „allerdings mit ernsten Ergüssen, die bring[e] so der Sturm mit sich“ (ebd.). Sie habe Peter Baum absichtlich als „Herumtreiber“ charakterisiert, damit er „ganz unerkannt“ bleibe. „Im wirklichen Leben“ sei er „viel langweiliger“ (MH 56). „Menschen formen nach meiner Phantasie“ – das ist ihr erklärtes Ziel (MH 60 und MH Nw 134). Auf welche Weise die Avantgardistin in ihrem fiktiven „Liebesroman mit Bildern und wirklich lebenden Menschen“ dabei verfährt, reflektiert sie immer wieder explizit:

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[…] dem historischen Stil habe ich Schlittschuh angeschnallt, und ihn so mit

fortgerissen, es kam mir nicht darauf an. Ich schrieb also den größten Teil meiner Briefe mit dem großen Zeh, die Historie aber, kann man nur mit dem

Herzen schreiben; das Herz ist Kaiser. Womit schreibe ich eigentlich meine Gedichte? Was glaubt Ihr wohl? Die schreibe ich mit meiner unsichtbarsten Gestaltung, mit der Hand der Seele. (MH 99)

„Herzstimmungen“ (MH 114), Gefühle also, nicht faktische Begebenheiten konstituieren aus ihrer Sicht die Realität. Dass das „Spiel im Spiel im Spiel“ (MH Nw 212), wie sie es nennt, einer poetologischen Selbstreflexion gleichkommt, wird erst nach und nach deutlicher. Dieses Changieren zwischen unterschiedlichen Ebenen, die „Bewegung zwischen dem Erhabenen und dem Schelmischen“ wurde bereits von Vivian Liska als charakteristisch für das gesamte Werk Lasker-Schülers hervorgehoben: Durch das Changieren zwischen „Erzengel und Kobold“, „verklärtem Liebesgesang und Selbstironie“, „hohem Stil und Ulk“ „relativiere Else Lasker-­ Schüler immer wieder ihre eigene Selbsterhebung zur Inspirierten“.3

2.3 Adressierungen als Instanzen der (Selbst)-Abgrenzung und des Nonkonformismus Das Verwirrende an den an „wirklich lebende Menschen“ adressierten Briefen liegt darin, dass als Nonkonformismus und Kunststrategie deklariert werden kann, was andererseits auch Plattform vermeintlich intimer Veröffentlichungen ist (ggl. MH Nw 159). Sie führen häufig zu Distanzierungen der zum Berliner Kulturzirkel gehörenden Zeitgenossen (vgl. MH 34, MH Nw 209). Das durchdachte Verwirrspiel stellt damit nicht nur eine Abgrenzung vom zeitgenössischen Literatur- und Kulturbetrieb dar, sondern, da ja nur ‚Eingeweihte‘ die Realpersonen hinter den ‚Modellen‘ erkennen können, erleben wir eine ‚Schau‘ im ‚kleinen Kreis, der man durchaus elitäre Züge nachsagen könnte. 3

Liska, Vivian: Die Dichterin und das Schelmisch-Erhabene. Else Lasker-Schülers „Die Nächte Tino von Bagdads“, Tübingen 1998, S. 51.

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Zugleich hält das „Massenlustspiel“ ebendiesem Kulturzirkel einen Spiegel vor, der zwischen realistischem Portrait und verzerrter Karikatur changiert und der nur dann weniger abgehoben erscheint, wenn man sich als Leser/in doch in die persönliche Sphäre hineinziehen lässt: Mein Herz ist Innenschau und öffentliche Klage zugleich. Die vorgeführte scheinbar private Abrechnung kommt mit einem klaren Statement daher, welches bereits das dem „Liebesroman“ vorangestellte und damit auch an die Öffentlichkeit gerichtete Motto intoniert: „Mein Herz – niemandem.“ Die Briefeschreiberin selbst distanziert sich von tiefer gehenden Emotionen, zieht sich immer wieder auf ihre Kunstposition (etwa in Briefen an Kraus, Kokoschka, Cassirer) zurück und besteht auf dem Ringen um den dichterischen „Ausdruck“: „Aber es kommt ja nur darauf an, wie ich die Modelle zum Ausdruck bringe. Ich habe weiter nichts mit ihnen zu tun“ (MH 60). In einem anderen Brief heißt es: „Warum verteidigt man sich selbst eigentlich, man sollte doch gegen sich nicht argwöhnen“ (MH 35). Es geht also um Selbstbehauptung und Selbstakzeptanz und um eine Klärung der eigenen Gefühle und Positionen – als Frau, Jüdin, Künstlerin und Schriftstellerin. Nicht umsonst nennt sie den Text auch einmal ihre „medizinische Dichtung“ (MH 114).

2.4 Adressierungen als (strategische) Selbstinszenierungen Diese Selbstklärung verläuft nicht ohne Zweck und Nutzen, und sie bewegt sich auch nicht nur zwischen Schelmischem und Erhabenem, sondern sie ist auch durchaus strategisch. So trägt bereits das Bemühen, sich von den anderen deutlich abzuheben, strategische Züge. Unterstützt wird es nicht zuletzt durch die orientalisierten Ich-Figurationen, wie wir sie auch von den anderen Werken Lasker-­Schülers kennen. Sie inszeniert sich in Bild und Text immer wieder als Tino von Bagdad, arabische Prinzessin, Jussuf oder Prinz von Theben (vgl. MH 114). Das entspricht weniger einem Fokus auf das Fantastische, Verklärende als vielmehr der strategischen Betonung des Fremden, Anderen, welches sie als Frau, Jüdin und avantgardistische Künstlerin in ihrer Umgebung verkörpert und auch verkörpern möchte. Liska sieht in ihrem Orientalismus eine

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„Transposition von ihrem eigenen Fremdsein als Jüdin“.4 Auch ihr Orientalismus stellt also eine Selbstabgrenzungs- und Selbstbehauptungsstrategie dar und verweist einmal mehr auf ihren Nonkonformismus.5 Mit ihrer Favorisierung vermeintlich wilder, edler, ursprünglicher, sinnlicher biblisch-orientalischer Juden grenzt sie sich zudem gegenüber den akkulturierten, assimilierten Juden ab und bezieht somit auch Position hinsichtlich der Diskussionen innerhalb der jüdischen Gemeinschaft. Dazu hob Astrid Schmetterling bereits Folgendes hervor: Else Lasker-Schülers betont orientalistische Selbstdarstellung signalisierte auch Distanz zu der die Künstlerin umgebenden jüdischen Gemeinschaft. Sie

war eine Herausforderung an die akkulturierten Juden, die ihre traditionellen Rituale und Gebräuche den Normen des deutschen Bürgertums anpaßten, um sich vom Stigma des nichteuropäischen Ursprungs zu befreien. Wenn Jussuf

für Theben in die Schlacht zog, kämpfte er vielleicht auch gegen diejenigen deutschen Juden, die sich als Träger der westlichen ‚aufgeklärten Hochkultur‘ betrachteten und jegliche Verbindung mit dem Orient von sich wiesen.6

Else Lasker-Schüler verkündete ihrem Publikum, dass sie die angepassten Juden aus ‚Kleinghettostadt‘ verabscheute und nur die „wilden Juden, die an den heiligen Flüssen wachsen“, liebte und von ihnen „,das Höchste‘ verlangte“.7 Zu den in ihren Texten bewundernd beschriebenen ‚wilden‘ Juden gehörten „die heroischen Juden der Bibel wie Josua, der Anführer der Israeliten bei der Eroberung des Landes Kanaan, oder Saul, der erste König Israels“.8 4

Liska, zit. nach Schmetterling, Astrid: „Das ist direkt ein Diebstahl an den Kunsthistorikern“. Else Lasker-Schülers bildnerisches Werk im kunsthistorischen Kontext, in: Dick, Ricarda (Hg.): Else Lasker-Schüler. Die Bilder, Berlin 2010, S. 159–193, hier S. 172. 5 Vgl. dazu und zum Folgenden ausführlicher Kanz, Christine: Orientalismus als Abgrenzungs- und Selbstinszenierungsstrategie. Else Lasker-Schülers literarische Briefe an „wirklich lebende Menschen“, in: Bosco, Lorella/Adorisio, Chiara (Hg.): Zwischen Orient und Europa. Orientalismus in der deutsch-jüdischen Kultur im 19. und 20. Jahrhundert, Tübingen 2019, S. 183–196. 6 Schmetterling: „Das ist direkt ein Diebstahl an den Kunsthistorikern“, S. 173. 7 Ebd., S. 173. 8 Ebd.

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Bestimmte Geschichten der Hebräischen Bibel, des Alten Testaments, denen ein streng-patriarchalischer Grundgestus nachgesagt wird, wurden von ihr umgedichtet oder erweitert, und zwar so, wie Vivian Liska herausgearbeitet hat, dass „die sinnlichen und dichtenden, die wilden und freien, die fremden Völkern entstammenden Bibelfrauen Ruth und Abigail, Hagar und Rebekkas Magd“ zu „eigenständigen“ biblischen Heldinnen werden konnten.9 Dass sie trotz ihrer eigenen, expliziten Distanzierung von ihrer zeitgenössischen akkulturierten, jüdischen Umgebung von anderen und selbst von nahestehenden Kollegen wie Peter Hille als „die jüdische Dichterin“ bezeichnet und mit der biblischen Prophetin Deborah verglichen10 und sogar vom kultur­ zionistischen Diskurs vereinnahmt werden konnte, liegt nicht nur an ihrem provokativen Spiel mit autobiographischem, häufig mit dem Orient und dem Judentum konnotierten Material, sondern auch an ihrer Wahl der sonstigen Motive und Themen vor allem auch ihrer frühen Gedichte, von denen zwei immerhin in der kulturzionistischen, deutschsprachigen Zeitschrift Ost und West erschienen, welche sich an eine jüdische Leserschaft richtete.11 Dass die Adressierungen der Briefe in Mein Herz häufig strategischer Art sind, wird aber vor allem auch an denjenigen deutlich, die als Auftakte dienen, um die neuesten Werke unterzubringen (vgl. Nw MH 146). Ein besonders hervorstechendes Beispiel, in dem Bild, Text und Handschrift zum Einsatz kommen, stellt ein Brief dar, der an den „sehr verehrten Dalai Lama“ (MH 114) alias Karl Kraus adressiert ist. Während die aufwendig gestaltete Adressierung und ehrfurchtsvolle Anrede durchaus als Zeichen höchster Verehrung und Zuneigung gedeutet werden kann, ist der Briefinhalt einem bestimmten Zweck gewidmet, nämlich der nachhaltigen Bitte, das neueste Gedicht der Briefeschreiberin in der von Kraus herausgegebenen Zeitschrift Die Fackel zu publizieren: „Ich werde so lange an das rote Tor Ihrer Fackel rütteln, bis Sie 9 Liska, Vivian: Fremde Gemeinschaft. Deutsch-Jüdische Literatur der Moderne, Göttingen 2009, S. 92, 112 und 97. 10 Vgl. dazu. Gelber, Marc H: Jewish, Erotic, Female. Else Lasker-Schüler in the Context of Cultural Zionism, in: Schürer, Ernst/Hedgepeth, Sonja (Hg.): Else Lasker-Schüler. Ansichten und Perspektiven – Views and Reviews, Basel 1999, S. 27. Meine Hervorhebung. 11 Vgl. ebd., S. 29.

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mir öffnen“ (MH 114). Die ehrfurchtsvoll-verspielte Adressierung entpuppt sich also erst im Nachhinein als eine strategische. Ferner zeigt sich, dass die Briefeschreiberin aktiv an der Redaktion und Publikationsstrategie des Sturm mitzuwirken versucht, indem sie in Briefen an Herwarth einmal darum bittet, einen Text Kurt Hillers im Sturm zu publizieren (MH 18), ein anderes Mal eine „Zeichnung“ John Höxters (MH 23).

3. Resümee und Ausblick Mit ihrer „norwegischen Briefschaft“ (MH 52, MH 55) inszeniert sich die Verfasserin insgesamt als avantgardistische Künstlerin am Puls der Zeit. So heißt es einmal dezidiert in einem der Briefe, dass Berlin zwar eine „kalte[.], unerquickliche[.] Stadt“ sei, doch zugleich auch eine „unumstößliche Uhr“: „[…] sie wacht mit der Zeit, wir wissen, wieviel Uhr Kunst es immer ist“ (MH 31). Zentral ist stets die Reflexion über den Umgang mit dem zeitgenössischen Material und dem eigenen Kunstideal. In ihrer Gesamtheit stellen die „norwegischen Briefe“ eine sehr eigenwillige, ambitionierte Poetik vor (MH 101), die avantgardistisch sein will und es auch ist. Bereits die Verflechtung von Wort und Bild sowie das Einbringen von Wortkreationen, die dadaistische Elemente vorwegnehmen, unterstreichen das.12 Auf diese Weise werden immer wieder die Positionen Else Lasker-Schülers als Künstlerin in den Vordergrund gerückt. Das gesamte Schreibprojekt erhält vor diesem Hintergrund auch einen Legitimationscharakter. Die Adressierungen fungieren dabei nicht nur als ‚Aufmacher‘ zu den Briefinhalten, welche von der Lästerei über Schriftstellerkollegen, provokative kunstpoetische Statements, Klagen über die Ignoranz der Verleger oder die Bitte um Geld bis zur Trauer um die verlorene Liebe reichen. Nicht zuletzt können sie auch als „Spiel im Spiel im Spiel“ (MH Nw 212) gelesen werden, und sie sind stets auch fiktive Selbstinszenierungen eines Ich,13 das diese Brief-Adressie12 Vgl. etwa MH 112 f. 13 Vgl. dazu auch ähnlich Ricarda Dick in ihrem Nachwort (MH Nw 210).

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rungen auch als Instanzen der (Selbst)-Abgrenzung und des Nonkonformismus benötigt und sie strategisch einsetzt. Da stellt sich die Frage, ob dem Publikum in diesem hochartifiziellen, selbstreferenziellen Spiel überhaupt noch eine gewichtige Funktion zukommen kann und wie sich diese gegebenenfalls beschreibbar machen ließe. Wie lässt sich das komplexe Zusammenspiel von Adressierung, Publikumswirkung, Kunstpoetik und Legitimierung des eigenen dichterischen Wirkens fassen? Können wir darüber zu neuen Differenzierungen gelangen? Zumindest Folgendes lässt sich vor dem Hintergrund der bisherigen Überlegungen doch festhalten: Das Verhältnis Künstlerin-Öffentlichkeit wird mit diesem fiktiven Liebesroman, dessen Personal aus „wirklich lebenden Menschen“ besteht, die sowohl als Mitspieler als auch als Publikum fungieren, aus den Angeln gehoben. Die unfreiwilligen Mitspieler werden am Ende zu ihrem eigenen Publikum. Die Briefeschreiberin bleibt dabei die Regisseurin und Hauptakteurin: Sie entscheidet, was über sie und ihr privates Umfeld in der Öffentlichkeit kursiert und in welcher Form. Sie bestimmt ihr öffentliches Bild als Frau, Schriftstellerin und Künstlerin selbst, indem sie es neu kreiert. Sie wird zur Dompteuse, die das Publikum ihres „Massenlustspiels“ zähmt, und führt dazu noch vor, dass sie selbst sich nicht bezähmen lässt. Im Gegenteil: Am Ende des Textes ist sie sogar zum „regierenden Prinzen in Theben“ aufgestiegen.

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Medien der Avantgarde Zur Gegenöffentlichkeit publizistischer ‚Aufruhr‘ Oliver Ruf

„[…] Bekannte, Zeitungen, neue Ideen […].“ Hugo Ball

1. Medien-Kultur Zu Beginn des expressionistischen Jahrzehnts haben sich sowohl für viele Autorinnen und Autoren als auch generell für zahlreiche Künstlerinnen und Künstler neue Chancen der Betätigung eröffnet. Verdienstmöglichkeiten boten besonders die zahlreichen, in dieser Zeit im Entstehen begriffenen Zeitungsund Zeitschriftenverlage, die mit ihren Publikationen Schriftstellerinnen und Schriftstellern die Gelegenheit boten, ein finanzielles Zubrot zu verdienen oder sogar den Lebensunterhalt damit zu bestreiten.1 Schließlich ist nach wie vor „weniger Trennendes, als Gemeinsames zwischen Schriftstellern und Zeitungsschreibern“ auffällig: „Beide richten sich an ein Publikum von Lesern, beide bedienen sich des Mediums Sprache, beide sind möglicherweise derselben Idee verpflichtet.“2 Zwar hat es spätestens seit dem 19. Jahrhundert, als Presseerzeugnisse zum ersten Mal eine ernsthafte Konkurrenz zum Buch darstellten, immer öfter Divergenzen und Konflikte zwischen journalistisch und literarisch Schreibenden gegeben – so etwa als Rivalen um die Bildung des öffentlichen Bewusst1 2

Siehe dazu u. a. Schmitz, Walter (Hg.): Die Münchner Moderne. Die literarische Szene in der ‚Kunststadt‘ um die Jahrhundertwende, Stuttgart 1990, insbes. S. 18. Jacobi, Jutta: Journalisten im literarischen Text. Studien zum Werk von Karl Kraus, Egon Erwin Kisch und Franz Werfel, Frankfurt a. M. u. a. 1989, S. 7.

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seins.3 Dies hat aber nicht zwangsläufig Schriftstellerinnen und Schriftsteller daran gehindert, auch journalistisch zu arbeiten. Für viele bedeutete jene Tätigkeit, ähnlich wie es auch beim schriftstellerischen Schaffen der Fall ist, die Möglichkeit, etwas über den Tag und für den Tag mitzuteilen.4 Einen Beitrag dazu lieferte das Selbstverständnis der literarischen Moderne als ein Phänomen der modernen Großstädte.5 In den rasant wachsenden deutschen Metropolen verdichteten sich die Erfahrungen gesellschaftlicher Modernisierung von Tag zu Tag auf ’s Neue. Die Prozesse der Rationalisierung, Technisierung, Industrialisierung und Urbanisierung beeinflussten dabei – so die hier eingenommene Perspektive – insbesondere Vertreterinnen und Vertreter der zeitgenössischen ästhetischen Avantgarde in einem Maße, dass von einer Korrelation zwischen der Literatur der Moderne und einer Literatur der Großstadt ausgegangen werden kann.6 Walter Benjamin schreibt bekanntermaßen über das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit: Innerhalb großer geschichtlicher Zeiträume verändert sich mit der gesamten Daseins­ weise der menschlichen Kollektiva auch die Art und Weise ihrer Sinneswahrnehmung.

Die Art und Weise, in der die menschliche Sinneswahrnehmung sich organi-

siert – das Medium, in dem sie erfolgt – ist nicht nur natürlich, sondern auch geschichtlich bedingt. […] Die Dinge sich räumlich und menschlich ‚näherzubrin­

gen‘ ist ein genau so leidenschaftliches Anliegen der gegenwärtigen Massen wie es ihre

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Vgl. ebd., S. 7, 11, 24 f. Der Begriff ‚journalistisch‘ leitet sich vom Fremdwort ‚Journal‘ ab, das im 17. Jahrhundert aus dem Französischen entlehnt wurde und eigentlich ein Adjektiv mit der Bedeutung ‚jeden einzelnen Tag betreffend‘ darstellt. Seit dem 15. Jahrhundert erscheint es substantiviert im Sinne von ‚Nachricht über die täglichen Ereignisse‘. Quelle ist das lateinische ‚diurnus‘ (,täglich‘) in seiner vulgärlateinischen Substantivierung ‚diurnum‘ (,Tag‘). Zugrunde liegt dem das Nomen ‚dies‘ (,Tageslicht, Tag‘) bzw. dessen adverbialer Lokativ ‚diu‘ (,bei Tage‘). Vgl. Kluge, Friedrich/Götze, Alfred: Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache. 13., unveränd. Aufl., Berlin 1943, S. 269. Siehe dazu u. a. Anz, Thomas/Stark, Michael (Hg.): Expressionismus. Manifeste und Dokumente zur deutschen Literatur 1910–1920, Stuttgart 1982, insbes. S. 11. Vgl. Becker, Sabina: Urbanität und Moderne. Studien zur Großstadtwahrnehmung in der deutschen Literatur 1900–1930, St. Ingberg 1993, S. 10.

Medien der Avantgarde

Tendenz einer Überwindung des Einmaligen jeder Gegebenheit durch die Aufnahme von deren Reproduktion ist.7

Die Organisationsform der „menschlichen Sinneswahrnehmung“, das „Me­­ dium“, in dem sie funktioniert, nahm mithin zu Beginn des 20. Jahrhunderts immer häufiger die Gestalt der Presse an. Hinzu kommt, dass das wichtigste Kennzeichen städtischer Wahrnehmung um 1900 die Bewegung wurde.8 Was Kurt Hiller 1911 mit dem Begriff ‚Expressionismus‘ meinte, den er aus der Malerei auf die Literatur übertragen hatte, war eine „Clique“ von Menschen, die sich vor allem in Berlin „gegenwärtig“ für die „neue Generation“ hielt.9 Damit bezeichnete Hiller die Mitglieder des im März 1909 gegründeten und von ihm selbst geleiteten Neuen Clubs und des aus ihm zwei Jahre später entstandenen Neopathetischen Cabarets – die beiden „Keimzellen der expressionistischen Literatur in Deutschland“.10 Auch war von fortgeschrittener, aktivistischer oder (was nochmals eine Rolle spielen wird) „jüngster“ Literatur die Rede.11 Keine umfassende, abgeschlossene Epoche bildete demnach der literarische Expressionismus, dem ein „exklusives Merkmal“,12 das ihn als ‚Epoche‘ charakterisieren würde, nicht zugesprochen werden kann. Vielmehr kennzeichnete ihn eine Kultur aus Rand-, Gegen- und Intellektuellengruppierungen. Deren Gruppenmitglieder blieben unter sich, schrieben auch für sich und füreinander und wurden deshalb auch nur untereinander effektiv wahrgenommen. Umso erstaunlicher ist die große publizistische Produktivität, die deren eigene Zeitschriften und Verlage heute bezeugen. Um diese literarischen Kreise 7 Benjamin, Walter: Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit (2. Fassung), in: Ders.: Gesammelte Schriften. Bd. I/2. Hg. von Rolf Tiedemann/Hermann Schweppenhäuser. 2. Aufl., Frankfurt a. M. 1978, S. 471–508, hier S. 478 f. 8 Vgl. Becker: Urbanität und Moderne, S. 49. 9 Hiller, Kurt: Die Jüngst Berliner [1911], in: Anz/Stark (Hg.): Expressionismus, S. 33–36, hier S. 33. 10 Anz, Thomas: Literatur des Expressionismus, Stuttgart–Weimar 2002, S. 5. 11 Vgl. ebd. 12 Faul, Eckhard: „Aber Betrieb muß sein“. Der expressionistische Schriftsteller Hans Leybold (1892–1914), Bonn 2003, S. 4.

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und Zirkel bildeten sich neue Journale und Jahrbücher mit verwandtem Anspruch, gleichen Inhalten und urbanen Zentren.13 Die junge Literatur bildete „ein Kollektiv, eine Gruppierung von Individualitäten und Gesinnungen“.14 Man schuf sich durch die Einrichtung einer ‚Subkultur‘ eine „Gegenöffentlichkeit mit eigenen Medien, die möglichst unabhängig von den etablierten Organen der öffentlichen Kommunikation und von den ökonomischen Zwängen des Marktes funktionierten“.15 Die junge Generation (von der im Folgenden die Rede sein wird) suchte „eigene Wege, um ihre Gedichte und Programme bekannt zu machen“.16 In der Endphase der Wilhelminischen Zeit, in der sich aus dem deutschen Agrar- ein Industriestaat entwickelte und alles „in Bewegung“17 geriet, entstanden nicht allein großstädtische Ballungsräume, sondern auch neue Tageszeitungen; Telegrafen- und Telefonnetze leiteten die Ära der Massenmedien ein. Getragen wurde das „blühende kulturelle Leben mit zahlreichen Zeitschriften, Theateraufführungen, Ausstellungen, Büchern und später auch Filmen“ vom „sogenannten Bildungsbürgertum, das letztlich die Grundlagen für den Expressionismus schuf und aus dem sich […] die meisten Expressionisten rekrutierten“.18 Diese demonstrierten ihr „gemeinsames Wohlwollen“, wobei „kein Mittel“ dafür besser geeignet war „als die Zeitschriften, deren große Zahl und bunte Folge ein Charakteristikum expressionistischer Literatur ist“.19 Ziel des vorliegenden Beitrags ist, vor diesem kurz ausgeführten kulturhistorischen Hintergrund exemplarisch die bereits genannte ‚Gegenöffentlichkeit‘ zu beleuchten, die im Namen der Avantgarde und deren Ästhetik eine bestimmte Art von publizistischer ‚Aufruhr‘ auszulösen vermag. Eine spezielle Rolle spie13 Vgl. Anz: Literatur des Expressionismus, S. 27. 14 Raabe, Paul: Das literarische Leben im Expressionismus. Eine historische Skizze, in: Ders.: Die Zeitschriften und Sammlungen des literarischen Expressionismus. Repertorium der Zeitschriften, Jahrbücher, Anthologien, Sammelwerke, Schriftenreihen und Almanache 1910–1921, Stuttgart 1964, S. 1–22, hier S. 5. 15 Anz: Literatur des Expressionismus, S. 36. 16 Raabe: Das literarische Leben im Expressionismus, S. 1. 17 Faul: „Aber Betrieb muß sein“, S. 8. 18 Ebd., S. 8. 19 Raabe: Das literarische Leben im Expressionismus, S. 5.

Medien der Avantgarde

len hierbei – so die These – vor allem jene Medien der Avantgarde, die ebenfalls bereits angeführt worden sind, d. h. solche Produktionen der Publizistik, wie sie eine Reihe bemerkenswerter und hier explizit hervorzuhebender Zeitschriften darstellen. Deren Formen und Funktionen sollen im Folgenden einschließlich der die jeweiligen Diskurse erhellender Seitenblicke auf Persönlichkeiten, Orte und Programmatiken eine nähere Aufklärung erfahren. Ausgangspunkt ist der zeitgeschichtliche Kontext um 1910, in dem sich wiederum ausdrücklich ‚junge‘ Publizierende wiederfanden, die die literarisch-journalistische ‚Szene‘ erstmals betraten – schließlich verstand sich namentlich der Expressionismus als eine Art „Jugendbewegung“, 20 deren Mitglieder aus Elternhäusern des mittleren Bürgertums stammten und oftmals kaufmännische Berufe ausübten.21 Diese trafen auf den neuen Typus der illustrierten Zeitschrift und die Umgestaltung des modernen Zeitschriftenwesens.22

2. Medien-Expressionismus Heinrich F.S. Bachmair gilt als einer der schillerndsten Figuren der Münchener Boheme: „Wenn über Expressionismus, Revolution und Literaturbetrieb in Deutschland gesprochen wird, sollte Heinrich F.S. Bachmair nicht vergessen werden.“23 Bereits mit 23 Jahren gründete er seinen Verlag in Berlin und nannte 1912 seinen Almanach angriffslustig Das erste Jahr (der große Almanach Das fünfundzwanzigste Jahr des S. Fischer-Verlags lag zu dieser Zeit gerade vor).24 Bachmair selbst erinnert sich:

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Anz: Literatur des Expressionismus, S. 31. Vgl. ebd. Siehe dazu wiederum u. a. Schmitz (Hg.): Die Münchner Moderne, S. 221. Viesel, Hansjörg: „Das Leben ohne Bücher ist abscheulich“. Der Bücherhirt Heinrich F. S. Bachmair. In: Ders. (Hg.): Der Verleger Heinrich F.S. Bachmair 1889–1960. Expressionismus, Revolution und Literaturbetrieb. Katalog zur Ausstellung der Akademie der Künste Berlin vom 6. Okt. bis 19. Nov. 1989, Berlin 1989, S. 19 f., hier S. 20. 24 Vgl. ebd., S. 19.

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Mein Verlag hat mit noch weniger als dem bekannten einen Schreibtisch und dem einen Papierkorb eines großen Verlegers angefangen: In einer Studen-

tenbude des Berliner Ostens – Memeler Straße 80, zweiter Stock, bei Frau Sowinsky – vereinbarte ich am 20. Oktober 1911 mit meinem Freunde Johannes R. Becher […] die Herausgabe seiner Kleist-Hymne Der Ringende. Im Frühjahr darauf erschienen weitere Bücher, und im Herbst übersiedelten wir nach

München (Kurfürstenstraße 39/IV), wo der sechzehnseitige Katalog Das erste Jahr erschien und bereits ein rundes Dutzend Autoren verzeichnete.25

Bachmair rekrutierte Autoren, deren Namen besonders im Café Stefanie und im Simplizissimus bekannt und beliebt waren: Else Lasker-Schüler, Leonhard Frank, Johannes R. Becher, Viktor Hadwiger, Alfred Richard Meyer, Ernst Stadler, Paul Zech und René Schickele. Hinzu kamen: Franz Jung, Karl Otten, Hans Leybold, Iwan Goll und Ernst Blass, außerdem Emmy Hennings und Hugo Ball.26 Letztgenannter lernte Heinrich F.S. Bachmair wahrscheinlich Anfang Oktober 1913 kennen. Gemeinsam planten sie vor dem Ersten Weltkrieg in München künstlerische Aktivitäten, die nicht selten an fehlenden Geldern scheitern sollten, beispielweise beim Versuch, einen Bühnenvertrieb aufzubauen und fortzuführen. Die erste Zusammenarbeit zwischen Ball und Bachmair ergab sich bei der Zeitschrift Die Neue Kunst. Bachmair schreibt in seinem Bericht des ersten Verlegers: Die Neue Kunst war die erste größere Zeitschrift, die sich entschieden für die

expressionistische Dichtung einsetzte, aber es mangelte an Geld, sie durchzu-

halten und auszubauen. So konnte nur ein einziger Halbjahresband, drei Hefte umfassend, erscheinen, obwohl wir uns redliche Mühe gaben, die Zeitschrift bekannt zu machen und ihren Bezieherkreis zu erweitern.27

25 Zit. nach: Viesel (Hg.): Der Verleger Heinrich F.S. Bachmair 1889–1960, S. 15. 26 Vgl. Viesel: „Das Leben ohne Bücher ist abscheulich“, S. 19. 27 Bachmair, Heinrich F.S.: Bericht des ersten Verlegers 1911–1914, in: Raabe: Die Zeitschriften und Sammlungen des literarischen Expressionismus, S. 96–110, hier S. 96. Dazu wurde z. B. die Uraufführung von Franz Bleis Schauspiel Die Welle unter Balls Regie und darstellerischer Beteiligung an den Kammerspielen am 10. Dezember 1913 inszeniert. Vgl.

Medien der Avantgarde

Am 6. Oktober 1913 berichtete Ball seiner Schwester Maria Hildebrand: „Es geht gut. 11.ten erscheint die neue Zeitschrift. 15.ten Die Neue Kunst bringt meine besten Sachen.“28 Und am 9. Oktober schreibt er ihr: „Einiges kann ich Dir erzählen: Dass in Bachmair’s [sic!] Die Neue Kunst demnächst sechs meiner besten Gedichte, und in der dritten Nummer (gegen Weihnachten) der 1. Akt meines Stücks erscheint.“29 Ausführlich äußerte sich Ball über Bachmair am 4. November: Das Wichtigste ist meine Verbindung mit Bachmair. Bachmair selbst ist

24 Jahre alt. Ich glaube dass ich ihm an Ideen überlegen bin. Dafür hat er seinen eingeführten Namen und einiges Geld […] Wir haben, mit Leybold zusammen, die ‚Revolution‘ gegründet, eine Zweiwochenschrift für exzessiv

moderne und polemische Geschmacksrichtung. Wir sind momentan dahinter,

von unserer Zeitschrift Die neue Kunst aus dem hier alteingesessenen Neuen Verein Konkurrenz zu bieten […].30

Teubner, Ernst (Hg.): Hugo Ball (1886–1986). Leben und Werk. Katalog zur Ausstellung vom 23. Februar bis 31. März 1986 in Pirmasens, Berlin 1986, S. 14 f. 28 Ball, Hugo: Briefe. 1904–1927. 3 Bde., hg. und komm. von Gerhard Schaub und Ernst Teubner, Göttingen 2003, Bd. 1, S. 28. 29 Ebd., S. 29. Im Dezember 1913 erschien eine Reihe expressionistischer Gedichte Balls in der zweiten Nummer der Neuen Kunst, der 1. Akt des Henker von Brescia wurde im dritten und letzten Heft (März 1914) gedruckt (vgl. Ball: Briefe. Bd. 3, S. 37). Zur Entstehungsgeschichte des Henkers von Brescia sowie zur Entdeckung dessen verloren geglaubter Akte vgl. Pelgen, Franz L.: „Der Henker von Brescia“ von Hugo Ball. Entstehungsgeschichte, Schicksal und Bedeutung eines verloren geglaubten und jetzt wieder aufgefundenen Schauspiels, in: Hugo-Ball-Almanach 1995, S. 64–89: „Im Jahre 1989 tauchte der Text des verloren geglaubten Schauspiels […] plötzlich wieder auf. Im Jahre 1993 kam dann das Stück in einer bibliophilen Ausgabe in dem Berliner Verlag der Sisyphos-Presse Faber & Faber heraus“ (S. 64). Das Drama fußt auf einer Erzählung des österreichischen Autors Karl Hans Strobl mit dem Titel Das Frauenhaus von Brescia (Leipzig 1911) [vgl. Schaub, Gerhard: ‚Der Henker von Brescia‘. Hugo Balls expressionistische Komödie und ihre literarische Quelle, in: Hugo-Ball-Almanach 2 (1978), S. 127–173]. 30 Ball: Briefe. Bd. 1, S. 30 f.

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Ball hat die „Verbindung mit Bachmair“ offenbar als eine kollektive Arbeitsgemeinschaft aufgefasst. Das ist nichts Ungewöhnliches für die expressionistischen Kreise, in denen sich Ball bewegte und in denen sich regelrechte Zirkel und Gemeinschaften um Verlage und Publikationsorgane bildeten.31 Einen wichtigen Beitrag dazu lieferte die „Bindung“ von Publizistinnen und Publizisten der Boheme „an Cafés“. Die Teilnahme an der Lokalgeselligkeit gehört zu den internationalen und

interepochalen Konstanten des Bohemetums überhaupt. Der Cafébesuch ist voll ritualisiert; die Bindung ans Café erscheint als ‚Wesenszug‘, als fixierte

Eigenschaft des typischen Bohemiens. […] Die beiden Formen des Sichtreffens

ergänzen einander: die erste erlaubt dem Kreis, unter sich zu bleiben, erleichtert

ihm, Zusammenhalt und sein ‚Gesicht‘ zu gewinnen, ermöglicht seine internen Feste und Séancen. Die zweite, der Lokal-, besonders der Kaffeehausbe-

such, erzeugt eine Gesellung und Geselligkeit, an der die ‚Einzelgänger‘ […]

ebenso partizipieren können wie die geschlossenen Kreise. Die Besucherschaft ist teils bunt durchmischt, teils nach Stammtischen locker gesondert. […] Die Cafés bilden die wichtigste Kategorie. Hier vor allem findet der Bohemien die

Öffentlichkeit, die ihm ebenso wie die Separation ein Bedürfnis ist. […] Das Café gibt eine Bühne ab für Rollen […].32

Das „Caféhaus“33 stellte gewissermaßen den Arbeitsraum der dort sich etablierenden publizistischen Kunstbewegung dar; es war Treffpunkt und Redaktionsort in einem – so etwa auch für die Zweiwochenschrift Revolution, die neben der Neuen Kunst der Bachmair-Verlag herausgab, ein „Zehnpfennigblatt“, 34 „auf Zeitungspapier gedruckt“,35 das es auf fünf Ausgaben brachte.36 In Nummer 1 erschien im Übrigen Hugo Balls Gedicht Der Henker, aufgrund dessen diese 31 32 33 34 35 36

Vgl. Anz: Literatur des Expressionismus, S. 27. Kreutzer, Helmut: Die Boheme. Beiträge zu ihrer Beschreibung, Stuttgart 1968, S. 202 f. Ball: Briefe. Bd. 1, S. 45. Zit. nach: Viesel (Hg.): Der Verleger Heinrich F.S. Bachmair 1889–1960, S. 15. Bachmair: Bericht des ersten Verlegers, S. 12. Vgl. Faul: „Aber Betrieb muß sein“, S. 173–238.

Medien der Avantgarde

Nummer konfisziert wurde.37 Die Revolution gründete Balls Freund Hans Leybold – Freunde, Förderer und Mitarbeiter trafen sich mutmaßlich „täglich im Münchner Literaturcafé Stefanie“.38 Rückblickend berichtet wiederum Bachmair über die Anfangszeit seines Verlags: Das typische Boheme-Café Münchens, das ‚Stefanie‘, sah uns kaum. Wir verbrachten unsere Abende im schräg gegenüberliegenden ‚Café Bauer‘ (nachmals

‚Glasl‘), und nachdem wir dort sogar zu spätester Stunde nicht vor verlegersuchenden Autoren, Freiexemplar-Schnorrern und ähnlichen Zeitgenossen

sicher waren, zogen wir um in ein durchaus bürgerliches Lokal, das ‚Café Fahrig‘ am Karlstor.39

Entscheidend für die Entwicklung derartiger Zeitschriften als Medien der Avantgarde ist aber nicht allein die Verortung des Caféhauses als Schauplatz redaktioneller Zusammenkünfte, sondern die dadurch realisierte Teilnahme an der damaligen Caféhaus-Kultur schlechthin. Thomas Mann etwa begeisterte sich: „München leuchtete. […] Junge Leute, die das Nothung-Motiv pfeifen und abends die Hintergründe des modernen Schauspielhauses füllen, wandern, literarische Zeitschriften in den Seitentaschen ihrer Jacketts, in der Universität und der Staatsbibliothek aus und ein.“40 Erich Mühsam schilderte das Münchener Künstlerviertel Schwabing als einen Schauplatz der Boheme, als eine „Massensiedlung von Sonderlingen“, in der „Maler, Bildhauer, Dichter, Modelle, Nichtstuer, Philosophen, Religionsstifter, Umstürzler, Erneuerer, Sexualethiker, Psychoanalytiker, Musiker, Architekten, Kunstgewerblerinnen, entlaufene höhere Töchter, ewige Studenten, Fleißige und Faule, Lebens­gierige

37 Siehe dazu auch Faul, Eckhard: „In irgend einer Art revolutionär“. Hugo Balls ‚Henker‘ in der frühexpressionistischen Zeitschrift „Revolution“, in: Hugo-Ball-Almanach 11 (1987), S. 1–86. 38 Faul: „In irgend einer Art revolutionär“, S. 77. 39 Bachmair: Bericht des ersten Verlegers, S. 11. 40 Mann, Thomas: München leuchtete, in: Schmitz (Hg.): Die Münchner Moderne, S. 33–36, hier S. 33.

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und Lebensmüde, Wildgelockte und adrett Gescheitelte“41 zusammenfanden. Oft waren es Zugereiste, die Schwabings Gassen bevölkerten,42 und wenn die Beteiligten sich ihrerseits nochmals näher an diese Zeit erinnern, ist oftmals vornehmlich von „unseren Zeitschriften“43 die Rede. Die Publikationsmöglichkeiten, die jene ‚Blätter‘ boten, verschafften Zugang zu neuen (avantgardistisch-ästhetischen) Kreisen, die der „Kunststadt“ München im „alten Dorf “ Schwabing eine eigene Boheme ermöglichten.44 Diese konnte nunmehr „selbstunternehmend publizieren“,45 nicht ohne allerdings die Vorstellung und Hoffnung zu haben, dass „an die Stelle des Journalismus und des Feuilletons wieder Kultur und die Künste treten können“.46

3. Medien-Macher Dass bereits dem Aufkommen, der Euphorie und Praxis dieser Publizistik ein zu sich selbst auf Distanz gehender Moment immanent ist, kann schließlich nicht von der Hand gewiesen werden, steht dieser Befund doch auch in unmittelbarem Zusammenhang mit einem diskreditierten und diffamierten Ansehen des Journalismus in der breiten Öffentlichkeit: „Wo, wie und wodurch mein Brot verdienen?“, fragte etwa Honoré de Balzac in einem Leitartikel der Aktion vom 5. März 1913. Er antwortete selbst, dass „der Journalismus einzig und 41 Zit. nach Schmitz (Hg.): Die Münchner Moderne, S. 437. 42 Vgl. ebd., S. 17. Siehe dazu auch Rukwind, Werner (Hg.): Geliebtes Schwabing. Verse und Prosa von Wedekind bis P.P. Althaus, München 1970; Schaefer, Oda (Hg.): Schwabing. Spinette und erotische enorme und neurotische Moritaten und Verse von Scharfrichtern und Schlawinern aus dem Münchner Künstlerviertel Wahnmoching, München 1958. 43 Ball, Hugo: Die Flucht aus der Zeit, Luzern 1946, S. 7. 44 Heißerer, Dirk: Wo die Geister wandern. Eine Topographie der Schwabinger Bohème um 1900, München 1993, S. 11. 45 Ball: Briefe. Bd. 1, S. 31. 46 O.V.: Zwei Worte, in: Der Sturm 1, 1 (von 3. März 1910), S. 1. Dort heißt es: „Zum vierten Male treten wir mit einer neuen Zeitschrift in die Öffentlichkeit. Dreimal versuchte man, mit gröbsten Vertragsbrüchen unsere Tätigkeit zu verhindern, die von den Vielzuvielen peinlich empfunden wird. Wir haben uns entschlossen, unsere eigenen Verleger zu sein.“

Medien der Avantgarde

allein“ ihm „Brot geben könnte“, und beschreibt eine Existenz in den „Graben des Elends“, im „Schmutz der Zeitung“: Wie ährenlesende Bettler nähren sie sich kümmerlich von biographischen Artikeln, von Klatschnotizen, von Pariser Neuigkeiten in den Zeitungen, oder von Büchern, die durchaus logische Lieferanten von Papier und Druckerschwärze

bei ihnen bestellen, die einen Schmarren, der in vierzehn Tagen abgesetzt wird,

lieber haben als ein Meisterwerk, das sich langsam verkauft. Diese Raupen, die zugrunde gehen, ehe sie Schmetterlinge werden, leben von der Verleumdung

und der Infamie, und sind bereit, auf den Befehl eines Paschas vom ‚Constitutionnel‘, der ‚Quotidienne‘ oder den ‚Débats‘, auf einen Wink der Verleger, auf

das Ansuchen eines neidischen Kollegen, oft bloss für ein Diner, ein werdendes Talent zu zerreissen oder zu rühmen. […] Arbeiten ist nicht das Geheim-

nis des Glücks in der Literatur, es handelt sich darum, die Arbeit der andern auszubeuten. Die Zeitungsbesitzer sind Unternehmer, wir sind Handlanger. Je

mittelmässiger ein Mensch ist, um so schneller gelangt er ans Ziel; er kann ja lebendige Kröten verschlucken, sich mit allem zufrieden geben, den niedrigen Gelüsten der literarischen Despoten schmeicheln […].47

Am 23. August 1913 kritisierte das Pseudonym ‚Der lose Vogel‘ in der gleichen Zeitschrift den „Grössenwahnsinn der Redakteure“: „Der Journalist hat in Deutschland noch immer um gesellschaftliche, moralische und intellektuelle Anerkennung zu ringen. Obwohl er in den meisten Fällen geistig über dem allerdings recht niedrigen Niveau unserer Akademiker steht, haftet ihm noch immer das Odium des Freitagschen Schmock an“.48 In Gustav Freytags Lustspiel Die Journalisten (1853) heißt es denn auch in Szene Eins, 4. Akt, von der Figur Schmock über diesen Berufsstand:49

47 Balzac, Honoré de: Talent und Journalismus, in: Die Aktion 3, 10 (von 5. März 1913), Sp. 293 f., hier ebd. 48 Der lose Vogel: Ueber den Grössenwahnsinn der Redakteure, in: Die Aktion 3, 34 (von 23. August 1913), Sp. 807–810, hier Sp. 807. 49 Vgl. Jacobi: Journalisten im literarischen Text, S. 41 f.

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Mein Unglück ist nur, ich stecke in einem schlechten Geschäft. Ich muß sehen,

daß ich aus der Literatur herauskomme. […] Mein Redacteur ist ein unge-

rechter Mensch. Er streicht zu viel und bezahlt zu wenig. […] Wie kann ich bestehen bei solcher Behandlung? Wie kann ich ihm schreiben lauter Brillan-

tes die Zeile für fünf Pfennige? Dabei kann ich nicht bestehen. Und deshalb

will ich sehen, daß ich aus dem Geschäft herauskomme. Wenn ich nur könnte

verdienen fünfundzwanzig bis dreißig Thaler, ich wollte in meinem Leben

nicht wieder schreiben für eine Zeitung, ich wollte dann mein eignes Geschäft anfangen, ein kleines Geschäft, das mich ernähren könnte.50

Und Otto Groth erklärt in Band Eins seiner Zeitungskunde (1928), dass der Reporter „im allgemeinen“ in Deutschland „wenig geschätzt“ war: Seine geringe Bewertung bei der Presse selbst, sein meist schwankendes und unsicheres Einkommen, die Zurücksetzungen, Abweisungen, ja Demütigun-

gen, denen er bei Ausübung seines Berufes häufig begegnet, bringen es mit sich, daß dieser Tätigkeit sich nicht selten Leute widmen, die zu regelmäßiger Arbeit nicht geneigt, die wenig gebildet und gesellschaftlich geschult, manchmal entgleist und nicht von einwandfreier Vergangenheit, leichtsinnig und unzuverlässig, ja käuflich und gewissenlos sind.51

Wer für Medien in dieser Zeit arbeitet, kann ohne weiteres als „Tintensklave“52 bezeichnet werden. Aufgrund der verstärkt kommerziellen Nutzung der Presse im ausgehenden 19. Jahrhundert mit dem Inseratengeschäft der Reklameindustrie übte die Industrie schließlich systematisch Einfluss auf die Zeitungen und Zeitschriften aus: „Die Presse macht sich das interessierte Kapital so oder so willfährig. Es kauft Blätter, ködert andere durch Inseratenaufträge 50 Freytag, Gustav: Die Journalisten. Lustspiel in 4 Acten. Faksimiledruck nach der Ausgabe innerhalb der Gesammelten Werke von 1887. Mit einem Nachwort von Horst Kreißig, Göttingen 1966, S. 98 f. 51 Groth, Otto: Die Zeitung. Ein System der Zeitungskunde ( Journalistik). 4 Bde., Mannheim–Berlin–Leipzig 1928–1930, Bd. 1, S. 418. 52 Jacobi: Journalisten im literarischen Text, S. 31.

Medien der Avantgarde

oder es greift zur plumperen oder feineren Bestechung einflussreicher Journalisten“; Journalisten entwickelten sich in dieser „Periode des redaktionellen Journalismus“ von „Aufklärungs- und Vormärz-Publizisten“ zu „Angestellten eines Produktionsbetriebs“; die Weisungsgebundenheit von Redakteuren korrelierten mit ihrer sozialen Situation: „schlechter Verdienst“, „mangelnde soziale Fürsorge“, „kaum kalkulierbare Arbeitszeiten“ und „kurze Kündigungsfristen“. 53 Egon Erwin Kisch bemerkte dazu denn auch seinerseits, dass bei Zeitungen angestellte Journalisten und Reporter „nicht hoch im Rang“ standen: „Er war der Tagelöhner der Journalistik, le journalier, bezog meist nur ein Zeilenhonorar, bangte darum, es täglich zu verdienen, bangte darum, es stündlich zu verlieren.“54 Theodor Curti, ein Direktor der Frankfurter Zei­ tung, sinnierte 1911 darüber, dass Journalisten alles in allem ein kümmer­ liches Dasein führen. 55 Dieser entsprechend nur sehr gering angesehene Berufsstand, der jedoch ein zentrales Mittel des avantgardistischen Aufruhrs bleibt, ist im zeitgenössischen Feld fortdauernd in einem großstädtischen Milieu situiert. Insbesondere die Kreise der expressionistischen Avantgarde, namentlich solche um Franz Pfemfert und dessen ‚Aktionierern‘, sowie weitere aktivistische Zirkel, etwa der von René Schickele maßgeblich herausgegebenen Zeitschrift Die Weißen Blätter,56 werden in ihrer ästhetischen Progression von Berlin wenigstens tangiert. Um 1900 heißt es in dem Fremdenführer Berlin für Kenner: Er führt den Besucher vor allem in das moderne Berlin, ins ‚Gewoge der Rie-

senstadt‘. Hier fühle man den Pulsschlag dieses ungeheuren Lebewesens; am besten mische man sich zwischen die Menschenmassen auf der Leipziger- und Friedrichstraße, die geschäftig durcheinanderwogen oder müßiggängerisch flanieren. Das Bild ist bestimmt von modernen Verkehrsmitteln – Hauptbahn-

53 Ebd., S. 31 f. 54 Kisch, Egon Erwin: Kämpfe um die Lokalnotiz, speziell um Selbstmorde, in: Ders.: Marktplatz der Sensationen. Hg. von Bodo Uhse/Gisela Kisch, Berlin–Weimar 1979, S. 104–115, hier S. 104. 55 Vgl. Jacobi: Journalisten im literarischen Text, S. 32. 56 Siehe unten.

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höfe, Omnibusse, Schnellbahnen – und durch eine ‚Flut der Beleuchtung in

Lichtreklamen, Lampen und Transparenten‘ – Erscheinungsformen großstädtischen Lebens, die uns heute selbstverständlich vorkommen, den Zeitgenossen aber noch zu einem Faszinosum werden.57

Berlin wurde dabei bestimmt vom „Leben in den Arbeitervorstädten“, von der „Arbeiterfrage“ und „zahllosen Arbeiterkämpfen“.58 Das intellektuelle Leben konzentrierte sich in solchen Vierteln und Vororten, die „getragen“ wurden „von der Boheme, die sich in einem gleichzeitigen Prozeß hier entfaltet“.59 Der Zusammenhang zwischen Boheme und Anarchismus ist augenscheinlich: Überblickt man die Bohemegeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts, erweist

sich jedoch vor allen anderen der Anarchismus als diejenige staats- und gesell-

schaftspolitische Idee, für deren Bejahung das politische Bohemetum von sich aus am ehesten disponiert ist. Als historisch-soziologisch relevantes Phänomen

ist er, ähnlich wie die Boheme, ein Produkt des bürgerlichen Zeitalters zwi-

schen Französischer und Russischer Revolution; ideologiegeschichtlich erlangte er durch William Godwin 1793 Bedeutung, auf dem Kontinent seit den vierziger Jahren durch Proudhon und Stirner und eine Reihe russischer Theoretiker, von denen im Laufe der zweiten Jahrhunderthälfte in der Boheme vor

allem Bakunin und Kropotkin großen intellektuellen Einfluß erlangten und bis zum Weltkrieg behaupteten.60

Für viele Expressionisten bedeutete die „unendliche Liebe zur Großstadt“ gleichwohl eine „Hassliebe“, die „durchsetzt“ war von „Erfahrungen der Orientierungslosigkeit, Ohnmacht und Angst“.61 Auch das grundsätzliche Verhältnis

57 Zit. nach Schutte, Jürgen/Sprengel, Peter (Hg.): Die Berliner Moderne 1885–1914, Stuttgart 1987, S. 25. 58 Zit. nach ebd., S. 35–37. 59 Kreutzer: Die Boheme, S. 216 f. 60 Ebd., S. 302. 61 Anz: Literatur des Expressionismus, S. 103.

Medien der Avantgarde

der Boheme zur Großstadt ist „zwiespältig“, „diese fasziniert und stößt ab“.62 Mit dem „Gefühl der Unabhängigkeit“ verbindet sich das [G]efühl der Einsamkeit vor der städtischen Reserviertheit, und das Verlangen der Boheme nach Dreams und Visions! omens! hallucinations! miracles! ecsta­

sies! Trifft auf die Sachlichkeit entindividualisierter, rationalisierter Beziehungen, auf die ‚Blasiertheit‘, die […] der Geldwirtschaft einen Generalnenner

aller unterschiedlichen und unvergleichbaren Dinge entnimmt. ‚Alles ist käuf-

lich […] Alle sind käuflich‘, lautet ein Standardvorwurf der Boheme. Massen-

Einsamkeit, Massen-Elend, Häßlichkeit (Solitude! Filth! Ugliness! Ashcans and unobtainable dollars) entstellen das Gesicht der Stadt ins Inhumane, ins Bild einer sphinx of cement and aluminium. […] Und im deutschen Bereich konzentriert sich diese Kritik […] wieder auf den ‚Moloch‘ Berlin, das ‚große Ungeheuer‘, das ‚prahlerische Häusermeer‘ dieser ‚kalten, unerquicklichen Stadt‘, die

‚selbst die Phantasie erstickt‘. ‚Die ganze große Schönheit dieser Städte aufge-

baut aus Geld, aus geraubtem, gestohlenen, erbeuteten Geld, aus Geld, an dem Blut und Schweiß und Schmutz und Tränen klebten.‘63

Mit dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs verblasste allerdings jäh die Faszinationskraft des „Paradigmas Großstadt – und das heißt Berlin – für die Frühexpressionisten“64 und auch für die aufbrechende Avantgarde insgesamt; deren Protagonisten wandern vehement ins Exil, wo sie – so ein weiterer Bezugspunkt der vorliegenden Skizzierung – auf weitere Medien treffen, die sie beeinflussen und vice versa, nicht ohne allerdings dort eine irritierende Situation vorzufinden. Zürich (und damit der sich dort etablierenden Dadaismus) ist hierfür ein treffendes Beispiel: „[…] die bürgerliche Sättigung und Biederkeit, die Internationalität auf der einen, die heftigen Ressentiments gegen die Ausländer auf

62 Kreutzer: Die Boheme, S. 219. 63 Ebd., S. 221. 64 Zit. nach Schutte/Sprengel (Hg.): Die Berliner Moderne, S. 49. Womöglich tritt der Krieg, der „gefürchtete und geahnte, der ersehnte und verurteilte“, an die Stelle der Großstadt und so verdrängt ein „Moloch den anderen“ (zit. nach ebd., S. 49).

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der andern Seite, die versammelte Halb- und Unterwelt, das Amusement in den Gassen einschliesslich dem Krieg aus der Kinostuhlperspektive.“65 Während auf der einen Seite hier ein Journalismus frei von Zensur und behördlicher Kontrolle zumindest wünsch- und denkbar war (verbunden mit Zeitungen wie Der Revoluzzer, Die Neue Tribüne und Mistral), wurde schnell klar, dass auch deren Aktivitäten von der Zürcher Polizei von Anfang an überwacht wurden. Die hier mitarbeitenden Emigranten wurden nicht selten des Bolschewismus und der Unruhestiftung verdächtigt und unter Androhung der Landesverweisung inhaftiert.66 In einem Beitrag für den Revoluzzer schreibt wiederum Ball nach seiner eigenen Emigration 1915: Der junge Literat bürgerlicher Herkunft findet heute keinen Boden und kein

Publikum mehr. Irgendwie empfindet er in Lebensfragen realer, radikaler als je. Irgendwie gerät er dadurch mit der Kriminalität in Konflikt. Irgendwie fühlt er sich ohne Schutz und Subsistenz. Er vertreibt sich die Zeit mit Psychoanalyse und neigt zur Hochstapelei. Er stänkert in 20 Berufen und zieht sich zurück, um überhaupt zu verzichten.67

Und Egon Erwin Kisch meinte 1924: Der Reporter hat keine Tendenz, hat nichts zu rechtfertigen und hat keinen

Standpunkt. Er hat unbefangen Zeuge zu sein und unbefangene Zeugenschaft zu liefern, so verläßlich, wie sich eine Aussage geben lässt […], er ist von den Tatsachen abhängig, er hat sich Kenntnis von ihnen zu verschaffen, durch

Augenschein, durch ein Gespräch, durch eine Beobachtung, eine Auskunft.

Der gute braucht Erlebnisfähigkeit zu seinem Gewerbe, das er liebt. Er würde

65 Zit. nach Bolliger, Hans/Magnaguagno, Guido/Meyer, Raimund (Hg.): Dada in Zürich. 2. Aufl., Zürich 1994, S. 11. 66 Vgl. ebd., S. 16. 67 Ball, Hugo: Die junge Literatur in Deutschland, in: Der Revoluzzer, 1, 10 (von 14. August 1915), S. 3 f.

Medien der Avantgarde

auch erleben, wenn er nicht darüber berichten […] müßte. Aber er würde nicht schreiben, ohne zu erleben.68

Das Talent zur detailgenauen Beobachtung, sei es von einem Theaterstück, einem Buch oder einer Reise, und damit die große ‚Erlebnisfähigkeit‘ im Sinne Kischs, die man von journalistischen Beiträgen erwartet, ist in den Medien der Avantgarde stets angelegt – an welchem Ort sie auch immer arbeiten. Doch gibt es ein Schema, das (um nochmals einen argumentativen Schritt zurück zu gehen) diese Medien ordnet und in eine Linie zu stellen vermag? Neben der erfolgten kulturhistorischen Einordnung kann dazu der weiterführende Versuch einer Porträtierung bereits angesprochener Publikationsorgane hilfreich sein, die auch einen Beitrag zu deren Designgeschichte liefern sollen. Denn dies kann im Gesamten eine Medien-Politik aufzeigen, die in nuce sowohl avantgardistisch wie ästhetisch auftritt. Anders gesagt: Es erhellen sich MedienRegime, die in der formalen Struktur der beteiligten Unternehmungen bereits angelegt sind.

4. Medien-Orte Als Paul Raabe 1964 sein Repertorium der Zeitschriften und Sammlungen des literarischen Expressionismus veröffentlichte, das immer noch das Standartwerk zum Ausweis dieser Medien darstellt, berichtete er von den Schwierigkeiten beim Versuch, die Publikationen in den entsprechenden Zeitschriften und Jahrbüchern, Anthologien und Sammelwerken, Schriftenreihen und Almanachen nachzuweisen: „Diese Epoche ist infolge der Zeitläufe so untergegangen, daß es unendliche Mühe macht, die meisten kurzlebigen Zeitschriften oder die entlegenen Anthologien überhaupt zu ermitteln.“69 Dennoch war es ihm einigermaßen möglich, die „Jahrbücher, Anthologien und Sammelwerke, die 68 Kisch, Egon Erwin: Der rasende Reporter, in: Becker, Sabina: Neue Sachlichkeit. 2 Bde., Köln–Weimar–Wien 2000, Bd. 2, S. 160–162, hier S. 162. 69 Raabe: Die Zeitschriften und Sammlungen des literarischen Expressionismus, S. IX.

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Schriftenreihen und Almanache des Jahrzehnts 1910 bis 1921 zu erfassen“.70 Dagegen schien es ihm „fast aussichtslos, alle neuen Zeitschriften, die sich der jüngsten Dichtung widmeten, zu bestimmen“: Das Verwirrende, das zum Geist jener Zeit gehörte, stellt sich außerdem gera-

dezu widerspenstig dem Ordnungssinn des Bibliographen entgegen. Es erwies sich als außergewöhnlich schwierig, Umfang und Erscheinungsdauer der Zeitschriften genau festzustellen. Immer bleibt ein Zweifel an der Richtigkeit des Ermittelten zurück.71

Dennoch ist es gelungen, alle Zeitschriften des Expressionismus, soweit bekannt geworden, einzusehen und auszuwerten.72 Und deshalb war es im Übrigen bei der folgenden näheren Vorstellung jener Medien der Avantgarde, die im Besonderen den Zeitraum von 1913 bis 1915 betreffen, nur in einem Fall – und zwar bei der illustrierten Wochenschrift Zeit im Bild – notwendig, Umfang, Ausstattung und Erscheinungsweise selbstständig zu untersuchen; in den anderen Fällen wurde dies an anderer Stelle bereits geleistet: Daher genügen hier jeweils kurze Überblicksdarstellungen. (a) Die bereits erwähnte Zweiwochenschrift Revolution wurde also von Hugo Balls Freund Hans Leybold herausgegeben. Insgesamt erschienen fünf Nummern in einem Jahrgang Ende 1913 in dem ebenfalls bereits erwähnten Verlag Heinrich F.S. Bachmair München. Jedes Heft umfasste acht Seiten mit roter Titelzeile. Nummer 1 erschien am 15. Oktober 1913 mit einem Originalholzschnitt von Richard Seewald. Die nächsten Nummern erschienen am 1. November, am 15. November und am 1. Dezember 1913. Am 20. Dezember 1913 gab Franz Jung als letzte Ausgabe der Revolution eine Sondernummer für seinen inhaftierten Freund Otto Gross heraus, die dessen Freilassung zur Folge hatte.73 Bei der Revolution handelte es sich um eine „literarische Zeit70 Ebd., S. X. 71 Ebd. 72 Vgl. ebd., S. XI. 73 Vgl. ebd., S. 50.

Medien der Avantgarde

schrift mit sehr kurzen Beiträgen, vor allem der jungen Münchner Dichter, die sich mit Pfemferts Aktion solidarisch erklärten“.74 Hans Leybold erklärte am 29. September 1913 Käthe Brodnitz: „Dann kam ich auf die Idee, eine neue Zeitschrift, die die neue Richtung in Deutschland vertritt, zu gründen, und trug diesen Gedanken einem Verleger, Bachmair nämlich, vor. Der ging da­ rauf ein und so entstand die REVOLUTION, deren Herausgeber ich bin“.75 (b) Die Revolution wurde nach dem Vorbild und im Format der Aktion gedruckt.76 Diese „Wochenschrift für freiheitliche Politik und Literatur“ bzw. „für Politik, Literatur und Kunst“77 gab Franz Pfemfert in Berlin 1911 bis 1932 heraus.78 Alexandra Pfemfert erzählte 1961 in einem Rundfunkvortrag, wie der Name der Zeitschrift gefunden wurde: In den ersten Februartagen des Jahres 1911, nachts um zwei Uhr, hatte sie ihr Mann mit den Worten ‚ich hab’s, ich hab’s‘ geweckt, und sie wusste gleich, um was es sich handelte. Denn an diesem Abend war stundenlang an einem Tisch im Café des Westens debattiert worden. Carl Einstein, Jakob von Hoddis, Anselm Ruest, Ludwig Rubiner, Max Oppenheimer und Franz Pfemfert hatten lange über den Namen diskutiert.79 Alexandra Pfemfert bekundete: „Als Franz mir […] sagte: Die Aktion, war ich begeistert.“80 Der Herausgeber des photomechanischen Nachdrucks der Aktion-Jahrgänge 1911–1918, Paul Raabe, vermerkt außerdem:

74 Ebd. 75 Zit. nach Faul: „Aber Betrieb muß sein“, S. 173. Zu einer ausführlichen Darstellung der Gründung und der einzelnen Nummern siehe ebd., S. 173–238. 76 Vgl. Raabe: Die Zeitschriften und Sammlungen des literarischen Expressionismus, S. 50. Zur Geschichte der Aktion siehe auch Hense, Gerhard: Die Aktion (1911–1932), in: Fischer, Heinz-Dietrich (Hg.): Publizistik-historische Beiträge. 3 Bde., München 1973, Bd. 3, S. 365–378. 77 So lautete ihr Untertitel 1912 bis 1918. Vgl. Raabe: Die Zeitschriften und Sammlungen des literarischen Expressionismus, S. 33. 78 Vgl. ebd. 79 Vgl. Rietzschel, Thomas: Dem Bürger fliegt vom spitzen Kopf der Hut. Eine Einführung in ‚Die Aktion‘, In: Pfemfert, Franz (Hg.): Die Aktion 1911–1918. Wochenschrift für Politik, Literatur und Kunst. Eine Auswahl von Thomas Rietzschel, Köln 1987, Sp. 14. 80 Zit. nach ebd.

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Die Geschichte der Zeitschrift fällt mit der Zeit des Expressionismus zusammen. Sie ist ein Produkt der neuen Literatur und Kunst, zugleich aber auch

ist diese Bewegung im gewissen Sinne ein Produkt der Aktion. Sie trat für die revolutionäre Politik ein und förderte so die Revolution der Dichtung und

Kunst. In dieser ambivalenten Stellung ist die Aktion eines der denkwürdigsten Phänomene dieser letzten großen literarischen Bewegung in unserer Zeit.

Sie blühte in den Jahren, erschöpfte und zerbrach. Sie ist das Lebenswerk eines Mannes geworden, Franz Pfemferts, der mit Instinkt und sicherem Gefühl,

mit Leidenschaft, Mut und Menschlichkeit sein Werk begann. Er öffnete den

jungen, unbekannten Talenten seine Spalten, er unterstützte und förderte aus seiner politischen Haltung heraus ihre antibürgerlichen Allüren. Er war ihnen

ein Vorbild an Unerschrockenheit und Unbestechlichkeit. […] Die Aktion war eine der wichtigsten Taten des sogenannten Expressionismus. In der Gemeinschaft der Dichter und der Beteiligung der Maler erfüllte sich eine Literatur.81

Jedes Heft erschien im Quartformat, zweispaltig, seit der Nummer 14 (1912) in Antiqua. Ab 1913 wurde die Zeitschrift vermehrt mit Holzschnitten und Zeichnungen illustriert, dann auch meist mit Titelzeichnungen auf dem Umschlag. Seit dem Jahrgang 1913 fallen innerhalb der laufenden Zählung thematisch begrenzte Sondernummern wie lyrische Anthologien, Dichter-, Künstler- und Länder-Sonderhefte auf.82 Damit fiel die Beteiligung wiederum Hugo Balls an Pfemferts Aktion in die erste Phase dieser Wochenschrift, die von der Gründung bis zum Ausbruch des Weltkrieges reichte und in der unverhohlene politische Kampfansagen mit frühexpressionistischer Lyrik verbunden wurden.83 Zwar startete Die Aktion als politische Zeitschrift. Zur literarischen Tribüne 81 Raabe, Paul: Die Aktion. Geschichte einer Zeitschrift, in: Pfemfert, Franz (Hg.): Die Aktion. I. Jahrgang 1911. Mit Einführung und Kommentar von Paul Raabe. Photomechanischer Nachdruck, München 1961, S. 9. 82 Vgl. Fischer, Alfred M. (Hg.): Die Aktion. Sprachrohr der expressionistischen Kunst. Sammlung Dr. Kurt Hirche, Bonn–Bad Godesberg. Eine Ausstellung des Städtischen Kunstmuseums Bonn im Haus der Redoute, Bonn–Bad Godesberg. 7. Dezember 1984 bis 13. Januar 1985, Köln 1984, S. 29. 83 Vgl. Rietzschel: Dem Bürger fliegt vom spitzen Kopf der Hut, Sp. 18.

Medien der Avantgarde

reifte sie erst in dem Maße, wie die junge Literatur nach 1910 Profil gewann – und das gerade durch Veröffentlichungen in der Aktion.84 Das ‚Blatt‘ gewann politische und literarische Schlagkraft, die Startauflage konnte bereits nach wenigen Monaten verdoppelt werden, sodass 1912 nach Angaben Franz Pfemferts wöchentlich ungefähr 7000 Hefte verlegt wurden.85 In der ersten Phase der Aktion lassen sich vor allem zwei Textsorten ausmachen. Hugo Kersten erklärte im Mai 1914: Heute aber glauben wir nicht an die Ehrlichkeit (dies heißt: künstlerische Not-

wendigkeit) eines Werkes, das, rein äußerlich genommen, zur Niederschrift alleine mehrerer Monate Zeit bedarf. Man bedenke, wie oft uns ein Tag verändert, mit seinen Aufregungen und Abenteuern. Und dann: mehrere Monate!

Die einzig mögliche Ausdrucksform ist für uns das Gedicht und die Glosse.86

(c) Die „Monatsschrift für Aesthetik und Kritik des Theaters“87 Phöbus war ein kurzlebiges Fachorgan, das der Publizist Heinz Eckenroth als Schriftleiter von April bis Juni 1914 monatlich herausgab. Die Redaktionsadresse lautete: München, Ainmillerstr. 4.88 Insgesamt erschienen drei Hefte mit den Ausgaben April, Mai und Juni 1914: „Neben Aufsätzen zur Theatertheorie und Aufführungskritiken wurden auch literarische Texte vorgestellt. Darüber hinaus wurde die Zeitschrift mit Szenen- und Bühnenbildentwürfen illus­triert.“89 Der Phöbus gilt als „interessante frühexpressionistische“ Zeitschrift, in der 84 85 86 87

Vgl. ebd., Sp. 20. Vgl. ebd., Sp. 21. Ebd., Sp. 22. Vgl. die Titelseite der Phöbus-Hefte 1–3 vom April, Mai und Juni 1914. Darauf abgebildet ist das Signet der Zeitschrift: Dargestellt werden zwei mit Bändern verzierte Theatermasken, die einmal ein ernstes und das andere Mal ein heiteres Gesicht zeigen. 88 Vgl. die Angaben auf der ersten Umschlagsseite des ersten Heftes vom April 1914. 89 Ball: Briefe. Bd. 3, S. 49. Vgl. auch Teubner: Hugo Ball (1886–1986), S. 97. Hugo Balls Beitrag Das Münchener Künstlertheater waren z. B. Bühnenbilder und Figurinen von Th. Heine, Wilhelm Schulz und Hans Beatus Wieland beigelegt, „deren Bedeutung für das Künstlertheater unbestreitbar ist“ und die „einen Rückblick auf die Prinzipien und künstlerischen Absichten des Eröffnungsjahres“ ermöglichen: „Sie sollen allgemein historisch als

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„junge Münchener Schriftsteller vor allem Probleme des neuen Theaterstils (,expressionistisches Theater‘) in München“ diskutierten.90 Zu den Mitarbeitern zählten neben dem Herausgeber Eckenroth Karl Adrian, Johannes R. Becher, Hugo Dinger/Dinter [sic!], Albert Ehrenstein, Hans Harbeck, Georg Hecht, Friedrich Markus Huebner, Kurt Kersten, Eugen Kilian, Artur Kutscher, Wolfgang Martini, Max Pirker, Wolf Ritscher, Richard Sander Werner Schendell, Georg Trakl, Alfred Vagts, Friedrich W. Wagner und wiederum Hugo Ball.91 (d) Der erste Jahrgang der wiederum expressionistischen Zeitschrift Die Weißen Blätter wurde von dem Mäzen Erik-Ernst Schwabach, der zweite bis siebte Jahrgang von René Schickele herausgegeben. Ab Heft 4/5 des siebten Jahrgangs (bis zum Ende der Zeitschrift 1921) übernahm Paul Cassirer diese Aufgabe.92 Die Weißen Blätter hatten Oktavformat. Gedruckt wurden sie auf weißen Umschlägen, mit rotem Titel und schwarzer Grundschrift.93 Sie begleiteten den Expressionismus von seiner „frühen Reife“ bis zu seinem „Höhepunkt“ und stellten ihr Erscheinen ein, „als der expressionistische Impuls versiegte“.94 Der elsässische Romancier, Lyriker, Dramatiker und Essayist René Schickele leitete sie als Präzeptor im Krieg, seit 1916 von der Schweiz aus. Sie gelten als eine „vorwiegend literarische Zeitschrift“ und nach dem Sturm und der Aktion als das „wichtigste und umfassendste Organ der neuen Literaturbewegung“;95 enthalten sind darin mithin „die wesentlichen Texte des Expressionismus“.96 (e) Den Charakter der abschließend noch zu konturierenden ‚modernen illustrierten Wochenschrift‘ Zeit im Bild, nachgewiesen 1903 bis 1919,97 Vergleich dienen für eine Reihe Szenenbilder jüngster Künstler, die in späteren Nummern veröffentlicht werden“ [Phöbus 2 (Mai 1914), S. 68]. 90 Raabe: Die Zeitschriften und Sammlungen des literarischen Expressionismus, S. 54. 91 Vgl. ebd., S. 54. 92 Vgl. ebd., S. 47. 93 Vgl. ebd., S. 48. 94 Ebd. 95 Ebd. 96 Ebd. 97 Diese Zeitschrift wurde bislang nicht ausreichend kategorisiert und katalogisiert. Auch Joachim Kirchner lässt Zeit im Bild in seiner Untersuchung des Deutschen Zeitschriftenwesens

Medien der Avantgarde

demonstriert bereits deren Signet. Dessen bildnerischen Mittelpunkt bilden die ineinander verschränkten Initialen ZIB. Dieses Zeichen wird gerahmt von vier, zueinander im Quadrat angeordneten, symbolischen Bildern. Sie verweisen auf die Themenschwerpunkte: Ein deutscher Adler mit Schwert und Reichsapfel in den Fängen symbolisiert ‚Staat und Politik‘; ein gefüllter Sack vor Hammer und Äre im Hintergrund deutet auf ‚Handel und Handwerk‘ hin; eine Schauspielmaske oberhalb sich kreuzender Flöten zeigt ‚Theater und Musik‘ und eine Eule, die über einem Pinsel und einer Schreibfeder gezeichnet ist, kündigt schließlich ‚Literatur und Kunst‘ an. Von Politischen Nachrichten über Wirtschaftsberichte bis zu den unterschiedlichen Inhalten des Feuilletons – Zeit im Bild beinhaltete die traditionellen Ressorts von Tageszeitungen.98 Das Inhaltsverzeichnis 1914/15 umfasst daher beispielsweise eine politische und eine Wirtschaftschronik. Es folgt die Rubrik ‚Die Zeit im Bild‘ (bzw. ‚Kriegs-Zeit im Bild‘), eine mehrere Seiten umfassende Bilderstrecke mit Fotografien, d. h. Porträts vom Tage, Tagesneuigkeiten, Sportbilder, Todesfälle, Bilder aus dem Staatenleben, aus aller Welt, aus dem Bereich der Technik, von Unglücksfällen, später auch Bilder aus den Schützengräben, von der Front im Allgemeinen und von Soldaten ausländischer Armeen. Zeitschriften wie Zeit im Bild gelten dabei denn auch als eine „Synthese aus Buchproduktion, Zeitungsjournalismus, Illustration und Fotografie“.99 Illus­ trierte zeigen „bebildertes Zeitgeschehen“;100 ihre Gestaltung „lebt und fällt“101 mit dem Einsatz zeitgemäßer Fotografie. Zeit im Bild ist denn auch ein gutes Beispiel für die Ursprünge von Zeitschriften im 19. und frühen 20. Jahrhun-

außer Acht (vgl. Kirchner, Joachim: Das Deutsche Zeitschriftenwesen. Seine Geschichte und seine Probleme. Teil II. Vom Wiener Kongress zum Ausgange des 19. Jahrhunderts. Mit einem wirtschaftsgeschichtlichen Beitrag von Hans-Martin Kirchner, Wiesbaden 1962, S. 477–514). 98 Siehe dazu u. a. Brielmaier, Peter/Wolf, Eberhard: Zeitungs- und Zeitschriftenlayout. 2. aktual. Aufl., Konstanz 2000, S. 77.  99 Ebd., S. 111. Zum Ausbau des Zeitschriftenwesens am Jahrhundertende 1900 siehe u. a. wiederum Kirchner: Das Deutsche Zeitschriftenwesen, S. 238–368. 100 Brielmaier/Wolf: Zeitungs- und Zeitschriftenlayout, S. 153. 101 Ebd.

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dert.102 Den durchgängig bebilderten Eingangsseiten schließen sich überdies Hintergrundberichte sowie Leitartikel an, dann die ‚Chronik des kulturellen Lebens‘, außerdem die ‚Frauenrundschau‘, ‚Haus und Heim‘, ‚Hygiene‘, ‚Humor‘, ‚Unterricht und Erziehungsanstalten‘ oder z. B. ‚Der Frauenbankier‘, eine Ratgeber-Reihe, – allesamt Rubriken, wie sie ganz typisch für illustrierte Zeitschriften bis in unsere Tage sind.103 Deren Inhalt ist zwar „allgemeiner Natur“, jedoch gibt es „Ausrichtungen auf bestimmte Bereiche“, beispielsweise auf „Gesellschaft“ oder „Lifestyle“,104 wie es bei Zeit im Bild teilweise der Fall ist. Deren Heftstruktur folgt einer bestimmten Dramaturgie. Ihr Inhalt ist wie bei jeder Zeitschrift inszeniert und entspricht größtenteils zeitgenössischen Interessen.105 Jede Ausgabe umfasst dabei zirka 24 Seiten im Format 31 x 22 Zentimeter. Den Zeitschriftenkopf bildete stets der Zeitschriftenname, in Kapitälchen gesetzt, sowie Angaben zum Preis, zum Erscheinungsdatum und zum Erscheinungsort. Verantwortlich für Schriftleitung und Herausgabe war der Chefredakteur Dr. Colin Roß, den seit Kriegsbeginn Dr. Karl Konstantin Löwenstein vertrat.106 Insgesamt lässt sich konstatieren: Diese vor dem Krieg liberale Zeitschrift war auf ein breites Bildungspubli­kum

ausgerichtet, und von der Exklusivität und Einseitigkeit der kleinen avantgardistischen Zeitschriften war in ihr wenig zu spüren. Zu ihren Mitarbeitern gehörte eine Reihe prominenter Journalisten, und im künstlerischen bzw.

102 Illustrierte Zeitschriften werden bis heute als eine „recht junge Form der journalistischen Printmedien“ (ebd., S. 111) bezeichnet. Zu den ersten Zeitschriften gehörten das Magazin London Illustrated, 1842 in London herausgegeben, und die 1843 erschienenen Zeitschriften L’illustration in Paris sowie Die illustrierten Blätter in Leipzig (vgl. ebd.). 103 Man unterscheidet häufig zwischen zwei großen Gruppen von Zeitschriften: solchen, die eine „bestimmte informative oder kommunikative Aufgabe erfüllen“, und jene, die „eher der Repräsentation dienen“ (ebd., S. 146). 104 Ebd., S. 153. 105 Auf die detaillierte Inszenierung des Inhalts kann hier leider nicht näher eingegangen werden. Zu Modellen unterschiedlicher Art siehe etwa ebd., S. 154–187. 106 Colin Roß ging als Sonderberichterstatter ins Kriegsgebiet. Er verfasste seitdem Beiträge wie die Reportage der Amerikanischen Kriegsfahrt, erschienen am 11. Juni 1914 (Nr. 24, S. 1248–1250), fortgesetzt am 18. Juni 1914 (Nr. 25, S. 1296–1298).

Medien der Avantgarde

literarischen Teil erschienen Beiträge von Adolf Behne, Siegfried Jacobson, Carl Einstein und anderen. Kennzeichnend für ihr liberales Profil war der

Fortsetzungsroman der Vorkriegszeit: Heinrich Manns ‚Der Untertan‘. Ebenfalls kennzeichnend war es aber, daß die Redaktion sich Mitte August 1914 gezwungen sah, die Veröffentlichung des ‚Untertans‘ zu unterbrechen. Denn

nach dem Kriegsausbruch veränderte sich der liberale Ton der ‚Zeit im Bild‘ nicht unwesentlich, und Balls Aufsätze und Glossen […] findet man von nun an

unter den von Offizieren eingesandten Frontgedichten oder volksaufklärenden Abhandlungen, wie z. B. ‚Feuerversicherung gegen Kriegsbrände‘, verfaßt von keinem pazifistischen Weltbrandlöscher, sondern, in allem Ernst, von einem Versicherungsexperten.107

„Ihre angestrengteste Arbeit besteht darin, den knappsten, prägnantesten, individuellsten Ausdruck für jeden Gedanken zu schaffen“,108 urteilte die Germanistin Käthe Brodnitz in einem Vortrag, den sie im Dezember 1914 im Hotel St. Regis in New York hielt, über die literarische Avantgarde. Insbesondere belegte sie mit diesem Prädikat die ‚futuristische Geistesrichtung in Deutschland‘. Dieses Merkmal des Futurismus ist aber vor allem auch ein Kennzeichen expressionistischer Dichtung. Nach den Ergebnissen der vorliegenden Ausführungen lässt sich überdies festhalten: Was Käthe Brodnitz zu dem „knappsten“ Ausdruck der Avantgardisten erklärte, betrifft explizit die hier zentrierten Medien der Avantgarde – und das nicht nur deren Literaten, sondern eben auch ihre Journalisten. Diese Doppel-Existenz meint Brodnitz, wenn sie über die Mitglieder der Avantgarde sagt, dass viele ihre Arbeit „zwischen einer rein 107 Jindřich Toman: Im Kriege regt sich das Urgewässer. Hugo Ball und der Kriegsausbruch 1914, in: Hugo-Ball-Almanach 5 (1981), S. 1–37, hier S. 10. 108 Brodnitz, Käthe: Die futuristische Geistesrichtung in Deutschland. Vortrag, gehalten im Dezember 1914 im Hotel St. Regis in New York. Zit. nach Raabe, Paul (Hg.): Expressionismus. Der Kampf um eine literarische Bewegung. München 1965, S. 42–50, hier S. 43: „Aus den Erfahrungen im Umgang mit diesen Münchener Frühexpressionisten ist der Vortrag zu verstehen. Er ist ein Zeitdokument und spiegelt das Selbstverständnis der frühen Expressionisten, bei denen der Futurismus ebenfalls eine große Rolle spielte“ (ebd., S. 296).

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künstlerischen und einer tendenziösen Tätigkeit“ teilten, wozu ihnen Zeitschriften „Gelegenheit“ gaben.109 Die Gegenöffentlichkeit publizistischer ‚Aufruhr‘, die die skizzierten Zeitschriftenporträts evozieren, führen mithin zu einer stilistischen Aufälligkeit. Denn in dem Bemühen, gerade hier expressionistische und futuristische Ideen journalistisch zu vermitteln bzw. zu propagieren, lässt diese Medien als ästhetische Symptome ihrer Zeit erscheinen – wenn auch die Verbindung zwischen Journalismus und künstlerischer Epoche in den 1910er Jahren noch nicht eine dermaßen enge Verbindung einging, wie dies in den 20er Jahren hinsichtlich der Neuen Sachlichkeit der Fall war. In einer solchen Lektüre avantgardistischer Publizistik sowohl im Hinblick auf deren Inhalte als auch deren Programmatiken sowie letztendlich hinsichtlich ihrer spezifischen Gestaltung erweist sich, wie dies wiederum Hugo Ball in einem bereits zitierten Aperçu formuliert, eine tatsächlich junge Literatur, die im Zeichen dieser medial-publizistisch herausfordernden Revolutions-Ästhetik steht: Es sind noch keine 10 Jahre her, daß in Berlin eine gewisse Propaganda des

öffentlichen Ausdrucks einsetzte (unterm Einfluß nihilistisch erzogener russischer Frauen). Man wurde, mehr und mehr, der Meinung, es komme alles

darauf an, nicht nur zu denken und zu fühlen. Wichtiger als ‚Literatur‘ sei das Eingreifen, das Sich-Beteiligen an der Öffentlichkeit. Wichtiger als Verse, Auf-

sätze, Dramen irgendwelcher Art sei das Ausprägen etwelcher Gedanken coram publico, sei es im Vortragssaal, mit der Reitpeitsche oder in der Debatte.110

Zwar denkt Ball hier an „Manifeste“, „wo man früher Gedichtbände und Romane veröffentlichte“.111 Nach den vorliegenden Bemerkungen kann aber ergänzt werden: Ausgeführt wurde diese ‚junge‘ Geste explizit auch in der dazu gehörigen Medienproduktion und -praxis. Auf diese Weise vorbereitet und

109 Zit. nach ebd., S. 44. 110 Ball: Die junge Literatur in Deutschland, S. 3 f. 111 Ebd.

Medien der Avantgarde

ausgebreitet ist eine „neue“, „sehr fanatische und direkte“112 Publizistik. Deren Poetik einer „Wirkung coram publico“ bleibt ein „Leitmotiv“ mit „beachtlicher Kontinuität“.113 Die Verwirklichung des darin heraus gestellten Eingreifens, des Sich-Beteiligens an der Öffentlichkeit sowie zugleich die Agitation gegen diese, ist eine maßgebliche Linie im ästhetischen Profil der Avantgarde.

112 Ebd. 113 Toman: Im Kriege regt sich das Urgewässer, S. 29.

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Die Varietékünstlerin und ihr Publikum Strategien der Beobachtung, der Verdinglichung und der Entortung in Emmy Hennings’ frühen Prosatexten Lorella Bosco

Die Dichterin schreibt:

Sehr geehrter Herr Kerr!

Ich bin Sängerin am Apollotheater in

Kattowitz, aber ich bin jeden Monat in

einer andern Stadt, ich bin auch schon in Berlin gewesen im Olympia-Varieté und komme im Januar ans Lindenkabaret.

In großer Hochachtung

emmy hennings,

Kattowitz,

Apollotheater.1

Mit diesem kurzen Brief wendet sich die bislang nur als Diseuse, Cabarettartistin und Soubrette bekannte Emmy Hennings, eine schillernde Figur der expressionistischen Boheme-Kreise, direkt an Alfred Kerr, den berühmten Kritiker und Herausgeber der Zeitschrift Pan. Die an Kerr gerichteten Zeilen erscheinen im Oktober 1912 eben in diesem Organ und gehen zwei Äther-Gedichten voraus.2 Im Herbst 1912 tingelt Emmy Hennings durch Westpreußen und Schlesien. Sie hat Engagements in Danzig, Bromberg und Kattowitz erhalten,

1 Hennings, Emmy: Äther-Strophen, in: Pan 3,2 (10. Oktober 1912), S. 44. 2 Ebd.

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wie aus einem Brief Hardekopfs an René Schickele zu entnehmen ist.3 Das sind aber nur Etappen eines bewegten Lebens, das von ständigen Ortswechseln geprägt ist. Auch in ihren an Kerr gerichteten Zeilen inszeniert sich Hennings als Nomadin, die jeden Monat in einer anderen Stadt und auf neuen Brettern auftritt. Hennings ist auch sonst im Theatermilieu dafür bekannt, dass sie oft kontraktbrüchig wird und ihre Engagements vorzeitig verlässt. Im August 1912 hat sie ihr erstes Gedicht Äther in Franz Pfemferts Die Aktion veröffentlicht. Im kommenden Jahr wird ihr erster Gedichtband Die letzte Freude in der Reihe Der jüngste Tag des Kurt-Wolff-Verlags erscheinen. Bemerkenswert an der Adressierung an Alfred Kerr ist die Definition als Dichterin, mit der sich die junge Artistin der Aufmerksamkeit des einflussreichen Kritikers (und des Publikums) stellt, der ihre Gedichte veröffentlicht. „Die Dichterin schreibt“: Diese Äußerung – ob es sich, wie es wahrscheinlich aussieht, um einen editorischen Einführungssatz zum kurzen Brief oder um eine fast übermutig wirkende Geste der Selbstdefinition handelt, mag dahingestellt bleiben – lässt keinen Zweifel über die „Bestimmung als Dichterin“4 der Senderin zu, über die sich auch gute Freunde wie Erich Mühsam sonst nur amüsiert, wenn nicht herablassend äußerten. Die editorische Bemerkung nimmt sich insgesamt wie eine Anerkennung von Hennings’ damals noch im Keim steckender schriftstellerischer Tätigkeit aus. Zwar leugnet die Adressierende, die wohl über ihre „Vielfachheiten“5 bestens im Klaren sein dürfte, ihren Beruf als Kabarettartistin und Charmette nicht, für den sie in der Subkultur der Boheme bekannt war, aber erst die Definition als Dichterin scheint, eine weitere Identitätsfestlegung – nämlich als „Sängerin“ – zu autorisieren, die gerade im nach dem Gott der Künste benannten Apollotheater auftritt und durch die damit geweckten Assoziationen ihre Tätigkeit fast ins Mythische 3 4 5

Vgl. dazu Reetz, Bärbel: Emmy Ball-Hennings. Leben im Vielleicht. Eine Biographie, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2001, S. 72 und Echte, Bernhard (Hg.): Emmy Ball-Hennings 1885–1948. „Ich bin so vielfach …“. Texte, Bilder, Dokumente, Zürich 1999, S. 66. Mühsam, Erich: Ausgewählte Werke. Bd. 2: Unpolitische Erinnerungen, hg. von Christlieb Hirte unter Mitarbeit von Roland Links und Dieter Schiller, mit einem Nachwort von Dieter Schiller, Berlin 1978, S. 588. Vgl. Hennings, Emmy: Helle Nacht. Gedichte, Berlin 1922, S. 45.

Die Varietékünstlerin und ihr Publikum

überhöht. Doch erfolgt die Benennung als Dichterin in der dritten Person, sodass die Referenz dieser Autorschaft keineswegs unmittelbar festzumachen ist. Die Selbstaussage über die eigentliche Identität wird durch den einleitenden Satz: „die Dichterin schreibt“ relativiert, denn dieser legt nahe, dass die darauffolgende Vorstellung in der ersten Person auch etwas Erfundenes sein könnte. Zudem wird der Gestus der Selbstdefinition durch die Tatsache gemindert, dass die Autorin ihren Namen klein schreibt und damit ihren Auftritt in der literarischen Öffentlichkeit aus Bescheidenheit relativiert. Bedenkt man das Spiel mit Namen, das Hennings unentwegt in ihrem Werk treibt, so findet man jedoch diese Vorgehensweise nicht weiter verwunderlich. Wie Barbara Hahn in ihrem Standardwerk zur „schwierigen Autorschaft der Frauen“ in der Goethezeit und um 1900 betont hat, ist Autorschaft keine neutrale, sondern eine vorwiegend männlich konnotierte Instanz, welche die Homogenität vom männlichen Autor und Werk besiegeln soll. Bei schreibenden Frauen hingegen erscheint „der eine Name, der Eigenname […] als unerreichbare Instanz“,6 als „Sprachverwirrung“,7 welche eine Benennung unmöglich macht. Schreibende Frauen passen in keine institutionalisierte Praxis des Zusammenarbeitens, denn sie schreiben „ohne Rahmen und Kontext“.8 Gerade diese Randposition wird jedoch von Emmy Hennings selbstbewusst als Stärke beansprucht, von der aus die Autorin ihre eigene (und eigenwillige) schriftstellerische und künstlerische Tätigkeit außerhalb vorgegebener gesellschaftlicher und kultureller Raster artikulieren kann. Die Bescheidenheit, die aus der Kleinschreibung ihres Namens bei aller Entschlossenheit hervorgeht, ist also nicht nur als Ausdruck der Schwäche, des prekären Standorts weiblicher Autorschaft, zu deuten, sondern auch durchaus als Bekenntnis zu dieser Randposition zu verstehen, die Beweglichkeit, Verweigerung einer eindeutigen Identitätsfestlegung, spielerischen Umgang mit den herrschenden Autorschafts- und Geschlechtermustern garantiert. Und eine Kabarettistin – so sollte man in Anlehnung an Hugo Balls 6

Hahn, Barbara: Unter falschem Namen. Von der schwierigen Autorschaft der Frauen, Frankfurt a. M. 1991, S. 7. 7 Ebd. 8 Ebd., S. 74.

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berühmte Selbstdefinition schlussfolgern – kann obendrein nur „ein[e] Künstler[in] im Kleinen“9 sein. Der Auftritt als Dichterin mit der direkten Anrede an den Literaturkritiker und Herausgeber Kerr markiert zudem den Übergang vom begehrten Modell der avantgardistischen Künstlerszene zu einer eigenen selbstständigen Künstlerpersönlichkeit, die sich selbst zu Wort meldet und ihr Dichten autorisiert – wenn auch im Kleinen. Sie ist nicht nur Materie und Körper, die sich fremden Lesarten anbietet oder gar die männliche Kreativität befördert, nicht nur eine Stimme, die Texte von anderen vorträgt oder singt, sondern auch das (ambivalente) Sprechrohr ihrer eigenen Worte. In Das flüchtige Spiel wird Hennings die Geburtsstunde der eigenen bzw. Helga Lunds (der autofiktionalen Ich-Erzählerin) Kreativität im Maleratelier verorten, wo die Protagonistin stundenlang Modell sitzt. In der subversiven Umschreibung einer Urszene männlicher Kreativität begehrt Hennings gegen herkömmliche Kodierungen von Künstlertum, Originalität und Genie auf, denn „ihr Werk ist eher Nichtwerk und Netzwerk, ein einzigartiger Intertext, getragen von Gehörtem und Gelesenem“.10 Zudem unterminiert sie auf subtile Weise die doppelte Marginalisierung, welcher Avantgardekünstlerinnen im Allgemeinen ausgesetzt waren: als Angehörige einer Bewegung, die sich gegen die Institution Kunst setzte, und als Frauen. Wie Anna Rheinsberg schreibt: „Bohème ist männlich. Die Frau hat kein Wahlrecht. Sie tritt auf, niemals aber ein (in den Kreis), sie ist Lied, (Mal-)Modell oder Schreibmaschine.“11 In Rudolf Junghanns Maleratelier kommt es dann zur Umkehrung der überkommenen Geschlechterrollen, oder vielmehr zu einem auf Gegenseitigkeit beruhenden Inspirationsver9 Ball, Hugo: Die Flucht aus der Zeit, hg. und kommentiert von Eckard Faul und Bernd Wacker unter Verwendung umfangreicher Vorarbeiten von Ernst Teubner, Göttingen 2018, S. 120, Eintrag vom 11. Dezember 1916. 10 Behrmann, Nicola: Geburt der Avantgarde – Emmy Hennings, Göttingen 2018, S. 11, Anm. 7. 11 Rheinsberg, Anne: Kriegs-Läufe: Namen, Schrift. Über Emmy Ball-Hennings, Claire Goll, Else Rüthel, Mannheim 1989, S. 27. Siehe auch Bosco, Lorella/Gilleir, Anke (Hg.): Einleitung, in: Dies.: Schmerz. Lust. Künstlerinnen und Autorinnen der deutschen Avantgarde, Bielefeld 2015, S. 7–25, insbes. S. 7–9.

Die Varietékünstlerin und ihr Publikum

fahren, das Mann und Frau als gleichmäßig produzierende und rezipierende Künstler einbezieht: Diesem Künstler nun, dem ich als Modell diente und dem ich manchmal einer verabredeten Sitzung wegen zu schreiben hatte, pflegte ich meinen Briefen als

kleine Dreingabe, in Ermangelung eines duftenden Rosenblattes, ein kleines Gedicht beizulegen, so halt, damit die sachliche Verabredung nicht so kahl und

nüchtern wirke. So kam’s, daß Junghans allmählich eine kleine Gedichtsamm-

lung von mir erhielt, Reime, die ich selbst vergaß, sobald ich sie niedergeschrie-

ben hatte. Es waren jene ersten kleinen Blätter und Blüten, die ich, auch wenn es sich zufällig gegeben hätte, dem Isarflusse anvertraut haben würde, dessen hellgrüne Wellen leicht und sanft ineinanderfielen.12

Hennings inszeniert die Modellsessionen als Ursprung ihrer Autorschaft, da diese ihr Anlass und Zeit zum Schreiben und Einsammeln der Gedichte für ihren ersten Band Die letzte Freude gegeben hätten. Der Umstand, dass Junghanns Lithographien Variationen über ein weibliches Thema, für die Hennings Modell stand, ebenfalls 1913 von Kurt Wolff Verlag veröffentlicht wurden, scheint die Zusammenführung von Kreativität und Medialität abermals zu bekräftigen. An einem voyeuristischen Ort par excellence wie der Aktsession im Maleratelier, wo der phallische Blick des Künstlers als „Lust erzeugende Kontrollinstanz“13 den Körper der Frau durchdringt und versucht, ihm die Wahrheit über sich selbst zu entlocken, wird stattdessen der Anfang der eigenen weiblichen Autorschaft verortet. Eine Autorschaft jedoch, deren Merkmale Flüchtigkeit und Vergessen sind, die nicht auf eine Öffentlichkeit, gar auf eine überzeitliche Rezeption setzt. Sie erscheint kontextgebunden und mit Performanz gekoppelt, schwer zu orten und zu verorten, sie besetzt einen „doppelten

12 Ball-Hennings, Emmy: Das flüchtige Spiel. Wege und Umwege einer Frau, Frankfurt a. M. 1988, S. 173. 13 Öhlschläger, Claudia: Unsägliche Lust des Schauens. Die Konstruktion der Geschlechter im voyeuristischen Text, Freiburg i. Br. 1996, S. 23.

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Rand“ – um auf Suleimans Definition zurückzugreifen,14 die die Marginalität der Avantgardekünstlerinnen im gesellschaftlichen und geschlechterpolitischen Sinn erfasst. Was Nicola Behrmann in Bezug auf Dagny, der Ich-Erzählerin und Protagonistin von Das Brandmal, bemerkt, lässt sich auch auf die Autorin Hennings anwenden: „[Sie] kann sich nirgendwo positionieren, sicherstellen, identifizieren, sondern befindet sich stets in einem grenzenlosen Raum, dessen Grenzen abzustecken ihr nicht gelingt.“15 Die Anrede an Kerr mit der doppelten und fast als Provokation wirkenden Definition als Dichterin und Varietéartistin macht eine Verbindung von literarischer und theatralischer Tätigkeit sinnfällig, die für Hennings’ Autorschaft konstitutiv ist. Nicht zufällig sind fast alle ihre Texte biographischen oder autobiographischen Inhalts. Die Inszenierung des Selbst markiert eine Strategie weiblicher Selbstbehauptung innerhalb der Avantgarde und deren widersprüchlicher Einstellung zum weiblichen Künstlertum. Man denke im Hinblick darauf an Judith Butlers Theorie von gender als performativem Akt: „[…] the acts by which gender is constituted bear similarities to performative acts within theatrical contexts“.16 Der Zusammenhang zwischen Performerin und Autorin kann bei Emmy Hennings kaum überschätzt werden. Sie war nicht nur Schauspielerin (ihrer Spielwut als Freude an der Verwandlung widmet sie wichtige Seiten ihres Romans Das flüchtige Spiel), Sängerin, Tänzerin und Kabarettartistin, seit mindestens 1911 trug sie auch eigene Texte autobiographischen Inhalts in ihren Kabarettauftritten vor. Zu diesen Anlässen sang 14 Suleiman, Susan Rubin: Subversive Intent: Gender, Politics and the Avant-Garde, Cambridge, Massachusetts/London 1990, S. 11–32. In ihrer breit angelegten Spurensuche der Schriftstellerin Emmy Hennings in den Archiven der literarischen Avantgarde greift Nicola Behrmann – nach einer vergleichenden Lektüre von Benjamins Berliner Chronik und Hennings’ Das Brandmal – auf Derridas Denken der Chora, um den Ort der Frau bei Hennings auf einen Raum zu beziehen, der nur als aufnehmende Chora zu denken ist, d. h. als ein Raum ohne Gestalt, als Zwischenraum, der sich nicht verzeichnen lässt und an dem jedoch alles verzeichnet wird. Vgl. Behrmann: Geburt der Avantgarde – Emmy Hennings, Göttingen 2018, S. 74–87. 15 Behrmann: Geburt der Avantgarde, S. 70. 16 Butler, Judith: Performing Acts and Gender Constitution: An Essay in Phenomenology and Feminist Theory, in: Theatre Journal 40 (1988), S. 519–531, hier S. 521.

Die Varietékünstlerin und ihr Publikum

sie außerdem Volks- und Hurenlieder (während der Dadazeit sogar Kirchenlieder), führte Tänze auf und erfand nicht zuletzt auch ihre eigenen Kostüme. Sie bewegte sich mit schrillen und bizarren Gesten, die das Publikum provozierten und festgefahrene Geschlechtervorstellungen desavouierten. Auch ihre Stimme war nicht schön im herkömmlichen Sinn und wurde abwechselnd als „dünn und knabenhaft“,17 als kreischend18 oder als klein und brüchig,19 mitunter aber auch als aggressiv wahrgenommen. Als Star der Avantgarde besteht Hennings Erscheinungsbild aus einer Differenz von öffentlichen und privaten Komponenten, deren Integration ständig neu prozessiert und konstituiert wird.20 Ein kurzer, doch pathosbeladener, in der Zeitschrift Die Aktion veröffentlichte kleiner Prosatext 21 beschreibt die verwirrende Ausstrahlungskraft und erotische Faszination, die Emmy Hennings von der Bühne aus auf die (vor allem männlichen) Zuschauer ausübte. Der Artikel datiert auf die Zeit (1912), als Emmy Hennings im Lindenkabarett zu Berlin auftrat. Beim Verfasser Raven Siurlai, hinter dem man lange Zeit Ferdinand Hardekopf vermutet hat, dürfte es sich in Wirklichkeit – wie Nicola Behrmann jüngst überzeugend nachgewiesen hat 22 – um Wilhelm Simon Guttmann, Redakteur der Zeitschrift Der Demokrat und Mitgründer des Neopathetischen Cabarets, 23 handeln. Emmy Hennings’ Aussehen wird in der Rezension mit gegensätzlichen Zuschreibungen geschildert, sie erscheint als eine Figur des Dazwischen: zwischen Leben

17 Huelsenbeck, Richard: Mit Witz, Licht und Grütze: Auf den Spuren des Dadaismus, hg. von Reinhard Nenzel, Hamburg 1992, S. 29. 18 Vgl. Klabund: Marietta. Ein Liebesroman aus Schwabing, in: Ders.: Sämtliche Werke. Bd. II.1: Erzählungen und kleine Schriften, hg. von Michael Scherf, Amsterdam 1998, S. 211. 19 Vgl. Glauser, Friedrich: Dada, in: Ders.: Der alte Zauberer, Zürich 2000, S. 69–82, hier S. 76. 20 Vgl. Ruchatz, Jens: Personenkult. Elemente einer Mediengeschichte des Stars, in: Keck, Annette/Pethes, Nicolas (Hg.): Mediale Anatomien. Menschenbilder als Medienprojektionen, Bielefeld 2001, S. 331–349, S. 333. 21 Siurlai, Ravien (Wilhelm Simon Guttmann): Emmy Hennings, in: Die Aktion 2, 23 (5. Juni 1912), Sp. 726 f. 22 Vgl. Behrmann: Geburt der Avantgarde, S. 144. 23 Zu Hennings und das Neopathetische Cabaret vgl. ebd., S. 133–140.

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und Tod, Mann und Frau, Automaten und lebendigem Wesen, Depression und Euphorie, Unschuld und Sünde („vierjährig und verwüstet“). Sie tritt auf, „das Gesicht wächsern umschnürt“ wie eine Puppe, mit kurzen Haaren („die gelben Haare pagenhaft gekürzt“), mit „starr getürmter Spitzenkrause“ und „dem dunklen des schmächtigen Samtkleides“. Ihr Kleid erinnert an eine Nonne, jedoch signalisiert das Adjektiv „schmächtig“ das Flatternde, Leichte an der Kostümierung, das mit der Ernsthaftigkeit der Farbe und des Kragens, mit dem Weißen des Gesichts nicht in Einklang zu bringen ist. Das Flüchtige an Emmys Erscheinung und Bekleidung, welche die Sexualität ihrer Trägerin zugleich betont und kaschiert, weist auf jenen Bereich des Schlangenhaften, des bedrohend Ornamentalen hin, das mit Unfruchtbarkeit und Lasterhaftigkeit assoziiert wird und deshalb eine Gefahr für das selbstgenügsame bürgerliche Publikum darstellt. Es gibt in der Tat ein Foto, welches Emmy Hennings in einem für die damalige Zeit freizügigen Kostüm porträtiert: Das Kleid ist nämlich kurz genug, um einen freien Blick auf Höschen, Strümpfe und Beine zu bieten.24 Die Feierlichkeit des Oben kontrastiert mit der Freigiebigkeit des Unten, mit der frechen Pose und Körperstellung und mit dem kecken, forschen Gesichtsausdruck vor der Kamera. Hennings’ Ausstrahlung als Star des Kabaretts geht aus dem geschickten Spiel mit den Erwartungen und Gendervorstellungen ihrer vom expressionistischen Frauenbild geprägten Öffentlichkeit hervor: Die Soubrette gehört zu den „Verruchten, die die Idee ihres Publi­ kums plagierend, mühelos zum Ideal dieses Publikums wurden“. Die Erotik ihrer Auftritte kennt keine moralischen Hemmungen und demaskiert dabei den heuchlerischen Umgang der bürgerlichen Gesellschaft mit der sexuellen Begierde, zugleich auch das Programm einer erotischen Rebellion, wie Franziska von Reventlow es verkörperte. Hennings’ subversive Auftritte sprengen den Rahmen eines augenzwinkernden Einvernehmens mit dem bürgerlichen Publikum, das für das Kabarett üblich war, sie zeigen stattdessen „dem Kavalier, dass er das Aphrodisiacum des Zuhälters ist“, entlarven also das Verhältnis zum Publikum als kaufförmig. Hennings’ Selbstinszenierung „unterwandert 24 Vgl. HEN OP-12–03 (Nachlass Emmy Hennings, Schweizerische Nationalbibliothek NB).

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die Blicke und Begehren ihrer männlichen Zuschauer“.25 Erotik, seit eh und je ein konstitutiver Bestandteil des Kabaretts, dessen Botschaft sie bei einem breiteren Publikum vermitteln konnte, ist hier subversiver Natur, entzieht sich also einer rein voyeuristischen, schlüpfrigen Ausrichtung, die zu kommerziellen Zwecken besser gedient hätte.26 Hennings’ Auftritte besitzen hingegen „die Hysterie, die Gereitztheit und die Hirn zerrissende Intensität des Literaten“, sie scheinen insofern den Nerv der Zeit zu treffen, als sie dem literarischen Programm der expressionistischen Avantgarde entsprechen. Als Hysterikerin stellt Emmys zarter und nervöser Körper einen Gegenentwurf zum Mutterideal dar, sie ist die sexuell lasterhafte, qua unfruchtbare Frau, die aus der bürgerlichen Ordnung ausbricht. „[D]as eigentlich unlösbare Problem der Frau als Schauspielerin“, so wird Julius Bab in einer dieser Frage eigens gewidmeten Schrift feststellen, liegt „in diesem Widerstreit der tief sozialen, der mütterlichen Instinkte der Frau mit der antisozialen Tendenz des Schauspielerberufes.“27 Der subversive Einsatz von Hennings’ Körper auf der Bühne hat daher durchaus politische Aussagekraft, droht durch seinen Anarchik an die Pfeilen der bürgerlichen Gesellschaft und des selbstgenügsamen Parlamentarismus zu rütteln. Emmy Hennings’ Auftritte evozieren apokalyptische Bilder des Weltuntergangs und des Todes, ohne dabei auf eine puppenhafte Unbeschwertheit und Leichtigkeit, die andere Seite ihres Erscheinungsbilds, gänzlich zu verzichten. Auch in dieser Hinsicht bleibt sie – die Drogensüchtige und totenblass Geschminkte – ein doppeldeutiges undefinierbares Wesen, in dem sich Gegensätzliches und anscheinend Unvereinbares verschränken. Die „elektrische Glorie“, die sie umgibt, verweist auf einen mittels der Technik erzeugten Schein und somit auf das Wesen selbst des Varietétheaters, das – Marinetti

25 Behrmann: Geburt der Avantgarde, S. 147. 26 Zur Rolle von Erotik im Neopathetischen Cabaret vgl. Sprengel, Peter: Literarische Avantgarde und Cabaret in Berlin – Erotik und Moderne, in: Ders./McNally, Joanne: Hundert Jahre Kabarett. Zur Inszenierung gesellschaftlicher Identität zwischen Protest und Propaganda, Würzburg 2003, S. 29–38. Siehe ferner Behrmann: Geburt der Avantgarde, S. 127–155. 27 Bab, Julius: Die Frau als Schauspielerin. Ein Essay, Berlin 1915, S. 42.

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zufolge – „aus der Elektrizität heraus entstanden ist“.28 Hennings legt also den unmittelbaren Bezug zur Gegenwart offen, der dieser Theaterform eigen ist. Sie löst sich auf diese Weise von der Tradition und von der Genealogie ab, um ganz ‚Ereignis‘ zu werden. Die Frau, die auf die Bühne tritt, ist somit längst keine Natur mehr, sondern ein „Medium“, das immer dort anzutreffen ist, „wo etwas warenhaft umgeschlagen, psychoanalytisch verschoben oder fotografisch abgelichtet wird“.29 Emmy Hennings braucht einen Sketch, in dessen von amerikanischen Lichtreklamen knallenden Perspektiven Kriminaltragödien Witze werden und wo

man sich, als die Szene einstürzt, aus Gleichgültigkeit gegenseitig umbringt. Und während Emmy Hennings, sehr geschminkt, von den erbrechenden Blicken der Gestorbenen hypnotisiert, von Morphium und Absynth und den blutigen Flammen der elektrischen Glorie zerrissen, in äusserster Verbiegung der

Gotik gefrieren wird, wird ihre Stimme über den Leichen hüpfen und sie wie ein gelber Kanarienvogel seelenvoll trällernd verhöhnen.30

Die Identität der Künstlerin, die sich aus widersprüchlichen Zuschreibungen zusammensetzt, ist hier nur als performativer Akt zu deuten, der vor einem heterogenen Publikum vollzogen wird. Der Körper der Performerin, die Einmaligkeit der dargebotenen Inszenierung und nicht zuletzt die Einbeziehung des Publikums in das Geschehen sollen die „Authentizität“ der performance beglaubigen. Das Selbst konstituiert sich während eines „flüchtige[n] Spiel[s]“, um auf den Titel eines autobiographischen Romans von Hennings zurückzugreifen, als „nur momentan gültige[s] Ergebnis performativer Akte“,31 als Produkt eines Inszenierungsprozesses, der zwischen Privatheit und Öffentlichkeit verortet 28 Marinetti, Filippo Tommaso: Das Varietétheater, in: Ders.: Manifeste des Futurismus, übers. von Stefanie Golisch, Berlin 2018, S. 66–76, hier S. 67. 29 Behrmann: Geburt der Avantgarde, S. 30. 30 Siurlai: Emmy Hennings, Sp. 727. 31 Fischer-Lichte, Erika: Inszenierung von Selbst? Zur autobiographischen Performance, in: Dies./Pflug, Isabel (Hg.): Inszenierung von Authentizität, Tübingen–Basel 2000, S. 59–70, hier S. 64.

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ist. Auch Hennings’ Texte weisen einen ausgesprochenen Aufführungscharakter auf, der an den unzähligen Fassungen, Um- und Bearbeitungen ersichtlich wird, als ob die Autorin es nicht fertig bringen könnte, ihr Schreibexperiment auf eine definitive Text- und Werkform festzulegen, als ob sie sich einer ‚Verortung‘ permanent entziehen würde. Es handelt sich um – wörtlich genommen – Proben, Versuche der Selbstfindung und -erfindung, die auch thematisch reflektiert werden. Vor allem in Hennings’ frühen Texten geht es meistens um das Verhältnis einer Artistin zu ihrem Publikum, das nicht zuletzt als Suche nach einer unmöglichen (Selbst-)Verortung zu lesen ist. In der Verzahnung von Theater- und Literaturdiskursen zeigt sich darüber hinaus die vielfältige Wechselbeziehung verschiedener Künste, die in Form von ‚Doppelbegabung‘ bei vielen Künstlern der Moderne anzutreffen ist und in den biographischen narratives auch strukturell reflektiert und eingeschrieben wird. In einem kurzen, handschriftlich verfassten Begleittext zum unveröffentlichten Typoskript Verse und Prosa (1917) schreibt Hennings deshalb, auf ihr Leben als Varietéstar zurückblickend: Nach jener Zeit, in der ich ein sehr bedenkliches Leben geführt hatte. Nichts hatte ich mehr zu veräußern und dachte nun an mich selbst. (Wer war ich denn?

Nichts) Meine Augen sahen mich traurig sehnsüchtig an. Dann bedachte ich, daß andere mich vielleicht höher werten könnten; als ich mich selbst. Es ist zweifelhaft, ob ich mich kaufen würde. – ich glaube kaum.

Es müßte denn ein Rest an Neugierde in mir sein. vielleicht gibt es noch einiges, was ich nicht kenne. Unbegreiflich, dass ein Mensch Achtung vor sich haben kann.

Zum Singen: Ob ich Stimme habe … Unnöthig ist alle Kunst … Kindlich ver-

spielt. Solange ich mich selbst nicht entdeckt habe, mag es angehen. Sowie ich mir auf der Spur bin, mag ich nichts darstellen, was nicht ich bin. Ich aber entdecke, daß ich weder dieses, noch jenes bin. –

In das Netz meiner bezaubernden Dialektik verstrickt | [unles. Wort]32

32 Baumberger, Christa/Behrmann, Nicola (Hg.): Emmy Hennings Dada, Zürich 2015, S. 74.

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Das Verhältnis von Zweckfreiheit und Käuflichkeit der Kunst (und der Künstlerin), Hingabe und Preisgabe, Spiel und ökonomischen Bedingungen künstlerischen Schaffens zieht sich wie ein roter Faden durch Hennings’ frühe Texte. Das daraus entstehende Spannungsfeld wird von der Künstlerin am eigenen Körper erlebt und findet in der literarischen Darstellung des Lebens einer Kleinkünstlerin und der damit verbundenen Verdinglichung – in welcher Form auch immer – seinen Ausdruck. Damit wird auch ein zentrales Problem des Varieté­theaters benannt, das – Marinettis schon zitiertem Manifest zufolge – rein praktische Zwecke – die Unterhaltung und die Zerstreuung des Publikums mittels der Komik, der Erotik und des Staunens – zu erfüllen habe.33 Im Zentrum meiner weiteren Ausführungen werden deshalb einige frühe kurze Prosatexte stehen, die Hennings teilweise schon vor dem Ausbruch des Krieges und während ihrer aktiven Teilnahme an der Dada-Bewegung verfasst und verstreut in Zeitschriften und Zeitungen veröffentlicht hatte. Fünf von ihnen ordnete die Autorin selbst unter dem Titel Dagny. Ein Fragment ein und nahm sie in das unveröffentlichte Typoskript Verse und Prosa auf, das einen Großteil von Hennings’ literarischem Schaffen bis 1917 enthält. Dagny stellt den Versuch dar, das Leben einer Varietéartistin durch fünf lose miteinander verbundene Momentaufnahmen darzustellen. Der Titel, der einen von Emmy Hennings mehrfach verwendeten Künstlernamen führt, erinnert zugleich an Dagny Juel, Stanislaw Przybyszweskis Frau, die Affären mit Edvard Munch und August Strindberg hatte, Dreiecksbeziehungen offen auslebte, bevor sie von einem Liebhaber, einem russischen Studenten, in einem Hotelzimmer in Tblisi erschossen wurde. Durch den Titelnamen wird also ein Bezug zu einer legendären Frau der deutschen Boheme hergestellt, deren Schicksal die Laufbahn der Varietékünstlerin in Hennings’ Prosatexten in mancher Hinsicht vorzeichnet.34 Juel, ein von den Malern sehr beliebtes Modell (Munch hat 33 Vgl. Marinetti: Das Varietétheater, S. 67. 34 Vgl. dazu Wittmann, Livia Z.: „Um Dagny heulen wir Gespenster …“ Die künstlerische Gestaltung in Johannes R. Bechers früher Prosa und ihre Anreger, in: Jahrbuch der deutschen Schillergesellschaft 22 (1978), S. 610–636, hier S. 611. Ferner: Behrmann: Geburt der Avantgarde, S. 127.

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sie im Gemälde Der Tag danach verewigt), war aber selbst Schriftstellerin und Autorin, obwohl diese Seite ihres Lebens von ihrer skandalumwitterten Aura als Femme fatale weitgehend ins Abseits gedrängt worden ist.35 Der Verweis auf Dagny Juel in Hennings’ Texten ist deshalb auch als Versuch zu deuten – in Ermangelung von Anhaltspunkten und Vorbildern für die eigenen Erfahrungen –, eine nur zwischen den Zeilen lesbare Verbindungslinie zu ziehen, die die Einschreibung in eine weibliche Genealogie ermöglichen könnte. Das Ergebnis dieser (versteckten) Geste der Zueignung liest sich jedoch eher wie das Protokoll einer Auslöschung, das sich dem Archiv beharrend verweigert und nur als Spur erhalten bleibt. Die (unmögliche) Topographie des Weiblichen markiert – selbst in der Avantgarde – einen unmöglichen Ort des Ausschlusses und der Beteiligung zugleich. Orientierungslosigkeit und Nichtzugehörigkeit sind ihre Merkmale. Formell lassen sich die Dagny-Texte unterschiedlichen Sorten einordnen, obwohl sie sich alle für die Bühne leicht bearbeiten lassen würden: Beim ersten, Die vielleicht letzte Flucht,36 handelt es sich um einen der insgesamt drei Beiträge Hennings’ für das Heft Cabaret Voltaire. Inszeniert wird hier ein kurzer Dialog, der sich so ausnimmt, als sei er für die Bühne konzipiert, und vielleicht wurde er auch tatsächlich aufgeführt. Auf eine Inszenierung weisen die zahlreichen szenischen Didaskalien hin, die jedoch teilweise dem Stück einen unheimlichen, befremdenden Ton verleihen, wie es gleich am Anfang der Fall erscheint: „Tiefe Nacht. Still. In einer fremden Stadt ein steiles Zimmer.//Eckig.//Mattes Kerzenlicht flackert.//Dämonisch öffnet sich eine Tür“.37 Die Anweisungen fokussieren insbesondere auf die Aufzeichnung von Gesten und Gebärden und auf die Modulierung der Stimme, kurzum auf die Performanz des Textes. Sie ver-körpern die durch die Sprache nicht mehr ausdrückbare aufgestaute Span35 Ihr schmales, aber originelles literarisches Werk liegt seit kurzer Zeit in der deutschen Übersetzung vor und hebt sich wegen des eigenartigen Tons von der zeitgenössischen frauenemanzipatorischen Literatur deutlich ab. Vgl. dazu: Juel, Dagny: Flügel in Flammen/Gesammelte Werke, hg. von Lars Brandt, Bonn 2019. 36 In: Cabaret Voltaire 1 (15.05.1916), S. 28. 37 Hennings: Dagny. Ein Fragment, in: Baumberger/Behrmann (Hg.): Emmy Hennings Dada, S. 86.

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nung zwischen beiden Figuren. Sprache und Aufführung gehen somit ineinander über. Zwei Darsteller stehen sich gegenüber: „Zwei Wesen sitzen einander gegenüber. Ein Mensch und die Frau“. Während die Bezeichnung „Ein Mensch“ genderneutral konnotiert ist (ein Umstand, der durch die Verwendung des unbestimmten Artikels bestätigt wird), ist „die Frau“ mit einer eindeutigen Genderzuschreibung versehen, die durch den bestimmten Artikel noch markiert wird. Obwohl beide Figuren, wie üblich im expressionistischen Drama, keine Namen tragen, wird die Frau jedoch durch ihre Sexualität identifiziert, was zunächst beim „Menschen“ nicht der Fall ist. Erst in der nächsten Zeile enthüllt sich „ein Mensch“ als „der Mann“, verliert dabei seine Neutralität. Die damit eindeutig gewordene Genderzuschreibung beider Figuren leuchtet umso mehr ein, wenn man den Inhalt ihrer (misslingenden und ständig unterbrochenen) Kommunikation bedenkt: Während der Mann auf dem ihm traditionell zugesprochenen Recht beharrt, die Frau „anzusehen“, „immer anzusehen“, „ganz genau anzusehen“, weigert sich die Frau, sich an diese patriarchalische Rollenverteilung anzupassen. Sie möchte kein passiver Gegenstand der Beobachtung mehr sein: „Ich glaube, man soll nichts genau ansehen“, wendet sie ein, denn sie stellt damit den traditionellen Unterschied zwischen einem (männlichen) Subjekt und einem weiblichen Objekt in Frage. Alles erscheint zweifelhaft und fraglich, als ob es unter dem Zeichen des „Vielleichts“, eines Schlüsselworts zu Hennings’ Poetik der Grenzen- und Raumüberschreitung, stehen würde. Der Text setzt sich indessen nicht nur mit dem Phänomen des Voyeurismus und des geschlechtlichen Begehrens auseinander, sondern greift gleichzeitig die Frage nach der Bedeutung des Blickes für die Konstitution von Geschlechtsidentität auf,38 eine Frage, die sich bekanntlich auch Freud mit schwerwiegenden Folgen gestellt hat. Schaulust und Entdeckung des Geschlechterunterschieds gehen für ihn miteinander einher: Durch den Blick auf die Genitalia eines kleinen Mädchens vergewissere sich der Knabe, dass sie keinen Penis hat. In Freuds Ausführungen 39 wird der Frau eine Leerstelle, eine Wunde zugewiesen, die 38 Vgl. Öhlschläger: Unsägliche Lust des Schauens, S. 17. 39 Zur Widerlegung von Freuds Argumentation vgl. Irigary, Luce: Speculum. Spiegel des anderen Geschlechts, übers. von Xenia Rajewski, Frankfurt a. M. 1989, S. 49.

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der zum Mann herangewachsene Knabe anschauen muss, um sich der eigenen körperlichen Unversehrtheit zu vergewissern und seine Kastrationsangst zu überwinden. Durch diese Operation wird die Frau zum Garanten männlicher Identität, die defizitäre Geschlechtsidentität der Frau bestätigt den Mann in seiner Männlichkeit. Die Leerstelle des Weiblichen, die im Grunde genommen eine Unsichtbarkeit darstellt, welche sich eindeutiger Repräsentierbarkeit entzieht, verlangt jedoch deswegen beschrieben, d. h., diskursiv verortet zu werden. Das Weibliche stellt somit das Moment der Differenz, das Andere dar, an dem Geschlecht, Identität und Bedeutung geschaffen, umgeschrieben oder zerstört werden können. Erst nachdem die traditionell im Schauakt entstehende Objekt-SubjektBeziehung von der Frau hinterfragt wird, kann in Emmy Hennings’ Text die Trennung durch den sexuellen Akt kurzweilig überholt werden („Sie fielen ineinander. Sie flog ihm zu …“). Das geschieht dem zufolge, was Freud zum Voyeurismus anmerkt: Dieser stellt keine Abweichung vor der Norm dar, wenn er in den geschlechtlichen Verkehr einmündet. In diesem Fall wird das Auge nicht zur erogenen Zone, denn die durch den Blick erweckte libidinöse Erregung wird auf ihr gerechtes Ziel, den Koitus, gerichtet.40 Der Koitus bedeutet jedoch in Emmy Hennings’ Text nur eine kurze Unterbrechung, die keine wirkliche Kommunikation zwischen beiden Figuren zulässt. Der Mann verfällt in dieselben Rollenmuster wie zuvor, er setzt das Beobachten fort, seine Augen blicken kühl und zynisch, ein Mörderlächeln umspielt seinen Mund. Ein letztes Mal wird der Versuch unternommen, die Kluft zwischen Objekt- und Subjektrolle auf der Blickebene zu überbrücken. „Augen brannten in einander. Saugten sich fest.“ Durch diese visuelle Verschmelzung, die zugleich Blick- und Trinkmetaphorik vermengt, erkennt jedoch die Frau den Mann, erringt ein Bewusstsein von der nicht aufzuhebenden ‚Differenz‘ zwischen ihr und ihm, deren Schwinden der sexuelle Akt nur vorgetäuscht hatte. Diese Erkenntnis könnte zu einer Tragödie, zum Lustmord, führen, wie am „Mörderlächeln“ des Mannes abzulesen ist. Weil sich die Frau – bei aller Hingabe – nicht mehr 40 Freud, Sigmund: Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie. In: Ders.: Studienausgabe, Bd. V.: Sexualleben, Frankfurt a. M. 1982, S. 37–134.

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der Schaulust des Mannes preisgibt und sich nicht an die für sie vorgesehene Rolle des passiven Beobachtungsobjekts anpassen kann, muss sie schließlich sterben: „Und sie starb, weil sie sich beobachtet fühlte.“ Der Text stellt eine Umkehrung der voyeuristischen Urszene bis zu ihren äußersten Konsequenzen dar. Ein Vergleich mit Der Abend, einem Text Hardekopfs, der 1913 im 4. Heft der Reihe Der jüngste Tag veröffentlicht wurde, zeigt, wie subtil Hennings die Grenzen des zeitgenössischen Geschlechterdiskurses auslotet. Hardekopfs Text schildert ebenfalls eine Begegnung zwischen einem Mann, Ostap, und einer Frau, Germanie, und soll von Hardekopfs Beziehung zu Emmy Hennings beeinflusst worden sein, geht jedoch über die expressionistische Darstellung des Geschlechterkampfs und die bei den avantgardistischen Kreisen verbreitete Verherrlichung der Prostituierten als opferungsvollen Frau nicht hinaus. Beim zweiten Dagny-Text handelt es sich um die Kurzprosa Vor der Premiere, die 1913 in der Schaubühne erstmals erschienen war und in Verse und Prosa mit einigen Veränderungen wiedergegeben wird. In der für die Zeitschrift vorgesehenen Fassung erteilte eine Notiz, die in Verse und Prosa freilich nicht mehr zu finden ist, Auskunft über die Autorin, die eindeutig als Kabarettartistin identifiziert wird („Die Verfasserin tritt zur Zeit im Berliner Lindencabaret auf “).41 Dieser Hinweis legt eine autobiographische Lesart nahe, obwohl der Text sonst in der dritten Person erzählt wird. Denn auch in diesem Fall geht es um eine ‚Probe‘, um die im Lebensalltag (also nicht im eigentlichen Bühnenraum, sondern in einem schmierigen Automatenrestaurant) stattfindende einzelgängerische Vorbereitung – mit Selbstzweifeln und Aufregung verbunden – auf den großen Cabaretauftritt des Abends. Der Text thematisiert abermals das Verhältnis zwischen Beobachtungssubjekt und -objekt, das Hennings’ Werke auf vielfältige Weise durchzieht und mit ihrer Bühnentätigkeit eng verbunden ist. Die Blickkonstellation, die zwischen Performerin und Publikum entsteht, soll einerseits das Selbstbewusstsein der Künstlerin durch die Anerkennung ihrer Leistung stärken, löst andererseits Verunsicherung aus. Das Repertoire scheint 41 Ball-Hennings, Emmy: Vor der Premiere, in: Dies.: „Betrunken taumeln alle Litfaßsäulen“. Frühe Texte und autobiographische Schriften 1913–1922, mit einem Nachwort hg. von Bernhard Merkelbach, Hannover 1990, S. 37.

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den Erwartungen des Publikums nicht angemessen zu sein, die Performerin empfindet ihre Vortragsart und ihre Körpersprache als den Unterhaltungs­ ansprüchen nicht gewachsen. Indem sie ihren eigenen Wehmut und Schmerz durchklingen lässt, überzeichnet die Diseuse die Wirkung des Aristide-Bruant-­ Chansons A la Villette, eines Dirnenlieds, das Ferdinand Hardekopf, damals Hennings’ Lebensgefährte, auf Deutsch nachgedichtet hatte. Hier singt eine Straßendirne vom Frauenheld Toto la Ripette und von ihrer Liebe zu ihm, die auch den Tod auf dem Schafott, wo sie ihn zum letzten Mal sah, überdauern wird (vor dem Pariser Gefängnis La Roquette fanden Hinrichtungen statt). Ob ihr Repertoire wohl gut war? Sie sang ganz leise die letzte Strophe ihres

Liedes: „Als ich zuletzt ihn sah, mein Gott!“ Ihre Augen wurden groß und verzweifelt. „Da schleppten sie ihn aufs Schaffott.“ Ihr Mund öffnete sich, unend-

lich schmerzlich und voller Angst. „Sah seinen Kopf in der Lunette.“ Ihr Körper reckte sich, und sie konnte es nicht verhindern, daß sich ihre Hände krampf-

ten. „A la Roquette.“ Da bemerkte sie, daß man sie beobachtete. Ihre Schultern sanken herab, das Gesicht wurde schlaff und fiel zusammen.42

Vor allem die letzte Strophe des Chansons reflektiert noch einmal das Motiv des Blickkontakts und markiert deshalb den Perspektivenwechsel von der ganz auf die kommende Aufführung konzentrierten Performerin auf ihre Umgebung. Die Artistin ‚fällt‘ buchstäblich – wie ihre Mimik verrät – aus ihrer Rolle heraus, fühlt sich aber fortwährend – auch auf der Straße – als Schauobjekt wahrgenommen, den ihr abfällig vorkommenden Blicken der Passanten ausgesetzt, die auf ihre schäbigen und grellen Kleider fixiert sind. Die sie musternden Augen signalisieren ihre Außenseiterposition und ihren prekären Status als Frau und Künstlerin. Sie stehen synekdochisch für das Publikum, an das sie an jenem Abend ihre subversiven Lieder richten soll: „Die Leute auf der Straße sahen sie an und lachten über sie, so daß ihre Brust schmerzte. War sie es, die heute Abend für die Unterhaltung dieser Menschen sorgen mußte? Sie 42 Ebd., S. 37. Zu Hennings’ Auftritten als Sängerin dieses Liedes siehe Marietta di Monaco, in: Baumberger/Behrmann (Hg.): Emmy Hennings Dada, S. 141 f.

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wurde ganz hilflos. Sie hatte diese große Stadt erobern wollen. Jetzt zweifelte sie an ihrer Schönheit.“43 Die Varietéartistin wird als schöner Blickfang auf der Bühne präsentiert, sie soll Zuschauer und Kunden durch ihr Äußeres locken, das über das Subversive an den von ihr gesungenen Chansons hinwegzuhelfen hat. Der Zweifel an ihren äußeren Reizen versetzt daher die Protagonistin dieser Kleinprosa in eine Krise, denn es scheint ihr die einzige Legitimationsmöglichkeit zu rauben, die sie innerhalb der patriarchalischen Gesellschaftsstrukturen beanspruchen kann: ein schönes verführerisches Äußeres. „Im Netz ihrer bezaubernden Dialektik“44 kann Dagny sich selbst nur in den aufnehmenden Augen der Anderen sehen. In Verse und Prosa wird der Hinweis auf die Schönheit allerdings getilgt, und stattdessen werden die Orientierungslosigkeit und Einsamkeit der Artistin im Großstadtraum unterstrichen, die sich nirgendwo positionieren kann – und deshalb die Flucht ergreifen muss: Auf der Strasse lachte man über sie. Sie fühlte es wie schneidende Stiche

im Rücken und eilte vorwärts. Fluchtartig. Immer weiter. Durch die große

Stadt. Heute Premiere. An den Anschlagsäulen hatte sie in riesigen Lettern ihren Namen gelesen. Es war unheimlich … Und die vielen Menschen auf der Straße … Musste sie für deren Unterhaltung sorgen?45

Nur die Betäubung durch den Kognak vermag sie mit der ihr zugeschriebenen Rolle wieder auszusöhnen – freilich ohne den in ihr tief sitzenden Schmerz ganz ausmerzen zu können: „O ja, sie würde sich das Gesicht sehr schön schminken. Ganz weiß. Den Mund grellrot wie eine blutende Wunde.“46 Die dick aufgetragene Schminke verwandelt die Individualität der Gesichtszüge in eine Maske, die die verführerischen Kennzeichen der Weiblichkeit bis ins Unkenntliche drastisch überzeichnet, die Erotik des roten Mundes mutiert dabei zum Ausdruck des entindividualisierten Schmerzens. Die Frau verwandelt sich in 43 Ball-Hennings: Vor der Premiere, S. 37. 44 Vgl. Anm. 31. 45 Hennings: Dagny, in: Baumberger/Behrmann (Hg.): Emmy Hennings Dada, S. 87, Sp. 1. 46 Ebd.

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eine Puppe, welcher der Weg zum eigenen Sprechen verwehrt wird, oder vielmehr: Dies wird ihr nur unter der Maskerade der Weiblichkeit gestattet. Das Verführerische wird zum Befremdenden. Das Dagny-Fragment umkreist eine große Lücke, die Aufführung selbst, die nicht weiter beschrieben wird. Der dritte Text öffnet sich lediglich mit dem knappen Bericht: „Dagny singt im Kabarett.“47 Der eigentliche Fokus dieser Prosa liegt auf dem, was nach dem Auftritt geschieht und ähnlich verläuft wie in Das Brandmal: das Verhältnis der Soubrette zu den männlichen Zuschauern, die sich als Freier und Kavaliere entpuppen. Der Text weist eine vorwiegend – obwohl nicht ausschließlich – dialogische Struktur auf, die die Aporien des zeitgenössischen Prostitutionsdiskurses zum Sprechen bringt. Die Bezüge mit dem ersten Prosastück liegen auf der Hand, wie die Wortwahl verrät („Nimm mich, nimm mich!“), doch hier werden die gesellschaftlichen Zusammenhänge entlarvt, die im ersten Text – durch die Überholung in eine verallgemeinernde, fast mythische Dimension der Mann-Frau-Auseinandersetzung – ausgeblendet waren. Nach der Soirée sollen die Artistinnen ihre zahlenden bürgerlichen Zuschauer auch anderweitig unterhalten, die Aufführung geht weiter, eine neue Rolle wird übernommen. In seinem Manifest Das Varieté­ theater sah Marinetti allerdings in der Gewinnung des Stars durch das Geld im Anschluss an die Vorstellung eine weitere einkalkulierte Form der von ihm ausdrücklich gewünschten Einbeziehung des Publikums in die Aufführung, damit die Zuschauer nicht „wie dumme Voyeuere“48 unbeteiligt dastehen. Es geht bei ihm um eine Strategie der Überschreitung, die das avantgardistische Diktum des Übergangs von Kunst ins Leben verwirklichen könnte: Sie [die Handlung] setzt sich sogar noch über das Ende der Vorstellung hi­

naus fort, und zwar zwischen den Bataillonen von Bewunderern, überzucker-

ten Smokings, die sich am Ausgang zusammendrängen, um über den Star zu diskutieren; doppelter finaler Sieg: ein schickes Essen und eine Bettgeschichte.49 47 Ebd. 48 Marinetti: Das Varietétheater, S. 70. 49 Ebd, S. 71.

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Auffallend ist, dass Marinetti die Frau in ihrer medialen Erscheinungsform als Star wahrnimmt. Das Star-Phänomen, das heutzutage die Popkultur prägt, entsteht zunächst im theatralischen Milieu, und zwar als „eine dispositive Struktur“.50 Die wachsende Anzahl an Gastspielauftritten von berühmten Schauspielerinnen und Schauspielern in mehreren Städten sowie die Verbreitung von Zeitungen und Zeitschriften, die sich mit vielfältigen Aspekten des Theaterbetriebs beschäftigten, trugen im Laufe des 19. Jahrhunderts zum Aufkommen der Theatromanie erheblich bei, die sich vorwiegend in der Starverehrung äußerte. Auf der Bühne war es möglich, Schauspieler zu erleben, die nicht nur durch ihr Können (Auftreten, Geste, Mimik) in der Lage waren, ihre Rolle glaubhaft zu verkörpern, sondern auch – durch ihre Präsenz – die Faszination des Publikums auf ihre phänomenalen Körper zu lenken. „Der Künstler“, so schreibt Richard Sennett, „lenkt die Aufmerksamkeit vom Text auf sich selbst.“51 Dank der großen Anziehungskraft, die ihre körperliche Gegenwärtigkeit auf die Zuschauer ausübte, waren Bühnenkünstler in der Lage, die Aufmerksamkeit des Publikums auf ihre Person über die gespielte Rolle hinaus zu fesseln. Es entstand damit eine Zirkulation des Begehrens und der gegenseitigen Spiegelungen zwischen Publikum und Schauspielerinnen, da das Theater auf diese Weise „dem Lebensgefühl seiner Zuschauer in den Personen der Schauspieler Anschauung verlieh und damit zugleich Gefühle, Sehnsüchte und Träume seiner Zuschauer stimulierte“.52 Dem Beruf der Schauspielerin waren jedoch einige kontroverse und ambivalente Diskurse eingeschrieben, die seine Wahl und gesellschaftliche Akzeptanz erheblich erschwerten. Die Bühnenkünstlerin kontrastierte in mehrerer Hinsicht mit dem bürgerlichen Ideal, wonach der Frau die privathäusliche Sphäre zugeordnet war. Die Schauspielerin drängte stattdessen in die öffentliche, dem Mann zugewiesene, Sphäre und wurde sozial ‚sichtbar‘. Eben aus diesem Grund übte sie – wie bereits gesehen – eine unwiderstehliche 50 Hickethier, Knut: Vom Theaterstar zum Filmstar. Merkmale des Starwesens um die Wende vom neunzehnten zum zwanzigsten Jahrhundert, in: Faulstich, Werner/Korte, Helmut (Hg.): Der Star. Geschichte – Rezeption – Bedeutung, München 1997, S. 29–47, hier S. 30. 51 Sennett, Richard: Verfall und Ende des öffentlichen Lebens. Die Tyrannei der Intimität, Frankfurt a. M. 1986, S. 283. 52 Hickethier: Vom Theaterstar zum Filmstar, S. 34.

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erotische Faszination auf die Männer aus. Der Beruf genoss deshalb um 1900 keinen besonders guten Ruf – sowohl in moralischer als auch in sozialer Hinsicht – und wurde oft im Zusammenhang mit der Prostitution erwähnt. Das traf auf Varietékünstlerinnen umso mehr zu. In der Tat ist Prostitution im etymologischen Sinn mit dem Auftreten auf der Bühne eng verbunden, geht es in beiden Fällen um ein „sich öffentlich Stellen“: „Man reisst ihr die Kleider vom Leib.//[S]ie lacht, singt, tanzt. Stösst kleine, spitze Schreie aus. Dann trinkt sie wieder, lächelt dem Kavalier zu und lässt sich küssen“, 53 heißt es in Hennings’ Prosa. Auch hier scheint sich eine These von Marinettis Manifest zu bewahrheiten, dass nämlich das Varietétheater besonders für den Mann „eine lehrreiche Schule der Aufrichtigkeit“ sei, und zwar gerade im Bezug auf seinen Umgang mit der Frau, weil seine bürgerlichen Vorstellungen der Geschlechterverhältnisse in Frage gestellt oder gar umgekippt würden: [E]s verherrlicht seinen Raubtierinstinkt, der Frau reißt er alle Hüllen, Phra-

sen, Seufzer und romantischen Schluchzer vom Leibe, die sie deformieren und verkleiden. Es lässt stattdessen die bewundernswerten animalischen Qualitäten der Frau zum Vorschein treten, ihren Jagdinstinkt, ihre Verführungskraft, ihre Perfidie und ihre Abwehr.54

Das Varietétheater demaskiert romantische Liebes- und Verführungsrituale, die im verhassten Mondschein versinnbildlicht werden, als Lüge und Heuchlerei, um stattdessen „die Freude und das Vergnügen an leichten, unkomplizierten, ironischen Liebschaften“55 zu vermitteln. Letztere werden von elektrischem Licht begünstigt, „das heftig an dem falschen Schmuck, dem geschminkten Fleisch, den bunten Röckchen, dem Samt, dem Flitter und dem falschen Lippenrot abprallt“.56 53 Hennings: Dagny, S. 87, Sp. 1. 54 Marinetti: Das Varietétheater, S. 71. 55 Ebd. 56 Ebd.

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Das Verhältnis zwischen der Varietésängerin und dem bürgerlichen, vergnügungssüchtigen Publikum schildert Hennings jedoch nicht im Sinne Marinettis als Höhepunkt jenes für das Varietétheater charakteristischen Einsatzes von Erotik mit antibürgerlicher Entlarvungsfunktion. Es wird stattdessen als Ausdruck der Warenförmigkeit nüchtern beschrieben, die nicht nur die bürgerlichen Geschlechterverhältnisse, sondern auch die Theaterpraxis prägt. Bei Hennings wird für eine Leistung bezahlt, die im Rahmen vorgegebener Verhaltensmuster und Repräsentationsstrukturen zu bleiben hat. Dagny ist betrunken und führt abwesend die automatenhafte Maskerade des Begehrens aus, unter der sich in Wahrheit ein Tauschakt versteckt: „Wer mich kauft, ist nicht betrogen.“ Sie gibt sich als leeres Zeichen aus, dessen Zeichenhaftigkeit durch Verstellung und Schminke in einer fetischistischen Maskerade übertüncht wird. Die verlorene Referenz ist allein als Vergangenheit oder als heterotopischer Raum noch präsent, wie an den flashbackartigen Erinnerungen an Dagnys Heimat sichtbar wird. Als die Begegnung mit dem Zuschauer/Freier zu einem Gespräch zu kommen droht, das das Tauschverhältnis nur scheinbar überholen würde, misslingt deshalb die Kommunikation (eine ähnliche Szene ist übrigens in Das Brandmal wiederzufinden).57 Dagny entzieht sich der gängigen Lesart der Prostitution, die – zwischen Mitleid zu den Opfern und moralischer Ächtung schwankend – in der Frage ihres Kunden mitschwingt („Er fragt in ernstem Ton: ‚Du, sag mal, wie bist du eigentlich zu diesem Leben gekommen?‘“). Die Frage versucht eine intersubjektive Kommunikation herzustellen, die nur scheitern kann, da ihre Prämissen in einem Tauschakt zu suchen sind: Geld gegen sexuelle Befriedigung. Die Soubrette verdreht die männliche Sprache, indem sie aus der ihr zugewiesenen Verhaltensrolle fällt und sich der von ihr erwarteten Passivität entzieht, ja die Frage des Mannes aggressiv beantwortet: „Quatsch nicht! Wie bist du zu diesem Leben gekommen? Sorg du für deine Seele!“

57 Emmy Hennings: Das Brandmal. Das ewige Lied, hg. und kommentiert von Nicola Behrmann und Christa Baumberger unter Mitarbeit von Simone Sumpf, mit einem Nachwort von Nicola Behrmann, Göttingen 2017, S. 34 f. und S. 147.

Die Varietékünstlerin und ihr Publikum

Der Kavalier verstimmt: „So seid Ihr, wenn man es gut mit Euch meint.“ Dagny: „Und so seid Ihr, wenn Ihr fertig seid.“ Kavalier: „Du bist ja frech!“

Dagny schlägt ihm ins Gesicht und spuckt: „Du hast dich zu amüsieren. Das andere geht dich nichts an.“58

Ihre Worte erinnern den Kunden daran, dass sie ihm nur des Geldes wegen gefügig ist. Sie wird für die Lust, nicht für die Preisgabe ihrer individuellen Geschichte, die sie hinter ihrer Inszenierung als Prostituierte verborgen hat, bezahlt. Die Verdinglichung ihres Körpers soll als Folge einer Rollenübergabe betrachtet werden, die ähnlichen Regeln folgt wie auf der Bühne. Die Bedingung, die es zu erfüllen gilt, um am Warentausch teilzuhaben, ist hier wie dort der Kauf einer Eintrittskarte bzw. die Entrichtung eines gewissen Preises. Die Spielregeln sollen jedoch von den Artistinnen wie von den Zuschauern gleichermaßen beachtet werden. Wer aus der Rolle fällt – ob Frau oder zahlender Kunde –, wird rausgeschmissen oder bespuckt. Dagny beansprucht hier das Recht, ganz in ihrer Maskerade des Begehrens aufzugehen. Der dritte Kurzprosatext weist eine zirkuläre Struktur auf, die durch die Wiederholung derselben Situation – freilich unter umgekehrten Vorzeichen – markiert wird. Hatte der Kavalier Dagny am Anfang ihres Liebesspiels „halb unbemerkt zwanzig Francs in die Tasche gleiten lassen“, so holt ihr Freund Géry, 59 eine weitere Figuration des Boheme-Künstlers, der aus Verachtung der bürgerlichen Lebensverhältnisse sich von seiner Freundin unterhalten lässt, „zwanzig Francs aus ihrem Strumpf “, ohne dass sie es bemerkt. Der Text schließt mit Dagnys Hingabeworten an ihren Freund ab, während er seine Hände um ihren Hals legt und „sagt: ‚Wem gehörst du?‘ Und sie sagt: ‚Dir‘“.60 58 Hennings: Dagny, S. 87, Sp. 1 f. 59 Gery ist der Name, den sich Hugo Ball im Ensemble-Flamingo zulegt (vgl. Flucht aus der Zeit, S. 41, Eintrag vom Oktober 1915). Im zu Hennings’ Lebzeiten unveröffentlichten Typoskript Rebellen und Bekenner heißt der Ausbrecherkönig und Entfesselungskünstler Gery [Ball-Hennings, Emmy: Das Varieté. Die Zeit vor dem Cabaret Voltaire, in: Hugo Ball-Almanach 8 (1984), S. 103–131, hier S. 108]. 60 Hennings: Dagny, S. 87, Sp. 2.

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Lorella Bosco

Bei der vierten Dagny-Prosa kehrt der Text auf die Zeit vor der Aufführung zurück. Während Dagny noch müde und lustlos, vielleicht unter andauerndem Narkotika-Missbrauch im Bett liegt, schlägt die Uhr sieben und signalisiert somit das unaufhaltsame Herannähern des kommenden Auftritts. Alles sieht unordentlich aus, die Trikots sind noch klatschnass, am Bühnenkleid fehlen die Knöpfe, keine Vorbereitung für den Auftritt ist getroffen worden: „Ich muss mich entschliessen. Muss extra kühn aus dem Bett springen. Werde ich heute aushalten? Bin ich Dagny, die Stimmungsmacherin? Muss ich singen? Muss ich? Ich habe für die Unterhaltung des Publikums zu sorgen.“ Sie lacht schief und hämisch:

„Wie lästig, so sehr beliebt zu sein, wenn man doch am Ende ist!“61

Dagny möchte sich dem Unterhaltungsbetrieb und der damit verbundenen ökonomisch geregelten Zeitvermessung entziehen. Der Tod und die Straße würden da zwei Auswege bieten, um Zeit zurückzugewinnen und nicht ständig unter Druck – der ökonomischen Produktionsbedingungen und der Zeitverteilung – zu geraten. Die Zeit ist ihr einziger Besitz und durch das Warten auf der Straße könnte sie sie aufhalten, ohne bedrängt zu sein. Die Zeit eröffnet einen Raum, den Stadtraum. Es klopft aber stattdessen an der Tür und die Chanteuse Marta kommt herein. Sie ist perfekt geschminkt und gekleidet und bestens auf ihre Rolle vorbereitet. Sie schimpft mit der Kollegin, weil diese noch nicht fertig und sowieso unpünktlich ist. Auch sie – wie der Kavalier – geht von der Annahme aus, es gebe eine Trennung zwischen privatem und öffentlichem Leben, und hält ihr deshalb eine Predigt wegen ihres Narkotikamissbrauchs („Sie ruinieren sich. Sie gehen ja zugrunde bei dem Leben.“).62 Auch in diesem Fall wehrt sich Dagny gegen die mahnenden, obwohl wohlwollenden Worte der Kollegin vehement. Der Vergleich mit der Kollegin gibt ihr einen mit Neid gekoppelten Energieschub. Sie steht endlich auf und fängt an, sich auf den Auftritt vorzubereiten. Auf der Bühne wird sie nun von Neuem an ihre Identität erfinden. 61 Ebd., S. 88. 62 Ebd., Sp. 2.

Die Varietékünstlerin und ihr Publikum

„Dagny sucht und findet die Bühnenschuhe, die wie gestrandete kleine Boote unterm Bett liegen. Sie legt sich auf den Boden und angelt sich mit dem japanischen Seiltänzerschirm die Schuhe.“63 Der Text fokussiert im weiteren Verlauf auf die Beschreibung von Dagnys Kostümierung, die von ihren Gedankeneinschüben begleitet wird: „Ich mache nicht mehr mit! Auf keinen Fall. Ich spiele nicht mit.“ Durch einen Selbstmordversuch will sie sich den Anforderungen des Unterhaltungsbetriebs entziehen. Die getroffenen Vorkehrungen heben die Performanz der Geste hervor, die Lust an der freien, zwecklosen Bewegung, die typisch für jene damals herbeigewünschte „Revolution des Theaters“64 ist, selbst wenn sie in diesem Fall mit dem Tod gleichzusetzen wäre: „Graziös und sicher springt sie auf den Stuhl: eine routinierte Akrobatin. Sie steckt den Kopf behutsam in die Schlinge und stösst kräftig gegen den Stuhl. Der Hacken knackt. Geräusch wie von einer heftig nagenden Ratte.//Dagnys Körper klatscht auf dem Boden.“65 Die Schwere des Körpers überwiegt und bringt den Versuch, durch die zweckfreie Grazie der Bewegung aus den Fesseln einer ökonomisch geregelten Ordnung – und sei es auf den Tod hin – auszubrechen, zum Scheitern. Durch ihren ‚Fall‘ verliert Dagny die Eleganz des Antigraven und kehrt buchstäblich auf den Boden der Tatsachen zurück. Sie macht sich für die Aufführung fertig. Der Schatten, den sie auf die Wand wirft, begleitet sie wie ein Doppelgänger. Doch wäre die damit entstandene Verdoppelung auch als Verweis auf eine Position der Abwesenheit zu deuten, die mit einer Rhetorik des Todes verbunden ist. Der plumpe Fall auf den Boden würde dann den Einzug in die Sphäre des Todes markieren, in der ihr Leib zum entseelten, nicht mehr wahrnehmungsfähigen Körper wird. Das würde erklären, wieso Dagny nichts fühlt, als der Impresario in ihr Zimmer hochkommt und sie bedroht, es sogar zu Handgreiflichkeiten kommt. Um den Anforderungen des Unterhaltungsbetriebs Stand zu halten, muss sie sich ganz verdinglichen, zum sich selbst entfremdeten „Automaten“ werden, der sich ganz auf die Erwartungen 63 Hennings: Dagny, S. 88, Sp. 2. 64 Vgl. Fuchs, Georg: Die Revolution des Theaters. Ergebnisse aus dem Münchner KünstlerTheater, München 1909. 65 Hennings: Dagny, S. 87, Sp. 2.

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des Betriebs und des Publikum einstellt, sich ‚töten‘, indem sie ihren Willen und ihr Bewusstsein auflöst. Sie führt handwerkmäßig routiniert aus, was von ihr verlangt wird, ohne innere Anteilnahme. Durch ihre Aufgabe von Bewusstsein und Autorschaft unterhöhlt sie jedoch die an sie gerichteten Erwartungen in einer nur vorgetäuschten Anpassung an die Vorgaben. Sie entwickelt damit eine subversive Strategie. Mit entfremdeter Stimme („mit Schusterjungenstimme“) ruft sie das Publikum zum Eintrittskartenkauf auf: Es prasselt und hagelt auf Dagny herab, aber sie empfindet nichts. Sie fliegt

wie von selbst ins Kostüm. Schlüpft wie ein schneller Automat in die Schuhe.

In einigen Minuten ist sie vollkommen angezogen und sehr gut geschminkt. Vernünftig und besonnen. Lächelnd und frisch springt sie die Treppe hinab, immer drei Stufen auf einmal nehmend. Später singt sie:

„Tommy, ach komm doch! Die Luft ist rein.

Schnell vergeht die Nacht …“

Nach jeder Pause wird kassiert.66

Der fünfte Text zeigt Dagny auf der Straße, während sie im Begriff ist, „den Kampf ums Dasein zum elften Male aufzunehmen“.67 Die Straße, die mit der Erfahrung der Prostitution verbunden ist, öffnet sich als beinahe unbegrenzter Raum der Freiheit, aber gerade diese Grenzenlosigkeit birgt die Gefahr des Selbstverlusts in sich, denn sie bietet keine Anhaltspunkte, an denen sich die Frau festhalten kann. Sich selbst in so einem unendlichen Raum zu verorten, ist eine schwierige, beinah unmögliche Aufgabe, bei der die Frau zusammenbricht: „Dagny fiel zusammen, kraftlos.“ Allerdings wird dieser Zusammenbruch abermals von der Begegnung mit zwei Passantinnen ausgelöst, von denen sich Dagny beobachtet und verhöhnt fühlt. Kurz bevor sie auf den Boden fällt, erinnert sie sich an die verlorene Heimat ihrer Kindheit und an Urville, Etappe 66 Ebd., S. 89, Sp. 1. 67 Ebd., Sp. 1.

Die Varietékünstlerin und ihr Publikum

einer mit Sehnsucht ins Gedächtnis gerufenen Reise nach Frankreich (eine hatte Hennings mit Ferdinand Hardekopf unternommen). Die Erinnerungsfetzen sind allerdings Verortungsversuche, die ins Leere laufen und kein ubi consistam ermöglichen: Als ihr geholfen wird, kehrt die übliche Apathie wieder zurück („Man sollte ihr den Willen nehmen, ihr jeden Schritt vorschreiben, sie einsperren für ewig.“).68 Die gütige Frau, die ihr zu Hilfe kommt, streichelt „Dagnys heimatloses Gesicht“. Auf ihm haben sich Orientierungslosigkeit und Entortung als konstitutive Merkmale abgezeichnet, es geformt und verwandelt. Es enthüllt sich der stillen Geste menschlicher Anteilnahme einer anonymen Frau, nicht den Versuchen, es diskursiv zu erfassen. Ohne von Schminke und Maske übertüncht zu werden, wird auf diese Weise Dagnys Gesicht sichtbar – und zwar als Ort einer unmöglichen Referenz, der jede Festlegung und Zugehörigkeit verweigert: als das Andere.

68 Ebd., Sp. 2.

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Das Publikum der avantgardistischen Manifeste Giulia A. Disanto

1. Von der modernen Zeitschrift zum avantgardistischen Manifest „Kunst erheischt Publikum, ist eine öffentliche Angelegenheit“ – schreibt Iwan Goll in seinem Appell an die Kunst (1917)1 und widerspricht somit jenem Prinzip der künstlerischen Autonomie und Unabhängigkeit vom Rezipienten, das sich gegen Ende des 19. Jahrhunderts unter den Umständen des sozialen und politischen Wandels der Gesellschaft besonders zuspitzt. In einer Zeit, in der sich nicht nur eine neue Idee von Öffentlichkeit, sondern auch ein neues – die Kunst als Ware konsumierendes – Publikum herausbildete, hatte die „historische Moderne“2 durch den Autonomiebegriff die Selbstgenügsamkeit einer Kunst zelebriert, die der externen Rezeption nicht mehr zu bedürfen schien. Schon innerhalb des Naturalismus, mit dem man die historische Moderne anfangen lässt, wird eine Abgrenzung des Dichters vom Publikum und von der Gesellschaft infolge der Entwicklung des liberalen Bürgertums und der kritischen Haltung gegenüber dem Prozess der Modernisierung der Gesellschaft festgestellt. Während die Kunst der historischen Moderne sich einerseits durch 1

2

Asholt, Wolfgang/Fähnders, Walter (Hg.): Manifeste und Proklamationen der europäischen Avantgarde (1909–1938), Stuttgart 1995/2005, S. 130–131, hier S. 130. Vgl. auch den Schluss vom Eröffnungs-Manifest. 1. Dada-Abend Zürich, 14. Juli 1916 von Hugo Ball, ebd., S. 121: „Jede Sache hat ihr Wort; da ist das Wort selber zur Sache geworden. […] Das Wort, das Wort, das Weh gerade an diesem Ort, das Wort, meine Herren, ist eine öffentliche Angelegenheit ersten Ranges“. Im Text werden die Begriffe ‚Moderne‘ und ‚Avantgarde‘ im Sinne von ‚historischer Moderne‘ und ‚historischer Avantgarde‘ verwendet. Vgl. Fähnders, Walter: Avantgarde und Moderne. 1890–1933, Stuttgart–Weimar 2010, S. 1–8.

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Giulia A. Disanto

den wachsenden wissenschaftlichen Fortschritt legitimationsbedürftig fühlt, erklärt sie andererseits – bis zum Höhepunkt des Ästhetizismus – ihre Unabhängigkeit von den übrigen Lebensbereichen. Das Problem des Zusammentretens von Kunstautonomie und Gebundenheit

an die Rezeption spitzt sich in der Moderne noch zu, weil sich in ihr nicht nur der Begriff von Öffentlichkeit, mithin die öffentliche Wahrnehmung von pu­bli­ ker Vermittlung, politisch und sozial von Grund auf ändert, sondern zugleich

auch – damit eng verschwistert – ein neuer Begriff des Publikums, eines in den verschiedenen Sphären der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft „konsumierenden“ Massenpublikums, herausbildet. Daß Kunst in wesentlich gesteigertem Maße zur Ware wird, befördert dabei zwangsläufig die Bedrohung ihrer postulierten Autonomie: der neue Kontext ihres Daseins berührt gleichsam

fremdbestimmt ihr rigoroses Bestehen auf Erhaltung einer eigenen, außerkünstlerischen Einflüssen gegenüber resistenten inneren Logik.3

Laut Peter Bürger entwickelt sich die Dialektik zwischen Form und Inhalt des Kunstwerkes gerade „nach der Konsolidierung der politischen Herrschaft des Bürgertums“4 allmählich zugunsten des Formellen: „Diese Prädominanz der Form in der Kunst etwa seit der Mitte des 19. Jahrhunderts läßt sich produktionsästhetisch als Verfügung über Kunstmittel, rezeptionsästhetisch als Ausrichtung auf die Sensibilisierung des Rezipienten fassen.“5 Werden sowohl Produktion als auch Rezeption von Kunst im Kontext der bürgerlichen Gesellschaft als ‚individuelle‘ ästhetische Verfahren institutionalisiert, sodass die Distanz zwischen Künstler und Publikum festgelegt wird, so wird mit der avantgardistischen Praxis von Kunst als Manifestation die traditionelle Typologisierung Künstler-Werk-Publikum komplett aus den Angeln gehoben.

3 4 5

Zuckermann, Moshe: Kunst und Publikum. Das Kunstwerk im Zeitalter seiner gesellschaftlichen Hintergehbarkeit, Göttingen 2013, S. 7. Bürger, Peter: Theorie der Avantgarde, Stuttgart 1974, S. 25. Ebd. Vgl. auch das Schema auf S. 65.

Das Publikum der avantgardistischen Manifeste

Nicht nur Kunstmittel werden mit der Revision des künstlerischen Schöpfungsprozesses seitens der Avantgardisten als ‚Mittel‘ – d. h. als Instrument des künstlerischen Experimentierens – anerkannt, sondern auch das Publikum wird in die Aktion Kunst auf neuartige Weise hineingezogen. Die Rezeption wird somit zum kollektiven Akt. Die europäischen Avantgardebewegungen lassen sich bestimmen als Angriff auf den Status der Kunst in der bürgerlichen Gesellschaft. Negiert wird nicht

eine voraufgegangene Ausprägung der Kunst (ein Stil), sondern die Institu-

tion Kunst als eine von der Lebenspraxis der Menschen abgehobene. Wenn die Avantgardisten die Forderung aufstellen, die Kunst solle wieder praktisch werden, so besagt diese Forderung nicht, der Gehalt der Kunstwerke solle

gesellschaftlich bedeutsam sein. Die Forderung bewegt sich auf einer ande-

ren Ebene als der der Gehalte der Einzelwerke; sie richtet sich auf den Funk-

tionsmodus von Kunst innerhalb der Gesellschaft, die die Wirkung der Werke ebenso bestimmt, wie der besondere Gehalt es tut.6

Die radikalen Veränderungen, die in Bezug auf Kunstproduktion und -rezeption zwischen historischer Moderne und historischer Avantgarde festgestellt werden können, lassen sich z. B. durch die tief greifende Entwicklung von programmatischen Textsorten, die in der Zeitspanne zwischen dem Naturalismus und dem Dadaismus publiziert und verbreitet werden, sehr deutlich folgen. Wenn der Naturalismus durch die vielen Proklamationen, Thesen und Erklärungen auf die Veränderungen der Industriegesellschaft reagierte und eine „Revolution der Litteratur“7 in den Gruppierungen um die deutschsprachigen Zeitschrif6 7

Ebd., S. 66 f. So der Titel der bekannten, 1886 datierten Schrift von Karl Bleibtreu. Als Repertorien von programmatischen Texten der historischen Moderne vgl. Ruprecht, Ernst (Hg.): Literarische Manifeste des Naturalismus 1880–1892, Stuttgart 1962; Wunberg, Gotthart/ Dietrich, Stephan (Hg.): Die literarische Moderne. Dokumente zum Selbstverständnis der Literatur um die Jahrhundertwende. 2. Aufl., Freiburg i.B. 1998; Brauneck, Manfred/ Müller, Christine (Hg.): Naturalismus. Manifeste und Dokumente zur deutschen Literatur 1880–1900, Stuttgart 1987. Obwohl selbst in den Titeln der zitierten Quellensamm-

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ten gestaltete, fand dieser wichtige Theorieschub erst mit den Avantgarde­ bewegungen eine spezielle Form: das Manifest. Die Textgattung ‚Manifest‘ kennzeichnet sich nicht nur als literarisches Genre, sie wird mit ihrer typographischen, performativen und politischen Charakterisierung zur avantgardistischen Ausdrucksform überhaupt. Sie stellt demzufolge auch im Bereich der kunsttheoretischen und rezeptionsästhetischen Entwicklungen zwischen dem 19. und dem 20. Jahrhundert ein absolutes Novum dar.

2. Kunst, Kommunikation und Politik im Manifestantismus der Avantgarde Mit der Veröffentlichung des ersten Manifest[es] des Futurismus von Filippo Tommaso Marinetti im Pariser Figaro am 20. Februar 1909 datiert man den Beginn der historischen Avantgarde, die sich gerade durch die besondere Gestaltung und den speziellen Gebrauch der Textgattung Manifest konstituiert.8 Der ästhetische Theorieschub der Avantgarde kommt nicht nur in den Zeitschriften zum Ausdruck, sondern auch durch eine Reihe von Texten programmatischer, appellativer, performativer Natur, und zwar in Flugblättern, Plakaten, Performances und vor allem in der medial gemischten Form des Manifestes, in der die historische Avantgarde „ihr ureigenes Medium“9 erkennt. Durch die plurale Veröffentlichungsform des Manifestes – das nicht nur als kleiner Text in den Zeitschriften publiziert wird, sondern z. B. als typographisch hochgestaltetes Kunstwerk in der Form eines Plakates auf den Litfaßsäulen das bürgerliche Publikum der europäischen Städte anspricht und pro-

8 9

lungen das Wort „Manifest“ gebraucht wird, ist diese Bestimmung in den gesammelten Texten kaum zu finden. Der Terminus findet seine Bestimmung erst mit der Geburt der neuen Gattung, wie sie innerhalb der Avantgardebewegungen – und zwar nach der Verbreitung des Manifest[es] des italienischen Futurismus (1909) von Filippo Tommaso Marinetti – d ­ efiniert wird. Vgl. Asholt/Fähnders: Manifeste und Proklamationen, S. 1. Ebd., S. XV.

Das Publikum der avantgardistischen Manifeste

voziert, oder als Kanevas zur mündlichen Performance dient – versucht die Avantgarde, die für die Moderne typische Distanz zwischen Künstler und Publikum zu überbrücken. Damit wird die Rolle des Publikums durch das ästhetische Umdenken und durch die unmittelbare Involvierung in die künstlerische Aktion neu bestimmt. Die Manifeste sollen nicht mehr vom Kunstwerk geschieden werden, ihre Form verweist vielmehr darauf, daß sie sich an der Grenze zwischen Kunstwerk und außerkünstlerische Realität ansiedeln, daß man den Status des autonomen

Kunstwerks in Frage stellt und das Manifest eine Brücke von der Kunst zum

Leben schlagen soll. Das Manifest der Avantgarde verläßt damit zumindest tendenziell die Ebene des traditionellen „Werkes“. […] Die besonderen Pro-

duktions- und Rezeptionsweisen derartiger Avantgarde-Aktionen weisen auf den Manifestantismus zurück, der dafür als das am besten geeignete Genre die Leitlinie abgibt. Als bewußt performativ gedachte Texte bilden die Manifeste

einen ausgezeichneten Kronzeugen für die Absichten der Avantgarde. Selbst wenn nicht alle Kunstsparten aufgrund bestimmter Eigenheiten der Gattung gleichermaßen Manifestantismus betreiben, so bleibt dies Genre dennoch Ausgangs- und Endpunkt der Avantgarde-Intentionen.10

Das Wort „Manifest“, vom lateinischen „manifestum“ (d. h. „handgreiflich“), findet seine ersten Belege in der Frühen Neuzeit im Sinne von „Staatserklärung“ (z. B. „Kriegserklärung“). In einem ebenso politisch-militärischen Sinne wird das Wort im 19. Jahrhundert benutzt und begegnet den Lesenden in bedeutenden politischen Erklärungen wie dem Manifest der Kommunistischen Partei (1847/1848) von Marx und Engels. Erst bei den Vertretern der historischen Avantgarde fungiert der Terminus als Bezeichnung einer Erklärung künstlerischer Prinzipien. Seit Anfang des 20. Jahrhunderts bedienen sich auch Vertreter der historischen

Avantgarde-Bewegungen dieser Textgattung, was zu einem Paradigmenwech10 Ebd., S. XVII und XXV–XXVI.

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sel führt: Seither wird unter Manifest kaum mehr eine Staatserklärung, sondern die Erklärung einer gesellschaftlichen Initiative oder das Programm einer

künstlerischen Gruppierung verstanden. – Das Manifest ist ein zumeist kur-

zer Text, gedacht für die Verbreitung durch schnelle Kommunikationsmittel und die Veröffentlichung in der Tagespresse, als Broschüre, Flugblatt, Plakat

oder im mündlichen Vortrag. Dieser performative Charakter des Manifestes

zeigt sich durch die Manifest-Praxis verschiedener Avantgarde-Bewegungen, die in der Regel ein Manifest zur Ausrufung und Begründung ihres jeweiligen „Ismus“ einsetzen.11

Wie beim Terminus „Avantgarde“ (aus dem Französischen für „Vorhut“), der sich aus dem militärischen Sprachgebrauch ableitet,12 besitzt auch die Bezeichnung „Manifest“ – wie man aus der Begriffsgeschichte herleiten kann – einen aktivistischen bzw. eminent politischen Aspekt, der im Prozess der Verwandlung zur avantgardistischen Textgattung nicht ganz verloren geht. Nach Hubert van den Berg ist es gerade der politischen Herkunft der Textsorte geschuldet, dass dem literarischen Manifest der Avantgarde ein herrschaftlicher Charakter zugesprochen wird: „In der Tat […] ist das Manifest sui generis eine autoritäre Form, ein Medium der uneingeschränkten Macht, zugleich ein letztes Wort,

11 Jarillot Rodal, Cristina: Manifest [Art.], in: van den Berg, Hubert/Fähnders, Walter (Hg.): Metzler Lexikon Avantgarde, Stuttgart 2009, S. 202–203, hier S. 202, Sp. 2. Zur Begriffsgeschichte der Bezeichnung „Manifest“ siehe auch Fähnders, Walter: „Vielleicht ein Manifest“. Zur Entwicklung des avantgardistischen Manifestes, in: Asholt, Wolfgang/Ders. (Hg.): „Die ganze Welt ist eine Manifestation“. Die europäische Avantgarde und ihre Manifeste, Darmstadt 1997, S. 18–38, insbes. S. 19–22; van den Berg, Hubert/Grüttemeier, Ralf: Interpretation, Funktionalität, Strategie. Versuch einer intentionalen Bestimmung des Manifestes, in: Dies. (Hg.): Manifeste: Intentionalität, Amsterdam–Atlanta 1998, S. 7–38, insbes. S. 18–29. Die Bestimmung der Gattung Manifest bleibt auf jeden Fall eine offene Frage, wie auch die Definitionsunsicherheit der Form als „Genre“, „Gattung“, „Textsorte“ usw. demonstriert. Außerdem heißen nicht alle Texte mit Manifestcharakter unbedingt „Manifest“ sowie nicht alle mit dem Wort „Manifest“ betitelten Texte auch gleich Manifestcharakter aufweisen. 12 Vgl. Böhringer, Hannes: Avantgarde – Geschichte einer Metapher, in: Archiv für Begriffsgeschichte 22 (1978), S. 90–114.

Das Publikum der avantgardistischen Manifeste

bevor die Waffen aufgenommen werden, also eine Textsorte, die eine Widerrede tendenziell ausschließt.“13 Der Erfolg des Manifest-Genres findet jedenfalls seinen Grund in der ex­ tremen Flexibilität der Form, die historisch – wie angedeutet – im 20. Jahrhundert in ihren Inhalten und Absichten neu festgelegt wird: ein meist kurzer Text, der im Klein- oder Großformat – als Flugblatt oder Plakat – gedruckt und verbreitet werden kann, der durch die typographische Gestaltung kommunikative Funktionen der visuellen Künste bzw. der Werbung übernimmt und als orale Literatur die Möglichkeit der Theaterkunst nutzt. Mit seinem plurimedialen Potenzial kann die neue Form die Kommunikationsschwäche des traditionellen Kunstwerkes, das seine ‚Botschaft‘ nicht mehr zu vermitteln weiß, wettmachen. Pragmatisch kennzeichnet sich das Manifest „durch Postulieren, Proklamieren, die Verkündung von Vorstellungen, die Vermittlung von Autorintentionen, den Transport von Intentionsäußerungen, die öffentliche Darlegung programmatischer Zielsetzungen“.14 Der Aktionismus, den das Manifest innehat, spiegelt unmittelbar die Bedeutung der Gegenwart für die avantgardistischen Künstler, mit anderen Worten den „Présentismus“15 der künstlerischen Performance, wider.

13 van den Berg, Hubert: Zwischen Totalitarismus und Subversion. Anmerkungen zur politischen Dimension des avantgardistischen Manifests, in: Asholt/Fähnders: Die ganze Welt, S. 58–80, hier S. 66. Vgl. auch Fähnders, Walter: Projekt Avantgarde und avantgardistischer Manifestantismus, in Asholt, Wolfgang/Ders. (Hg.): Der Blick vom Wolkenkratzer. Avantgarde – Avantgardekritik – Avantgardeforschung, Amsterdam–Atlanta 2000, S. 69–98, insbes. S. 75: „Die Gattungsgeschichte zeigt: Wenn die Avantgarde einen massiven, quasi ‚herrscherlichen‘ Führungsanspruch anmeldet, so ist gerade dieses der Grund, weshalb sie sich dem Manifest zuwendet. […] Das herrschaftliche Manifest als Staatsakt findet sich wieder als Form künstlerischer und über das künstlerische hinausweisende Programmatik der Avantgarde mit ihrem universalistischen Anspruch auf Neugestaltung der Welt.“ 14 van den Berg, Hubert: Das Manifest – Eine Gattung? Zur historiographischen Problematik einer deskriptiven Hilfskonstruktion, in: van den Berg/Grüttemeier: Manifeste, S. 193–225, hier S. 199. 15 Vgl. Hausmann, Raoul: PRÉsentismus. Gegen den Puffkeismus der teutschen Seele (1921), in Asholt/Fähnders: Manifeste und Proklamationen, S. 231–232.

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Es soll der Presse und dem Publikum durch unser Auftreten gezeigt werden, das es Persönlichkeiten gibt, die die Sache der „jüngsten“ Literatur auch im Kriege weiterführen. Diese jüngste Literatur hat eine ganz bewußte Tendenz.

Diese Tendenz: Expressionismus, Buntheit, Abenteuerlichkeit, Futurismus,

Aktivität, Dummheit (gegen die Intellektualität, gegen die Bebuquins, gegen die gänzlich Arroganten). […] Wir haben es nur mit dem „Heute“ zu tun.16

Tatsächlich realisierte sich das ästhetische Innovationspotenzial des italienischen Futurismus in Deutschland nicht so sehr in dem ungefähr zeitgleichen Expressionismus als vielmehr in der etwas späteren deutschsprachigen DadaBewegung. Vor allem im Dadaismus wird die Funktion des Publikums im ästhetischen Prozess neu bestimmt. Das Manifest wird für die Dadaisten das Hauptinstrument des Willens, der ihre ästhetische Theorie und ihre künstlerischen Projekte animierte, die Welt zu verändern. Im erwünschten Verwandlungsprozess der gegenwärtigen Welt ist die konkrete Involvierung des Publikums unentbehrlich und eindringlich zugleich, nach dem Prinzip: „Wir wollen alles selbst schaffen, – unsere neue Welt!“17 Denn die ‚Ismen‘ der Avantgarde – 16 Ball, Hugo/Huelsenbeck, Richard: Ein literarisches Manifest (1915), ebd., S. 96. Über die Besessenheit für die Gegenwart äußert sich Franz Pfemfert – Herausgeber der expressionistischen Zeitschrift Die Aktion – in seinem unter Pseudonym (als August Stech) veröffentlichten ironischen Text Aufruf zum Manifestantismus (1913). Mit folgenden Worten kritisiert er das übermäßige Aufkommen von Manifesten: „Ich betrete mit diesem Aufruf die sogenannte Arena der öffentlichen Meinung. Teils aus Ärger, einem Gefühl höchster Ordnung, teils aus dem niedrigen Beweggrunde des Patriotismus. Weil die romanischen Völker, Italien und Frankreich, jetzt einen neuen Ruhm zu erwerben unterwegs sind, durch die epochemachende Bewegung des Futurismus. Eine Bewegung, die, die Manifeste als Vehikel und Luftschiffe als Programm benutzend, leicht ein paar Männer verführen könnte, uns einen Präsentismus zu präsentieren, indem sie übersehen, das die konservative Gesinnung, die den temporären Zustand einer Entwicklung für programmatisch hält, von der futuristischen Präsidialtute genau so präsentiert wird, wie sonstwo. […] Daß unsere Gegenwart etwas Berauschendes ist, wissen wir schon lange. Erst Herr Marinetti wurde so besoffen davon, daß er nicht mehr imstande war, sich in einem Museum aufzuhalten“, in: ebd., S. 63–65, hier S. 63–64. 17 Hausmann, Raoul: Pamphlet gegen die Weimarische Lebensauffassung (1919), ebd., S. 171– 172, hier S. 172.

Das Publikum der avantgardistischen Manifeste

dies erkannte selbst Franz Pfempfert – waren eine „panische Besitzergreifung der Welt durch einen Gedanken“.18 Der dadaistische Aktionismus betraf das Publikum sogar körperlich, er konnte – mit dem für Dada unverkennbaren ironischen Ton ausgedruckt – auch gesundheitliche Schäden verursachen: Edle und respektierte Bürger Zürichs, Studenten, Handwerker, Arbeiter, Vaga-

bunden, Ziellose aller Länder, vereinigt euch. Im Namen des Cabaret Voltaire

und meines Freundes Hugo Ball, dem Gründer und Leiter dieses hochgelehrten Institutes, habe ich heute Abend eine Erklärung abzugeben, die Sie erschüt-

tern wird. Ich hoffe, daß Ihnen kein körperliches Unheil widerfahren wird, aber was wir Ihnen jetzt zu sagen haben, wird Sie wie eine Kugel treffen. Wir

haben beschlossen, unsere mannigfaltigen Aktivitäten unter dem Namen Dada

zusammenzufassen. Wir fanden Dada, wir sind Dada, und wir haben Dada.19

Solche Appelle, die häufig die dadaistischen Manifeste eröffnen, zeigen, dass Dada keine Grenzen mehr zwischen Künstler und Publikum setzt und dass die Kunst weder individuell produziert noch individuell rezipiert wird. Die dadaistische Performance, in dem sich möglichst alle Kunstformen vereinigen, ist eine kollektive Aktion – wie man auch nur an den Pronomina im Plural in vielen Manifesten erkennen kann. Um auf Peter Bürger zurückzukommen: Es ist kein Zufall, dass sowohl Tzaras Anweisung zur Herstellung eines dada-

istischen Gedichts als auch Bretons Anleitung zum Verfassen automatischer 18 Ebd., S. 64. Über die Besonderheiten des dadaistischen Manifestes vgl. Backes-Haase, Alfons: „Wir wollen triezen, stänkern, bluffen …“. Dada-Manifestantismus zwischen Zürich und Berlin, in Asholt/Fähnders: Die ganze Welt, S. 256–274; Ders.: Kunst und Wirklichkeit. Zur Typologie des Dada-Manifests, Frankfurt a. M. 1992. Als Quellensammlung zum Dada siehe auch Riha, Karl/Schäfer Jörg (Hg.): Dada total. Manifeste, Aktionen, Texte, Bilder, Stuttgart 1994. 19 Huelsenbeck, Richard: Erklärung. Vorgetragen im „Cabaret Voltaire“, im Frühjahr 1916, in: Asholt/Fähnders: Manifeste und Proklamationen, S 117. Ähnlich auch in: Ders.: Dadarede, gehalten in der Galerie Neumann, Berlin, Kurfürstendamm, am 18. Februar 1918, ebd., S. 139 f.

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Texte Rezeptcharakter haben. Darin steckt einmal eine Polemik gegen das

individuelle Schöpfertum des Künstlers, zum anderen aber ist das Rezept ganz wörtlich zu nehmen als Hinweis auf eine mögliche Aktivität des Rezipienten. 20

Die Selbstproduktion von Texten, die ‚jedermann‘ zusammenbasteln kann, bedeutet allerdings nicht so sehr Produktion von Kunst, sondern eher Teilnahme an dem von der dadaistischen Kunst- und Lebensauffassung inspirierten Projekt der Weltveränderung: „Manifeste wollen meist die Schwere der Erde aufheben, oder den Kopf einer Schraube für den Zentralpunkt des Kosmos ausgeben – trotzdem aber für die Ewigkeit in der Einbildung der Menschen gemacht erscheinen.“21

3. „het publiek fait DADA“: Manifeste und Dada-Merz-Aktionen Die dadaistische Bewegung war im deutschsprachigen Raum keine bloße Entwicklung des Expressionismus, sie hatte auch keinen direkten Bezug zum ebenso revolutionären italienischen Futurismus, der bald zur Fahne der Kriegsbegeisterung wurde, während Dada sich in Zürich explizit als antimilitaristische Richtung durchsetzte. Eine Revolution  – nicht nur bei dem politisierten Club Dada in Berlin – hatte aber auch Dada mit seiner Lachkultur im Sinne.22 Der Verweigerungsgestus des Dadaismus richtete sich gegen die gegenwärtige – jedoch als ‚alt‘ beurteilte – Kultur und Politik und gegen die bürgerliche Gesellschaft sowie gegen alle institutionalisierten ‚Ismen‘. Auch Erklärungen wie „Dada ist mehr als Dada!“ (Raoul Hausmann) oder „Dada ist unsere Inten-

20 Bürger: Theorie der Avantgarde, S. 72. 21 Hausmann, Raoul: Texte bis 1933, Bd. 2: Sieg, Triumph, Tabak mit Bohnen, München 1982, S. 32. 22 Vgl. z. B. Ball: Eröffnungsmanifest, S. 121: „Dada Weltkrieg und kein Ende, Dada Revolution und kein Anfang“ oder Huelsenbeck: Dadarede, S. 140: „Es lebe die dadaistische Revolution“.

Das Publikum der avantgardistischen Manifeste

sität“ (­Tristan ­Tzara)23 verweisen auf einen Protestgehalt einer in die Potenz erhobenen Bewegung, die gegen alles ist und sehr viel für sich – für die Kunst und für die Welt – verspricht. Die Kunstrichtung ist außerdem international konnotiert, mehrsprachig und vielbedeutend wie ihre Marke, das Wort „dada“: „Dada – dies ist ein Wort, das die Ideen hetzt.“24 Der Dadaismus treibt auch das Experimentieren mit der Form des Manifestes in die Extreme. „Dada bedeutet nichts“ – schreibt Tzara – Dada negiert sich selbst und somit auch die Hauptform ihres Ausdrucks: „Ich schreibe ein Manifest und will nichts, trotzdem sage ich gewisse Dinge und bin aus Prinzip gegen Manifeste, wie ich auch gegen die Prinzipien bin.“25 Aber auch wenn Dadaisten ‚Anti-Manifeste‘ verfassen und dadurch ihre eigenen ästhetischen Ziele artikulieren, schlagen sie alternative Verhältnisse zwischen Künstler und Gesellschaft vor. Avantgardistische Künstleraktionen beanspruchen nicht mehr die Vermittlung von Sinn, vielmehr scheinen sie Unsinn zu stiften, sie spielen mit Wortmaterial und mit tradierten Regeln der Literatur und der Rhetorik, um tatsächlich dem Kommunikationsverfahren neue Wege zu eröffnen. Die angestrebte Aufhebung zwischen Kunst und konkreter Alltäglichkeit gelingt den Dadaisten insbesondere in der Theatralisierung der Kunstaktion, in der auch vorgetragene Manifeste performativ inszeniert werden.26

23 Hausmann, Raoul: Texte bis 1933, Bd. 1: Bilanz der Feierlichkeit, München 1982, S. 166– 171 und Tzara, Tristan: Manifest des Herrn Antipyrine, in Asholt/Fähnders: Manifeste und Proklamationen, S. 122. 24 Tzara, Tristan: Manifest Dada 1918, ebd., S. 149–155, hier S. 150. 25 Ebd. Ähnlich auch im Dadaistische[n] Manifest (1918), unterschrieben von Tristan Tzara, Franz Jung, Georg Grosz u. a., in: ebd., S. 145–147, insbes. S. 147: „Gegen dies Manifest sein, heißt Dadaist sein!“. 26 Vgl. Wagner, Birgit: Auslöschen, vernichten, gründen, schaffen: zu den performativen Funktionen der Manifeste, in: Asholt/Fähnders: Die ganze Welt, S. 39–57, insbes. S. 47: „Sofern Manifeste im Rahmen von Gruppenaktionen einem Publikum vorgetragen wurden – was bei weitem nicht für alle Manifeste zutrifft, aber insgesamt doch wohl konstitutiv für die erfolgreichsten historischen Avantgardebewegungen war –, sind sie Teil einer theatralischen Kommunikationssituation, die durch die physische Kopräsenz von Sprechern und Hörern gekennzeichnet ist.“

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Die dadaistischen Soireen, Revuen und Varietés setzten sich die direkte Intervention des Publikums zum Ziel mit den Mitteln der Theatralität. Der traditionelle Zuschauer, der im bürgerlichen Theater einer dargestellten Handlung bloß ‚zu-schauen‘ konnte, wird zum ‚Akteur‘ der performativen künstlerischen Tat. Rituelle Situationen des alltäglichen bürgerlichen Lebens werden in der dadaistischen Aktion evoziert, um gesellschaftliche Konventionen durch die Intervention des Publikums selbst zu dekonstruieren. Die Theatralität der Dada-Events, die meist als Schauplatz die Orte des bürgerlichen Lebens wählten, war der geeignetste Weg, jene Distanz zwischen Künstler und Lebenspraxis zu überwinden. Eine durch Theatralität erschaffene aktive Rezeptionshaltung des Publikums war überdies Voraussetzung für jenes Projekt des Gesamtkunstwerkes, das viele Avantgardisten als Form der erwünschten Überschreitung aller Gattungsgrenzen und als höchsten Ausdruck der Intermedialität verstanden. So schreibt z. B. Kurt Schwitters in seinem nicht mit dem Wort „Manifest“ betitelten, jedoch Manifestcharakter aufweisenden Text An alle Bühnen der Welt (1919): Ich fordere die Merzbühne. Ich fordere die restlose Zusammenfassung aller künstlerischen Kräfte zur Erlangung des Gesamtkunstwerkes. Ich fordere die

prinzipielle Gleichberechtigung aller Materialien, Gleichberechtigung zwi-

schen Vollmenschen, Idiot, pfeifendem Drahtnetz und Gedankenpumpe. […]

Menschen selbst können auch verwendet werden. Menschen selbst können auf

Kulissen gebunden werden. Menschen selbst können auch aktiv auftreten, sogar in ihrer alltäglichen Lage, zweibeinig sprechen, sogar in vernünftigen Sätzen. 27

27 Schwitters, Kurt: An alle Bühnen der Welt, in: Ders.: Das literarische Werk, Bd. 5, hg. von Friedhelm Lach, München 2005, S. 39–41, hier S. 39 und S. 41. Über die Manifeste von Kurt Schwitters siehe Fähnders, Walter/Karrenbrock, Helga: „Ich sage nämlich das Gegenteil, aber nicht immer“. Die Avantgarde-Manifeste von Kurt Schwitters, in: van den Berg/Grüttemeier: Manifeste, S. 57–90 und Fähnders, Walter: „Ich fordere sofortige Beseitigung aller Überstände“. Kurt Schwitters und das avantgardistische Manifestantismus, in: Delabar, Walter/Kocher, Ursula/Schulz, Isabel (Hg.): Transgression und Intermedialität. Die Texte von Kurt Schwitters, Bielefeld 2016, S. 33–47.

Das Publikum der avantgardistischen Manifeste

In dem Jahrfünft um 1920 produziert die europäische Avantgarde eine Fülle von Manifesten wie nie zuvor, 28 mittlerweile löscht sich allmählich auch die Flamme des Dadas. Im deutschsprachigen Raum gehören der österreichische, in Berlin tätige Künstler Raoul Hausmann und der Hannoveraner Merz-­Künstler Kurt Schwitters auch nach dem Absterben der dadaistischen Bewegung zu den wenigen, die ihre Kunst-Aktionen in den Jahren danach konsequent weiterverfolgen. Raoul Hausmann und Kurt Schwitters waren befreundet, sie lernten sich im Berliner „Café des Westens“ zwischen 1918 und 1919 kennen. Von reger Kreativität waren sie beide vielseitig begabte Künstler. Hausmann war Schriftsteller, Maler, Fotograph, Philosoph und Tänzer, er ist vor allem für seine Fotomontagen und Lautgedichte bekannt, befasste sich gleichwohl mit Film und mit künstlerischen Anwendungen der exakten Wissenschaften. Schwitters war ebenso visueller Künstler und Dichter, beruflich als Typograph und Werbegestalter tätig; im Universum seiner plurimedialen Merz-Kunst stellte er u. a. eine Bühnentheorie auf, dachte zuweilen an eine Reform des Sprach- und Zahlensystems. Von Anfang an ist die Freundschaft zwischen Hausmann und Schwitters vom gegenseitigen künstlerischen Austausch gekennzeichnet. Ein Höhepunkt in ihrer Zusammenarbeit stellt die gemeinsame Reise nach Prag im Jahr 1921 dar. In der tschechischen Hauptstadt soll am 6. September des Jahres ein „Antidada-Merz-Präsentismus“-Abend stattfinden. Die Collagistin Hannah Höch und Schwitters’ Frau Helma fahren mit, und aus der Feder von Hannah Höch bekommen wir einen Bericht über den eindrucksvollen Abend, an dem die Konkurrenzstimmung zwischen beiden Künstlern auf das Publikum mitreißend wirkte. Die „Gesellschaft“ bestand aus zwei Männern: Hausmann und Schwitters. Wir

Frauen waren zwar dabei, traten aber nicht auf. Dieser Abend erhielt einen

besonderen Elan durch eine etwas bösartige Konkurrenzstimmung, die zwi-

schen den beiden Akteuren ausgebrochen war und die dahin führte, dass sich die beiden in der Lautstärke immer mehr zu überbieten trachteten. 28 Vgl. Asholt/Fähnders: Manifeste und Proklamationen, S. 195.

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Ich sah mit grösster Sorge, wie die Halsadern bei den Simultangedichten vor allem zu reissen drohten. Dem Publikum gefiel das ausserordentlich, es spürte die Echtheit der Wut der Kampfhähne und feuerte an.29

Ein noch bedeutenderes Zeugnis vom Aktionismus der Dada-Veranstaltungen stellt die Dada-Tournee durch die Niederlände dar, die Schwitters Anfang 1923 zusammen mit Theo und Nelly van Doesburg und Vilmos Huszár unternahm.30 Theo van Doesburg, Mitbegründer der De Stijl-Gruppe, begann zwischen 1919 und 1920 in der gleichnamigen von ihm herausgegebenen Zeitschrift dadaistische Texte zu veröffentlichen. Auch Vilmos Huszár zählte zu der bedeutenden Künstlergruppe um die Zeitschrift. Aus jenen und weiteren dadaistischen Texten, vor allem aus Manifesten, wurde während der Abende vorgetragen. Von Anfang an war die Absicht klar, das Publikum zu provozieren und in die Performance zu involvieren: Wir eröffneten in den Haag. Doesburg las ein sehr gutes dadaistisches Pro-

gramm, in dem er sagte, der Dadaist würde etwas Unerwartetes tun. In dem Augenblick stand ich inmitten des Publikums auf und bellte laut. Einige Leute

29 Höch, Hannah: Interview mit dem SFB (Berlin 1960), unveröffentlicht, Archiv der Berlinischen Galerie, Landesmuseum für Moderne Kunst, Fotografie und Architektur, Stiftung öffentlichen Rechts, Künstlerarchiv. Die Reise nach Prag stellt einen der entscheidendsten Momente in der Beziehung zwischen beiden Künstlern dar, denn an dem Abend trägt Hausmann jene Lautgedichte vor, die später Schwitters bei der Komposition seiner Ur­ sonate inspirieren werden. Die Frage der Urheberschaft der Ursonate wird eine jahrelange Auseinandersetzung zwischen beiden Dichtern auslösen. Über die künstlerische Zusammenarbeit zwischen Schwitters und Hausmann vgl. Disanto, Giulia A.: Der Merzkünstler und der Dadasoph: Die kreative Zusammenarbeit zwischen Kurt Schwitters und Raoul Hausmann, in: Grucza, Franciszek (Hg.): Vielheit und Einheit der Germanistik weltweit, Bd. 13, Frankfurt a. M. u. a. 2012, S. 315–320. 30 Die Tournee begann am 10. Januar 1923 in Den Haag und endete mit einem Dada-Abend von Kurt Schwitters am 13. April desselben Jahres in Drachten. Raoul Hausmann, der ursprünglich im Projekt miteinbezogen wurde, nahm nicht mehr teil. Für eine genaue Rekonstruktion der Tournee vgl. Wulff, Antje: Holland Dada, in Schwitters, Kurt: Alle Texte, hg. von Ursula Kocher und Isabel Schulz, Bd. 4: Die Reihe Merz. 1923–1932, Berlin–­Boston 2019, S. 817–835.

Das Publikum der avantgardistischen Manifeste

fielen in Ohnmacht und wurden hinausgetragen, und die Zeitungen berichteten, Dada bedeute Bellen.31

Die Rolle von Kurt Schwitters war jene, die Vorträge von van Doesburg mit Geschrei von ‚Urlauten‘ zu unterbrechen. Es folgte ein musikalisches Intermezzo von Pétro (alias Nelly) van Doesburg aus Tre marcie per le bestie des italienischen Musikers Vittorio Rieti, dann trat Schwitters mit dem eindrucksvollen Vortrag seiner Texte auf die Bühne: Ursachen und Beginn der großen glorreichen Revolution in Revon sowie Gedichte aus dem Anna Blume-Zyklus und Gedichte in Urlauten. Die Veranstaltung endete mit den Schattenspielen von Vilmos Huszár.32 Während der etwa zweimonatigen Tournee arbeitete Schwitters an den ersten zwei Heften seiner Zeitschrift Merz, die den Erlebnissen in den Niederlanden Rechnung tragen. In Dadaismus in Holland heißt es: Unser Erscheinen in Holland glich einem gewaltigen Siegeszug. Ganz Holland ist jetzt dada, weil es immer schon dada war.

Unser Publikum fühlt, daß es DADA ist und glaubt, dada kreischen, dada

schreien, dada lispeln, dada singen, dada heulen, dada schelten zu müssen. Kaum hat jemand von uns, die wir in Holland Träger der dadaistischen Bewegung sind, das Podium betreten, so erwachen im Publikum die verschlafenen

dadaistischen Instinkte, und es empfängt uns ein dadaistisches Heulen und Zähneklappen.33

31 Schwitters, Kurt: Brief an Raoul Hausmann vom 14.11.1946, in: Ders.: Wir spielen, bis uns der Tod abholt. Briefe aus fünf Jahrzehnten, hg. von Ernst Nündel, Frankfurt a. M.– Berlin–Wien 1974, S. 247–248. Siehe auch: Bokhove, Niels/van Gend, Mark (Hg.): Utrecht Dada, Utrecht 2013. 32 Vgl. Wulff, Antje: Holland Dada, S. 825–827. Über die Schattenspiele siehe S. 827: „Den letzten Programmteil der Veranstaltung übernahm anschließend Huszár mit einem abstrakten Schattenspiel: Auf ein weißes Tuch wurde eine farbig ausgeleuchtete mechanische ‚Tanzfigur‘ projiziert, die durch Tasten gesteuert werden konnte und deren Bewegungen ‚einen simultaneistisch-mechanischen Tanz‘ vollführten […]“. 33 Schwitters, Kurt: Dadaismus in Holland, in: Merz 1: Holland Dada, Hannover 1923, S. 3 (abgedruckt in Schwitters: Alle Texte. Bd. 4, S. 12).

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In den Berichten von Schwitters bildet insbesondere der Abend in Utrecht die Kulmination der Tournee, gerade weil die erwartete Wirkung auf das Publikum nicht nur erreicht, sondern auch übertroffen wurde. Es war ein gewaltiger Moment in Utrecht, als plötzlich das Publikum aufhörte, Publikum zu sein. Eine Bewegung wie Würmer durchwogte den Leichnam des

verschiedenen Publikums. Auf die Bühne (het toneel) [dt.: ‚die Bühne‘] kamen Würmer gekrochen. Ein Mann mit Zylinderhut und Gehrock verlas ein Mani-

fest. Ein gewaltiger alter Lorbeerkranz vom Friedhofe, verrostet und verwittert, wurde für dada gespendet. Eine ganze Groentenhandlung [dt.: ‚Gemüseladen‘]

etablierte sich op het toneel [dt.: ‚auf der Bühne‘]. Wir konnten uns eine Ziga-

rette anzünden und zusehen, wie unser Publikum statt unser arbeitete. Es war ein erhabener Augenblick. Unser Beweis war komplett.34

„Het publiek fait DADA“35 [dt.: ‚das Publikum macht DADA‘] heißt es bei Schwitters. Im engeren Sinne waren die Künstler der Dada-Tournee keine Dadaisten, selbst Schwitters grenzte sich als Merz-Künstler vom Zentralrat des Dadaismus, dem er nie angehörte, ab. An den Abenden lebte aber der Geist von Dada, der sich in der Umkehrung der Rollen von Künstler und Publikum während der allumfassenden Performance realisierte. Viel ist über das Scheitern von Dada  – der letzten Endes zum ‚Ismus‘ wurde –, geschrieben worden, sowie über das Misslingen der historischen

34 Schwitters, Kurt: DADA COMPLET, in: Merz 1, S. 7–8 (Alle Texte. Bd. 4, S. 16–17). Ähnlich der Bericht von Schwitters im schon zitierten Brief an Hausmann, Schwitters: Briefe, S. 248: „In Utrecht kamen sie auf die Bühne, beschenkten mich mit einem Strauss vertrockneter Blumen uns blutiger Knochen und fingen an, an unserer Stelle zu lesen. Aber Doesburg schmiss sich in das Orchester, wo sonst die Musik sitzt, und das ganze Publikum machte dada, es war, als wenn der dadaistische Geist auf Hunderte von Leuten überging, die plötzlich bemerkten, dass sie menschliche Wesen sind. Nelly steckte eine Cigarette an und rief ins Publikum, da das Publikum ganz dadaistisch geworden sei, wollten wir jetzt das Publikum sein.“ 35 Schwitters: DADA COMPLET, in: Merz 1, S. 4 (Alle Texte. Bd. 4, S. 12).

Das Publikum der avantgardistischen Manifeste

Avantgarde insgesamt, z. B. was ihren Anspruch auf Veränderungen der so genannten Außenwelt angeht.36 Die historische Avantgarde, insbesondere die dadaistische Bewegung, stellte in jedem Fall den Gipfelpunkt bei den Experimenten mit künstlerischen Ausdrucksformen aller Art dar. Wie das Beispiel der Theatralisierung von der Textgattung ‚Manifest‘ während der Dada-Merz-Veranstaltungen veranschaulicht, legt sie auch den Grundstein zu einer neuen Rezeptionsästhetik. Stellt man sich den Abend in Utrecht vor, dann hat man vor Augen, dass die spätere Innovation von Bertolt Brecht, einem der wichtigsten Erneuer der Rezeptionsästhetik der Weimarer Jahre, nicht von ungefähr kommt.

36 Interessant dazu der Ansatz von Mann, Paul: The Theory-Death of the Avant-Garde, Indianapolis 1991.

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Jura Soyfer und sein Publikum Hermann Dorowin

Jura Soyfers kurze, aber intensive literarische Lauf bahn ist geprägt von überschäumender Kreativität und Experimentierfreude, politischer Ungeduld, sozialer und psychologischer Beobachtungsgabe und einem sensiblen, poetischen, oft witzig-ironischen Umgang mit der Sprache. Seine Texte, von den satirischen Zeitgedichten über die journalistische und erzählende Prosa bis hin zu den meisterhaften Kabarett- und Theaterstücken, reflektieren die sich überstürzenden Zeitereignisse der frühen 1930er Jahre. 1912 als Sohn einer jüdischen Industriellenfamilie in der Ukraine geboren und als Achtjähriger mit den Eltern in der österreichischen Hauptstadt ansässig geworden, nimmt Soyfer in den späten 1920er Jahren bereits als engagierter junger Intellektueller aktiv am kulturellen Leben des „Roten Wien“ teil.1 Mit Witz und Polemik reagiert er auf den Vormarsch der „autoritären“ Rechten, deren endgültigen Sieg im Februar 1934 er in dem großartigen, Fragment gebliebenen historischen Roman So starb eine Partei verarbeiten wird. Zuvor aber berichtet er als Reporter der Arbeiter-Zeitung aus Deutschland am Vorabend der Machtergreifung Hitlers, in der er sofort eine tödliche Bedrohung auch für Österreich und für ganz Europa erkennt. Unter den veränderten Bedingungen der Dollfuß- bzw. Schuschnigg-Diktatur veröffentlicht Soyfer nunmehr unter Pseudonym seine sozial- und kulturkritischen Artikel und versucht, nach dem Verlust der ihm vertrauten, wohlorganisierten sozialistischen Öffentlichkeit, auf anderem Wege ein ihm kongeniales Publikum zu erreichen. Dass ihm die Aufführung seiner, als Volkstheater konzipierten „Mittelstücke“ ausgerechnet vor dem bürgerlich-intellektuellen Publikum der vom Regime geduldeten klei1

Zur Biographie des Autors vgl. Jarka, Horst: Jura Soyfer. Leben, Werk, Zeit, Wien 1987.

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nen Kaffeehaus-­Kellertheater gelang, betrachtete der Autor selbst als Ironie des Schicksals. Denn gerade über die soziale Zusammensetzung des Theaterpublikums hatte Soyfer wiederholt – auch in theoretisch-programmatischen Schriften – reflektiert, und es fiel ihm schwer, von seinem Zuschauerideal – dem bildungshungrigen, kritisch denkenden, klassenbewussten Proletarier – Abschied zu nehmen. Im Lauf weniger Jahre wandelt sich die Adressatenfunktion unter dem Druck der Ereignisse radikal; doch Soyfer verarbeitet diesen erzwungenen Wandel produktiv, macht ihn zum Motor ästhetischer Innovation. Im kulturellen Leben des Austromarxismus, in dessen Rahmen Jura Soyfer heranwuchs, spielte die Diskussion um die politisch-ideologische Funktion der Literatur und insbesondere des Theaters eine zentrale Rolle.2 Unter dem Eindruck der sowjetischen Revolutionsdramaturgie Meyerholds und Jewreinows sowie der Berliner Aufführungen Erwin Piscators wurden auch in Wien Arbeiter-Massenschauspiele veranstaltet, die bei der Eröffnung des Prater-Stadions (1931) oder bei der proletarischen Maifeier (1932) ihre Höhepunkte erreichten.3 Dass diese, dem monumentalen, heroischen Massenkult verpflichteten Spektakel ungewollt eine barocke Wiener Theatertradition unter veränderten Bedingungen wiederaufnahmen, hat Ulf Birbaumer ironisch festgestellt.4 De facto schien die machtvolle, von der Sozialdemokratie gewollte Ostentation sich bereits in einem gefährlichen Kontrast zu den realen Machtverhältnissen

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Zum Themenkomplex vgl. Pfoser, Alfred: Literatur und Austromarxismus, Wien 1980; Maimann, Helene (Hg.): Mit uns zieht die neue Zeit. Arbeiterkultur in Österreich 1918– 1934, Wien 1981. Zum sowjetischen Massentheater vgl. Melchinger, Siegfried: Geschichte des politischen Theaters, Frankfurt a. M., 1974, Bd. 2, S. 162, zu Piscator ebd., S. 189 ff., und Brauneck, Manfred: Theater im 20. Jahrhundert. Programmschriften, Stilperioden, Reformmodelle, Reinbek bei Hamburg 1986, S. 264 ff.; zu den Wiener Massenveranstaltungen vgl. Birbaumer, Ulf: Linke Theatertheorie und Aufführungspraxis. Jura Soyfer zwischen Agitation und Katakombe, in: Haider-Pregler, Hilde/Reiterer, Beate (Hg.): Verspielte Zeit. Österreichisches Theater der dreißiger Jahre, Wien 1996, S. 201–214. Ebd., S. 205.

Jura Soyfer und sein Publikum

zu befinden.5 Jura Soyfer konnte sich für derlei homogene Massen, in denen der kritisch reflektierende Einzelne unterging, nicht begeistern; dazu war er zu sehr dem aufklärerischen Prinzip der Mündigkeit des Individuums, also auch des Zuschauers, verpflichtet. Viel eher konnte er sich mit Brechts, dialektisch die Intelligenz des Publikums herausfordernden, mit Witz und Ironie operierenden Stücken anfreunden, wie aus seinen wiederholten Anleihen bei der Drei­ groschenoper, insbesondere beim Brecht-Weill’schen Songtypus, deutlich wird. Auch Vladimir Majakowskis dramatischer Stil, der dem Publikum z. B. das Recht einräumte, in das offene, prozesshaft angelegte Mysterium buffo verändernd einzugreifen, und der mit volkstümlich-grotesken Elementen arbeitete,6 übte einen starken Einfluss auf Soyfers Theater aus. Majakowskis im feindseligen stalinistischen Klima gereifter Entschluss zum Selbstmord im Jahre 1930 musste dem vom Kommunismus faszinierten radikalen Sozialisten Jura Soyfer gewiss zu denken geben.7 Seine ersten Erfahrungen als „Theaterschriftsteller“ machte der 17-Jährige als Mitarbeiter des Politischen Kabaretts der Partei, das unter der Leitung von Robert Ehrenzweig seit 1926 aktiv war und auf äußerst witzige und originelle Weise den politischen Gegner attackierte.8 In der Wahl der dramaturgischen Modelle unterschied sich dieses Kabarett sehr deutlich von vergleichbaren deutschen Unternehmungen: Ehrenzweig und seine Mitarbeiter bedienten sich einerseits des Modells Karl Kraus, dessen Letzte Tage der Menschheit mit ihrer bitteren, gesellschaftskritischen Satire und raffinierten Sprachkritik geradezu ausgeplündert wurden,9 andererseits der Wiener Volkstheater-Tradition, insbesondere der Possen Johann N. Nestroys. Zauberdramaturgie, Zeitreisen, 5 6 7 8 9

Zum Missverhältnis zwischen Ostentation und realer Macht der SDAPÖ vgl. Langmann, Peter: Sozialismus und Literatur. Jura Soyfer. Studien zu einem österreichischen Schriftsteller der Zwischenkriegszeit, Frankfurt a. M. 1986, S. 175. Melchinger: Geschichte des politischen Theaters, S. 155 ff. Ebd., S. 166. Über Soyfers Haltung zur UdSSR vgl. Jarka: Jura Soyfer, S. 189. Zum Folgenden vgl. Doll, Jürgen: Volkstheater gegen Rechts. Zur Erneuerung des AltWiener Volksstücks durch das Politische Kabarett (1926–1933), in: Haider-Pregler/Reiterer: Verspielte Zeit, S. 215–232. Ebd., S. 217.

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Traumallegorien und possenhafte, groteske Alltagssituationen aus der lokalen Theatertradition wurden respektlos hergenommen, miteinander vermengt und auf die aktuelle politische Situation umgemünzt. Oft artete die über­mütige Komik dieser Adaptionen und Parodien in reinen Nonsense aus. Pianistische Begleitung, eine Jazz-Kapelle, ja sogar eine Girls-Tanzgruppe belebten die Veranstaltungen, die sich jedoch durch die politische Tendenz klar vom ‚bürgerlichen‘ Variété abhoben. Als Jura Soyfer 1929 erstmals bei einem dieser Kabarettabende mitwirkte, hatte die Gruppe also schon eine beachtliche Erfolgsgeschichte vorzuweisen. In der Szenenfolge Hallo, hier Klassenharmo­ nie werden die Versuche der unternehmerfreundlichen sogenannten „gelben Gewerkschaften“, die Arbeiterschaft an sich zu ziehen, ad absurdum geführt. Hirnschal macht Weltgeschichte hingegen war der Titel einer Revue, in der ein versoffener Spießer sich zur Weltmacht emporarbeitet – eine groteske Karikatur der Putschabsichten der antidemokratischen Rechten, die sich freilich ein Jahr später beim misslungenen Staatsstreich des steirischen Heimwehr-­Führers Walter Pfrimer auf gespenstische Weise zu verwirklichen drohten. Ein anderer Kabarettabend, an dem Soyfer sich beteiligte, hatte den Titel MM1 oder Der Triumph der Technik. Hier wurden, statt tagespolitischer Themen, die Widersprüche des Fortschritts und der modernen Technik in der Form einer Antiutopie auf die Bühne gebracht, Menschheitsfragen, wie Soyfer sie einige Jahre später in seinem Mittelstück Der Lechner Edi schaut ins Paradies wieder aufgreifen und vertieft behandeln sollte. Im Rahmen dieser kabarettistischen Tätigkeit machte sich Soyfer einerseits mit den Mechanismen der Satire, andererseits mit offenen, metatheatralischen, ‚episierenden‘ Techniken vertraut, die ja schon in der Wiener Komödientradition vorhanden waren – die Auftrittslieder, das Ins-Publikum-Sprechen und Kommentieren der Aktion von Seiten der populären Figur usw. – und deren Nähe zu Brechts Dramatik er bald erkennen sollte. Schon vor der Aufnahme des Germanistik-Studiums an der Universität Wien erarbeitete er sich hier eine vertiefte Kenntnis von Kraus, Nestroy, Raimund, Hašek und zugleich einen lockeren, respektlosen Umgang mit diesen Modellen. Freilich setzte sich das Publikum des Politischen Kabaretts aus Parteimitgliedern zusammen, mit deren Grundkonsens die Autoren rechnen konnten. In Bezug auf politische,

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soziale und ästhetische Fragen bestand das, was Jürgen Doll eine „Homologie der Werte“ nennt.10 Und auch ästhetisch gesehen, wusste man ziemlich genau, was von dem Publikum als komisch, grotesk oder ernst, bedrohlich oder erleichternd empfunden wurde, worüber man spotten durfte und worüber nicht. Derlei Veranstaltungen setzten ein vergleichsweise entspanntes Klima in der Partei voraus, ein Gefühl der Stärke und Unantastbarkeit, das im Lauf weniger Jahre verloren gehen musste. Die Folgen der Weltwirtschaftskrise erreichten Anfang der 1930er Jahre auch Österreich, die Zahl der Arbeitslosen stieg rasant und mit ihr die Orientierungslosigkeit vor allem der Jugend, deren ‚Verzweiflung‘ Soyfer in einem eindrucksvollen kurzen Text beschreibt.11 Auf seiner Reise durch die krisengeschüttelte, von ökonomischer und sozialer Depression bedrückte Weimarer Republik, die im Sommer 1932 durch den unaufhaltsamen Aufstieg des Nationalsozialismus gekennzeichnet war, wird sich der junge Reporter der unmittelbaren Bedrohung der Demokratie in Deutschland, aber auch in Österreich und anderen Ländern bewusst.12 Zumal die Anziehungskraft, die von der brutalen und schlauen Demagogie der Nazis auf die proletarische Jugend ausgeübt wurde, und der die allzu vorsichtig agierende Sozialdemokratie wenig entgegenzusetzen hatte, beschäftigt ihn fortan, wie aus den Gedichten aus der Zeit nach seiner Rückkehr deutlich wird. So handeln viele der zwischen Februar und Oktober 1933 verfassten und in der illustrierten Zeitschrift Kuckuck veröffentlichten Bild-und-Wort-Satiren von der Verführbarkeit der deutschen Jugend und von der düsteren Zukunft, die sich dem Lande auftat: „Deutschland, Deutschland, du rufst ‚Heil!‘/Weißt du auch warum?/…/ Sie machten dich dumm, sie machten dich blind/Sie logen dir ins Gesicht./ Du ließest sie siegen. Die Knechtschaft beginnt.//Blutige Jahre werden verge10 Doll, Jürgen: Theater im Roten Wien. Vom sozialdemokratischen Agitprop zum dialektischen Theater Jura Soyfers, Wien–Köln–Weimar 1997, S. 106. 11 Verzweiflung der Jugend, in: Soyfer, Jura: Das Gesamtwerk, hg. von Horst Jarka, Wien– München–Zürich 1980, S. 277 f. 12 Vgl. hierzu die Reportagen aus Deutschland, in: Soyfer: Das Gesamtwerk, S. 254–276, sowie die gleichzeitig verfassten Briefe, in: Soyfer, Jura: Sturmzeit. Briefe 1931–1939, hg. von Horst Jarka, Wien 1991, S. 34–72.

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hen,/dann wirst du alles verstehen.“13 In denselben Wochen und Monaten, in denen Hitler sein Terror-Regime errichtet, wird die parlamentarische Demokratie auch in Österreich drastisch in Frage gestellt und es beginnt ein Prozess der „korporativen“ Umwandlung des Landes, die mit der Proklamation des „autoritären Ständestaates“, einer von Mussolini inspirierten Diktatur, im Mai 1934 zum Abschluss kommt. Unter diesen dramatischen Bedingungen sucht Jura Soyfer nach einer theoretischen Basis für eine neu zu definierende Theaterarbeit. 1932, etwa zwei Jahre vor dem Inkrafttreten der Zensur, verfasst der jetzt 19-jährige Autor und Aktivist zwei programmatische Schriften, in denen er über das Verhältnis von Theater und Publikum, Kunst und Propaganda reflektiert. Beide Texte sind noch stark von der sowjetischen bzw. deutschen Debatte beeinflusst14 und versuchen, daraus brauchbare Modelle für die Arbeit der Wiener Sozialistischen Veranstaltungsgruppe abzuleiten. Die im März, also vor der Deutschland-Reise, verfasste kurze Schrift mit dem Titel Politisches Theater 15 geht von der These aus, die Bühne könne gar nicht unpolitisch sein, solange es einen Klassenkampf gebe. Das Bürgertum, das sich einst für Lessings Freiheitskämpfe und Schillers in tyrannos begeisterte, bevorzuge jetzt ein harmloses Vergnügungstheater, mit dessen Hilfe es das proletarische Publikum in „spießbürgerliche konservative Sehnsüchte“16 einlulle und von seinem Befreiungskampf ablenke. Gegen dieses, die Hirne umnebelnde Theater setzt der Autor das „Agitationstheater“, welches vor allem zwei Formen annehmen könne: „Die Kleinbühne leiht uns ihre sati-

13 Bild-und-Wort-Satiren, in: Soyfer: Das Gesamtwerk, S. 179. 14 Als mögliche Quellen nennt Jürgen Doll Erwin Piscators Politisches Theater (1929) und die auf Piscator basierende Schrift von Robert Ehrenzweig Agitationstheater (1929) sowie die von Franz Rosenfeld in der Arbeiter-Zeitung geführte Polemik gegen kommerziellen „Kitsch und Schund“. Vgl. Doll, Jürgen: „Das Publikum erforschen und verändern“ – Anmerkungen zu den theatertheoretischen und theaterkritischen Schriften Jura Soyfers, in: Arlt, Herbert/Kaiser, Konstantin/Scheit, Gerhard (Hg.): Die Welt des Jura Soyfer. 1. Internationales Soyfer-Symposion, Wien, 5.–6. Dezember 1989, Wien 1991, S. 129–139, hier S. 129–132. 15 Politisches Theater, in: Soyfer: Das Gesamtwerk, S. 464 f. 16 Ebd., S. 464.

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rische Kraft, das Massentheater sein wuchtiges Pathos.“17 Soyfer sichert also, trotz der äußerst dogmatischen Grundannahmen, der Komik und dem Kabarett ihren Platz neben dem Massentheater Meyerhold’scher oder Piscator’scher Prägung zu und behauptet auch, neben der Propagandafunktion, einen möglichen Kunstanspruch: „Wir dienen nicht der Kunst, sondern der Propaganda. Mag sein, daß unsere Gesinnung, unsere ethische Kraft uns manchmal künstlerischem Schaffen nahe bringt.“18 Diese ganz auf ein proletarisches Publikum abzielenden Reflexionen werden in der Schrift Die Tendenzbühne und ihr Publikum vom Dezember desselben Jahres zwar prinzipiell beibehalten, aber differenzierter, offener und produktiver diskutiert. Soyfer räumt jetzt die Möglichkeit wertvoller klassischer und moderner Bühnenpraxis ein, die sich allerdings an eine immer dünner werdende kunstsinnige Schicht wende. Auf die Versuchungen eines geistlosen Vergnügungsbetriebs für das Volk, auf die „Herrschaft der rosaroten Operette“19 antwortet der Autor hingegen mit dem Programm einer Tendenzbühne, die ihr Publikum genau erforschen müsse, um es „über die Dauer der Aufführung hinaus politisch zu beeinflussen“.20 Bezeichnend ist die Wir-Form, mit der Soyfer die Aufgabe ‚seiner‘ Theatergruppe umreißt: Doch wie sehen wir als Marxisten das Publikum! Für uns ist nicht die ästhetische Wertung, sondern die klassenmäßige Gliederung des Publikums entschei-

dend. Unser Ziel ist es nicht, für irgendein nebelhaftes, „kunstsinniges“, „schön-

geistiges“ Publikum zu spielen; wir kennen die leibhaftigen Menschen, die wir in unseren Theatersaal hineinbekommen wollen: es sind die Proletarier.21

Genau differenziert Soyfer die kulturellen Bedürfnisse der städtischen und ländlichen Arbeiter, der Arbeitslosen und Kleinpächter, der Arbeiterfrau sowie

17 Ebd., S. 465. 18 Ebd. 19 Die Tendenzbühne und ihr Publikum, in: Soyfer: Das Gesamtwerk, S. 466–468, hier S. 467. 20 Ebd. 21 Ebd., S. 466.

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ihrer „klerikal stärker verwirrten Klassengenossin vom Lande“.22 Um dieses Publikum zu erreichen, es nicht nur politisch zu agitieren, sondern geistig zu erziehen, bedürfe es keiner tristen „proletarischen Dramen“, 23 sondern eines Theaters, das den Wünschen und Bedürfnissen der arbeitenden Menschen entgegenkomme: Können und dürfen wir dem Proletariat, der unterdrückten, freudlosen Klasse, die im Theater Zerstreuung und Buntheit, Humor und Bewegung sucht, dieses Vergnügen rauben? Gewiß nicht!24

Wolle die Tendenzbühne dem Publikum wirksam näher rücken, so müsse sie es nicht als passiven Rezipienten der Belehrung und Indoktrinierung, sondern als eine „mit ihrem Theater in fortwährender Wechselwirkung stehende Schicht“ erfassen. Nur durch eine solche „dialektische Betrachtung des Publi­ kums“25 könne auch die Hoffnung bestehen, die Propaganda allmählich zur hohen Kunst zu steigern. An diesem Text beeindruckt sowohl die genaue, soziologische Betrachtung des Publikums, als auch die aufklärerische, typisch austromarxistische Zuversicht, das Proletariat durch einen geistigen Bildungsprozess zum aktiven Träger seiner eigenen Emanzipation zu machen. Darüber hinaus enthält er ein klares Bekenntnis zur Bedeutung von Komik und Satire, „Humor“ und „Vergnügen“, 26 und erhebt zugleich indirekt einen ‚hohen‘ Kunstanspruch für die Tendenzbühne. Welche Art von Komik Soyfer im Sinn hat, lässt sich aufgrund der vorangegangenen Kabaretterfahrung leicht erahnen, und seine spätere Produktion wird es bestätigen. Er denkt sicher an die Farcen Nestroys und die Zauberspiele Raimunds und an das, was sonst dem sozial heterogenen, das Proletariat und seine historischen Vorformen miteinschließenden Wiener Vor-

22 Ebd., S. 467. 23 Ebd. 24 Ebd. 25 Ebd., S. 468. 26 Ebd., S. 467.

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stadtpublikum spontan gefiel. Manche der hier angedeuteten Gedanken wird Soyfer in späteren Texten weiter ausführen; doch ließen die Zeitereignisse es vorerst nicht zu, diese Programmatik in Theaterpraxis umzusetzen. Was dem Autor in der kurzen Zeitspanne bis zum Februar 1934 – und den damit verbundenen Versammlungsverboten und Zensurkontrollen – auf dem Gebiet des Theaters gelang, das waren seine Beiträge zum Agitprop der Roten Spieler, der sich vor allem an ein jugendliches sozialistisches A ­ rbeiterbzw. Arbeitslosenpublikum wandte, um es gegen die faschistische Propaganda ebenso zu wappnen wie gegen die Einflüsterungen der kapitalistischen Vergnügungsindustrie. An derlei „Agitationstheater“ beteiligte sich Soyfer im Jahr der nationalsozialistischen Machtergreifung aktiv und steuerte zwei politisch-­ allegorisch gehaltene Szenen bei: Christbaum der Menschheit,27 wo die Weihnachtsfeier einer Bürger- und einer Arbeitslosenfamilie einander auf einer Doppelbühne gegenübergestellt werden, und König 1933 ist tot – es lebe König 1934,28 eine „Rote-Spieler-Szene für eine Silvesterfeier“, in der das Kapital, die Gesellschaftsordnung, der Faschismus jeweils in personifizierter Form auftreten und ihre Perspektive zum Jahreswechsel zynisch und heuchlerisch kundtun. Das Publikum wird in beiden Stücken zum Schluss in Form eines Chores aktiv einbezogen, wobei in der Silvesterfeier zunächst „einer aus dem Publikum“29 auf die Bühne springt und das Wort ergreift, allerdings in gereimten Versen, sodass kein wirklicher Eindruck von Spontaneität entsteht: „Und wir, liebes/Neujahr, in kommenden Tagen,/Werden gründlich Sorge tragen,/Deine Berater davonzujagen!“.30 In einzelnen Passagen dieser „Proletarischen Feiern“ lassen sich Soyfers Witz und sprachliche Kreativität erahnen, ebenso wie der von Karl Kraus, Johann Nestroy und Bertolt Brecht ausgehende Einfluss. Insgesamt überwiegt jedoch in diesen Szenen eine politische Propagandafunktion, deren Dringlichkeit durch die Ereignisse des Jahres 1933 in Deutschland und 27 Christbaum der Menschheit. Eine proletarische Weihnachtsfeier, in: Soyfer: Das Gesamtwerk, S. 501–507. 28 König 1933 ist tot – Es lebe König 1934. Rote-Spieler-Szene für eine Silvesterfeier, in: Soyfer: Das Gesamtwerk, S. 508–516. 29 Ebd., S. 516. 30 Ebd.

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in Österreich gerechtfertigt erscheint, die aber Soyfers künstlerischen Möglichkeiten in keiner Weise gerecht wird. Anderthalb Monate nach der zitierten Silvesterfeier besiegelt die gewaltsame Niederschlagung des Arbeiteraufstandes vom 12. Februar das Ende der glorreichen SDAPÖ, deren Anführer sich ins Exil nach Brünn retten, ohne den kampfeswilligen jungen Parteimitgliedern einen Ausweg aus der Katastrophe weisen zu können. Wie viele seiner Freunde beschließt Jura Soyfer, der auf den Ernstfall einer Diktatur besser vorbereiteten kleinen KPÖ beizutreten, und wird so Aktivist des illegalen Widerstands. Er nimmt an konspirativen Treffen teil, erarbeitet und verbreitet antifaschistisches Propagandamaterial, hat aber zugleich ein bedeutendes literarisches Projekt in Arbeit: einen zeitgeschichtlichen Roman über das tragische, weitgehend auch selbstverschuldete Ende der Sozialdemokratie in Österreich. Das umfangreiche Fragment So starb eine Partei31 ist eine erstaunlich ausgewogene, polyperspektivisch angelegte, von sozialer und psychologischer Empathie, aber auch von satirischer Distanzierung gekennzeichnete Darstellung der historischen Ereignisse, die für Soyfer selbst die Funktion der Aufarbeitung eines Traumas erfüllt. Als „mein hartbedrängtes Jahr“32 bezeichnet der junge Autor in einem Gedicht das Jahr 1934, in dem er politisch und persönlich – durch den Verlust „seiner“ Partei und die Trennung von seiner Verlobten Marika Szecsi – eine schwere Krise durchläuft, aus der er aber menschlich und künstlerisch ungemein gereift hervorgeht. Betrachtet man Soyfers Produktion nach 1934, so wird man, neben der konstant hohen stilistischen Qualität der Texte, auch eine ideologische Neupositionierung und, damit verbunden, eine neue Definition seines Ziel-­Publikums erkennen. In den unter Pseudonym verfassten journalistischen Arbeiten der folgenden Jahre 33 spricht Soyfer von den sozialen Problemen einer Bevölkerung, die nicht mehr kurzerhand mit dem Proletariat identifiziert, sondern weiter und offener gefasst wird. Aus diesem neuen, klassenübergreifenden Begriff des 31 So starb eine Partei, in: Soyfer: Das Gesamtwerk, S. 324–451. 32 An Helli zum Abschied, in: Soyfer, Jura: Sturmzeit, S. 83. 33 Diese Artikel erschienen zwischen 1935 und 1937 vor allem in der Sonntagsbeilage der Zeitung Wiener Tag, vgl. Soyfer: Das Gesamtwerk, S. 279 ff. und 453 ff.

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‚Volkes‘ wird der Autor implizit auch eine veränderte, nicht mehr von der Partei garantierte, Adressatenfunktion ableiten. Hinzu kommt noch eine weitere Veränderung: Soyfer spricht jetzt wiederholt von „österreichischem Theater“ und „österreichischer Kultur“ – Termini, die im Austromarxismus unüblich waren und mit einem konservativen, vielleicht sogar legitimistischen Patriotismus in Verbindung gebracht wurden.34 Angesichts der Bedrohung des Landes von Seiten des Dritten Reichs besannen sich jedoch viele, nicht nur jüdische, Intellektuelle auf die Notwendigkeit, den Begriff einer „österreichischen Nation“ bzw. einer österreichischen Kultur und eines ihr zugehörigen literarischen Kanons zu definieren und gegen die deutsche Vereinnahmung abzugrenzen. Dass gerade die Kommunisten an der Stärkung eines Österreich-Bewusstseins interessiert waren, hatte natürlich auch geopolitische Gründe, so wie die Ausrichtung der Propaganda auf die gesamte Bevölkerung des Landes der seit 1934 betriebenen, antifaschistischen „Volksfront“-Politik der Komintern entsprach. Jura Soyfers spontane Tendenz zur sozialen und ideologischen Öffnung wurde also – heute müssen wir sagen: paradoxerweise 35 – von kommunistischer Seite durchaus gefördert. Was nun den sozialen Blick des Autors betrifft, so kann die Reportage über den Wiener Naschmarkt ein gutes Beispiel abgeben.36 Soyfer lädt seine Leser – Maler, Bildhauer, Nationalökonomen, Greißler, Gärtner usw. – ein, das Spektakel der frühmorgendlichen Öffnung des Marktes mitzuerleben, um all die 34 Über österreichische Kultur hatten Autoren wie Hugo von Hofmannsthal und Leopold von Andrian schon während des Ersten Weltkriegs geschrieben. Im Ständestaat wurde dann eine staatserhaltende Österreich-Ideologie entwickelt, die mit autoritären politischen Prinzipien verbunden war, während kommunistische Intellektuelle wie Alfred Klahr und Ernst Fischer eine spezifisch österreichische demokratische Tradition zu rekonstruieren versuchten. Zur Debatte um die österreichische Nation, in der auch Joseph Roth eine wichtige Rolle spielte, vgl. die grundlegende Studie von Friedrich Heer: Der Kampf um die österreichische Identität. 2. Aufl., Wien–Köln–Weimar 1996. 35 Die antisozialdemokratische „Sozialfaschismus“-Theorie, die die Spaltung der Arbeiter­ bewegung vertieft hatte, war gerade überwunden und der Hitler-Stalin-Pakt stand noch ins Haus. Viele antifaschistische Widerstandskämpfer aus den Reihen der kommunistischen Parteien wurden später selbst Opfer stalinistischer Verfolgung. 36 Naschmarkt, 2 Uhr Früh, in: Soyfer: Das Gesamtwerk, S. 282 ff.

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verschiedenen Menschentypen, ihre Tätigkeiten, Bedürfnisse und Angewohnheiten zu beobachten, die berufsbedingt ihr Interesse erwecken sollten. Mit heiterem, physiognomischem Blick beschreibt er nun einem hypothetischen Bildhauer die „Vielfalt von Ruhe und Bewegung“37 in diesem Menschengewühl: Die hingekauerten Körper, und die unter der Kistenlast verzerrt dahinschwankenden; die feilschenden Hände und die, die lockend ein Häuflein Erbsen zur

Prüfung darbieten; diese Bäuerin, die vor Beginn des Marktes noch schnell vor dem Heiligenbild zu einem Gebet hinkniet (…) die müden, mißtrauischen

Minen beamteter Marktkontrollore; die kühnen Kondottiere-Köpfe, die Sie auf den Schultern mancher reicher Gemüsegroßhändler vorfinden werden …38

Soyfer empfiehlt dann dem Nationalökonomen, sich in dieses Menschengewühl zu begeben und sich den Marktbericht ausnahmsweise einmal mündlich in einem der Volkscafés der Wienzeile geben zu lassen. „Er wird viel weniger exakt sein, aber lebendiger. Und reicher an Anregungen für Ihren nächsten Artikel über die Besiegung der Wirtschaftskrise …“39 ,Lebendigkeit‘ ist ein Begriff, der in Soyfers Schriften immer mehr an Bedeutung gewinnt, auch wenn er vom Theater spricht. In seinen Berichten über Aufführungen von verschiedenster Qualität – vom französischen AvantgardeStück in einem ärmlichen Studio-Theater, über die unfreiwillige Komik einer Stegreif-Aufführung im Wiener Arbeiterbezirk Erdberg bis zu der zauberhaft naiven Darbietung von Mozarts Figaro in einem Volksbildungshaus40 – hebt der Autor immer jenes Element von authentischer Liebe zum Theater hervor, welches dem Perfektionismus und der Routine der berühmten, wohldotierten Staatstheater die Waage zu halten vermag. „Wer füllt die Reihen?“41, fragt er sich im Volksbildungsheim Stöbergasse, und liefert wieder eine soziologische

37 Ebd., S. 282. 38 Ebd., S. 284. 39 Ebd. 40 Eine öffentliche Generalprobe zu Figaros Hochzeit, in: Soyfer: Das Gesamtwerk, S. 479 ff. 41 Ebd., S. 479.

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Publikumsanalyse. Soyfer beobachtet Hausfrauen, ältere Menschen in ihren besten Kleidern, offenbar kleine Pensionisten, vor allem aber Arbeitslose aller Alter und Kategorien. Dass Mozart diesen kleinen Leuten gehört, daran hat Soyfer keinen Zweifel, nur fragt er sich, „ob sie schon verstehen, dass er ihnen gehört“.42 Angesichts der Begeisterung dieses Vorstadt-Publikums, das durch die schlichte Aufführung „ergriffen und erhoben“ wurde, ist sein Fazit entschieden positiv: „Mozart ist schon besser interpretiert worden. Doch die Aufnahme, die er fand, hat ihn reichlich entlohnt.“43 Unschwer lassen sich aus Soyfers Berichten und Rezensionen implizit die Überlegungen über seine eigenen Adressaten herauslesen. Neben den Arbeitslosen und Pensionisten des Volksheims werden auch die wenigen intellektuellen Zuschauer einer Studiobühne erwähnt, wo ein eher deprimierendes, avantgardistisches Stück von Armand Salacrou aufgeführt wird.44 „Warum“, fragt der Autor, „suchen sich die Studios kein anderes Publikum, als das eine, an das sie sich seit soundso viel Jahren vergeblich wenden?“45 Diese Frage ist weniger rhetorisch, als man meinen könnte; denn Soyfer ist selbst verzweifelt auf der Suche nach einem nicht elitären Publikum, so wie es sich zur Zeit der Sozialistischen Veranstaltungsgruppe herausgebildet hatte, zu dem die Diktatur ihm jedoch den Zugang verwehrte. Denn – dies sei hier nachgeholt – seit Mai 1935 hatte Soyfer wieder eine Theatertätigkeit aufgenommen, und zwar mit Kabarettszenen, die in den vom Regime gerade noch geduldeten Kaffeehauskellern aufgeführt wurden, in denen laut Gesetz maximal 49 Personen Platz nehmen durften. Das Milieu einiger – nicht aller46 – dieser kleinen Kellertheater war geprägt von regimekritischen, oft jüdischen Intellektuellen sowie Flüchtlingen aus Deutschland, mit denen Soyfer bald Freundschaft schloss. In enger 42 Ebd. 43 Ebd., S. 480. 44 Die Unbekannte von Arras. Avantgardistisches Theater im Hagenbund, in: Soyfer: Das Gesamtwerk, S. 473–476. 45 Ebd., S. 476. 46 Vgl. Mayer, Ulrike: Theater für 49 in Wien 1934 bis 1938, in: Haider-Pregler/Reiterer: Verspielte Zeit, S. 138–146; Rösler, Walter: Aspekte der Wiener Kleinkunst 1931 bis 1938, ebd., S. 233–247.

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Zusammenarbeit mit Regisseuren, Musikern, Bühnenbildnern, Schauspielern und anderen Schriftstellern wird Soyfer im Lauf weniger Jahre seine berühmten „Mittelstücke“ verfassen, die neben dem Romanfragment den Kern seines Werkes bilden.47 Es ist hier nicht der Ort, diese meisterhaften und komplexen, allegorischsatirischen, urkomischen und zugleich poetisch inspirierten Stücke zu analysieren, in denen Soyfer die brennendsten Themen seiner Zeit – Faschismus, Kolonialismus und Kriegstreiberei, Arbeitslosigkeit, Verzweiflung der Jugend u. v. a. – mit sicherer Hand und erstaunlicher Originalität auf die Bühne brachte.48 Es gehört zu den nicht seltenen paradoxen Situationen im Leben dieses Autors, dass diese für ein klassenübergreifendes, populäres Publikum konzipierten Stücke vor 49 Intellektuellen aufgeführt wurden, die Soyfer bald persönlich kannte, sodass der Satz aus der Schrift von 1932 – „wir kennen die leibhaftigen Menschen, die wir in unseren Theatersaal hineinbekommen wollen“49 – nicht mehr auf die damit gemeinten Proletarier, sondern auf Exponenten jener „dünnen Schicht des kunstsinnigen Publikums“ Anwendung fand, von der er damals nichts wissen wollte, die aber jetzt für ihn beinahe zu einer neuen Familie wurde. 47 „Mittelstücke“, d. h. Stücke von mittlerer Länge, die zwischen Bestellpause und Kassierpause in den Cafés aufgeführt wurden, waren Der Weltuntergang, Der Lechner Edi schaut ins Paradies, Astoria und Vineta; abendfüllend hingegen war die auf einer Vorlage von Walter Hasenclever und Kurt Tucholsky basierende Revue Broadway-Melodie 1492. 48 Aus der umfangreichen Bibliographie zu Soyfers Mittelstücken seien, neben den einschlägigen Kapiteln in den Monographien von Horst Jarka (1987) und Jürgen Doll (1997), nur erwähnt: Scheit, Gerhard: Theater und revolutionärer Humanismus. Eine Studie zu Jura Soyfer, Wien 1988, S. 40 ff.; Cambi, Fabrizio: „Das komische Erbe des Volkstheaters in der Dramatik Jura Soyfers“, in: Arlt, Herbert/Cambi, Fabrizio (Hg.): Lachen und Jura Soyfer, St. Ingbert 1995, S. 216–227; Schininà, Alessandra: Komik in der Ästhetik Jura Soyfers. Elemente des Kabaretts und des Volksstücks im Werk des Dichters, in: ebd., S. 107–122; Bürger-Koftis, Michaela: Elemente des Grotesken und Absurden in den Dramen von Jura Soyfer, in: ebd., S. 176–189; Dorowin, Hermann: Jura Soyfer und das Wiener Volkstheater, in: Cercignani, Fausto/Bürger-Koftis, Michaela (Hg.): „Sprach-Wunder“. Il contributo ebraico alla letteratura austriaca, Milano 2003 (= Sondernummer der Zeitschrift „Studia austriaca“), S. 95–112. 49 Die Tendenzbühne und ihr Publikum, in: Soyfer: Das Gesamtwerk, S. 466–468, hier S. 466.

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In diesen „Mittelstücken“ hatte Soyfer Gelegenheit, mit den verschiedensten dramatischen Techniken zu experimentieren, Elemente von Piscators Bühnentechnik mit Kraus’scher Sprachsatire, Brecht’sche Songs mit Wienerliedern, populären Schlagern und Couplets à la Nestroy zusammenzubringen, ohne dass der unverkennbare poetische Tonfall des Autors dabei verloren ginge. Vor allem das Nestroy’sche Modell eines intelligenten, satirischen Volkstheaters ist als Inspirationsquelle allenthalben zu erkennen. Proletarische bzw. volkstümliche Protagonisten – der Lechner Edi, Hupka und Pistoletti u. a. – erfüllen in einigen dieser Texte die von der Wiener Tradition des ‚Besserungsstücks‘ herkommende Rolle der Identifikationsfigur, die mit all ihren Charakterfehlern und Irrtümern, auch ideologischen Verirrungen, und den daraus resultierenden Erfahrungen die Handlung bis zu einem mehr oder weniger glaubwürdigen happy end vorantreiben. Das Sprechen im Dialekt, die lächerlichen Verstiegenheiten des Bildungsjargons, das ständige Spielen mit der Sprache, aber auch Situations-, Verkleidungs- und Verwechslungskomik sind Elemente, die Soyfer zwar bei verschiedenen Autoren, vor allem aber bei Nestroy vorfand. Was er an diesem Vorläufer am liebsten imitiert hätte, das war ihm allerdings unerreichbar: dessen lebendiger Kontakt zu einem populären Vorstadtpublikum. Der Aufsatz, den Jura Soyfer 1937 zum 75. Todestag Nestroys verfasste, macht diese Wahlverwandtschaft über ein Jahrhundert hinweg greifbar.50 Nestroy wird als „springlebendiger Toter“ von „hinreißender Aktualität und Volkstümlichkeit“51 bezeichnet, als Erneuerer einer langen Komödientradition, die er zugleich seiner realistischen Sicht der Gesellschaft gemäß überwunden habe. Das Volk der Bauern, Handwerker, Diener wollte nicht mehr den Hanswurst auf der Bühne sehen; denn es „wollte nicht mehr der Hanswurst sein. (…) Nestroy war es letzten Endes, der für das Wiener Volk und aus diesem Volk das Theater schöpfte, welches es nunmehr brauchte. Er war ein durch und durch moderner Mensch“.52 Soyfer idealisiert die Figur dieses Theatergenies durch-

50 Vom lebendigen Nestroy. Zum 75. Todestag, in: Soyfer: Das Gesamtwerk, S. 469–473. 51 Ebd., S. 469. 52 Ebd., S. 470.

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aus nicht. Er spricht von seiner „fanatischen Bissigkeit“, 53 von seinen ideologischen Schwankungen nach 1848, bewundert aber vor allem sein Verhältnis zum Publikum. Dass Soyfer ein analoges Verhältnis auch 100 Jahre nach dem Lumpazivagabundus möglich und erstrebenswert erscheint, wird aus folgender Passage deutlich: Also haben sie ihn doch offenbar gern und sind ihm ein dankbares Publikum. Ob sie selbst noch leben? Gewiß leben sie noch und denken nicht daran, auszusterben, die kleinen Kaufleute, die Handwerker, die Lohnarbeiter der äußeren Wiener Bezirke! 54

Gezielt stellt Soyfer hier neben die ihm vertrauten „Lohnarbeiter“ auch die Kaufleute und Handwerker, die wohl eher dem „Kleinbürgertum“ zugerechnet wurden als dem Proletariat. Er bekräftigt hiermit die Ausweitung des Spek­ trums sozialer Schichten, die auch er, wie einst Nestroy, ansprechen will. Und zugleich insistiert er auf der zweiten Neupositionierung, die wir seit 1934 in Soyfers Schriften beobachtet haben, wenn er von Nestroy sagt: „Sein Lebenswerk ist ein unverlierbares Erbgut österreichischer Kultur.“55 Mit dem Heranrücken der ‚Anschluss‘-Gefahr wird diese Betonung österreichischer Autonomie im kulturellen und politischen Sinn in Soyfers Schriften immer markanter. Besonders sein letzter Theatertext, die auf einer Vorlage von Hasenclever und Tucholsky basierende Revue Broadway-Melodie 1492, die wenige Wochen vor der deutschen Invasion über die Bühne ging, während Soyfer im Gefängnis saß, enthält einige Szenen, die zum Widerstand gegen eine Fremdherrschaft aufrufen, wobei Spanier und Indianer naturgemäß für Deutsche und Österreicher stehen. So wird etwa in der Tabaktrafik der Indianerin Belihualaschek heftig über die Frage der Kollaboration mit den Spaniern diskutiert. Die Trafikantin, die durch den Verkauf von Stempelmarken oppor-

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Ebd., S. 471. Ebd., S. 469. Ebd., S. 472.

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tunistisch ihren Beitrag zur Steuereintreibung der Conquistadores leistet, wird von der unbeugsamen Minehaha attackiert: BELIHUALASCHEK: Ich hab’s immer gesagt. Verstehen Sie jetzt, was die

Stempelmarken sind?

MINEHAHA: Opfer. Opfer für die Götter.

BELIHUALASCHEK: Richtig. Und ich als Trafikantin, was bin ich – die

Opferpriesterin!

MINEHAHA: Soo? Sie, Frau Belihualaschek? Dann sag ich Ihnen gleich:

Dann ist das keine Religion für mich!56

Derlei Aufrufe zum Widerstand erreichten freilich nur eine kleine Gruppe von Menschen – 49 pro Abend – von denen manche bald den Weg der Flucht ins Ausland finden sollten. Andere wiederum gingen der Gestapo ins Fangnetz und wurden nach Dachau oder in andere Konzentrationslager verschleppt. Unter diesen befand sich Jura Soyfer, der Erneuerer des Wiener Volkstheaters, der mit 26 Jahren in Buchenwald starb, der uns aber aufgrund seiner Texte auch heute noch „springlebendig“ erscheint.

56 Broadway-Melodie 1492, 15. Bild, in: Soyfer: Das Gesamtwerk, S. 704 f.

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