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German Pages 274 Year 2004
Schriften zum Strafrecht Heft 155
Das Prinzip des ne bis in idem im europäischen Strafrecht Von
Marco Mansdörfer
asdfghjk Duncker & Humblot · Berlin
MARCO MANSDÖRFER
Das Prinzip des ne bis in idem im europäischen Strafrecht
Schriften zum Strafrecht Heft 155
Das Prinzip des ne bis in idem im europäischen Strafrecht
Von
Marco Mansdörfer
asdfghjk Duncker & Humblot · Berlin
Die rechtswissenschaftliche Fakultät der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg hat diese Arbeit im Jahre 2003 als Dissertation angenommen.
Bibliografische Information Der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar.
Alle Rechte vorbehalten # 2004 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fremddatenübernahme und Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 0558-9126 ISBN 3-428-11486-8 Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier ∞ entsprechend ISO 9706 *
Internet: http://www.duncker-humblot.de
Meiner Familie
Vorwort Die Arbeit ist im Wintersemester 2003 / 04 von der Rechtswissenschaftlichen Fakultät der Universität Freiburg als Dissertation angenommen worden. Die schriftliche Arbeit wurde im Dezember 2002 abgeschlossen und für die Drucklegung hinsichtlich der Literatur, Rechtsprechung und Gesetzgebung auf den Stand Anfang 2004 gebracht. Mein Dank gilt zunächst meinem Doktorvater Herrn Prof. Dr. Wolfgang Frisch für die Betreuung der Arbeit sowie Herrn Prof. Dr. Walter Perron für die Erstellung des Zweitgutachtens. Ganz besonderer Dank gilt aber auch meinen (ehemaligen) Kollegen am Lehrstuhl, namentlich Herrn PD Dr. Uwe Murmann sowie Herrn Dr. Matthias Maurer, die mir ständig und unermüdlich als Diskussionspartner zur Verfügung gestanden haben. Freiburg, im Mai 2004
Marco Mansdörfer
Inhaltsverzeichnis A. Einführung und rechtstheoretische Grundlegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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I. Analyse der grundsätzlichen Lage des Betroffenen, der Rechtspraxis und der Rechtswissenschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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1. Bedeutung der Problematik für den Betroffenen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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a) Der Grundsatz des ne bis in idem als ein Mittel zur Sicherung des Anspruchs eines Individuums auf Entfaltung seiner Persönlichkeit . . .
17
b) Bestehende Verwirklichung des Grundsatzes des ne bis in idem als völkerrechtliches Prinzip? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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2. Die Relevanz der Thematik in der Rechtspraxis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
23
3. Die Problematik und ihre methodischen Unwägbarkeiten in der rechtswissenschaftlichen Diskussion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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a) Probleme einer prinzipiengeleiteten, wertungsjuristischen Herangehensweise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
25
b) Probleme einer Herangehensweise nach den Kriterien der „klassischen“ Auslegungslehre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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c) Konsequenzen für die vorliegende Untersuchung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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II. Entwicklung einer rechts- und normtheoretischen Grundkonzeption des Prinzips des ne bis in idem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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1. Der Grundsatz des ne bis in idem als Forderung systemorganisierter Freiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
32
2. Normlogische Ausgestaltung des Grundsatzes des ne bis in idem als Rechtsprinzip . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
40
a) Grundsätzlicher Gewährleistungsumfang und Konkretisierung des Tatbegriffs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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b) Eingriffe in den Gewährleistungsumfang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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c) Rechtfertigung von Eingriffen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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3. Exemplifizierung anhand ausgewählter Einzelfragen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
47
a) Ahndung eines tatsächlichen Verhaltens in verschiedenen Verfahren
47
b) Erfordernis einer richterlichen / rechtskraftfähigen Entscheidung? . . . .
48
c) Wiederaufnahme eines rechtskräftig abgeschlossenen Verfahrens . . . .
49
d) Internationales Strafrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
50
10
Inhaltsverzeichnis
B. Historische Wurzeln und aktuelle Ausgestaltung des Grundsatzes des ne bis in idem in Europa . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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I. Ursprünge des Prinzips des ne bis in idem im römischen und kanonischen Recht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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II. Die traditionellen, kontinentalen Rechtssysteme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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1. Deutschsprachiger Rechtsraum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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a) Deutschland – Eine deutlich verfassungsrechtlich geprägte Diskussion des Doppelbestrafungsverbots . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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b) Österreich – Das Doppelbestrafungsverbot im Verhältnis von Kriminal- zu Verwaltungsunrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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c) Schweiz – Das Doppelbestrafungsverbot in einem System mit stark föderalen Elementen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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2. Frankreich – Das Doppelbestrafungsverbot unter dem Einfluß des Code d’Instruction Criminelle von 1808 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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3. Beneluxstaaten – Der Ausbau des zwischenstaatlichen Doppelbestrafungsverbots als Folge enger wirtschaftlicher Verflechtung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
68
a) Belgien – Das Doppelbestrafungsverbot im Zusammenhang mit der Abkehr vom französischen Code d’Instruction von 1808 . . . . . . . . . . . . .
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b) Niederlande – Das Doppelbestrafungsverbot in einem sehr liberalen Strafrechtssystem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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c) Abkommen der Beneluxstaaten vom 29. April 1969 . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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4. Spanien – Das Verständnis des Doppelbestrafungsverbots als ungeschriebenes Verfassungsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
72
5. Italien – Unsicherheiten über die dogmatische Einordnung des Grundsatzes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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III. Skandinavien – Das zwischenstaatliche Doppelbestrafungsverbot im Bereich der lockeren Kooperationsform des Nordischen Bundes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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1. Schweden – Das Doppelbestrafungsverbot in einem zwischen den traditionellen Rechtssystemen vermittelnden Recht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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2. Dänemark – Das Doppelbestrafungsverbot in einem monistischen Strafrechtssystem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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IV. Das Common Law – Der Grundsatz des „double jeopardy“ und die Figur des „plea of autrefois convict“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
80
1. Historische Entwicklung des Doppelbestrafungsverbots im Common Law
80
2. Zur aktuellen Ausgestaltung des Verbots der Doppelbestrafung im Common Law . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Inhaltsverzeichnis
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V. Überblick über die Regelungen im europäischen Strafrecht im engeren Sinne
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1. Regelungen im Bereich des Europarates . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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2. Weitergehende Regelungen auf zwischenstaatlicher Ebene . . . . . . . . . . . . . . .
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3. Regelungen im Bereich der Europäischen Gemeinschaften / Europäischen Union . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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VI. Die groben Entwicklungslinien in einem rechtsvergleichenden Querschnitt . . .
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C. Systemintern wirkendes Prinzip des ne bis in idem im europäischen Strafrecht
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I. Umfassender Grundsatz des ne bis in idem aus den Vorschriften der EMRK in der Fassung vom 4. November 1950? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
99
1. Begründungsversuche aus Art. 3 und 6 EMRK . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 100 2. Kritik dieser Ansätze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 101 II. Verbot der Doppelbestrafung in Art. 4 des 7. Zusatzprotokolls zur EMRK . . . . 103 1. Grundsätzliche Bedeutung der Vorschrift . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 104 2. Inhaltlicher Umfang der Vorschrift . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 104 a) Einbahnig autonomes Verständnis des Begriffs der „strafbaren Handlung“ und des „Strafverfahrens“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 105 b) Inhaltsbestimmung des Begriffs der „Identität der Tat“ . . . . . . . . . . . . . . . 111 aa) Der Wandel in der Rechtsprechung des EGMR und die Resonanz in den betroffenen Ländern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 112 bb) Würdigung und Entwicklung eines eigenen funktionalen Begriffsverständnisses . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 115 c) Der Begriff des „rechtskräftigen“ Urteils und die Durchbrechung der Rechtskraft durch eine Wiederaufnahme des Verfahrens . . . . . . . . . . . . . . 119 d) Reichweitenbestimmung des Art. 4 7. ZPEMRK in den einzelnen Verfahrensstadien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 121 e) Keine systemübergreifende Wirkung von Art. 4 7. ZPEMRK . . . . . . . . . 126 3. Eingriff in den Gewährleistungsumfang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 126 4. Rechtfertigung der Schutzbereichsbegrenzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 127 a) Schutzbereichsbegrenzungen seitens der nationalen Legislative . . . . . . 128 b) Schutzbereichsbegrenzungen seitens der Exekutive und Judikative . . . 129 III. Abschließende Würdigung des Grundsatzes des ne bis in idem in der EMRK 133 D. Problematik eines zwischenstaatlich wirkenden Prinzips des ne bis in idem im europäischen Strafrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 135 I. Begründungsansatz und Begrenzung des Untersuchungsgegenstandes . . . . . . . . 135
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Inhaltsverzeichnis 1. Diskussion verschiedener Begründungsansätze für zwischenstaatlich wirkende Doppelbestrafungsverbote und methodische Schlußfolgerungen . . . 135 2. Begrenzung des Untersuchungsgegenstandes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 138 a) EMRK als geeigneter Untersuchungsgegenstand? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 139 b) Art. 54 ff. Schengener Durchführungsübereinkommen als Untersuchungsgegenstand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 141 II. Der Grundsatz des ne bis in idem im Schengener Durchführungsübereinkommen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 142 1. Grundlegendes Verständnis des Prinzips des ne bis in idem im SDÜ – insbesondere der Begriff der „rechtskräftigen Aburteilung“ . . . . . . . . . . . . . . . . . 143 a) Grundsätzlicher Anwendungsbereich des Art. 54 SDÜ nach dem Verständnis der Rechtsprechung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 143 aa) Auf einer gerichtlichen Hauptverhandlung beruhende Entscheidungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 144 bb) Außerhalb der Hauptverhandlung ergangene, kriminalstrafrechtliche Entscheidungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 144 cc) Administrativentscheidungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 146 dd) Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 148 b) Verständnis insbesondere des Begriffs der „rechtskräftigen Aburteilung“ gem. Art. 54 SDÜ in der Rechtswissenschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . 149 c) Kritik und Entwicklung eines systematisch – teleologischen Lösungsansatzes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 155 aa) Grundlegende Unterscheidung zwischen völkerrechtlichen und supranationalen Interpretationsansätzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 156 bb) Klassifizierung der Art. 54 ff. SDÜ als intergouvernementales Recht und horizontalintegrierender Interpretationsansatz . . . . . . . 157 cc) Ausformung dieses Ansatzes im normativen Rahmen der Art. 31, 34 EUV . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 160 dd) Kompetenzverteilungsprinzip als Idealzustand de lege ferenda? . 162 ee) Deutung der Art. 54 ff. SDÜ als Kombination von begrenztem Kompetenzverteilungsprinzip und herkömmlichem Strafanknüpfungsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 165 ff) Bedeutung, Anforderungen und Inhalt des Tatbestandmerkmals der „rechtskräftigen bzw. endgültigen Aburteilung“ i.S.v. Art. 54 SDÜ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 166 gg) Exemplifizierung anhand von ausgewählten Fallbeispielen . . . . . 171 hh) Praktikabilitätserwägungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 174 2. Konsequenzen für das Verständnis von „Tat“ und „Sanktion“ i.S.v. Art. 54 ff. SDÜ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 177 a) Der Begriff der „selben Tat“ in Art. 54 ff. SDÜ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 177 b) Der Begriff der „Sanktion“ in Art. 54 ff. SDÜ und die Bedeutung nationaler Freisprüche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 179
Inhaltsverzeichnis
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3. Weite Auslegung des Begriffs der „Vollstreckung“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 181 4. Materielle Ergänzung des Ansatzes, um „besondere“ nationale Hoheitsinteressen berücksichtigen zu können? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 184 5. Prozedurale Absicherung und Gewährleistung einer einheitlichen Auslegung der Art. 54 ff. SDÜ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 186 III. Gesamtbewertung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 190 E. Der Grundsatz des ne bis in idem im europäischen Strafrecht – insbesondere die supranationale Wirkrichtung des Prinzips . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 193 I. Relevanz der Thematik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 194 II. Hintergrund der Problematik – System der punitiven Sanktionen im Europäischen Gemeinschaftsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 197 III. Entwicklungsstand des supranational wirkenden Grundsatzes des ne bis in idem im gegenwärtigen europäischen Strafrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 200 1. Entwicklung in der Rechtsprechung und Gesetzgebung der Gemeinschaften – insbesondere auf dem Gebiet des Wettbewerbsrechts . . . . . . . . . . . . . . . . 200 2. Entwicklung in der Literatur von generellen Kollisionsüberlegungen hin zu umfassenden Lösungsversuchen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 204 IV. Kritik und Entwicklung eines eigenen Lösungsansatzes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 213 1. Rechtstheoretische Einordnung des vertikalen Grundsatzes des ne bis in idem in der EG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 214 2. Gewährleistungsgehalt des vertikalen Grundsatzes des ne bis in idem und die Rechtfertigung von Eingriffen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 216 a) Gewährleistungsgehalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 216 b) Eingriffe in den Gewährleistungsgehalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 217 c) Rechtfertigung derartiger Eingriffe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 218 aa) Direktvollzug von punitivem Gemeinschaftsrecht durch supranationale Behörden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 218 bb) Erlaß punitiver Sanktionen und materiell-strafrechtlicher Richtlinien durch die Gemeinschaft bei gleichzeitigem Gesetzesvollzug durch nationale Behörden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 221 d) Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 223 3. Exemplifizierung am Recht der Bundesrepublik Deutschland . . . . . . . . . . . . 224 a) Die Problematik konkurrierender nationaler und gemeinschaftlicher Zuständigkeiten am Beispiel des Wettbewerbsrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . 225 b) Die Problematik gemeinschaftsrechtlicher Sanktionen bei indirektem Verwaltungsvollzug an Beispielen aus dem Bereich der Agrarordnung 228
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Inhaltsverzeichnis aa) Beispiel zum Verhältnis von nationalen und supranationalen Verwaltungssanktionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 229 bb) Beispiel zum Verhältnis von supranationalem Sanktionenrecht und nationalem Strafrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 232 V. Fortentwicklung des Verbots der mehrfachen Strafverfolgung in Art. 50 der Europäischen Grundrechtscharta? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 234 1. Hintergrund der Normierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 235 2. Erste gegensätzliche Bewertungen in der Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 235 3. Eigene Stellungnahme: Art. 50 Charta als einheitliches Grundrecht mit je divergierender Rechtfertigungssystematik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 237 a) Einheitlicher systeminterner, horizontaler und vertikaler Gewährleistungsgehalt der Norm . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 238 b) Bestimmung des Schutzbereichs in Anlehnung an Art. 4 7. ZPEMRK
240
c) Rechtfertigung von Eingriffen in Art. 50 Charta je nach betroffener Wirkrichtung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 242 d) Gesamtbewertung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 242 F. Zusammenfassung und Schlußbemerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 244 Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 252 Stichwortverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 271
A. Einführung und rechtstheoretische Grundlegung Während das Verbot mehrfacher Strafverfolgung, der sog. Grundsatz des ne bis in idem, in nahezu allen Rechtsordnungen der Europäischen Union allgemein anerkannt ist, tut sich die Staatengemeinschaft bei dessen Umsetzung jenseits der nationalen Ebene schwer. Liegt das an der Abhängigkeit des Prinzips von der Ausgestaltung des so verschiedenen nationalen Strafrechts? Oder liegen die Gründe tiefer? Wenn ja, welche Schlüsse lassen sich daraus ziehen? Auch der Begriff des „europäischen Strafrechts“ ist derzeit noch stark im Fluß1. So ist zunächst unklar, welches Europa im jeweiligen Einzelfall genau gemeint ist: Das geographische in Abgrenzung vornehmlich zu Asien oder ein politisches, wie zum Beispiel das der Europäischen Menschenrechtskonvention, der Europäischen Union oder Gemeinschaft, oder ein Kerneuropa, wie etwa Schengenland2? In seinen Randbereichen ebenfalls unscharf ist der ansonsten so geläufige Begriff des Strafrechts. Umfaßt er lediglich das in den jeweiligen nationalen Strafrechtskodizes normierte Kriminalstrafrecht? Beinhaltet er darüber hinaus auch ein in vielen Rechtsordnungen bekanntes Verwaltungssanktionenrecht oder gar noch weiter Disziplinarrecht und Sanktionen gegenüber Nationalstaaten? Oder meint der Begriff in diesem Zusammenhang nichts von alledem und statt dessen einen in Europa verbindlichen Standard oder ein im Entstehen begriffenes, supranationales Strafrecht? Und welches Gebiet des Strafrechts ist genau gemeint: Das materielle oder das Strafverfahrensrecht? Das Strafvollstreckungs- und Strafvollzugsrecht wohl weniger, aber möglicherweise doch ein „gesamtes Strafrecht“3? In der nachfolgenden Erörterung ist das Verständnis des Begriffs des „europäischen Strafrechts“ sachgeleitet von dem allgemein anerkannten Verbot mehrfacher innerstaatlicher Strafverfolgung und dessen Europäisierung sowie der Problematik sich überschneidender Strafansprüche verschiedener Staaten, die eine der Ausführlich zum Begriff des europäischen Strafrechts Jung JuS 2000, 417 (417 ff.). Eine Bestimmung des Begriffs Europa hat neuerdings Schröder ZRph 2003, 26 (26 ff.) versucht. 3 Zu der neueren Diskussion um ein „gesamtes Strafrechtssystem“ siehe nur den programmatischen Titel des Sammelbandes von Freund / Wolter (Hrsg.): Straftat, Strafzumessung und Strafprozeß im gesamten Strafrechtssystem: Straftatbegriff – Straftatzurechnung – Strafrechtszweck – Strafausschluß – Strafverzicht – Strafklageverzicht, Heidelberg, 1996 und insbesondere die dortigen Beiträge von Wolter, Zur Dogmatik und Rangfolge von materiellen Ausschlußgründen, Absehen und Mildern von Strafe – Strukturen eines ganzheitlichen Straftat-, Strafprozeß- und Strafzumessungssystems, S. 1 ff. und von Frisch, Straftat und Straftatsystem, S. 135 ff. sowie Frisch, Straftatsystem und Strafzumessung, in: Wolter, 140 Jahre Goltdammer’s Archiv, S. 1 ff. 1 2
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A. Einführung und rechtstheoretische Grundlegung
Grundkonstellationen des internationalen Strafrechts bildet4. Zu diesen nationalen Strafansprüchen kommen in den letzten Jahren noch weitere Strafansprüche hinzu. Supranationale Organisationen wie die Europäische Gemeinschaft oder Internationale Strafgerichtshöfe behaupten eigene Sanktionsgewalten, die mit den nationalen Souveränitäten abgestimmt werden müssen. Wie eine solche Koordination erfolgen kann, läßt sich exemplarisch am Beispiel der politisch immer enger zusammenwachsenden Europäischen Union aufzeigen. Um eine Basis für diese Diskussion zu gewinnen, sollen nach einer kurzen Analyse des Ist-Zustandes aus der Sicht der Betroffenen, der Rechtspraxis und der Rechtswissenschaft zunächst – unter Berücksichtigung kriminologisch / kriminalpolitischer und rechtstheoretischer Kriterien – abstrakte Maßstäbe entwickelt werden5. Sodann soll horizontal und ansatzweise auch vertikal rechtsvergleichend skizziert werden, ob und inwieweit die in dem ersten Schritt erarbeiteten theoretischen Forderungen in der Rechtswirklichkeit vornehmlich der Staaten der Europäischen Union ihren tatsächlichen Ausdruck finden oder zumindest mit diesen vereinbar sind und worin und warum sich die einzelnen Strukturen unterscheiden6. Daraus wird sich die Frage nach einem für alle geltenden systeminternen Mindeststandard ergeben und sich der Blick auf die Vorgaben der Europäischen Menschenrechtskonvention richten7. Nach dieser Auseinandersetzung mit dem traditionellen Verständnis des Grundsatzes des ne bis in idem als einem Verbot mehrfacher Strafverfolgung innerhalb ein und desselben Systems beschäftigen sich die anschließenden Erörterungen auf diesen Erkenntnissen aufbauend mit dem verwandten Problem sich überschneidender Strafansprüche verschiedener Systeme. Dabei wird sich zeigen, daß von der theoretischen Grundkonzeption wie auch der praktischen Umsetzung her die Konstellation sich horizontal überschneidender Strafansprüche8, wie sie aus dem klassischen internationalen Strafrecht seit je her bekannt ist, und das vertikale Spannungsverhältnis von nationalem und supranationalem Sanktionenrecht strukturell zu unterscheiden sind9. Nicht beabsichtigt sind dagegen Einzeluntersuchungen, in welchem Umfang und mit welcher Tendenz in welchem Staat die divergierenden Interessen abgewogen werden, um ein derart ermitteltes maximales oder minimales Schutzniveau auf die verschiedenen Bereiche zu übertragen. Das theoretisch erarbeitete Grundkonzept wird nur deshalb an den verschiedensten – vornehmlich der veröffentlichten Lagodny ZStW 101 (1989), 987 (987). Dazu unten A. I. / II.; insoweit wird an Methoden der (Straf-)rechtsvergleichung angeknüpft, siehe dazu stellvertretend Eser, FS f. Kaiser, S. 1499 (1506 ff., 1519 ff.) und Jung JuS 1998, 1 (3); zum sachlichen Horizont, den es dabei zu beleuchten gilt, siehe den Fragenkatalog von De La Cuesta / Eser RIDP 2001, 753 (755 ff.). 6 Dazu unten B. 7 Dazu unten C. 8 Dazu unten D. 9 Dazu unten E. 4 5
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richterlichen Praxis entnommenen – Fällen diskutiert und ausprobiert, um dessen konkrete Folgen, Stärken und Schwächen, zu verdeutlichen und Beispiele für die Anwendung auf zukünftige und im Detail anders gelagerte Fälle zu geben.
I. Analyse der grundsätzlichen Lage des Betroffenen, der Rechtspraxis und der Rechtswissenschaft Eine erste Bestandsaufnahme soll die grundsätzlichen Fragen und Bedenken aufzeigen, die sich demjenigen stellen, der sich auf die eine oder andere Weise mit dem Problem einer mehrfachen Strafverfolgung in Europa beschäftigt. Ziel dieser Betrachtungen ist es, eine Basis zu gewinnen, vor deren Hintergrund sich in einem nächsten Schritt ein theoretisches Gesamtkonzept entwickeln läßt.
1. Bedeutung der Problematik für den Betroffenen Der Einzelne, den es zwar nicht als solchen schlechthin, aber doch als typisches Bild des Individuums in den konkreten Umständen seiner Zeit gibt, wird sich zunächst in seiner Existenz als Person sehen und nach seinen Bedürfnissen sowie deren Befriedigung fragen.
a) Der Grundsatz des ne bis in idem als ein Mittel zur Sicherung des Anspruchs eines Individuums auf Entfaltung seiner Persönlichkeit Nach der Sicherung der elementaren Grundbedürfnisse gehört es zu den ureigensten Anliegen eines Menschen, sich als Person möglichst frei und ungestört von Repressionen Dritter entfalten zu können. Im Verhältnis zum Staat entspricht diesem Bedürfnis in freiheitlich liberal strukturierten Systemen konsequenterweise auch ein Recht des Individuums, Eingriffe von Seiten des Systems in diese Freiheit abzuwehren10. Dieses wird dabei in den meisten Rechtsordnungen nicht nur demjenigen gewährt, der sich selbst stets ganz untadelig innerhalb des von dem System gesetzten Rahmens gehalten hat; auch derjenige, der in sanktionswürdiger Weise gegen die geltenden Regeln verstößt, wird nicht generell friedlos11 gestellt, sondern genießt – Im Grunde ähnlich bereits Berner GA 3 (1855), 472 (475). Der Begriff der „Friedlosigkeit“ bezeichnet eine im germanischen Recht entwickelte Unrechtsfolge, die im Wesentlichen darin besteht, daß der Straftäter für die Gemeinschaft, in der er sich befindet, seine Existenz als Person verliert. Er wird dem Rechtsschutz der Gemeinschaft entzogen und jeder Rechtsgenosse ist verpflichtet, ihn zu vernichten, wo immer ihm das möglich ist, vgl. Schmidt, Geschichte der deutschen Strafrechtspflege, S. 29 f. 10 11
2 Mansdörfer
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gegebenenfalls nach einer entsprechenden Ahndung – grundsätzlich wieder den Schutz dieses Abwehrrechts und muß eine erneute Sanktion nicht befürchten12. Seit seiner Ausgestaltung in der römischen Antike wird dieser Grundgedanke mit dem Schlagwort „ne bis in idem“ umschrieben13. Im Zuge der erhöhten Mobilität, die die moderne, am Beginn des dritten Jahrtausends nach Christus stehende Gesellschaft mit sich bringt, halten sich nunmehr die wenigsten Menschen während ihres ganzen Lebens innerhalb eines Staates oder – genereller gesprochen – eines Systems auf. Häufig wird etwa aus wirtschaftlichen oder persönlichen Gründen, aus Neugier zur Erweiterung des eigenen Bewußtseinshorizonts oder zur Erholung in einer anderen Umgebung das Ursprungssystem für mehr oder weniger lange Zeit verlassen. Nicht selten kommt es sogar vor, daß ein Individuum seinen Lebensschwerpunkt ganz in eine andere Ordnung verlagert. In geradezu dramatischer Weise ist dabei in den Jahren nach dem zweiten Weltkrieg in Europa zu beobachten, daß sich die vorhandenen Nationalstaaten für den Einzelnen aus den verschiedensten Gründen als zu eng erweisen14 und daß Bedürfnisse dahin bestehen, zwischen den Ordnungen wechseln zu können, ohne von der im Ursprungssystem garantierten Freiheit einbüßen zu müssen. Angesprochen ist damit das Interesse der Bürger, nicht nur innerhalb eines Systems in ihrer Entfaltungsfreiheit geschützt zu werden, sondern auch auf einer darüber liegenden Ebene zwischen den Staaten oder in dem Gesamtsystem Europa selbst15. Eng hiermit verknüpft ist auch die Frage, wie auf diesen Ebenen im europäischen Bereich der eingangs erwähnte Grundsatz des ne bis in idem ausgestaltet ist oder mit Blick auf die fortschreitende Mobilität und die Bedürfnisse der betroffenen Menschen ausgestaltet werden sollte. Dabei gilt es zu beachten, daß eine Rechtsordnung, will sie das soziale Leben wirksam und in konsensfähiger Weise gestalten, sich nicht außerhalb der Anforderungen ihrer Zeit stellen kann16. 12 Schomburg NJW 2000, 1833 (1833) spricht insoweit von einem Anspruch des Verfolgten von Gerechtigkeit wegen und im Interesse des unteilbaren Rechtsfriedens. 13 Zu diesen Ursprüngen Spinellis, Materielle Rechtskraft, S. 4; Gantzer, Rechtskraft, S. 62 f.; zu Mutmaßungen über die Übernahme des Grundsatzes aus dem römischen Zivilprozeß in den Strafprozeß siehe auch Landau ZRG KA 87 (1970), 124 (126). 14 Zur Entwicklung der postindustriellen Informations- und Weltgesellschaft als grundsätzliche Herausforderung für die Kriminalpolitik siehe Sieber JZ 1997, 369 (369 f.). 15 In diesem Sinne bereits im Jahr 1987 Schermers, Liber amicorum Pierre Pescatore, S. 601 (602): „Increasing European integration and a greater mobility of persons require some certainty in this respect. It seems unacceptable in an integrated Europe that a person can be repeatedly re-tried and re-punished under the legal orders of the Member States when he has committed an offence within the Common market of such a nature that States other than the one where he has his domicile take an interest“; aus jüngerer Zeit mit Blick auf den Amsterdamer Vertrag ebenso Schomburg StV 1999, 246 (247): „Dieser Gedanke des einen Rechtsraums verlangt eben auch ausbalancierend Rechtssicherheit für die Bürger, hier den Schutz vor doppelter Strafverfolgung.“ (kursive Hervorhebung nicht im Original). 16 So Würtenberger, Zeitgeist und Recht, S. 194, der in diesem Zusammenhang auch die unmittelbare demokratische Legitimität einer von einem solchen Verständnis geprägten
I. Analyse der grundsätzlichen Lage des Betroffenen
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b) Bestehende Verwirklichung des Grundsatzes des ne bis in idem als völkerrechtliches Prinzip? Die Sorge über Umfang und Perspektiven des Verbots mehrfacher Bestrafung gerade im europäischen trans- und supranationalen Strafrecht würde sich als wenig dringlich erweisen, wenn dieses Prinzip bereits als völkerrechtlicher Grundsatz allgemeine Geltung entfalten und zum „droit universel des nations“ (Faustin Héle) gehören würde17. Eine derartige Regelung könnte Art. 14 Abs. 7 des Paktes der Vereinten Nationen über bürgerliche und politische Rechte vom 19. Dezember 196618 enthalten, der den Grundsatz des ne bis in idem für seine Vertragsstaaten festschreibt. Diese Bestimmung wird trotz des in ihrer authentischen Version offenen Wortlauts jedoch weithin einengend ausgelegt, so daß sie nur vor einer mehrfachen Strafverfolgung innerhalb ein und desselben Staates schützt, nicht aber systemübergreifend wirken soll19. Wenngleich dieses Verständnis der Vorschrift nicht unumstritten ist20, so kann Art. 14 Abs. 7 IPBR, eben weil er von den maßgeblichen Stellen Rechtsfortbildung darstellt; allgemein zu dem insbesondere in Hinblick auf den angesprochenen notwendigen gesellschaftlichen Konsens zu beobachtenden Akzeptanzproblem des europäischen Strafrechts siehe Zieschang in: Hohloch (Hrsg.), Wege zu einem europäischen Recht, S. 39 (39 ff.); Satzger, ebenda, S. 51 (51 ff.) und Zila, ebenda, S. 63 (63 ff.). 17 Die nachfolgenden Gesetzestexte finden sich im Internet unter http://www.un.org/law . 18 In der deutschen Abkürzung IPBR; abgedruckt z. B. bei Gollwitzer in: Rieß (Hrsg.), Löwe-Rosenberg, Strafprozeßordnung, 24. Aufl. Band 6 / 2 Teil 1 Vertragstexte Nr. 5 oder BGBl. II 1973, 1533 – 1555. 19 In der deutschen Rechtsprechung etwa BVerfGE 75, 1 (48) und BGHSt 34, 334 (340), wonach es einen allgemeinen Grundsatz des Völkerrechts, daß in derselben Sache ergangene ausländische Strafurteile zu respektieren sind und einer erneuten Verfolgung des Täters im Inland entgegenstehen, nicht geben würde; auf europäischer Ebene hat es der Generalanwalt am EuGH Mayras im Fall Boehringer II EuGH Slg. 1972, 1281 (1296 ff., 1298 f.) abgelehnt, einen zwischenstaatlichen Grundsatz des ne bis in idem als allgemeinen Rechtsgrundsatz anzuerkennen; zurückhaltender sind insoweit die Urteile der obersten Gerichtshöfe in Belgien und Frankreich, vgl. Pralus Rev. sc. crim. 1996, 551 (567) m.w.N.; der frz. Gesetzgeber hat dagegen bei den jüngsten Reformen seines internationalen Strafrechts Art. 14 Abs. 7 IPBR als systemfremd ignoriert, dazu Pralus Rev. sc. crim. 1996, 551 (567); die Niederlande hat der offene Wortlaut zu einer Erklärung veranlaßt, wonach Art. 14 Abs. 7 IPBR nicht weiter reiche als Art. 68 niederl. StGB, so Baauw in: Swart / Klip, International Criminal Law in the Netherlands, S. 81; zur restriktiven Auslegung von Art. 14 Abs. 7 IPBR durch das Urteil des italienischen Verfassungsgerichts vom 8. April 1976, siehe León Villalba S. 81 (Fn. 141); aus dem deutschen Schrifttum siehe Gollwitzer in: Rieß (Hrsg.) Löwe-Rosenberg, Strafprozessordnung, Art. 6 EMRK / 14 IPBR Rn. 279; ausführlich auch mit Hinweisen auf die Entstehungsgeschichte der Norm Specht S. 44 ff.; gegen eine systemübergreifende Wirkung auch Nowak, CCPR-Kommentar, Art. 14 Rn. 81; kurz den Meinungsstand skizzierend auch Thomas, ne bis in idem, S. 101 f. 20 Zu extensiveren Verständnismöglichkeiten siehe Schermers, Liber amicorum Pierre Pescatore, S. 601 (607); Mayer S. 45; Specht S. 45 f.; Schomburg StV 1999, 246 (249); Koering-Joulin in: Pettiti / Decaux / Imbert, Convention Européenne des Droits de l’Homme, Art. 4 Protocole No. 7 S. 1093 (1094); Pralus Rev. sc. crim. 1996, 551 (566 ff.) mit weite2*
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restriktiv interpretiert wird21, rein faktisch nicht als allgemeingültige Normierung eines zwischenstaatlich wirkenden Grundsatzes des ne bis in idem bewertet werden. Die Beschränkung des Verbots der mehrfachen Strafverfolgung auf die Nationalstaaten wird jedoch auch auf internationaler Ebene zunehmend als unzureichend erachtet22. Worauf sich die internationale Staatengemeinschaft zu einigen bereit ist, zeigen die Regelungen der Internationalen Strafgerichtshöfe für Ruanda und Jugoslawien sowie des Internationalen Strafgerichtshofs23: Die wortgleichen Regelungen des Grundsatzes des ne bis in idem der Internationalen Strafgerichtshöfe für Ruanda und Jugoslawien schließen eine erneute strafrechtliche Verfolgung nach Abschluß des Verfahrens vor dem internationalen Strafgerichtshof aus. Umgekehrt sollen dabei Verfahren vor nationalen Gerichten eine internationale Strafverfolgung ihrerseits ebenfalls ausschließen, es sei denn, diese Verfahren hatten nur gewöhnliche Verbrechen zum Gegenstand, waren nicht unabhängig oder unparteiisch, sollten den Angeklagten gerade vor einer internationalen Strafverfolgung schützen oder sie wurden nicht sorgfältig genug geführt. Eine bereits erfolgte nationale Strafverfolgung soll aber in jedem Fall bei der Strafzumessung berücksichtigt werden. Eine ganz ähnliche Regelung normiert Art. 20 des Statuts des Internationalen Strafgerichtshofs. Hier wie dort schließen sich ein Verfahren vor dem internationalen Strafgerichtshof und eine nationale Strafverfolgung grundsätzlich gegenseitig aus. Für nationale Verfahren gelten allerdings folgende Einschränkungen: Das naren Hinweisen auf ebenfalls extensivere Interpretationsansätze in der französischen Rechtslehre. 21 Siehe etwa die Entscheidung des UN-Menschenrechtsausschusses vom 2. November 1987 betreffend die Mitteilung Nr. 204 / 1986 in der Sache A.P. gegen Italien (in deutscher Übersetzung der englischen Version abgedruckt in EuGRZ 1990, 15 [15 f.]) der eine zwischenstaatliche Geltung der Vorschrift ebenfalls abgelehnt hat; Koering-Joulin in: Pettiti / Decaux / Imbert, Convention Européenne des Droits de l’Homme, Art. 4 Protocole No. 7 S. 1093 (1094) meint, die Hoffnungen, die mit dem offenen Wortlaut von Art. 14 Abs. 7 IPBR verbunden gewesen seien, hätten sich mit dieser Entscheidung schnell zerschlagen; kritisch gegenüber einer solchen Einschränkung Specht S. 45 und Jung StV 1990, 509 (517), die sich „nicht des Eindrucks erwehren kann, daß der einzelne hier auf dem Altar einzelstaatlicher generalpräventiver Geltungsansprüche geopfert wird“. 22 Siehe neben den bereits genannten Stimmen, die schon der einschränkenden Auslegung von Art. 14 Abs. 7 IPBR kritisch gegenüberstehen, etwa die Presseerklärung L / T 4353 der Vereinten Nationen vom 13. Dezember 2000, worin im Zusammenhang mit der jüngsten Entwicklung des Cyberspaces und der wirtschaftlichen Globalisierung das Bedürfnis nach einer „juristischen Globalisierung“ dargelegt wird, welche die Einbußen der nationalen Souveränitäten kompensieren soll und die eine verstärkte internationale Zusammenarbeit erfordert, in deren Zusammenhang dem Prinzip des ne bis in idem wieder besondere Bedeutung zukommt. 23 So Schomburg StV 1999, 246 (249) und Pralus Rev. Sc. Crim. 1996, 551 (554 ff.); in diese Richtung auch bereits Epp ÖJZ 1979, 36 (44); kritisch dagegen Landau, FS f. Söllner, 627 (633 f.).
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tionale Verfahren darf nicht als Schutz gegen eine internationale Strafverfolgung mißbraucht werden. Es muß unabhängig und unparteiisch sein und darf nicht gegen die anerkannten Regeln des internationalen Rechts verstoßen. Es muß insgesamt in einer Weise geführt werden, die mit dem Versuch, eine Person einem entsprechenden Verfahren zu unterwerfen, vereinbar ist. Diese im Rom-Statut direkt verankerten Regelungen werden ergänzt durch detailliertere Verfahrensregeln, die in den Sitzungen der Vorbereitungskommission erarbeitet wurden und nach Inkrafttreten des Statuts endgültig verabschiedet werden sollen24. Der Grundsatz des ne bis in idem wird dort explizit in Regel 168 nochmals für Straftaten gegen das Gericht gem. Art. 70 IStGH-Statut festgeschrieben und im Bereich der internationalen Zusammenarbeit und Rechtshilfe in Regel 180 dadurch verfahrensmäßig abgesichert, daß der Einwand der mehrfachen Strafverfolgung seitens einer überstellten Person, die Pflicht der Kammer begründet, alle hierfür relevanten Informationen von dem ersuchten Staat einzuholen. Die damit zugelassenen Ausnahmen vom Schutz eines umfassenden Doppelbestrafungsverbots haben also mit den in den Statuten für die Jugoslawien und Ruanda Gerichtshöfe normierten Ausnahmen den Grundgedanken des Rechtsmißbrauchs gemeinsam. Auffallend ist bei Art. 20 IStGH-Statut noch die Bezugnahme auf die anerkannten Regeln des internationalen Rechts. Offenbar wird davon ausgegangen, daß es einen solchen feststellbaren internationalen Standard gibt und dieser als Maßstab herangezogen werden kann. Da das Statut nicht nur die Grundlagen für eine weltweit nach gleichen Maßstäben ablaufende internationale Verfolgung von schwersten Verbrechen gegen die Menschlichkeit schaffen will, sondern auch die gemeinsame Überzeugung der Verhandlungsdelegation über den Stand des Völkerstrafrechts widerspiegelt, wird es dabei selbst eine wichtige Rechtsquelle zur Ermittlung dieses Standards werden25. Bemerkenswert erscheint in diesem Zusammenhang noch Art. 12 des UN-Entwurfs eines Kodizes über Verbrechen gegen den Frieden und die Sicherheit der Menschheit aus dem Jahr 199626. Ausgehend von einer konkurrierenden Zuständigkeit der verschiedenen Staaten zur Verfolgung der entsprechenden Rechtsverletzungen enthält diese Vorschrift eine universelle, zwischenstaatliche Regelung des Prinzips des ne bis in idem. Eine Ausnahme soll nur gelten, wenn die bereits verfolgte Tat auf dem Gebiet des erneut verfolgenden Staates begangen wurde oder dieser das hauptsächliche Opfer der Tat war. Damit wirkt die hier normierte Regelung des Grundsatzes des ne bis in idem vor allem gegen Staaten, deren Strafrecht 24 Einen Überblick hierüber gibt Ambos NJW 2001, 405 (407 ff.); die Regelungen finden sich im Internet unter http://www.un.org/law; die Darstellung geht von den Regelungen Stand November 2000 aus. 25 So Hermsdörfer JR 2001, 6 (12); vgl. auch Wittge JR 2001, 232 (233); beispielhaft etwa für den Grundsatz individueller Verantwortlichkeit Vogel ZStW 114 (2002), 403 (403 ff.), für subjektive Merkmale Clark ZStW 114 (2002), 372 (372 ff.) sowie für die Strafausschlußgründe im Völkerstrafrecht Merkel ZStW 114 (2002), 437 (437 ff.). 26 Un-Doc A / 51 / 10; ausführlicher zu der Regelung Specht S. 86 ff., 66 ff.
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das Weltrechtspflegeprinzip verankert. Der Umstand, daß in dem Erstverfahren möglicherweise ein Scheinurteil ergangen ist, soll dagegen hier keine Ausnahme rechtfertigen und die Staaten damit zugunsten einer in einem solchen Fall eingreifenden Kompetenz der internationalen Strafgerichte genau dieser Diskussion entheben27. Im Ergebnis ist daher festzustellen, daß ein umfassender, zwischenstaatlicher Grundsatz des ne bis in idem derzeit nicht als allgemeine Regel des Völkerrechts angesehen werden kann28. Es zeichnet sich aber eine Entwicklung ab, daß mit den zunehmenden Prozessen der Globalisierung internationale Strafrechtsstandards gefunden und etabliert werden müssen29. Der Gedanke des Verbots mehrfacher Bestrafung wird hierin sicherlich Eingang finden, wobei dem international noch bestehenden Mißtrauen gegenüber Unrechtsregimen durch die Aufnahme von Mißbrauchsklauseln auch zu Ungunsten des Verfolgten begegnet wird. Bemerkenswert an den jüngeren Formulierungen des Prinzips des ne bis in idem ist deren Ausdehnung über die rein systeminterne und zwischenstaatliche Wirkweise hinaus auch auf eine solche zwischen supranationaler Organisation und Nationalstaat. Ausführlicher Specht S. 88. Zum universellen Entwicklungsstand der eng hiermit verbundenen, aber noch viel grundlegenderen Grundrechtsidee siehe neuerdings Schünemann / Müller / Philipps (Hrsg.) Das Menschenbild im weltweiten Wandel der Grundrechte, Berlin, 2002: Danach wird man den ehemals sozialistischen Staaten der Sowjetunion tendenziell eine ähnliche Grundrechtsidee wie im übrigen „Europa“ unterstellen können, da dort die Stellung des Individuums nach den Revolutionen von 1990 massiv gestärkt wurde, vgl. etwa für die Mongolei Tschimid, ebenda, S. 179 (193 ff.) sowie allgemein Eser / Kaiser / Weigend (Hrsg.) Von totalitärem zu rechtsstaatlichem Strafrecht – Kriminalpolitische Reformtendenzen im Strafrecht osteuropäischer Länder, Freiburg, 1992; im ostasiatischen Raum wird man eine solch radikale Zurückführung des Rechts auf die Position des Individuums derzeit noch kaum vorfinden, vgl. etwa Chen Shan Li, in: Schünemann / Müller / Philipps, S. 117 (137), der sich selbst als progressiver Vertreter der Menschenrechtsidee versteht, und in seinem Schlußwort gleichwohl die Bedeutung des Volkes betont: „Das Volk an sich ist der Zweck, der Staat ist erst das Mittel zu demselben. Denn der Staat setzt die Existenz des Volkes voraus“; zur Krise des autoritären Staatsverständnisses in Japan und dessen Entwicklung in Richtung auf eine partnerschaftliche Struktur siehe Nishihara, ebenda, S. 99 (101 ff.); zu aktuellen Entwicklungen im islamischen Recht, die je nach Standpunkt als „Verwestlichung“, „Säkularisierung“ oder „Modernisierung“ bezeichnet werden, siehe Theres, ebenda, S. 163 (174 ff.); zwar ganz als Teil der Gemeinschaft aber zugleich sehr eigenständig und eigenverantwortlich gedacht wird der Mensch in den traditionell akephalen Gesellschaften Afrikas, vgl. Amborn, ebenda, S. 273 (282 ff.), so daß sich ein Doppelbestrafungsverbot dort auf ähnliche Weise wie in den europäischen Rechtstraditionen begründen ließe. 29 Bezogen auf den Grundsatz des ne bis in idem noch optimistischer Schomburg StV 1999, 246 (249), der im Prinzip des ne bis in idem in den Statuen des internationalen Strafgerichtshofs für Jugoslawien und des Weltstrafgerichtshofs bereits einen solchen internationalen Standard zu erkennen glaubt; zum Ausmaß des Wandels seit Mitte der achtziger Jahre des 20. Jahrhunderts auch Uerpmann JZ 2001, 565 (572): „Das Völkerrecht ist einem starken Wandel unterworfen. ( . . . ) Allein in den letzten fünfzehn Jahren sind Entwicklungen eingetreten, von denen Mitte der achtziger Jahre nicht zu träumen war. Viele dieser Entwicklungen reihen sich in einen völkerrechtlichen Konstitutionalisierungsprozess ein.“ 27 28
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Derzeit vorhanden ist allenfalls ein Minimalschutz dahin, daß die vorherige Verurteilung gegebenenfalls vor Auslieferungen schützt und damit einen mittelbaren Zugriff auf den Betroffenen verhindert. Übermäßige Härten werden zudem durch die Anwendung des Anrechnungsprinzips auszugleichen versucht.
2. Die Relevanz der Thematik in der Rechtspraxis Das Verbot der Mehrfachbestrafung, insbesondere mit seinen internationalen Bezügen, beschäftigt die Jurisprudenz derzeit in allen Bereichen: Auf europäischer Ebene setzt sich der Rat der Europäischen Union mit der Erstellung und Verwirklichung eines Maßnahmenprogrammes zur Umsetzung des Grundsatzes der gegenseitigen Anerkennung gerichtlicher Entscheidungen in Strafsachen30 mit dem Thema intensiv auseinander. In der Rechtsprechung häufen sich die Fälle mit internationalen Bezügen, in denen sich die vorhandenen Regelungen als mehr oder minder praxistauglich erweisen31. Wer sich mit dieser Thematik inhaltlich näher beschäftigt, wird immer wieder vor dieselben oder ähnliche Fragen gestellt: Ausgehend von dem Grundsatz des ne bis in idem heißt es zunächst, dieses „idem“ näher zu bestimmen. Geht es dabei um die Tat, das Delikt oder die Handlung? Wird am tatsächlichen äußeren Geschehen angesetzt oder impliziert der Begriff schon rechtliche Vorwertungen? Inwieweit ist er abhängig vom sonstigen Rechtssystem, etwa der mehr oder weniger formalen Ausgestaltung des Strafprozesses oder der Behandlung von Konkurrenzen im materiellen Strafrecht32? Wie verhält sich das Strafrecht im engen Sinne zum sonstigen Sanktionenrecht? Wenn dann endlich feststeht, daß das vorliegende und ein früheres Verfahren denselben Inhalt hatten, ist weiter zu klären, ob in dem zeitlich vorherigen Verfahren überhaupt eine Entscheidung ergangen ist und welche strafklageverbrauchende Wirkung diese hatte. Wer Rechtsänderungen de lege ferenda vorschlägt oder vorhandene Normen konkretisieren möchte, muß hier schon überlegen, in welchem Verfahrensstadium welche Entscheidungen möglich sind und welche Wirkungen diese haben sollen. Dabei muß er eine Balance finden, die einerseits bewährte Instrumentarien nicht unnötig einschränkt und andererseits dem Bedürfnis nach materieller Gerechtigkeit und damit der Funktionsfähigkeit des Straf(rechts)systems insgesamt hinreichend Rechnung trägt33. 30 ABl. EG 2001 Nr. C 12 / 10 vom 15. Januar 2001; vgl. dazu Mitteilung der EU-Kommission (KOM (2000) 495 endg.); EiÜ 31 – 00. 31 Beispielsweise die Entscheidungen des deutschen BGH etwa zu den Art. 54 ff. SDÜ wistra 2001, 276; StV 2001, 263; StV 2001, 262; StV 1999, 478; StV 1999, 193; NStZ 1999, 396; NStZ 1999, 250; NJW 1999, 1270. 32 Beispielsweise die Unterscheidung zwischen der Tat im prozessualen Sinn und der Tat im materiellen Sinn mit ihrer komplexen Dogmatik in den §§ 52, 53 StGB oder die Figur des „taking into consideration“ im englischen Recht.
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Vorhandene Konventionen geben hier dem in der Praxis tätigen Richter oder Verteidiger wenigstens einen Hinweis, ob es sich um eine Endentscheidung handeln muß34 und ob dies auch ein Freispruch oder nur eine vollstreckte Verurteilung sein kann. Ihm obliegt dann aber gegebenenfalls die Bewertung einer Entscheidungsform aus einem fremden Rechtssystem, in dem er sich nicht auskennt und deren Beurteilung ihm daher naturgemäß schwer fällt. Damit hat es aber noch nicht sein Bewenden, denn der Praktiker muß weiter beurteilen, wann eine Strafe als vollstreckt gilt und wie etwa Fälle zu behandeln sind, in denen eine Strafe zur Bewährung ausgesetzt oder im Wege der Gnade erlassen worden ist35. Die Anklagebehörde muß sich noch eine Stufe früher klar werden, ob sie durch ein vorheriges – oder vielleicht durch ein parallel verlaufendes – Verfahren in der Sache nicht sogar schon an der Strafverfolgung überhaupt gehindert ist. Hier stellen sich über die rechtlichen Schwierigkeiten hinaus Fragen nach Informationssystemen und einer gegenseitigen Koordination der Ermittlungen. Eng damit verknüpft ist die Problematik des Verhältnisses von Strafrecht und Verwaltungssanktionenrecht, wo auch eine stärkere Koordination notwendig ist. Verschärft wird letztere dadurch, daß im Bereich der Europäischen Gemeinschaften lange Zeit überhaupt nur eine Kompetenz zum Erlaß von verwaltungsrechtlichen Sanktionen bestand und deshalb das Strafrecht (schon) aus kompetenzrechtlichen Gründen nicht zur Anwendung gebracht werden konnte. Kann dies Nachteile für den Bürger begründen? Selbst wenn die eigentliche Strafverfolgung in einem Staat an sich bereits abgeschlossen ist, sind die Probleme keineswegs erledigt, sondern können sich im Bereich der internationalen Rechtshilfe, vor allem bei Auslieferungsersuchen erneut stellen. Hier fragt sich, inwieweit eine schwebende bzw. abgeschlossene Strafverfolgung im Inland dem Auslieferungsersuchen entgegengestellt werden kann oder wegen eines Verstoßes des innerstaatlichen ordre public vielleicht sogar muß36. 33 Beispiele hierfür sind die „Transactie“, ein verwaltungsrechtlicher Vergleich im belgischen und niederländischen (Steuer-)Strafverfahren (dazu LG Hamburg wistra 1995, 358 sowie OLG Hamburg wistra 1996, 359 und BGH StV 1999, 193), die Praxis der Einstellung im deutschen Recht nach den §§ 153 ff. StPO als flexibles Mittel zur Beendigung eines Strafprozesses (vgl. dazu Roxin, Strafverfahrensrecht, § 14) oder im österreichischen Recht das Straferkenntnis, eine Figur zur Ahndung einer straßenverkehrsrechtlichen Verwaltungsübertretung durch die Bezirkshauptmannschaft (eine Verwaltungsbehörde), wobei nach deutschem Verständnis eine Straftat gem. § 316 StGB vorgelegen hätte (vgl. dazu BayOLG StV 2001, 263 und Hecker StV 2001, 306 [308]). 34 Zu den Schwierigkeiten, die sich allein bei der Beantwortung dieser Frage ergeben können, siehe das Beispiel bei Kühne JZ 1998, 876 (877 ff.). 35 Als Beispiel sei hier der Beschluß des OLG München StV 2001, 495 (495 f.) angeführt, in dem über die strafklageverbrauchende Wirkung eines gnadenähnlichen Absehens von einer weiteren Vollstreckung einer Freiheitsstrafe zu entscheiden war. 36 Besondere Relevanz kommt in diesem Bereich dem Europäischen Auslieferungsübereinkommen vom 13. Dezember 1957 zu; zu den Fragestellungen, die hier neuerdings auftauchen, siehe auch Weigend JuS 2000, 105 (110).
I. Analyse der grundsätzlichen Lage des Betroffenen
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Zuletzt kann und darf bei all diesen Überlegungen auch das geschützte Rechtsgut und damit die Ebene, auf der der Grundsatz des ne bis in idem in der konkreten Situation seine Geltung entfalten soll, nicht außer Betracht bleiben. Sollen supranationale Rechtsgüter zugleich durch supranationales Verwaltungssanktionenrecht und durch – vereinheitlichtes – nationales Strafrecht geschützt werden? Inwieweit haben nationale Vorbehalte gegenüber ausländischen Entscheidungen in solchen Bereichen Bestand, in denen bereits supranational einheitliche Mindeststandards verbindlich geworden sind37? 3. Die Problematik und ihre methodischen Unwägbarkeiten in der rechtswissenschaftlichen Diskussion Die Rechtswissenschaft sieht sich bei der Behandlung des Themas insofern vor besondere Schwierigkeiten gestellt, als die traditionellen Instrumentarien juristischer Methodik hier nur sehr eingeschränkte Dienste leisten. a) Probleme einer prinzipiengeleiteten, wertungsjuristischen Herangehensweise So kann man im Sinne moderner Wertungsjurisprudenz das Kernproblem der eingangs gestellten Fragen in der Auflösung des Konflikts zwischen Formalismus bzw. Rechtssicherheit und materieller Gerechtigkeit sehen38. Dem entspricht die Verortung des Grundsatzes des ne bis in idem in den nationalen Rechtsordnungen bei den Prinzipien der Rechtssicherheit, der Prozeßökonomie oder der Idee der Rechtsstaatlichkeit. Im zwischenstaatlichen Bereich kommt jedoch hinzu, dass das Strafrecht Überschneidungen bei der Zuständigkeit verschiedener Rechtsordnungen für einen bestimmten Sachverhalt traditionell – anders als das Zivilrecht, das Konflikte weithin durch die Normierung kollisionsrechtlicher Regelungen zu vermeiden sucht – aufgrund eines dominierenden Souveränitätsdenkens, mangelnden gegenseitigen Vertrauens und unzureichender internationaler Solidarität39 über den 37 Art. 31 lit. e EUV legt die Mitglieder der Union auf die Annahme solcher Standards im Bereich der organisierten Kriminalität, des Terrorismus und des Drogenhandels fest; für den Bereich der Bestechung ist an dieser Stelle die am 17. Dezember 1997 von 33 Staaten unterzeichnete OECD-Konvention zur Bekämpfung der Korruption zu nennen, siehe dazu auch Taschke StV 2001, 78 (78 ff., insbes. zu den erwarteten Praxisproblemen S. 81); zum EUStrafrechtsschutz vor Vermögensdelikten mittels Zahlungskarten und im Umweltstrafrecht siehe Möhrenschlager wistra Heft 12 / 2001 S. VI ff. 38 Die deutsche Verfassungsgerichtsbarkeit sieht diese beiden Werte als gleichberechtigte Elemente des Rechtsstaatsbegriffs an, vgl. BVerfGE 3, 225 (237) und BVerfGE 41, 323 (326); der deutsche Bundesgerichtshof ordnet die Aufgabe, diesen Konflikt aufzulösen, in BGHSt 26, 1 (2) dabei dem Gesetzgeber zu; kritisch bezüglich der Formulierung des „Widerstreits von Rechtssicherheit und materieller Gerechtigkeit“ Schlink S. 99 ff. 39 In diesem Sinn auch León Villalba S. 81 f. (insbesondere auch Fn. 141) mit Verweis auf das deutsche, französische und italienische Recht; ins Positive gewendet wird demgegenüber
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Weg sich überschneidender Zuständigkeiten löst. Diesen Souveränitätsinteressen wird man zwar Rechnung tragen müssen. In welcher Form, unter welchen Umständen und mit welchem Gewicht dies genau geschehen soll, ist allerdings offen und kann von diesen Prämissen aus nur schwer geleistet werden. Diese Schwierigkeiten zeigen sich dann – trotz teilweise zu begrüßender Ergebnisse – auch in den bisher vorgetragenen prinzipienbetonten Auslegungsversuchen der verschiedenen Einzelnormierungen des Verbots mehrfacher Strafverfolgung. So wird der Ausgangskonflikt der divergierenden Prinzipien zwar gesehen, und teilweise werden sogar die Elemente, die bei der Eröffnung subjektiver öffentlicher Rechte einander gegenüberstehen, herausgearbeitet 40. Gleichwohl werden Rechtssicherheit und materielle Gerechtigkeit dann aber nicht grundsätzlich in ein Verhältnis gesetzt41, aus dem das Ergebnis dann präzise deduziert werden könnte42. Die letzte Rückführung auf die von den Autoren genannten Grundelemente des Prinzips des ne bis in idem unterbleibt oft43 doch44. behauptet, die Prinzipien des Internationalen Strafrechts würden sich an der Wahrung und Aufrechterhaltung der innerstaatlichen Ordnung, an der ubiquitären Bindung der eigenen Staatsangehörigen an die inländische Rechtsordnung, an dem Schutz der inländischen Rechtsgüter, an der Solidarität der internationalen Verbrechensbekämpfung, an der Lückenlosigkeit der staatlichen Strafgewalt diesseits und jenseits der Grenzen oder auch an der größtmöglichen Gerechtigkeit im Einzelfall orientieren, so beispielsweise Gribbohm in: Jähnke / Laufhütte / Odersky (Hrsg.), Leipziger Kommentar, Strafgesetzbuch, vor § 3 Rn. 125 oder auch Jescheck / Weigend, AT, S. 166 f. 40 Völlig losgelöst von derart grundsätzlichen Überlegungen ist dagegen die Monographie von Hübner, Das „ne bis in idem“ des Art. 4 7. ZPEMRK im österreichischen Strafrecht. 41 So etwa Lagodny ZRP 2000, 175 (176 f.) in einer Argumentation mit den Parametern des in der EU geschaffenen Raumes der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts einerseits und der staatlichen Souveränität andererseits; ähnlich das Maßnahmenprogramm des Rates und der Kommission der EG zur Umsetzung des Grundsatzes der gegenseitigen Anerkennung gerichtlicher Entscheidungen in Strafsachen (ABl. EG 2001 Nr. C 12 / 10 vom 15. Januar 2001), das zwar Ziele und Maßnahmen in diesem Bereich formuliert, insgesamt aber ein diesen zugrundeliegendes Konzept nicht erkennen läßt, obwohl ein solches gerade im Bereich gestalterischer Rechtssetzung durchaus hilfreich sein könnte, um die Thematik in sich stimmig zu lösen; ähnlich die Kritik von Specht S. 24 ff. an der deutschen Diskussion zur Interpretation von Art. 103 Abs. 3 GG. 42 Selbst national wird etwa für das deutsche Recht moniert, daß ein Schutzsystem gegen Doppelsanktionen bisher noch wenig entfaltet ist, Schmidt-Aßmann, in: Maunz / Dürig, Grundgesetz-Kommentar, Art. 103 Abs. 3 Rn. 279 f. (als positive Ausnahme kann insoweit Fliedner AöR 99 [1972], 242 [242 ff.] angeführt werden). 43 Siehe etwa Winkler Außenwirtschaftsdienst des Betriebsberaters 1972, 565 (566 ff.), der zwischen dem Prinzip des ne bis in idem, dem Anrechnungsgrundsatz und der Berücksichtigung der Doppelbestrafung nach einem allgemeinen Billigkeitsgedanken unterscheidet, ohne die Figuren auf die ihnen inne wohnenden gemeinsamen Elemente zurückzuführen. 44 Den Versuch, ein grundlegendes und für das systeminterne wie systemübergreifende Prinzip des ne bis in idem gleichermaßen geltendes Konzept zu entwickeln, unternimmt erst neuerdings Dannecker in: Eser / Rabenstein, Neighbours in Law, S. 155 (160 ff.), wobei er den Grundsatz des ne bis in idem als gespaltenes Prinzip mit formellen und materiellen Ausprägungen versteht.
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Als Beispiel sei der Beitrag von Radtke / Busch zum richtigen Verständnis der Art. 54 ff. SDÜ angeführt45. Die Autoren qualifizieren gleich im ersten Satz den Grundsatz des ne bis in idem als zum „Kernbestand rechtsstaatlicher Verfahrensprinzipien“ gehörend46. Im Rahmen der anschließenden teleologischen Interpretation von Art. 54 SDÜ streifen sie diese Grundlage aber nur noch kurz. Dort stellen sie fest, für die Frage, ob eine Entscheidung gem. Art. 54 SDÜ transnational die Strafklage verbrauche, bilde das Sachurteil als Leitbild einer rechtsstaatlichen Abschlussentscheidung eine Art „Bezugsgröße, indem die die materielle Rechtskraft des Sachurteils bestimmenden Faktoren als Maßstab für Art und Umfang der materiellen Rechtskraftfähigkeit anderer verfahrenserledigender Entscheidungen dienen“47. Welche Interessen das Rechtsstaatsprinzip hier genau zum Ausgleich bringt und ob und inwieweit diese Interessenlage im supranationalen Bereich modifiziert wird, bleibt dunkel. Es wird nur noch angemerkt, daß Art. 54 SDÜ von den Mitgliedstaaten gegenseitiges Vertrauen einfordere und daß die Basis dieses Vertrauens die Gewährung eines rechtsstaatlichen Verfahrens bilde. Auf die materiellen Anforderungen des Rechtsstaatsprinzips und dessen Einzelausformungen wird nicht mehr eingegangen. Es wird nicht einmal danach gefragt, ob wirklich eine für eine solch gemeinsame Basis notwendige, gemeinsame Vorstellung dessen, was ein „rechtsstaatliches Verfahren“ genau umfasst, besteht oder ob dieser Topos allein vielleicht zu kurz greift. Gerade hieraus hätten sich aber möglicherweise auch wichtige Erkenntnisse für das Verständnis der Art. 54 ff. SDÜ im Einzelfall ergeben.
b) Probleme einer Herangehensweise nach den Kriterien der „klassischen“ Auslegungslehre Nähert man sich dem Problem stärker im Sinne der „klassischen“ Auslegungslehre und fragt nach dem Sprachsinn, dem Gesetzeszweck oder nach Argumenten aus dem Kontext der Normen, erscheint der Ertrag kaum größer. Die Wissenschaft steht hier – abgesehen vom Zugangsproblem zu den Rechtsquellen48 – vor einer geradezu überwuchernden Vielfalt an Einzelnormierungen und einem durch die verschiedenen Amtssprachen bedingten, teilweise babylonischen Sprachgewirr. Bei systematischen Untersuchungen erscheint die Wahl der Bezugssysteme (EMRK, Schengenland, Gemeinschaftsrechtssystem oder Nationalstaat) schwierig, bisweilen fast zufällig49. Insbesondere die historische Diskussion leidet außerdem Radtke / Busch EuGRZ 2000, 421 (421 ff.). Radtke / Busch EuGRZ 2000, 421 (421). 47 Radtke / Busch EuGRZ 2000, 421 (426). 48 Zum Zugangsproblem speziell bei der Arbeit mit der EMRK siehe beispielhaft Trechsel ZStW 101 (1989), 819 (829 ff.) – dieses Problem hat sich nunmehr allerdings insofern gebessert, als wenigstens die Entscheidungen des EGMR im Internet recherchiert werden können unter www.hudoc.echr.coe.int. 49 So stellt Thomas, Das Recht auf Einmaligkeit der Strafverfolgung: vom nationalen zum internationalen ne bis in idem, Baden-Baden, 2002, als Grundlage seiner Betrachtungen 45 46
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– soweit sie sich auf die jüngere Vergangenheit beruft – an dem grundsätzlichen Mangel sinkender Halbwertszeiten internationaler Bestandsaufnahmen. Ein Konzept für ein internationales Verbot mehrfacher Strafverfolgung lässt sich damit nur schwer gewinnen50. Als Beispiel möge hier die Entscheidung des deutschen Verfassungsgerichts in BVerfGE 75, 1 dienen. In der deutschen Diskussion über ein Verbot mehrfacher Strafverfolgung wird dieses Urteil geradezu formelhaft zur Begründung einer sog. herrschenden Meinung aufgeführt, dass das Verbot doppelter Strafverfolgung einer Strafverfolgung desselben Beschuldigten wegen einer identischen Tat durch unterschiedliche Staaten bisher nicht entgegenstehe51. Die Entscheidung des BVerfG ist in sich jedoch sehr viel differenzierter, als es diese pauschale Aussage vermuten lässt. So enthält die Entscheidung zumindest drei Punkte, die je für sich zu würdigen sind. Erstens solle sich das Verbot mehrfacher Strafverfolgung in Art. 103 Abs. 3 GG nur auf eine mehrmalige Verfolgung eines Straftäters durch deutsche Gerichte beziehen52. Diese Aussage ergibt sich im wesentlichen aus dem Wortlaut und der Entstehungsgeschichte der Norm und dürfte daher auch heute noch in der Tat ganz herrschende Meinung sein. Danach diskutiert das Bundesverfassungsgericht aber zweitens mögliche Einschränkungen mehrfacher Strafverfolgung vor schlicht das deutsche, englische, schottische sowie amerikanische Recht und das SDÜ in den Vordergrund (zur Begründung dieser Auswahl siehe Thomas, ne bis in idem, S. 28 ff.); Esser, Europäisches Strafverfahrensrecht, stellt in seinen Untersuchungen zur EMRK (z. B. bei seinen allgemeinen Überlegungen auf S. 1 ff., sowie zum Prinzip des ne bis in idem in Art. 4 7. ZPEMRK auf S. 99) unkritisch nationale, supranationale und völkerrechtliche Normen nebeneinander; Franz, FS f. Rieß, S. 875 (878 ff.) zieht zu seiner Begründung eines völkerrechtlichen Prinzips des ne bis in idem unterschiedslos rein systemintern oder supra- bzw. international wirkende Regelungen heran; unklar auch Lagodny, FS f. Trechsel, S. 253 (253 ff.), der zur Lösung des Problems sich überschneidender Strafgewalten innerhalb Europas ein vom EuGH anzuwendendes Qualitätsprinzip propagiert, ohne deutlich zu machen, was genau er unter dem Begriff „Europa“ versteht – sollte damit die Europäische Union gemeint sein, hätte sich dieser konkretere Begriff angeboten; zu der mit der Rechtsvergleichung allgemein verbundenen Gefahr des Eklektizismus Eser, FS f. Kaiser, S. 1499 (1524). 50 Einen ähnlichen Befund diagnostiziert Satzger, Europäisierung, S. 696, wenn er feststellt, daß die zahlreichen vorhandenen Einzelnormierungen zwar eine Grundlage für ein effektives Verbot der Doppelverfolgung schaffen, das Konzept eines europäisierten Prinzips des ne bis in idem aber noch der Entwicklung bedarf; zur Illustration der Kritik sei wiederum verwiesen auf Franz, FS f. Rieß, S. 875 (880 ff.), der für den Nachweis, daß es einen allgemeinen Grundsatz des Völkerrechts gibt, wonach ausländische Urteile anzuerkennen oder zu berücksichtigen und mehrfache Sanktionen einzuschränken sind, unterschiedslos neben zwischenstaatlich wirkenden Vereinbarungen auch rein systemintern oder (nur) supranational wirkende Regelungen des Grundsatzes heranzieht und dann behauptet, Leitlinien, die die praktische Anwendung des Verbots der Doppelbestrafung steuern könnten, seien nicht erkennbar – möglicherweise wären diese Linien aber doch „erkennbar“, wenn nach dem rein nationalen, dem supranationalen und dem internationalen Charakter der Regelungen unterschieden würde. 51 So zum Beispiel von Radtke / Busch EuGRZ 2000, 421 (421) oder B. Hecker StV 2001, 306 (306). 52 BVerfGE 75, 1 (15 f).
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dem Hintergrund des aus dem Rechtsstaatsprinzip herzuleitenden Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes53. Dieser Grundsatz sei auch im verfahrensgegenständlichen Auslieferungsverkehr zu beachten. Mit diesen Erwägungen berücksichtigt das BVerfG die vom Grundgesetz vorausgesetzte Eingliederung der Bundesrepublik in die Völkerrechtsordnung der Staatengemeinschaft. Für den zu entscheidenden Fall aus dem Betäubungsmittelstrafrecht stellt es fest, die dort geltenden Anschauungen seinen international derart unterschiedlich, daß vom Rechtsstaatsprinzip geleitete Verhältnismäßigkeitserwägungen nicht zum Tragen kommen könnten. Das BVerfG betrachtet hier also den konkreten Einzelfall und den Vereinheitlichungsgrad der jeweiligen Sachmaterie. Generelle Aussagen für zwischenstaatliche Einschränkungen mehrfacher Strafverfolgung sind hieraus nicht abzuleiten; das BVerfG hält Einschränkungen aber immerhin unter bestimmten Voraussetzungen für möglich. Dies wird auch nicht dadurch relativiert, dass das Verfassungsgericht drittens feststellt, dass eine allgemeine Regel des Völkerrechts des Inhalts, dass eine in einem Staat verurteilte Person in einem Drittstaat nicht erneut verurteilt werden dürfe, nicht besteht. Hier spricht das Gericht von einem völkerrechtlichen Standard, nicht aber von einem europarechtlichen, der sich zudem in den seit der Entscheidung nunmehr rund fünfzehn vergangenen Jahren möglicherweise erheblich verändert hat und mit dem Zustand im Jahr 1987 nicht mehr unbedingt zu vergleichen ist54. Die entsprechenden Ausführungen des Gerichts sind daher kritisch zu würdigen. Dies gilt um so mehr als das BVerfG auf der Grundlage einer umfangreichen Aufnahme über den internationalen Normenbestand selbst feststellt, daß insgesamt eine Tendenz zur Berücksichtigung im Ausland ergangener Entscheidungen festzustellen sei und hier insbesondere den europäischen Rechtskreis hervorhebt55. Trotz der damit verbundenen Probleme ist eine derartige, stärker begriffsjuristische Diskussion durchaus verdienstvoll. So enthüllt und relativiert sie einerseits das jeweilige systembedingte Vorverständnis, bewahrt auf diese Weise den jeweiligen Autor oder Leser vor Mißverständnissen und verlangt neue Offenheit56. Sie stößt uns damit auf die Notwendigkeit, langfristig auch in diesem Bereich eine dem Gegenstand angepaßte Eigen- oder vereinheitlichte Terminologie zu entwikkeln. Die Jurisprudenz ist hier gegenüber der Realität, des sich immer stärker verdichtenden europäischen Rechtsraums in Rückstand57. BVerfGE 75, 1 (16 f.). Ebenfalls zweifelnd, ob das BVerfG an dieser Entscheidung unter aktuellen Bedingungen noch festhalten würde, Schomburg StV 1999, 246 (249); Franz, FS f. Rieß, S. 875 (881) kommt zu dem Ergebnis, daß „man heute von einem allgemeinen Grundsatz des Völkerrechts sprechen darf, nach dem ausländische Gerichtsverfahren und Urteile anzuerkennen oder zu berücksichtigen und mehrfache Sanktionen einzuschränken sind“. 55 BVerfGE 75, 1 (24 f.). 56 Siehe dazu das von Kühne JZ 1998, 876 (879) gebildete Beispiel zum deutschen Begriff der „Rechtskraft“ und seinen französischen Übersetzungen mit „l’autorité de la chose jugée“ und „définitivement jugée“. 57 Siehe die Einschätzung in der Einleitung des Maßnahmenprogramms zur Umsetzung des Grundsatzes der gegenseitigen Anerkennung gerichtlicher Entscheidungen in Strafsachen 53 54
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Eng hiermit verbunden ist die immer wieder erhobene Klage58, daß eine rechtsvergleichende Studie, was der Grundsatz des ne bis in idem in den Partnerstaaten meint, insgesamt fehlen würde und dringend erforderlich wäre. Eine solche wäre möglicherweise hilfreich, weil sie die nationalstaatliche Basis und damit konkrete Problemlösungen aufzeigen würde, aus denen sich Anregungen für die Behandlung speziell europäisch gelagerter Probleme entnehmen ließen. Andererseits würde es auch eine solche Studie nicht leisten, ein eigenes europastrafrechtliches Verständnis des Grundsatzes des ne bis in idem zu entwickeln. Sie birgt vielmehr die zusätzliche Gefahr, daß der Blick darauf verstellt wird, daß es hier nicht nur um innerstaatliches Recht und dessen Anpassung geht, sondern um darüber stehende Ebenen. Die Diskussion hat insgesamt Bereiche, die rein nationalstaatlichen Regelungen per definitionem nicht implizit sein können.
c) Konsequenzen für die vorliegende Untersuchung Um die angedeuteten Probleme in sich stimmig einer praktikablen Regelung zugänglich zu machen, sollen diese hier nach einer funktionalen Analyse des Prinzips des ne bis in idem vor dem Hintergrund eines kohärenten, final-modalen Grundkonzepts diskutiert werden59. Dieses Konzept sollte dabei keineswegs technisch steril sein, sondern unter Einbeziehung gemeinsamer Traditionen und aufbauend auf dem vorhandenen Vorverständnis, insgesamt aber emanzipiert – in einem ersten Schritt zu Gunsten einer erhöhten Flexibilität durchaus auch unter Inkaufnahme einer gewissen Abstraktion – entwickelt werden60. Mittels einer entABl. EG 2001 Nr. C 12 / 10 vom 15. Januar 2001 und für den Bereich der Betrugsstrafbarkeit den von der EG-Kommission diagnostizierten Handlungsbedarf in Nr. 1.1. der Begründung des Vorschlags für eine Richtlinie über den strafrechtlichen Schutz der finanziellen Interessen der Gemeinschaft KOM(2001)272endg. 58 Schomburg NJW 2000, 1833 (1835). 59 In diesem Sinne bemängelt auch Schmidt-Aßmann in: Maunz-Dürig, Komm. z. GG, 30. Lieferung, 1992, Art. 103 Abs. 3 Rn. 279 schon für das deutsche Recht das Fehlen eines in sich geschlossenen „Schutzsystems gegen Doppelsanktionen“, das weit über die bisher behandelten Konkurrenzprobleme hinaus zunehmend wichtiger werde – auch im Hinblick auf die fortschreitende Durchdringung der nationalen und supranationalen Rechtsordnung und der daraus resultierenden Zunahme von Möglichkeiten doppelter Sanktionen; zu den Anforderungen an ein solches Konzept siehe auch Dannecker JZ 1996, 869 (870 f.). 60 Ähnlich Zieschang ZStW 113 (2001), 255 (264 f.): „Die Harmonisierung des Strafrechts in Europa stellt sich damit als ( . . . ) Herausforderung für die Wissenschaft dar, ausgehend von den sachlogischen Strukturen (zu diesem Begriff siehe Hirsch, FS f. Spendel, S. 43 [48 ff., 55], Anm. d. Verf.) in einem internationalen, wissenschaftlichen Diskurs das harmonisierte „richtige“ Recht zu entwickeln. ( . . . ) Ausgangspunkt muß ( . . . ) sein, daß ein Sachproblem unabhängig von den jeweiligen Rechtsordnungen und losgelöst von den einzelnen Systembegriffen konkret bezeichnet wird. Unter Berücksichtigung der einzelnen möglichen – gegebenenfalls unterschiedlichen – Konzeptionen ist dieses Problem dann ausgehend von den sachlogischen Zusammenhängen einer rechtlichen Lösung zuzuführen“; in diesem Sinne auch Kühl ZStW 109 (1997), 777 (789) sowie ders. FS f. Söllner, 613 (618); Jung JuS 1998,
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sprechend selbstbewußten Diskussion können die Rechtsprechung und vor allem auch die Wissenschaft ein pluralistisches Gegengewicht zu gerade der EG / EU vorgeworfenen eurokratischen Tendenzen stellen. Als Alternative bliebe allenfalls eine einzelfallbezogene Ergebnisdiskussion. Der Ansatz folgt damit in der Methode ein Stück weit den Verfassern des Corpus Juris zum Schutz der finanziellen Interessen der Europäischen Union. Auch sie haben ihr Konzept zwar von der Sachmaterie geleitet aber gerade auch von gemeinsamen Grundideen her erarbeitet und begründet und etwa explizit am Schuldprinzip, dem Gesetzlichkeitsprinzip und dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz festgehalten61. Methodisch haben auch sie ihren Vorschlag rechtsvergleichend durch eine Harmonisierung und Vereinheitlichung der verschiedenen nationalen Modelle entwickelt62. Dabei ist aber im Detail durchaus Vorsicht geboten, denn wenn etwa als Basis der prozeßrechtlichen Regelungen unter anderem das Territorialitätsprinzip zugrunde gelegt wird63, ist damit keineswegs deutlich, auf welches „Territorium“ sich dieses nun beziehen soll. Wenn dies in der Folge zur Schaffung eines „Prinzips der europäischen Territorialität“ 64 führt, dann verdeckt dies den Blick auf die eigentlichen Sachprobleme – das Konkurrenzverhältnis sich überschneidender Strafansprüche und Souveränitäten – möglicherweise mehr, als es sie zu lösen vermag. Methodisch ebenfalls ähnlich ist der Versuch Schermers65, der die Ambivalenz der verschiedenen topischen Argumentationsformen aufzeigt und ausgehend von einem Verständnis des Prinzips des ne bis in idem als „a general principle of law“ mit Blick auf die existierenden Einzelregelungen konkrete Schlüsse zu ziehen versucht. Auch dieser Ansatz leidet jedoch an dem spezifischen Mangel, daß er nicht zwischen der rein nationalen und der im weitesten Sinne internationalen Dimension des Grundsatzes unterscheidet, folglich nicht die verschiedenen Bedürfnisse und Ausgangssituationen erkennt und insgesamt seine Lösungsvorschläge auf die Ausformulierung von Kompetenzregelungen beschränkt.
1 (2), zu den Möglichkeiten und Grenzen einer solchen funktionalen Analyse allgemein Pawlowski Rn. 317 ff. 61 Dazu Sieber, in: Huber (Hrsg.), Corpus Iuris, S. 13 (17 ff.); Tiedemann, ebenda, S. 61 (61 ff.); Spinellis KritV 1999, 141 (148 ff.); kritisch zur Art und Weise, wie dieses zustande gekommen ist, aber Hassemer KritV 1999, 133 (136 ff.) und zur Art und Weise insbesondere der deutschen Diskussion über das europäische Strafrecht Prittwitz ZStW 113 (2001), 774 (778 ff.). 62 Delmas-Marty, in: Huber (Hrsg.), Corpus Iuris, S. 33 (34, 41 ff.). 63 Sieber, in: Huber (Hrsg.), Corpus Iuris, S. 13 (17 ff.) 64 Zum Begriff des europäischen Territorialitätsprinzip siehe Delmas-Marty, Corpus Juris, S. 48 f.; vergleiche auch Picotti, in: Huber (Hrsg.), Corpus Iuris, S. 291 (303) und Spinellis KritV 1999, 141 (152 f.), der die offen bleibenden Fragen gleich andeutet. 65 Schermers in: Capotorti, Du droit international, S. 601 (601 ff.).
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II. Entwicklung einer rechts- und normtheoretischen Grundkonzeption des Prinzips des ne bis in idem Bislang wurde der Grundsatz des ne bis in idem vor allem als individuelles Abwehrrecht thematisiert. Sein Bezug zu den Grundlagen der Rechtsordnung blieb dabei im Hintergrund. Erst aus diesem folgt aber der Status des Rechtssatzes als Basiselement einer objektiven Wertordnung, als Rechtsprinzip oder als einfaches positives Recht. Notwendig ist daher eine Rückbesinnung auf bestimmte – möglichst europaweit akzeptierte – Basiselemente eines Rechtssystems. Das Prinzip des ne bis in idem wird deshalb zunächst staats- bzw. systemtheoretisch konzipiert – ganz ähnlich also wie bereits 1914 Binding seine Ausführungen über das rechtskräftige Strafurteil eingeleitet hat66.
1. Der Grundsatz des ne bis in idem als Forderung systemorganisierter Freiheit Kennzeichen eines jeden beliebigen Systems sind Strukturen. Diese Strukturen folgen in vielen Fällen daraus, daß jedem Einzelelement eine Funktion zugewiesen wird. Ein System für die Organisation des Zusammenlebens von Menschen kann sich nun aufgrund des Selbstwerts eines Menschen, seiner Personenqualität67 an sich, durch eine Funktionszuschreibung allein nicht auszeichnen. Ein System, welches das Gemeinwesen von Menschen ordnen will, identifiziert sich vielmehr durch Strukturen gerade für menschliches Verhalten in diesem68. Eine Möglichkeit, menschliches Verhalten zu strukturieren, liegt darin, die Struktur der reinen Funktionszuschreibung adäquat zu erweitern. In welche Richtung dies sinnvollerweise zu geschehen hat, läßt sich mit Blick auf die eingangs erwähnten Bedürfnisse feststellen: Einerseits muß die Struktur dem Individuum schon die Wahl seines Platzes innerhalb des Systems überlassen und für zukünftige Änderungen in dieser Wahl offen bleiben, andererseits muß sie dann auch die Organisation dieser Freiheiten zum Gegenstand haben.
66 Binding, Strafrechtliche Abhandlungen, S. 303 ff. geht dabei von den Grundsätzen der Einmaligkeit definitiver Staatsaktion sowie der möglichsten Übereinstimmung der Staatsakte aus (die Abhandlung ist im Erstdruck erschienen im Sächs. Archiv für Rechtspflege IX, 1914, S. 1 ff.); im öffentlichen Recht ist dieser Ansatz auch heute durchaus geläufig, vgl. Fliedner AöR 99 (1972), 242 (252 ff.); Schmidt-Aßmann in: Maunz / Dürig, GG, Art. 103 Abs. 3 Rn. 265 ff. (mit Verweis auf entsprechende Ausführungen von Dürig in der Vorauflage, Rn. 130 ff.). 67 Man könnte hier auch von „Sein“ oder menschlicher „Vernunft“ sprechen; das deutsche Grundgesetz gebraucht in Art. 1 Abs. 1 insoweit den Begriff der „Würde“. 68 Die Rechtssoziologie bezeichnet dies makrosoziologisch als „Ordnungsgefüge der Gesellschaft“; Rehbinder, S. 94.
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Eine solche, minimale69 Freiheitsorganisation stellt insgesamt ein einheitliches Strukturprinzip dar, das materielle wie formelle Ausprägungen findet70: Unmittelbar einleuchtend dürfte dabei zunächst die Forderung nach verbindlich verbürgten Individualfreiheiten sein. Wenn diese einmal gegeben sind, liegt es nahe, die Freiheitsgewährleistungen in einem weiteren Schritt durch allgemein gültige Regeln und die Verbürgung von Verfahren zu vervollkommnen. Erst wenn das Individuum die durch solche Verfahren gesteuerten Reaktionen auf sein Verhalten im Vorhinein absehen kann, ist es in der Lage, planvoll lenkend seine Interessen zu verfolgen und damit seine persönliche Freiheit zu entfalten71. Dieses notwendige Vertrauen72, das solchen Regeln und Verfahren entgegen gebracht wird, läßt sich unter anderem mit den im übrigen geläufigeren Begriffen der Rechtssicherheit und des Vertrauensschutzes beschreiben73. 69 An dieser Stelle sei auf Böckenförde, Staat, Verfassung, Demokratie, S. 264 ff. hingewiesen, nach dessen Ansicht diese Strukturen erst eine abstrakte Chance zur Freiheit eröffnen, nicht aber schon eine reale Freiheit mit all ihren sozialen Voraussetzungen; Schapp JZ 2003, 217 (218 ff.) sieht in diesen Strukturen das den Menschenrechten vorgelagerte Fundament und verweist entwicklungsgeschichtlich auf die Anfänge dieses Denkens in der Magna Charta Libertatum von 1215 und deren Weiterentwicklung durch John Locke. 70 Böckenförde, FS f. Arndt, 53 (57 f.). 71 Ähnlich formuliert Alexy, Theorie, S. 452 vor dem Hintergrund des deutschen Grundgesetzes folgenden subjektiven Anspruch des Einzelnen: „Wenn eine individuelle Freiheit grundrechtlich geschützt ist, dann hat der Schutz grundsätzlich die Form eines subjektiven Rechts. Dies aber heißt, daß grundsätzlich der Pflicht des Staates zur Organisation in dem Umfang Rechte einzelner korrespondieren, in dem dem Staat die Organisation deshalb geboten ist, weil der Schutz der Freiheit der jeweils einzelnen sie erfordert.“ 72 Dazu, daß mit diesem Begriff des notwendigen Vertrauens oder des „Vertrauensgrundsatzes nur das Ergebnis der entscheidenden, normativen Überlegungen psychologisierend umschrieben wird, siehe auch die Überlegungen von Frisch, Tatbestandsmäßiges Verhalten, S. 190 f. (insb. Fn. 133 a.E.) zum allgemeinen Vertrauensgrundsatz 73 Ähnliche Argumentationsmuster finden sich in der Rechtssprechung des deutschen Bundesverfassungsgerichts, das unter anderem unter Rückgriff auf das (insbesondere materielle) Rechtsstaatsprinzip die Grundsätze der Verhältnismäßigkeit (BVerfGE 19, 342 [348 f.] unter Hinweis auf Art. 5 EMRK; BVerfGE 61, 126 [134]), des fairen Verfahrens (BVerfGE 38, 105 [111]; 46, 202 [210]), des Vertrauensschutzes (BVerfGE 1, 264, [280]; 43, 242, [286 f.]; 49, 168 [185]) und einer über Art. 103 Abs. 3 GG hinausreichenden Begrenzung doppelter Bestrafung (BVerfGE 28, 243 [277 ff.]) herleitet; rechtshistorisch wurden diese Forderungen im deutschen Recht auch aus dem Begriff der „aequitas“ oder der „Billigkeit“ bzw. im common law aus der „equity“ im Gegensatz zum „ius“ als dem absolut wahren Recht hergeleitet, vgl. z. B. Spinellis, Materielle Rechtskraft, S. 9 f.; Einchorn Gerichtssaal 1871, 401 (406 f.); mißverständlich hierzu Rüping in: Dolzer / Vogel / Grasshof (Hrsg.), Bonner Kommentar, Art. 103 Abs. 3 Rn. 9, bei dem nicht klar wird, zu welchem Zeitpunkt der Begriff der Billigkeit in der Entwicklungsgeschichte des Grundsatzes des ne bis in idem welchen Inhalt haben soll; ausführlich unter Bezugnahme auf verschiedene rechtsphilosophische Strömungen zu diesem Punkt Zippelius, Wesen des Rechts, S. 103 ff. (insbesondere auch zum Spannungsverhältnis von genereller Norm und Billigkeit S. 110 ff.), der für den Begriff der Rechtssicherheit im übrigen noch weiter zwischen Orientierungs- und Realisierungssicherheit unterscheidet; aus dem jüngeren deutschen Schrifttum umfassend Radtke, Strafklageverbrauch, S. 36 – 70.
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Damit dieses System der Freiheitsorganisation das alles zu leisten vermag, muß es in Notsituationen74 funktionell in der Lage sein, die von ihm garantierten Freiheiten durchzusetzen. Die dazu erforderliche faktische Macht wird allgemein unter dem Stichwort „Gewaltmonopol“ zusammengefaßt und enthält zugleich die Befugnis, im Notfall so viel von der übertragenen Macht anzuwenden, wie notwendig ist, um das System zu behaupten, wie zugleich die Begrenzung auf das in der konkreten Situation Erforderliche. Die Situation des Strafrechts als eine der Situationen, in der ein Teil der zur Verfügung stehenden Gewalt in diesem Sinn angewandt wird75, liegt vor, wenn sich eine Person gegen die nach dem obigen Muster zustande gekommenen Regeln wendet und damit in grundsätzlicher Weise deren allgemeine Geltung in Abrede stellen will76. Der Schaden, den das System durch die Zuwiderhandlung des Einzelnen genommen hat, wird es nun auszugleichen versuchen. Aufgabe des Strafprozesses ist es also nicht nur, die durch den Angeschuldigten begangene Missetat festzustellen77. Es geht auch um die Bewährung der im Strafrecht niedergelegten Ordnung unter der Wahrung der Interessen der Allgemeinheit und Einzelner als (aktuelle oder potentielle) Täter oder Opfer der Tat78. 74 Vgl. (freilich von einem rechtspositivistischen Ansatz kommend, aber in der empirischen Beobachtung übereinstimmend) Hart, Begriff des Rechts, S. 63: „Die Hauptfunktion des Rechts als eines Mittels der sozialen Kontrolle liegt nicht im Privatprozeß oder in der Strafverfolgung; sie sind berechtigte Notbehelfe, wenn das System versagt.“ 75 Auf den Umstand, daß der Grundsatz des ne bis in idem in einem weit größerem Zusammenhang als (nur) dem Strafverfahren steht, hat auch bereits Binding, Strafprozessuale Abhandlungen, S. 305 hingewiesen, wenn er – allerdings vor dem Hintergrund eines sehr obrigkeitsrechtlichen Staatsverständnisses – schreibt: „Die definitive Erledigung einer Staatsaufgabe (. . . ) ist ihrer Natur nach eine einmalige. (. . . ) Ihre Handlung ist die Handlung des Staates und schließt ihrer Natur nach jeden Versuch einer Wiederholung derselben durch andere Behörden gleicher oder ungleichartiger Zuständigkeit aus. Für dieses ganze kolossale Gebiet gilt in Wahrheit das Verbot des ne bis in idem“; auch Hart, Begriff des Rechts, S. 63 nennt insoweit neben dem Strafprozeß gleichermaßen den Zivilprozeß. 76 Hierin liegt eine Erweiterung gegenüber dem traditionellen „zweipoligen“ Straftatmodell, das sein Unrechtsverständnis auf den zwei Positionen des aktiven und des passiven Subjekts aufbaut, wobei diese als Einzelindividuen betrachtet werden, welche durch ein Verhalten des ersten, das eine Beeinträchtigung des zweiten Subjekts verursacht hat, miteinander in Kontakt gebracht werden (Militello in: Militello / Arnold / Paoli, Organisierte Kriminalität, S. 3 [6]); der Angriff des „aktiven“ Subjekts ist nicht nur ein Angriff auf ein anderes Subjekt, sondern immer auch auf die Organisation der Freiheit der anderen und subjektiv gewendet deren Vertrauen in die Funktionsfähigkeit dieser Verhaltensordnung. 77 So etwa noch Binding, Strafprozessuale Abhandlungen, S. 308; Hippel, Strafprozeß, § 2 I nennt als zu wahrende Interessen immerhin schon die „des Staates, der Gesamtheit wie des Einzelnen“ nebeneinander. 78 Deutlich in diese Richtung dann Peters, Strafprozeß, S. 15 ff., 21 ff., der zwar betont, im Strafrecht gehe es „nicht in erster Linie um die Wahrung der Interessen eines einzelnen, sondern der Allgemeinheit“, aber zugleich feststellt, der Prozess diene „auch unmittelbar Individualinteressen“ und müsse „in die Gesamtheit staatlicher Aufgaben“ eingebaut werden und Roxin, Strafverfahrensrecht, § 1 Rn. 2, wonach die „Grenzen der staatlichen Eingriffsbefugnis, die den Unschuldigen vor ungerechten Verfolgungen und übermäßiger Freiheits-
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Hiermit sind die verschiedenen Interessen, die in dieser Konfliktsituation79 zu einem Ausgleich80 gebracht werden müssen, genannt: Aus der Begrenzung auf das Erforderliche folgt – unter anderem81 – das Postulat, Verstöße soweit möglich in nur einem Verfahren zu ahnden82. Der Möglichbeschränkung schützen und auch dem Schuldigen die Wahrung aller Verteidigungsrechte sichern sollen, die „Justizförmigkeit des Verfahrens“ kennzeichnen und in einem rechtsstaatlichen Strafverfahren „die Wahrung der Justizförmigkeit nicht weniger wichtig als die Verurteilung Schuldiger und die Wiederherstellung des Rechtsfriedens“ ist; erst recht sichtbar wird dieses den Strafprozeß bestimmende Interessengefüge, wenn man den „europäischen“ Strafprozeß vor den Schranken der europäischen Menschenrechte denkt (siehe dazu Esser, Europäisches Strafverfahrensrecht, S. 3 ff.; Kühne, Strafverfahrensrecht, S. 30 sieht darin allerdings nur die „minimalia moralia“; kritisch gegenüber der nicht hinreichenden Berücksichtigung von Individualinteressen im Vorschlag zu einem Corpus Juris zum Schutz der finanziellen Interessen der Europäischen Union Nelles in: Huber [Hrsg.], Corpus Juris, S. 261 [266 ff.]); das genaue Verhältnis dieser Interessen wird sich dabei nach den gesellschaftlichen Grundlagen überhaupt beurteilen, so daß für den zwischenstaatlichen Bereich explizit zu hinterfragen sein wird, inwieweit eine direkte und subjektive Rechtsstellung der Verfahrensbeteiligten wirklich begründet ist. 79 Jarass / Pieroth, GG, Art. 20 Rn. 46 spricht insoweit von einem Konflikt zwischen dem Gebot der Rechtssicherheit und der Forderung nach materieller Gerechtigkeit, wobei mit dieser Formulierung nicht klar wird, ob die materielle Gerechtigkeit als absolute oder als systembedingte verstanden werden soll; ähnlich auch die Gegenüberstellung von Rechtssicherheit und Gerechtigkeit bei Schwarplies S. 2, der über die individualschützende Funktion der Sicherheit noch stark auf die aus der Rechtskraft folgende Autorität der Rechtsprechungsorgane abstellt. 80 Roxin, Strafverfahrensrecht, § 1 Rn. 3 ff. (mit Beispielen zu einer solchen Abwägung bei der Bestimmung des Umfangs der Rechtskraft eines Urteils in Rn. 4) sieht es geradezu als das Ziel des Strafverfahrensrechtes die Parameter der Justizförmigkeit, der materiellen Richtigkeit und des Stiftens von Rechtsfrieden gegeneinander abzuwägen und rechtliche Maßstäbe dafür zu entwickeln, welchem von ihnen im Einzelfall der Vorrang gebührt. 81 Roxin, Strafverfahrensrecht, § 1 Rn. 5 betont, dass diese Einschränkung „in jeder Prozeßsituation von neuem“ mit dem Prozessziel der materiellen Richtigkeit in Einklang gebracht werden müsse. 82 So weist beispielsweise das deutsche Recht – aber auch das Common Law vgl. Simester / Sullivan, Criminal Law, S. 567 ff. – historisch die Kompetenz zur Verhängung von Maßregeln der Besserung und Sicherung auch aus diesem Grund dem für das Strafverfahren zuständigen Richter zu (siehe hierzu Hanack, in: Jähne / Laufhütte / Odersky (Hrsg.), Leipziger Kommentar, StGB, Rn. 16 vor § 61), wobei diese „Einheitlichkeit“ des Verfahrens gem. §§ 413 ff. StPO auch für das selbständige Sicherungsverfahren zu wahren versucht und gem. § 67 Abs. 4 StGB bis zum Vikariieren von Strafe und Maßregel fortgeführt wird; entsprechend sieht Pieroth JZ 2002, 922 (926 f.) in den Regelungen zur nachträglichen Sicherungsverwahrung im deutschen Recht einen Verstoß gegen Art. 103 Abs. 3 GG; vor diesem Hintergrund ist auch die Kritik von Charrier, Convention des Droits de l’Homme, Art. 4 Protocole No. 7 Rn. 3 an der französischen Rechtsprechung zu verstehen, der er vorwirft, der Anwendung des Grundsatzes des ne bis in idem dadurch zu entgehen, daß sie bestimmte Maßnahmen (im konkreten Fall die Ausweisung eines Ausländers) als Sicherungsmaßnahmen und nicht als Strafen qualifiziert; noch strikter als hier formuliert in Österreich Grabenwarter (ö)JBL 1999, 102 (104): „Zweck des Grundrechts (des ne bis in idem, Anm. d. Verf.) ist es, daß der Staat nur einen Versuch der Strafverfolgung hat, mag dieser aus welchen Gründen auch immer nicht zu dem aus der Sicht des Staates gewünschten Ergebnis geführt haben.“ 3*
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keitsvorbehalt ergibt sich dabei aus dem Umstand, daß die Systeme aus anderen Gründen so organisiert sein können, daß in bestimmten Verfahren nur einzelne Aspekte des Verstoßes beleuchtet werden können83. Aus dem Postulat der Vorhersehbarkeit einerseits und der Einräumung einer Reaktionsbefugnis seitens des Systems andererseits ergibt sich materiell, daß die Folgen eines Handelns bei der Tat im Wesentlichen feststehen müssen. Der Einzelne muß zunächst wissen, welche Konsequenzen ein bestimmtes Verhalten nach sich zieht, und weiter darauf vertrauen dürfen, daß auch nur diese Konsequenzen gezogen werden84. Je komplexer ein System strukturiert ist, desto bedeutender wird aus verfahrensrechtlicher Sicht die Forderung, daß sich dieses für das Individuum als „handhabbar“ erweist85: Wenn zuvor die Bedeutung von Rechtssicherheit als Orientierungssicherheit betont wurde, so ist Grundlage hierfür, dass Orientierung überhaupt vorhanden ist – und zwar nicht nur bei den Spezialisten oder Personen, die wirtschaftlich dazu in der Lage sind, sich dieses Spezialwissen verfügbar zu machen, sondern möglichst bei jedem86. Recht muß klar, übersichtlich und unmissverständlich sein87. Dazu gehört auf verfahrensrechtlicher Seite auch, dass dem Einzelnen nicht etwa viele verschiedene Behörden gegenüberstehen und sich ihm im Idealfall vielmehr in den verschiedenen Verfahrensstadien jeweils ein konkreter Ansprechpartner zu erkennen gibt, die Rechte und Pflichten der Verfahrensbeteiligten erkennbar sind und der Ablauf des Verfahrens in seinen groben Zügen feststeht. Auf derselben Linie liegt die weitere Forderung, die notwendigen Schutzmechanismen nicht erst nach dem Abschluß eines Verfahrens zum Tragen kommen zu lassen. Richtigerweise müssen vielmehr bereits die mit einem Verfahren verbundenen Belastungen des Einzelnen so gering als möglich gehalten werden, so daß sich nicht erst eine mehrfache Bestrafung als unzulässig erweist, sondern bereits eine mehrfache Verfolgung des Verstoßes88. Um eine solche zu vermeiden, kann es im Einzelfall notwendig werden, bereits im Vorfeld durch Kompetenzregelungen und Zuständigkeitsverteilungen eine entsprechende Koordination der verschiedenen 83 Auch hier im Ansatz ähnlich, aber in seiner Deduktion weniger weitgehend etwa das deutsche Bundesverfassungsgericht, vgl. BVerfGE 28, 243 (277). 84 Für die Begründung das Prinzip des ne bis in idem neuerdings ebenfalls ganz dezidiert auf den Vertrauensgrundsatz abstellend BGH NJW 2004, 375 (375). 85 In dieselbe Richtung geht die Forderung von Rüping in: Dolzer / Vogel / Grasshof (Hrsg.), Bonner Kommentar, Art. 103 Abs. 3 Rn. 95, wonach angesichts der zunehmenden Ausdifferenzierung der rechtlichen Regelungen der Grundsatz des ne bis in idem auch die Funktion erhalte, ungerechte Auswirkungen konkurrierender Regelungen zu beschneiden. 86 Zippelius, Wesen des Rechts, S. 110 drückt dies kurz wie folgt aus: „Die Rechtssicherheit erfordert auch eine sichere Orientierung über rechtserhebliche Sachverhalte.“ 87 Zippelius, Wesen des Rechts, S. 104 ff. 88 Siehe seitens der deutschen Rechtsprechung BVerfGE 56, 22 (36 f.) gestützt auf das Prinzip des „fair trial“; gestützt auf Art. 103 Abs. 3 GG BGH NJW 1991, 2779 (2780) und BGHSt 29, 288 (297) .
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Organe sicherzustellen89. Wo eine solche nicht erfolgt oder nicht möglich ist, kann sich dann sogar eine Pflicht des Systems ergeben, das Individuum vor einer Verfolgung von Seiten Dritter zu schützen, indem etwa Zugriffsversuche auf das Individuum abgewehrt werden. Entsprechend folgt hieraus, daß in den Fällen, in denen eine mehrfache Bestrafung aus irgendwelchen Gründen nicht vermieden werden konnte, diese spätestens im Rahmen der Strafzumessung oder Strafvollstreckung zu berücksichtigen ist. Ob die für das einzelne System entwickelten Forderungen in gleichem Maße für systemübergreifende Sachverhalte wirksam werden, könnte zweifelhaft sein. Systeme, die voneinander unabhängig sind, können sich nicht beeinflussen90. Notwendig sind daher Verbindungen zwischen den Systemen, aus deren Form sich weitere Forderungen ableiten lassen91. Derartige Verbindungen können in Art und Reichweite äußerst verschiedenenartig ausgestaltet werden: Sie können erst im und durch den Einzelfall geknüpft werden, aber auch institutionalisiert sein oder sogar ein eigenes, übergeordnetes System bilden92. Zeichnen sich solch institutionalisierte Verbindungen in ihren Strukturelementen dadurch aus, daß sie einen Raum zur Entfaltung individueller Freiheit konstituieren oder konstituieren wollen, dann ergeben sich für dieses übergreifende System dieselben materiellen und formellen Ausprägungen der notwendigen Freiheitsorganisation, wie sie bereits für das Elementarsystem ausgearbeitet wurden. Bei systemübergreifenden Verbindungen im Einzelfall kann es wieder notwendig werden, bereits im Vorfeld durch Kompetenzregelungen und Zuständigkeitsverteilungen eine entsprechende Koordination der agierenden Systeme sicherzustellen93. Dabei dürfte dies insbesondere dann gelten, wenn und soweit diese system89 Auf dieser Argumentationslinie liegt auch Zippelius, Wesen des Rechts, S. 106, wenn er aus dem Gedanken der Orientierungssicherheit heraus die Überschaubarkeit der Rechtsordnung für den Einzelnen insgesamt fordert. 90 So das allgemeine völkerrechtliche Verständnis äußerer Souveränität, vgl. Hillgruber JZ 2002, 1072 (1074 ff.); mit rechtstheoretischem Bezug Hart, Begriff des Rechts, S. 293 ff.; unklar bleibt an diesem Punkt Mayer S. 60, der zwar aus innerstaatlichen Gerechtigkeitserwägungen heraus im Einzelfall die Anwendung des Anrechnungsprinzips herleitet (S. 62 f.), dabei aber ausgehend von der These überschneidender Strafzwecke bereits Verbindungen zwischen den Systemen voraussetzt. 91 Hart, Begriff des Rechts, S. 303 verwendet insoweit die Metapher eines souveränen Staates, der durch Verpflichtungen, die ihm das internationale Recht auferlegt, „Verbindlichkeiten“ eingeht. 92 Dies gilt zunächst einmal unabhängig von der Frage, ob man das Verhältnis von der systeminternen Organisation zur systemübergreifenden Organisation monistisch oder dualistisch versteht; stellvertretend seien hier die Ansätze von Triepel, Völkerrecht, § 10 (insb. S. 254 ff.) für ein dualistisches Verhältnis und Kelsen, Souveränität, § 37 für ein monistisches Verständnis (und gegen Triepel in § 33) genannt; als Beispiele für die Ausgestaltung solcher Verbindungen seien hier das Europäische Übereinkommen über die Rechtshilfe in Strafsachen vom 20. April 1959 (EuRHÜbk, BGBl. II [1964], S. 1369 ff.) mit den dazugehörigen Ergänzungsverträgen mit verschiedenen Einzelstaaten (Ex-Jugoslawien, Österreich, Schweiz, Niederlande, BGBl. II [1974], 1165) angeführt.
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übergreifenden Verbindungen im Einzelfall ihrerseits systemübergreifende, individuelle Freiheiten schaffen. Wo eine solche Koordination nicht erfolgt oder nicht möglich ist, kann sich erneut eine Pflicht des Systems ergeben, den Einzelnen vor einer Verfolgung von Seiten Dritter zu schützen, indem etwa Zugriffsversuche auf das Individuum abgewehrt werden. Würde hier das System, das die Aufgabe der Sanktion durch seine eigene Mithilfe auf ein anderes übertragen hat, später selbst einschreiten, würde es sich damit zu seinem eigenen Vorverhalten in Widerspruch setzen. Es würde seine eigene Entscheidung revidieren, ohne hierzu ermächtigt zu sein. Eine Kritik an den bisherigen Ausführungen zu dem zwischenstaatlich wirkenden Prinzip des ne bis in idem könnte aus einer scheinbar mangelnden Beachtung der Rechtsstellung des Einzelnen folgen: Während zur Begründung eines systemintern wirkenden Verbots mehrfacher Strafverfolgung auf das Individuum als Rechtsperson abgestellt wurde, wurden die Interessen des Einzelnen in den bisherigen Überlegungen zu einem zwischenstaatlichen Prinzip des ne bis in idem durch den Staat mediatisiert. Dies entspricht der Lehre des klassischen Völkerrechts. Dort wurde der Einzelne tatsächlich nur als reines Objekt der Völkerrechtsnormen angesehen, die nach dem Prinzip der souveränen Gleichheit nur die Beziehungen zwischen den Staaten regeln sollten94. Gegen die unreflektierte Bezugnahme auf die Person als solche spricht auf völkerrechtlicher Ebene außerdem noch ein weiterer Umstand. Die historisch-rechtsvergleichenden Überlegungen zur Entwicklung des systemintern wirkenden Grundsatzes des ne bis in idem zeigen dessen Abhängigkeit vom jeweils geltenden Menschenbild. Will man nun dem (berechtigten) Vorwurf des Eurozentrismus – oder jedenfalls der Zentriertheit auf ein Menschenbild der westlichen Welt – entgehen, muß man bei der Ableitung eines zwischenstaatlichen Grundsatzes des ne bis in idem von einem völkerrechtlich geprägten Bild des Individuums ausgehen. Die Völkerrechtsordnung ist nach moderner Auffassung aber nicht mehr nur ein formales, durch Verträge und gewohnheitsrechtliche Übung geschaffenes Recht der weltstaatlichen Organisation95. Insbesondere die Probleme der Kriegsverbrecher und der Flüchtlinge haben die Diskussion um die Völkerrechtssubjektivität des Individuums einen entscheidenden Schritt weiter geführt96. Mit der internationalen Flüchtlingskonvention vom 28. Juli 1951 wurde ein internationales Instrument geschaffen, das den Flüchtlingen auf der Ebene des Völkerrechts einen internationalen Rechtsstatuts gibt, der durch ein internationales Organ, den UN-Hoch93 Eine entsprechende Forderung leitet Eser, FS f. Waltos, S. 169 (187) aus dem Grundgedanken einer „menschengerechten“ Strafjustiz im Zeitalter von Globalisierung und Europäisierung ab; kritisch zu solchen Ansätzen in rein zwischenstaatlichen Vereinbarungen UngernSternberg ZStW 94 (1982), 84 (99 f.). 94 Siehe stellvertretend Kimminich / Hobe, Völkerrecht, S. 215. 95 Fischer-Lescano ARSP 88 (2002), 349 (353) mit zahlreichen Nachweisen, siehe dort auch zum Gegensatzpaar der (weltstaatlichen) Organisation und der spontanen Ordnungen. 96 Kimminich / Hobe, Völkerrecht, S. 155 ff.; Doehring, Völkerrecht, § 20.
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kommissar für Flüchtlinge, garantiert und überwacht wird97. Noch deutlicher wird die Stellung des Einzelnen als Völkerrechtssubjekt nach den Statuten des Weltstrafgerichtshofs. Wird das Individuum hier für bestimmte Verbrechen gegen die Menschheit direkt in die Haftung genommen, wird das Völkerrecht im selben Maß durch die Person des Einzelnen verpflichtet98. In dem Umfang wie das Individuum dort strafrechtlich verfolgt wird, stehen ihm verfahrensrechtliche Garantien zu. In dem Umfang, wie es dort verurteilt wird, muß das Völkerrecht die Einmaligkeit dieser Strafverfolgung garantieren99. Insgesamt lassen sich also Entwicklungen erkennen, die zu einer Aufwertung des Individuums im Völkerrecht führen100, derzeit aber noch nicht hinreichend ausgeprägt sind, um zur Begründung eines generellen zwischenstaatlich wirkenden Prinzips des ne bis in idem herangezogen zu werden. Als Ergebnis bleibt somit festhalten, daß sich das Verbot doppelter Strafverfolgung als Forderung systemorganisierter Freiheit begreifen läßt. Dabei ist es in seiner konkreten Ausgestaltung seinerseits abhängig von dem grundsätzlichen Ent97 Kimminich / Hobe, Völkerrecht, S. 155 ff., dort auch zum Streitstand im Detail und dem Ergebnis, daß eine Tendenz zur Völkerrechtssubjektivität des Individuums bestehe, zurückhaltender noch die Vorauflage S. 217 f. insbesondere zu dem Umstand, daß ein Großteil der Lehre „inmitten des allgemeinen Wandlungsprozesses auf dem halben Wege von der Objektstheorie zur vollen Anerkennung der Einzelmenschen als Völkerrechtssubjekt stehengeblieben“ ist; auch die Auffassung von einem bestimmten Bereich eines sog. „self-executing“Völkerrechts hat sich bislang allenfalls ansatzweise durchsetzen können, vgl. Doehring, Völkerrecht, § 20 II. 98 Die Lehre ist bezüglich der letzten Schlußfolgerung noch sehr zurückhaltend, wird diesen Schritt aber, wegen der Art und Weise, wie sie die direkte Verpflichtung des Individuums durch das Völkerrecht betont, nachvollziehen müssen: Vgl. Doehring, Völkerrecht, § 23 I, der von „persönlicher Schuld für völkerrechtswidriges Verhalten“ spricht; ähnlich auch SeidlHohenveldern / Stein, Völkerrecht, Rn. 931 f.: „Nur bei der ersten Art dieser sogenannten ,delicta juris gentium‘ wird dem Einzelmenschen direkt vom Völkerrecht ein Verhalten vorgeschrieben. Nur insoweit kann man ihn als ein kraft Völkerrecht direkt verpflichtetes Völkerrechtssubjekt bezeichnen.“ 99 Speziell für den Grundsatz des ne bis in idem in diese Richtung auch Doehring, Völkerrecht, § 23 III (Rn. 1174). 100 Siehe dazu für den Geltungsbereich der EMRK Walter in: Ehlers (Hrsg.), Europäische Grundrechte, § 1 Rn. 11 und zum Quantensprung der Anerkennung der Grundfreiheiten des Gemeinschaftsrechts als subjektive öffentliche Rechte siehe Walter in: Ehlers (Hrsg.), Europäische Grundrechte, § 1 Rn. 37 f.; für das Völkerrecht allgemein Seidl-Hohenveldern / Stein, Völkerrecht, Rn. 927, 931 f. sowie 936 ff. für den Bereich der EG; zur Rechtsstellung des Einzelnen am Beispiel der Internationalen Zusammenarbeit in Strafsachen siehe ausführlich Ziegenhahn, S. 217 ff., der ähnlich wie diese Arbeit zu dem Ergebnis (S. 269) kommt, dass „indivialrechtsschützende Normen“ wie das Prinzip des ne bis in idem im zwischenstaatlichen Bereich regelmäßig „Rechtsreflexe“ darstellen, „deren Durchsetzung im ausdrücklichen Ermessen der Staaten liegt und den Einzelnen daher auch nicht dem Aufenthaltsstaat oder anderen Staaten gegenüber berechtigen“; Vogler ZStW 105 (1993), 3 (9, 11) stellt hierzu fest, es dürfe als gesichert angenommen werden, daß „die elementaren Normen zum Schutz der Menschlichkeit“ heute zum völkerrechtlichen ius cogens zählen; mahnt aber bezüglich der Ausdehnung auf Grundsätze der Rechtsstaatlichkeit des Verfahrens Vorsicht an.
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wurf des jeweiligen Systems101. Bei der Diskussion der Problematik ist es daher notwendig, sich stets bewußt zu machen, auf welche Ebene sich der Grundsatz genau beziehen soll. Weil diese Frage in Fällen ohne jeden systemübergreifenden Charakter meist auf der Hand liegt, scheint es nicht notwendig, den Bezugsrahmen noch explizit zu nennen. Um so wichtiger ist dies dagegen bei Sachverhalten mit systemübergreifenden Bezugspunkten, da hier entweder gleichwohl eine rein systeminterne Regelung, institutionalisierte Einzelbeziehungen oder aber gar ein übergreifendes System selbst berührt sein können. Über die obige Fundierung hinaus ließe sich auch das Postulat der Freiheit und des (Straf-)Rechts als Element der (Selbst-)Organisation der Gesellschaft erkenntnistheoretisch zwar tiefergehend begründen102. Angesichts des Umstands, daß der spätere Ansatz erst an dem Freiheitspostulat den Vorteil hat, daß er den Streit über die genaue Begründung individueller Freiheit vermeidet, vielmehr einen Schnittpunkt verschiedener, solch tiefer gründender Ansätze darstellen kann103 und daher konsensfähiger erscheint, ist der mögliche Gewinn eines solchen Vorgehens allenfalls gering und soll hier unterbleiben. 2. Normlogische Ausgestaltung des Grundsatzes des ne bis in idem als Rechtsprinzip Wenn von „ne bis in idem“ häufig als Grundsatz gesprochen wird, ist dies – wie sich aus obigen Darlegungen ergibt – enthymematisch104, denn die Forderung nach einem Verbot mehrfacher Strafverfolgung ist bei genauerer Betrachtung selbst eine konkretisierte Forderung systemorganisierter Freiheit105. Mit dieser materiellen Ableitung ist aber noch nichts für die Antwort auf die Frage gewonnen, wie dieser Grundsatz normentheoretisch ausgestaltet werden sollte. Den ersten Ansatzpunkt hierfür bildet die Unterscheidung zwischen Rechtsregel und Rechtsprinzip106: 101 Angesprochen ist damit die Grundausrichtung eines Systems als eher liberal oder autoritär und das damit verbundene Verständnis des Strafrechts überhaupt; zu dieser grundsätzlichen Unterscheidung siehe Pradel, Droit penal comparé, S. 31 ff., 113 – 171. 102 Als Beispiel eines philosophischen Versuchs zur interkulturellen Begründung des Strafrechts als „unverzichtbares Element einer menschenrechtsverpflichteten Selbstorganisation der Gesellschaft“ siehe stellvertretend Höffe, Interkulturelles Strafrecht; um nur eine traditionelle, rechtsphilosophische Begründungslinie aufzuzeigen sei auf Beccaria, Von Verbrechen und Strafe, §§ 1 f. verwiesen; zu entsprechenden Folgerungen vor dem wirtschaftstheoretischen Ansatz der ökonomischen Analyse des Rechts siehe Preuss, Internalisierung des Subjekts, S. 12 ff.; denkbar wären darüber hinaus aber auch noch psychologische oder psychoanalytische Begründungsansätze; zu dem damit allgemein angesprochenen Verhältnis logischer und teleologischer Axiome vgl. Klug, Juristische Logik, § 18. 103 Zur systemorganisierten Freiheit als gemeinsame Basis etwa der verschiedenen Straftheorien vgl. Ashworth, Principles of Criminal Law, S. 12 f. 104 Vgl. Klug, Juristische Logik, S. 196 f. 105 Ähnlich Mayer S. 59 ausgehend von den Prinzipien der Rechtssicherheit und Gerechtigkeit.
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Als Rechtsregel verknüpft der Grundsatz des ne bis in idem mit dem umschriebenen Sachverhalt, dem Tatbestand, eine bestimmte Rechtsfolge107. Wir haben es dann bei dem Gebot des ne bis in idem mit einem imperativen108 Rechtssatz zu tun, dem im Grunde eine Konditionalstruktur109 innewohnt. Als Antwort auf die Frage, wie diese Struktur genau aussieht, kommen mehrere Möglichkeiten in Betracht. Zunächst ließe sich ein Verbot in Richtung auf den letztlich als Adressaten betroffenen Souverän statuieren, so daß der in dem Rechtssatz enthaltene Imperativ ganz deutlich zum Ausdruck kommen würde. Ebenso denkbar wäre, dem Individuum ein Verteidigungsmittel oder den Strafverfolgungsbehörden bzw. im Anschluß daran der Judikative eine Verhaltensnorm zu formulieren. Diese Verbotsnormen können in einem bestimmten Einzelfall eingreifen oder nicht, sie können entweder verwirklicht sein oder nicht. Als Rechtsprinzip beinhaltet der Grundsatz des ne bis in idem ein allgemein gültiges, objektives Optimierungsgebot, zumindest aber eine „Tendenzaussage“ über Voraussetzungen und Folgen der daraus zu bildenden Regeln110. Dieses Gebot kann je nach den tatsächlichen und rechtlichen Verhältnissen in unterschiedlichem Maß erfüllt werden. Prinzipien geben Gründe an, die Argumente in eine bestimmte Richtung sind, ohne eine bestimmte Entscheidung notwendig zu machen111. Sie stellen daher auch Gründe dar, die durch gegenläufige Gründe ausgeräumt werden können112. Indem sie die konkreten Probleme in einen größeren Sachzusammenhang einordnen, enthalten sie aber auch ein dem Optimierungsgebot entsprechendes, produktives Element113. Es fehlt dann allerdings der Regelcharakter. Das Rechtsprinzip ist der Abstufung, Einschränkung und Kombination mit anderen Prinzipien zugänglich und bedürftig114.
106 Ausführlich zu der hier unterstellten Bedeutung der Begriffe „Rechtsregel“ und „Rechtsprinzip“ sowie zur Bedeutung der Unterscheidung siehe Alexy, Theorie, S. 71 ff. 107 So vom methodischen Ansatzpunkt her Larenz, Methodenlehre, S. 250 f. und aus einer soziologischen Sichtweise Luhman, Das Recht der Gesellschaft, S. 195. 108 Siehe auch Larenz, Methodenlehre, S. 250 ff., wonach diese Struktur (im Gegensatz zu der von der sog. Imperativentheorie vertretenen Ansicht) keineswegs allen Rechtssätzen innewohnt, der aber weiter noch zwischen Imperativen und sog. Bestimmungssätzen unterscheidet und als Bestimmungssätze solche Normen ansieht, die eine allgemeine Geltung beanspruchen, ohne notwendig das Verhalten einer anderen Person in ihren Inhalt aufzunehmen. Nach diesem Verständnis könnte das Doppelbestrafungsverbot daher in seinem objektiven Gehalt auch als Bestimmungssatz aufgefaßt werden. 109 Luhmann, Das Recht der Gesellschaft, S. 195 ff. 110 Der Begriff der „Tendenzaussage“ wird von Canaris JZ 1993, 377 (383), als Minus gegenüber dem von Alexy, Theorie, S. 75 ff. formulierten Anspruch an Rechtsprinzipien als Optimierungsgebote formuliert. 111 Dworkin, Bürgerrechte, S. 60. 112 Alexy, Theorie, S. 88 113 Canaris JZ 1993, 377 (378). 114 Canaris JZ 1993, 377 (383).
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Der materielle Wesenskern des Doppelbestrafungsverbots bleibt dabei unabhängig von der Formulierung identisch. Die reine Konstruktion, die auf verschiedenen Traditionen, historischen Zufälligkeiten oder reinen Zwecküberlegungen beruhen vermag, kann wesentliche Unterschiede im Inhalt jedenfalls nicht rechtfertigen. Die Frage, ob der Grundsatz des ne bis in idem im weiteren Verlauf der Arbeit als Rechtsregel oder als Rechtsprinzip verstanden werden soll, soll daher zunächst nach Zweckmäßigkeitserwägungen entschieden werden. Aufgrund der angedeuteten mehrfachen, nämlich sowohl individual-schützenden als auch objektiv-rechtlichen, Dimension des Grundsatzes des ne bis in idem, erscheint eine solche Konstruktion günstig, die diese verschiedenen Zielrichtungen zu verbinden in der Lage ist. Damit wären nicht nur die beiden zentralen Wirkweisen des Grundsatzes erfaßt; ein weiterer Nutzen könnte darin liegen, daß in einer solchen Konstruktion gleichermaßen sowohl die französische Tendenz zur Annahme objektiver Rechtsgrundsätze wie auch das eher deutsche Modell des subjektiven öffentlichen Rechts zur Geltung kommt und damit zwei im dogmatischen Ansatz unterschiedliche Systeme, die das europäische Recht deutlich geprägt haben, harmonisiert werden können115. Bereits diese Überlegungen sprechen dafür, den Grundsatz des ne bis in dem von vorneherein als aus subjektiven Erwägungen abgeleitetes Optimierungsgebot und damit als Rechtsprinzip zu verstehen. Dies gilt um so mehr als an dieser Stelle im Grunde auch die häufig zu findende Formulierung, der Grundsatz des ne bis in idem sei ein allgemeiner Rechtsgrundsatz, anknüpft und auch ihre Berechtigung findet. Sie stellt dann nämlich die häufig anzutreffende, normative Verankerung des Verbots mehrfacher Bestrafung als allgemeines Rechtsprinzip – ähnlich wie sie sich für andere Bereiche etwa im Primärrecht der EG / EU oder in der EMRK finden – fest116. Die Nachteile dieser Konstruktion liegen dabei auf der Hand. Ein solcher Grundsatz stellt zunächst uneinlösbare Forderungen auf, normiert aber keine einzelfallbezogenen, exakten Rechtsfolgen. Diese müssen vielmehr in einem weiteren 115 Schilling EuGRZ 2000, 3 (24 ff.); dazu auch Schoch in: Schmidt-Aßmann / HoffmannRiem, Strukturen des Europäischen Verwaltungsrechts, S. 279 (283 f. u. 309 ff.); zum ebenfalls subjektiven Ansatz in Italien siehe Gallanti RIDPP 48 (1981), 97 (105); zum Vorteil der Methode der Harmonisierung gegenüber der Vereinheitlichung siehe auch Delmas-Marty, in: Huber (Hrsg.), Corpus Juris, S. 33 (42 f.), die den wesentlichen Vorteil der Harmonisierung gerade darin sieht, daß unterschiedliche technische Regelungen gerade deshalb bestehen bleiben können, wenn und weil diese tragende gemeinsame Prinzipien erarbeitet und beachtet werden; als weiteres Beispiel sei der Umgang des Corpus Juris mit dem Schuldprinzip genannt, das dort ebenfalls als abwägbares Rechtsprinzip verstanden wurde, mit der Folge, daß sich auch kriminalpolitische Erwägungen in die konkrete Ausgestaltung der Normen integrieren ließen und so in Art. 14 CJ auch eine (aus der Sicht des national deutschen Rechts problematische, vgl. dazu Tiedemann in: Huber (Hrsg.), Corpus Juris, S. 61 [64 f.] sowie Neumann, ebenda, S. 67 [78 ff.]), Strafbarkeit juristischer Personen festgeschrieben werden konnte, näher dazu Neumann, ebenda, S. 67 (71). 116 Für die supranationale Verbindlichkeit derartiger allgemeiner Rechtsgrundsätze sei an dieser Stelle nur auf Art. 6 Abs. 2 EUV verwiesen.
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Schritt in jedem dieser Fälle erst herausgefunden werden117, wobei dieser Schritt seinerseits fehler-, ja sogar mißbrauchsanfällig ist. Dies erscheint um so mißlicher, als eingangs selbst die überragende Bedeutung von Orientierungssicherheiten gerade als Grundlage zur Realisierung von Freiheiten ausdrücklich hervorgehoben wurde. Diesem Einwand läßt sich indessen damit begegnen, daß den Gefahren bei der Realisierung dieses Grundsatzes durch dort zu stellende, entsprechend hohe formelle und materielle Anforderungen118 zu begegnen ist. Neben reinen Zweckmäßigkeitsüberlegungen sprechen aber auch Sachgründe dafür, den Grundsatz des ne bis in idem als Rechtsprinzip zu verstehen und zu behandeln. Gerade die Flexibilität und Universalität der Formulierung als allgemeines Rechtsprinzip führen dazu, daß alle Parameter angemessen diskutiert werden können und darüber hinaus offengelegt wird, wo genau die Wertungsspielräume liegen und wo die Folgerungen zwingend sind119. Auch einer Konstruktion des Grundsatzes als Rechtsregel würde eine entsprechende Theorie zugrunde liegen120, sie würde aber mehr im Hintergrund bleiben und die kritische Diskussion erschweren121. Gerade wenn Sachverhalte verschiedene Rechtsordnungen berühren können oder wenn das Prinzip des ne bis in idem als Maßstab für verschiedenartige Rechtsordnungen geeignet sein soll, bedeutet ein derartiges Modell einen Kompetenzzuwachs für inter- bzw. supranationale Instanzen und entfaltet ein besonders kritisches Potential gegenüber nationalen Sonderwegen122. Zuletzt eignet sich das Modell gleichermaßen als Leitlinie für einen Gesetzgeber wie auch als Prüfungsmaßstab im Einzelfall.
117 Delmas-Marty, in: Huber (Hrsg.), Corpus Juris, S. 33 (42 f.), weist für die Arbeit am Corpus Juris darauf hin, daß die nationalen Regeln nicht konform zur europäischen Norm, sondern nur vereinbar mit der europäischen Norm sein müssen. 118 Als formelle Anforderungen kommen etwa Begründungs- und Erkundigungspflichten oder die Ausgestaltung als ex officio zu beachtendes Verfahrenshindernis in Betracht; materiell wird kritisch zu hinterfragen sein, welche Umstände geeignet sind, Einschränkungen in welchem Umfang zu rechtfertigen. 119 Dies scheinen auch für Alexy, Theorie, S. 278 ff., 290 ff. die entscheidenden Gründe zu sein, in seiner allgemeinen Theorie der Grundrechte einer „engen Tatbestandstheorie“ eine „weite Tatbestandstheorie“ vorzuziehen. 120 Canaris JZ 1993, 377 (390) formuliert insoweit apodiktisch: „Wer immer Recht anwendet oder gar fortbildet und dabei nicht bloße Kadijustiz übt, hat eine Theorie (. . . ).“ 121 Canaris JZ 1993, 377 (391). 122 Vgl. Alexy, Theorie, S. 298 f.; in vergleichbarem Kontext weist Dworkin, Bürgerrechte, S. 54 f. darauf hin, daß „Juristen, wenn sie Überlegungen oder Argumentationen über juristische Rechte und Verpflichtungen, insbesondere in denjenigen schwierigen Fällen, in denen unsere Probleme mit diesen Begriffen ganz akut erscheinen, anstellen, Maßstäbe gebrauchen, die nicht als Regeln fungieren, sondern auf andere Weise arbeiten, etwa als Prinzipien, Zielsetzungen und andere Arten von Maßstäben.“
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a) Grundsätzlicher Gewährleistungsumfang und Konkretisierung des Tatbegriffs Ganz umfassend formuliert fordert der Grundsatz des ne bis in idem, daß eine Rechtsordnung nur einen Versuch unternehmen darf, wegen einer gegen die Rechtsordnung verstoßenden Tat auf ein Individuum sanktionierend einzuwirken. Es darf inhaltlich nur eine Sachentscheidung im weitesten Sinne ergehen. Die Sanktionen müssen in nur einem Verfahren abschließend verhängt werden. Adressaten dieser Forderung sind grundsätzlich alle Teile der Rechtsordnung, mit denen das Individuum potentiell in Berührung kommen kann123. Überschneidungen müssen dabei a priori verhindert werden. Dieser umfassenden Ausprägung des Grundsatzes des ne bis in idem widerspricht auch nicht, daß in den meisten anderen Positivierungen dieses Prinzips bereits der Gewährleistungsumfang weitaus enger gefaßt wird. Derartige Begrenzungen sind nur Ausnahmen, die so für die Rechtsanwendung bereits per definitionem ausscheiden, die aber, wenn sie einer grundsätzlichen Überprüfung unterzogen werden, ihrerseits gerechtfertigt werden müssen. Deren Rechfertigung unterliegt dabei zunächst denselben Voraussetzungen wie die Rechtfertigung von Ausnahmen eines enger gefaßten Gewährleistungsumfangs und unterscheidet sich nur dadurch, daß sie möglicherweise ihrerseits verallgemeinerungsfähig ist und deshalb im Normalfall nicht hinterfragt werden muß. Klärungsbedürftig ist allenfalls, ob für den Begriff der Tat nähere und allgemein gültige Konkretisierungen vorgenommen werden können. Hier scheint auf den ersten Blick die Auffassung plausibel, die grundsätzlich konzediert, daß bei diesem Begriff unabhängig voneinander zwei Ansatzpunkte denkbar seien124. So soll es einerseits möglich sein, entweder an das rein äußere, tatsächliche Geschehen anzuknüpfen oder normativ an den konkreten Verstoß gegen die Rechtsordnung. Entscheidend sei das Verfahrensrecht einer Rechtsordnung, das für diese Frage als Primat zu sehen sei. Maßgebend seien, wie es etwa Tiedemann zusammengefaßt hat, die Grundstrukturen des Prozesses, insbesondere das Verhältnis von Anklage und richterlicher Kognition125. Trotz des erheblichen staatlichen Gestaltungsspielraums lassen sich die Aussagen jedoch dahingehend präzisieren, daß die staatlichen Reaktionsmechanismen unabhängig von ihrer konkreten Ausgestaltung immer an eine tatsächliche, in der Umwelt wahrnehmbare äußere Situation im weitesten Sinne anknüpfen. Selbst ein 123 Siehe dazu die aktuellen Bemühungen im deutschen Zivilprozessrecht, die Beweiskraft rechtskräftiger Strafurteile im Zivilprozeß zu verstärken, näher Hinz JR 2003, 356 (356 ff.). 124 Siehe zu diesem weit verbreiteten Ansatz etwa Wyngaert / Stessens The international and Comparative Law Quarterly 48 (1999), 779 (789); Rüping in: Dolzer / Vogel / Grasshof (Hrsg.), Bonner Kommentar, Art. 103 Abs. 3 Rn. 58; Tiedemann, Entwicklungstendenzen, S. 32 ff. mit einem rechtsvergleichenden Überblick über die grundsätzlichen Ausgangspositionen. 125 So ausdrücklich Tiedemann, Entwicklungstendenzen, S. 33.
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Tatbegriff, der allein auf die rechtliche Qualifikation der Tat abstellt, besteht demnach aus einem Tatsachenkern. Ebenso kommen diejenigen Rechtsordnungen, die ihren Ausgangspunkt bei der Identität der tatsächlichen historischen Ereignisse haben, nicht ohne jede rechtliche Bewertung – etwa bei Fragen des Umfangs möglicher Rechtskraftwirkungen, der Strafzumessung, des Ausschnitts des von dem Tatbegriff umfaßten tatsächlichen Geschehens usw. – aus126. So gegensätzlich die beiden Ansätze daher auf den ersten Blick scheinen mögen, so sehr relativiert sich dieser Unterschied, wenn man die rechtlichen bzw. tatsächlichen Implikationen des tatsächlichen bzw. rechtlichen Tatbegriffs in Rechnung stellt. Der Begriff der Tat nimmt daher in allen Rechtsordnungen seinen Ausgangspunkt zunächst in dem äußeren Geschehen, wobei er durch die Eigenarten des Verfahrens unterschiedlich starken, rechtlichen Vorwertungen unterzogen und angepaßt wird. Idealerweise nehmen die rechtlichen Implikationen für unsere Frage dabei einen solchen Umfang an, wie angesichts des Gesamtsystems127 möglich und notwendig ist, um den hier gestellten Forderungen möglichst optimal entsprechen zu können. b) Eingriffe in den Gewährleistungsumfang Einen Eingriff in den oben beschriebenen Gewährleistungsgehalt stellt jede hoheitliche Maßnahme dar, die den durch den Gewährleistungsgehalt verbürgten Schutz verkürzt. Derartige Eingriffe können dabei nicht nur durch wiederholte richterliche Verurteilungen erfolgen. In Betracht kommen vielmehr alle Träger hoheitlicher Gewalt vom Gesetzgeber, etwa wenn er die verschiedenen Verfahren koordiniert und normiert, bis hin zu den verschiedenen Trägern der Exekutivgewalt, soweit diese repressiv tätig werden.
126 In diesem Sinne schon das Reichsgericht zur – häufig als Muster für eine von einem tatsächlichen Tatbegriff ausgehenden Verfahrenskonzeption genannten – deutschen Verfahrenskonzeption in RGStE 2, 347 (349): „Keineswegs ist die Frage der Identität der Tat eine ausschließlich tatsächliche. Sie ist vielmehr zugleich eine rechtliche, weil das Merkmal der Tat wesentlichen Normen der Prozeßordnung zu Grunde liegt, welche ihren Inhalt nur durch die rechtliche Auffassung des Begriffs ,Tat‘ erhalten können“; aus der jüngeren deutschen Literatur zu diesem Thema siehe nur Radtke, Strafklageverbrauch, S. 99 ff. m.w.N., der feststellt, daß die höchstrichterliche Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs trotz der Betonung der Unabhängigkeit des faktischen Tatbegriffs von normativen Kriterien partiell doch normative Elemente zu dessen Bestimmung herangezogen habe, ohne daß festgestellt werden könne, daß der Bundesgerichtshof den faktischen Tatbegriff zugunsten eines kombiniert faktisch-normativen Tatbegriffs aufgegeben habe sowie Hruschka JZ 1966, 700 (701): „(. . . ) Zum anderen kann eine ,Tat‘ gerade auch als ,historisches Ereignis‘ überhaupt niemals ohne Zuhilfenahme materialer Bewertungen bestimmt werden, woraus sich auch für das Strafprozeßrecht eine unübersteigbare grundsätzliche Schranke ergibt.“ 127 Damit soll angedeutet werden, daß zwar dem Verhältnis von Anklage und richterlicher Kognition – wie es Tiedemann beschreibt – maßgebende Bedeutung zukommt; die Wechselwirkungen reichen aber weiter von der Ausgestaltung des Straftatbestandes im materiellen Recht bis hin zur Strafvollstreckung.
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c) Rechtfertigung von Eingriffen Da der allgemeine Gewährleistungsgehalt des Grundsatzes des ne bis in idem auf dem Strukturprinzip systemorganisierter Freiheit beruht, sind Einschränkungen insbesondere dann zu legitimieren, wenn die in dem grundsätzlichen Gewährleistungsumfang zum Tragen kommende Austarierung sich im Einzelfall als korrekturbedürftig erweist. Die Einschränkung ist dem allgemeinen Prinzip damit implizit. Es stellt sich nur die Frage des Abwägungsmaßstabs, unter welchen Umständen die Korrektur vorzunehmen ist, wann ein Ungleichgewicht zwischen den den Schutz verbürgenden und den Eingriff tragenden Prinzipien nicht mehr hingenommen werden soll. Bei der Beantwortung dieser Frage zeichnen sich die modernen Rechtssysteme dadurch aus, daß Rechtssicherheit und Gerechtigkeit als gleichberechtigte Elemente nebeneinander stehen128. Kennzeichen hierfür sind überall zu beobachtende Beurteilungsspielräume und ein dem Rechtsanwender eingeräumtes Ermessen, Rechtsmißbrauchsverbote und Härteklauseln sowie das allgemeine Bestreben nach sachgerechten – und dann in generalisierender Weise anwendbaren – Differenzierungen, um wesentlich Gleiches gleich und wesentlich Ungleiches ungleich behandeln zu können. Hat sich dementsprechend in einem bestimmten Fall eine Störung des oben beschriebenen Gleichgewichts eingestellt, so bedeutet dies keineswegs, daß die von dem Prinzip des ne bis in idem aufgestellten Forderungen im Sinne eines Allesoder-Nichts überhaupt nicht eingreifen würden. Die Herausforderung liegt darin, die absehbare oder eingetretene Störung im Rahmen eines schonenden Ausgleichs zu beseitigen bzw. aufzuarbeiten. Je nach Fallgestaltung und angesprochenem Adressat kann dies beispielsweise dadurch geschehen, daß versucht wird, durch normative Bestimmungen – wie etwa die Zuständigkeit mehrerer Rechtssysteme ausschließende Konkurrenz- und Kompetenzregelungen – die zu erwartenden Störungen von vorneherein zu vermeiden oder anstatt des grundsätzlich gebotenen Erledigungsprinzips eine Anrechnungsregelung129 oder Verhältnismäßigkeitsbetrachtung eingreifen zu lassen. Ob darüber hinaus im Einzelfall weitere Abstriche möglich und notwendig sind, bleibt abzuwarten. Theoretisch denkbar sind diese insbesondere dann, wenn sich in den vorhandenen Rechtsordnungen notwendigerweise vorgenommene Eingriffe allein unter Rückgriff auf das Strukturprinzip systemorganisierter Freiheit nicht hinreichend legitimieren lassen. Auch dann müßte aber zwischen Gewährleistung und 128 Zippelius, Wesen des Rechts, S. 113; für Deutschland bestätigt dies z.B. auch die deutsche Rechtsprechung in BVerfGE 3, 225 (227) oder BGHSt 26, 1 (2). 129 Das Verhältnis von Anrechnungsprinzip und Grundsatz des ne bis in idem ist umstritten und hängt von dem jeweiligen Verständnis des Prinzips ab, vgl. näher Mayer S. 63, insb. Fn. 188 – 191.
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(dann externer) Begrenzung eine Verknüpfung bestehen, die als gemeinsame Basis für eine Abwägung dienen kann.
3. Exemplifizierung anhand ausgewählter Einzelfragen Nachfolgend sollen einige der verbreitetsten allgemeinen Einschränkungen eines umfassend verstandenen Grundsatzes des ne bis in idem abstrakt auf ihre prinzipielle Legitimierbarkeit durch einen Rückgriff auf den Gedanken systemorganisierter Freiheit hin untersucht werden. Dabei wird möglicherweise schon an dieser Stelle erkennbar, ob das recht umfängliche Gebot des ne bis in idem so seine Berechtigung hat und inwieweit es, wenn es nicht inhaltlich voll durchgreifen kann, dennoch Forderungen enthält, die in den verschiedenen Systemen sowohl de lege ferenda als auch de lege lata zu berücksichtigen sind.
a) Ahndung eines tatsächlichen Verhaltens in verschiedenen Verfahren Der unbefangene Betrachter verbindet mit dem Stichwort des ne bis in idem in erster Linie den Gedanken des Strafklageverbrauchs und damit den an das (Kriminal-)Strafrecht als das staatliche Sanktionsmittel überhaupt. Im Laufe der obigen Ausführungen wurden dagegen sehr viel weitergehende Forderungen erhoben. Dem Rechtssystem mit seinem Ziel, Gerechtigkeit zu schaffen, wurde insgesamt grundsätzlich nur eine einzige repressive Reaktion zugestanden. Die Beschränkung des Grundsatzes auf das Strafverfahren, so daß neben diesem weitere verwaltungs-, disziplinar- oder zivilrechtliche Sanktionen zulässig sein sollen, stellt somit einen Eingriff in den grundsätzlichen Gewährleistungsumfang dar. Zur Rechtfertigung dieses Eingriffs läßt sich zunächst die Komplexität unserer Rechtssysteme anführen. Das Bestreben, möglichst allen Einzelinteressen – mit den dahinter stehenden individuellen Freiheiten – umfassend gerecht zu werden, würde bei einer Abhandlung in einem Verfahren zu zwangsläufig langwierigen und unübersichtlichen Großverfahren führen. Die Aufteilung in mehrere, dafür aber weniger komplexere Verfahren, in denen je verschiedene Aspekte des Verstoßes gegen die Rechtsordnung gewürdigt werden, ist damit eine Folge der Forderung an einen Staat, die von ihm zu gewährleistenden Freiheiten praktikabel und effektiv zu organisieren. Soweit eine derartige Aufteilung legitimiert ist130, bedeutet dies jedoch nicht, daß damit die Begrenzungen der staatlichen Ordnungsgewalt aufgehoben wären. 130 Dem hier vertretenen Ansatz nahe – und damit zur konkreten Verdeutlichung, wie eine solche Rechtfertigung auf einer ersten Stufe grundsätzlich erfolgen könnte, geeignet – sind namentlich die Ausführungen von Fliedner AöR 99 (1972), 242 (265 – 277) für das Verhältnis von Strafrecht zu Disziplinarrecht und verschiedenen Ordnungsstrafen im deutschen Recht.
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Die verschiedenen abstrakten Forderungen bestehen vielmehr weiter, so daß der Versuch unternommen werden muß, ihre Antinomie durch einen schonenden Ausgleich aufzulösen. Ein solcher Ausgleich kann zum einen dadurch erfolgen, daß formell Verfahren konzentriert werden, etwa der Abhandlung an sich zivilrechtlich durchzusetzender Forderungen im Annex zum Strafverfahren oder der Bindungswirkung der strafrechtlichen Beweisaufnahme und Beweiswürdigung für Verwaltungs-, Disziplinar- oder sonstige Verfahren131. Zum anderen kann ein Ausgleich materiell gefunden werden, indem bei der Bemessung der verschiedenen Sanktionen die bereits ausgesprochenen bzw. umgekehrt die absehbar eintretenden weiteren Sanktionen berücksichtigt werden, um insgesamt das Maß der Verhältnismäßigkeit nicht zu überschreiten.
b) Erfordernis einer richterlichen / rechtskraftfähigen Entscheidung? Das Gebot, einen Verstoß gegen die staatliche Ordnung in einem Verfahren zu ahnden, um dem Individuum ein Weiterleben in Rechtssicherheit zu gewährleisten, verlangt, verbunden mit der Beschränkung der staatlichen Reaktionsbefugnis auf das Erforderliche, nicht nur ein Verfahren zu betreiben, sondern dieses auch in einer angemessenen Art und Weise zu einem Abschluß zu bringen. Dabei wird ein Hindernis für ein zweites Verfahren häufig lediglich dann angenommen, wenn in der Sache eine endgültige, richterliche Entscheidung ergangen ist132. Begründen lassen sich derartige Einschränkungen auf dem Boden der oben angestellten Erwägungen damit, daß nicht jede Entscheidung auf einer gleichermaßen umfassenden Würdigung des angeklagten Sachverhalts und des vorhandenen Beweismaterials beruht und damit nicht dieselbe Sicherheit vermitteln kann wie eine Entscheidung, die nach dem Ausnutzen aller staatlichen Erkenntnismöglichkeiten ergeht133. Die Legitimität einer derartigen Vorgehensweise ergibt sich aus der Begrenzung der Reaktion staatlicher Gewalt auf das in einer konkreten Situation Erforderliche, etwa wenn sich ein vager Anfangsverdacht gegenüber einem Individuum zunächst – fälschlicherweise – als unbegründet erweist. Hier wäre es 131 Vgl. etwa im deutschen Recht die §§ 35 Abs. 3 GewO, 3 Abs. 4 StVG, wonach eine solche Bindungswirkung bezüglich der Tatsachenfeststellung, der Schuldfrage und der Eignung zur Führung eines Gewerbes bzw. eines Kraftfahrzeugs angeordnet wurde, um dem unbefriedigenden Nebeneinander der beiden Rechtswege abzuhelfen (Landmann / Romer, Gewerbeordnung, § 35 Rn. 137) bzw. einander widersprüchliche Entscheidungen zu vermeiden (Hentschel, Straßenverkehrsrecht, § 3 StVG Rn. 15), sowie § 118 Abs. 3 BRAO, wonach für die strafgerichtlichen Sachverhaltsdarstellungen auch für das anwaltsgerichtliche Verfahren maßgebend sind (vgl. dazu Franz, FS f. Rieß, S. 875 [886], der diese Regelung ausdrücklich als Ausprägung des Grundsatzes des ne bis in idem versteht). 132 Stellvertretend für derartige Beschränkungen genannt sei etwa die Regelung in Art. 54 SDÜ oder Art. 53 der Europäischen Konvention über die internationale Gültigkeit von Strafurteilen. 133 Konkret ist etwa an nur vorläufige Entscheidungen oder Einstellungsentscheidungen zu denken.
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unangemessen, den Verdächtigen ohne weiteres allen Belastungen eines intensiv geführten Ermittlungsverfahrens auszusetzen und erst in einem förmlichen Verfahren seine Unschuld festzustellen. Die Lösung des Problems kann auch hier richtigerweise nur durch eine Abwägung der divergierenden Interessen gefunden werden. Ein Verfahrenshindernis kann daher in all denjenigen Entscheidungen gesehen werden, die im Interesse der größtmöglichen Freiheitsorganisation durch ein System hingenommen werden können, ohne Zweifel an der Handlungsfähigkeit der Rechtsordnung selbst aufkommen zu lassen134. Am ehesten trifft das gewiß auf endgültige richterliche Entscheidungen nach Abschluß einer umfassenden Hauptverhandlung als dem bestmöglichen Erkenntnismittel einer Rechtsordnung zu. Es fragt sich jedoch, ob hier nicht weitere Zugeständnisse vorzunehmen sind: Wenn etwa, wie in den meisten Rechtsordnungen, außergerichtliche Vereinbarungen oder summarische Verfahren zur Beendigung des Verfahrens zur Verfügung stehen, dienen diese zwar zum einen dem Beschuldigten, stehen aber aufgrund der schnellen Erledigung und einer möglichst effizienten Ausnutzung der vorhandenen Ressourcen auch im Allgemeininteresse. Damit diese Möglichkeiten der Verfahrensbeendigung nicht unnötig an Attraktivität für die Verfahrensbeteiligten einbüßen, erscheint es vertretbar, diesen Entscheidungen eine – möglicherweise eingeschränkte – strafklageverbrauchende Wirkung beizumessen135. Die Reichweite der Einschränkung richtet sich dabei danach, wie nahe die verfahrensbeendigende Wirkung einer endgültigen richterlichen Entscheidung kommt, ob und in welchem Umfang etwa eine Beweisaufnahme oder eine Hauptverhandlung stattgefunden haben und ob ein Schuldeingeständnis des Straftäters vorliegt. Die Begrenzung der Rechtskraft kann sich insbesondere bei summarischen Verfahren auf Verstöße eines bestimmten Schweregrades oder Deliktstyps beziehen; bereits ausgesprochene Sanktionen sind in einem späteren Verfahren dann aber in jedem Fall zu berücksichtigen, ebenso wie die zusätzlichen Belastungen durch ein bereits einmal vorläufig eingestelltes Verfahren bei der Strafzumessung einzustellen sind. c) Wiederaufnahme eines rechtskräftig abgeschlossenen Verfahrens Eine dritte Ausnahme von dem Grundsatz des ne bis in idem wird bei der Wiederaufnahme bereits abgeschlossener Verfahren gemacht. Dies wirft keine Probleme auf, soweit die Wiederaufnahme zugunsten des Angeklagten zugelassen 134 Würde das Recht durch die Begrenzung auf ein Verfahren praktisch nicht mehr durchsetzbar, wären die Interessen des Straftäters überbetont, insofern besteht auch zu Gunsten der Allgemeinheit eine Pflicht des Systems, die erforderliche Macht einzusetzen, um das Recht durchzusetzen. Wichtig ist dabei wieder, daß diese Fälle vor der Begehung der Tat festgelegt sind. 135 Bohnert / Lagodny NStZ 2000, 636 (640) sprechen in diesem Zusammenhang von einer unterschiedlichen „Rechtskraftqualität“, die verschiedenen Entscheidungen zugeschrieben werden könne.
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wird, da hier die Rechtsposition des betroffenen Individuums ausschließlich gestärkt wird. Besonders begründungsbedürftig sind dagegen Ausnahmen zu Lasten des Angeklagten, denn hier liegt sogar eine verfahrensabschließende Entscheidung eines Richters vor, so daß eine an sich bereits vorhandene Rechtskraft durchbrochen werden muß. Dies sind Fälle, in denen die Überlegungen, die an sich zur Annahme von Rechtskraft führen, in concreto nicht eingreifen, in denen also Anhaltspunkte dafür vorhanden sind, dem verfolgten Individuum die mit der ergangenen Entscheidung verbundene Sicherheit abzusprechen. Der Eingriff in den Gewährleistungsbereich des ne bis in idem ist damit gleichwohl äußerst massiv, so daß eine Rechtfertigung – wenn überhaupt136 – nur in ganz engen Grenzen möglich sein wird, denn der Sinn des Grundsatzes des ne bis in idem ist ja gerade, die Verantwortungsbereiche dergestalt abzugrenzen, daß Fehler in dem Verfahren grundsätzlich zu Lasten der staatlichen Strafverfolgung gehen. Diese Risikoverteilung zu durchbrechen, scheint insbesondere in den Fällen denkbar, in denen der Angeklagte in eindeutig unzulässiger, schwerwiegender und ihm zurechenbarer Weise Einfluß genommen hat oder indem er durch sein späteres Verhalten, etwa in Form eines Geständnisses der Tat, eine erneute Strafverfolgung provoziert oder zu erkennen gibt, auf den Schutz des Doppelbestrafungsverbots im konkreten Fall verzichten zu wollen. Auch hier wird aber, wenn ausnahmsweise ein neues Verfahren für zulässig erachtet wird, im Rahmen der Strafzumessung die doppelte Belastung des Angeklagten, das Maß, in dem der Angeklagte auf das Verfahren eingewirkt hat, und gegebenenfalls eine bereits verbüßte Strafe zu Gunsten des Angeklagten zu berücksichtigen sein. Möglich wäre auch, einen Ausgleich der widerstreitenden Interessen nicht primär verfahrens-, sondern verstärkt materiellrechtlich zu erreichen, ohne eine direkte Durchbrechung der Rechtskraft, die unzulässige Einflußnahme auf den Sanktionsmechanismus der Rechtsordnung als eigenen Verstoß entsprechend zu würdigen und den – dann irreparablen – Schaden bei der abstrakten Bestimmung und Bewertung des Rechtsguts137 zu berücksichtigen.
d) Internationales Strafrecht Ob und inwieweit das Verbot des ne bis in idem bei Straftaten mit internationalem Bezug überhaupt Wirkungen entfaltet, entscheidet sich zunächst nach den 136 Maier, Gedächtnisschrift f. Armin Kaufmann, S. 789 (793 f.) ist bei einem ähnlichen Argumentationsansatz beispielsweise der Auffassung, der Grundsatz müsse hier absolut begriffen werden, und lehnt, auch vor dem Hintergrund rechtsvergleichender Überlegungen, eine rational erklärbare und grundsätzlich erträgliche Rechtfertigung eines solchen Eingriffs ab. 137 Siehe hierzu etwa die Regelung in Art. 458 span. StGB, wonach zwischen Falschaussagen in Straf- und sonstigen Prozessen differenziert wird, wobei zu berücksichtigen ist, daß Aussagen anders als im Strafprozeß etwa im Zivilprozeß nach der bis zum 1. Januar 2001 geltenden span. ZPO häufig im schriftlichen Verfahren gemacht wurden.
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zwischen den verschiedenen Rechtsordnungen bestehenden Beziehungen. Das eingangs als Ausgangspunkt dienende Beispiel zweier von einander vollkommen unabhängiger Systeme ist dabei in der Praxis nicht denkbar, denn bereits durch einen verschiedene Rechtsordnungen berührenden Normverstoß an sich werden Verbindungen geschaffen. Entsprechend den einführend angestellten Erwägungen sind daher nach der Qualität der Verknüpfungen Verbindungen im Einzelfall, institutionalisierte Verbindungen und systembildende Verbindungen zu unterscheiden138: Verbindungen im Einzelfall bestehen dann, wenn ein System seinen Strafanspruch über den von ihm geordneten Herrschaftsbereich139 ausdehnt und somit Überschneidungen verschiedener Strafansprüche provoziert140. Inwieweit in diesen Fällen eine repressive Sanktion des einen Systems den Strafanspruch des anderen verbraucht, hängt vom Grund der Ausdehnung des Strafanspruches sowie davon ab, in welchem Maße eine eigene Reaktionsbefugnis des nachfolgend handelnden Systems noch für notwendig erachtet wird. Wird dabei im erstverfolgenden Staat ein weitgehend identisches Unrecht geahndet, so kann im nachfolgend handelnden System nur ein Bewertungsunterschied aufgegriffen und ein etwaiger Strafrest ausgesprochen werden. Um hier die Belastungen des Individuums möglichst gering zu halten, bietet es sich an, verfahrensrechtliche Sicherungen zu schaffen, die es ermöglichen, je nach Lage des Falles vollständig von der Ahndung des Strafrests abzusehen. Stellt sich die Tat dagegen in beiden Staaten als völlig unterschiedlich dar141, so daß jeweils ganz verschiedene Verstöße verfolgt werden, liegt es nahe, die Strafen unabhängig voneinander auszusprechen. In diesen Fällen ist dann im Rahmen der Strafzumessung darauf zu achten, daß das Maß der Verhältnismäßigkeit nicht überschritten wird. Im Rahmen von institutionalisierten Verbindungen können die Wirkungen je nach Absprache weiter gehen. Denkbar ist hier, daß beispielsweise in Fällen einer stellvertretenden Strafrechtspflege die Entscheidung des erstverfolgenden Staates die Strafklage insgesamt verbrauchen oder daß eng kooperierende und kulturell nahe stehende Rechtsordnungen sogar eine gegenseitige Erledigungswirkung sanktionierender Entscheidungen anerkennen. Sind diese Verbindungen derart umfassend, daß sie ein eigenes System der Freiheitsorganisation bilden, ergibt sich die Geltung des Grundsatzes des ne bis in 138 Im Ansatz ähnlich Pralus Rev. Sc. Crim. 1996, 551 (552 f., 564 f.); zur Rolle und Dynamik der Institutionen speziell für den Prozeß der Europäischen Einigung siehe Leisner JZ 2002, 735 (738 ff.). 139 Sog. Territorialitätsprinzip mit seinen Erweiterungen wie etwa dem Flaggenprinzip und ähnlichem. 140 In Betracht kommen z.B. Fälle der Ausdehnungen der Strafgewalt aufgrund des aktiven und passiven Personalitätsprinzips. 141 Denkbar ist dies etwa bei Ausdehnungen der Strafgewalt aus Gedanken des Staatsschutzes, wenn dieselbe Tat im anderen System als nur ganz geringes Unrecht geahndet wurde.
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idem aus diesem, so daß hier nicht die Ausdehnung des Grundsatzes, sondern im Gegenteil dessen Einschränkung gerechtfertigt werden muß. Um eine weitergehende Begrenzung des Verbots mehrfacher Strafverfolgung als in Einzelsystemen zu rechtfertigen, wird dabei häufig auf die Souveränität oder auf den Selbstschutz der Mitglieder hingewiesen142: Ein umfassendes Prinzip des ne bis in idem greife demnach zu tief in den Herrschaftsbereich der Einzelsysteme der Mitgliedstaaten ein. Wird von einem System in erster Linie verlangt, die individuellen Freiheiten zu organisieren, dann trägt der Einwand des Souveränitätsverlustes jedoch nur, soweit ein System in der Erfüllung dieser Ordnungsaufgabe wesentlich beeinträchtigt wird143. Dies wäre insbesondere der Fall, wenn wegen der Pflicht, eine strafklageverbrauchende Wirkung in anderen Rechtsordnungen ergangener Entscheidungen anzuerkennen, die eigene Ordnung nicht mehr effektiv durchgesetzt werden könnte. Denkbar sind derartige Einbußen insbesondere, je heterogener die Rechtsräume sind und je mehr Mißbrauchsmöglichkeiten, etwa durch eine Verlagerung des Tatorts oder eine geschickte Wahl des Gerichtsstands, bestehen. Ein möglichst schonender Ausgleich zwischen der Sorge um die Funktionsfähigkeit des Einzelsystems und der Forderung einer möglichst umfassenden Geltung des Grundsatzes des ne bis in idem kann hier jedoch durch eine entsprechende Gestaltung des supranationalen Systems erreicht werden. Materiell können die Rechtsordnungen harmonisiert werden, so daß in den einschlägigen Bereichen ein entsprechender Mindeststandard vorhanden ist, der durch entsprechende Verfahrensregelungen und Zuständigkeitsverteilungen ergänzt wird. Welche Regelungsbefugnisse der supranationalen Organisation dabei zustehen, ist eine Frage des Einzelfalls und möglicherweise auch ihres Entwicklungsstandes, so daß es notwendig sein kann, die aus dem Prinzip des ne bis in idem abzuleitenden Forderungen einem dynamischen Wachstum anzupassen. Erst wenn die dem supranationalen System in diesem Bereich eingeräumten Möglichkeiten ausgeschöpft sind, muß der Gewährleistungsgehalt des Prinzips inhaltlich eingeschränkt und etwa auf das Anrechnungsprinzip verbunden mit Verhältnismäßigkeitserwägungen begrenzt werden.
142 Zum Einwand des Souveränitätsverlustes siehe z.B. Schermers, Liber amicorum Pierre Pescatore, S. 601 (605); zu den Rechtfertigungsversuchen der Strafrechtsausweitungen über die Prinzipien des Selbstschutzes und der Solidarität der Staaten vgl. nur Mayer, Ne bis in idem, S. 157 ff. 143 Fragwürdig scheint es demgegenüber, dem Einwand des Souveränitätsverlustes angeblich hinzugewonnene Einflußmöglichkeiten auf zwischenstaatlicher Ebene entgegen zu setzen – so zum Beispiel J. Hecker EuR 2001, 826 (841), der von einem „Machtausgleich“ spricht, – da diesem bereits die erweiterte Ordnungsaufgabe entspricht (im Ergebnis wie hier, aber bereits den Einwand des Souveränitätsverlustes als solchen angreifend Hillgruber JZ 2002, 1072 [1075], wonach „die Eingehung völkerrechtlicher Verpflichtungen nicht Beschränkung, Teilverzicht oder Aufgabe von Souveränität beinhaltet, wie vielfach behauptet, sondern gerade deren Ausübung darstellt“).
B. Historische Wurzeln und aktuelle Ausgestaltung des Grundsatzes des ne bis in idem in Europa Das Doppelbestrafungsverbot ist als Grundsatz in den europäischen Rechtsordnungen anerkannt. Besonders hilfreich war dabei die Formulierung als ein Prinzip, das beinahe schon von der Logik gefordert zu werden scheint. So sehr das Verbot mehrfacher Strafverfolgung als solches aber anerkannt ist, so unterschiedlich ist dessen Ausgestaltung. Gerade diese prägt jedoch das Vorverständnis, mit dem in den verschiedenen Ländern an einen europastrafrechtlich verankerten Grundsatz des ne bis in idem herangegangen (werden) wird. Soweit dieses Vorverständnis nachfolgend untersucht wird, handelt es sich jedoch nicht um die oben angemahnte, fehlende Studie zum Inhalt des Grundsatzes des ne bis in idem in den einzelnen Rechtsordnungen, da eine solche in vielen Detailfragen umfassende Systemvergleiche voraussetzen würde1, was die nachfolgende Darstellung gerade nicht leisten will. Es geht vielmehr darum, sich vor der anschließenden Konkretisierung des eingangs erarbeiteten theoretischen Ansatzes über die vorhandenen gemeinsamen Wurzeln und die gleichwohl bestehenden Unterschiede bewußt zu werden, um den rein nationalen Blickwinkel zumindest ansatzweise überwinden zu können2. Diedamit verbundene Kontroll- und Harmonisierungsfunktion der Rechtsvergleichung soll es ermöglichen, etwaige Spannungen zwischen den verschiedenen Systemen zu erahnen, möglichst zu berücksichtigen und Schlußfolgerungen dahin zu ziehen, ob und in welchem Maße Unterschiede bestehen bleiben können oder wirkliche Änderungen bzw. Brüche in einzelnen Systemen erforderlich werden3. Gerade auch die verschiedenen Ansätze hin zu einer Internationalisierung des Prinzips des 1 Als Beispiel für einen solchen Systemvergleich können etwa die Ausführungen von Kühne JZ 1998, 876 (879 – 880) zum Vergleich der französischen Entscheidung des „non lieu par des raisons de fait“ mit der staatsanwaltschaftlichen Überprüfung der Ermittlungsergebnisse vor Anklageerhebung sowie der richterlichen Überprüfung im Zwischenverfahren im deutschen Recht herangezogen werden; die zu diesem Beitrag vorgebrachte Kritik von Satzger, Europäisierung, S. 692 betrifft dagegen die von Kühne zuvor (S. 876 f.) angestellten Überlegungen. 2 Zur Vorbereitungsfunktion insbesondere der bei der Konkretisierung eines solch abstrakten Prinzips wie des Grundsatzes des ne bis in idem notwendigerweise auch legislativen Rechtsvergleichung siehe Eser, FS f. Kaiser, S. 1499 (1511); Dannecker JZ 1996, 869 (870). 3 Zur Kontroll- und Harmonisierungsfunktion einer solchen praktischen Rechtsvergleichung siehe Eser, FS f. Kaiser, S. 1499 (1510) sowie Odersky ZEuP 1994, 1 (2 ff.).
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B. Der Grundsatz des ne bis in idem in Europa
ne bis in idem und die dabei verwendeten Kooperationsmodelle sollen einen Hintergrund und Erfahrungswerte bilden, an denen sich die selbst entwickelten Strukturen orientieren und teilweise auch anlehnen4. Daraus folgt auch, daß die notwendige Untersuchung sich trotz aller Knappheit eine vergleichsweise breite Basis suchen muß und den Grundsatz des ne bis in idem nicht nur als solchen, sondern in seinen weiten Beziehungen zum sonstigen nationalen Strafrecht zu verstehen versucht. So sind etwa Kenntnisse über die national unterschiedlichen Ansätze zur Behandlung von Straftaten im Ausland und die Gestalt des sog. internationalen Strafrechts in Europa Grundbedingung, um über die konkrete Formulierung eine zwischenstaatliches Prinzip des ne bis in idem überhaupt nachdenken zu können5.
I. Ursprünge des Prinzips des ne bis in idem im römischen und kanonischen Recht In der Rechtstradition des civil law lassen sich die Ursprünge des Grundsatzes des ne bis in idem bereits im römischen Recht belegen: Zum einen stellt das heutige Recht in weiten Bereichen eine Fortentwicklung und Neuentdeckung des römischen Rechts dar, zum anderen deutet auch die lateinische Kurzfassung des Doppelbestrafungsverbots als „ne oder non bis in idem“ auf einen solchen römisch-rechtlichen Ursprung hin6. Diese Vermutung wird durch verschiedene Rechtsquellen bestätigt, die fordern: „bis de eadem re ne sit actio“ bzw. „bis de eadem re agere non licet“7. Der aus diesem Grundgedanken folgende Ausschluß der zweiten Klage wird zum Teil darauf gegründet, daß ein bereits ausgeglichener Schaden nicht mehr erneut ausgeglichen werden kann, und scheint insoweit einem Gesetz zu folgen, das an für sich schon die Logik zwingend gebietet8. Im Prozeß
4 Zu dieser wissenschaftlich-theoretischen Form der Rechtsvergleichung siehe Eser, FS f. Kaiser, S. 1499 (1515 ff.); zur Bedeutung rechtsvergleichender Ansätze für die (insbes. autonome) Interpretation der EMRK siehe auch Matscher, Methods of Interpretation, S. 63 (73). 5 Siehe nur das augenfällige Beispiel aus der Praxis der internationalen Rechtshilfe bei Eser, FS f. Kaiser, S. 1499 (1518). 6 Umstritten ist insoweit, ob dieser Grundsatz originär römisch rechtlichen Ursprung ist – so Landau ZRG KA 87 (1970), 124 (124 ff.) – oder ob er bereits damals einen Import aus dem zuvor dominierenden, hellenistischen Kulturkreis darstellt – so etwa Liebs ZRG Rom. Abt. 84 (1967), 104 (121 ff.) mit Verweis auf Demosthenes; Spinellis, Materielle Rechtskraft, S. 3 mit Verweis auf Platons Kriton 50 B und Demosthenes Nausimachos 37, 16 –; unbestritten ist aber, daß sich der Grundsatz im römischen Recht dann jedenfalls als Rechtsregel durchgesetzt hat – so auch Liebs ZRG Rom. Abt. 84 (1967), 104 (128 ff.). 7 León Villalba S. 34 f. mit dem Nachweis einzelner historischer Quellen. 8 Dazu León Villalba S. 39; zur Wiederaufnahme dieser Begründungsversuche bei Planck und Binding siehe Spinellis, Materielle Rechtskraft, S. 10 f.; anders diejenigen Autoren, die zwischen einem materiellen und einem prozessualen Anspruch unterscheiden: danach
I. Ursprünge des Prinzips im römischen und kanonischen Recht
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kann dieser Einwand durch die sog. exceptio rei iudicatae geltend gemacht werden, die sich zunächst auf den Bestand eines früheren Urteils und im weiteren Verlauf darüber hinaus auf die Verbindlichkeit des darin festgestellten Sachverhalts bezieht9. Neben der exceptio rei iudicatae entwickelt sich noch selbständig unter dem Terminus der exceptio rei in iudicum deductae der Einwand anderweitiger Rechtshängigkeit10. Für die weitere Entwicklung des Rechtsgrundsatzes von Bedeutung sind dann die im 3. Jahrhundert nach Christus entstandenen und bis ins 12. Jahrhundert zur wichtigsten Quelle des römischen Rechts gewordenen Paulussentenzen, die das Verbot der mehrfachen Strafverfolgung dahin einschränken, daß eine zweite Anklage nach einem Freispruch nur dann zurückgewiesen wird, wenn sie vom ersten Ankläger ausgeht11. Nach dem Niedergang des Imperium Romanum überdauert das Prinzip des ne bis in idem im kanonischen Recht. Dieses wird zwischen dem vierten und siebten Jahrhundert und insbesondere während der Ära Konstantins stark vom römischen Recht beeinflußt12 und nimmt im 9. Jahrhundert ein aus den Paulussentenzen abgeleitetes umfassendes Prinzip des ne bis in idem in die Sammlung gefälschter Kapitularien des Benedikt Levita auf13. Mit deutlich jenseitigem Bezug heißt es dann bei Gratian: Gott bestraft dasselbe Vergehen nicht zweimal14. Inhaltlich wird das Prinzip auch im weiteren Verlauf seiner Entwicklungsgeschichte bis in das 13. Jahrhundert zunehmend umfassender verstanden. Dabei werden einerseits die vorhandenen Ausnahmen zu Lasten des Angeklagten weitgehend abgeschafft und nur solche zugunsten unschuldig Verurteilter zugelassen, andererseits soll eine mehrfache Strafe im selben Verfahren noch zulässig sein15. Auf diesem in der Kanonistik und im Dekretalenrecht entwickelten Fundament baut später teilweise das weltliche Strafrecht auf, so daß etwa noch die italienische gemeinrechtliche Strafrechtswissenschaft des 16. Jahrhunderts im wesentlichen hierin wurzelt16. Mit den Dekretalen von Inoncenc III. wird seit den ersten Jahrzehnten des 13. Jahrhunderts dann der Inquisitionsprozeß als neue Prozeßform eingeführt und mit ihm die Suche nach der Wahrheit in den Vordergrund gestellt. In der Folgezeit findet der Grundsatz des ne bis in idem etwa bei einem Freispruch aus formalen erlischt der materielle Anspruch automatisch und nur dem prozessualen steht dann der Grundsatz des ne bis in idem entgegen. 9 Rüping in: Dolzer / Vogel / Grasshof (Hrsg.), Bonner Kommentar, Art. 103 Abs. 3 Rn. 2. 10 Näher León Villalba S. 42 f.; manche Autoren wie später zum Beispiel Damm ZStW 36 (1917), 332 (342 f.) fassen auch diesen Einwand unter das Prinzip des ne bis in idem. 11 Zu Einzelheiten siehe Landau ZRG KA 87 (1970), 124 (132). 12 Dazu León Villalba S. 51. 13 Landau ZRG KA 87 (1970), 124 (135 f.) stellt diese Erweiterung des Grundsatzes als Folge einer bewußten Fälschung des zitierten Quellenmaterials dar. 14 Landau ZRG KA 87 (1970), 124 (141). 15 Zu den verschiedenen, teils durchaus differierenden Entwicklungsströmen siehe Landau ZRG KA 87 (1970), 124 (142 ff.). 16 So Landau ZRG KA 87 (1970), 124 (152); ähnlich Schwarplies S. 20.
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B. Der Grundsatz des ne bis in idem in Europa
Gründen keine Anwendung17. Ob und inwieweit das Prinzip darüber hinaus Wirkung entfaltet, ist bis heute unklar18; jedenfalls wird es von einem anderen Grundsatz überlagert, wonach „die Wahrheit an keinen Termin gebunden sein könne“. Dieser Einstellung entspricht die zu dieser Zeit19 eingeführte Figur der absolutio ab instantia, einer Art vorläufigen Einstellung des Verfahrens bis zum Aufkommen neuer Verdachtsmomente unter gleichzeitiger Verhängung einstweiliger Sicherungsmaßnahmen20. Selbst die weltliche Constitutio Criminalis Carolina von 1532 enthält dementsprechend – anders als etwa noch die Kodifikation Glogauers von 1386 mit den Worten: „res semel iudicata amplius iudicari non potest“ oder die Weistümer von Listal aus dem Jahr 1411 oder Münster aus dem Jahr 1498 – kein dem Grundsatz des ne bis in idem gleichkommendes Rechtsprinzip21 mehr. Im spanischen Rechtsraum findet sich das Prinzip des ne bis in idem indessen auch während des sog. goldenen Zeitalters 1605 in Cervantes Leben und Taten des scharfsinnigen Edlen Don Quijote von La Mancha22: „Beachte Euer Gnaden, Señor Don Quijote, wenn der Ritter erfüllt hat, was Ihr ihm auferlegtet, (. . . ) so hat er ja alles vollbracht, was seine Pflicht war, und verdient weiter keine Strafe, wenn er nicht neues Vergehen verübt. (. . . ) und so antwortete Don Quijote: „Wohl gesprochen, Du hast es ganz richtig getroffen, und so erkläre ich denn den Eidschwur für nichtig, insoweit er darauf zielte, aufs neue Rache zu üben.“ Mitte des 18. Jahrhunderts führen reformatorische Ansätze gestützt durch aufklärerische englische und französische Einflüsse auch in Deutschland wieder zu einer Stärkung des Doppelbestrafungsverbots, so daß beispielsweise 1751 eine entsprechende Regelung in den Codex iuris Bavarici aufgenommen wird23. Inhaltlich Ausführlich zur den Entwicklungen in dieser Zeit siehe Schwarplies S. 22 – 63. Spinellis, Materielle Rechtskraft, S. 4 f. spricht insoweit von einer Abschwächung; Rüping in: Dolzer / Vogel / Grasshof (Hrsg.), Bonner Kommentar, Art. 103 Abs. 3 Rn. 1 meint sogar, das Prinzip sei ganz aufgegeben und seit der Aufklärung grundsätzlich neu begründet worden. 19 Schwarplies S. 27 ff. verortet die ersten Erscheinungsformen der absolutio ab instantia in der mailändischen Gerichtspraxis des 16. Jahrhunderts. 20 Da diese für den Betroffenen faktisch häufig schwerwiegender waren als die eigentlich bei Abschluß des Verfahrens zu erwartende Sanktion, sprechen Rüping in: Dolzer / Vogel / Grasshof (Hrsg.), Bonner Kommentar, Art. 103 Abs. 3 Rn. 4 und Schwarplies S. 22 insoweit sogar von einer Verdachtsstrafe; Spinellis, Materielle Rechtskraft, S. 137 zu ihrer Ausbildung im französischen Ancien Regime. 21 So auch Rüping in: Dolzer / Vogel / Grasshof (Hrsg.), Bonner Kommentar, Art. 103 Abs. 3 Rn. 3; demgegenüber will Schwarplies S. 32 ein solches aus dem Fehlen von Rechtsmitteln ableiten. 22 Erstes Buch Kapitel 10, in der Übersetzung von Braunfels, Parkland Verlag, 1985, S. 74. 23 Zu den Auswirkungen der Aufklärungsbewegung ausführlich Schwarplies S. 64 – 74 sowie León Villalba S. 60 f.; zum Einfluß des französischen Code d’Instruction Criminelle von 1808 auf die Partikulargesetzgebung vgl. Spinellis, Materielle Rechtskraft, S. 7; ähnlich die Gesamtbilanz von Eser, FS f. Kaiser, S. 1499 (1512), wonach der „liberale Strafprozeß“ Deutschlands des 19. Jahrhunderts ohne englische und französische Vorbilder gar nicht zu denken gewesen wäre; für die zwischenstaatliche Geltung führt Berner Gerichtssaal 1866, 31 17 18
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soll das Individuum davor geschützt werden, „die Leiden und Unannehmlichkeiten ( . . . ) wegen der nämlichen Handlung (nochmals) zu erdulden“24.
II. Die traditionellen, kontinentalen Rechtssysteme Von diesen Regelungen lassen sich direkte Linien bis in die Gegenwart ziehen, von der hier nur in einem kurzen Überblick die großen Systeme und zugleich die modernen zwischenstaatlichen Kooperationsformen dargestellt werden sollen. So führt etwa die Regelung in den Art. 30, 85 f. preuß. StPO vom 3. Mai 1852 direkt zu den späteren Grundsätzen der Rechtskraft in der StPO des deutschen Reiches vom 1. Februar 1877.
1. Deutschsprachiger Rechtsraum Bevor diese ausführlicher besprochen wird, soll speziell für den deutschen Sprachraum die Eigenständigkeit der verschiedenen Rechte betont werden, die bereits im österreichischen Recht deutlich sichtbar wird und im Fall der Schweiz geradezu ins Auge springt.
a) Deutschland – Eine deutlich verfassungsrechtlich geprägte Diskussion des Doppelbestrafungsverbots Für das gesamte deutsche Reich entfaltet das Prinzip des ne bis in idem – wie erwähnt – zunächst durch die im Rahmen der Reichsjustizgesetze erlassene StPO vom 1. Februar 1877 seine Wirkung. Es ist zwar nicht ausdrücklich in den Gesetzestext aufgenommen, wird dort aber stillschweigend zugrunde gelegt25 und vom Reichsgericht26 in Auseinandersetzung mit der Lehre27 in einer reichhaltigen (31 f.) ein Beispiel an, das zwischen den damaligen Staaten Bayern und Württemberg spielt; ausführlich zum endgültigen Durchbruch der Rechtskraftidee in dieser Zeit Schwarplies S. 98 ff. 24 Mitternmayer, Archiv des Criminalrechts N.F. 1850, 407 (409) zitiert nach Rüping in: Dolzer / Vogel / Grasshof (Hrsg.), Bonner Kommentar, Art. 103 Rn. 4. 25 Ausführlich begründet dies das Reichsgericht bereits in der Entscheidung vom 16. Oktober 1880, abgedruckt in RGStE 2, 347 (348 f.) sowie etwa Einchorn Gerichtssaal 1886, 401 (402 – 405). 26 Eingehend mit diesem Themenkomplex beschäftigen sich etwa die Entscheidungen RGStE 2, 211 (211 f.); 4, 243 (244 f.); 7, 355 (358 – 360); 8, 135 (137 – 141); 9, 321 (322 f.); 11, 251 (252 f.); 12, 115 (117). 27 In der Lehre war insbesondere umstritten, ob es sich beim Verbot mehrfacher Strafverfolgung um einen Grundsatz materieller (so etwa Berner Gerichtssaal 1866, 31 [31 ff.]; siehe ferner auch die Nachweise bei Damm ZStW 36 [1917], 332 [342 f.]), prozessualer (vgl. die bei Goltdammer GA 3 [1855], 385 [385 ff.] mitgeteilten Urteile sowie Damm ZStW 36
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Rechtsprechung fortentwickelt. Dabei werden als Korrektiv gegen die Folgen dieses Grundsatzes im Prozeßverfahren selbst weitgehende Möglichkeiten gewährt, durch Klageänderungen in jede Richtung den zur Beurteilung gestellten Fall vollständig zu erledigen28. Zwei Taten werden als identisch angesehen, wenn sie auf derselben Handlung beruhen, wobei die Handlung die lebendige Vermittlung des Willens zur Tat darstellen soll. Wegen einer Straftat, die als bloße Übertretung durch polizeilichen Strafbefehl erledigt wird, kann eine erneute Strafverfolgung stattfinden, wenn sie sich später als Vergehen oder Verbrechen darstellt. Ebenso stehen auch Disziplinar- oder rein fiskalische Strafen einer Verfolgung der Sache als Straftat nicht entgegen29. § 5 RStGB schließt es für den Bereich des internationalen Strafrechts aus, die Auslandstat eines Deutschen zu ahnden, wenn im Ausland bereits ein Urteil ergangen und im Fall der Verurteilung auch vollstreckt wurde30. Während der Zeit des Nationalsozialismus wird das Prinzip dem Volkswohl untergeordnet und es gilt die Maxime: Der Schutz des Volkes und des Staates geht der Anwendung von Verfahrensgrundsätzen vor, wenn diese in ihrer letzten Folge zum Widersinn (d. h. zu unerwünschten Ergebnissen) führen31. Dementsprechend wird ein außerordentliches Einspruchsrecht des Oberreichsanwalts gegen unerwünschte, aber bereits rechtskräftige Urteile normiert32. Der heutige Art. 103 Abs. 3 GG versteht sich als Reaktion auf diese Einbußen an Rechtssicherheit und lautet in seinem ersten Entwurf: „Niemand darf wegen derselben Tat zweimal gerichtlich verfolgt werden“33. In seiner letztlich Gesetz gewordenen Fassung heißt es: „Niemand darf wegen derselben Tat auf Grund der allgemeinen Strafgesetze mehrmals bestraft werden“. Diese Vorschrift wird jedoch über ihren zu engen Wortlaut als das Verbot jeder mehrfachen Strafverfolgung im Inland und umfassendes Verfahrenshindernis verstanden, wobei Streit darüber be[1917], 332 [342 f.], soweit er den Einwand anderweitiger Rechtshängigkeit unter das Prinzip des ne bis in idem faßt) oder gemischter Natur (so auch die Auffassung des Reichsgerichts, vgl. Einchorn Gerichtssaal 1886, 401 [405 ff.]) handeln sollte. 28 In diesem Sinn Einchorn Gerichtssaal 1886, 401 (403). 29 So die Ausführungen in BVerfGE 21, 378 (387) bez. §§ 6, 14 des preußischen Gesetzes betreffend die Rechtsverhältnisse der Studierenden und die Disziplin an den Landesuniversitäten vom 29. Mai 1879 und der Preußischen Verordnung über die Disziplinarbestrafung vom 21. Oktober 1841. 30 Zur Einordnung dieser Regelung in den Verlauf der weiteren geschichtlichen Entwicklung siehe auch Endriß / Kinzig StV 1997, 665 (666). 31 In diesem Sinne etwa die Entscheidung des Volksgerichtshof DJ 1938, 1193 (1193), die die Durchbrechung der Rechtskraft damit begründet, daß ein anderes Ergebnis „widersinnig“ sei und jedem „gesunden Rechtsempfinden ins Gesicht schlage“. 32 § 3 des Gesetzes zur Änderung von Vorschriften des allgemeinen Strafverfahrens, des Wehrmachtsstrafverfahrens und des Strafgesetzbuchs vom 16. September 1939; abgedruckt in RGBl. I 1939, 1841 (1842). 33 Zur Entstehungsgeschichte und den verschiedenen Ursprungsfassungen des Doppelbestrafungsverbots siehe JöR n. F. Bd. 1 (1951), 741 (742).
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steht, ob und inwieweit sich dieses strikte Verbot über das Kriminalstrafrecht hinaus auch auf andere Sanktionen bezieht34. Ergänzt wird diese Regelung im materiellen Strafrecht durch § 51 Abs. 1 StGB, der für im Laufe des Ermittlungsverfahrens erlittene Freiheitsentziehungen normiert, daß diese grundsätzlich auf eine im Urteil ausgesprochene Strafe anzurechnen sind35. Die strafklageverbrauchende Wirkung umfaßt „den geschichtlichen Vorgang, den das Gericht im Rahmen des Eröffnungsbeschlusses abzuurteilen rechtlich in der Lage war“36. Maßgeblich ist, daß der dem Gericht in der Anklage unterbreitete Sachverhalt einen nach natürlicher Lebensauffassung einheitlichen geschichtlichen Lebensvorgang darstellt. Die innere Verknüpfung der jeweiligen Vorwürfe muß sich dabei unmittelbar aus den ihnen zugrunde liegenden Handlungen und Ereignissen unter Berücksichtigung ihrer strafrechtlichen Bedeutung ergeben37. Die Vorschriften der §§ 265, 266 StPO ermöglichen hierbei dem Gericht, die Strafklage weitgehend umzugestalten und dem Kenntnisstand des Gerichts in der mündlichen Verhandlung anzupassen. Für die Strafzumessung bei mehreren Gesetzesverletzungen differenzieren die §§ 52, 53 StGB dann zwischen Tateinheit und Tatmehrheit und legen je nach dem, ob eine oder mehrere Handlungen abzuurteilen sind, fest, ob für mehrere Rechtsgutsverletzungen nur eine oder mehrere Strafen verhängt werden dürfen38. Volle Rechtskraft entfalten dabei alle Sachurteile sowie Einstellungsurteile, sofern sie auf endgültigen Verfahrenshindernissen beruhen, nicht dagegen Entscheidungen in summarischen Verfahren, wie zum Beispiel Einstellungsbeschlüsse gem. §§ 153 ff. StPO39. Durchbrochen werden kann die 34 BVerfGE 12, 62 (66); Roxin, Strafverfahrensrecht, § 50 Rn. 7; sich mit den verschiedenen Argumentationssträngen ausführlich und zu Recht kritisch auseinandersetzend Fliedner AöR 99 (1972), 242 (246 – 259). 35 Näher dazu Jescheck / Weigend, Lehrbuch AT, § 84; wie die Entscheidung BGHSt 43, 112 (120 f.) zeigt, interpretiert die Rechtsprechung den Begriff des „Verfahrens“ in § 51 Abs. 1 StGB durchaus extensiv, so daß § 51 Abs. 1 StGB bereits bei einer „funktionalen Verfahrenseinheit“ zur Anwendung kommen soll. 36 Ständige Rechtsprechung seit BGH 6, 92 (95); zuletzt BGH NStZ-RR 2003, 82 (82); in der Literatur wird die damit verbundene Ausdehnung der Rechtkraft vielfach als zu weit empfunden, so daß auf verschiedene Weise (einen kurzen Überblick gibt hier Roxin, Strafverfahrensrecht, § 50 Rn. 13 – 18) versucht wird, entweder den Begriff der prozeßualen Tat zu verändern oder aber in Ausnahmefällen eine Berichtigungsklage oder Ergänzungsklage zuzulassen. 37 Grundlegend zu dieser „Normativierung“ des faktischen Tatbegriffs BGHSt 13, 21 (26). 38 Vergleiche dazu etwa Tiedemann, Entwicklungstendenzen, S. 37 ff., wobei zu beachten ist, daß die dort angesprochene Figur des sog. Fortsetzungszusammenhangs von der deutschen Rechtsprechung (vgl. BGHSt 40, 138 [146 ff.]) zwischenzeitlich weitgehend aufgegeben wurde; ähnlich Radtke, Strafklageverbrauch, S. 95 ff. 39 Ausführlich (mit einem Überblick zum jeweiligen Meinungsstand) zu den einzelnen Entscheidungsformen aus dem neueren deutschen Schrifttum Radtke, Strafklageverbrauch, S. 163 – 305 (dort auch zur Diskussion um die Rechtskraft des Strafbefehls vor der ausdrücklichen Gleichsetzung mit dem rechtskräftigen Urteil durch das Strafverfahrensänderungsgesetz von 1987); speziell zur Rechtskraft von Einstellungsbeschlüssen gem. § 153 Abs. 2 StPO siehe neuerdings BGH NJW 2004, 375.
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Rechtskraft – auch zu Ungunsten des Angeklagten – nur durch ein Wiederaufnahmeverfahren gem. §§ 359 ff. StPO40. Im Verhältnis von Straf- zu Disziplinar- oder Verwaltungssanktionenrecht gilt der Grundsatz zwar im Ansatz, aber nicht umfassend: Im Bereich verwaltungsrechtlicher Sanktionen finden sich wichtige einfachgesetzliche Ausprägungen in §§ 21, 84 Abs. 2 S. 1 OWiG41. Im Verhältnis von Straf- zu Disziplinarrecht soll der Grundsatz nach herrschender Meinung nicht gelten42. Zumindest für Arreststrafen beim Militär hat das Bundesverfassungsgericht jedoch auf Wesen und Charakter der Strafen abstellend aus dem Rechtsstaatsprinzip das Erfordernis einer Anrechnung der Arrest- auf die Kriminalstrafe hergeleitet43. Das heutige deutsche internationale Strafrecht der §§ 3 ff. StGB ist durch die Abkehr vom zwischenzeitlich dominierenden aktiven Personalitätsprinzip hin zum modernen Territorialitätsprinzip gekennzeichnet44. Dieses findet Ausweitungen im Rahmen des Schutzgrundsatzes, des passiven Personalitätsprinzips, des Weltrechtsprinzips für bestimmte allgemein anerkannte Rechtsgüter und des Prinzips der stellvertretenden Strafrechtspflege. Im Bereich eines zwischenstaatlich geltenden Grundsatzes des ne bis in idem wird Art. 54 SDÜ derzeit als die bedeutendste Rechtsquelle betrachtet45. Wo diese Regelung nicht zur Geltung kommt, normiert § 51 Abs. 3 StGB für den Fall einer vorhergehenden Verurteilung im Ausland zumindest das Anrechnungsprinzip46, das durch die verfahrensrechtliche Regelung des § 153c Abs. 1 Nr. 3 StPO ergänzt wird. Dort wird der Staatsanwaltschaft für diese Fälle ein weiter Ermessenspielraum eingeräumt und die Einstellung des Verfahrens erlaubt, wenn die im Inland zu erwartende Strafe nach Anrechnung der ausländischen nicht ins Gewicht fallen würde47.
40 Eine Bestandsaufnahme mit umfangreichen weiterführenden Hinweisen über das deutsche Wiederaufnahmerecht aus jüngerer Zeit findet sich bei Waßmer Jura 2002, 454 (454 ff.). 41 Zur früheren Strafbefugnis der Zoll- und Steuerbehörden und deren Verhältnis zum Kriminalstrafrecht siehe die Darstellung in BVerfGE 22, 49 (51 ff.). 42 Stellvertretend BVerfGE 21, 378 (382, 384 f.); Jarass / Pieroth, GG, Art. 103, Rn. 59 m.w.N. 43 BVerfGE 21, 378 (388 ff.). 44 Ausführlich hierzu Hoyer in: Rudolphi (Hrsg.), Systematischer Kommentar zum StGB, vor § 3 Rn. 14 ff. 45 Radtke / Busch EuGRZ 2000, 421 (423). 46 Der EuGH wird dabei nicht als ausländisches, sondern als inländisches Gericht angesehen, vgl. BGH 24, 54 (57); zu den praktischen Problemen dieser Regelung und der teilweise vom Ergebnis her getragenen außerordentlich extensiven Auslegung siehe nur BGHSt 35, 172 (177) = BGH NStZ 1988, 271 (272) und daran anschließend BGH NStZ 1990, 231 (232). 47 Dazu Landau, FS f. Söllner, S. 627 (637 ff.).
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b) Österreich – Das Doppelbestrafungsverbot im Verhältnis von Kriminal- zu Verwaltungsunrecht Eine dem deutschen Recht ähnliche Ausgestaltung des Grundsatzes des ne bis in idem findet sich im österreichischen Recht: Dies gilt zunächst prozessual für das Verständnis des Grundsatzes als von Amts wegen zu beachtendes Verfahrenshindernis, das der mehrmaligen Ahndung derselben Tat entgegen steht. Zwei Taten sind dabei identisch, wenn es sich um denselben tatsächlichen Vorgang handelt; maßgebend sollen Zeit, Ort und Gegenstand sowie der Betroffene der Tat und die Person des Täters sein48. Dem entspricht, daß dem Gericht in den §§ 262, 267 österr. StPO eine weitgehende Befugnis zugestanden wird, das historische Geschehen umfassend zu würdigen49. Folgerichtig erstreckt sich die Rechtskraft des Urteils auf alle idealkonkurrierenden Delikte50, wobei anders als im deutschen Recht § 28 österr. StGB entsprechend dem sog. Einheitsansatz in den Rechtsfolgen nicht zwischen Ideal- und Realkonkurrenz unterscheidet, so daß dieser Differenzierung im Grunde noch weniger Bedeutung beigemessen wird als im deutschen Recht51. Eine Wiederaufnahme des Verfahrens ist in den Grenzen der §§ 352 ff. StPO möglich. Sie kommt namentlich dann in Betracht, wenn das Urteil auf strafbaren Handlungen beruht oder neue, erhebliche Tatsachen oder Beweismittel auftauchen, wobei dies bei Wiederaufnahmen zu Ungunsten des Angeklagten auf Sachverhaltskonstellationen beschränkt ist, die sich durch ein besonderes Mißverhältnis zwischen erfolgter Bestrafung und erwarteter, neuer Strafe auszeichnen. Die Rechtsprechung zu der Frage, inwieweit der Grundsatz des ne bis in idem im Verhältnis von Strafrecht und Disziplinarerkenntnis bzw. Verwaltungsstrafrecht gilt, befindet sich in letzter Zeit im Fluß: Während eine Anwendung des Prinzips im Verhältnis zu Disziplinarstrafen – und früher auch zum Verwaltungsstrafrecht52 – Foregger / Fabrizy, StPO, § 262 Rn. 2. Ackermann / Ebensperger AJP 1999, 823 (831, insb. Fn. 65) stellen zusammenfassend fest, daß die österr. Rechtsprechung von einem sog. „Gesamtverhalten“ ausgeht, bezüglich dessen eine Verurteilung hinsichtlich aller daraus ableitbarer (idealkonkurrierender) Delikte möglich sein soll, auch wenn diese gar nicht alle Anklagegegenstand waren bzw. andere Rechtsgüter betreffen. 50 Kienapfel / Höpfel, Allgemeiner Teil, E 8 Rn. 17 sprechen in diesem Zusammenhang von der sog. Erledigungsfunktion der Idealkonkurrenz. 51 So Kienapfel / Höpfel, Allgemeiner Teil, E 8 Rn. 47, weil § 28 österr. StGB in beiden Fällen eine Strafrahmenbestimmung nach dem Kombinationsprinzip (Bildung des Strafrahmen aus der höchsten Mindeststrafe und der höchsten Höchststrafe) anordnet; das deutsche Modell wird demgegenüber als Differenzierungsansatz bezeichnet; ebenso Ratz in: Wiener Kommentar zum StGB, Vorbem zu §§ 28 – 31 Rn. 24. 52 Vgl. Foregger / Fabrizy, StPO, § 352 Rn. 7; Kienapfel / Höpfel, Allgemeiner Teil, E 8 Rn. 55b verweisen in diesem Zusammenhang auf die häufigen Regelungen, die im Grunde zu einer Subsidiarität des Verwaltungsstrafrechts gegenüber dem Strafrecht im engeren Sinn führen. 48 49
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abgelehnt wird53, hat die Gradinger-Entscheidung des EGMR54 zu einem Umdenken geführt55. Der österr. Verfassungsgerichtshof stellt für das Verhältnis von Verwaltungs- und Kriminalstrafrecht nunmehr darauf ab, ob die von den Verwaltungsbehörden angewandte Strafnorm einen „wesentlichen Gesichtspunkt“ eines anderen Straftatbestandes enthält56. Die Rechtswissenschaft hat dabei in ihren Aufarbeitungen dieser Entscheidung auf die Schwierigkeiten des Begriffs des „wesentlichen Gesichtpunkts“ hingewiesen, so daß abzuwarten bleibt, in welche Richtung sich die Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofs fortentwickeln wird, ob damit nur ein identisches Tatbestandsmerkmal, sich überschneidende tatsächliche Geschehensabläufe, ein umfassendes Exklusivitätsverhältnis oder etwas anderes gemeint ist57. Gegenüber ausländischen Entscheidungen besteht zwar kein umfassendes Verbot mehrfacher Strafverfolgung; in der Sache ist diese jedoch stark eingeschränkt. Nach § 64 österr. StGB gilt grundsätzlich das Territorialitätsprinzip mit Ausnahmen zugunsten des Staatsschutzes, der Wirtschaft sowie von Schutzverpflichtungen der Völkergemeinschaft. Die übrigen Taten werden gem. § 65 österr. StGB entsprechend dem Personalitätsprinzip in der Regel nur verfolgt, wenn sie von Österreichern oder von in Österreich lebenden und nicht der Auslieferung unterliegenden Ausländern begangen werden. In diesen Fällen wird ein ausländischer Freispruch und eine Sperrwirkung für im Ausland begangene, verurteilte und im weitesten Sinne vollstreckte Taten anerkannt. Soweit einem ausländischen Urteil keine strafklageverbrauchende Wirkung zuerkannt wird, berücksichtigt § 66 österr. StGB die Interessen des Angeklagten jedoch wenigstens dadurch, daß als Ausgleich zu seinen Gunsten die erste auf die zweite Strafe zumindest angerechnet werden soll. Diese Regelungen werden verfahrensrechtlich durch § 34 österr. StPO ergänzt. Danach muß von der Verfolgung einer im Ausland begangenen Tat abgesehen werden, wenn zwischenstaatliche Abkommen – namentlich Art. 54 SDÜ und das EGne-bis-in-idem-Übereinkommen58 – hierzu verpflichten, und es kann von dieser abgesehen werden, wenn es eines inländischen Strafausspruchs nicht bedarf. Durch ein Ersuchen um Strafverfolgung alleine geht der Strafanspruch dagegen nicht unter, wohl aber gem. Art. 74 Abs. 4 ARHG durch die Vollstreckung oder Nachsicht der im Ausland für die Inlandstat verhängten Strafe59. So Ackermann / Ebensperger AJP 1999, 823 (833). EGMR, Urteil vom 23. Oktober 1995, Fall Nr. 33 / 1994 / 480 / 562. 55 Ausführlich Hübner S. 13 ff. 56 Vergleiche die Darstellung der Entwicklung in der Rechtsprechung des österr. Verfassungsgerichtshofs bei Ackermann / Ebensperger AJP 1999, 823 (832); Giese in: Grabenwarter / Thienel, Kontinuität und Wandel, S. 97 (106 ff.) und Hübner S. 21 ff. zur Regelung des § 22 öVStG mit seinen zahlreichen Spezialregelungen sowie dessen Kritik an der Rechtsprechung des öVfGH S. 29 ff. 57 Ausführlich Hübner S. 16 ff. 58 Näher zu den Regelungen Kathrein in: Höpfel / Ratz, Wiener Kommentar, Vorbem zu §§ 62 – 67 Rn. 51 ff. 59 Foregger / Fabrizy, StPO, § 352 Rn. 7. 53 54
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c) Schweiz – Das Doppelbestrafungsverbot in einem System mit stark föderalen Elementen Die Rechtslage in der – sich materiell auch immer stärker an die Europäische Gemeinschaft bindenden60 – Schweiz wird durch die bundesstaatliche Staatsstruktur geprägt, die den einzelnen Kantonen insbesondere auf dem Gebiet des Verfahrensrechts weitgehende Kompetenzen einräumt61: Der Grundsatz des ne bis in idem ist dabei als allgemeines Strafrechtsprinzip mit Verfassungsrang anerkannt62, so daß eine vorherige Verurteilung von den Gerichten von Amts wegen beachtet werden muß. Bereits strittig ist aber, ob für die Feststellung der Identität der Tat primär auf das tatsächliche Geschehen oder auf die rechtliche Qualifikation abgestellt werden soll63. Wird in diesem Zusammenhang nach dem Umfang der Kognitionsmöglichkeiten des Gerichts im Strafprozeß gefragt, so wirkt sich an dieser Stelle aus, daß der schweizerische Strafprozeß (in den einzelnen Kantonen unterschiedlich stark) von den Grundsätzen der beschränkten Mündlichkeit und der Mittelbarkeit der Beweisaufnahme geprägt ist64. Dies bedeutet, daß der Prozeß regelmäßig65 als 60 Aus der jüngeren Zeit bedeutsam sind in diesem Zusammenhang die „Sektoriellen Abkommen zwischen der Schweiz und der EG“ vom 21. Juni 1999; zu deren inhaltlicher Reichweite (unter besonderer Berücksichtigung des Abkommens über die Freizügigkeit) siehe Kahil-Wolff / Mosters EuZW 2001, 5 (5 ff.) m.w.N.; die Abkommen finden sich im Internet unter www.europa.admin.ch. 61 Dementsprechend liegt auch die Kompetenz zur Regelung des Strafverfahrens bei den Kantonen und nicht beim Bund, vgl. stellvertretend Oberholzer, Strafprozeßrecht, S. 9; Sieber JZ 1997, 369 (372) sieht darin eine eigene Art von Kooperationsmodell, das sich durch eine Kombination von Vereinheitlichung und Zusammenarbeit auszeichnet; zu der regional unterschiedlichen Wirkung deutscher und französischer Einflüsse siehe Schwarplies S. 11 ff. 62 Siehe dazu etwa die Entscheidung des Schweizer Bundesgerichts, II. öffentliche Abteilung vom 24. September 1996, zusammengefaßt in AJP 1997, 323 (323 f.), das den Grundsatz des ne bis in idem aus Art. 4 schweizerische Bundesverfassung ableitet; im Grunde ähnlich ist bereits der Befund von Schwarplies S. 10. 63 So meint etwa Oberholzer, Strafprozeßrecht, S. 416 f. das (freilich durch Normativierungen ergänzte) tatsächliche Geschehen sei maßgebend, wohingegen Schmid, Strafprozeßrecht, Rn. 589 nach einer Darstellung der beiden grundsätzlichen Positionen die rechtliche Qualifikation der Tat als maßgeblich erachtet; eine knappe Darstellung der verschiedenen Ansätze findet sich bei Ackermann / Ebensperger AJP 1999, 823 (833 f.). 64 Siehe etwa Hauser, Strafprozessrecht, § 48 am Ende und Schmid, Strafprozeßrecht, Rn. 838; weitgehend unmittelbar ist dagegen das Verfahren vor dem schweizerischen Bundesgericht; zu aktuellen Reformgedanken mit dem Ziel einer Vereinheitlichung ausführlich Riklin ZStR 119 (2001), 371 (380 ff.). 65 Dies gilt in dieser Grundsätzlichkeit aber nicht für den Geschworenenprozeß, in dem eine unmittelbare Beweisaufnahme häufiger vorkommt, da man die Geschworenen von einem umfangreichen Aktenstudium entbinden will, und in dem konsequenterweise auch die Möglichkeit einer zusätzlichen Anklage in einem weiteren Umfang zugelassen wird, vgl. Schmid, Strafprozeßrecht, Rn. 838, 853; wobei die Geschworenen im schweizerischen
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Aktenprozeß geführt wird, dem eine umfangreiche Beweisaufnahme vor den Untersuchungsbehörden66 vorausgegangen ist. Auch hier wird Endentscheidungen eine formelle und materielle Rechtskraft zuerkannt, die nur durch die begrenzte Möglichkeit eines Wiederaufnahmeverfahrens durchbrochen werden kann, wobei die Gründe für eine Wiederaufnahme in einem ähnlichen Umfang wie im österreichischen Recht begrenzt sind. Materiell unterscheidet das schweizerische Strafgesetzbuch in Art. 68 im Bereich der Konkurrenzen ähnlich wie das deutsche Recht zwischen Real- und Idealkonkurrenz und bestimmt, daß im ersteren Fall die schwerste Strafe angemessen erhöht wird, während im zweiten Fall auf eine, alles in allem schuldangemessene Buße erkannt wird. Diese Behandlung der Idealkonkurrenz zeigt, daß hier letztlich doch ein tatsächliches Geschehen insgesamt beurteilt werden soll und gerade nicht der einzelne Gesetzesverstoß67. Neben dem Strafrecht kennt die Schweiz auch sog. Verwaltungsstrafen, die durch einen rechtskraftfähigen Strafbescheid geahndet werden können. In Fällen, in denen eine Freiheitsstrafe verhängt werden soll, muß hier das Verfahren jedoch wieder an die Kantonsgerichte überwiesen werden. Auch im übrigen ist die Konkurrenz von Kriminalstrafrecht und Verwaltungsstrafrecht durch das Subsidiaritätsprinzip geregelt68. Soweit eine Doppelverfolgung zulässig ist, wird darauf verwiesen, daß bei einer nachfolgenden strafrechtlichen Verurteilung vorhergehende Bussenverfügungen aufgehoben oder auf die zweite Strafe angerechnet werden müssen69. In seinem internationalen Strafrecht verankert Art. 3 Ziff. 1 Abs. 1 schweiz. StGB zunächst das Territorialitätsprinzip, das in den Art. 4 und 5 schweiz. StGB durch das Staatsschutzprinzip sowie das aktive und passive Personalitätsprinzip ergänzt wird. Zuletzt trägt Art. 6bis schweiz. StGB den Verpflichtungen der Schweiz zur Verfolgung bestimmter Auslandstaten in internationalen Konventionen Rechnung. Urteile ausländischer Staaten werden im Rahmen einer ausdifferenzierten Regelung unterschiedlich stark berücksichtigt, je nachdem wie sehr durch die Rechtsverstöße nationale Interessen berührt werden. Bei Straftaten auf schweizerischem Gebiet, die im Ausland abgeurteilt werden, normiert Art. 3 Ziff. 1 Abs. 2 Strafprozeß sowohl bei der Schuldfrage als auch bei der Strafzumessung zu Rate gezogen werden, so daß ihre Stellung der von Schöffen nahezu gleich kommt. 66 Das schweizerische Recht differenziert zwischen dem entscheidenden Gericht, den Untersuchungsbehörden, bei denen im Rahmen der sog. Strafuntersuchung eine weitgehende Beweisaufnahme erfolgt (dazu Schmid, Strafprozeßrecht, Rn. 196), und den Ermittlungsbehörden, die der Staatsanwaltschaft zuarbeiten. 67 Dies wird unterstützt durch die vorübergehende Anerkennung der Figur der fortgesetzten Handlung, bei der ebenfalls nur auf eine Strafe erkannt wurde, vgl. Rehberg, Strafgesetzbuch, zu Art. 68 Ziff. 1 am Ende. 68 Vergleiche Schmid, Strafprozeßrecht, Rn. 922, 933 sowie Oberholzer, Strafprozeßrecht, S. 502. 69 Ausführlicher Ackermann / Ebensperger AJP 1999, 823 (834) m.w.N., die darauf hinweisen, daß die Praxis teils sogar auf diese Anrechnung verzichtet und im Ergebnis zu einer Kumulation der Strafen gelangt.
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schweiz. StGB das Anrechnungsprinzip und, wenn das ausländische Verfahren auf einem Strafübernahmebegehren beruht, in Art. 3 Ziff. 2 schweiz. StGB das Erledigungsprinzip. Auch in den Fällen des Art. 5 schweiz. StGB soll eine im Ausland erfolgte Bestrafung eine erneute Bestrafung ausschließen und ein etwaiger Strafrest noch vollstreckt werden. Bei von Schweizern im Ausland begangenen Straftaten werden gem. Art. 6 schweiz. StGB weitergehend auch ausländische Freisprüche als inländische Verfahrenshindernisse anerkannt.
2. Frankreich – Das Doppelbestrafungsverbot unter dem Einfluß des Code d’Instruction Criminelle von 1808 Historisch besondere Bedeutung70 entfaltet die Verankerung des Verbots mehrfacher Bestrafung im Code dÍnstruction Criminelle von 1808. Obgleich der in den Art. 246, 360, 443 verankerte Schutz dabei nach dem Wortlaut des Gesetzes keineswegs umfassend71 ausgestaltet ist, geht die seinerzeitige Rechtspraxis davon aus, daß darin der allgemeine Grundsatz zum Ausdruck kommt, wonach Entscheidungen am Schluß des Vorverfahrens, in dessen Verlauf die Beweise unmittelbar und umfassend von einem Untersuchungsrichter gewürdigt werden, und verfahrensabschließenden Endurteilen prinzipiell Rechtskraft zuerkannt werden soll72: Art. 246 betrifft Entscheidungen im Vorverfahren, die sog. arrêts de non lieu. Diesen kommt zwar grundsätzlich Rechtskraft zu, sie kann aber durchbrochen werden, wenn neue Beweise den Verdacht einer Straftat erhärten73. Die Würdigung des neuen Beweismaterials ist allerdings ausdrücklich dem Richter vorbehalten, der zuvor die Fortführung des Verfahrens abgelehnt hat74. Die Rechtskraft von Endurteilen regelt dagegen Art. 360. Voraussetzung für deren Eintritt ist, daß eine Entscheidung in der Sache vorliegt und es sich in dem neuen Verfahren um dieselbe Tat handelt75. Der Begriff der Tat wird dabei nicht faktisch tatsächlich betrachtet, vielmehr soll dessen rechtliche Einordnung, die sog. fait légal bzw. fait 70 Vor allen Dingen wegen der späteren Übernahme der Regelungen in andere Rechtssysteme, vgl. Glaser Gerichtssaal 1871, 1 (20, Fn. 1; 38 f., Fn. 40) sowie Roxin, Strafverfahrensrecht, § 70 Rn. 6; zu noch früheren Verankerungen des Grundsatzes im französischen Recht siehe Pradel, Procédure Pénal, Rn. 705 und kurz Bohnert / Lagodny NStZ 2000, 636 (637). 71 Siehe dazu näher Glaser Gerichtssaal 1871, 1 (19 f.); Spinellis, Materielle Rechtskraft, S. 137 f. 72 Ausführlich zur Stellung des Untersuchungsrichters sowie zu Umfang, Verlauf und Reform des Vorverfahrens durch das Gesetz vom 15. Juni 2000 siehe Bohnert / Lagodny NStZ 2000, 636 (637 ff.). 73 Siehe Glaser Gerichtssaal 1871,1 (21 ff.). 74 Bloße Rechtsirrtümer konnten also nicht zur Wiederaufnahme des Verfahrens führen, vgl. Glaser Gerichtssaal 1871, 1 (24). 75 Spinellis, Materielle Rechtskraft, S. 138 f. (insb. auch Fn. 4).
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qualifié, maßgebend sein76. Der daraus resultierenden Gefahr, mehreren Anklagen ausgesetzt zu werden, in denen ein identisches tatsächliches Geschehen rechtlich verschieden qualifiziert wird, wird durch ein umfangreiches Fragerecht des Richters begegnet, so daß dieser die Tat in einem Verfahren unter verschiedenen, rechtlichen Gesichtspunkten mit strafklageverbrauchender Wirkung würdigen kann77. Bloße Verfahrensfehler sind grundsätzlich nicht geeignet, die Eröffnung eines neuen Verfahrens zu bewirken, und können statt dessen nur durch die Nichtigkeitsbeschwerde gem. Art. 409 geltend gemacht werden78. Im heutigen Strafrecht wird der Grundsatz des ne bis in idem zwar als in allen Instanzen von Amts wegen zu beachtendes Verfahrenshindernis anerkannt, ist auf den einzelnen prozessualen Ebenen aber unterschiedlich stark ausgeprägt79. Die Rechtskraft von Entscheidungen, die eine Hauptverhandlung abschließen, wird dabei als autorité de la chose jugée bezeichnet. Bei den Entscheidungen vor der Hauptverhandlung kommt insbesondere noch der décision de non lieu und der décision de renvoi Bedeutung zu. Während letzterer keine Rechtskraft bzw. autorité de la chose jugée zuerkannt wird, ist diese bei der decision de non lieu grundsätzlich gegeben. Eine erneute Entscheidung soll jedoch möglich sein, wenn die décision de non lieu auf tatsächlichen – und nicht auf rechtlichen – Gründen beruht und später neue Tatsachen bekannt werden, die eine Verurteilung nahe legen80. Lange Zeit umstritten ist, wie der Begriff der „selben Tatsache“ verstanden werden muß81. Während die Rechtsprechung zunächst der im Code dÍnstruction Criminelle begründeten Tradition folgt und die rechtliche Einordnung als maßgeblich erachtet, hat der Gesetzgeber der herrschenden Lehre entsprechend für Verfahren vor dem cour d’assises82 eine tatsächliche Sichtweise angeordnet83 und dem 76 Dazu ausführlich unter Darstellung der damals geführten Kontroverse Glaser Gerichtssaal 1871, 1 (24). 77 Zur genaueren geschichtlichen Entwicklung siehe Spinellis, Materielle Rechtskraft, S. 137 f. 78 Zu derartigen Verfahrensfehlern gehört anders als im englischen Recht auch die Unzuständigkeit des Gerichts, vgl. Glaser Gerichtssaal 1871, 1 (27); eine Grenze stellen dabei Entscheidungen dar, die unter solch schwerwiegenden Verfahrensfehlern leiden, daß sie überhaupt nicht mehr als Urteile angesehen werden können. 79 Obgleich es keinen ausdrücklichen Niederschlag im Gesetz gefunden hat, vgl. KoeringJoulin in: Pettiti / Decaux / Imbert, Convention Européenne des Droits de l’Homme, Art. 4 Protocole No. 7 S. 1093 (1093). 80 Zur genauen Unterscheidung, insbesondere auch zum Unterschied zwischen einer non-lieu Entscheidung aus rechtlichen und tatsächlichen Gründen und zu den sog. décisions statuant au fond vgl. Pradel, Procédure Pénal, Rn. 706 ff.; einer non-lieu Entscheidung grundsätzlich strafklageverbrauchende Wirkung zuerkennend Charrier, Convention des Droits de l’Homme, Art. 4 Protocole No. 7 Rn. 2; Satzger, Europäisierung, S. 692 gesteht der ordonnance de non-lieu par des raisons de droit zumindest eine „gewisse Rechtskraft“ zu; ähnlich erkennen Bohnert / Lagodny NStZ 2000, 636 (638 ff.) zwar beiden Formen der ordonnance de non-lieu Rechtskraft zu, differenzieren aber nach deren „Intensität“. 81 Zu den verschiedenen Positionen vgl. Desportes / Le Gunehec, Droit Pénal, Rn. 308 ff.
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Präsident des cour d’assises weitergehende Fragerechte eingeräumt, um die Sache umfassend würdigen zu können84. Nicht unbestritten aber herrschend dürfte die Auffassung sein, die diese Vorschriften auch auf die Prozesse vor den anderen Gerichten ausdehnen will und ihren Betrachtungen damit insgesamt den historischen Tatbegriff zugrunde legt85. Das Verhältnis von Strafrecht und Verwaltungssanktionenrecht ist dadurch geprägt, daß Verwaltungssanktionen in Frankreich traditionell nicht systematisch als Strafmittel benutzt werden. Erst neuerdings werden diese im Rahmen einer allgemeinen Entkriminalisierungspolitik verstärkt eingesetzt, um einen andernfalls befürchteten Verlust der Symbolkraft des Strafrechts aufgrund von überhandnehmender, pönalisierter technischer Regelungen zu vermeiden86. Wo derartige Sanktionen dann ausgesprochen werden, treten diese in der Theorie neben das Strafrecht, wobei dieses Problem in der Praxis wiederum durch zahlreiche Ausnahmeregelungen entschärft wird87. Durch die Rechtsprechung des frz. Verfassungsgerichts wurde insbesondere seit der Entscheidung vom 30. April 1987 das Verbot der Doppelbestrafung aus dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz hergeleitet, der eine Gesamtbetrachtung aller verhängten Sanktionen verlangen soll88. Dies entspricht dem Grundgedanken der Regelung in Art. 132 frz. StGB, das anders als die zuvor besprochenen Rechtsordnungen in der strafrechtlichen Konkurrenzlehre nicht zwischen Real- und Idealkonkurrenz unterscheidet, sondern zuläßt, daß für verschiedene Gesetzesverletzungen verschiedenartige Strafen nebeneinander und gleichartige Strafen bis zur Obergrenze des Delikt mit dem höchsten Strafrahmen voll82 Ein für Kapitaldelikte zuständiges Geschworenengericht, vgl. Bohnert / Lagodny NStZ 2000, 636 (638). 83 Eingehend zu den Wandlungen in der französischen Geschichte Tiedemann, Entwicklungstendenzen, S. 34 ff. mit einer Besprechung der Entscheidungen des Kassationsgerichtshofs in den Fällen Thibaud vom 25. März 1954, Chevalot vom 20. März 1956, Meyer vom 8. Oktober 1959 und Pons vom 9. Mai 1961 sowie aus jüngerer Zeit Pradel, Procédure Pénal, Rn. 713 – 715. 84 Siehe dazu Pradel, Procédure Pénal, Rn. 715 und Desportes / Le Gunehec, Droit Pénal, Rn. 715, wonach eine Änderung der rechtlichen Qualifikation der Tat im Verlauf des Strafverfahrens weitgehend möglich ist. 85 Siehe dazu Pradel, Procédure Pénal, Rn. 715. 86 So die Zusammenfassung von Delmas-Marty / Teitgen-Colly in: The system of administrative and penal sanctions in the member states of the European Communities, S. 179 und Winkler, Geldbußen im Wettbewerbsrecht der Europäischen Wirtschaftgemeinschaft, S. 66 ff.; dabei ist aber in Rechnung zu stellen, daß das französische Recht bei der Einteilung der Straftaten traditionell neben Verbrechen und Vergehen mit den sog. Übertretungen noch eine weniger schwer wiegende Form von Verstößen kennt. 87 Vergleiche Delmas-Marty / Teitgen-Colly in: The system of administrative and penal sanctions in the member states of the European Communities, S. 213 ff.; siehe andererseits aber exemplarisch das nur im Ansatz abgestimmte Zusammenspiel von Straf- und Ordnungswidrigkeitenrecht bei der Verfolgung von Insiderverstößen, dazu Auckenthaler / Widder RIW 2002, 423 (432). 88 León Villalba, S. 128.
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streckt werden (Art. 132 – 3 frz. StGB)89. Ein Ausgleich wird hier also erst auf der Ebene der Vollstreckung durch die gleichzeitige Vollstreckung bzw. Anrechnung der Strafen geschaffen (Art. 132 – 3 am Ende frz. StGB). Im Rahmen des französischen internationalen Strafrechts gilt zunächst das Territorialitätsprinzip, das durch Art. 113 – 2 frz. StGB einige Weiterungen im Sinne des Ubiquitätsprinzips erfährt. Eine Doppelbestrafung wird hier von der Rechtsprechung im Ansatz zugelassen, um die staatliche Souveränität durchzusetzen90. Die französische Rechtslehre91 betont dagegen die universelle Geltung des Grundsatzes des ne bis in idem, wie sie auch in Art. 7 – 2 des Code dÍnstruction Criminelle von 1903 dem Gedanken der çommunauté internationale“ folgend normiert war. Angesichts der negativen Erfahrungen insbesondere mit der deutschen Strafrechtspflege während der Naziherrschaft wuchs aber das Mißtrauen gegenüber ausländischen Gerichtsentscheidungen, so daß das 1903 normierte Vertrauensprinzip bezüglich ausländischer strafrechtlicher Entscheidungen 1944 abgeschafft wurde. Versuche, das Vertrauensprinzip im Rahmen der Reformen von 1978 wieder einzuführen, schlugen fehl. Bei reinen Auslandstaten nehmen die Art. 113 – 6bis bis 113 – 11 frz. StGB eine französische, strafrechtliche Kompetenz freilich nur dann an, wenn durch die Tat nationale Interessen verletzt werden. Gemäß Art. 113 – 9 frz. StGB soll die Strafverfolgung im Anwendungsbereich der Art. 113 – 6 / 7 frz. StGB jedoch ausgeschlossen sein, wenn der Täter bereits im Ausland verfolgt wurde und im Fall der Verurteilung die Strafe auch vollstreckt wurde92. Im übrigen gilt für den europäischen Bereich auch in Frankreich das Schengener Übereinkommen als wichtigste Regelung eines internationalen Prinzips des ne bis in idem93.
3. Beneluxstaaten – Der Ausbau des zwischenstaatlichen Doppelbestrafungsverbots als Folge enger wirtschaftlicher Verflechtung Während sich zunächst vor allem das belgische Recht deutlich vom französischen Recht beeinflußt zeigte, haben die Beneluxstaaten heute ganz eigene, ihrer liberalen Strafrechtsauffassung entsprechende Konzeptionen des Grundsatzes des ne bis in idem. Dabei dürften für die jüngere Entwicklung im transnationalen Bereich insbesondere auch die geringere Größe der Länder und ihre daraus resultierende generelle Offenheit gegenüber ausländischen Staaten sowie der Zwang zur wirtschaftlichen Kooperation mit entscheidend gewesen sein. 89 Desportes / Le Gunehec, Droit Pénal, Rn. 897 ff. und anschaulich dazu die Beispiele bei Soyer, Droit et Procédure, Rn. 470. 90 Desportes / Le Gunehec, Droit Pénal, Rn. 377. 91 Stellvertretend Pralus Rev. sc. crim. 1996, 551 (559 ff.) m.w.N. 92 Pralus Rev. sc. crim. 1996, 551 (562) spricht insoweit von einem nur subsidiären Eingreifen des Strafrechts. 93 Desportes / Le Gunehec, Droit Pénal, Rn. 405.
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a) Belgien – Das Doppelbestrafungsverbot im Zusammenhang mit der Abkehr vom französischen Code d’Instruction von 1808 Der Grundsatz des ne bis in idem wird im belgischen Recht heute als allgemeines Rechtsprinzip verstanden, das zwar nicht ausdrücklich positiv normiert ist, in seiner Geltung aber einfachem Gesetzesrecht gleichsteht94: Inhaltlich nimmt das belgische Strafgesetz vom 21. April 1850 zunächst Art. 360 des Code dÍnstruction Criminelle von 1808 auf und damit auch den in der dortigen Weise verwendeten Tatbegriff95. Erst mit dem Inkrafttreten des Gesetzes vom 26. Februar 1986 wird die französische Tradition aufgegeben, so daß seither derjenige, der von einem Gericht freigesprochen wurde, ungeachtet der dafür gegebenen juristischen Qualifizierung nicht mehr wegen derselben Straftat verfolgt werden kann. Ergänzt wird dieser Begriff durch Art. 65 belg. StGB, der für den Fall der Idealkonkurrenz bestimmt, daß nur die schwerste Strafe zur Anwendung kommt, und durch im Detail umstrittene Sonderregelungen für das fortgesetzte Delikt96, auf das Art. 65 belg. StGB nach ständiger Rechtsprechung ebenfalls Anwendung finden soll. Eine endgültige richterliche Entscheidung erwächst dann in Rechtskraft, so daß der öffentliche Strafanspruch erlischt. Im Bereich der Verwaltungssanktionen kennt das belgische Recht kein in sich geschlossenes System, sondern beschränkt sich auf Einzelregelungen in bestimmten Rechtsbereichen wie etwa dem Sozial-, Zoll- und Steuerrecht97. Dabei können die meisten der dort geregelten Verstöße sowohl Gegenstand einer Verwaltungsals auch einer Strafsanktion sein, so daß mit der Vollstreckung der Verwaltungssanktion der öffentliche Strafanspruch insgesamt erlischt98. Eine Besonderheit stellt die sog. Transactie bzw. Transaction dar, eine Art von verwaltungsrechtlichem Vergleich, in welchem dem Betroffenen die Zahlung einer bestimmten Geldsumme mit der Folge auferlegt wird, daß die Strafklage bezüglich des Vergleichsgegenstandes verbraucht ist99.
Tulkens / van de Kerchove, Introduction, S. 506 f. Glaser Gerichtssaal 1871, 1 (38 f., Fn. 40). 96 So will etwa ein Teil der Lehre dem französischen Vorbild entsprechend noch weiter zwischen der sog. infraction successive und der infraction permanent unterscheiden, vgl. Tulkens / van de Kerchove, Introduction, S. 306. 97 De Nauw / Deruye in: The System of adminstrative and penal sanctions in the member states of the European Communities, S. 11 f.; Winkler, Geldbußen im Wettbewerbsrecht der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft, S. 71 f. 98 De Nauw / Deruye in: The System of adminstrative and penal sanctions in the member states of the European Communities, S. 14. 99 Näher zur Transactie im belg. Steuerstrafverfahren van den Wyngaert NStZ 1998, 153 (153) und Hecker StV 2001, 306 (308) je mit weiteren Nachweisen; Baauw in: Swart / Klip, International Criminal Law in the Netherlands, S. 77 hält die transactie dem plea bargaining im common law vergleichbar. 94 95
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In seinem internationalen Strafrecht geht Belgien grundsätzlich vom Territorialitätsprinzip aus, das gemäß dem aktiven und passiven Personalitäts-, dem Staatsschutz- und, soweit Verpflichtungen in internationalen Übereinkommen bestehen, dem Weltrechtsprinzip ergänzt wird. Hinzu kommen ausdrückliche Regelungen über die Wirkungen ausländischer Verurteilungen in Art. 13 des Preliminary Titel zur belg. StPO, in dem aber ausländische100 Transacties nicht erwähnt werden, so daß diesen keine strafklageverbrauchende Wirkung zuerkannt wird.
b) Niederlande – Das Doppelbestrafungsverbot in einem sehr liberalen Strafrechtssystem Allgemein wird dem Strafrecht in den Niederlanden eine geringere Rolle bei der Durchsetzung des Rechts zugestanden als etwa in Deutschland, was einen wichtigen Grund für die liberale Ausgestaltung des dortigen Strafrechts darstellt101: Der Grundsatz des ne bis in idem wirkt auch in den Niederlanden als Verfahrenshindernis, wobei die Grundlage eines jeden Verfahrens die Tat als das historische Geschehen, wie es in der Anklageschrift, der sog. tenlastelegging, dargestellt ist, bildet102. Die Anklage kann während des Verfahrens gem. Art. 313 niederl. StPO umgestaltet werden103, materielle Regelungen zur Behandlung konkurrierender Delikte enthalten die Art. 55 f. niederl. StGB. Eine Besonderheit des niederländischen Strafrechts besteht in diesem Zusammenhang in der Möglichkeit der Staatsanwaltschaft, dem Gericht über den angeklagten Sachverhalt hinaus eine weitere Vielzahl ähnlich gelagerter Taten des Angeklagten „ad informandum“ zur Kenntnis bringen zu können. Wenn diese Fälle vom Angeklagten eingeräumt werden, werden sie bei der Strafzumessung berücksichtigt und mit strafklageverbrauchender Wirkung abgeurteilt104. Stellt die Staatsanwaltschaft dagegen das Verfahren bereits im Rahmen des Ermittlungsverfahrens ein, weil dem Beschuldigten seine Schuld nicht nachgewiesen werden kann, ist sie hieran grundsätzlich gebun100 Das Rechtsinstitut der transactie (teilweise wird auch der Begriff transaction verwendet) kennen neben dem belgischen auch noch das französische und niederländische Recht, vgl. van den Wyngaert NStZ 1998, 153 (153). 101 Siehe Rüter JR 1988, 136 (138) sowie ders., FS f. Tröndle, 855 (864 f.): „Während der Deutsche mit der Einführung des Opportunitätsprinzips der Ungleichbehandlung ( . . . ) Tür und Tor geöffnet sieht, graust es dem Niederländer bei dem Gedanken an eine durch das Legalitätsprinzip bedingte „mechanische Rechtsanwendung“. Für ihn soll das Strafrecht nicht mehr als ein Ermächtigungsrahmen sein, innerhalb dessen er beweglich bleibt und der es ermöglicht, eine Strafverfolgung, in Abstimmung auch mit justizfremden Instanzen und anderen Mitteln der gesellschaftlichen Kontrolle, von den zu erwartenden positiven oder negativen Effekten eines solchen Einschreitens im konkreten Fall abhängig zu machen.“ 102 Näher dazu Minkenhof / Reintjes, Nederlandse strafvordering, S. 275. 103 Näher zur „wijziging“ der „tenlastelegging“: Minkenhof / Reintjes, Nederlandse strafvordering, S. 313. 104 Hierzu Rüter JR 1988, 136 (138).
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den und kann das Verfahren nur auf die Beschwerde eines interessierten Dritten oder beim Vorliegen neuer Tatsachen wieder aufnehmen, Art. 12, 246 niederl. StPO105. Wird ein Verfahren durch eine Transactie gem. Art. 74 niederl. StGB beendet, wird die Strafklage durch die Erfüllung der in die Transactie aufgenommenen Auflagen verbraucht. Über das Verhältnis von straf- zu verwaltungsrechtlichen Sanktionen im niederländischen Recht gibt es unterschiedliche Auffassungen106: Teile der Literatur sind der Ansicht, ein rechtskräftig abgeschlossener Strafprozeß verhindere auch eine spätere verwaltungsrechtliche Bestrafung. Die herrschende Meinung beschränkt den Strafklageverbrauch indessen auf weitere Strafprozesse. Aufgrund der unterschiedlichen Funktionen beider Sanktionen soll demnach eine nachfolgende verwaltungsrechtliche Bestrafung möglich bleiben. In der Praxis finden sich inzwischen zahlreiche Regelungen, die etwa im Bereich des Straßenverkehrs-, Steuerund Sozialrechts eine mehrfache Bestrafung verhindern, während im Disziplinarrecht eine kumulative Bestrafung zulässig sein soll. Insgesamt ist damit eine mehrfache Sanktionierung desselben Verstoßes jedenfalls nicht ohne weiteres zulässig und die andere Strafe muß zumindest berücksichtigt werden. Auch bezüglich der Anerkennung ausländischer Entscheidungen ist die Rechtslage in den Niederlanden durch eine auffallend liberale Haltung gekennzeichnet. So schließt das nationale Strafrecht bereits seit über hundert Jahren107 und heute mit Art. 68 niederländ. StGB aus dem Jahr 1995 eine erneute Strafverfolgung bei vorausgegangener, ausländischer Strafverfolgung aus und dies sogar dann, wenn die verfahrensbeendigende Maßnahme außerhalb der Hauptverhandlung stattgefunden hat108. Das Schengener Übereinkommen hat daher keine große Bedeutung für die innerstaatliche Strafgerichtsbarkeit, zumal die Niederlande auch den Vertrag über die gegenseitige Anerkennung des Prinzips des ne bis in idem zwischen den Mitgliedstaaten der Europäischen Gemeinschaft unterzeichnet haben109.
105 Nach Stange / Rilinger StV 2001, 540 (540 f.) soll die Bindungswirkung deutlich weiter reichen als bei einer staatsanwaltschaftlichen Einstellung nach § 153 StPO im deutschen Recht; siehe auch Baauw in: Swart / Klip, International Criminal Law in the Netherlands, S. 77. 106 Vergleiche auch für die folgenden Ausführungen Doelder in: The system of administrative and penal sanctions in the member states of the European Communities, S. 311 f. mit weiteren Nachweisen. 107 Rüter JR 1988, 136 (136). 108 Radtke / Busch EuGRZ 2000, 421; van den Wyngaert NStZ 1998, 153 (153); Baauw in: Swart / Klip, International Criminal Law in the Netherlands, S. 78 ff. 109 Rüter JR 1988, 136 (138); zu dem verbleibenden Restanwendungsbereich des SDÜ in den Niederlanden Baauw in: Swart / Klip, International Criminal Law in the Netherlands, S. 83.
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c) Abkommen der Beneluxstaaten vom 29. April 1969 Trotz der oben angedeuteten Unterschiede zwischen den Beneluxstaaten nehmen diese im Hinblick auf die angestrebte enge wirtschaftliche Zusammenarbeit bereits 1969 in Art. 13 der Convention concernant la coopération administrative et judicaire dans le domaine des réglementations se rapportant à la réalisation des objectifs de lÚnion économique Benelux110 ein umfassendes, zwischenstaatliches Verbot der Strafverfolgung auf. Dieses greift ein, sobald eine Person in einem Vertragsstaat rechtskräftig abgeurteilt und im Falle einer Verurteilung die Strafe im weitesten Sinne vollstreckt ist. Diese Form der Kooperation wird später durch den allgemeinen Beneluxvertrag über die Übernahme der Strafverfolgung vom 11. Mai 1974 erweitert111. Eine umfängliche materielle Vereinheitlichung der nationalen Strafrechte der Beneluxstaaten findet in der Folge indessen entgegen ursprünglichen Absichten nicht statt112.
4. Spanien – Das Verständnis des Doppelbestrafungsverbots als ungeschriebenes Verfassungsrecht Der Grundsatz des ne bis in idem ist nicht ausdrücklich in der spanischen Verfassung verankert, aber es gibt eine breite verfassungsgerichtliche Rechtsprechung113, die das Prinzip als Ausfluß des in Art. 25 Abs. 1 der spanischen Verfassung verorteten Gesetzlichkeitsprinzips sowie der Rechtssicherheit und des Vertrauensschutzes versteht. Es gilt daher auch im spanischen Strafrecht der Grundsatz, daß eine rechtskräftige Entscheidung, eine cosa juzgada114, in jeder Lage eines Verfahrens von allen Beteiligten als Verfahrenshindernis geltend gemacht werden kann. Die Rechtskraft, die neben Urteilen grundsätzlich auch Einstellungsverfügungen zukommen kann115, reicht dabei so weit wie die objektiven und subjektiven Grenzen, die 110 UNTS 779 (1970), No. 11096, dabei weist bereits der Titel des Abkommens „Konvention über die verwaltungsrechtliche und justizielle Zusammenarbeit im Bereich der Regelungen zur Verwirklichung der Wirtschaftsunion Benelux“ darauf hin, daß hier weit mehr als die bloße gegenseitige Anerkennung von Strafurteilen geregelt werden sollte. 111 Tractatenblad (nied.) 1974, no. 184 (zit. nach Oehler, Internationales Strafrecht, Rn. 692, Fn. 17a). 112 Rüter ZStW 103 (1995), 30 (43). 113 Siehe aus der Rechtsprechung des spanischen Verfassungsgerichts etwa das grundlegende Urteil STC 2 / 1981 vom 30. Januar 1981 sowie aus neuerer Zeit das Urteil STC 152 / 2001 vom 2. Juni 2001; Bacigalupo, Principios de derecho penal, S. 86 f. spricht diesbezüglich von einem eher pragmatischen Ansatz des spanischen Verfassungsgerichts, der nur durch ein teilweises Aufweichen der Einzelelemente des Gesetzlichkeitsprinzips möglich war. 114 Dieser Begriff kann in etwa mit dem deutschen Wort der Rechtskraft übersetzt werden, vgl. etwa die Beschreibung bei Ramos Méndez, Proceso penal, S. 400.
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einen Strafprozeß von einem anderen abgrenzen116. Maßgebend ist, daß ein identisches tatsächliches Geschehen nicht mehrmals Gegenstand eines Strafverfahrens sein soll. Unerheblich ist daher, ob die Tat in dem neuen Verfahren, zum Beispiel wegen eines Fehlers in der Bewertung seitens des Gerichts, einer anderen rechtlichen Qualifikation unterliegt117. Rechtliche Wertungen fließen aber auch hier spätestens über die strafrechtliche Konkurrenzlehre der Art. 73 ff. span. StGB und insbesondere bei den Figuren des fortgesetzten Delikts, des Dauerdelikts und des delito complejo118 sowie im Fall der Idealkonkurrenz gem. Art. 77,1 span. StGB ein119. Einfachgesetzlich normiert überdies Art. 67 span. StGB ein Doppelverwertungsverbot bezüglich strafschärfender Umstände, das als Ausdruck des Grundsatzes des ne bis in idem verstanden wird120. Besonders intensiv diskutiert121 wird in Spanien aber die Frage der Reichweite des Prinzips des ne bis in idem im Rahmen der Konkurrenz strafrechtlicher und verwaltungsrechtlicher Sanktionen punitiven oder diziplinarischen Charakters122, zu dem auch das spanische Verfassungsgericht123 schon einige Grundsätze ent115 Im konkreten Fall ist zu unterscheiden, worauf die Verfügungen, sog. autos firmes de sobreseimento, beruhen, vgl. die Beispiele bei Tomé Paule u. a., Derecho procesal-penal, S. 308 und 316. 116 So der Maßstab bei Ramos Méndez, Proceso penal, S. 403, wobei Tomé Paule u. a., Derecho procesal-penal, S. 306 darauf verweisen, daß das Gesetz selbst keine Definition des Begriffs der Rechtskraft bzw. der cosa juzgada enthält und sich diese nur mittelbar aus den Regelungen der einzelnen Artikel der span. StPO, wie etwa Art. 207 span. StPO, entnehmen läßt. 117 Nach Tomé Paule u. a., Derecho procesal-penal, S. 310 f. sind sich Rechtsprechung und herrschende Lehre in diesem Punkt einig. 118 Am ehesten ist dieser Begriff mit dem zusammengesetzten Delikt im deutschen Recht vergleichbar. 119 Siehe dazu ausführlich Tomé Paule u. a., Derecho procesal-penal, S. 311 f. und Muñoz Conde / García Arán, Derecho penal, S. 529 ff., insbesondere zu der dem deutschen Recht unbekannten Unterscheidung zwischen echter und unechter Idealkonkurrenz (concurso ideal propio einerseits und concurso ideal impropio bzw. medial, der eingreift, wenn die Begehung einer Tat zur Begehung einer anderen Tat notwendig war, andererseits, S. 534, 613), während in den Fällen der Realkonkurrenz grundsätzlich das Kumulationsprinzip eingreift, das gem. Art. 75, 76 span. StGB so beschränkt wird, daß im Ergebnis drakonische Strafen vermieden werden (S. 535, 615). 120 Zum Beispiel von Muñoz Conde / García Arán, Derecho penal, S. 116. 121 Siehe aus jüngerer Zeit nur die Monographie von León Villalba zur „Häufung von strafrechtlichen und verwaltungsrechtlichen Sanktionen“ mit dem Untertitel „Sinn und Reichweite des Prinzips des ne bis in idem“ und insbesondere dessen Ausführungen zur Rezeption des Prinzips im Verfassungsrecht (S. 283 - 448). 122 Muñoz Conde / García Arán, Derecho penal, S. 116 f.; zur geschichtlichen Entwicklung in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, in der das Prinzip des ne bis in idem auch herangezogen wurde, um die Kompetenzstreitigkeiten zwischen dem Verwaltungssanktionenrecht und dem Kriminalstrafrecht zu lösen, siehe die eingehende Darstellung bei León Villalba S. 68 ff. 123 Eine Zusammenfassung der Grundsätze findet sich bei Muñoz Conde / García Arán, Derecho penal, S. 117 basierend auf den Entscheidungen STC 2 / 1981, 195 / 1985, 2 / 1987
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B. Der Grundsatz des ne bis in idem in Europa
wickelt hat: Danach ist eine Mehrfachbestrafung dann unzulässig, wenn dasselbe Subjekt wegen derselben Tatsachen bestraft wird und die beiden Sanktionen in demselben Grund124 wurzeln. Weiter darf ein Täter nicht von Vertretern derselben Gewalt (gleich ob der Rechtsprechung oder der Verwaltung) wiederholt in verschiedenen Verfahren wegen derselben Tat bestraft werden. Unzulässig wäre es demnach, daß zwei Richter in verschiedenen Verfahren wegen derselben Tatsachen den Angeklagten einmal einer Strafe und einmal einer Maßnahme der Besserung und Sicherung unterwerfen. Dagegen soll neben einer strafrechtlichen Sanktion auch eine verwaltungsrechtliche Sanktion zulässig sein, wenn der Täter in besonderen Verbindungen mit der Verwaltung steht, wie zum Beispiel als Amtsträger oder als Konzessionsnehmer, und die Sanktionen in unterschiedlichen Gründen wurzeln. Das internationale Strafrecht ist auch in Spanien zunächst durch die Geltung des Territorialitätsprinzips unabhängig von der Nationalität des Straftäters geprägt (Art. 23,1 LOPJ), das räumlich durch das Flaggenprinzip und für die Frage der Begehung der Tat durch das Ubiqitätsprinzip ergänzt wird125. Für Auslandstaten wird eine Strafrechtskompetenz nur bei der Berührung besonderer nationaler Interessen – wie etwa gegen den spanischen Staat gerichteter Straftaten (Art. 23,3 LOPJ) oder bei von Spaniern im Ausland begangenen Vergehen oder Verbrechen (Art. 23,2 LOPJ) – nicht aber leichten Übertretungen, den sog. faltas, angenommen126. Universelle Geltung beansprucht das span. Strafrecht nur bei der Verletzung weltweit anerkannter Rechtsgüter, an deren internationaler Verfolgung die Staatengemeinschaft ein erhebliches Interesse hat bzw. zu deren Verfolgung sich Spanien in internationalen Übereinkommen verpflichtet hat (Art. 23,4 LOPJ)127. In den Fällen des Art. 23,2 – 4 LOPJ steht eine ausländische Entscheidung, die im Fall einer Verurteilung auch vollstreckt wurde, einem neuen Verfahren im Inland indessen entgegen (Art. 23,2c und Art. 23,5 LOPJ).
5. Italien – Unsicherheiten über die dogmatische Einordnung des Grundsatzes Historisch hat das italienische Recht, in dem staatsorganisatorisch neben den Gerichten auch die Staatsanwaltschaft der Judikative zugeordnet wird128, Mitte sowie zwei weiteren Entscheidungen des spanischen Verfassungsgerichts vom 13. Juni 1990 und 10. Dezember 1991. 124 Im spanischen Originalwortlaut heißt es: „sanciones con el mismo fundamento“. 125 Ausführlich dargestellt ist dies bei Muñoz Conde / García Arán, Derecho penal, S. 165 – 171. 126 Ausführlich auch zu den Einschränkungen des Territorialitätsprinzips Muñoz Conde / García Arán, Derecho penal, S. 172 f. 127 Siehe dazu auch Muñoz Conde / García Arán, Derecho penal, S. 176 ff.
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des 19. Jahrhunderts nahezu wortgleich die Fassung des Prinzips des ne bis in idem des französischen Code dÍnstruction Criminelle von 1808 übernommen129, sich in der weiteren Entwicklung jedoch emanzipiert und weist heute ein eigenes System auf: Das Prinzip des ne bis in idem ist heute allgemein akzeptiert und hat sogar Verfassungsrang130, gleichwohl ist es inhaltlich umstritten. Ähnlich wie in Deutschland beginnt die Diskussion bereits bei der dogmatischen Einordnung des Grundsatzes: Teilweise wird er, indem er aus den Gedanken der Rechtssicherheit und Prozeßökomomie hergeleitet wird, als prozessualer Grundsatz betrachtet. Andere betonen, daß dem Doppelbestrafungsverbot auch materielle Elemente eigen seien und sich die prozessuale Seite in der materiellen widerspiegele. Materiell wird der Grundsatz des ne bis in idem häufig auch als Konkurrenzregel betrachtet. Dies erlangt insoweit Bedeutung, als die Art. 71 ff. ital. StGB, Art. 655 ff. ital. StPO in einer sehr ausdifferenzierten – auch zwischen Tateinheit und Tatmehrheit unterscheidenden – Regelung die Verhängung und Vollstreckung mehrer Strafen nebeneinander zunächst grundsätzlich zulassen und dann im Einzelnen ausgestalten. Unabhängig von dieser dogmatischen Diskussion steht die Funktion als individuelle Freiheitsgarantie gegenüber dem Staat außer Frage und wurde auch von der Strafprozeßrechtsreform Ende der achtziger Jahre des 20. Jahrhunderts bestätigt131. Bereits im Rahmen von Art. 90 ital. StPO von 1930 stellte die Rechtsprechung dabei rein auf die äußere Tat ab, während der innere Wille des Täters und die rechtliche Qualifikation der Tat insoweit ohne Bedeutung waren132. In der Folge konnte ein Täter, der wegen Mordes freigesprochen war, nicht erneut wegen fahrlässiger Tötung verfolgt werden133. Ebenso verbieten die Art. 648, 649 ital. StPO heute einen Prozeß wegen derselben Tat (fatto), selbst wenn die Tat wegen der Bezeichnung der strafbaren Handlung, wegen des Grades oder wegen der Umstände anders zu beurteilen ist. Vor diesem Hintergrund unterscheidet die Lehre zwischen der „giudicato sostanziale“, die an die römische actio iudicati erinnert und das staatliche ius puniendi zum Hintergrund hat, und dem „giudicato formale“, das die schon aus dem römischen Recht bekannte exceptio rei iudicatae aufnimmt134. Die Durchbrechung der Rechtskraft in einem Wiederaufnahmever128 Siehe hierzu Riklin ZStR 119 (2001), 371 (407), der darauf hinweist, daß sich das italienische Recht an dieser Stelle insbesondere von dem ursprünglichen französischen Modell unterscheidet, und die Probleme beider Modelle anreißt. 129 Glaser Gerichtssaal 1871, 1 (20, Fn. 1). 130 Galanti RIDPP 1981, 97 (97). 131 Galanti RIDPP 1981, 97 (97 ff.). 132 Näher hierzu Spinellis, Materielle Rechtskraft, S. 152. 133 Spinellis, Materielle Rechtskraft, S. 148 f., mit Hinweis auf die Geltung auch bei sog. Progressivdelikten (reati progressivi) und zu den Differenzierungen bei zusammengesetzten Delikten (reati complessi). 134 Vgl. Galanti RIDPP 1981, 97 (97) mit umfangreichen Verweisen auf die ital. Strafprozeßrechtsliteratur.
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B. Der Grundsatz des ne bis in idem in Europa
fahren, der sog. „revisione“, läßt die ital. StPO in den Art. 629 ff. ital. StPO nur zugunsten des Angeklagten zu. Wiederaufnahmegründe sind gemäß Art. 630a – d ital. StPO zwei einander widersprechende Urteile, der Wegfall eines dem Strafurteil zugrunde liegenden Zivil- oder Verwaltungsgerichtsurteils sowie das Bekanntwerden neuer oder unwahrer Tatsachen. Über das Strafrecht hinaus entstand seit Anfang der achtziger Jahre des 20. Jahrhunderts die Notwendigkeit wegen des sich immer stärker ausprägenden Systems verwaltungsrechtlicher Sanktionen, deren Verhältnis zum Strafrecht zu lösen135. Ursprünglich waren verwaltungsrechtliche Sanktionen darauf beschränkt, entstandene Schäden wieder gutzumachen. Diese alte Ordnung wird mit dem Gesetz zur Änderung des Sanktionensystems vom 24. November 1981 (Legge 689 / 1981) radikal überwunden. Heute gelten straf- und verwaltungsrechtliche Sanktionen zunächst nebeneinander und Fälle der Konkurrenz werden erst durch die Anwendung des Spezialitätsprinzips gelöst136. Die Entscheidungskompetenz darüber, welche Sanktion Anwendung finden soll, wird dabei dem Strafrichter zugewiesen. Das internationale Strafrecht normiert in Art. 3 ital. StGB zunächst das Territorialitätsprinzip verbunden mit der Tendenz des italienischen Rechts zu universeller Geltung. Dementsprechend werden die prozessualen Aspekte des Grundsatzes des ne bis in idem nur sehr begrenzt anerkannt und Art. 11 ital. StGB verlangt, daß ein Delikt, das zumindest teilweise in Italien begangen wurde, auch in Italien verfolgt wird. Andererseits betont Art. 138 ital. StGB die materiellen Aspekte des Doppelbestrafungsverbots, so daß eine Person, gegen die im Ausland ein Verfahren durchgeführt wurde, wegen derselben Tat zwar in Italien erneut verurteilt werden kann, die dort verbüßte Strafe sowie eine etwa erlittene Verwahrungshaft jedoch anzurechnen sind. Ergänzt werden diese Regelungen durch Art. 730 ff. ital. StPO, so daß ausländische Urteile gem. Art. 731 ital. StPO zumindest insoweit anerkannt werden, als sich Italien in internationalen Übereinkommen hierzu verpflichtet hat.
III. Skandinavien – Das zwischenstaatliche Doppelbestrafungsverbot im Bereich der lockeren Kooperationsform des Nordischen Bundes Im Vergleich der skandinavischen Staaten von besonderem Interesse ist die gegenseitige Anerkennung von Strafurteilen, die ihren Ursprung in der informellen Zusammenarbeit im Nordischen Bund hat und weniger der Ausdruck einer engen 135 Zur historischen Entwicklung siehe Grasso in: The system of administrative and penal sanctions in the member states of the European Communities, S. 267. 136 Art. 9 Abs. 1 Legge 689 / 1981, wonach es keine Hierarchie zwischen beiden Systemen gibt und mit dem Grundsatz der Subsidiarität nicht-strafrechtlicher Normen gebrochen wird, wobei die Ziele straf- und verwaltungsrechtlicher Sanktionen vereinheitlicht werden; vergleiche hierzu auch Grasso in: The system of administrative and penal sanctions in the member states of the European Communities, S. 290 f.
III. Skandinavien
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wirtschaftlichen Kooperation als einer staatsübergreifenden skandinavischen Identität ist. Trotz dieser Koordinierung in Einzelfragen behalten die Systeme gleichwohl ihre Identität und weichen – wie der Vergleich von Dänemark und Schweden verdeutlicht – zum Teil erheblich von einander ab.
1. Schweden – Das Doppelbestrafungsverbot in einem zwischen den traditionellen Rechtssystemen vermittelnden Recht Das gemeinhin als vermittelndes Recht geltende137 schwedische Recht wurde im 19. Jahrhundert zunächst stark durch das deutsche Strafrecht beeinflußt, indem es sich das bayrische Strafgesetzbuch zum Vorbild einer Neukodifikation machte138. Aufgrund zwischenzeitlicher vielfältiger Reformen wird es heute jedoch als im internationalen Vergleich sehr eigenständig bewertet139. Der Grundsatz des ne bis in idem stellt gleichwohl auch hier ein ex officio zu beachtendes Verfahrenshindernis dar: Die Identität der Tat wird grundsätzlich nach dem historischen Geschehen bestimmt, das sich durch die Zeit, den Ort und die Art und Weise der Tatbegehung auszeichnet. Dabei werden auch solche Elemente der Tat von der Rechtkraft erfaßt, die zwar zunächst angeklagt worden sind, im Laufe des Prozesses aber aufgrund einer Beschränkung des Prozeßstoffes fallen gelassen werden140. Neben Urteilen sollen als verfahrensbeendigende Maßnahmen auch Strafbefehle in Rechtskraft erwachsen141. Ergänzt werden die diesbezüglichen prozessualen Regelungen durch das materielle Recht, das in Kapitel 30 § 2 bestimmt, daß niemand wegen derselben Straftat zu mehreren Sanktionen verurteilt werden darf. Dies wird in Kapitel 30 § 3 näher spezifiziert, indem mit der Unterscheidung zwischen Lagkonkurrens und Brottskonkurrens die aus dem deutschen Recht geläufige Unterscheidung zwischen Tateinheit und Tatmehrheit im wesentlichen aufgenommen wird142, so daß gegen eine Person, die wegen mehrerer Straftaten verurteilt wird, – sofern „nichts anderes bestimmt“ ist – nur eine einheitliche Sanktion verhängt werden darf. Diese anderen Bestimmungen finden sich zum einen im Kernstrafrecht selbst143, daneben aber auch in Spezialgesetzen. Ihrer Natur nach haben diese besonderen Rechtsfolgen teils rein strafrechtlichen Charakter, können aber auch 137 Siehe zum Beispiel für das zwischen dem inquisitorischen und adversatorischen System stehende Verfahrensrecht Eser ZStW 108 (1996), 86 (87) sowie Lundqvist ZStW 112 (2000), 157 (157 ff.). 138 Cornils / Jareborg, Schwedisches Kriminalgesetzbuch, S. 5. 139 Cornils / Jareborg, Schwedisches Kriminalgesetzbuch, S. 7. 140 Güllnäs u. a., Rättgångsbalken I, 30:20 ff. 141 Güllnäs u. a., Rättgångsbalken I, 30:20 ff. 142 Berg u. a., Brottsbalken, 30:8 ff. 143 Zum Beispiel in Kapitel 30 § 3 Abs. 2 oder Kapitel 25 § 5.
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zivil- oder verwaltungsrechtlicher Art sein144 und entweder von Verwaltungsbehörden verhängt werden oder unmittelbar kraft Gesetzes eintreten145. Im Rahmen des internationalen Strafrechts unterscheidet die Lehre zwischen dem materiell-rechtlichen Problem inländischer Strafgewalt und der prozessualen Frage inländischer Strafgerichtsbarkeit146: Unter dem materiellen Aspekt muß jede einzelne Rechtsnorm ausgelegt werden, ob sie auch für Auslandstaten gilt oder ob solche aufgrund des normierten Schutzes rein nationaler Interessen nicht verfolgt werden sollen. Führt die Auslegung zu keinem Ergebnis, gilt für die Straftatbestände des Kriminalgesetzbuches die Vermutung, daß grundsätzlich Handlungen und Unterlassungen unabhängig von ihrem Begehungsort erfaßt werden sollen. Eine inländische Strafgewalt wird somit gem. Kapitel 2 §§ 1 S. 2, 2 schwed. StGB sehr weitgehend angenommen, wobei für Straftaten, die nach dem schwed. StGB mit mindestens vier Jahren Freiheitsstrafe bedroht sind, gem. Kapitel 2 § 3 Nr. 8 schwed. StGB das Weltrechtsprinzip gilt und im übrigen gem. Kapitel 2 §§ 2, 3 das Territorialitätsprinzip ergänzt durch das aktive und passive Personalitäts-, das Staatsschutz- und das Flaggenprinzip Anwendung findet. Das aktive Personalitätsprinzip wird auf Staatsangehörige der nordischen Nachbarländer ausgedehnt, mit denen Schweden im Nordischen Rat und im Nordischen Ministerrat zusammenarbeitet. Ziel dieser im Helsinki-Vertrag institutionalisierten Form lockerer Kooperation ist, durch die behutsame Angleichung der Rechte und den Abbau von Hindernissen den Verkehr von Menschen und Waren zwischen den nordischen Staaten zu erleichtern147. Dementsprechend wurden im Bereich des Strafrechts sowie der Auslieferung aufgrund gemeinsam ausgearbeiteter Entwürfe korrespondierende Rechtsvorschriften erlassen148 und Doppelbestrafungen aufgrund informeller Absprachen zwischen den Generalstaatsanwälten a priori verhindert149. Nach der Ratifikation der Europäischen Konvention über die internationale Gültigkeit von Strafurteilen und des europäischen Übereinkommens über die ÜbertraCornils / Jareborg, Schwedisches Kriminalgesetzbuch, S. 22. Cornils / Jareborg, Schwedisches Kriminalgesetzbuch, S. 29. 146 Zu dieser Unterscheidung sowie zum Folgenden Cornils / Jareborg, Schwedisches Kriminalgesetzbuch, S. 39. 147 Berg, Nordischer Rat, S. 2, 27; eine deutsche Übersetzung des Vertragsstatuts (Stand: 1986) findet sich bei Berg, Anhang I; zur Einordnung dieser Form von Kooperation Sieber JZ 1997, 369 (373); Oehler, Internationales Strafrecht, Rn. 696 bewertet den Erfolg des Nordischen Rates als „überragend“. 148 Als Beispiel für eine solche koordinierte Vorgehensweise siehe etwa das am 22. Mai 1963 verkündete Nordische Strafvollstreckungsgesetz Schwedens, dem kongruente Gesetze in Norwegen, Dänemark, Finnland und Island folgten, Simson ZStW 77 (1965), 167 (167). 149 Kooperationsabkommen der Generalstaatsanwälte (!) der Nordischen Staaten vom 6. Februar 1970 (geändert am 12. Oktober 1972), zitiert nach Vander Beken / Vermeulen / Lagodny NStZ 2002, 624 (627 Fn. 30). 144 145
III. Skandinavien
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gung der Strafverfolgung hat Schweden sein internationales Strafrecht zudem den dort kodifizierten Grundgedanken angepaßt. Es schließt daher in Kapitel 2 § 5 a schwed. StGB eine Strafverfolgung wegen derselben Tat aus, wenn eine Aburteilung in dem Tatortstaat oder in einem der Vertragsstaaten der Konvention über die Übertragung der Strafverfolgung erfolgt ist und keine Ausnahme gem. Kapitel 2 § 1 oder § 3 schwed. StGB vorliegt150.
2. Dänemark – Das Doppelbestrafungsverbot in einem monistischen Strafrechtssystem Das dänische Strafrecht ist – ähnlich wie das schwedische Recht151 – traditionell monistisch strukturiert, so daß ein kohärentes System verwaltungsrechtlicher Sanktionen neben dem Strafrecht nicht besteht. Jedoch finden sich einige verwaltungsrechtliche Sanktionen vorwiegend im Straßenverkehrsrecht. Wo dann Überschneidungen mit dem Strafrecht auftreten, werden diese durch den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit gelöst152 und eine kumulative Verhängung verschiedener Sanktionen grundsätzlich zugelassen. Für den Begriff der Tat bestimmt § 88 dän. StGB, daß in Fällen, in denen eine Handlung mehrere Strafgesetze verletzt oder in einem Verfahren mehrere Straftaten abgeurteilt werden, nur eine Strafe innerhalb des strengsten der in Frage kommenden Strafrahmen verhängt werden soll. Eine gemeinsame Strafe soll gemäß § 89 dän. StGB soweit möglich auch dann noch zur Anwendung kommen, wenn nach dem Urteil in einem weiteren Verfahren eine vor der Verurteilung im Erstverfahren begangene Tat geahndet wird153. Im Bereich des internationalen Strafrechts normiert das dänische Strafgesetzbuch im Vergleich zu Schweden deutlich zurückhaltendere Regelungen: Art. 6 dän. StGB normiert dabei zunächst das Territorialitätsprinzip, ergänzt durch das Flaggenprinzip154. Für Auslandstaten enthält Art. 7 dän. StGB das aktive Personalitätsprinzip und den Grundsatz der stellvertretenden Rechtspflege, die aber beide durch das Erfordernis doppelter Strafbarkeit, das sich auf die materielle Strafbarkeit wie auf die konkrete Verfolgbarkeit bezieht155, und den Grundsatz des lex mitior (§ 10 Abs. 2 dän. StGB) begrenzt werden. Auch im dänischen Recht findet 150 So Jung, FS f. Springorum, S. 493 (498 f.); nach Rüter ZStW 103 (1995), 30 (46) gilt dies innerhalb des Nordischen Rats auch für Einstellungen im Erstverfolgerstaat. 151 Zum ebenfalls sehr zurückhaltenden Gebrauch verwaltungsrechtlicher Sanktionen im schwedischen Recht siehe Victor RIDP 1988, 389 (390 ff.). 152 León Villalba S. 138; Greve / Gulmann in: The system of administrative and penal sanctions in the member states of the European Communities, S. 68, 85. 153 Langstedt / Garde / Greve, Criminal Law Denmark, S. 116 f. 154 Langstedt / Garde / Greve, Criminal Law Denmark, S. 41 ff. 155 Vgl. § 7 Abs. 1 Nr. 2, § 8 Nr. 6 dän. StGB; nach Cornils / Greve, Dänisches Strafgesetz, S. 5 werden auch in dem Drittstaat bestehende Verfahrenshindernisse berücksichtigt.
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B. Der Grundsatz des ne bis in idem in Europa
sich indessen in § 7 Abs. 2 dän. StGB die Besonderheit, daß das aktive Personalitätsprinzip auf Staatsangehörige und Bewohner der nordischen Nachbarländer ausgedehnt ist, sofern sich diese in Dänemark aufhalten. Das passive Personalitätsprinzip ist gem. § 8 Nr. 3 auf staatenlose Gebiete beschränkt, sonstige Auslandstaten werden nur dann verfolgt, wenn besondere dänische Interessen verletzt sind oder Dänemark aufgrund zwischenstaatlicher Übereinkommen zur Strafverfolgung verpflichtet ist. Verurteilungen im Ausland berücksichtigt das dänische Recht in § 10b dän. StGB grundsätzlich durch das Anrechnungsprinzip156. IV. Das Common Law – Der Grundsatz des „double jeopardy“ und die Figur des „plea of autrefois convict“ Auch wenn sich die europäischen Common Law Länder gegenüber der Geschwindigkeit der europäischen Einigung regelmäßig reserviert zeigen, sollten sie aufgrund der Eigenständigkeit des Rechtskreises in die vorliegenden Betrachtungen einbezogen werden157. Gerade die Parallelität von Entwicklungen beim Umfang der Rechtskraft mit entsprechenden Entwicklungen im kontinentalen Recht könnte trotz etwaiger prozeßrechtlicher Besonderheiten wichtige Hinweise für grenzüberschreitende Konsensmöglichkeiten bieten. 1. Historische Entwicklung des Doppelbestrafungsverbots im Common Law Über die Wurzeln des Grundsatzes des ne bis in idem im common-law-Rechtskreis herrscht Unklarheit. Die Bezeichnung dieses Prinzips als „double jeopardy“ und der damit anklingende transzendentale Bezug lassen jedoch Spekulationen dahin zu, daß dieser Grundsatz aus dem kanonischen Recht in das Common Law übernommen wurde158. Dies hätte zur Folge, daß auch der Common Law Begriff des „double jeopardy“ letztlich auf das römische Recht zurückzuführen ist und hier nur eine eigene Ausgestaltung erfahren hat. Erste konkrete Hinweise auf die Existenz des Grundsatzes des ne bis in idem finden sich bereits in Rechtsquellen aus dem 14. Jahrhundert, insbesondere in sog. Jahr- und Textbüchern aus der Zeit Edwards I. bis Richard III.159. Danach galt zu156 § 10a dän. StGB normiert weitergehend in Bezug auf Strafurteile, die unter das Europäische Übereinkommen über die internationale Geltung von Strafurteilen oder das Gesetz über die Verfolgungsübertragung in Strafsachen fallen, das Anerkennungsprinzip. 157 Siehe ergänzend zu den folgenden Ausführungen auch Stuckenberg, double jeopardy, sowie ders. ZStW 113 (2001), 146 (146 ff.) zum Verbot mehrfacher Strafverfolgung im USamerikanischen (und in den Anmerkungen zum australischen, kanadischen und irischen) Recht. 158 León Villalba S. 51; ähnlich auch Stuckenberg, double jeopardy, S. 1 159 Dazu Kielwein ZStW 68 (1956), 163 (163) und Glaser Gerichtssaal 1871, 1 (1 f.).
IV. Das Common Law
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nächst das Gebot, daß niemand – gleich ob in einer straf- oder bürgerlich-rechtlichen Streitigkeit – wegen derselben Tat zweimal vor Gericht gezogen werden durfte160. In einem neuerlichen Verfahren konnte der Angeklagte daher den Einwand der „plea of autrefois convict“ für den Fall einer vorhergehenden Verurteilung bzw. der „plea of autrefois acquit“ für den Fall eines vorhergehenden Freispruchs vorbringen161. Im Laufe des 15. und 16. Jahrhunderts gingen die Gerichte dann dazu über, Urteilen, die nur auf Ersatz von Vermögensschäden gerichtet waren, die Sperrwirkung gegenüber einer späteren Anklage wegen einer schweren Straftat aufgrund deren unterschiedlicher Zielrichtung einseitig zu versagen162. In der Folgezeit erlangt der Grundsatz insbesondere im Zusammenhang mit der immer häufigeren Anwendung der Todesstrafe auf eine Vielzahl von kriminellen Handlungen steigende Bedeutung und wird von dem Engländer Coke in dessen Werk Institutes von 1642 näher ausgestaltet163. In Abkehrung164 vom zunächst herrschenden, besonders strengen165 Prozeßformalismus entwickelt sich später die Regel, daß nur Sachurteile des zuständigen Gerichts den Einwand der „autrefois acquit / convict“ zu begründen vermögen, da nur in diesen Fällen der materiellen Gerechtigkeit hinreichend Rechnung getragen wird166. Ein solches Sachurteil kann jedoch zunächst auch von Seiten des Klägers durch den Einsatz der „non suited“-Regel verhindert werden, wenn abzusehen ist, daß das Verfahren aus beliebigen formellen oder materiellen Gründen nicht zu einer Verurteilung führen wird. Dieser Art von „Klagerücknahme“ wird seit 1875 jedoch grundsätzlich die Wirkung eines freisprechenden Urteils zuerkannt, so daß diese Einschränkung des Doppelbestrafungsverbots bis auf einige wenige Reste heute hinfällig ist167.
160 Kielwein ZStW 68 (1956), 163 (164) zitiert aus einem englischen Werk aus dem Jahr 1530 den Satz: „Nemo debet bis vexari; si constat Curiae quod sit pro una et eadem causa.“ 161 Kielwein ZStW 68 (1956), 163 (164); Thomas, ne bis in idem, S. 53 ff. 162 Siehe Kielwein ZStW 68 (1956), 163 (164) mit Hinweisen auf entsprechende historische Quellen. 163 So León Villalba S. 60, Fn. 86. 164 Siehe dazu Glaser Gerichtssaal 1871, 1 (16 f.), wonach Lockerungen zunächst durch die Rechtsprechung vorgenommen wurden und diese Tendenz dann durch den Gesetzgeber aufgenommen wurde. 165 Glaser Gerichtssaal 1871, 1 (5 f.) weist darauf hin, daß damals daran festgehalten wird, daß in der Hauptverhandlung die buchstäbliche Richtigkeit der Anklage dargetan werden muß, wobei Freisprüche aus formalen Gründen nicht verhindern können, daß nur minimal veränderte Anklagen zu einer erneuten Verhandlung in der Sache führen. Ein Ausgleich aus Gründen der Billigkeit wird in diesen Fällen aber auf prozessualer Ebene durch den Richter vorgenommen, vgl. Glaser Gerichtssaal 1871, 1 (15 f.). 166 Es gilt folglich der Satz: „if the offender is discharged upon an insufficient indictment, there the law has not had its end; . . . ; and the wisdom of the law abhors that great offences should go unpunished. . .“; vgl. Kielwein ZStW 68 (1956), 163 (165 f.). 167 Kielwein ZStW 68 (1956), 163 (166).
6 Mansdörfer
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Neben der „non-suited“-Regel kennt der Common Law Prozeß seit Mitte des 17. Jahrhunderts zudem – auch heute noch168 – die Erklärung des „nolle prosequi“ durch den Generalstaatsanwalt, die sowohl von Amts wegen als auch auf informellen Antrag einer Partei erklärt werden kann und unter anderem in Fällen einer offensichtlich schikanös erhobenen Anklage oder anderweitiger Rechtshängigkeit eines Straf- oder Zivilprozesses zur Anwendung kommt169. Als Folge dieser Erklärung wird in die Gerichtsakten ein „stet processus“ Vermerk eingetragen, der zu einer Beendigung des Verfahrens ohne einen Strafklageverbrauch führt. Bei der Frage, wie der Begriff der Tat, wegen der nicht mehrfach bestraft werden darf, einzugrenzen ist, liegt dem Common Law nicht etwa die Vorstellung zugrunde, daß hierfür auf die äußerlich vom Täter vorgenommene Handlung abzustellen ist, entscheidend ist vielmehr die durch den Täter verwirklichte Gutsverletzung (harm) und insbesondere auch deren rechtliche Qualifikation170: Da das Common Law ursprünglich die Änderung des rechtlichen Gesichtspunktes in einem Verfahren kaum zuläßt171, muß der Angeklagte, wenn ihm die Verwirklichung der Straftat, derentwegen er angeklagt war, nicht nachgewiesen wurde, freigesprochen werden. Gleichzeitig hindert dies aber nicht die erneute Anklage desselben tatsächlichen Geschehens unter einem anderen rechtlichen Gesichtspunkt. Einzelne Ausdehnungen der Rechtskraft finden allerdings durch gesetzliche Normierungen in speziellen Bereichen statt, wie etwa im Criminal Procedure Act von 1851, im Interpretation Act von 1889 und im Indictment Act von 1915172. Dieses juristisch geprägte Tatverständnis hat weitreichende Konsequenzen auch für diejenigen Fälle, in denen ein einheitliches äußeres Geschehen zu mehreren Gutsverletzungen (harm) führt. Für jede Rechtsverletzung wird hier prinzipiell eine eigenständige Strafe verhängt. Ein Ausgleich für die auf diese Weise zustande kommenden hohen Strafen findet erst dadurch statt, daß das Gericht regelmäßig die gleichzeitige Vollstreckung der mehreren Strafen ausspricht. Im Ergebnis maß168 Vgl. Murphy / Stockdale, Criminal Practice, D 2. 36, die als Beispiel den Fall Re Beresford (1952) 36 Cr App R 1 anführen. 169 Kielwein ZStW 68 (1956), 163 (166), wobei darauf hinzuweisen ist, daß diese anderweitige Rechtshängigkeit im common law ansonsten weder vom Gericht von Amts wegen berücksichtigt noch vom Angeklagten in Form eines Einwandes geltend gemacht werden kann. 170 Kielwein ZStW 68 (1965), 163 (172); siehe z. B. für die Beschränkung im Offences Against the Person Act von 1861 Thomas, ne bis in idem, S. 54 f. 171 Siehe dazu Kielwein, ZStW 68 (1965), 163 (168), wonach eine wichtige Ausnahme insoweit für das Verhältnis von Mord und Totschlag gilt, da das verletzte Gut identisch ist und beide Tatbestände nur hinsichtlich der Motivation des Täters differieren; ähnlich auch Spinellis, Materielle Rechtskraft, S. 154, der die Möglichkeit der Klageänderung ebenfalls als „sehr beschränkt“ qualifiziert. 172 Spinellis, Materielle Rechtskraft, S. 155 für sec. 12 und S. 156 für sec. 4 (3) des Criminal Procedure Act und den Sexual Offences Act sowie Kielwein ZStW 68 (1965), 163 (170) zum Interpretation Act; zum Indictment Act sowie zu entsprechenden Lockerungen im USamerikanischen Recht Stuckenberg, double jeopardy, S. 10 f.
IV. Das Common Law
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gebend ist daher die höchste Einzelstrafe173. Seit 1896 entwickelt sich in diesem Zusammenhang das – noch heute bestehende174 – Institut des sog. „taking into consideration“. Wenn der Täter vor der Verurteilung noch andere als die angeklagten Rechtsverletzungen ähnlicher Art begangen hat, sollen diese dem Gericht zur Kenntnis gebracht werden und von diesem bereits bei der Strafzumessung berücksichtigt werden175. Für die derart mitberücksichtigten Taten tritt dann zwar kein Strafklageverbrauch ein; die in einem neuerlichen Prozeß verhängte Strafe ist aber in diesen Fällen grundsätzlich eine Nominalstrafe in Höhe von einem Tag Gefängnis oder einem Penny Geldstrafe176. Dabei wird dem „plea of autrefois convict bzw. acquit“ als einem universellen Prinzip sogar zwischenstaatliche Geltung zuerkannt, solange das erkennende Gericht nur zuständig ist177. Es gilt – ganz im Sinne des Territorialitätsprinzips – der Grundsatz, daß ein Delikt auch dort bestraft werden sollte, wo es begangen wurde.
2. Zur aktuellen Ausgestaltung des Verbots der Doppelbestrafung im Common Law Die aktuelle Ausgestaltung des Doppelbestrafungsverbots insbesondere in England, dessen Rechtslage der folgenden Darstellung zugrunde liegt, knüpft aufgrund der dort vorgenommenen Konkretisierung der Rechtsprinzipien anhand einzelner Fälle und der notwendigen Rücksicht auf die bereits entschiedenen Fälle harmonisch an die historische Entwicklung an178. Harte Brüche, wie sie sich in den civil law Systemen feststellen lassen, sind dem common law folglich fremd179. Der plea of autrefois convict / acquit gehört heute zu den „special pleas in bar“, das heißt, zu den verfahrenshindernden Einwänden, die nicht mit der allgemeinen Erklärung „not guilty“ vorgebracht werden können180. Kielwein ZStW 68 (1965), 163 (172). Dazu (und auch zu dessen begrenzten Wirkungen) Murphy / Stockdale, Criminal Practice, D 10. 45. 175 Voraussetzung ist dabei unter anderem aber, daß sich der Angeklagte dieser Taten schuldig bekennt, zum genauen Verfahrensablauf vgl. Kielwein ZStW 68 (1965), 163 (174 f.). 176 Kielwein ZStW 68 (1965), 163 (176). 177 Cassell 41 UCLA Law Rev. 693 (1994), sub. IV A mit weiteren Nachweisen auf die historischen leading cases (in Fn. 100 zu einem Beispiel für einen Freispruch in Spanien als Hindernis für eine erneute Strafverfolgung) und Literatur; Thomas, ne bis in idem, S. 57 f. 178 Zur Rechtslage in Schottland aus jüngerer Zeit siehe Thomas, ne bis in idem, S. 59 ff., 186, 249 ff., 315 ff. 179 So auch Murphy / Stockdale, Criminal Practice, D 10. 38: „A large body of case law has developed defining the precise circumstances in which the pleas [of autrefois acquit / convict] may be relied on, . . .“ die dementsprechend als leading authority in diesem Bereich den Fall Connelly v DPP [1964] AC 1254 besprechen. 180 So etwa die Einordnung bei Bing, Criminal Procedure, S. 125, Murphy / Stockdale, Criminal Practice, D 10. 38 und Spinellis, Materielle Rechtskraft, S. 153. 173 174
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B. Der Grundsatz des ne bis in idem in Europa
Maßgebend ist weiterhin in erster Linie die rechtliche Bewertung der Tat, so daß es einen Strafklageverbrauch nur in dem eng begrenzten Umfang gibt, in dem das (auch ausländische)181 Gericht die angeklagte Tat in der Sache182 würdigen kann183. Fragen der Gesetzeskonkurrenz stellen sich daher im Grunde nur bei zusammengesetzten Delikten, wo die spätere Verfolgung eines der Bestandteile der Tat ausgeschlossen ist, und fortgesetzten Delikten, die aber nur im Sinne von stufenweise begangenen Straftaten anerkannt werden184. Ergänzt werden diese Regelungen durch einige wichtige gesetzliche Regelungen, wie die Abschnitte 44 und 45 des Offences Against the Person Act185 von 1861 und den Interpretation Act von 1978, wonach wegen eines Delikts, das in mehreren gesetzlichen Regelungen oder einer gesetzlichen Regelung und dem common law normiert ist, nur einmal bestraft werden kann186. Andererseits läßt der Criminal Procedure and Investigation Act von 1996, der mit den sog. „tainted acquittals“ Fälle regelt, in denen der Freispruch durch die Einschüchterung von Geschworenen oder (möglichen) Zeugen zustande kam, eine Art von Wiederaufnahme zu Ungunsten des Angeklagten und damit eine Durchbrechung des Prinzips des double jeopardy zu.
181 Siehe Murphy / Stockdale, Criminal Practice, D 10. 46 und D 10. 44 sub. b), wonach die entsprechende Entscheidung im Fall Aughet (1919) 134 Cr App R 101 in jüngerer Zeit im Fall Treacy v DPP (1971) AC 537 bestätigt wurde; eine strafklageverbrauchende Wirkung ähnlich wie im englischen Recht erkennen im Bereich des common law auch Australien und Kanada an, nicht dagegen die USA, siehe dazu Stuckenberg, double jeopardy, S. 37 ff., 40. 182 Auf rein formale Entscheidungen oder Entscheidungen im Vorverfahren kann der plea of autrefois convict / acquit grundsätzlich nicht gestützt werden; vgl. die Beispiele bei Murphy / Stockdale, Criminal Practice, D 10. 43. 183 Näher hierzu siehe Murphy / Stockdale, Criminal Practice, D 10. 39 sub. b), c) und d); besondere Bedeutung erlangt in diesem Zusammenhang der „same evidence“ Test, wo danach gefragt wird, ob die Tatsachen, die in dem zweiten Prozeß angeführt werden, geeignet gewesen wären, eine Verurteilung in dem früheren Prozeß herbeizuführen, wobei der Einwand bei Hinzutreten auch nur einer zusätzlichen Tatsache nicht durchdringen soll; ausführlich dazu auch Thomas, ne bis in idem, S. 192 ff.; zur im abweichenden Rechtslage im USamerikanischen Recht (insbesondere der Figur des sog. „collateral estoppel“ und zum „same transaction test“) siehe Stuckenberg, double jeopardy, S. 23 ff. 184 Siehe hierzu schon Spinellis, Materielle Rechtskraft, S. 156 f.; ein weiteres Beispiel hierfür bietet der bei Murphy / Stockdale, Criminal Practice, D 10. 39 besprochene Fall Connelly v DPP [1964] AC 1254, in dem der Court of Appeal bei einem während eines Raubes begangenen Mord nach dem Verfahren wegen Mordes ein zweites Verfahren wegen des Raubes zuläßt, während nach deutschem Recht die Tat in einem Verfahren insgesamt gewürdigt und der Täter ggf. wegen beider Delikte in Tateinheit oder nur wegen eines der Delikte verurteilt bzw. insgesamt freigesprochen worden wäre; ausführlich dazu auch Thomas, ne bis in idem, S. 56, 192 ff., der darauf hinweist, daß diese Entscheidung zu den wichtigsten in diesem Bereich im neuzeitlichen englischen Recht gehört. 185 Eine richterliche Bescheinigung schließt hier in Privatklagefällen unter gewissen Umständen jede neue Klage aus demselben Grund aus; näher dazu Murphy / Stockdale, Criminal Practice, D 10. 40. 186 Murphy / Stockdale, Criminal Practice, D10.40; Thomas, ne bis in idem, S. 54 f.
V. Überblick über die Regelungen im europäischen Strafrecht
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Fragt man nach dem Verhältnis von Straf- und Verwaltungssanktionenrecht im englischen Recht, so lohnt es, sich zunächst bewußt zu machen, daß es zwar kein explizites, neben dem Strafrecht stehendes System von Verwaltungssanktionen gibt. Statt dessen arbeiten in bestimmten Bereichen Verwaltung und Strafgewalt dergestalt zusammen, daß sich insgesamt eine wirksame Zwangsgewalt ergibt, die das Strafrecht allein aufgrund seiner begrenzten Sanktionsarten darzustellen nicht in der Lage ist187. Da das Prinzip des double jeopardy im rechtstechnischen Sinn nur bei Entscheidungen von Gerichten Anwendung findet, werden hier ungewollte Mehrfachbelastungen nach dem Grundsatz des nemo debet bis vexari gelöst, insgesamt besteht aber das Bestreben, diese Probleme bereits im Vorfeld an der Entstehung zu verhindern188. Keine Anwendung soll das Doppelbestrafungsverbot grundsätzlich im Verhältnis des Strafrechts zum Disziplinarrecht finden189.
V. Überblick über die Regelungen im europäischen Strafrecht im engeren Sinne Die obigen Ausführungen haben gezeigt, daß das Verbot der Doppelbestrafung in allen europäischen Rechtsordnungen eine bis in die Antike zurückreichende Tradition aufweist. Mit der Gründung des Europarates 1949, die zugleich den Beginn kriminalpolitischer Zusammenarbeit auf europäischer Ebene markiert190, galt es, dieses Prinzip den neuen Realitäten und der immer stärkeren Verzahnung der Mitgliedstaaten anzupassen. Dabei können wenigstens drei verschiedene Entwicklungsebenen ausgemacht werden: Die Anerkennung strafklageverbrauchender Wirkung durch zwischenstaatliche Abkommen, Übereinkommen im Einflußbereich des Europarates und solche auf dem Gebiet der Europäischen Gemeinschaften bzw. der Europäischen Union191.
187 Leigh in: The system of administrative and penal sanctions in the member states of the European Communities, S. 367. 188 Leigh in: The system of administrative and penal sanctions in the member states of the European Communities, S. 371 f. 189 Vgl. Murphy / Stockdale, Criminal Practice, D 10. 45. 190 Jokisch S. 31 mit zahlreichen Verweisen. 191 Ähnlich schon die institutionelle Differenzierung der verschiedenen Ebenen der europäischen (Straf)Rechtsangleichung bei Jung StV 1990, 509 (510 f.).
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1. Regelungen im Bereich des Europarates192 Die Vereinten Nationen beschließen und verkünden am 10. Dezember 1948 eine „Allgemeine Erklärung der Menschenrechte“, aus der sich jedoch als Programmerklärung keine erzwingbaren Rechte ableiten lassen193. Diese Erklärung gibt den Anlaß zum Abschluß der Europäischen Menschenrechtskonvention am 4. November 1950 in Rom als rechtlich verbindlichem, multilateralem Vertrag194, in dem sich die Mitgliedstaaten des Europarates einer bis dahin unbekannten internationalen Kontrolle durch die Konventionsorgane unterwerfen. Dabei versucht einerseits der Europäische Gerichtshof, die Standards der Konvention den sich laufend verändernden Rahmenbedingungen in den Mitgliedstaaten durch eine bewußt evolutive Auslegung anzupassen195, zum anderen wird der Schutzbereich der Konvention durch mehrere Zusatzprotokolle erweitert. Besondere Bedeutung für die hier besprochene Thematik entfaltet Art. 4 des 7. Zusatzprotokolls der EMRK aus dem Jahr 1984, in dem die Verfahrensgarantie eines innerstaatlichen Doppelbestrafungsverbots aufgenommen wird196. Bereits am 13. Dezember 1957 wird außerdem das Europäische Auslieferungsübereinkommen197 (EuAlÜbk) geschlossen. Dieses enthält zwar kein Verbot mehrfacher Bestrafung im engen Sinne, nimmt dessen Grundgedanken aber auf und stellt gem. Art. 9 sicher, daß eine Person dann nicht ausgeliefert werden soll, wenn Behörden oder Gerichte des ersuchten Staates in der verfahrensgegenständlichen Sache bereits eine rechtskräftige Entscheidung getroffen haben, die Eröffnung des Verfahrens abgelehnt wurde oder ein Einstellungsbeschluß ergangen ist. Diese Regelung wird durch das erste Zusatzprotokoll vom 15. Oktober 1975198 auf Verurteilungen durch Drittstaaten ausgedehnt, so daß der ersuchte Staat im Ergebnis nicht an einem Verfahren mitwirken muß, das zu einer mehrfachen Bestrafung führen kann. Ausnahmen werden in diesem Zusammenhang nur insoweit zugelassen, als die territoriale Integrität oder besondere Interessen des ersuchenden Staates gewahrt werden sollen. Für die Auslieferung zwischen den Mitgliedstaaten der EU wird das EuAlÜbk durch das Übereinkommen über das vereinfachte Ausliefe192 Der Text der im folgenden genannten Verträge mit den wichtigsten Informationen über die Zahl der beigetretenen Staaten und das Inkrafttreten der jeweiligen Verträge ist aktuell im Internet abrufbar unter der Homepage des Europarates http://conventions.coe.int/treaty/EN/ cadreprincipal.htm; von einer entsprechenden Auflistung wird daher abgesehen. 193 Gollwitzer in: Rieß (Hrsg.), Löwe-Rosenberg, Strafprozessordnung, Einl. EMRK Rn. 1. 194 Gollwitzer in: Rieß (Hrsg.), Löwe-Rosenberg, Strafprozessordnung, Einl. EMRK Rn. 2; Vertragsparteien waren dabei zunächst die im Europarat zusammengeschlossenen, westeuropäischen Staaten, zwischenzeitlich sind ihr alle im Europarat vertretenen Staaten beigetreten. 195 Siehe stellvertretend die Einschätzung von Krüger / Polakiewicz EuGRZ 2001, 92 (94). 196 European Treaty Series No. 117. 197 European Treaty Series No. 24, dazu Schomburg JuS 2000, 105 (105 ff.). 198 European Treaty Series No. 86, sowie das zweite Zusatzprotokoll European Treaty Series No. 98.
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rungsverfahren zwischen den Mitgliedstaaten der Europäischen Union (EU-VereinfAuslÜbk) vom 10. März 1995199 und das EU-Auslieferungsübereinkommen (EU-AuslÜbk) vom 27. September 1996200 ergänzt201. Weiter zu nennen ist das am 30. November 1964 geschlossene Europäische Übereinkommen über die Verfolgung von Zuwiderhandlungen im Straßenverkehr202. Dieses versucht in den Art. 5, 9, 13, eine mehrfache Ahndung von Verstößen im Straßenverkehr durch eine Zuständigkeitsverteilung und durch Regelungen zum Vollstreckungsschutz zu verhindern. Auf Initiative des Europarates wird am 28. Mai 1970 die Europäische Konvention über die internationale Gültigkeit von Strafurteilen203 geschlossen, die zunächst die internationale Zusammenarbeit in Strafsachen ausdehnen soll. Dabei normiert Part III Section 1 der Konvention vom Grundsatz her ein weitreichendes Verbot doppelter Bestrafung bzw. Strafverfolgung, welches in den folgenden Absätzen jedoch erhebliche Einschränkungen erfährt, sobald besondere öffentliche Interessen eines Staates berührt sind. Wenn eine der Einschränkungen eingreift, werden auch hier die Belange des Betroffenen wenigstens durch die Normierung eines Anrechnungsprinzips gewahrt. Aufgrund des begrenzten Anwendungsbereichs bleibt die praktische Bedeutung dieser Konvention jedoch gering. Eine größere Bedeutung erlangt dagegen die am 15. Mai 1972 geschlossene Konvention über die Übertragung der Strafverfolgung204, deren Regelungen zum Schutz vor Mehrfachbestrafungen in Part V inhaltlich der Regelung in Part III Section 1 der europäischen Konvention über die internationale Gültigkeit von Strafurteilen entspricht. Der Schutz des Beschuldigten ist hier indessen weitaus umfangreicher, da die Konvention über die Übertragung der Strafverfolgung – im Sinne eines Kompetenzverteilungsprinzips205 – bereits in dem Stadium der Strafverfolgung eine übermäßige Belastung des Betroffenen vermeiden will. Dementsprechend werden gemäß Part III Section 3 – 5 und Part IV der Konvention parallel verlaufende Ermittlungsmaßnahmen im ersuchenden und ersuchten Staat vermieden oder zumindest so weit als möglich koordiniert. Ein über die Regelung einzelner Problemfelder in multilateralen Abkommen hinausgehendes Projekt stellen in diesem Zusammenhang Ansätze zur AusarbeiBGBl. 1998 II S. 2229 (2230 ff.). BGBl. 1998 II S. 2253 (2254 ff.). 201 Vgl. Art. 1 Abs. 1 EU-AuslÜbk; einen kurzen Überblick hierüber gibt Baier GA 2001, 427 (443). 202 ETS No. 52, einen vergleichbaren Inhalt hat auch das Übereinkommen über die Überwachung von zu Bewährungsstrafen verurteilten bzw. auf Bewährung freigelassenen Straftätern, ETS No. 51. 203 ETS No. 70; Specht S. 94. 204 ETS No. 73. 205 Zum Begriff des Kompetenzverteilungsprinzips vgl. Gribbhom in: Jähnke / Laufhütte / Odersky (Hrsg.), Leipziger Kommentar, StGB, vor § 3 Rn. 137 f. 199 200
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B. Der Grundsatz des ne bis in idem in Europa
tung eines europäischen Modellstrafgesetzbuches dar. Dieses soll die angestrebte Vereinheitlichung als unverbindliches Modellgesetz primär durch seine Vorbildfunktion und durch sanfte Überredung vorantreiben, dafür aber im Gegensatz zum Corpus Juris das gesamte materielle Strafrecht erfassen206. 2. Weitergehende Regelungen auf zwischenstaatlicher Ebene Auf zwischenstaatlicher Ebene wurde in Art. 13 Convention concernant la coopération administrative et judicaire dans le domaine des réglementations se rapportant à la réalisation des objectifs de lÚnion économique Benelux207 vom 29. April 1969 das Prinzip des ne bis in idem recht umfassend normiert. Dies war zu diesem frühen Zeitpunkt möglich, weil insbesondere das niederländische Recht bereits innerstaatlich die grundsätzliche Anerkennung ausländischer Strafurteile sichergestellt hatte und aufgrund der engen wirtschaftlichen Verzahnung der Beneluxstaaten ein starkes Interesse vorhanden war, diese Anerkennung nicht mehr nur einseitig, sondern möglichst reziprok auszugestalten. Eine bedeutende Weiterentwicklung stellt dann das Übereinkommen betreffend den schrittweisen Abbau der Kontrollen an den gemeinsamen Grenzen vom 19. Juni 1985 (sog. Schengener-Übereinkommen) dar, das inhaltlich im Wesentlichen auf dem zwischen der Bundesrepublik Deutschland und Frankreich geschlossenen sog. „Saarbrücker Abkommen“ über den schrittweisen Abbau der Kontrollen an der deutsch-französischen Grenze208 beruht. Dieses enthält zwar zunächst weithin nur Absichtserklärungen; gerade in der Formulierung des Ziels, einen einheitlichen Wirtschaftsraum zu bilden, wird aber ein Grundstein gelegt, auf dem die weitere Entwicklung aufbaut. In dieser Phase wird am 25. Mai 1987 das Übereinkommen zwischen den Mitgliedstaaten der Europäischen Gemeinschaften209 über das Verbot der doppelten Strafverfolgung geschlossen, das, anders als es sein Name vermuten ließe, außerhalb des institutionellen Rahmens der Europäischen Gemeinschaften erarbeitet wurde210, aber mangels hinreichender Ratifikationen noch nicht in Kraft getreten ist. Darin wird der Schutz vor einer mehrfachen Strafverfolgung in Art. 1 zunächst umfassend und ohne generelle Ausnahmen gewährleistet. Die Unterzeichnerstaaten werden vielmehr gezwungen, ihre Vorbehalte ausdrücklich zu erklären und die Straftatbestände, bei deren Verwirklichung sie sich eine eigene Strafverfolgung 206 Sieber JZ 1997, 369 (376 ff.); befürwortend auch Eser, FS f. Waltos, S. 169 (190); kritisch dagegen Weigend ZStW 105 (1993), 774 (790 ff.); zum Verhältnis Corpus Juris und Europäisches Modellstrafgesetzbuch siehe Jung JuS 2000, 417 (423). 207 UNTS 779 (1970), No. 11096, dazu näher Specht S. 93. 208 Saarbrücker Abkommen vom 13. Juli 1984, BGBl. II S. 767 (768 ff.) 209 BGBl. 1998 II S. 2226 (2227 f.). 210 Specht S. 97 m.w.N. in Fn. 258; dazu auch Jokisch S. 236 f. und Schomburg NJW 1999, 540 (542).
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vorbehalten, explizit zu benennen (Art. 2). Auch in diesen Fällen wird den Interessen des von der Strafverfolgung betroffenen Individuums aber durch die Normierung eines Anrechnungsprinzips Rechnung getragen (Art. 3). In verfahrensrechtlicher Sicht wird die Durchsetzung des Verbots durch gegenseitige Informationspflichten abgesichert. Ein Meilenstein ist später das am 19. Juni 1990 geschlossene Übereinkommen zur Durchführung des Übereinkommens von Schengen (sog. Schengener-Durchführungsübereinkommen, SDÜ), das als Reaktion auf die verstärkte justizielle Zusammenarbeit der Partnerstaaten zugleich in den Art. 54 ff. ein zwischenstaatliches Verbot der mehrfachen Bestrafung enthält, das in der Rechtspraxis erhebliche Bedeutung entfaltet. Inhaltlich sind die Art. 54 ff. SDÜ nahezu wortgleich mit den Regelungen im Übereinkommen zwischen den Mitgliedstaaten der Europäischen Gemeinschaften über das Verbot einer doppelten Strafverfolgung vom 25. Mai 1987.
3. Regelungen im Bereich der Europäischen Gemeinschaften / Europäischen Union Am 25. März 1957 wird der Vertrag zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft (EGV) geschlossen und tritt am 1. Januar 1958 in Kraft. Art. 2 EGV bestimmt als Aufgabe der Gemeinschaft, – unter anderem durch die Errichtung eines gemeinsamen Marktes und einer Wirtschafts- und Währungsunion – in der ganzen Gemeinschaft eine harmonische, ausgewogene und nachhaltige Entwicklung des Wirtschaftslebens und ein hohes Maß an sozialem Schutz, die Hebung der Lebenshaltung und Lebensqualität, den wirtschaftlichen und sozialen Zusammenhalt und die Solidarität zwischen den Mitgliedern zu fördern. Trotz einiger sanktionierend wirkender Verwaltungsvorschriften im Primär- und später auch im Sekundärrecht211 wird eine juristische Zusammenarbeit zwischen den Staaten zur Vermeidung von Doppelbestrafungen noch nicht vorgesehen. Eine wesentliche Grundlage hierfür wird erst im Rahmen der Europäischen Politischen Zusammenarbeit (EPZ), die mit Art. 30 EEA vom 28. Februar 1986 eingeführt wird, geschaffen212. Da sich die im EGV gesetzten Ziele zunächst nicht umfassend im gesamten Gemeinschaftsgebiet verwirklichen lassen, haben hier die Schengen-Staaten in vielerlei Hinsicht eine Vorreiterrolle übernommen. Infolge der mangelnden Kompetenzen auf dem Gebiet des Strafrechts und eines deshalb lange fehlenden Problembewußtseins hat das Europäische Parlament erst am 16. März 1984 in einer Entschließung gefordert, den Schutz vor einer mehrfachen Bestrafung auch auf ausländische Urteile auszudehnen213. Es stellt fest, daß 211 212 213
Ausführlich hierzu Sieber ZStW 103 (1991), 957 (966 ff.) m.w.N. Einen kurzen Überblick über die Entwicklung gibt Schomburg NJW 1999, 540 (540). Abgedruckt in EuGRZ 1984, 349 u. 355.
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B. Der Grundsatz des ne bis in idem in Europa
Bestimmungen, die dem Grundsatz des ne bis in idem nicht entsprechen, wegen der im EWG-Vertrag geregelten Freiheiten im Widerspruch zur Verwirklichung eines einheitlichen Wirtschaftsraums stehen, und weist darauf hin, daß Ausnahmen von der Anwendung des Grundsatzes des ne bis in idem nicht mehr zulässig sein sollen. Einen weiteren Schritt im Rahmen der Europäischen Integration stellt der am 7. Februar 1992 im Maastricht geschlossene Vertrag über die Europäische Union (EUV) dar, in dessen Präambel festgehalten wird, daß durch ihn der mit der Gründung der Europäischen Gemeinschaften eingeleitete Prozeß auf eine neue Stufe gestellt werden soll. Ebenso werden die Bekenntnisse zu den Grundsätzen der Freiheit, der Demokratie, der Achtung der Menschenrechte und Grundfreiheiten und der Rechtsstaatlichkeit bekräftigt. Auf der Grundlage von Art. K. 3 EUV werden im weiteren Verlauf der Entwicklung im Rahmen der dritten Säule des EUV verschiedene Übereinkommen zum Schutz supranationaler Rechtsgüter durch entsprechende Handlungsverpflichtungen der Mitgliedstaaten geschlossen: Das am 26. Juli 1995 geschlossene – aber erst am 17. Oktober 2002 in Kraft getretene214 – Übereinkommen über den Schutz der finanziellen Interessen der Europäischen Gemeinschaften215 fordert ein gemeinsames Vorgehen der Mitgliedstaaten in erster Linie gegen Zollstraftaten und Subventionsbetrügereien216 und erhöht damit automatisch die Gefahr einer Mehrfachbestrafung von Verstößen. Folgerichtig normiert das Übereinkommen in Art. 7 das Prinzip des ne bis in idem, das hier nur dann keine Wirkung entfalten soll, wenn die Staaten einen entsprechenden Vorbehalt abgegeben haben217. Begleitet wird dieses Übereinkommen von der noch im selben Jahr in Kraft getretenen „Verordnung Nr. 2988 / 95 des Rates über den Schutz der finanziellen Interessen der Gemeinschaften“ vom 18. Dezember 1995218, mit der eine Art Allgemeiner Teil des europäischen Verwaltungssanktionenrechts normiert wird. Augrund des langen Zeitraums zwischen Abschluß und Inkrafttreten des EG-Finanzschutzübereinkommens hat die Kom214 Dazu sowie zu den zu dem Übereinkommen ergangenen Auslegungs- und Zusatzprotokollen Dannecker ZStR 121 (2003), 280 (292). 215 ABl. EG 1995 Nr. C 316, S. 48 ff. (die zugrundeliegende Entschließung des Rates ist abgedruckt in ABl. EG 1994 Nr. C 355, S. 2 f.); die Umsetzung für Deutschland erfolgte mit dem EG-Finanzschutzgesetz vom 10. September 1998 (BGBl 1998 II 2322 [2322 ff.]). 216 Dazu ausführlich Dannecker ZStW 108 (1996), 577 mit einem Überblick zu den entsprechenden Schutzmechanismen in den nationalen Rechtsordnungen (583 – 593) und einer ausführlichen Stellungnahme zum Übereinkommen selbst (594 – 603). 217 Siehe näher hierzu Specht S. 103. 218 ABl. EG 1995 Nr. L 312, S. 1 ff.; später ergänzt durch die Verordnung des Rates Nr. 2185 / 96 betreffend die Kontrollen und Überprüfungen vor Ort durch die Kommission zum Schutz der finanziellen Interessen der Europäischen Gemeinschaften vor Betrug und anderen Unregelmäßigkeiten (ABl. EG 1996 Nr. L 292, S. 2 ff.), worin die genauen Befugnisse und Aufgaben der Inspektoren der Kommission festgelegt werden; siehe dazu auch Dannecker ZStR 121 (2003), 280 (290 f.) sowie ausführlich Kuhl / Spitzer EuZW 1998, 37 (37 ff.).
V. Überblick über die Regelungen im europäischen Strafrecht
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mission darüber hinaus am 16. Oktober 2002 einen Richtlinienvorschlag zum Schutz der finanziellen Interessen der EG vorgelegt219. Auf der gleichen Entwicklungslinie liegt das am 26. Mai 1997 geschlossene Übereinkommen über Bestechungshandlungen, an denen Beamte der Europäischen Gemeinschaft oder der Mitgliedstaaten beteiligt sind220. Inhaltlich nimmt es das im Übereinkommen zum Schutz der finanziellen Interessen der Europäischen Gemeinschaften normierte Verbot des ne bis in idem auf und geht sogar darüber hinaus, indem es in Art. 10 Abs. 3 für diejenigen Fälle, in denen ein Mitgliedstaat einen Vorbehalt erklärt, dem Verbot einer mehrfachen Bestrafung zumindest durch das Anrechnungsprinzip Geltung verschafft. Am 1. Mai 1999 tritt der 1996 geschlossene Vertrag von Amsterdam in Kraft, der den EU- und EG-Vertrag wesentlich modifiziert, zentrale Materien der Regierungszusammenarbeit in den Bereichen Justiz und Inneres in Art. 31 EUV auf eine gemeinschaftliche Grundlage stellt221, die gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik ausbaut, den Grundrechtsschutz optimiert und Anknüpfungspunkte für die strafrechtlichen Maßnahmen der ersten Säule der Union schafft222. In diesem Zusammenhang wird mit dem Protokoll zur Einbeziehung des Schengen-Besitzstandes vom 10. November 1997 das Schengener Abkommen in den EGV und EUV übertragen, so daß der „Schengen-Besitzstand“ in die EU einbezogen wird223. Im übrigen bestimmt Art. 6 Abs. 2 EUV bereits nach seinem ausdrücklichen Wortlaut, daß die EU zur Achtung der Grundrechte verpflichtet ist, wie sie die EMRK und die Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten als allgemeine Rechtsgrundsätze überliefern. Dies soll nach herrschender Meinung zwar keine unmittelbare Bindung der EG / EU an die EMRK bedeuten,224 jedoch orientiert sich die Rechtsprechung des EuGH immer deutlicher an der des EGMR und steuert im Ergebnis ein ähnlich hohes Schutzniveau an225. 219 Die ursprüngliche Version des Richtlinienvorschlags findet sich in ABl. 2001 Nr. C 240, S. 19 ff.; die überarbeitete Fassung findet sich in KOM 2002 / 577 endg.; siehe dazu – und auch zu den kompetenzrechtlichen Problemen bezüglich der Zulässigkeit einer solchen Richtlinie – Dannecker ZStR (121) 2003, 280 (299 ff.). 220 ABl. EG 1997 Nr. C 195, S. 2 ff. 221 Dabei betrifft Art. 31 lit. c EUV insbesondere die Harmonisierung der Strafprozeßordnungen, während die Angleichung des materiellen Strafrechts von Art. 31 lit. e erfaßt wird und mit der in Art. 31 lit. d EUV angemahnten Vermeidung von Kompetenzkonflikten insbesondere das Verbot der Doppelbestrafung (ne bis in idem) angesprochen sein soll (so ausdrücklich Pechstein / Koenig, Europäische Union, Rn. 358). 222 Einen kurzen Überblick über die Entwicklung der Europäischen Union in diesem Zeitraum gibt Montag NJW 2001, 1613 (1613 ff.); sowie über den anschließenden Vertrag von Nizza Pache / Schorfkopf NJW 2001, 1377 (1377 ff.). 223 Protokoll zur Einbeziehung des Schengen-Besitzstandes in den Rahmen der EU, abgedruckt in ABl. EG 1997 Nr. C 340 / 93 mit Sonderregelungen für Dänemark in Protokoll ABl. EG 1997 Nr. C 340 / 101; dies bedingt die Auflösung des mit den Schengener-Verträgen begründeten Rechtskreises, vgl. Schomburg NJW 1990, 550 (550). 224 Bleckmann, Die Bindung der EG an die EMRK, S. 79 ff. 225 Vgl. Jokisch S. 42.
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B. Der Grundsatz des ne bis in idem in Europa
Im Rahmen der ersten Säule der Union nehmen die Kommission und der Rat am 3. Dezember 1998 einen Aktionsplan zur bestmöglichen Umsetzung der Bestimmungen des Amsterdamer Vertrages über einen Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts an, der festlegt, daß innerhalb der nächsten zwei Jahre ein Prozeß im Hinblick auf die Erleichterung der gegenseitigen Anerkennung von Entscheidungen in Strafsachen und ihrer Vollsteckung eingeleitet wird226. Entsprechend verabschiedet der Rat der Europäischen Union am 15. Januar 2000 ein Maßnahmenprogramm zur Umsetzung des Grundsatzes der gegenseitigen Anerkennung gerichtlicher Entscheidungen in Strafsachen227. Das Maßnahmenprogramm stellt fest, daß bisher keines der oben genannten, europäischen Übereinkommen zwischen allen Mitgliedstaaten in Kraft getreten ist, listet die bestehenden Defizite auf und entwickelt ein umfassendes Maßnahmenbündel, das mit unterschiedlichen Prioritäten verwirklicht werden soll. Besonders hervorzuheben sind die Bestrebungen, materiell bestehenden nationalen Vorbehalten in den Übereinkommen insgesamt entgegenzuwirken und verfahrenstechnisch supranationale Informationssysteme über Vorstrafen, Verurteilungen und anhängige Ermittlungs- und Strafverfahren zu schaffen. Im Bereich des materiellen Strafrechts geht das 1995 geschlossene Übereinkommen über den Schutz der finanziellen Interessen der Europäischen Gemeinschaften nun weitgehend228 in der Richtlinie über den Schutz der finanziellen Interessen der Gemeinschaft auf, für die die Kommission gestützt auf Art. 280 EGV im Mai 2001 einen Vorschlag vorgelegt hat229. Diese Richtlinie ist Bestandteil eines Aktionsplans zur Betrugsbekämpfung seitens der Europäischen Union, der darüber hinaus die Schaffung einer europäischen Staatsanwaltschaft (zunächst mit dem Fernziel 2004) zum Gegenstand hat230. 226 Die nationalen Straftatbestände und Sanktionen sollen gem. Art. 31 lit. e EUV insbesondere in den Bereichen Finanzkriminalität, illegaler Drogenhandel, Menschenhandel sowie High-Tech- und Umweltkriminalität harmonisiert werden; ausführlicher hierzu Dieckmann NStZ 2001, 617 (617 ff.) und Schünemann GA 2002, 501 (503 f.). 227 ABl. EG 2001 Nr. C 12 / 10; vgl. dazu Mitteilung der EU-Kommission (KOM [2000] 495 endg.); EiÜ 31 – 00; auf diesem beruht dann die „Initiative des Vereinigten Königreichs, der Französischen Republik und des Königreichs Schweden im Hinblick auf die Annahme eines Rahmenbeschlusses über die Anwendung des Grundsatzes der gegenseitigen Anerkennung von Geldstrafen oder Geldbußen durch den Rat“ (ABl. EG 2001 Nr. C 278, S. 4 ff.) nach dessen Art. 4 Abs. 2a die zuständige Behörde des Vollstreckungsstaats beschließen kann, die ausländische Entscheidung nicht zu vollstrecken, wenn nachgewiesen ist, daß gegen die verurteilte Person wegen derselben Handlung bereits im Vollstreckungsstaat oder einem Drittstaat eine Entscheidung ergangen ist und diese Entscheidung vollstreckt worden ist. 228 So wird etwa Art. 7 des Übereinkommens aufgrund der begrenzten Ermächtigungsgrundlage des Art. 280 Abs. 4 EGV nicht in die Richtlinie übernommen. 229 Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates über den strafrechtlichen Schutz der finanziellen Interessen der Gemeinschaft (von der Kommission vorgelegt) am 23. Mai 2001 (KOM [2001] 272 endg.). 230 Schreyer EuZW 2001, 417 (417); zu dem am 12. Dezember 2001 im Rahmen des Aktionsprogramms angenommenen Grünbuch über den Schutz der finanziellen Interessen der Gemeinschaft und der Schaffung eines europäischen Staatsanwalts siehe Combeaud
V. Überblick über die Regelungen im europäischen Strafrecht
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Parallel hierzu wird im Rahmen der dritten Säule der Union über den mit den ersten Übereinkommen angestrebten stärkeren Schutz supranationaler Rechtsgüter hinausgegangen und beginnend mit dem am 28. Mai 2001 verabschiedeten Rahmenbeschluß des Rates zur Bekämpfung von Betrug und Fälschung im Zusammenhang mit unbaren Zahlungsmitteln231 das nationale Strafrecht gem. Art. 31 lit. e EUV vereinheitlicht232. Neben der Verpflichtung, bestimmte Handlungen gegen das Vermögen Dritter unter Strafe zu stellen, werden zusätzlich Bestimmungen im Bereich des Allgemeinen Teils des Kriminalstrafrechts und Verfahrensregeln normiert. Mit dem „Übereinkommen – gem. Art. 34 des Vertrages über die Europäische Union vom Rat erstellt – über die Rechtshilfe in Strafsachen zwischen den Mitgliedstaaten“ vom 29. Mai 2000 werden im Bereich der Rechtshilfe lästige Formvorschriften aufgehoben und schwerwiegende Ermittlungsmaßnahmen im Bereich der grenzüberschreitenden Strafverfolgung auf eine gesetzliche Grundlage gestellt233. Wie die zukünftige gemeinsame Basis eines vereinheitlichten Strafrechts aussehen könnte, läßt das als zentraler Markstein234 bezeichnete und im institutionellen Rahmen der Europäischen Union ausgearbeitete Corpus Juris (CJ) zum Schutz der finanziellen Interessen der Europäischen Union erahnen, das seit 1998 als Entwurf vorliegt235. Das Verhältnis von nationalem Recht und Gemeinschaftsrecht, also dem Corpus Juris selbst, regeln Art. 17 Abs. 2 CJ und Art. 23 Abs. 1 S. 4 b CJ. Wenn dieselbe Handlung sowohl einen Verstoß gegen Gemeinschaftsrecht als auch gegen nationale Vorschriften darstellt, soll danach allein das Gemeinschaftsrecht Anwendung finden. Nach dem Willen ihrer Verfasser stellt diese Vorschrift den Versuch dar, im strafrechtlichen Bereich – ganz gemäß dem Vorschlag in den Studien zu den verwaltungsrechtlichen Sanktionensystemen in den Mitgliedstaaten – den Vorrang des Gemeinschaftsrechts zu normieren. Dieser soll zusammen mit AGON 24 (2002), 20 (20 ff.); Brüner / Spitzer NStZ 2002, 393 (393 ff.); Bendler StV 2003, 133 (133 ff.); Kempf StV 2003, 128 (128 ff.) und Sommer StV 2003, 126 (126 f.) sowie zu Überlegungen den Europäischen Staatsanwalt mit den verwandten Institutionen zur Schaffung eines einheitlichen Strafrechtsraums Eurojust und OLAF zu vereinigen siehe Lecou AGON 24 (2002), 17 (19). 231 ABl. EG 2001 Nr. L 149 / 1. 232 Zur Rechtsqualität und Verbindlichkeit eines solchen Rahmenbeschlusses Schünemann GA 2002, 501 (503). 233 ABl. EG 2000 Nr. C 197 / 3, geregelt werden unter anderem die Vorraussetzungen für gemeinsame Ermittlungsgruppen (Art. 13), verdeckte Ermittlungen (Art. 14) und eine Überwachung der Telekommunikation (Art. 17 ff.); einen kurzen Überblick gibt Schomburg NJW 2001, 801 (802). 234 So ausdrücklich Kaifa-Gbandi KritV 1999, 162 (162); Otto Jura 2000, 98 (99) bezeichnet das Corpus Juris immerhin als wesentlichen Schritt zur Europäisierung des Strafrechts durch sektorielle Regelungen; kritisch demgegenüber Manoledakis KritV 1999, 181 (181). 235 Delmas-Marty (Hrsg.): Corpus Juris der strafrechtlichen Regelungen zum Schutz der finanziellen Interessen der Europäischen Union, Köln, 1998; im Internet ist der Text des Corpus Juris zugänglich unter www.law.uu.nl/wiarda/corpus/index1.htm.
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B. Der Grundsatz des ne bis in idem in Europa
dem Grundsatz des ne bis in idem zur alleinigen Anwendbarkeit des Gemeinschaftsrechts führen236. Ohne dies ausdrücklich zu erwähnen, geht das Corpus Juris vom Prinzip der Verhältnismäßigkeit der Strafe aus, das in den Art. 15 – 17 CJ näher ausgeformt wird. Gem. Art. 17 Abs. 1 CJ soll die Begehung mehrerer im Corpus Juris typisierter Delikte eine Gesamtstrafe nach sich ziehen, „deren Höhe auf der Grundlage des Strafmaßes für die schwerste begangene Tat bestimmt wird und die bis zum Dreifachen dieses Strafmaßes erhöht werden kann. Geregelt ist damit wohl nur der Fall der echten Konkurrenz237, während in allen übrigen Konkurrenzfällen gem. Art. 17 Abs. 3 CJ die bereits für dieselbe Handlung verhängte Sanktion berücksichtigt werden muß. Prozessual sieht das Corpus Juris eine europäische Staatsanwaltschaft in Form einer dezentralisiert strukturierten Behörde der Europäischen Gemeinschaft vor (Art. 18 CJ)238, die autonom in den Hauptverhandlungen vor den nationalen Gerichten auftreten soll (Art. 20 CJ) oder mit dem Beschuldigten gegebenenfalls eine verfahrensbeendigende Verständigung239 treffen kann (Art. 19 Abs. 4 c; 22 Abs. 2 CJ). Art. 19 CJ regelt zwar, daß und wann die nationalen Behörden verpflichtet sind, die Verfahrensleitung auf die nationale Staatsanwaltschaft zu übertragen, detaillierte Konkurrenzregelungen schon im Rahmen des Ermittlungsverfahrens enthält das Corpus Juris dagegen nicht. Soweit bei der Anwendung des Corpus Juris Regelungslücken im formellen und materiellen Recht auftreten, sollen diese gem. Art. 35 CJ nach dem Prinzip der lex fori durch die nationalen Rechte ausgefüllt werden. In Art. 50 der am 7. September 2000 proklamierten Charta der Grundrechte der Europäischen Union wird das Prinzip des ne bis in idem schließlich für das Gebiet der EU festgeschrieben240 und ist damit auf dem besten Weg, ausdrücklich Bestandteil einer europäischen Verfassung zu werden.
236 Kritisch zu dieser von Delmas-Marty, Corpus Juris, S. 47 vertretenen Ansicht mit einem abweichenden Lösungsvorschlag unten E. IV. 2. c) aa); Ebensperger öJZ 1999, 171 (181) bewertet Art. 17 Abs. 2 CJ als eine gewisse Berücksichtigung des Doppelbestrafungsverbots. 237 Zu der daraus resultierenden Gefahr einer Doppelbestrafung vgl. Kaifa-Gbandi KritV 1999, 162 (178). 238 Zu den hieran anknüpfenden Vorschlägen der Kommission auf der Regierungskonferenz über die institutionellen Reformen im Jahr 2000 und des Europäischen Parlaments vom 31. Mai 2001 siehe Dieckmann NStZ 2001, 617 (620). 239 Verfahrensbeendigende Maßnahmen sollen auch Übereinkommen im Sinne einer Absprache sein, die nicht nur zur Einstellung des Verfahrens bzw. zur Zurückziehung der Klage führen, sondern es darüber hinaus ermöglichen, dem Beschuldigten die Wiedergutmachung des Schadens und zusätzlich eine Geldbuße aufzuerlegen (Delmas-Marty, Corpus Juris, S. 52) 240 Zur rechtlichen Bedeutung der Grundrechtscharta siehe Schmitz JZ 2001, 833 (835) und Callies EuZW 2001, 261 (267 f.).
VI. Die groben Entwicklungslinien im Rechtsvergleich
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VI. Die groben Entwicklungslinien in einem rechtsvergleichenden Querschnitt Wenn Schomburg das Verbot der Doppelbestrafung als überall selbstverständlich, aber selbstverständlich überall anders gebraucht qualifiziert, bringt er den Entwicklungsstand dieses Grundsatzes im europäischen Rechtsbereich ganz treffend auf den Punkt241: Historisch ist das Prinzip in allen Rechtsordnungen in der Tat seit langem anerkannt, in seiner Ausprägung ist es aber starken Wandlungen unterworfen. Wurde es in der Antike mit Hilfe von Argumenten der Logik und der Rhetorik begründet, fand es im Mittelalter seine Letztbegründung in Gott, der sein Urteil nicht zweimal fällt, und deutlich erst in der Gegenwart im Menschen, der als frei Denkender und Handelnder begriffen wird. Bereits die vertikale Rechtsvergleichung zeigt somit die subjektiv- und objektiv-rechtliche Ambivalenz dieses Rechtsprinzips. Insgesamt fällt auf, daß es um so stärker eingeschränkt worden ist, je formaler der Strafprozeß in den jeweiligen Systemen organisiert war und je begrenzter die Möglichkeiten der Gerichte waren, das angeklagte Geschehen umfassend und eingehend zu würdigen. Beim Tatbegriff zeigen sich dementsprechend zwei grundsätzliche Strömungen: Einmal das Abstellen auf das tatsächliche äußere Geschehen und zum anderen die Maßgeblichkeit der rechtlichen Einordnung, wobei letztere jeweils Kompensationsmechanismen insbesondere im Bereich der Strafzumessung und Strafvollstrekkung ausgebildet hat. Insgesamt scheint dabei das Verständnis der Tat als Tat im rechtlichen Sinne, als fait légal, – vor allem in Ländern, die den Schwerpunkt des Strafverfahrens in die gerichtliche Hauptverhandlung verlangern, – auf dem Rückzug zu sein. Insbesondere die hierzu vom französischen Code dÍnstruction Criminelle aus dem Jahre 1808 eingeführte Konzeption des Tatbegriffs hat sich, obwohl sie anfänglich auch in anderen Rechtsordnungen rezipiert wurde, nicht durchsetzen können. Die divergierenden Ansichten setzen sich fort, wenn der Blick darauf gerichtet wird, unter welchen rechtlichen bzw. tatsächlichen eine einmal eingetretene (Teil)Rechtskraft durchbrochen werden kann. So ist in Frankreich und dem romanischen Rechtskreis eine Wiederaufnahme zu Ungunsten des Angeklagten in weit größerem Umfang ausgeschlossen ist, als etwa im deutschen Rechtskreis242. Die Bewertung der sich daraus ergebenden Unterschiede im Anwendungsbereich des Grundsatzes des ne bis in idem differiert dabei je nach der Weite des Blickwinkels: Einerseits können äußerlich ähnliche Vorschriften in verschiedenen Rechtsordnungen unterschiedlich ausgelegt und angewandt werden und umgekehrt; andererseits können deren soziale Folgen je nach dem rechtlichen und 241 242
Schomburg NJW 1999, 540 (542). Bohnert / Lagodny NStZ 2000, 636 (639).
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B. Der Grundsatz des ne bis in idem in Europa
gesellschaftlichen Gesamtkontext wiederum gleich oder auch unterschiedlich sein, wobei diese Beurteilung auch von den Anforderungen des Betrachters an die „Wesentlichkeit“ von Ähnlichkeit oder Andersartigkeit abhängt243. Diejenigen Rechtsordnungen, die im Prozeß eine Bestrafung desselben tatsächlichen Geschehens wegen verschiedener Rechtsverletzung zulassen, suchen einen Ausgleich dann spätestens bei der Vollstreckung der verschiedenen Strafen. In der Praxis der einzelnen Systeme hat sich das Prinzip des ne bis in idem im Kriminalstrafrecht am weitestgehenden durchgesetzt. Probleme bestehen im Bereich des Verwaltungsunrechts bzw. des Ordnungswidrigkeitenrechts. Am stärksten ist der Grundsatz in diesem Bereich in den Ländern verwirklicht, die das Verwaltungssanktionenrecht traditionell als gegenüber dem Kriminalstrafrecht weniger schwerwiegendes Sanktionensystem betrachten und infolgedessen in Überschneidungsfällen einen umfassenden materiell- und verfahrensrechtlichen Vorrang des Kriminalstrafrechts normieren. Auch die anderen Länder, die sich teilweise in einem historischen Ringen gegen ein umfassendes Ordnungswidrigkeitenrecht entschieden haben, kennen jedoch punitive Verwaltungssanktionen und versuchen, Überschneidungen mit dem Strafrecht vorwiegend durch Subsidiaritätsregelungen zu vermeiden. Zusätzliche Unterschiede können sich dadurch ergeben, daß verschiedene Sanktionen, wie z. B. Berufsverbote, teilweise als rein präventive Maßnahmen angesehen werden und teilweise als vorwiegend repressive Strafen. Nur ansatzweise Geltung erlangt der Grundsatz des ne bis in idem im Verhältnis von (Kriminal)Strafrecht und berufs- bzw. disziplinarrechtlichen Maßnahmen. Manche lehnen hier seine Anwendbarkeit überhaupt ab und verweisen statt dessen auf Korrekturen im Rahmen von allgemeinen Verhältnismäßigkeitserwägungen. Das internationale Strafrecht der Nationalstaaten ist zunächst geprägt durch die allgemeine Geltung des Territorialitätsprinzips. Dieses wird durch das aktive und / oder passive Personalitätsprinzip, das in den nordischen Ländern über die eigenen Staatsbürger hinaus auch die der Mitgliedstaaten des nordischen Bunds erfaßt, und zum Teil sogar durch ein ansatzweise geltendes Universalprinzip erweitert. Eine Rangfolge oder zumindest eine Dominanz eines dieser Prinzipien läßt sich in der Gesamtschau der internationalen Strafrechte allerdings nicht feststellen. Der Entwicklungsstand des zwischenstaatlichen Grundsatzes des ne bis in idem ist geleitet vom Vertrauen bzw. Mißtrauen244 gegenüber den ausländischen Entscheidungen, in der sich häufig auch das Maß der liberal-toleranten Grundhaltung eines Systems wiederspiegelt. Ein wichtiger Indikator ist zudem die Intensität der Kooperation zwischen den Systemen, wobei eine verstärkte wirtschaftliche Zusammenarbeit häufig am Beginn einer Positivierung auch dieser individualrechtlichen Verbür243 So der Kommentar von Weigend ZStW 105 (1993), 774 (787) zu den unterschiedlichen Beurteilungen der von ihm untersuchten Frage, an welchen Stellen das Strafrecht der europäischen Nationalstaaten in der jeweiligen nationalen Kultur verwurzelt ist. 244 Siehe auch die entsprechende Einschätzung von Schermers, Liber amicorum Pierre Pescatore, S. 601 (608).
VI. Die groben Entwicklungslinien im Rechtsvergleich
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gung steht. Einen großen Einbruch hat in diesem Bereich insbesondere der zweite Weltkrieg mit seinen faschistischen Unrechtsregimen bewirkt. Vor allem seit den Revolutionen von 1989 / 90 mit dem Zerfall der kommunistischen Systeme deuten sich in Gestalt der Integration dieser Staaten in die Wirtschafts- und Werteordnung des Europarates und der Europäischen Union Entwicklungen an245, die zu einer Ausdehnung des Grundsatzes auf das Gesamtgebiet des geographischen Europas führen können. Dort, wo der Grundsatz des ne bis in idem zwischenstaatlich für bestimmte Bereiche auf unterschiedlichen Ebenen durch eine Vielzahl von Regelungen mit jeweils wiederum unterschiedlichem Geltungs- und Anwendungsbereich normiert ist, führt die vorhandene Gemengelage zu erheblichen Anwendungsschwierigkeiten in der Rechtspraxis, so daß eine Vereinheitlichung dringend notwendig ist246. Ausgehend von einem immer deutlicher empfundenen Schutzbedürfnis eigener, supranationaler Rechtsgüter erweist sich die EG / EU im materiellen Recht wie auch im Verfahrensrecht als Motor der Vereinheitlichung der nationalen Strafrechte. Den dargestellten heutigen Konzeptionen des Prinzips des ne bis in idem gemein ist das Verständnis des Verbots mehrfacher Strafverfolgung als Ausdruck der Freiheit des Einzelnen einerseits – oder zumindest negativ formuliert als Begrenzung der staatlichen Sanktionsmacht gegenüber dem Einzelnen – und der Rechtskraft des Urteils als Gewährleistungsinstrument von Rechtssicherheit und sozialem Frieden andererseits. Als Grundkonzept einer solchen einheitlichen Regelung erscheint das eingangs ausgearbeitete Verständnis des Grundsatzes des ne bis idem als Forderung systemorganisierter Freiheit daher durchaus tragfähig. In diesem Sinne kann und darf man die europäischen Staaten, weil ihre prägende Struktur in der Organisation von Freiheit liegt, als Rechtsstaaten247 im traditionellen 248 Sinne 245 Vergleiche nur die Daten der Ratifikationen der EU / EPZ-Konventionen seitens der mittel- und osteuropäischen Staaten, dargestellt etwa bei Schomburg NJW 1999, 550 (551 f.). 246 Dazu das Beispiel des Auslieferungsrechts bei Zieschang ZStW 113 (2001), 255 (267 f.); Schomburg NJW 1999, 550 (550) beklagt zudem eine teilweise katastrophale Publikationspolitik: „Es muß langsam als Skandal bezeichnet werden, daß die für die Publikation Verantwortlichen meinen, das geltende Recht als Herrschaftswissen für sich behalten zu sollen.“ 247 Die Wortschöpfung des Rechtsstaats entstammt dem deutschen Rechtsraum und findet in anderen Sprachen kaum eine Entsprechung: Der angelsächsische Begriff der „rule of law“ etwa kann nicht inhaltlich parallel verstanden werden und auch die französische Rechtsterminologie kennt keine entsprechende Begriffsbildung; vgl. hierzu Böckenförde, FS f. Arndt, S. 53 (54). 248 Dies gilt zunächst für den Rechtsstaatsbegriff des vom Vernunftrecht geprägten Staatsdenkens des deutschen Frühliberalismus (siehe dazu Böckenförde, FS f. Arndt, S. 53 [56 f.] mit Bezügen zu den verschiedenen rechtsphilosophischen Hintergründen), der im 19. Jahrhundert auf ein sog. formelles Rechtsstaatsprinzip reduziert wurde (vgl. Böckenförde, FS f. Arndt, S. 53 [59 f.], Bleckmann JöR 1987, 1 [6 ff.]). In der heutigen Fortbildung des Rechtsstaatsbegriffs in Richtung auf einen sog. materiellen Rechtsstaatsbegriff ist das Moment der Freiheitsorganisation wieder stärker enthalten, wenngleich es durch das Bestreben, einen
7 Mansdörfer
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B. Der Grundsatz des ne bis in idem in Europa
verstehen. Wer sich daher bei einer Begründung des Grundsatzes des ne bis in idem auf das Rechtsstaatsprinzip beruft249, nennt damit – direkt oder indirekt – ein Hauptelement, das unsere Gesellschaft als eine Organisation individueller Freiheiten charakterisiert. Gleiches gilt, wenn in manch anderen europäischen Staaten auf das Proportionalitätsprinzip Bezug genommen wird und auch historisch, wenn man in dem Prinzip des ne bis in idem eine Forderung der Logik wegen des nur einmal möglichen Ausgleichs von Unrecht sieht.
materiell gerechten Rechtszustand zu verbürgen, relativiert wird, vgl. Böckenförde, FS f. Arndt, S. 53 (72 ff.), Bleckmann JöR 1987, 1 (5 f.). 249 Vergleiche etwa Rüping in: Dolzer / Vogel / Grasshof (Hrsg.), Bonner Kommentar, Art. 103 Rn. 8 oder das Maßnahmenprogramm zur Umsetzung des Grundsatzes der gegenseitigen Anerkennung gerichtlicher Entscheidungen in Strafsachen des Rates und der Kommission ABl. EG Nr. C 12 vom 15. Januar 2001.
C. Systemintern wirkendes Prinzip des ne bis in idem im europäischen Strafrecht Die Suche nach einem systemintern wirkenden Grundsatz des ne bis in idem im europäischen Strafrecht mag zunächst verwundern. Schließlich ist der Grundsatz des ne bis in idem, wie die Ausführungen zu den nationalen Rechten gezeigt haben, stark normgeprägt und insoweit in seiner jeweiligen spezifischen Ausformung Spiegelbild der nationalen Rechtsordnungen. Gerade die Europäische Menschenrechtskonvention hat in den gut 50 Jahren ihres Bestehens jedoch den Rang einer „Bill of Rights“ für den gesamten europäischen Kontinent erworben und wird von manchen sogar als eine „europäische Teilverfassung“, die einen europäischen Grundrechtsfreiraum geschaffen hat, verstanden1. Dies liegt auch an der Einrichtung unabhängiger judizieller Organe, die die Einhaltung der Konvention überprüfen2, und der bindenden Wirkung von Urteilen des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte, welcher über den Einzelfall hinaus die Regeln der Konvention zu klären und weiterzuentwickeln sucht3.
I. Umfassender Grundsatz des ne bis in idem aus den Vorschriften der EMRK in der Fassung vom 4. November 1950? Eine ausdrückliche Regelung des Grundsatezs des ne bis in idem findet sich in Art. 4 7. ZPEMRK. Die Frage, ob sich nicht schon aus dem ursprünglichen Text 1 So bereits die Einschätzung von Frowein, FS f. A. Maihofer, S. 149 (149, 152) und aus jüngerer Zeit Krüger / Polakiewcz EuGRZ 2001, 92 (94); Uerpmann JZ 2001, 565 (570 ff.); Esser, Europäisches Strafverfahrensrecht, S. 817 ff.; zu den gegenwärtigen Entwicklungstendenzen Wildhaber EuGRZ 2002, 569 (570 ff.). 2 Angesprochen sind damit die Europäische Kommission für Menschenrechte (EKMR) und der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR); zum historischen Ringen um deren Errichtung und dem dadurch bedingten Nebeneinander sowie der Abschaffung der EKMR durch das 11. Zusatzprotokoll siehe Walter in: Ehlers, Europäische Grundrechte, § 1 Rn. 7 ff. 3 Entsprechend sind die Ausführungen des EGMR zu seinem Selbstverständnis in der Entscheidung Irland gegen Vereinigtes Königreich vom 18. Januar 1978 sowie die Beurteilungen von Frowein, FS f. A. Maihofer, S. 149 (152) und Chryssogonos EuR 2001, 49 (54); zur anfangs gleichwohl schleppenden Rezeption der Urteile des EGMR durch die deutsche Rechtsprechung siehe Sommer StraFo 2002, 309 (309 ff.); zum erheblichen Einfluß der Rechtsprechung des EGMR – insbesondere seit dem Human Rights Act 1998 – auf das englische Strafrecht siehe Simester / Sullivan, Criminal Law, § 2.5.
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C. Systemintern wirkendes Prinzip des ne bis in idem
der EMRK gleichwohl eine eigenständige Regelung dieses Prinzips ableiten läßt, hat deshalb an Bedeutung eingebüßt und soll entsprechend kurz abgehandelt werden4. Von praktischem Interesse bleibt die Thematik freilich noch insofern, als das 7. ZPEMRK bislang nicht für alle Mitgliedstaaten der EMRK Geltung erlangt hat und bestimmte Fälle, wie etwa den mehrfacher Anhängigkeit derselben Sache, nicht erfaßt5. Da die einführenden, rechtsvergleichenden Ausführungen gezeigt haben, daß der Grundsatz des ne bis in idem in allen Rechtsordnungen anerkannt ist und die Rechtsprechung dort, wo er nicht ausdrücklich normiert wurde, hinreichend Anknüpfungspunkte gefunden hat, um das Prinzip des ne bis in idem aus verwandten Bestimmungen abzuleiten, scheint dieses Unterfangen zudem auf den ersten Blick nicht aussichtslos6. 1. Begründungsversuche aus Art. 3 und 6 EMRK Als Anknüpfungspunkte für ein bereits im Ursprungstext der EMRK vom 4. November 1950 zu findendes Prinzip des ne bis in idem wurden bisher vor allem die Art. 3 und 6 EMRK diskutiert: Teilweise wird vorgebracht, eine mehrmalige Verfolgung wegen derselben Tat stelle einen Akt der Willkür dar und verstoße deshalb gegen das Verbot unmenschlicher oder erniedrigender Strafen in Art. 3 EMRK7. Jedes Strafverfahren würde Schwierigkeiten, Unannehmlichkeiten und Demütigungen mit sich bringen, die unmittelbar die Würde und Ehre des Angeklagten berührten. Dieser würde dazu gezwungen, sich zweimal vor aller Öffentlichkeit, die vielfach die Zusammenhänge der mehrfachen Verfahren nicht kenne, zu verantworten. Teilweise wird ergänzend noch auf Art. 27 EMRK hingewiesen, wonach die Kommission sich nicht mit einem Gesuch beschäftigt, das bereits zuvor einmal von einer internationalen Instanz geprüft worden ist, und also auch dort von der Einmaligkeit von Verfahren ausgehe8. Soweit dieser Ansatz in der (deutschen) Rechtsprechung und Literatur 4 Zum Stand der Diskussion siehe Stenger S. 198, 208 f.; Stavros S. 296 ff.; Schorn JR 1964, 205 (206) sowie aus der deutschen Rechtsprechung BGH NJW 1969, 1542 (1542); OLG Karlsruhe NJW 1988, 1476 (1476); OLG Hamm NJW 1966, 165 (166). 5 Der jeweils aktuelle Geltungsbereich des 7. ZPEMRK findet sich im Internet unter der Adresse www.conventions.coe.int/treaty/EN/cadreprincipal.htm; ähnlich Specht S. 49, die die besondere Bedeutung einer derart verankerten Gewährleistung des Grundsatzes des ne bis in idem auch darin sieht, daß dieser neben der „engen Regelung“ des Art. 4 7. ZPEMRK „weitergehend“ ausgelegt werden könnte, dabei aber die Einschränkung des Art. 4 Abs. 2 7. ZPEMRK überschätzt. 6 In der Schweiz wird das Prinzip beispielsweise aus Art. 4 BV oder in Spanien aus Art. 25 der Verfassung, der inhaltlich im Wesentlichen Art. 7 EMRK entspricht, hergeleitet. 7 So Stenger S. 209 (beschränkt auf ein systemintern wirkendes Prinzip des ne bis in idem) und umfassend Schorn JR 1964, 205 (206). 8 Schorn JR 1964, 205 (206).
I. Umfassender Grundsatz des ne bis in idem aus den Vorschriften der EMRK
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diskutiert worden ist, wurde er mit Recht weitgehend verworfen9. Die bloße Verfahrensvorschrift des Art. 27 EMRK an sich besagt nichts über das Verhältnis mehrfacher Strafverfahren zueinander und ein wiederholtes rechtsstaatliches Verfahren ist nicht per se erniedrigend. Andere versuchen, das Prinzip des ne bis in idem aus dem in Art. 6 EMRK enthaltenen Grundsatz des fairen Verfahrens (fair and public hearing) abzuleiten10. Aus einer systematisch teleologischen Auslegung, die zudem durch die Praxis der dynamischen Auslegung seitens des EGMR gestützt werde, könne gefolgert werden, daß Art. 6 Abs. 1 EMRK alle Voraussetzungen eines rechtsstaatlichen Verfahrens gewährleiste, zu denen auch die Umsetzung des Prinzips der Rechtskraft im Sinne des Grundsatzes des ne bis in idem gehöre11. Die Konventionsorgane haben diese Auffassung soweit ersichtlich bisher nicht ausdrücklich abgelehnt und nur insoweit Stellung genommen, als Beschwerden, die sich gestützt auf Art. 6 EMRK gegen eine mehrfache Strafverfolgung in verschiedenen Staaten gewandt haben, für mit dem Gegenstand der Konvention (ratione materiae) unvereinbar erklärt haben12. 2. Kritik dieser Ansätze Bevor insbesondere auf letztere Auffassung eingegangen wird, soll gleich zu Beginn nochmals auf einen grundlegenden Unterschied der EMRK gegenüber nationalstaatlichen Verfassungen hingewiesen werden. Die EMRK wurde von Beginn an als Teilverfassung konzipiert, wollte die Menschenrechte zunächst also nur in einem begrenzten Umfang verbürgen und wurde im Laufe der Zeit durch die verschiedenen Zusatzprotokolle und die dynamische Rechtsprechung des EGMR inhaltlich erweitert und den geänderten gesellschaftlichen Rahmenbedingungen angepaßt. Maßgebend ist daher, ob sich bereits aus diesen Teilverbürgungen der EMRK Pflichten ableiten lassen, die zwingend die Geltung des Grundsatzes des ne bis in idem erfordern bzw. ob sich überhaupt Vorgaben darüber finden lassen, wie 9 Offengelassen noch von OLG Hamm NJW 1966, 165 (166), da im zu entscheidenden Fall die Strafe insgesamt für verhältnismäßig erachtet wurde; ablehnend BGH NJW 1969, 1542 (1542) und OLG Karlsruhe NJW 1988, 1476 (1476); ein zwischenstaatliches Prinzip des ne bis in idem ablehnend auch Stenger S. 208 f.; insgesamt ablehnend auch Specht S. 53 f. und Mayer S. 49 f. 10 Stavros S. 296 ff. 11 Specht S. 49 f.; im Ansatz ähnlich bereits Mayer S. 48 f., 64 f. 12 So auch Stavros S. 296; siehe zudem die ablehnenden Entscheidungen der EKMR bezüglich der Beschwerden 4212 / 69 (Collection of Decisions 35, 151 [154]) und 9433 / 81 (D.R. 27, 233 [235]) als offensichtlich unbegründet sowie die Ablehnung der (einen zwischenstaatlich wirkenden Grundsatz des ne bis in idem einfordernden) Beschwerden 1519 / 62 (Yearbook 6, 346 [348]), 7680 / 76 (D.R. 9, 190 [191 f.]), 8945 / 80 (D.R. 39, 43 [47]) und 21072 / 92 (D.R. 80, 89 [93]) als mit der Konvention ratione materiae unvereinbar; gegen die Ableitung des Prinzips des ne bis in idem aus Art. 6 EMRK auch Generalanwalt Mayras in Boehringer II EuGH Slg. 1972, 1281 (1299).
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C. Systemintern wirkendes Prinzip des ne bis in idem
die Individualfreiheiten im Fall von Verstößen gegen die nationale Ordnung zu organisieren sind und wie weit diese reichen. Dabei bieten sich neben dem allgemeinen Bekenntnis zur Rechtsstaatlichkeit in der Präambel der EMRK in erster Linie Art. 5 EMRK mit dem Recht auf Freiheit und Sicherheit, möglicherweise auch Art. 6 EMRK mit der Verbürgung eines fairen Verfahrens und entsprechend den rechtsvergleichenden Betrachtungen eventuell sogar Art. 7 EMRK mit dem Verbot einer höheren als der angedrohten Strafe an: Das Bekenntnis zur Rechtsstaatlichkeit in der Präambel der EMRK für sich scheidet als selbständiger Anknüpfungspunkt für ein zwischenstaatlich wirkendes Prinzip des ne bis in idem aus, da Präambelerwägungen keine Rechtssätze begründen, sondern nur als unselbständige Auslegungshilfen für Regelungen dienen, die an anderer Stelle normiert sind13. Art. 6 EMRK enthält Verfahrensgarantien, räumt dem Individuum also bestimmte Verfahrensrechte ein und verpflichtet den Souverän zugleich zu einer bestimmten Organisation dieser Verfahren14. Konzediert man der oben aufgeführten Auffassung, daß Art. 6 EMRK aus systematisch-teleologischen Erwägungen umfassend zu verstehen ist und alle Voraussetzungen eines rechtsstaatlichen Verfahrens garantiert, so läßt sich leicht einsehen, daß bestimmten Urteilen auch eine Endgültigkeit inne wohnen muß, die ein Nachverfahren verbietet. Aus dieser Begründung ergibt sich zugleich die Grenze der aus Art. 6 EMRK zu folgernden Forderungen15: Wenn und weil Art. 6 EMRK nur Vorschriften über den Ablauf und die Gestaltung bestimmter Verfahren enthält, kann er nicht herangezogen werden zur gegenseitigen Begrenzung verschiedener Verfahren und zur Gestaltung des staatlichen Sanktionssystems insgesamt. Wenn wie hier der Grundsatz des ne bis in idem weitergehend aus den Anforderungen abgeleitet wird, die sich an ein System ergeben, das eine bestimmte Menge von Individuen in einer möglichst freiheitlichen Ordnung zu organisieren hat, so zeigt dies gerade den Unterschied deutlich, der zwischen der Forderung materieller Rechtskraft und dem Grundsatz des ne bis in idem besteht16. Die Rechtskraft bestimmt, in welchem Umfang ein Verfahren Schmitz JZ 2001, 833 (836) m.w.N. Gollwitzer in: Rieß (Hrsg.), Löwe-Rosenberg, Strafprozessordnung, Art. 6 EMRK Rn. 1. 15 Ähnlich Delmas-Marty, Corpus Juris, S. 71, wonach Art. 6 EMRK zwar beispielhaft für die Rechte des Angeklagten, die in einem einheitlichen europäischen Rechtsraum gesichert sein sollten, stehe ( . . . ), aber dennoch nicht alle dem Strafprozeß innewohnenden Probleme löse. 16 Eine zwischen verschiedenen Verstößen gegen das Prinzip des ne bis in idem differenzierende Auffassung deutet auch die EKMR in der Beschwerde 9433 / 81 (D.R. 27, 233 [235]) an: „even assuming that a violation of this principle (gemeint ist das Prinzip des ne bis in idem) could under specific circumstances interfere with the right to „fair trial“ enshrined in Article 6 of the Convention . . .“; ähnlich bereits die EKMR in der Beschwerde 2412 / 69 (Collection of Decisions 35, 151 [154]): „whereas this principle, however, is not as such included amongst the rights and freedoms set forth by the Convention but there might be the question whether it might not be considered under Art. 6 (1) of the Convention which guarantees to everyone a fair trial“. 13 14
II. Verbot der Doppelbestrafung in Art. 4 des 7. Zusatzprotokolls zur EMRK
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abgeschlossen ist, der Grundsatz des ne bis in idem bestimmt, daß ein Individuum wegen einer strafwürdigen Tat nur einmal verfolgt werden darf. Wollte man den Grundsatz des ne bis in idem aus den Vorschriften der EMRK vom 4. November 1950 begründen, ließe sich überdies – ähnlich der Rechtsprechung des spanischen Verfassungsgerichts zu Art. 25 der spanischen Verfassung – Art. 7 Abs. 1 S. 2 EMRK heranziehen. Wie Art. 25 der spanischen Verfassung enthält er das Gebot, daß gegen den Täter keine höhere als die im Zeitpunkt der Tatbegehung angedrohte Strafe verhängt werden darf. Über die Kritik von Bacigalupo hinaus, daß dieser Ansatz nur durch ein teilweises Aufweichen der Elemente des Gesetzlichkeitsprinzips möglich wäre, fällt hier erschwerend der Umstand ins Gewicht, daß die EMRK eben nur eine Teilverfassung darstellt und nicht nur eine dogmatische Verortung des Doppelbestrafungsverbots notwendig ist, sondern dessen Begründung. Die systematische Einordnung des Doppelbestrafungsverbots als allgemeiner Grundsatz der Rechtsstaatlichkeit17 verlangt Belege, daß gerade dieser, zudem noch organisatorische Teil des Rechtsstaatsprinzips in der EMRK verankert werden sollte. Art. 7 EMRK als solcher bringt diesen Beleg nicht. Zuletzt läßt sich auch aus Art. 5 EMRK18 kein allgemein geltendes Prinzip des ne bis in idem ableiten. Denn entgegen dem Wortlaut mißt die herrschende Meinung dem Begriff der Sicherheit in Art. 5 EMRK neben dem der Freiheit keine eigenständige Bedeutung zu. Er bringt demnach lediglich in genereller Form die in Abs. 2 bis 4 gewährleisteten Habeas-Corpus-Rechte zum Ausdruck und nicht einen individuellen Anspruch auf Rechtssicherheit19.
II. Verbot der Doppelbestrafung in Art. 4 des 7. Zusatzprotokolls zur EMRK Aufgrund der Schwierigkeiten, ein Verbot der Doppelbestrafung aus dem ursprünglichen Text der europäischen Menschenrechtskonvention herzuleiten, wurde im Rahmen einer Revision zur Fortentwicklung des von der EMRK gewährleisteten Menschenrechtsstandards im November 1984 nach dem Vorbild des Art. 14 17 Gollwitzer in: Rieß (Hrsg.), Löwe-Rosenberg, Strafprozessordnung, Art. 6 EMRK Rn. 274; Schomburg NJW 2000, 1833 (1840); in diesem Sinne die Entschließung des Europäischen Parlaments vom 16. März 1984 abgedruckt in EuGRZ 1984, 355. 18 Art. 5 Abs. 1 EMRK: „Jede Person hat das Recht auf Freiheit und Sicherheit. Die Freiheit darf nur in den folgenden Fällen und nur auf die gesetzlich vorgeschriebene Weise eingeschränkt werden: (. . . )“ 19 EGMR vom 8. Juni 1976 Fall Engel u. a. gegen die Niederlande; Gollwitzer in: Rieß (Hrsg.), Löwe-Rosenberg, Strafprozeßordnung, Art. 5 EMRK Rn. 1; Herzog AöR 86 (1961), 194 (200 ff.), der aber einräumt, daß sich die Gegenauffassung immerhin auf die französische Verfassung vom 24. Juni 1793 berufen kann, die in ihrem Art. 8 definiert: „La sûreté consiste dans la protection, accordée par la société à chacun de ses membres pour la conservation de sa personne, de ses droits et de ses propriétés“; für den insoweit gleichlautenden Art. 6 der EU-Grundrechtscharta siehe auch Schmitz JZ 2001, 833 (837).
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C. Systemintern wirkendes Prinzip des ne bis in idem
Abs. 7 IPBR in Art. 4 Abs. 1 des 7. Zusatzprotokolls folgende ausdrückliche Regelung eingeführt20: Niemand darf wegen einer strafbaren Handlung (engl.: offence, frz.: infraction), wegen der er bereits nach dem Gesetz und dem Strafverfahrensrecht eines Staates rechtskräftig (engl.: finally, frz.: par un jugement définitif) verurteilt oder freigesprochen worden ist, in einem Strafverfahren desselben Staates erneut vor Gericht gestellt, verfolgt oder bestraft (engl.: shall not be liable to be tried or punished, frz.: poursuivi ou puni pénalement) werden.
1. Grundsätzliche Bedeutung der Vorschrift Obgleich ähnliche Vorschriften (ausdrücklich oder aufgrund richterlicher Rechtsfortbildung) auch in den verschiedenen nationalen Rechtsordnungen zu finden sind, ist Art. 4 7. ZPEMRK eine praktisch wie theoretisch bedeutsame Regelung. Mit Art. 4 7. ZPEMRK wurde nämlich eine unmittelbar nur systemintern wirkende Regelung des Prinzips des ne bis in idem geschaffen, an der sich die Entscheidungen verschiedener Nationalstaaten messen lassen müssen und die deshalb nicht nur auf ein System bezogen, sondern generell funktionieren muß21.
2. Inhaltlicher Umfang der Vorschrift Die Auslegung der Vorschrift richtet sich im folgenden nach den Art. 31 – 33 des Wiener Auslegungsübereinkommens22 und dem Grundsatz der dynamischen Auslegung der EMRK23. Es soll daher eine Interpretation im Sinne des Zieles und des Zweckes der Konvention unter Berücksichtigung des systematischen Zusammenhangs der Regelung sowie unter ergänzender Heranziehung des explanatory 20 Die authentischen Sprachen der Konvention sind englisch und französisch, weshalb bei der folgenden deutschen Fassung an den zweifelhaften Stellen in Klammern der Originalwortlaut mitgeteilt wird. 21 Deutlich wurde dies bereits bei den ersten hierzu ergangenen Entscheidungen des EGMR in den Fällen Gradinger gegen Österreich vom 23. Oktober 1995, und Oliveira gegen die Schweiz vom 30. Juli 1998 und die Entscheidung der EKMR im Fall Marte / Achberger gegen Österreich vom 9. April 1997, alle näher dargestellt und besprochen von Ackermann / Ebensperger AJP 1999, 823 (823 ff.); die zitierten Entscheidungen des EGMR finden sich außer an den angegebenen Stellen auch im Internet unter http://www.echr.coe.int/Eng/ Judgments.htm. 22 Abgedr. bei Schomburg / Lagodny, Internationale Rechtshilfe, Anhang 12; zur genau genommen nur entsprechenden Anwendung des Wiener Auslegungsübereinkommens siehe Matscher, Methods of Interpretation, S. 63 (65). 23 Zum Hintergrund des Prinzips der dynamischen Auslegung siehe Gollwitzer in: Rieß (Hrsg.), Löwe-Rosenberg, Strafprozessordnung, EMRK Präambel Rn. 6 und Matscher, Methods of Interpretation, S. 63 (65, 68 ff.); Ehlers in: ders. (Hrsg.), Europäische Grundrechte, § 2 Rn. 31.; Peters, Europäische Menschenrechtskonvention, S. 18 ff.
II. Verbot der Doppelbestrafung in Art. 4 des 7. Zusatzprotokolls zur EMRK
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reports und der zu der Vorschrift bereits ergangenen Entscheidungen der Konventionsorgane in den Vordergrund gestellt werden24. Vom methodischen Grundansatz soll dabei von der für die Freiheitsrechte der EMRK allgemein entwickelten Systematik ausgegangen und zwischen dem Schutzbereich des Freiheitsrechts, dem Eingriff in dieses Recht und der Rechtfertigung des Eingriffes unterschieden werden25. Vom deutschen Vorverständnis her mag dies zwar angesichts Art. 103 Abs. 3 GG als einem absolut gefassten Verbot zwar exzeptionell erscheinen. Vor dem Hintergrund der EMRK wird jedoch nur die allgemeine Menschenrechtsdogmatik der EMRK konsequent auch auf das Justizgrundrecht des Art. 4 7. ZPEMRK angewandt. a) Einbahnig autonomes Verständnis des Begriffs der „strafbaren Handlung“ und des „Strafverfahrens“ Erhebliche Auslegungsprobleme wirft bereits der Begriff der strafbaren Handlung und des Strafverfahrens auf. Art. 4 7. ZPEMRK stellt im Unterschied zu den meisten anderen Menschenrechten nicht ein einen bestimmten Lebensbereich absicherndes Menschenrecht dar, vielmehr nimmt er in seiner Funktion als justizbezogenes Abwehrrecht Bezug auf eine bestimmte Verfahrenssituation, genauer auf das Individuum, das bereits Ziel einer koordinierten staatlichen Reaktion auf eine strafbare Handlung (engl.: offence; frz.: infraction) ist. Welches genau diese Handlungen und ihre korrespondierenden staatlichen Reaktionen sind, bedarf zunächst einer genaueren Bestimmung und Eingrenzung. Zieht man dabei in Betracht, daß die EMRK einen generellen Mindeststandard für alle Vertragsstaaten festlegen will, kann die formale Ausgestaltung und Bezeichnung des Verfahrens in den Einzelstaaten – an die der EGMR in der Gradinger Entscheidung zunächst anknüpfen will26 – und die Verteilung der Sanktionsmacht auf verschiedene Träger öffentlicher Gewalt nicht das alleinige Entscheidungskriterium sein. In Zweifelsfällen wird gerade die Richtigkeit dieser Einordnung und Bewertung einer Norm innerhalb des jeweiligen Systems kritisch zu hinterfragen sein27. Bedeutung entfaltet dieses Kriterium daher nur insoweit, als
24 Zu der nur sehr begrenzten Aussagekraft der grammatikalischen und historischen Interpretationsansätze bereits Herzog AöR 86 (1961), 194 (196 ff.); zur geringen Bedeutung des explanatory reports bei der praktischen Auslegung der EMRK siehe auch Matscher, Methods of Interpretation, S. 63 (66). 25 Zur Dogmatik der Einschränkbarkeit von EMRK-Freiheitsrechten siehe nur Peters, Europäische Menschenrechtskonvention, S. 21 ff., die darauf verweist, daß diese Dogmatik bisher insbesondere an den Art. 8 – 11 EMRK einheitlich entwickelt wurde. 26 EGMR Gradinger gegen Österreich vom 23. Oktober 1995, Ziff. 35; ausführlich zum Begriff des Strafverfahrens Esser, Europäisches Strafverfahrensrecht, S. 51 ff. [insb. S. 56 ff.]). 27 So zum Beispiel im Fall Öztürk gegen Deutschland, EGMR vom 21. Februar 1984, Ziff. 46 ff. bezüglich der Einordnung des deutschen Ordnungswidrigkeitenrechts als Straf-
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solche Sanktionen und Verfahren, die die jeweilige nationale Rechtsordnung selbst als strafrechtlich im engeren Sinne bezeichnet, in diesem Punkt einer weiteren Diskussion enthoben sind. Art. 4 7. ZPEMRK verwendet die Begriffe „offence“, çriminal proceeding“ und „penal procedure“ im Gesetzestext parallel, wobei im Explanatory Report festgestellt wird, daß es im Hinblick auf den Kontext nicht für notwendig erachtet wurde, den Begriff der „offence“ als çriminal offence“ zu spezifizieren28. Der Begriff der çriminal offence“ wird an den verschiedenen Stellen der Konvention jeweils umfassend als Verstoß gegen ein mit einer Sanktion bewährtes Verhaltensgebot verstanden und erfaßt daher auch solche Handlungen, die mit Rechtsfolgen unterhalb der Schwelle der Freiheitsstrafe bedroht sind29. Allein mit Hinblick auf die Art und die Schwere der angedrohten Rechtsfolgen – die in der Literatur zum Teil als entscheidendes30 und vom EGMR in der Gradinger Entscheidung als weiteres Indiz herangezogen werden31 – läßt sich der Umfang des hier verliehenen Abwehrrechts also ebenfalls nicht bestimmen. Auch das Kriterium der „very nature of the offence“ bzw. der „Art der Zuwiderhandlung“, auf das der EGMR in der Gradinger Entscheidung zuletzt abstellt32, vermag nur bedingt zu überzeugen. Zu der Frage, wie die „wahre Natur des Verrecht im Sinne von Art. 6 Abs. 3e EMRK, im Fall Engel u. a. gegen die Niederlande vom 8. Juni 1976, Ziff. 82 (EuGRZ 1976, 221 [232]) bezüglich der entsprechenden Einordnung wehrdisziplinarrechtlicher Maßnahmen und neuerdings im Fall J. B. gegen die Schweiz vom 3. Mai 2001, Ziff. 47 (NJW 2002, 499 [500]) und deutlich auch im Fall Göktan gegen Frankreich vom 2. Juli 2002, Nr. 33402 / 96, Ziff. 48; im Ergebnis ebenso Hübner S. 94 f.: Kriterium von „nur relativer Bedeutung“. 28 Explanatory Report zum 7. ZPEMRK abgedruckt in HRLJ 1985, 80 (86, Rn. 28); von einer näheren Untersuchung der „travaux préparatoires“ wurde aufgrund ihrer in der Praxis äußerst geringen Bedeutung (vgl. dazu Trechsel ZStW 101 [1989], 819 [829]) abgesehen. 29 Der Begriff wird außer in Art. 4 7. ZPEMRK etwa auch noch in Art. 6, 7 EMRK und Art. 2, 3 4. ZPEMRK verwendet, wobei Art. 2 Abs. 2 7. ZPEMRK für „offences of minor character“ ausdrückliche Sonderregelungen enthält; nach dem Explanatory Report zum 7. ZPEMRK (siehe HRLJ 1985, 80 [85, Rn. 21]) soll die Androhung von Freiheitsstrafe eine strafbare Handlung vielmehr bereits aus dem Bereich der minor offences herausheben; zu teilweise divergierenden Entscheidungen des EGMR im Bereich geringer Geldstrafen (150 A – 300 A) siehe Hübner S. 97 m.w.N. und Esser, Europäisches Strafverfahrensrecht, S. 64 ff. m.w.N.; dagegen betont der EGMR neuerdings wieder, der Begriff dürfe an den verschiedenen Stellen der Konvention nicht unterschiedlich verstanden werden, EGMR im Fall Göktan gegen Frankreich vom 2. Juli 2002, Nr. 33402 / 96, Ziff. 48. 30 So explizit Jung EuGRZ 1996, 370 (371) der von einer folgenorientierten Position aus fragt, welche Auswirkungen eine Entscheidung hat und ob es im Hinblick auf diese Auswirkungen angemessen erscheint, besonders strenge, nämlich die strafrechtlichen Rechtsschutzgarantien zur Anwendung kommen zu lassen. 31 EGMR Gradinger gegen Österreich vom 23. Oktober 1995, Nr. 33 / 1994 / 480 / 562, Ziff. 35; zu den Entwicklungen in der Rechtsprechung des EGMR siehe Esser, Europäisches Strafverfahrensrecht, S. 57. 32 EGMR Gradinger gegen Österreich vom 23. Oktober 1995, Nr. 33 / 1994 / 480 / 562, Ziff. 35 mit Verweis u. a. auf die Entscheidung Öztürk gegen Deutschland.
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stoßes“ konkret beschaffen sein muß, äußert sich der EGMR nicht näher33. Soll hiermit, wie es der Wortlaut nahe legt, ein eigenständiger, naturrechtlicher Maßstab gemeint sein, so schweigt sich der Gerichtshof – abgesehen von der generellen Frage nach Inhalt und Möglichkeit von Naturrecht – zu dessen näheren Gehalt gänzlich aus. Soll dagegen entsprechend den Ausführungen in verschiedenen Urteilen des EGMR zu Art. 6 EMRK der gemeinsame Nenner der strafrechtlichen Gesetzgebung in den Unterzeichnerstaaten gemeint sein, so führt dieses Kriterium nicht wesentlich weiter als das der formalen Anknüpfung an die Bezeichnung im jeweils angeklagten Staat. Bestimmt man die „wahre Natur“ des Verstoßes wie vom EGMR zum Teil praktiziert dagegen nach den in der jeweiligen Rechtsordnung abstrakt vorgesehen Rechtsfolgen34, bleibt von ihr nicht mehr als eine Wiederholung des vorgenannten Kriteriums35. Es liegt zwar nahe, die Natur des Verstoßes in dem Bezug des Verhaltens zur jeweiligen öffentlichen Verhaltensordnung und in der Qualifikation eines Verhaltens als derart verboten zu sehen, daß auf ein Zuwiderhandeln von Seiten der Träger hoheitlicher Gewalt entsprechend einer vorherigen, bestimmten Ankündigung mit nicht nur unerheblichen Freiheitsbeschränkungen reagiert wird36. Will man den bereits angedeuteten Schwierigkeiten, die dieses Kriterium in sich trägt, entgegenwirken, läßt sich ergänzend eine funktionale Betrachtung dahingehend einführen, daß die Sanktionswirkung – bei objektiver Betrachtung37 – gerade der Hauptzweck der staatlichen Reaktion sein muß38. Mit çriminal proceeding“ und „penal procedure“ wären entsprechend die auf die Verwirklichung der Strafdrohung abzielenden Verfahren gemeint.
33 Siehe die Fälle Öztürk gegen Deutschland vom 21. Februar 1984, Ziff. 53 ff. und Engel u. a. gegen die Niederlande vom 8. Juni 1976, Ziff. 82 (EuGRZ 1976, 221 [232]). 34 Siehe die Fälle Öztürk gegen Deutschland vom 21. Februar 1984, Ziff. 53 ff. und Engel u. a. gegen die Niederlande vom 8. Juni 1976, Ziff. 82 (EuGRZ 1976, 221 [232]). 35 So entschied auch der EGMR im Fall Lutz gegen Deutschland vom 25. August 1987, Ziff. 55 (EuGRZ 1987, 399 [402]), die in den Fällen Öztürk und Engel entwickelten zweiten und dritten Kriterien würden nur alternativ und nicht kumulativ gelten. 36 In diese Richtung auch bereits Cordier NJW 1967, 2141 (2143 f.) im Rahmen der von ihm kritisch beurteilten Differenzierung zwischen Verwaltungs- und Kriminalstrafrecht; ähnlich auch Stratenwerth, AT, § 1 Rn. 2, der allerdings statt der Freiheitseinbuße etwas allgemeiner auf eine „Einbuße an Lebensgütern“ abstellt. 37 Würde man statt dessen auf die Intention des nationalen Gesetzgebers abstellen, würde die Möglichkeit abgeschnitten, seitens der Konventionsorgane auf etwaige tatsächliche Fehlentwicklungen zu reagieren. 38 Entsprechend auch die Differenzierung des EGMR im Fall Engel u. a. gegen die Niederlande vom 8. Juni 1976, Ziff. 69 (EuGRZ 1976, 221 [227]) sowie neuerdings der EGMR im Fall J. B. gegen die Schweiz vom 3. Mai 2001, Ziff. 45 ff. (NJW 2002, 499 [500]), wo er als Abgrenzungskriterien weiter erstens die Qualifikation im innerstaatlichen Recht, zweitens die Art der Zuwiderhandlung und drittens nun die Art und Schwere der drohenden Sanktion benennt, dann jedoch betont, die konkrete „Sanktion solle aber kein Schadensersatz sein, sondern habe wesentlich Straf- und Abschreckungscharakter“.
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Die Vorteile einer solchen materiell-funktionalen Betrachtungsweise liegen auf der Hand: Der Filter, der dieser Begrenzung auf strafbare Handlungen Art. 4 7. ZPEMRK implizit ist, ist nicht zu eng, sondern bleibt hinreichend flexibel. Damit entspricht er gerade den Bedürfnissen eines Gerichts, das mit einer Vielzahl unterschiedlicher Verfahrensgestaltungen in den nationalen Systemen umgehen muß und zudem den Anspruch hat, die freiheitlich rechtsstaatliche Tradition Europas insgesamt zu wahren und fortzuentwickeln39. Zugleich bleibt Raum für ein autonomes Verständnis40 von strafbarer Handlung und Strafverfahren, so daß es sich erübrigt, auf die Klassifizierung der Handlung in der Mehrheit der Konventionsstaaten zurückzugreifen oder auf sozial und temporal durchaus umstrittene und wandelbare Unwertvorstellungen abzustellen41. Weil die Gefahr einer Umgehung der Regelung nur in der Form besteht, daß materielle Straftatbestände in nicht zum Kernstrafrecht gehörenden Verfahren abgehandelt werden, genügt es, den Begriff des Strafrechts nur „einbahnig autonom“ zu verstehen42. Die Konsequenzen einer solchen Begriffsdefinition lassen sich an folgenden Beispielen veranschaulichen: Vom Begriff der „strafbaren Handlung“ und des „Strafverfahrens“ klar erfaßt ist das Strafrecht im klassischen Sinne, also das Kriminalstrafrecht, in dem das jeweilige nationale Strafrecht mit den ihm eigenen schwersten Strafen reagiert und dessen Zweck gerade auch in der Verhängung dieser Strafen besteht. Ebenso eindeutig ausgeschlossen aus diesem Begriff des Strafrechts sind dagegen Sanktionen von Seiten Privater wie z. B. Vertrags- oder Vereinsstrafen sowie rein präventiv vorgenommene Maßnahmen zur Verhinderung eines sozialschädigenden Verhaltens. Vertrags- oder Vereinsstrafen gründen sich auf den zwischen den Individuen im Rahmen ihrer Privatautonomie vorgenommenen Vertrags-
39 Vergleiche als Beispiel für die Anwendung und Ausbreitung verschiedener außerhalb des klassischen Bereichs des Strafrechts liegender Sanktionsmöglichkeiten die Sanktionsmittel der Europäischen Gemeinschaften, dargestellt bei Jokisch, S. 62 ff., sowie die zu restriktive Formulierung des Art. 103 Abs. 3 GG, weshalb das deutsche Recht den Grundsatz ne bis in idem daneben auch als allgemeinen Rechtsgrundsatz kennt, vgl. Rüping in: Dolzer / Vogel / Grasshof (Hrsg.), Bonner Kommentar, Art. 103 Rn. 78 ff. m.w.N. 40 Zur These des EGMR von der autonomen Bedeutung der Begriffe der Konvention in diesem Zusammenhang Jung EuGRZ 1996, 370 (372); speziell zur gängigen Praxis des EGMR, auch Rechtsbegriffe in der EMRK autonom zu interpretieren, siehe Matscher, Methods of Interpretation, S. 63 (70 ff.). 41 Aus diesem Grund (und um den Anwendungsbereich der Norm nicht ohne Not einzuschränken) wurde auch darauf verzichtet, bei der Bestimmung des Begriffs der strafbaren Handlung auf tiefergehende, insbesondere für Fragen der Notwendigkeit, Legitimität und des Maßes von Strafe bedeutsame, innere Begründungselemente von Strafe, wie etwa das Erfordernis einer mit der Strafe verbundenen sozialethischen Mißbilligung oder zweckrationale Überlegungen (vgl. aus der neueren deutschen Rechtsphilosophie dazu nur Kühl, Bedeutung der Rechtsphilosophie, S. 9, 28 ff.), abzustellen. 42 Siehe hierzu auch die entsprechenden Erwägungen des EGMR zu Art. 6, 7 EMRK im Fall Engel u. a. gegen die Niederlande vom 8. Juni 1976, Ziff. 81 (EuGRZ 1976, 221 [231 f.]).
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schluß. Diese Strafen stellen damit keine originäre Reaktion des Rechtssystems dar, sondern werden allenfalls von der nationalen Rechtsordnung inhaltlich begrenzt und möglicherweise in bestimmten zur Konfliktlösung bereitgestellten Verfahren beigelegt. Rein präventive Maßnahmen können zwar – wie etwa im Fall der Verwahrung einer Person, um von ihr ausgehende Gefahren für Dritte zu unterbinden, – erhebliche Freiheitsbeschränkungen beinhalten, bezwecken jedoch keine Bestrafung, sondern sollen zukünftige Rechtsverletzungen vermeiden. Zweifelhaft könnte demgegenüber die Einordnung des Verwaltungssanktionenbzw. Ordnungswidrigkeitenrechts sein. In diesen Fällen werden als Reaktion auf einen vorhergehenden Rechtsverstoß gegenüber dem Täter erhebliche Sanktionen vorgesehen, so daß materiell betrachtet ein Strafverfahren angenommen werden könnte. Es ist jedoch fraglich, ob es gerade die Funktion dieser Verfahren ist, einen staatlichen Strafanspruch zu verwirklichen. Im Fall des klassischen Ordnungswidrigkeitenrechts wird man dies annehmen müssen. Zwar liegt die Besonderheit der Ordnungswidrigkeit gegenüber der Straftat darin, daß hier im Vergleich zu Straftaten deutlich weniger schwer wiegende Normverstöße verfolgt und bestraft werden sollen und hierfür ein vereinfachtes Verfahren mit weniger einschneidenden Sanktionen zur Verfügung gestellt wird. Einen anderen Zweck als zu bestrafen erfüllt dieses Verfahren indessen nicht. Etwas anders liegt die Sache dagegen bei Verwaltungssanktionen, wie zum Beispiel dem Strafzuschlag, dem Ausschluß von Subventionen für die Zukunft oder der Rückforderung von Beihilfen. Auch hier werden zum Teil erhebliche Zahlungen oder der Ausschluß von weiteren Subventionen für die Zukunft angeordnet, die in ihrer Wirkung Geldstrafen oder –bußen gleichkommen, wenn nicht sogar noch schwerer wiegen. Ob deren Zweck aber gerade in der Verwirklichung einer solchen Strafe liegt, ist eine Frage des Einzelfalls43. Wird etwa eine Geldbuße verhängt, um einen zuvor erlangten Vorteil abzuschöpfen und auf diesem Weg Wettbewerbsgleichheit wiederherzustellen, nimmt der pönalisierende Charakter einer solchen Maßnahme gegebenenfalls nur einen untergeordneten Rang ein, so daß eine Strafe im eingangs genannten Sinne nicht anzunehmen ist. Ähnliches gilt für den Ausschluß von Subventionen für die Zukunft beispielsweise dann, wenn er darauf beruht, daß aufgrund der zuvor erteilten falschen Auskünfte das Vertrauen in die Person erlischt und damit ein Fördertatbestand entfällt. Soweit derartige Sanktionen andererseits – wie beispielsweise im Bereich des europäischen Gemeinschaftsrechts – funktional an die Stelle klassischen Strafrechts treten, sind sie in der Konsequenz auch in den Bereich klassischer Strafen einzubeziehen. Einen letzten umstrittenen Gegenstand bilden in diesem Zusammenhang berufsund disziplinarrechtliche Maßnahmen44. Rein berufsrechtliche Maßnahmen von 43 Vgl. auch den entsprechenden Klassifizierungsversuch von Jaag, FS f. Trechsel, S. 151 (158 ff., 165); auch die Kriterien des EGMR führen an diesem Punkt zu keiner größeren Klarheit vgl. Esser, Europäisches Strafverfahren S. 58, 79 f. 44 Zu den Problemen, die der EGMR bei der Anwendung der von ihm aufgestellten Kriterien in diesem Bereich hat, und zu der Fragwürdigkeit der Differenzierungen siehe Schürmann ZStR 2001, 352 (359 f.) sowie Esser, Europäisches Strafverfahrensrecht, S. 71 ff.
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privat organisierten Kammern oder Verbänden gehören entsprechend den zu den Vertragsstrafen angestellten Erwägungen grundsätzlich nicht mehr in den von Art. 4 7. ZPEMRK erfaßten Bereich. Da diese Maßnahmen keinen Strafcharakter haben, muß sich das betroffene Individuum ihnen – auch trotz einer vorausgegangenen Kriminalstrafe – (nochmals) stellen. Insoweit ist den einen Verstoß gegen das Doppelbestrafungsverbot ablehnenden Ausführungen im explanatory report zu Art. 4 7. ZPEMRK zuzustimmen45 – mit der Einschränkung, daß die Einordnung derartiger Maßnahmen gleichwohl umstritten sein kann, wenn diese Verbände nicht nur privat, sondern sogar öffentlich-rechtlich organisiert und zugleich in einem bestimmten Umfang Träger hoheitlicher Gewalt sind46. Daß hier wiederum für die verschiedenen Bereiche unter Umständen jede Maßnahme nach ihrer konkreten Ausgestaltung untersucht werden muß, zeigt beispielsweise die Entscheidung des EGMR im Fall Engel u. a. gegen die Niederlande zu der Frage, ob bestimmte wehrdisziplinarrechtliche Maßnahmen an den strafverfahrensrechtlichen Garantien des Art. 6 EMRK zu messen sind47, oder die in den verschiedenen Ländern teilweise divergierende Einordnung eines Berufsverbots48. Als Leitlinie wird auch hier gelten dürfen, daß Sanktionen um so eher als strafrechtlich anzusehen 45 Explanatory Report zum 7. ZPEMRK (abgedruckt in: HRLJ 5 [1985], 80 [86, Ziff. 32]): „Article 4, since it only applies to trial and conviction of a person in criminal proceedings, does not prevent him from being made subject, for the same act, to action of a different character (for example disciplinary action in the case of an official) as well as to criminal proceedings.“ 46 Einen weiteren Begriff der strafbaren Handlung vertritt auch Giese in: Grabenwarter / Thienel, Kontinuität und Wandel, S. 99 (110); ausdrücklich werden Disziplinarverfahren als Strafverfahren qualifiziert bei Hübner S. 105 f. (allerdings mit bei dem von Hübner vertretenen Verständnis von Art. 4 7. ZPEMRK als Norm mit einer absolut geltenden Rechtsfolge abzulehnenden Konsequenzen); zu ähnlichen Abgrenzungsschwierigkeiten zwischen Wirtschaftsstrafrecht und wirtschaftlichem Disziplinarrecht im Recht der Niederlanden nach 1945 siehe Tiedemann GA 1969, 321 (324 f.); die Einbeziehung von Disziplinarstrafen unter Hinweis auf eine Entscheidung des frz. Cour de Cassation vom 3. Februar 1998 (Cass. 1er civ., no 222P, np), wonach disziplinarrechtliche und strafrechtliche Sanktionen von unterschiedlicher Natur seien, ablehnend Charrier, Convention des Droits de l’Homme, Art. 4 Protocole No. 7 Rn. 3. 47 EGMR Engel u. a. gegen die Niederlande vom 8. Juni 1976, Ziff. 83 – 85 (EuGRZ 1976, 221 [233 f.]), wobei dieser im Wesentlichen darauf abstellt, ob eine Freiheitsstrafe im Sinne von Art. 5 EMRK vorliegt, was im Bereich des Art. 4 7. ZPEMRK, der auch geringere Vergehen grundsätzlich erfassen soll, kein taugliches Abgrenzungskriterium darstellen würde; zu pauschal in diesem Punkt Grabenwarter in: Ehlers, Europäische Grundrechte, § 6 Rn. 60, der disziplinarrechtliche Maßnahmen generell vom Anwendungsbereich des Art. 4 7. ZPEMRK ausschließen will. 48 Im österreichischen Recht wird dem Berufsverbot beispielsweise nach herrschender Meinung in Literatur und Rechtsprechung ein Strafcharakter zuerkannt (siehe Hübner S. 100 m.w.N.), während im deutschen Recht die §§ 70 ff. deutsches StGB als von den Strafen deutlich unterschiedene Maßregel der Besserung und Sicherung ausgestaltet sind, die wiederum von Berufsverboten im Bereich des Verwaltungsrechts oder der Ehrengerichtsbarkeit mit jeweils unterschiedlichen Zielsetzungen abzugrenzen sind (siehe näher Hanack in: Jähnke / Laufhütte / Odersky [Hrsg.], Leipziger Kommentar, StGB § 70 Rn. 85 f.).
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sind, je schwerer sie wiegen und je weiter ihr Hauptzweck sie funktional an die Stelle klassischen Strafrechts rückt49.
b) Inhaltsbestimmung des Begriffs der „Identität der Tat“ Die typische Fallkonstellation, in der die verschiedenen Verständnismöglichkeiten des Begriffs der strafbaren Handlung (bzw. offence, infraction) zum Tragen kommen könnten, ist die, in der ein identischer Sachverhalt in zwei aufeinanderfolgenden strafgerichtlichen Verfahren verhandelt wird. Solch ein Fall wurde von den Organen der Konvention bisher nicht entschieden. Die bis dato vorliegenden Entscheidungen hatten vielmehr Sachverhalte zum Gegenstand, in denen ein Verhalten zunächst von einem Strafgericht und dann (nochmals) von einer Verwaltungsbehörde gewürdigt wurde bzw. umgekehrt: So ging es im Fall Gradinger50 darum, ob nach einer für den Angeklagten günstigen Würdigung seiner BAK zum Zeitpunkt der Tat (tödlicher Verkehrsunfall) durch ein Strafgericht nochmals eine Verwaltungsbehörde das Geschehen unter dem Gesichtspunkt des Verwaltungssanktionenrechts abweichend würdigen durfte. Im Fall Marte / Achberger51 wurden nach einer Verurteilung der Beschwerdeführer durch ein Gericht wegen Widerstands gegen die Staatsgewalt anschließend von der Verwaltungsbehörde aufgrund des Verhaltens vor, während und nach dem Widerstand gegen die Polizei erneut Geldstrafen wegen Störung der Ordnung an öffentlichen Orten und Verletzung des öffentlichen Anstands verhängt. Im Fall Oliveira52 war zu entscheiden, ob nach dem irrtümlichen Erlaß einer Verwaltungssanktion wegen Trunkenheit am Steuer das Strafgericht den Sachverhalt strafrechtlich als fahrlässige Tötung würdigen durfte. Die Besonderheit des Sachverhalts lag darin, daß die zuerst entscheidende Verwaltungsbehörde, das Zürcher Polizeirichteramt, nur das Nichtbeherrschen des Fahrzeugs ahnden konnte, für die Verfolgung der Körperverletzung sachlich nicht zuständig war und sich lediglich aufgrund eines Irrtums überhaupt zur Entscheidung befugt sah. Ähnliche Sachverhalte lagen auch den Fällen Fischer, W. F. und Sailer zugrunde53. Dort wurde den Betroffenen wegen Trunkenheit am Steuer von der Ver49 Ähnlich wie hier Frowein / Peukert, EMRK-Kommentar, Art. 4 7. ZP Rn. 2, nach dem eine Verurteilung in einem Disziplinarverfahren unbeachtlich sein soll, es sei denn, daß sie in Anbetracht des in Frage stehenden Delikts und der Schwere der verhängten Sanktion als strafrechtlich zu werten sei. 50 EGMR, Urteil vom 23. Oktober 1995, Fall Gradinger gegen Österreich Nr. 33 / 1994 / 480 / 562. 51 EKMR, Bericht vom 9. April 1997, Beschwerde 22541 / 94, eine Darstellung der Kommissionsentscheidung findet sich bei Ackermann / Ebensperger AJP 1999, 823 (825) und Hübner Fn. 157. 52 EGMR, Urteil vom 30. Oktober 1998, Fall Oliveira gegen die Schweiz Nr. 84 / 1997 / 868 / 1080.
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C. Systemintern wirkendes Prinzip des ne bis in idem
waltung eine Geldbuße auferlegt und danach wurden sie wegen fahrlässiger Körperverletzung bzw. fahrlässiger Tötung im Zustand der Alkoholisierung von einem österreichischen Gericht zu einer Freiheitsstrafe verurteilt. aa) Der Wandel in der Rechtsprechung des EGMR und die Resonanz in den betroffenen Ländern Im Fall Gradinger gegen Österreich fragt der EGMR, ob in beiden Fällen das gleiche tatsächliche Verhalten (eng.: same conduct; frz.: même comportement) gewürdigt wurde. Dabei soll es unerheblich sein, daß sich die Delikte in Bezeichnung, Art und Zweck unterscheiden sowie zur Verfolgung unterschiedliche Behörden zuständig sind54. Damit setzt sich der EGMR – zumindest von der Wortwahl – in Widerspruch zum Wortlaut des Art. 4 7. ZPEMRK, der auf dieselbe strafbare Handlung abstellt. Im Fall Marte / Achberger gegen Österreich geht die EKMR gleichwohl noch weiter. Nach ihrer Auffassung steht zwar nicht fest, daß es sich um einen identischen Sachverhalt gehandelt habe, den Entscheidungen liege aber ein „weitgehend identischer Sachverhalt“ zugrunde, so daß ein Verstoß gegen Art. 4 7. ZPEMRK anzunehmen sei. Maßgebend soll also sein, daß die Taten „faktisch zusammenhängen“, so daß auch realkonkurrierende Taten genügen, wenn sie im engen zeitlichen Konnex verwirklicht werden55. Entsprechend folgerichtig bejahte die EKMR anschließend im Fall Oliveira gegen die Schweiz56 einen Verstoß gegen Art. 4 7. ZPEMRK, denn obwohl die jeweils angewendeten Normen ein unterschiedliches Rechtsgut schützen, sollte es genügen, daß sich beide Entscheidungen auf „dasselbe Verhalten“ bezogen haben. Von dieser bisherigen Linie abweichend, verneinte der EGMR in diesem Fall jedoch die Identität der Tat57. Dabei vermeidet er den offenen Widerspruch zur Gradinger Entscheidung, indem er beide Fälle von einander zu differenzieren versucht. Der Unterschied im Fall Oliveira zur Gradinger-Entscheidung sei darin zu sehen, daß im Fall Gradinger zwei Gerichte einander widersprechende Feststellun53 EGMR, Urteil vom 29. Mai 2001, Fall Fischer gegen Österreich Nr. 37950 / 97; EGMR, Urteil vom 30. Mai 2002, Fall W. F. gegen Österreich Nr. 38275 / 97; EGMR, Urteil vom 6. Juni 2002, Fall Sailer gegen Österreich Nr. 38237 / 97. 54 EGMR, Urteil vom 23. Oktober 1995, Fall Gradinger gegen Österreich Nr. 33 / 1994 / 480 / 562, Ziff. 55. 55 Die entscheidende Stelle in der Begründung der Entscheidung der EKMR lautet: „the factual bases for the applicant’s criminal and administrative convictions overlapped to such an extent“; entsprechend auch die Zusammenfassung bei Ackermann / Ebensperger AJP 1999, 823 (825). 56 Eine Darstellung der Kommissionsentscheidung findet sich bei Ackermann / Ebensperger AJP 1999, 823 (825 f.). 57 EGMR, Urteil vom 30. Oktober 1998, Fall Oliveira gegen die Schweiz Nr. 84 / 1997 / 868 / 1080, Ziff. 26.
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gen bezüglich derselben Tatsache getroffen hätten, wohingegen im Fall Oliveira bei identischen Sachverhaltsfeststellungen nur ein typischer Fall der Idealkonkurrenz vorgelegen habe, der in zwei Verfahren entschieden worden sei. Auch wenn es den Prinzipien einer ordnungsgemäßen Justizverwaltung besser entsprochen hätte, das Verhalten insgesamt in einem Verfahren abzuurteilen, sei das Verbot der Doppelbestrafung in solchen Fällen grundsätzlich nicht anwendbar58. Auf die größte Resonanz sind die oben erläuterten Entscheidungen in den von den Entscheidungen direkt betroffenen Ländern, Österreich und der Schweiz59, gestoßen. Dort haben sie insbesondere den Vorwurf provoziert, der EGMR habe im Wesentlichen identische Sachverhalte konträr entschieden60. Die Unsicherheiten darüber, wie der Begriff derselben Tat denn richtigerweise zu verstehen ist, haben sich somit fortgesetzt. Teilweise wird im Rahmen einer grammatikalisch-systematischen Interpretation unter Hinweis auf Art. 6 und 7 EMRK eine doppelte (tatsächliche und rechtliche) Identität der Tat verlangt61. Andererseits wird unter Hinweis auf den Explanatory Report62, der am Rande von „demselben Verhalten“ spricht, und mit teleologischen Erwägungen eine einfache, tatsächliche Tatidentität 58 EGMR, Urteil vom 30. Juli 1998, Fall Oliveira gegen die Schweiz Nr. 84 / 1997 / 868 / 1080, Ziff. 27 f.; soweit Ackermann / Ebensperger AJP 1999, 823 (827) meinen, der EGMR habe die beiden Fälle weiterhin anhand der unterschiedlichen Kognitionskompetenz der erstentscheidenden Gerichte und den von dem Angeklagten erlittenen Nachteile unterschieden, handelt es sich lediglich um die von dem EGMR wiedergegebene Ansicht der schweizerischen Regierung (EGMR a.a.O. Ziff. 23), deren Argumente der EGMR im Rahmen der eigenen Erwägungen nicht übernommen hat. 59 Für die Schweiz vergleiche nur Ackermann / Ebensperger AJP 1999, 823 (823 ff.) und die Anmerkung von Scherrer AJP 1997, 323 (324 f.) zum Urteil des schweizerischen Bundesgerichts, II. öffentliche Abteilung vom 24. September 1996 jeweils mit weiteren Nachweisen; allgemein zur gewichtigen Rolle der EMRK bei der Revision der schweizerischen Strafprozeßordnungen Haeflinger / Schürmann S. 443 ff.; für Österreich siehe die Veröffentlichungen von Huebner, Ne bis in idem, Walter ZVR 1997, 362, Giese in: Grabenwarter / Thienel, Kontinuität und Wandel, S. 99 sowie Grabenwarter (ö)JBL 1997, 577 u. (ö)JBL 1999, 102 wiederum jeweils mit weiteren Nachweisen und aus der österreichischen Rechtsprechung das Urteil des öVfGH vom 5. Dezember 1996 abgedruckt in EuGRZ 1997, 169. 60 Ackermann / Ebensperger 1999, 823 (828) bezeichnen die Urteile als „widersprüchlich“; Grabenwarter (ö)JBl 1999, 102 (104) stellt fest, daß „der EGMR von seiner Rechtssprechung im Fall Gradinger abgehe“, auch wenn er dies verschleiere; aus der deutschen Literatur Esser, Europäisches Strafverfahrensrecht, S. 98, der im Oliveira-Urteil „eine Abkehr von einer praxisfreundlichen, am Verhalten einer Person ausgerichteten Bestimmung der Straftat“ sieht. 61 Grabenwarter (ö)JBL 1997, 578 (579, 581); in diese Richtung auch Gollwitzer in: Rieß (Hrsg.), Löwe-Rosenberg, Strafprozessordnung, Art. 6 EMRK / 14 IPBR Rn. 276, der von der Parallelnorm des Art. 14 Abs. 7 IPBR in erster Linie nur den Kernbereich des Grundsatzes des ne bis in idem geschützt sehen will; Giese in: Grabenwarter / Thienel, Kontinuität und Wandel, S. 99 (110 f.), wobei dieser letztlich der im Anschluß vorgenommenen und zu einem entgegengesetzten Ergebnis führenden teleologischen Interpretation den Vorzug gibt; ausführlich zum Meinungsstand in der österreichischen Rechtswissenschaft auch Hübner S. 9 – 12 m.w.N. 62 Abgedruckt z.B. in HRLJ 5 (1985), 80 (86 f.).
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C. Systemintern wirkendes Prinzip des ne bis in idem
als ausreichend erachtet63. Soweit in der Literatur zuletzt vorgeschlagen wird, den Begriff nicht nur autonom, sondern auch flexibel zu bestimmen64, bedeutet dies den Abschied von einem klar umrissenen Tatbegriff mit einer bestimmten, individuellen Funktion und damit von einem für jedermann deutlich erkennbaren Anwendungsbereich des Verbots mehrfacher Strafverfolgung. Eine solche Lösung mag zwar im Einzelfall zu akzeptablen Ergebnissen führen, indessen ist nicht ersichtlich, worin in einer solchen Begriffsbestimmung der Vorteil gegenüber einem weiten Tatbegriff verbunden mit einer Abwägung bezüglich der einem Eingriff angemessen Rechtsfolgen sein soll. Der österreichische Verfassungsgerichtshof stellt bei der Ermittlung des Bedeutungsgehalts von Art. 4 7. ZPEMRK für das Verhältnis von Strafrecht und Verwaltungssanktionenrecht darauf ab, ob ein „wesentlicher Gesichtspunkt“, der bereits Teil eines gerichtlich untersuchten Straftatbestandes war, neuerlich von den Verwaltungsbehörden beurteilt wird65. Auf diese Entscheidung nimmt dann auch der EGMR bei der Beurteilung des Falles Fischer Bezug und stellt darauf ab, ob bei der Verfolgung der Straftat in verschiedenen Verfahren die den Verfahrensgegenstand bildenden Tatbestände „the same essential elements“ haben66. Die Reihenfolge der Verfahren, ob dem Strafverfahren ein Verwaltungsverfahren nachfolgt oder umgekehrt, soll dabei ohne Bedeutung sein67. Auch soll sich an dem Verstoß gegen Art. 4 7. ZPEMRK nicht etwa dadurch etwas ändern, daß das nachfolgend entscheidende Strafgericht die von der Verwaltungsbehörde verhängte Strafe voll auf die ausgesprochene Strafe angerechnet hat68. Bestätigt wurde diese Rechtsprechung neuerdings in den Fällen W. F.69 und Sailer70. 63 So im Ergebnis Giese in: Grabenwarter / Thienel, Kontinuität und Wandel, S. 99 (111). 64 Stavros, Guarantees, S. 297; Trechsel, FS f. Ermacora, S. 195 (207); einen ähnlichen Versuch unternimmt für das deutsche Recht Maatz, FS f. Meyer-Goßner, S. 257 (257 ff.), ohne jedoch zu begründen, warum die von ihm geforderte Ausrichtung der Interpretation am historischen Willen des Grundgesetzgebers insbesondere eine Neudefinition des Tatbegriffs erfordert und nicht anderweitig erfolgen kann. 65 Urteil des öVfGH vom 5. Dezember 1996, abgedruckt in EuGRZ 1997, 169 (172) – ausführlich besprochen bei Hübner S. 13 ff., 34 f. –, ohne dies ausdrücklich unter dem Gesichtspunkt der Tatidentität zu diskutieren, nimmt der öVfGH jedoch Bezug auf Ziff. 55 der Gradinger Entscheidung des EGMR vom 23. Oktober 1995 (= [ö]JBl 1997, 577 [578]), in der dieser den Begriff der offence / infraction in Art. 4 7. ZPEMRK näher zu bestimmen versucht. 66 EGMR, Urteil vom 29. Mai 2001, Fall Fischer gegen Österreich Nr. 37950 / 97, Ziff. 25. 67 EGMR, Urteil vom 29. Mai 2001, Fall Fischer gegen Österreich Nr. 37950 / 97, Ziff. 29. 68 EGMR, Urteil vom 29. Mai 2001, Fall Fischer gegen Österreich Nr. 37950 / 97, Ziff. 30. 69 EGMR, Urteil vom 30. Mai 2002, Fall W.F. gegen Österreich Nr. 38275 / 97, Ziff. 25 ff. 70 EGMR, Urteil vom 6. Juni 2002, Fall Sailer gegen Österreich Nr. 38237 / 97, Ziff. 25 ff.
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bb) Würdigung und Entwicklung eines eigenen funktionalen Begriffsverständnisses Daß in der Entscheidung Oliveira ein gegenüber der Gradinger-Entscheidung deutlich engerer, normativ geprägter Tatbegriff angewandt wird, ist offensichtlich. Weiter scheint auch die Kritik an dem Differenzierungsversuch des EGMR berechtigt71: Die Identität des Sachverhalts, die es im Fall Oliveira rechtfertigen sollte, von der Gradinger-Entscheidung abzuweichen und das Prinzip des ne bis in idem nicht anzuwenden, ist doch gerade der Anknüpfungspunkt für das Doppelbestrafungsverbot. Gleichwohl ist bei der Würdigung dieser Entscheidungen aus mehreren Gründen Vorsicht angezeigt: Zunächst sind beide Urteile an den entscheidenden Stellen zum Tatbegriff recht knapp gehalten und der Versuch, eine umfassende Dogmatik zu erarbeiten, wird dort absichtlich nicht unternommen72. In der Entscheidung zum Fall Oliveira ergibt sich vielmehr der Eindruck, daß sich der EGMR erst vorsichtig an ein geeignetes Verständnis des Tatbegriffs herantastet73. Bestätigt wird dies durch die Entscheidung im Fall Fischer74. Hier wendet der EGMR das Kriterium des „wesentlichen Elements“ probeweise auch auf die Fälle Gradinger und Oliveira an und stellt fest, daß dieses dort zu denselben Ergebnissen geführt hätte. Derartige Unsicherheiten ließen sich indessen vermeiden, wenn sich der EGMR zunächst über die grundsätzliche Konzeption von Art. 4 7. ZPEMRK klar würde. Wer einen Begriff richtig fassen will, muß wissen, was dieser leisten soll und welche Funktion er hat. Je nachdem wird sein Inhalt dann verschieden aussehen. Der Hintergrund dieser Funktionsbestimmung ist im Fall des Tatbegriffs mehrschichtig. Zur Illustration soll nochmals in Erinnerung gerufen werden, daß die Regelung des Grundsatzes des ne bis in idem in der EMRK bezogen auf eine Reihe in unterschiedlichster Art und Weise ausgestaltete, nationale Sanktionssysteme anwendbar sein muß. Aufgrund der bindenden Wirkung seiner Urteile muß außerdem berücksichtigt werden, in welchem Ausmaß eine all zu strikte Festlegung des EGMR bei der Definition des Tatbegriffs, der schon in den nationalen Rechtsordnungen eine bedeutende Stellung einnimmt, die nationalen Rechtsordnungen beeinflussen Zur Kritik siehe nur Ackermann / Ebensperger AJP 1999, 823 (827). Zur Begründungstechnik des EGMR und deren Folgen ausführlich Schürmann ZStR 2001, 352 (365 f.). 73 Siehe etwa die Formulierung „It would admittedly have been more consistent. . .“ (EGMR vom 30. Juli 1998, Fall Oliveira gegen die Schweiz Nr. 84 / 1997 / 868 / 1080, Ziff. 27) und auch den Versuch, beide Fälle voneinander zu differenzieren (a.a.O. Ziff. 28); zu der auch in diesen Entscheidungen deutlich werdenden „empirischen Methode“ der Organe der EMRK und ihren im Ansatz berechtigten Hintergründen siehe ausführlich Matscher, Methods of Interpretation, S. 63 (63 f.). 74 EGMR, Urteil vom 29. Mai 2001, Fall Fischer gegen Österreich Nr. 37950 / 97, Ziff. 25; da die Fälle W. F. gegen Österreich und Sailer gegen Österreich mit dem Fall Fischer nahezu voll deckungsgleich sind, tragen sie zur Fortentwicklung der Thematik nur wenig bei und werden im folgenden nicht mehr herangezogen. 71 72
8*
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könnte75. Zuletzt steht der Tatbegriff auch im Kontext einer bestimmten Rechtsnorm, hier dem Verfahrensgebot des ne bis in idem, deren grundsätzliches Verständnis zu Wechselwirkungen mit eben dem Tatbegriff führt. Soweit vom EGMR verlangt wird, harmonisierend auf die verschiedenen nationalen Rechtsordnungen der europäischen Rechtssysteme einzuwirken, ist zunächst die Funktion der EMRK im Auge zu behalten. Die EMRK schafft im Bereich der Grund- und Menschenrechte einen materiellen Mindeststandard für alle Konventionsstaaten. Aus dieser Zielsetzung lassen sich zugleich Grund und Grenze des von der Menschenrechtskonvention ausgehenden Harmonisierungsdrucks entnehmen. Eingriffe in nationale Verfahrensregelungen sollen erfolgen, soweit dies zur Verwirklichung der in der Konvention garantierten Rechte erforderlich ist. Sie haben dagegen in Achtung vor dem vorhandenen Pluralismus zu unterbleiben, soweit verschiedene nationale Traditionen im Rahmen vorhandener Ermessensspielräume lediglich formell unterschiedliche Entwicklungen genommen haben76. In Bezug auf die Regelung des Art. 4 7. ZPEMRK selbst haben wir bereits festgestellt, daß der Begriff des Strafverfahrens am besten extensiv zu verstehen ist. Unter den Begriff der „penal procedure“ fallen demnach nicht nur klassische Strafverfahren, sondern alle staatlichen Verfahren, die ihrem Hauptziel nach sanktionierend auf das Individuum einwirken. Damit ist zunächst einmal ein weiter Anwendungsbereich eröffnet, den es auf späterer Stufe – zumindest in seinen Wirkungen – wieder einzugrenzen gilt. Wird die Rechtsfolge in einem strikten Verbot des Zweitverfahrens gesehen, so müssen bereits im Tatbestand Fallkonstellationen einer Lösung zugeführt werden, die sich andernfalls möglicherweise auf einer späteren Stufe (einfacher) finden ließen. So müssen etwa solche Sachverhalte abschließend beurteilt werden, die zwar dem Grunde nach in verfahrensrechtlich anderen Bahnen ablaufen sollten, für die das strikte Verbot eines Zweitverfahrens aber unangemessen erscheint. Von dem zuletzt genannten Problem kann die Definition des Tatbegriffs relativ einfach entlastet werden, indem die Norm des Art. 4 7. ZPEMRK trotz ihrer apodiktischen Formulierung – entsprechend dem im Rahmen der Einführung vorgestellten Konzept – als ein in seinen Rechtsfolgen einer Abwägungslösung und Verhältnismäßigkeitsüberlegungen zugängliches Menschenrecht verstanden wird77.
75 Zu den weitreichenden Änderungen, die allein die Gradinger-Entscheidung im österreichischen Recht, insbesondere im Verhältnis von Verwaltungssanktionen- und Strafrecht, geführt hat, siehe die Entscheidung des österreichischen VfGH vom 5. Dezember 1996, abgedruckt in EuGRZ 1997, 169 mit den Besprechungen von Ackermann / Ebensperger AJP 1999, 823 (832 f.) und Giese in: Grabenwarter / Thienel, Kontinuität und Wandel, S. 99 (106 f.). 76 Ähnlich Stavros S. 297 „the demands of legal pluralism cannot be ignored“ und Matscher, Methods of Interpretation, S. 63 (75) m.w.N.: The Convention institutions „are obliged to respect (. . . and) the legal variety, which are characteristic of Europe“. 77 So grundsätzlich auch Matscher, Methods of Interpretation, S. 63 (78 ff.): „The principle of proportionality also runs through the whole case-law of the Convention institutions.“;
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Hier ist dann darüber zu befinden, wie die Behandlung eines Falles im Rahmen einer „guten Justizverwaltung“ aussieht, ob Abweichungen hingenommen werden oder materielle Korrektive eingeführt werden müssen. Im Fall Oliveira hätten sich dann die entsprechenden obiter dicta des EGMR erübrigt78. Gegenüber dem Kriterium des „wesentlichen Gesichtspunkts“, das der EGMR im Fall Fischer propagiert, wäre entschieden mehr Raum gewonnen für eine Gesamtbetrachtung der nationalen Verfahrensregeln und der Ausgestaltung der nationalen Sanktionensysteme insgesamt. So könnte etwa eine mehrfache Verurteilung wegen desselben Geschehens im französischen Recht und im Common Law zugelassen werden, soweit in diesen Rechtsordnungen ein Ausgleich auf vollstreckungsrechtlicher Ebene vorgesehen ist. Ist dies einmal geleistet, kann die Funktion des Tatbegriffs in Art. 4 7. ZPEMRK weiter darauf reduziert werden, die in dem Verfahren einander gegenüberzustellenden Vergleichsgegenstände festzustellen. Wenn hier den nationalen Rechtsordnungen möglichst umfangreiche Ermessensspielräume zugestanden werden sollen, genügt es, jeweils auf das in einem gemeinsamen Sinnzusammenhang stehende rein tatsächliche Verhalten abzustellen. Daß dies keine weitreichenden Implikationen für diejenigen Systeme aufwirft, die als Verfahrensgegenstand ohnehin auf den historischen Lebensvorgang abstellen, muß nicht weiter ausgeführt werden. Aber selbst diejenigen Systeme, die an dieser Stelle auch der jeweils verletzten Rechtsnorm ein erhebliches Gewicht einräumen, werden durch einen solchen Tatbegriff allein aufgrund seiner begrenzten Funktion nicht weiter betroffen. Die Problematik, ob und inwieweit die in diesen Systemen vorgenommene Bestimmung des Prozeßgegenstandes mit Hilfe der konkreten Sanktionsnorm grundsätzlich zulässig ist, wird nach einem solchen Normenverständnis schließlich erst später diskutiert. Die einzige Frage, die noch konkretisiert werden muß, ist, wann ein historisches Geschehen als identisch angesehen werden soll. Muß es sich notwendigerweise um einander exakt deckende historische Vorgänge handeln oder reicht es aus, daß sich ein Geschehen als einheitlich darstellt, wie etwa in den Konstellationen der fortgesetzten Handlung, der Bewertungseinheit, bei Dauer- oder zusammengesetzten Delikten? Um sich hier nicht der Vorteile zu begeben, die soeben für einen in seiner Funktion begrenzten Tatbegriff festgestellt wurden, muß weiter Rücksicht auf die Vorgaben des nationalen – diesmal insbesondere materiellen – Strafrechts genommen werden. Ausmaß und Bedeutung der oben angesprochenen Figuren sind auch hier in den verschiedenen nationalen Rechten höchst unterschiedlich. Der Nutzen einer formellen Vereinheitlichung über den von der EMRK geforderten Mindestzwar werden nicht alle Menschenrechte gleichermaßen einer Verhältnismäßigkeitsprüfung unterstellt, gerade dort, wo Menschenrechte als individuelle Abwehrrechte konzipiert sind, wird diese jedoch als regulierender und gestaltender Kontrollfaktor herangezogen (so ausdrücklich Ermacora in: Kutscher / Ress / Teitgen / Ermacora / Ubertazzi S. 67 [69] mit Verweis auf Art. 18 EMRK als das ganze System bestimmende Generalklausel [71]). 78 EGMR vom 30. Juli 1998, Fall Oliveira gegen die Schweiz Nr. 84 / 1997 / 868 / 1080, Ziff. 27.
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standard hinaus erscheint dagegen bezogen auf das Grundanliegen der EMRK gering. Entscheidend ist wiederum, daß den Konventionsstaaten bei der Ausgestaltung ihrer internen Verfahren grundsätzlich ein erheblicher Entscheidungsspielraum gewährt werden muß. Die Bestimmung der Reichweite des historischen Geschehens kann daher nicht nur an der räumlich-zeitlichen Nähe eines Verhaltens, sondern auch an einer inneren Verknüpfung oder im Detail auch am jeweiligen nationalen Recht anknüpfen. Die Kontrolle durch den EGMR beschränkt sich auf eine Ergebniskorrektur im jeweils von ihm entschiedenen Fall und es obliegt den nationalen Gesetzgebern und Gerichten, eventuellen Beanstandungen nachzukommen. Dies gilt um so mehr, als auch in diesem Punkt jeweils mehrere Möglichkeiten in Betracht kommen dürften, wie etwaigen Vorgaben des EGMR entsprochen werden kann79. Betrachtet man die bisherigen Entscheidungen des EGMR unter diesem Blickwinkel, so läßt sich feststellen, daß der EGMR aufgrund des – von ihm namentlich im Zusammenhang mit Art. 6 EMRK erarbeiteten – weiten Verständnisses des Begriffs des Strafrechts die Notwendigkeit geschaffen hat, die Wirkungen des in Art. 4 7. ZPEMRK verankerten Verbots mehrfacher Strafverfolgung an anderer Stelle zu begrenzen. Da er zudem die Rechtsfolge von Art. 4 7. ZPEMRK in dem strikten Verbot jedes nachfolgenden Verfahrens sieht, weist er dem Tatbegriff neben der Aufgabe, den für das Eingreifen des Verbots mehrfacher Strafverfolgung maßgebenden Verfahrensgegenstand zu bestimmen, eine höchst komplexe Aussonderungsfunktion zu. Selbst wenn diese beiden Zwecke von einem Begriff noch erfüllt werden könnten, dürfte aufgrund des heterogenen Ausgangsbestandes an nationalen Verfahrensordnungen eine für alle Fälle gleichermaßen praktikable Definition des Begriffes kaum mehr möglich sein. Diese Schwierigkeiten werden bereits durch die ersten beiden Entscheidungen Gradinger gegen Österreich und Oliveira gegen die Schweiz bestätigt. Dabei zeigt insbesondere der Fall Oliveira, daß neben den schon im „Normalfall“ auftretenden Problemen im Einzelfall noch weitere Detailfragen zu lösen sind – konkret die Relevanz einer rechtskräftigen Entscheidung, die nur aufgrund einer irrtümlich für gegeben erachteten Zuständigkeit ergangen ist80. 79 So hätte der österreichische VfGH in Reaktion auf das Gradinger-Urteil anstelle der Teilaufhebung des § 99 Abs. 6 lit. c StVO 1969 (EuGRZ 1997, 169 [173]) beispielsweise auch eine verfahrensrechtliche Subsidiarität des Verwaltungs- gegenüber dem Strafverfahren insgesamt oder die Aufhebung einer der konkurrierenden materiellen Normen anregen können. Dabei kann es im Einzelfall zu unbefriedigenden Ergebnissen kommen (vgl. etwa die deutsche Diskussion zu den §§ 129, 129a StGB in BGHSt 29, 288 [289 ff], BVerfGE 56, 22, [27 ff.] und zusammenfassend dazu Werle, Konkurrenz, S. 161 ff.; sowie ders., NJW 1980, 2671 [2671 ff.]), wenn und soweit schon die materiellen Regelungen nur vage ein komplexes Geschehen erfassen. Diese Defizite auf tatbestandlicher Ebene auszugleichen, ist allerdings Aufgabe einer sachgerechten Tatbestandsinterpretation, nicht aber eine solche des Grundsatzes des ne bis in idem. 80 Bei richtiger Behandlung des Falles durch die schweizerischen Behörden hätte der Fall eigentlich keine Probleme beim Tatbegriff aufgeworfen. Bei einem fehlerfreien Verfahren
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Die Entscheidung der EKMR im Fall Marte / Achberger erscheint dagegen aus einem anderen Grund bedenklich: Die EKMR nimmt hier einen Verstoß gegen Art. 4 7. ZPEMRK an, obwohl sie selbst von einem (nur) weitgehend identischen Sachverhalt ausgeht. Eine solche Ausdehnung des Tatbegriffs im Bereich des Tatsächlichen ist nach obigem Konzept besonders begründungsbedürftig. Die Erstverurteilung wegen Widerstands gegen die Staatsgewalt gem. § 269 österr. StGB erfaßt tatbestandlich nur den Versuch des Angeklagten, sich von den Polizisten loszureißen. Das davorliegende Verhalten (Störung der Ordnung an öffentlichen Orten gem. Art. IX Abs. 1 Ziff. 1 öEGGVG) ist hingegen nicht erfaßt. Das auffällige Verhalten vor dem Eintreffen der Polizisten war aber der Grund, weshalb die Polizei überhaupt zum Einschreiten veranlaßt wurde. Die Frage ist, ob dieser rein äußerliche Zusammenhang genügt, um hierin eine Einheit mit dem späteren Widerstand gegen die Staatsgewalt zu sehen. Mit dem Erscheinen der Polizei erfuhr das äußere Geschehen eine klare Zäsur, die eine isolierte Betrachtung des späteren Verhaltens der Angeklagten zunächst angemessen erscheinen lassen könnte. Dies würde zur Annahme unterschiedlicher Taten führen. Das Verhalten gegenüber den Polizisten einschließlich der ihnen gegenüber geäußerten Beleidigungen geschah indessen zeitgleich und unter denselben Beteiligten, so daß dieses Geschehen vom Strafgericht gem. §§ 262, 267 österr. StPO umfassend gewürdigt und gem. § 115 österr. StGB geahndet werden konnte und einer neuerlichen Sanktionierung nicht zugänglich war. Trotz dieser äußerlichen Zäsur mit dem Eintreffen der Polizei ist das Geschehen innerlich insgesamt einheitlich verknüpft, so daß eine Tat im Sinne von Art. 4 7. ZPEMRK vorliegt. c) Der Begriff des „rechtskräftigen“ Urteils und die Durchbrechung der Rechtskraft durch eine Wiederaufnahme des Verfahrens Zuletzt soll das Verbot mehrfacher Strafverfolgung aus Art. 4 Abs. 1 7. ZPEMRK nur und erst nach einem „rechtskräftigen“ bzw. „endgültigen“ Urteil eingreifen. Hierzu stellt Art. 4 Abs. 2 7. ZPEMRK aber klar, daß auch die Rechtskraft einer Entscheidung nicht unter allen Umständen ein neues Verfahren ausschließen muß. Diese Vorschrift soll dem Umstand Rechnung tragen, daß die Rechtsordnungen vieler Staaten die Wiederaufnahme auch eines prinzipiell – durch einen Freispruch oder eine geringfügige Verurteilung – abgeschlossenen Verfahrens zulassen, sofern neue Tatsachen oder schwerwiegendste Verfahrensfehler bekannt werden81. Wie sich diese beiden Regelungen genau zueinander verhalten, hängt wiederum von dem grundsätzlichen Verständnis der Vorschrift ab. wäre die Akte nach ihrer Abgabe ausschließlich durch die Bezirksanwaltschaft bearbeitet worden und Oliveira wäre vom Einzelrichter in Strafsachen zu einer Geldstrafe wegen fahrlässiger Körperverletzung verurteilt worden. Eine weitere Strafe durch die Verwaltungsbehörden wäre Oliveira dann nicht auferlegt worden. 81 Frowein / Peukert, EMRK-Kommentar, Art. 4 7. ZPEMRK Rn. 3; Hübner S. 88; zur als Vorbild für Art. 4 7. ZPEMRK dienenden Regelung des Art. 14 Abs. 7 IPBR siehe Nowak,
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Versteht man den Begriff des „rechtskräftigen“ bzw. „endgültigen“ Urteils als materielle Entscheidung des Gerichts auf der Grundlage einer Hauptverhandlung und nach Ausschöpfung aller ihm zustehenden Erkenntnismittel, so würde die Wiederaufnahmeregelung in Abs. 2 quasi als Ausnahme bestimmte Umstände festlegen, unter denen erneut in das Verfahren eingetreten werden könnte. Ob dabei das alte Verfahren unter demselben Aktenzeichen fortgeführt oder ein neues Verfahren unter einem anderen Aktenzeichen eröffnet wird, macht in der Sache keinen Unterschied. Der Anwendungsbereich von Art. 4 7. ZPEMRK würde durch eine solche Auslegung allerdings außerordentlich eng gefaßt und es würde übersehen, daß der Begriff der Rechtskraft eng mit der Ausgestaltung des Strafprozesses und insbesondere mit dem Tatbegriff verbunden ist: So haben die rechtsvergleichenden Erwägungen zum einen sachlich auf den Gleichlauf zwischen der Rechtskraft und richterlicher Kognitionskompetenz hingewiesen. Zum anderen besteht aus Effizienz-, aber auch aus Verhältnismäßigkeitserwägungen immer das Bestreben neben dem kompletten Strafprozeß in zunächst weniger bedeutsam erscheinenden Fällen von Kriminalität Instrumente zu schnelleren und den Betroffenen weniger belastenden Verfahrensabschlüssen zu gelangen. Um hier den Strafrechtssystemen nicht unnötig Spielräume zu nehmen und andererseits gleichwohl den von Art. 4 7. ZPEMRK angestrebten Schutz zu gewähren, bietet sich wieder die Entwicklung eines autonomen Standards an. Legt man auch diesem Versuch das hier vorgestellte Konzept eines Menschenrechtes mit einer Abwägung auf der Rechtsfolgenseite zugrunde, läßt sich der Begriff der rechtskräftigen Verurteilung ähnlich wie der Begriff der Tat vergleichsweise einfach dadurch bestimmen, daß man ihn so weit als möglich von komplizierten Überlegungen zu Art und Umfang der Rechtskraft entlastet. Statt dessen würde jede verfahrensabschließende Entscheidung von der staatsanwaltschaftlichen Einstellung bis hin zum klassischen richterlichen Urteil genügen, um den grundsätzlichen Schutz der EMRK zu gewähren. Die Beurteilung von Entscheidungen mit qualitativ beschränkter Rechtskraft würde erst im Rahmen des abschließenden Abwägungsvorgangs erfolgen, indem aufgearbeitet werden müßte, inwieweit das Rechtssystem seine Erkenntnismittel bereits eingesetzt hat und in welchem Maße das Individuum darauf vertrauen durfte, daß keine weitere Maßnahmen ergriffen werden. Art. 4 Abs. 2 7. ZPEMRK würde dann für den Sonderfall einer rechtskräftigen Entscheidung, die dem Betroffenen eine grundsätzlich absolute Rechtssicherheit garantiert, einen Maßstab für die Abwägung zwischen den individuellen Interessen nach Rechtssicherheit und den öffentlichen Interessen nach einer möglichst umfassenden Strafverfolgung vorgeben. Er würde festlegen, wann das gegen den BetrofCCPR-Kommentar, Art. 14 Rn. 82, wonach die Wiederaufnahme des Verfahrens keinen Verstoß gegen das Prinzip des ne bis in idem darstelle.
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fenen gerichtete Verfahren gleichwohl wieder aufgenommen werden kann. Art. 4 Abs. 2 7. ZPEMRK würde danach also als spezielle Schrankenregelung verstanden, so daß die Konstruktion auch insoweit parallel zur allgemeinen Schrankendogmatik der EMRK verliefe82. Hieraus folgt auch die Antwort auf die insbesondere im österreichischen Schrifttum diskutierte Frage, inwieweit die Regelung des Art. 4 Abs. 2 7. ZPEMRK Vorermittlungen zu einem möglichen Wiederaufnahmeverfahren erlaubt83. Bereits der Wortlaut von Art. 4 Abs. 2 7. ZPEMRK weist darauf hin, daß neue Tatsachen „vorliegen“ müssen, bloße Vermutungen also nicht genügen, um von Seiten der Staatsanwaltschaft Vorermittlungen einzuleiten. Auch der Begriff der „neu bekannt gewordenen Tatsachen“ weißt auf ein subjektives Moment der Kenntnis hin. Notwendig ist damit, daß die Staatsanwaltschaft im Zusammenhang mit der Begehung der abgeurteilten Tat einen anderen Geschehensablauf annimmt. Bemerkenswert ist abschließend, daß Art. 4 7. ZPEMRK somit den Einwand anderweitiger Rechtshängigkeit innerhalb ein und desselben Systems und damit das Verbot mehrfacher paralleler Strafverfolgung nicht erfaßt. Obwohl diese Forderung nach dem hier vertretenen Verständnis des Grundsatzes des ne bis idem auf denselben Erwägungen beruht wie das Verbot mehrfacher, sequentieller Strafverfolgung, bildet das Tatbestandsmerkmal der „rechtskräftigen“ bzw. „endgültigen“ Verurteilung insoweit eine Grenze, die trotz des gewählten extensiven Interpretationsansatzes nicht überwunden werden kann.
d) Reichweitenbestimmung des Art. 4 7. ZPEMRK in den einzelnen Verfahrensstadien Steht fest, daß gegen eine Person, die wegen der ihr vorgeworfenen Handlung bereits einmal nach dem Gesetz und dem Strafverfahrensrecht eines Staates rechtskräftig verurteilt bzw. freigesprochen wurde, ein neues Verfahren betrieben wird, bleibt zuletzt zu klären, in welchem Stadium des Zweitverfahrens der Grundsatz des ne bis in idem seine Wirkungen entfaltet. Wann eine gerichtliche Verfolgung vorliegt und ob die EMRK nur die mehrfache gerichtliche Bestrafung oder bereits eine neuerliche Strafverfolgung untersagen will, hat der EGMR in seinen Urteilen bisher nicht entschieden. Aus der deutschen Übersetzung von Art. 4 7. ZPEMRK, niemand dürfe mehrfach „vor Gericht gestellt, verfolgt oder bestraft werden“, scheint sich indessen recht eindeutig zu ergeben, daß die Regelung auch in diesem Bereich einen möglichst umfangreichen Schutz des Individuums anstrebt. Wer dagegen die authentische englische Fassung des Vertragstextes („no one shall be liable to be tried84 or punished in criminal 82 Zum Verständnis der Abs. 2 der Art. 8 – 11 EMRK als spezielle Schranken siehe Peters, Europäische Menschenrechtskonvention, S. 23, 154 f., 183 ff. 83 Hübner S. 88.
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proceedings“) liest, wird zweifeln, ob die obige Übersetzung richtig ist und ob der Schutz von Art. 4 7. ZPEMRK nicht doch erst bei der Einleitung eines neuerlichen gerichtlichen Verfahrens eingreift. Zieht man nun den ebenfalls authentischen, französischen Wortlaut „nul ne peut être poursuivi ou puni pénalment“ zu Rate, ahnt man, daß die deutsche Übersetzung „vor Gericht gestellt“ dem englischen „to be tried“ und die deutsche Übersetzung „verfolgt“ dem französischen „poursuivi“ entspricht85. Die beiden authentischen Versionen stimmen also nur insoweit überein, daß zwar ein erneutes Gerichtsverfahren86 zu unterbleiben hat – und der Grundsatz des ne bis in idem, wenn der ersten Instanz insoweit ein Fehler unterlaufen sein sollte, erst recht auch in einer etwaigen Rechtsmittelinstanz zu berücksichtigen ist. Für den Zeitraum vor der Anberaumung einer erneuten Gerichtsverhandlung divergieren die beiden Fassungen jedoch und auch ein Rückgriff auf die Materialien führt zu keiner endgültigen Klärung, da im Explanatory Report diesbezüglich keine näheren Ausführungen zu finden sind87. Auch die Auffassungen in der Literatur sind insgesamt keineswegs einheitlich: Die einen sehen entsprechend dem englischen, engeren Wortlaut nur eine erneute Verhandlung durch ein Gericht88 beziehungsweise eine zweifache gerichtliche Verfolgung oder Bestrafung89 als ausgeschlossen an. Andere sprechen weiter von einem Verbot der nochmaligen strafrechtlichen Verfolgung90. Ackermann / Ebensperger91 stellen im Rahmen ihrer ausführlicheren Argumentation auf den Zweck von Art. 4 7. ZPEMRK, das Individuum vor unnötigen staatlichen Zwangsmaßnahmen zu schützen, und den eindeutigen, umfassenden Wortlaut der Regelungen eines zwischenstaatlichen Prinzips des ne bis in idem in Art. 54 SDÜ und Art. 1 des Übereinkommens zwischen den Mitgliedstaaten der Europäischen Gemeinschaften über das Verbot der doppelten Strafverfolgung vom 25. Mai 1987 ab. Die 84 Bei Garner, Black’s law Dictionary, wird der Begriff mit „to examine judicially“ umschrieben, bei Romain, Wörterbuch der Rechtssprache, findet sich die Übersetzung „gerichtlich prüfen, gerichtlich entscheiden, untersuchen, verhören“; verwendet wird der Ausdruck „to be tried“ außer in Art. 4 noch in Art. 2 Abs. 2 7. ZPEMRK, wo sich aus dem Sinnzusammenhang ergibt, daß dort nur „vor Gericht stellen“ gemeint sein kann. 85 Siehe nur Doucet / Fleck, Wörterbuch der Rechts- und Wirtschaftssprache. 86 Mit dem Begriff des Gerichts im Sinne der EMRK hat sich der EGMR bereits relativ früh im Urteil De Wilde, Ooms und Versyp vom 18. Juni 1971 (und später etwa im Fall Engel u. a. gegen die Niederlande vom 8. Juni 1976, Ziff. 76 u. 69) auseinandergesetzt und die maßgeblichen Kriterien herausgearbeitet. 87 Abgedruckt in HRLJ 5 (1985), 80 (80 ff.); ebenso Ackermann / Ebensperger AJP 1999, 823 (830). 88 Frowein / Peukert, EMRK-Kommentar, Art. 4 7. ZP Rn. 2. 89 Nowak, CCPR-Kommentar, Art. 14 Rn. 81. 90 Giese in: Grabenwarter / Thienel, Kontinuität und Wandel, S. 99 (101, 103, 105, 109, 114); Gollwitzer in: Rieß (Hrsg.), Löwe-Rosenberg, Strafprozessordnung, Art. 6 EMRK / Art. 14 IPBR Rn. 276; Esser, Europäisches Strafverfahrensrecht, S. 95. 91 Ackermann / Ebensperger AJP 1999, 823 (830).
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Reflexwirkung dieser Regelungen, die eine Entwicklung im europäischen Recht und überdies nur einen Minimalstandard widerspiegeln sollen, sei bei der Auslegung der EMRK zu beachten. Entsprechend dem Gebot der dynamischen Auslegung der EMRK soll daher ein Verstoß gegen Art. 4 7. ZPEMRK bereits dann vorliegen, wenn mit dem Wissen, daß in derselben Sache schon eine rechtskräftige Entscheidung ergangen ist, (neuerlich) ein Ermittlungsverfahren eingeleitet wird. Diese Argumentation überzeugt nicht ganz: Wenn Ackermann / Ebensperger meinen, es sei nicht ersichtlich, weshalb der Grundsatz des ne bis in idem zwischenstaatlich weiter gefaßt sein soll als innerstaatlich92, übersehen sie die unterschiedlichen Anwendungsbereiche der Regelungen und stellen einseitig auf die individualschützende Komponente von Art. 4 7. ZPEMRK ab. Das SDÜ galt zum Zeitpunkt seines Inkrafttretens nur im Bereich von „Schengenland“, und daß das von ihnen angesprochene Übereinkommen zwischen den Mitgliedstaaten der Europäischen Gemeinschaften über das Verbot der doppelten Strafverfolgung vom 25. Mai 1987 bis dato nicht von hinreichend vielen Staaten ratifiziert und umgesetzt wurde, wurde bereits an früherer Stelle erörtert. Auch nach der Einbeziehung des Schengen-Besitzstandes in die Europäische Union mit dem Protokoll vom 10. November 1997 bleibt diese Regelung noch auf einen im Vergleich zum Geltungsbereich der Europäischen Menschenrechtskonvention geographisch weit kleineren und insgesamt homogeneren Rechtsraum begrenzt. Darüber hinaus unterscheiden sich zudem die rechtstheoretischen Wurzeln von systeminternem und systemübergreifendem Prinzip des ne bis in idem derart, daß insbesondere aufgrund des Vereinbarungscharakters zwischenstaatlicher Regelungen durchaus Fälle denkbar sind, die weiter gehen, als es sich aus dem Zusammenspiel von materieller Gerechtigkeit und Rechtssicherheit als Ableitungen aus dem Begriff systemorganisierter Freiheit herleiten läßt93. Überdies ist es sachlich verfehlt, die in ihren Wirkungen umfänglich ausgestalteten Art. 1 ff. des Übereinkommens zwischen den Mitgliedstaaten der Europäischen Gemeinschaften über das Verbot der doppelten Strafverfolgung vom 25. Mai 1987 als Minimalstandard zu bezeichnen und ihre Reichweite deshalb der EMRK zu unterlegen. Auch hier ist vielmehr zu beachten, daß mit Art. 4 7. ZPEMRK für einen bestimmten, fest umgrenzten Bereich – dem des systeminternen Prinzips des ne bis in idem – an eine supranationale Instanz die Kompetenz übertragen wurde, für die Einhaltung der dort verbürgten Gewährleistungen zu sorgen. Diese Kompetenz kann – wie etwa Art. 4 Abs. 2 7. ZPEMRK zeigt – darüber hinaus auch inhaltlich begrenzt werden bzw. bei der Abfassung des Textes begrenzt worden sein. Ausgangspunkt für die Klärung der Reichweite der Regelung sollten daher wiederum Ackermann / Ebensperger AJP 1999, 823 (830). So können in zwischenstaatlichen Übereinkommen etwa Zuständigkeitsvereinbarungen getroffen werden, die ein Tätigwerden der Ermittlungsorgane eines Staates unzulässig werden lassen, ohne daß sich dies bereits aus den Grundgedanken des Prinzip des ne bis in idem per se ergeben würde. 92 93
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die dem Problem zugrunde liegenden spezifischen Sachfragen sein. Zu untersuchen sind damit die tatsächlichen und rechtlichen Gründe, die im Bereich des allein strittigen Zeitraums vor Beginn der Gerichtsverhandlung gegen eine umfassende Wirkung des Prinzips des ne bis in idem sprechen könnten: Der erste, rein tatsächliche Umstand, der einem Verständnis von Art. 4 7. ZPEMRK im Sinne eines umfassenden Verbots mehrfacher Strafverfolgung entgegen stehen könnte, ist die Kenntnis der Strafverfolgungsbehörde von der Identität beider Sachverhalte. Allein um dies festzustellen, können umfangreiche Untersuchungen notwendig werden. Dies gilt etwa dann, wenn der genaue Tathergang im Rahmen des ersten Verfahrens in Randbereichen für nicht erheblich erachtet wurde, deshalb nur ungenaue Feststellungen getroffen wurden und die Überlegungen zum Umfang des abgeurteilten historischen Geschehens durch materiell-rechtliche Regelungen, wie zum Beispiel Rechtsfiguren des Dauerdelikts oder der fortgesetzten Handlung, erschwert werden. Hinzu kommt, daß an dieser Stelle wieder die Eigenheiten des jeweiligen nationalen (Verfahrens-)Rechts in unterschiedlichem Maß Rücksichtnahme erfordern. Weniger Probleme bereitet ein im Vorfeld der Gerichtsverhandlung wirksames Verbot mehrfacher Strafverfolgung denjenigen Rechtssystemen, in denen der Tatrichter im ersten Verfahren eine umfassende Kognitionskompetenz bezüglich des angeklagten tatsächlichen Geschehens besitzt, da hier das erste Verfahren gewährleistet, daß dem staatlichen Strafanspruch hinreichend Rechnung getragen wird. Anders ist dies dagegen in solchen Systemen, die im Rahmen des Strafverfahrens enger von einem juristischen Tatbegriff ausgehen, bestimmten Verfahren nur eine eingeschränkte Sanktionskompetenz zuweisen, oder weiter die Möglichkeit vorsehen, in einem Verfahren bestimmte ursprünglich nicht angeklagte Taten (mit unterschiedlichen Konsequenzen für etwaige Folgeverfahren) nach dem Schuldspruch bei der Strafzumessung mit zu berücksichtigen94. Wird hier der Wirkungsbereich des Prinzips des ne bis in idem in das Ermittlungsverfahren ausgedehnt, so wird den ermittelnden Stellen zu einem relativ frühen Zeitpunkt die Rücksicht auf möglicherweise schwierige Rechtsfragen abverlangt und Unsicherheit bezüglich der Rechtmäßigkeit der Ermittlungstätigkeit geschaffen. Die an sich berechtigte Erforschung des wahren Sachverhalts würde so unnötig mit dem Erfordernis zusätzlicher Informationsbeschaffung und -auswertung belastet95. Auch der Ansatz, an dem positiven Wissen der Ermittlungsbehörden anzusetzen96, begegnet rechtspraktisch erheblichen Bedenken. Einerseits bestehen hier die 94 Angesprochen sind damit zum Beispiel Rechtsfiguren wie das „taking into consideration“ im englischen Recht bzw. dessen Pendant im niederländischen Recht (vgl. dazu die ausführlichere Darstellung oben B. IV. 1. und II. 3b). 95 Dies gilt umso mehr als meist zunächst nicht auf juristische Fragen spezialisierte Behörden das Ermittlungsverfahren führen, sondern kriminalistisch tätige Polizeibehörden (vgl. für das englische Recht etwa die Aufgabenverteilung nach dem Prosecution of Offences Act 1985 bzw. die knappe Einführung bei Bernstorff S. 251).
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für den Nachweis innerer Tatsachen allgemein bekannten Beweisprobleme, andererseits würden Staaten, die durch den Vorhalt entsprechender Datenbanken den Kenntnisstand ihrer Ermittlungsbehörden in dieser Richtung erweiterten, gegenüber solchen, die dies unterließen, bestraft. Denkbar wäre insoweit freilich eine Verobjektivierung, indem darauf abgestellt wird, was eine gewissenhaft handelnde Ermittlungsbehörde bei Aufbietung der ihr zumutbaren Sorgfalt hätte erkennen können97. Gerade in dem vorliegenden systemübergreifenden Zusammenhang würde ein solches Kriterium jedoch wieder die Gefahr verschiedener Gewährleistungsstandards provozieren. Systeme mit klaren Strukturen würden benachteiligt und die Konvention würde ihr Ziel, einheitliche Menschenrechtsstandards zu schaffen, verfehlen. Insbesondere wenn die Regelung des Art. 4 7. ZPEMRK – entgegen der hier vertretenen Auffassung – als striktes Verbot verstanden wird, scheinen daher in der Tat gewichtige Gründe für eine Beschränkung des Verbots der Doppelverfolgung auf den Zeitpunkt des Beginns der Gerichtsverhandlung zu sprechen. Denn zu diesem Zeitpunkt steht einmal der zur Anklage gebrachte Sachverhalt fest und zum anderen sind hier besonders sachkundige Personen greifbar, die die Einhaltung des Gebots des ne bis in idem hinreichend gewährleisten können. Sollte darüber hinaus in einzelnen Konventionsstaaten ein weiterreichendes Doppelverfolgungsverbot existieren, wäre dies nur ein zusätzlicher innerstaatlicher Schutz, der die EMRK im übrigen nicht betreffen würde. Anders bei dem hier vorgeschlagenen Verständnis des Grundsatzes des ne bis in idem als ein in seinen Rechtsfolgen einer Abwägung zugängliches Menschenrecht. Hier können Ausgleichsmechanismen im Vorfeld oder im Nachhinein – wie etwa die Ausgestaltung der Rechtsschutzmöglichkeiten gegen Menschenrechtseingriffe im Rahmen des Ermittlungsverfahrens oder Entschädigungsregelungen – dazu führen, das Verfahren insgesamt als angemessen erscheinen zu lassen. Auf diese Weise ist es wieder möglich, den Schutzbereich von Art. 4 7. ZPEMRK für den gesamten Geltungsbereich der EMRK schon auf das Vorverfahren auszudehnen, und zugleich den berechtigten Einwänden Rechnung zu tragen, die zunächst gegen ein solch weites Verständnis zu sprechen scheinen und die möglicherweise in dem engeren Wortlaut der authentischen englischen Fassung der Norm ihren Niederschlag gefunden haben. Im Ergebnis wäre demnach von einem umfassenden Verbot der Doppelverfolgung auszugehen, dem zugleich die notwendige Flexibilität inne wohnte, um – wie schon im Rahmen der Diskussion um ein angemessenes Verständnis des Tatbegriffs – tradierten nationalen Verfahrensgestaltungen hinrei96 So Ackermann / Ebensperger AJP 1999, 823 (830): „Es genügt u.E. bereits das Einleiten eines Ermittlungsverfahrens mit dem Wissen, dass in derselben Sache bereits eine rechtskräftige Entscheidung ergangen ist.“ 97 Dazu, daß und inwieweit in diese Richtung verschiedene Ausdifferenzierungen möglich sind, siehe die parallelen Ansätze in der schweizerischen Diskussion (auch im Zusammenhang mit dem Begriff der Tatidentität) dargestellt bei Ackermann / Ebensperger AJP 1999, 823 (833, m.w.N. insb. in Fn. 78, 81, 82).
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chend Rechnung zu tragen. So können im deutschen Recht von Verwaltungsbehörde und Staatsanwaltschaft jeweils parallel geführte Ermittlungsverfahren zulässig sein, da beide Behörden jeweils nach ihrer Sachkenntnis zur Verfolgung der Tat verpflichtet sein können und die Rechtsordnung ihrerseits hinreichend Instrumentarien zur Verfügung stellt, um die Belastung im weiteren Verlauf – etwa gem. §§ 39 ff., 84 ff. OWiG – zu berücksichtigen.
e) Keine systemübergreifende Wirkung von Art. 4 7. ZPEMRK Ungeachtet der eingangs dargestellten Bedenken, die schon vom Ansatz her gegen ein als Grund- oder Menschenrecht ausgeformtes zwischenstaatliches Prinzip des ne bis in idem angeführt wurden, stellt der Wortlaut von Art. 4 7. ZPEMRK unmißverständlich klar, daß hier nur systeminterne Verstöße geahndet werden sollen und eine Ahndung derselben Tat in verschiedenen Staaten nicht als Konventionsverletzung gerügt werden kann98.
3. Eingriff in den Gewährleistungsumfang Aus der obigen Festlegung des Schutzbereichs von Art. 4 7. ZPEMRK läßt sich leicht ableiten, an welche Träger hoheitlicher Gewalt sich das vorliegende Gebot adressiert, sowie welche Eingriffe denkbar sind und auseinandergehalten werden müssen. Aufgerufen ist zunächst auf einer ersten Ebene der jeweilige nationale Gesetzgeber, seine Verfahren abstrakt auf eine Weise auszugestalten, die systembedingte Doppelverfolgungen so weit als möglich vermeidet. Jede Ausgestaltung, die theoretisch zu einer Doppelverfolgung führen kann, ist damit ein Eingriff in den von Art. 4 7. ZPEMRK gewährleisteten Schutzbereich, der seinerseits besonders rechtfertigungsbedürftig ist. Auf einer zweiten Ebene können Verstöße gegen den Grundsatz des ne bis in idem im Rahmen des konkret gegen ein Individuum gerichteten Strafverfahrens zunächst durch die ermittelnden Strafverfolgungsbehörden und danach durch das (ein erneutes Urteil aussprechende) Gericht erfolgen. Differenziert man in den Fällen des EGMR ,Gradinger gegen Österreich‘ und ,Oliveira gegen die Schweiz‘ zwischen den verschiedenen hoheitlichen Reaktionen, ergibt sich folgendes: Einen ersten Eingriff hätte die Ausgestaltung des Verfahrens durch den Gesetzgeber darstellen können. Dies wäre dann der Fall, wenn die Vorschriften im nationalen Recht derart gefaßt sind, daß für die im konkreten Fall handelnde Exekutive und Judikative keine Möglichkeit besteht, die nationalen Verfah98 So für den Fall einer Erstverurteilung in Italien und einer nachfolgenden Verurteilung in der Schweiz die Entscheidung der EKMR in den Beschwerden 17265 / 90 (D. R. 75, 76 [103, 127]) und 21072 / 92 (D. R. 80, 89 [93]); Jung StV 1990, 509 (517); Charrier, Convention des Droits de l’Homme, Art. 4 Protocole No. 7 Rn. 2.
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rensregelungen menschenrechtskonform auszulegen und anzuwenden99. Im Fall Gradinger gegen Österreich ließ die anzuwendende Norm des § 99 Abs. 6 lit. c österr. StVO die Einleitung eines verwaltungsbehördlichen Verfahrens vor der Bezirkshauptmannschaft und den Erlaß eines entsprechenden Straferkenntnisses ungeachtet des vorhergehenden Verfahrens vor dem Landgericht ohne jede Restriktion zu. Somit war bereits in dem Erlaß der entsprechenden Norm geradezu zwingend ein Verstoß gegen Art. 4 7. ZPEMRK angelegt, der sich im Verfahren Gradinger nur in einem konkreten Einzelfall aktualisiert hat100. Im Fall Oliveira gegen die Schweiz hätte nach dem einschlägigen Recht des Kantons Zürich der Fall dagegen insgesamt von der Instanz mit der umfassenden Kognitionskompetenz behandelt werden müssen101. Es lag daher ein einfacher Rechtsanwendungsfehler seitens der Judikative im Erstverfahren vor, der sich in einem Eingriff in den von Art. 4 7. ZPEMRK gewährleisteten Schutzbereich im Zweitverfahren ausgewirkt hat. Neben den in den Fällen Gradinger und Oliveira Verfahrensgegenstand gewordenen Streitfällen sind weitergehend auch Sachverhaltskonstellationen denkbar, in denen sich ein Individuum gegen Rechtsverletzungen wendet, die es aufgrund eines wiederholten oder parallelen Ermittlungsverfahrens erleidet. Beispiele sind eine im zweiten Verfahren angeordnete Untersuchungshaft102 oder eine erneute Vollstreckung aus einer wiederholten Sachentscheidung103.
4. Rechtfertigung der Schutzbereichsbegrenzung Die soeben vorgenommene Zurechnung der Eingriffe zu den einzelnen Normverpflichteten bildet auch den ersten Ansatzpunkt für eine Differenzierung im Be99 Beispiele, in denen der eindeutige Wortlaut der Norm oder der ausdrückliche Wille des Gesetzgebers einer menschenrechtskonformen Auslegung entgegen standen, gibt Hübner S. 30 ff. (zu § 22 österr. VStG) bzw. S. 36 – 44 (weitere Beispiele aus der Rechtsprechung des öVfGH). 100 Ebenso Hübner S. 14; siehe zur normhierarchischen Einordnung der EMRK in Österreich als Teil der Bundesverfassung sowie zu der im unterschiedlichen Stellung in den anderen Mitgliedstaaten außerdem Chryssogonos EuR 2001, 49 (54 f.) und Ehlers in: ders. (Hrsg.), Europäische Grundrechte, § 2 Rn. 1 ff. 101 § 74 Abs. 2 GVG Zürich i.V.m. § 335 StPO Zürich; ebenso Ackermann / Ebensperger AJP 1999, 823 (827). 102 Zu diesem Beispiel aus der deutschen Rechtsprechung siehe BGHSt 38, 54 (57 f.); aufgrund des zunehmenden Bewußtseins (für das deutsche Recht siehe zum Beispiel die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 30. April 1997 in BVerfGE 96, 27 [39 ff.]; für das englische Recht siehe die Bedenken von Ashworth S. 136 ff.; zur treibenden Kraft des EGMR in diesem Bereich siehe nur die Auflistung von über einem Dutzend entsprechender Urteile bei Kühne StV 2001, 73 [76]) für justiziable Rechtsverletzungen auch in diesem Verfahrensstadium erscheint es jedoch denkbar, daß diese Fälle in Zukunft an Bedeutung zunehmen werden. 103 Ebenso aus der deutschen Kommentarliteratur Rüping in: Dolzer / Vogel / Grasshof (Hrsg.), Bonner Kommentar, Art. 103 Abs. 3 Rn. 25.
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reich ihrer Rechtfertigung und der maßgebenden Kontrolldichte. Hier stellt die Rechtsprechung des EGMR durchaus auf Maßstäbe ab, die für ähnliche Fragen auch im deutschen Verfassungsrecht entwickelt worden sind104. Es überrascht daher nicht, daß sich in der Rechtsprechung des EGMR der Sache nach ebenfalls Unterscheidungen zwischen dem unantastbaren Wesensgehalt eines Menschenrechts und einem davon abzugrenzenden Randbereich finden, in dem Verhältnismäßigkeitserwägungen mit der dazu gehörigen Trennung von legitimem gesetzgeberischem Ziel, Geeignetheit und Erforderlichkeit sowie der Angemessenheit im engeren Sinne angestellt werden105.
a) Schutzbereichsbegrenzungen seitens der nationalen Legislative Insbesondere bei Schutzbereichsverkürzungen von Seiten eines nationalen Gesetzgebers ist zunächst dessen erheblicher Gestaltungsspielraum bezüglich seiner (Straf-)verfahren zu beachten106. Mechanismen zur Kompensation von Eingriffen sind demnach so lange zu berücksichtigen, als nicht ein im Einzelfall näher zu bestimmender Kernbereich des Doppelverfolgungs- / -bestrafungsverbots berührt ist. Daß Art. 4 7. ZPEMRK dagegen kein Instrument zur Erreichung eines „Idealzustandes“ darstellt, hat der Sache nach auch der EGMR erkannt. So stellt er in der Entscheidung Oliveira gegen die Schweiz fest, es wäre mit den Prinzipien ordnungsgemäßer Justizverwaltung zwar eher vereinbar, einen Vorfall insgesamt in nur einem einzigen Verfahren abzuhandeln, leitet daraus allein aber noch nicht zwingend einen Verstoß gegen die EMRK her107. Der Kernbereich dürfte hier erst 104 Zur Rechtfertigung von Grundrechtseingriffen nach der deutschen Grundrechtslehre siehe stellvertretend Jarass / Pieroth, GG, vor Art. 1 Rn. 38 – 51. 105 Für die Verfahrensgarantie des Art. 6 EMRK siehe etwa die Darstellung der verschiedenen Entscheidungen mit den entsprechenden Rechtfertigungsüberlegungen des EGMR bei Schneider in: Grabenwarter / Thienel, Kontinuität und Wandel, S. 245 (257 ff.), der im Rahmen der Besprechung der Entscheidung des EGMR im Fall National & Provincial vom 23. Oktober 1997 in diesem Bereich einen „Wandel hin zu flexiblen Verhältnismäßigkeitsbetrachtungen“ (S. 256) feststellt; siehe stellvertretend die Entscheidungen der EKMR im Jurakonflikt-Fall vom 10. Oktober 1979, Ziff. 8 – 11 (EuGRZ 1980, 36 [37]) und in der Beschwerde X gegen Österreich vom 3. Oktober 1979, Ziff. 3 (EuGRZ 1979, 574 [575]) sowie des EGMR im Fall Philis gegen Griechenland vom 27. August 1991, Ziff. 59 (EuGRZ 1991, 355 [356]); allgemein siehe Ehlers in: ders. (Hrsg.), Europäische Grundrechte, § 2 Rn. 34 ff. 106 So – allerdings für den Bereich der Gefahrenabwehr und der Verhinderung strafbarer Handlungen – der EGMR im Fall Klass gegen die Bundesrepublik Deutschland vom 6. September 1978, Ziff. 48 (EuGRZ 1979, 278 [284 ff.]); für den Bereich des Kriminal- und Verwaltungssanktionenrechts neuerdings auch EGMR, Urteil vom 29. Mai 2001, Fall Nr. 37950 / 97, Ziff. 31; zu den Entwicklungen in diesem Bereich ausführlich van der Meersch EuGRZ 1981, 481 (487 f.). 107 EGMR, Oliveira gegen die Schweiz vom 30. Juli 1998, Ziff. 27; wobei der EGMR richtigerweise hinzufügt, daß genau dies nach dem Willen des Gesetzgebers bei fehlerfreier Rechtsanwendung in dem konkreten Fall auch hätte geschehen sollen.
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dann betroffen sein, wenn ein nationaler Gesetzgeber es über die Verfahrensgestaltung hinaus unterläßt, hinreichende Ausgleichsmechanismen zu schaffen und den Wesensgehalt der in Art. 4 7. ZPEMRK niedergelegten Garantie aushöhlt. Im Fehlen einer solchen Ausgleichsregelung liegt daher ein wesentlicher Unterschied, der die gegensätzlichen Entscheidungen des EGMR in den Fällen Gradinger gegen Österreich und Oliveira gegen die Schweiz plausibel erscheinen läßt: Während im Fall Oliveira gegen die Schweiz bereits kein Eingriff seitens des Gesetzgebers vorlag, bleibt nach der österreichischen Rechtslage der in Art. 4 7. ZPEMRK zum Ausdruck kommende Anspruch auf Rechtssicherheit unberücksichtigt, so daß der EGMR zu Recht einen Verstoß gegen die EMRK festgestellt hat. Im Fall Gradinger und im Fall Fischer war die Behandlung des Sachverhalts einfachgesetzlich so angelegt, daß nach bzw. neben dem Strafverfahren, in dem der Richter mit voller Kognitionskompetenz über den ihm vorgelegten Sachverhalt zu entscheiden hatte, sich aufgrund § 99 Abs. 6 lit. c österr. StVO ein Verfahren vor der entsprechend zuständigen Verwaltungsbehörde geradezu zwingend anschloß. Da ein Ausgleich dieser Doppelbelastung für das betroffene Individuum nicht vorgesehen war, hat der österreichische Gesetzgeber dem staatlichen Verfolgungsinteresse und damit dem Streben nach materieller Gerechtigkeit einseitig den Vorrang eingeräumt vor dem berechtigten Vertrauen des Individuums auf Rechtssicherheit. Aufgrund der zahlreichen denkbaren Ausgleichsmöglichkeiten, die allesamt nicht normiert wurden, war die gesetzliche Reglung damit insgesamt konventionswidrig. Als Ausgleichsregelungen in Betracht gekommen wären zum Beispiel Anrechnungslösungen108, der Verweis auf eine Nominalstrafe im Zweitverfahren, die Anordnung einer präjudiziellen Wirkung des Freispruches im strafgerichtlichen Verfahren oder zumindest eine Beschränkung des Zweitverfahrens auf Fälle, in denen das verwaltungsrechtlich sanktionierte Verhalten nur als „unwesentlicher Gesichtspunkt“ Eingang in die gerichtliche Entscheidung gefunden hat.
b) Schutzbereichsbegrenzungen seitens der Exekutive und Judikative Eingriffe von Seiten der Exekutive oder Judikative erfolgen regelmäßig vor dem Hintergrund eines konkreten Sachverhalts, der einer ihm gerecht werdenden Lösung zuzuführen ist. Während der Gestaltungsspielraum bei Eingriffen seitens des Gesetzgebers im Wesentlichen auf dessen Einschätzungsprärogative bei der ihm geeignet und wünschenswert erscheinenden Ausgestaltung des Verfahrens beruht, können Eingriffe seitens der anderen staatlichen Gewalten im Ansatz einer dichteren Kontrolle unterzogen werden. 108 Solche Anrechnungslösungen dürften auch nach der Entscheidung des EGMR im Fall Fischer noch zulässig sein. Anrechnungslösungen wurden dort nicht per se abgelehnt. Lediglich „the reduction of the prison term by virtue of the Federal President’s prerogative“ wurde als unzureichend erachtet (EGMR Fall Fischer Nr. 37950 / 97, Ziff. 30).
9 Mansdörfer
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Ob der Eingriff im Fall Oliveira gegen die Schweiz demnach gerechtfertigt ist, läßt sich anhand einer strikteren Verhältnismäßigkeitsbetrachtung überprüfen: Legitimer Zweck des zweiten Verfahrens im Fall Oliveira war, dem aufgrund des Zuständigkeitsverstoßes des Zürcher Polizeirichteramtes nicht vollständig Rechnung getragenen staatlichen Verfolgungsinteresse Geltung zu verschaffen. Ob darüber hinaus auch die Einhaltung des Grundsatzes des gesetzlichen Richters als legitimer Zweck für die Durchführung eines zweiten Verfahrens angeführt werden kann, erscheint zweifelhaft109. Das Recht auf den gesetzlichen Richter ist seinerseits eine wichtige Ausprägung der rechtsstaatlichen Sicherheit und des rechtsstaatlichen Objektivitätsgebots110. Stellt der Grundsatz des gesetzlichen Richters jedoch in erster Linie ein Abwehrrecht des Individuums gegen staatliche Willkür dar, erscheint es in sich widersprüchlich dieses Gebot nun hier zur Begründung einer dem betroffenen Individuum nachteiligen mehrfachen Strafverfolgung heranzuziehen. Daß die Zuständigkeit des zunächst rechtsprechenden Gerichts nicht gänzlich ohne Bedeutung ist und zeitweise als Voraussetzung für ein Eingreifen des Prinzips des ne bis in idem angesehen wurde, haben indessen die eingangs vorgenommenen rechtsvergleichenden Überlegungen gezeigt111. Wird der Grundsatz des ne bis in idem auf die beiden Elemente der materiellen Gerechtigkeit und der Rechtssicherheit zurückgeführt und läßt sich ein Zuständigkeitsverstoß demnach nicht dem Gesichtspunkt der materiellen Gerechtigkeit zuordnen, so kann dieser nur Auswirkungen im Rahmen der auf Seiten des Individuums einzustellenden Rechtssicherheit haben. Im Einzelfall zu klären ist also, ob und in welchem Umfang das Individuum bei einem fortbestehenden staatlichen Verfolgungsinteresse trotz des Zuständigkeitsverstoßes noch ein schützenswertes Vertrauen auf die Rechtskraft des Urteils entwickeln durfte112 oder um es im Einklang mit Schlink umfassender zu formulieren113: „Erst die Übersetzung des Gebots der Rechtssicherheit in ein Gebot der Sicherung von Erwartungen, Vertrauen und erlangten Positionen ermöglicht die Konkretisierung und nähere Bestimmung der Grenzen, die das Gebot der Rechtssicherheit setzt.“ Soweit man im Rahmen der Verhältnismäßigkeit noch vor der Prüfung der Angemessenheit im engeren Sinne eigens die Erforderlichkeit und Geeignetheit der So aber ausdrücklich Hübner S. 72 ff. Siehe dazu aus der deutschen Verfassungslehre Jarass / Pieroth, GG, Art. 101 Rn. 1; Leibholz / Rinck / Hesselberger, GG, Art. 101 Rn. 1; sowie zum historischen Ursprung Maunz / Dürig, GG, Art. 101 Rn. 1. 111 Beispielhaft sei hier nochmals auf Kielwein ZStW 68 (1956), 163 (165) verwiesen. 112 Zu einem ähnlichen Ansatz unter Berufung auf den Grundsatz des „buena fe“ siehe die Lösung des spanischen Verfassungsgerichts vom 2. Juli 2001, STC 152 / 2001, für den Fall, daß eine Person absichtlich duldet, daß wegen der selben Sache parallel ein Verwaltungsstrafverfahren und ein Strafverfahren gegen ihn geführt werden, um nach Abschluß des Verwaltungsstrafverfahrens vorzubringen, das Strafverfahren verstoße gegen den Grundsatz des ne bis in idem. 113 Schlink, Abwägung im Verfassungsrecht, S. 106. 109 110
II. Verbot der Doppelbestrafung in Art. 4 des 7. Zusatzprotokolls zur EMRK
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Maßnahme zur Erreichung des von ihr verfolgten Zwecks verlangt114, bedarf es hierzu kaum näherer Ausführungen. Daß das Nachverfahren insoweit geeignet und auch in dem Sinn erforderlich war, als ein milderes Mittel zur Verwirklichung des öffentlichen Sanktionsinteresses nicht zur Verfügung gestanden hat, ist offensichtlich. Zwar kommt als milderes Mittel grundsätzlich die Einlegung eines Rechtsmittels zu Ungunsten des Angeklagten in Betracht, da vorliegend das Erstverfahren rechtskräftig beendet wurde, scheidet diese Möglichkeit aus sachlichen Gründen aus. Die entscheidende Frage ist daher, ob die im Zweitverfahren gefundene Problemlösung insgesamt angemessen war115. Unerheblich ist dagegen, ob der jeweilige Richter nach dem nationalen Recht befugt ist, zur Rechtfertigung im Einzelfall etwa eine „Anrechnungslösung“ erst zu entwickeln116. Zum einen spricht prima facie viel dafür, daß das Gericht zumindest im Rahmen der Strafzumessung, auch die zeitlich nach der Begehung der Tat liegenden Umstände berücksichtigen kann117, zum anderen liegt eine derartige Kompetenzfrage außerhalb des von Art. 4 7. ZPEMRK vorgegebenen Prüfprogramms. Im Rahmen der Abwägung von materieller Gerechtigkeit und Rechtssicherheit ist dabei einerseits die überragende Bedeutung der Verwirklichung des Rechts im konkreten Einzelfall als Grundlage für das geordnete Zusammenleben des Gemeinwesens in den Blick zu nehmen. Andererseits dient bereits das justizförmige Verfahren gerade zur Verwirklichung des staatlichen Strafanspruchs. Sollte im Einzelfall eine Strafe als zu niedrig erscheinen, bleibt es dem nationalen Gesetzgeber unbenommen, durch die Zulassung von Rechtsmitteln zu Ungunsten des Angeklagten eine weitere Überprüfung des Strafmaßes vorzusehen. Diese Möglichkeiten wurden im vorliegenden Fall nicht hinreichend ausgeschöpft, so daß eine rechtskräftige Entscheidung ergangen ist und das Individuum grundsätzlich Rechtsfrieden erlangt hat, wenn diesem nicht ausnahmsweise besondere Umstände entgegenstehen würden. Daß aufgrund eines Irrtums der erkennenden Instanz der Fall nicht umfassend gewürdigt wurde, ist typischerweise ein Grund, die in einem Instanzenzug vorgesehenen Rechtsmittel zu Ungunsten des Angeklagten auszu114 Während sich die Rechtsprechung des EGMR auf eine Prüfung der Angemessenheit beschränkt, werden insbesondere in der deutschen Rechtsordnung diese beiden Prüfungsfilter nach allgemeiner Auffassung als weitere Teilelemente des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes betrachtet (siehe näher etwa die Gegenüberstellung bei Ress in: Kutscher / Ress / Teitgen / Ermacora / Ubertazzi S. 5 [17 ff., 41 ff.]). 115 So schon Ress in: Kutscher / Ress / Teitgen / Ermacora / Ubertazzi S. 5 (43) für die Entscheidungspraxis der EKMR und (45) des EGMR. 116 Im österreichischen Recht ist dieser Fall etwa mit der Regelung des § 30 Abs. 3 u. 4 VStG erst durch die Legislative einer Lösung zugeführt worden, vgl. Hübner S. 67, 75. 117 Zur Berücksichtigung derartiger Umstände etwa im schwedischen und deutschen Recht siehe Frisch, FS f. Jareborg, S. 207 (209 – 218, 224 – 230), der ausdrücklich besondere wirtschaftliche, beamten- oder standesrechtliche Folgen sowie die Ausweisung eines ausländischen Täters, das Nachtatverhalten, die Strafempfindlichkeit des Täters und die Verfahrensdauer thematisiert.
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C. Systemintern wirkendes Prinzip des ne bis in idem
schöpfen, rechtfertigt aber nicht die Durchbrechung einer bereits entstandenen Rechtskraft118. Das an sich berechtigte Vertrauen auf die Rechtskraft der Entscheidung im Erstverfahren könnte hier jedoch noch aufgrund des Zuständigkeitsfehlers erschüttert sein. Dies hängt in erster Linie von der Art und der Schwere des Zuständigkeitsverstoßes ab. War die erstentscheidende Stelle offensichtlich unzuständig oder wären von einer mit den Gepflogenheiten des Rechtssystems zumindest laienhaft vertrauten Person vernünftige Zweifel zu erwarten gewesen, daß die Angelegenheit mit Abschluß des ersten Verfahrens insgesamt erledigt ist, so ist das berechtigte Vertrauen auf die Endgültigkeit der ersten Entscheidung von Beginn an beschränkt und die Einleitung eines zweiten Verfahrens erscheint zulässig. Kein schützenswertes Vertrauen besteht daher zum Beispiel in Fällen, in denen ein Priester im Rahmen einer Beichte oder das Gericht eines mit der Sache in keinerlei erkennbaren Beziehung stehenden Ortes eine Strafe ausspricht, da diese zur Sachbescheidung offensichtlich funktionell bzw. örtlich nicht zuständig sind. Anders kann dies dagegen in Fällen sein, in denen etwa Sachverhalte aus dem Nebenstrafrecht, die dem Bürger als Straftaten im engeren Sinne nicht im Bewußtsein sind und darüber hinaus auch nur mit geringen Strafen bedroht sind, fälschlicherweise nur als Verwaltungsstrafrecht und nicht als Kriminalstrafrecht geahndet werden oder wenn in Verkehrsstrafsachen auf Autobahnen fälschlicherweise die Zuständigkeit eines angrenzenden Gerichts angenommen wird. In solchen aus rechtlichen oder tatsächlichen Gründen selbst für Rechtskundige nicht ohne weiteres zu beantwortenden Fragen, hat der Laie keinen Anlaß, an der mit dem Erlaß der Erstentscheidung verbundenen Rechtskraft zu zweifeln. Das in dem Grundsatz des ne bis in idem verkörperte Postulat der Rechtssicherheit kommt daher in vollem Umfang zu tragen. Im Fall des EGMR Oliveira gegen die Schweiz verursachte die Angeklagte infolge der an die schlechten Straßenverhältnisse nicht angepaßten Geschwindigkeit einen Verkehrsunfall, bei dem der Führer des entgegenkommenden PKW schwer verletzt wurde. Deshalb wurde gegen sie von der Verwaltungsbehörde eine Geldbuße von 200 Schweizer Franken (das entspricht ungefähr 150 A) verhängt. In einem solchen Fall, in dem im Erstverfahren eine Strafe verhängt wird, die in keinem auch nur annähernd angemessenen Verhältnis zur begangenen Rechtsgutsverletzung steht, und es aus der Sicht des Laien keineswegs klar ist, ob Verkehrsverstoß und Körperverletzung organisatorisch von einer oder verschiedenen Stellen sanktioniert werden, vermittelt die rechtskräftige Entscheidung keine absolute Rechtssicherheit, daß ein weiteres Verfahren von vorneherein ausgeschlossen erscheint. Gleichwohl muß in die Betrachtung eingestellt werden, daß ein Teil des 118 Ackermann / Ebensperger AJP 1999, 823 (827) wollen diese Fallkonstellation mit dem Fall der Entscheidung eines unzuständigen Gerichts gleichsetzen und verweisen insoweit auf ähnliche Überlegungen der EKMR; kritisch zur Grundlage dieses Vergleichs auch Hübner S. 72.
III. Abschließende Würdigung
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von der Angeklagten begangenen Unrechts mit der Vollstreckung der Strafe abgegolten ist. Dem hat das Gericht aber insoweit Rechnung getragen, als es die im Erstverfahren ausgesprochene Strafe zunächst einmal überhaupt berücksichtigt und in einem weiteren Schritt von der nach seiner Ansicht für verwirkt erachteten Strafe voll in Abzug gebracht hat. Damit hält sich zwar das Strafmaß in einem angemessenen Verhältnis zur Tat, nicht berücksichtigt wurde indessen die zusätzliche Belastung des Individuums durch zwei Verfahren119. Im Fall einer – eventuell erst im Rahmen spezieller Ermittlungen festgestellten – hieraus folgenden besonderen Belastung des Individuums wird aus diesem Grund regelmäßig eine weitere Reduktion des Strafmaßes erforderlich sein. Sollte sich dagegen herausstellen, daß das Verfahren vor der Verwaltungsbehörde weitgehend formalisiert, etwa nach dem Prinzip eines Bußgeldkatalogs erfolgt, würde die bloße Anrechnung der Geldbuße ausreichen. III. Abschließende Würdigung des Grundsatzes des ne bis in idem in der EMRK Die vorstehende Untersuchung des in der EMRK festgeschriebenen, systemintern wirkenden Grundsatzes des ne bis in idem hat gezeigt, welche Sprengwirkungen diese Regelung haben kann, wenn sie ohne hinreichende Rücksicht auf die in ihrer Ausdifferenzierung recht unterschiedlichen nationalen Systeme, rein schematisch mit mehr oder weniger engem Tatbestand und strikter Rechtsfolge gehandhabt wird. Zu weitgehende oder zu geringe Festlegungen insbesondere im Bereich des Tatbegriffs oder der Rechtskraft können dann dazu führen, daß die Regelung entweder aufgrund eines winzigen Schutzbereichs nahezu bedeutungslos wird oder aber umgekehrt bei der Annahme einer umfassenden Geltung weitreichende Reformen verschiedener nationaler Strafrechtssysteme notwendig werden. Solche Reformen könnten grundsätzlich zu begrüßen sein, bewirken sie doch eine Vereinheitlichung des europäischen Rechtsraums und somit eine Harmonisierung zum Nutzen der zukünftigen Bürger Europas. Sie sind hier jedoch gleichwohl abzulehnen. Einheitliche Schutzniveaus – und diese sind letztlich entscheidend – lassen sich auch bei der Auslegung von Art. 4 7. ZPEMRK durch eine Rückbesinnung auf die Grundprinzipien der Regelung erreichen. Dazu ist es nötig, sich vor Augen zu führen, daß diese Norm im Grunde nur Vorschriften darüber enthält, wie (bzw. wie oft) ein System auf Rechtsverletzungen sanktionierend reagieren darf und welche Schranken der Organisation dieser Reaktionsmechanismen durch das Postulat größtmöglicher individueller Freiheit gesetzt sind. 119 Die besondere Belastung eines Strafverfahrens erkennt der EGMR ausdrücklich auch in seiner Rechtsprechung zur überlangen Verfahrensdauer an, wonach bereits ein über zwei Jahre langes Strafverfahren Art. 6 EMRK verletzen kann, wenn den staatlichen Verfahrensbehörden erhebliche Verfahrensverzögerungen angelastet werden können (siehe dazu nur die Fallauswertung für die Jahre 2000 / 2001 von Kühne StV 2001, 529 (529 ff.) sowie Peters, Europäische Menschenrechtskonvention S. 123 ff.
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C. Systemintern wirkendes Prinzip des ne bis in idem
Antworten in Form eines Alles-oder-Nichts erfüllen die sich hieraus ergebenden Forderungen nur selten – allenfalls dort, wo Kernbereiche angetastet werden. Sachgerechte Lösungen werden meist einen vermittelnden Ansatz verfolgen. Als Werkzeug zur Ermittlung dieser Lösungen bietet sich hier die in anderem Zusammenhang längst selbstverständlich gewordene Methode der Abwägung an. Wichtig ist freilich, daß diese Abwägung offen geschieht, die verschiedenen Gewichte deutlich benannt und in ein klares Verhältnis gesetzt werden. Um den Schutz des Individuums auch bezüglich einer mehrfachen, parallelen Strafverfolgung zu gewähren und unnötige Schwierigkeiten bei der Bestimmung des Begriffs der „rechtskräftigen“ bzw. „endgültigen“ Verurteilung zu vermeiden, erscheint für ein nur systemintern wirkendes, aber zugleich auf verschiedenen Systeme anwendbares Prinzip des ne bis in idem folgende – im Vergleich mit Art. 4 7. ZPEMRK noch etwas einfachere – Formulierung am günstigsten: „Niemand darf wegen derselben Tat innerhalb eines Staates mehrfach strafrechtlich verfolgt werden.“
D. Problematik eines zwischenstaatlich wirkenden Prinzips des ne bis in idem im europäischen Strafrecht Die vorstehenden Ausführungen haben gezeigt, daß für den räumlichen Geltungsbereich der Europäischen Menschenrechtskonvention ein recht umfänglicher Schutz vor einer systeminternen, staatlichen Doppelverfolgung besteht und gegebenenfalls supranational durchgesetzt werden kann. Die eigentliche Aktualität bezieht die Diskussion des Prinzips des ne bis in idem jedoch aus den Defiziten im transnationalen Bereich. Gerade hier hat die zunehmende Mobilität des Individuums zu einem erheblichen Handlungsbedarf geführt.
I. Begründungsansatz und Begrenzung des Untersuchungsgegenstandes Beide Problemfelder haben insofern Gemeinsamkeiten, als hier wie dort Fragen der Auslegung und Anwendung einer für deutlich verschieden organisierte Systeme gleichermaßen handhabbaren Regelung aufgeworfen werden. Bereits aus der eingangs vorgenommenen rechtstheoretischen Fundierung des Prinzips wird aber deutlich, daß schon der Begründungsansatz eines zwischenstaatlichen Prinzips des ne bis in idem ein anderer sein muß1. Im folgenden müssen nicht nur die divergierenden Interessen des Einzelnen mit denen des Staates in Einklang gebracht werden; die Problematik wird vielmehr durch die Dimension des Zweitverfolgerstaates erweitert und modifiziert.
1. Diskussion verschiedener Begründungsansätze für zwischenstaatlich wirkende Doppelbestrafungsverbote und methodische Schlußfolgerungen Mayer, Dannecker und andere wollen ein zwischenstaatlich wirkendes Doppelbestrafungsverbots scheinbar zwingend aus einem allgemeinen Gerechtigkeitsgedanken ableiten2. Mit der ersten Strafe sei „der Strafzweck verbraucht“, so daß Siehe oben A. II. 3. d). Mayer, Ne-bis-in-idem-Wirkung europäischer Strafentscheidungen; Dannecker, Community fines and non-Member State Sanctions in: Eser / Rabenstein, Neighbours in Law, S. 155; Kniebühler, Grenzüberschreitende Auswirkungen von ne bis in idem in horizontaler und vertikaler Richtung, Diss. Freiburg, 2003. 1 2
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D. Problematik eines zwischenstaatlich wirkenden Prinzips des ne bis in idem
eine erneute Strafe nicht mehr gerechtfertigt werden könne3. Warum die in den verschiedenen Staaten verfolgten Strafzwecke kongruent oder zumindest konvergent sein sollen und damit die Prämisse dieses Ansatzes, bleibt jedoch empirisch wie theoretisch ungesichert – muß aber angesichts der unterschiedlichen gesellschaftstheoretischen und rechtsphilosophischen Grundlagen der verschiedenen nationalen Strafrechte bezweifelt werden. Die, um überhaupt zu einer Konvergenz der Strafzwecke gelangen zu können, notwendigen Beziehungen zwischen den Systemen – wenn nicht darüber hinaus sogar eine gewisse Einheitlichkeit des Rechtsraums – werden stillschweigend vorausgesetzt. Auch wird die Problematik erst an einer, dem eigentlichen Kern nachgelagerten Stelle diskutiert und die Fragestellung insgesamt nur bruchstückhaft erfaßt4. Dies wird an mehreren Stellen deutlich: So wird das Verbot der Doppelverfolgung teilweise „im Vorfeld“ des Grundsatzes des ne bis in idem verortet und einer umfassenden Lösung nicht zugeführt. Bei Fragen des interlokalen Strafrechts und der strafklageverbrauchenden Wirkung von Entscheidungen von Sondergerichten wird vereinzelt die Teilbarkeit einer „einheitlichen Tat im Hinblick auf den Grundsatz des ne bis in idem“ gefordert5. Durch das einseitige Abstellen auf den „Verbrauch des Strafzwecks“ bleiben aber auch Aspekte der Rechtssicherheit, die eine erneute Entscheidung trotz eines ausstehenden Schuldausgleichs und trotz nicht verbrauchter Strafzwecke verbieten können, nahezu gänzlich außer Betracht. Insbesondere Schomburg folgert einen zwischenstaatlichen Grundsatz des ne bis in idem aus der Eigenschaft des Prinzips als systemübergreifendes Menschenrecht, bleibt eine Begründung für diese Behauptung aber generell schuldig6. Ob dieser Ansatz über die zuvor genannte Ansicht hinausreicht, ist allerdings fraglich. Allein 3 Mayer § 3 (S. 76 ff.), der allerdings in den §§ 5 und 6 explizit auch die „ne bis in idem“ Wirkungen ausländischer Strafentscheidungen aufgrund zwischenstaatlicher Rechtsbeziehungen diskutiert; ähnlich versucht neuerdings auch Dannecker in: Eser / Rabenstein, Neigbours in Law, S. 155 (160 f.) das transnationale Prinzip des ne bis in idem zumindest teilweise (S. 163 ff.) aus den Grundgedanken materieller Gerechtigkeit zu begründen; in diese Richtung auch Kuck WuW 2002, 689 (696), der sich auf die Idee der Gerechtigkeit und das Prinzip der Verhältnismäßigkeit bzw. Rechtsstaatsprinzip beruft, wobei aber auch hier unklar bleibt, wozu die Strafe verhältnismäßig sein soll (zur „Tat“, zur „Schuld“, zur „Rechtsverletzung“, zum „Schaden“ . . . ?); wobei diese Auffassungen von Beginn an nur unter der Prämisse richtig sein können, daß die Vollstreckung der Strafe als selbstverständlich mitgedacht wird, vgl. diesen Einwand bereits früh formulierend H. Kaufmann, Strafanspruch, S. 161 ff. 4 Derartige Überlegungen mit ähnlichen Argumenten als untauglich ablehnend Oehler in: Oehler / Pötz, Aktuelle Probleme des Internationalen Strafrechts, S. 110 (113). 5 Mayer S. 86 ff.; kritisch zu solch einer trennenden Sichtweise auch Schermers, Liber amicorum Pierre Pescatore, S. 601 (603). 6 Schomburg / Lagodny, IRSt, Art. 54 Rn. 32 ff.; etwas vorsichtiger eine Einigung der Völkergemeinschaft auf einen Kernbereich des Verbots mehrfacher Strafverfolgung fordernd Schomburg StV 1999, 246 (248 f.); neuerdings auch Lagodny, FS f. Trechsel, S. 253 (256 ff.), der unter dem Begriff der Menschenrechte allerdings – ohne eine internationale Dimension anzudeuten – nur Art. 103 Abs. 3 und Art. 2 Abs. 1 des deutschen Grundgesetzes diskutiert; bereits früher in eine ähnliche Richtung argumentiert auch Jung, FS f. Schüler-Springorum, S. 493 (493 ff., 500 ff.).
I. Begründungsansatz und Begrenzung des Untersuchungsgegenstandes
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von der einzelnen Person aus ohne Bezug zu einem objektiven Rechtssystem läßt sich das Prinzip des ne bis in idem nicht denken. In dem Moment aber, in dem diese Relation hergestellt wird, stellen sich dieselben Fragen nach einer zwingenden Einheitlichkeit des Rechts, die auch der zuvor genannte Teil der Literatur beantworten muß und zu denen über einen kleinen Kernbereich hinaus Antworten bisher nicht gefunden wurden. Soweit verschiedene ausländische Rechtsordnungen den Strafrechtsentscheidungen von Drittstaaten eine strafklageverbrauchende Wirkung zumessen, beruht dies auf einer einseitigen Anerkennung bzw. deren grundsätzlicher Konzeption für die Behandlung von Auslandstaten und erfolgt unter Preisgabe eigener Souveränität. Dies mag im Einzelfall nachvollziehbar und möglicherweise sogar begrüßenswert sein, ist aber keineswegs ohne weiteres verallgemeinerungsfähig und läßt die Problematik einer generellen zwischenstaatlichen Geltung des Doppelbestrafungsverbots im Grunde unberührt7. Dies führt zu der hier vertretenen eigenen Auffassung: Danach hat die rechtstheoretische Fundierung dieser zweiten Wirkebene gezeigt, daß – während das systemintern wirkende Doppelbestrafungsverbot noch Ausfluß tiefgreifender (staats-)organisationsrechtlicher Forderungen war – Bestehen und Reichweite eines zwischenstaatlichen Doppelbestrafungsverbots von den zwischen den Systemen bestehenden Beziehungen, der Idee eines systemübergreifenden Konsenses und einem möglichen Verzicht auf nationale Souveränität abhängen8. Ein zwischenstaatlich wirkendes Doppelbestrafungs- bzw. -verfolgungsverbot kann sich daher nur aus Regelungen ergeben, die nach ihrer Qualität in einzelfallbezogene, institutionalisierte oder systembildende Regelungen unterschieden werden können. Bedeutsam ist diese Differenzierung unter anderem für Fragen der Auslegung. Sie beinhaltet ein systematisch teleologisches Grundverständnis, das über die Art. 31 ff. des Wiener Auslegungsübereinkommens hinaus herangezogen werden kann, um aus einer Regelung mehr oder minder starke Begrenzungen der staatlichen Souveränität abzuleiten. Mit ihrer Hilfe läßt sich begründen, warum und weshalb dem nationalen System an verschiedenen Punkten Rücksichtnahme abverlangt wird oder wie sich das transnationale System selbst am effektivsten implementieren läßt. Der hier vertretenen Auffassung im Ergebnis nahe stehen dürfte Thomas. Er verzichtet auf eine zwingende, rechtstheoretische oder rechtsphilosophische Begründung und stellt seiner Diskussion der verschiedenen Begrifflichkeiten und der 7 Siehe zur Illustration das Beispiel bei Eser, FS f. Kaiser, S. 1499 (1518) bzw. die Untersuchung oben B. 8 Aus dem deutschen Schrifttum im Ansatz ebenso Baumann / Weber, AT, S. 83 und Oehler, Internationales Strafrecht, S. 463 f., 577 ff., die ihre Forderung nach einer einseitigen Einführung des Erledigungsprinzips für ausländische Entscheidungen mit der zunehmenden internationalen Verflechtung und den Annäherungsbemühungen der Rechtsordnungen begründen.
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D. Problematik eines zwischenstaatlich wirkenden Prinzips des ne bis in idem
Inhaltsbestimmung des zwischenstaatlichen Grundsatzes des ne bis in idem lediglich eine ausführliche Erörterung des Für und Wider einer solchen Regelung voran9. Den ein zwischenstaatlich wirkendes Prinzip des ne bis in idem geradezu erzwingenden Argumenten der Rechtssicherheit, der Schutzpflicht des Staates, der Gerechtigkeit, des Schuldprinzips, der zunehmenden Internationalisierung der Strafverfolgung und der Verhältnismäßigkeit stehen seiner Auffassung nach nur wenig überzeugende Gründe des eingeschränkten Vertrauens gegenüber bestimmten nationalen Strafverfahren, Souveränitätsaspekte sowie das Problem des sog. forum shoppings und bestimmte praktische Schwierigkeiten entgegen10.
2. Begrenzung des Untersuchungsgegenstandes Bereits im Rahmen der rechtsvergleichenden Betrachtungen wurde aufgezeigt, daß auf europäischer Ebene Doppelbestrafungsverbote insbesondere im institutionellen Rahmen des Europarates und der Europäischen Gemeinschaften bzw. der Europäischen Union zu finden sind. Qualitativ sind diese Regelungen höchst unterschiedlich. Sie reichen von in ihrer sachlichen Reichweite stark begrenzten Übereinkommen wie etwa dem am 30. November 1964 geschlossenen Europäischen Übereinkommen über die Verfolgung von Zuwiderhandlungen im Straßenverkehr11 über die Problematik umfassend regelnde Übereinkommen wie das Übereinkommen zwischen den Mitgliedstaaten der Europäischen Gemeinschaften über das Verbot der doppelten Strafverfolgung vom 25. Mai 198712 bis hin zu komplexen, systembildenden Vertragswerken wie der Convention concernant la coopération administrative et judicaire dans le domaine des réglementations se rapportant à la réalisation des objectifs de lÚnion économique Benelux13 oder dem in seiner räumlichen Geltung umfassenderen Schengener-Übereinkommen vom 19. Juni 1985. Ein strukturelles Defizit dieser Vereinbarungen liegt allerdings im grundsätzlichen Verzicht auf die Gewährung von supranationalem Individualrechtsschutz, der ein auch im Detail einheitliches Verständnis der Regelung gewährleisten könnte14.
Thomas, ne bis in idem, S. 174 f. Thomas, ne bis in idem, S. 113 – 174; ihm im Ergebnis zustimmend Lagodny, FS f. Trechsel, S. 253 (262). 11 ETS No. 52, einen vergleichbaren Inhalt hat auch das Übereinkommen über die Überwachung von zu Bewährungsstrafen verurteilten bzw. auf Bewährung freigelassenen Straftätern, ETS No. 51; vgl. dazu oben B. V. 2. 12 BGBl. 1998 II S. 2227. 13 UNTS 779 (1970), No. 11096, dazu näher Specht S. 93. 14 Jung, FS f. Schüler-Springorum, S. 493 (502). 9
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I. Begründungsansatz und Begrenzung des Untersuchungsgegenstandes
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a) EMRK als geeigneter Untersuchungsgegenstand? Für den gesamten europäischen Rechtsraum in zweierlei Hinsicht bedeutsam könnte daher auch in diesem Bereich die Europäische Menschenrechtskonvention sein. Sie bietet zunächst ein möglicherweise zur Anerkennung ausländischer Strafrechtsentscheidungen verpflichtendes „metastaatliches Referenzsystem“15. Darüber hinaus würde sie mit dem Europäischen Gerichtshof über ein etabliertes Organ verfügen, das eine verbindliche, länderübergreifende Auslegung sicherzustellen vermag16. Teilweise wird behauptet17, die EMRK sei schon deshalb kein geeigneter Bezugspunkt, weil ihr kein einheitlicher Rechtsraum zugrunde liege. Angesichts der höchst unterschiedlichen Ausgestaltung des Doppelbestrafungsverbots in den europäischen Rechtsordnungen im Detail und erst recht hinsichtlich der erheblichen Unterschiede in anderen Bereichen wie beispielsweise dem Wirtschafts-, Sozialoder Umweltrecht scheint es tatsächlich kaum vertretbar, von einem einheitlichen Rechtsraum auszugehen. Die Beurteilung dieser Frage fällt aber möglicherweise anders aus, wenn die maßgebenden Vergleichskriterien noch exakter bestimmt werden, wenn also herausgearbeitet wird, in Bezug auf welche Faktoren eine gewisse Einheitlichkeit gefordert wird. Wird das Prinzip des ne bis in idem als Grundelement systemorganisierter Freiheit angesehen, so liegt der maßgebende Bezugspunkt in dem Verhältnis der individuellen Freiheit zu den Gemeininteressen. Es kommt mithin darauf an, ob in den Mitgliedstaaten von einem liberalen oder institutionellen Staatsverständnis ausgegangen wird und Einschränkungen von Freiheit per se legitimationspflichtig sind oder Freiheiten von vornherein nur systembedingt gedacht werden18. Dem Umstand, inwieweit die verschiedenen Rechte identische Rechtsgüter schützen oder identische Strafnormen anwenden, wird dagegen eine geringere Bedeutung zuzumessen sein. Hier kommen zwar nationale Eigenheiten und Traditionen stärker zum Tragen, doch wird ein systemübergreifendes Prinzip des ne bis in idem seine besondere Bedeutung gerade in den Bereichen entfalten, wo systemübergreifend grundsätzliche Einigkeit über die Strafwürdigkeit eines Verhaltens besteht und deshalb die Gefahr einer mehrfachen Verfolgung und Bestrafung besonders groß ist. Darüber hinaus könnten besondere nationale Strafbedürfnisse durch eine in ihren Rechtsfolgen flexible Regelung oder durch die Möglichkeit nationaler Vorbehalte berücksichtigt werden. Vor diesem 15 Der Begriff des „metastaatlichen Referenzsystems“ wurde übernommen von Jung, FS f. Schüler-Springorum, S. 493 (493). 16 Zur Bedeutung des EGMR für die Gewährleistung der Beschuldigtenrechte im Strafverfahren und den Umfang der internationalen Rezeption, siehe Kühne StV 2001, 73 (74 ff.); ähnlich die von Frohwein gezogene Bilanz, daß die „EMRK auf dem Gebiet der ,guten Rechtspflege‘ europäische Integrationsgeschichte geschrieben habe“, zitiert von Schürmann ZStR 2001, 352 (359). 17 Miehsler / Vogler, Internationaler Kommentar zur EMRK, Art. 6 Rn. 375. 18 Näher zu dieser Unterscheidung Böckenförde, Staat, Verfassung, Demokratie, S. 115 ff. u. 119 ff.
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D. Problematik eines zwischenstaatlich wirkenden Prinzips des ne bis in idem
Hintergrund würde ich angesichts der Entwicklungen, die sich seit 1990 auch in den ehemals dem Warschauer Pakt und einem sozialistischen Staatsverständnis zuzuordnenden Mitgliedstaaten der EMRK ergeben haben, von einem hinreichend einheitlichen Rechtsraum ausgehen19. Einen anderen Ansatz verfolgt insoweit Uerpmann, der auf der Suche nach internationalem Verfassungsrecht nicht primär nach der Einheitlichkeit des Rechtsraums, sondern nach dem Konstitutionalisierungsgrad desselben differenziert20: Einer schwach organisierten internationalen Gemeinschaft soll demnach ein regelgeleitetes Völkerrecht angemessen sein, das auf dem Willen der Staaten beruht und dem eine induktive Methode entspricht. Mit fortschreitender Konstitutionalisierung soll es möglich sein, materielle Grundentscheidungen des Völkerrechts (wie zum Beispiel den Schutz elementarer Menschenrechte) als Prinzipien zu begreifen21. Diese Sichtweise mag zwar einen häufig bestehenden Gleichlauf in der Entwicklung von formellem und materiellem internationalem „Verfassungsrecht“ beschreiben, ob sie allein die Qualifikation eines Prinzips als systemübergreifendes Menschenrecht ermöglicht, erscheint indessen fraglich. Auch zeigt das Beispiel des Nordischen Rats mit seinen weitgehend informellen Regelungsmechanismen, daß ein Gleichlauf von formeller und materieller Vereinheitlichung keineswegs zwingend ist und sich daher auch trotz einer schwachen Organisation einer internationalen Gemeinschaft durchaus systemübergreifende Rechtsprinzipien ausbilden können22. Daß aus der EMRK gleichwohl kein zwischenstaatliches Doppelverfolgungs- / -bestrafungsverbot abgeleitet werden kann, liegt meines Erachtens vielmehr an dem – schon im Rahmen der Diskussion um ein innerstaatliches Prinzip des ne bis in idem aufgezeigten – Charakter der EMRK als bloße Teilverfassung. Während 19 Siehe zu der mit dem Beitritt zur EMRK verbundenen Anerkennung des Grundsatzes der Rechtsstaatlichkeit, der Menschenrechte und Grundfreiheiten Ehlers in: ders. (Hrsg.), Europäische Grundrechte, § 2 Rn. 2. 20 Uerpmann JZ 2001, 565 (572); tendenziell ähnlich Faßbender, in: Münkler / Fischer, S. 231 (241 ff.) 21 Kritisch gegenüber der These der Konstitutionalisierung des Völkerrechts insgesamt Hillgruber JZ 2002, 1072 (1076), der darauf verweist, daß sich auch die Herausbildung eines völkerrechtlichen Menschrechtsschutzes mit und nach den Formen des Völkerrechts vollzogen und daher nicht die Grundstruktur des Völkerrechts verändert habe; speziell für die europäische Union vermittelnd das BVerfG im sog. Maastricht-Urteil (JZ 1993, 1100 [1104]), wonach im Staatenverbund der europäischen Union die demokratische Legitimation notwendig durch die Rückkoppelung des Handelns europäischer Organe erfolgt, zu der aber – im Maße des Zusammenwachsens der europäischen Nationen zunehmend – innerhalb des institutionellen Gefüges der Europäischen Union die Vermittlung demokratischer Legitimation durch das von den Bürgern der Mitgliedstaaten gewählte Europäische Parlament hinzutritt. 22 Sieber JZ 1997, 369 (373) ordnet diese Zusammenarbeit als die lockerste Form von Kooperation ein, die lediglich auf die Koordination der gegenseitigen Anerkennung von Entscheidungen abstellt; eingehend zu Struktur und Organisation des Nordischen Rats siehe Berg, Nordischer Rat; als Beispiel für ein solches systemübergreifendes Prinzip sei auf das internationale Strafrecht der skandinavischen Staaten verwiesen, die ihr aktives Personalitätsprinzip auf die Angehörigen der nordischen Nachbarländer ausgedehnt haben.
I. Begründungsansatz und Begrenzung des Untersuchungsgegenstandes
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etwa die Amerikanische Menschenrechtskonvention die Staaten in bestimmten, besonders grundrechtsrelevanten gesellschaftlichen Bereichen zu einer internationalen Zusammenarbeit verpflichtet23, fehlen derartige Ansätze in der EMRK völlig und sind in Menschenrechtspakten auch sonst nur konzeptionelle Ausnahmeerscheinungen24. Die EKMR und Teile der Wissenschaft argumentieren angesichts der jüngeren, einen zwischenstaatlichen Grundsatz des ne bis in idem fördernden Entwicklungen in internationalen Übereinkommen und der manchmal geübten Interpretation der EMRK in Anlehnung an andere internationale Übereinkommen hier ausnahmsweise betont historisch: Art. 6 EMRK könne nicht in einem Sinne ausgelegt werden, der bei den Arbeiten zu Art. 4 7. ZPEMRK ausdrücklich ausgeschlossen wurde25.
b) Art. 54 ff. Schengener Durchführungsübereinkommen als Untersuchungsgegenstand Nachdem die Fragestellungen, die ein zwischenstaatliches Doppelbestrafungs- / -verfolgungsverbot aufwirft, somit nicht am Beispiel der EMRK exemplifiziert werden können, muß ein anderes Übereinkommen als Untersuchungsgegenstand herangezogen werden. Aufgrund ihrer umfänglichen Konzeption ertragreich erscheint eine Diskussion insbesondere des Übereinkommens zwischen den Mitgliedstaaten der Europäischen Gemeinschaften vom 25. Mai 198726 oder der Art. 54 ff. Schengener Durchführungsübereinkommen (SDÜ)27. Eingehend untersucht wird im folgenden das SDÜ. Denn obgleich dieses bis auf minimale Unterschiede wortgleich mit dem Übereinkommen vom 27. Mai 1987 zwischen den Mitgliedstaaten der Europäischen Gemeinschaften über das Verbot der doppelten Strafverfolgung28 ist, hat es aufgrund der höheren Zahl seiner UnterFrowein EuGRZ 1980, 442 (448). Specht S. 52 f. zeigt hierzu auf, daß sich die Mitgliedstaaten nach dem Konzept der EMRK – im Vergleich zu anderen Menschenrechtspakten schon relativ weitgehend – verpflichtet haben, zwar Einwirkungen durch die Organe der EMRK selbst zu dulden, daß aber über ein zwischenstaatliches Prinzip des ne bis in idem vermittelte Eingriffe eines anderen Staates dieses Konzept deutlich übersteigen; ablehnend auch Pralus Rev. sc. crim. 1996, 551 (568); aus der Rechtspraxis siehe die Ablehnung der einen zwischenstaatlich wirkenden Grundsatz des ne bis in idem einfordernden Beschwerden 1519 / 62 (Yearbook 6, 346 [348]), 7680 / 76 (D. R. 9, 190 [191 f.]), 8945 / 80 (D. R. 39, 43 [47]), 17265 / 90 (D. R. 75, 76 [103, 127]) und 21072 / 92 (D. R. 80, 89 [93]) durch die EKMR als mit der Konvention „ratione materiae“ unvereinbar bzw. in Bezug auf Art. 4 7. ZPEMRK als gegen den eindeutigen Wortlaut verstoßend. 25 Beschwerde 21072 / 92 (D. R. 80. 89 [93]); aus der Literatur ausdrücklich Ziegenhahn, S. 433. 26 BGBl. 1998 II S. 2226 (2227 f.). 27 BGBl. 1993 II S. 1013 (1048 ff.). 28 Zu den einzelnen Abweichungen siehe die Darstellung von Schomburg in: Schomburg / Lagodny, IRSt, EG-ne bis in idem – Übk vor Art. 1 Rn. 3, Art. 1 Rn. 1, Art. 2 Rn. 1 ff., Art. 3 23 24
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D. Problematik eines zwischenstaatlich wirkenden Prinzips des ne bis in idem
zeichnerstaaten eine praktisch weitaus größere Bedeutung. Zuletzt wurde das SDÜ zwischenzeitlich in den Besitzstand der EU aufgenommen, so daß es auch im weiteren Verlauf der Entwicklung von wichtigerem Belang bleiben wird29.
II. Der Grundsatz des ne bis in idem im Schengener Durchführungsübereinkommen Im Vertragswerk des SDÜ findet sich unter dem Titel III „Polizei und Sicherheit“ das Kapitel 3 mit der Überschrift „Verbot der Doppelbestrafung“. Von den anfänglich ebenfalls allein authentischen französischen und niederländischen Versionen, die beide von der „Anwendung des Prinzips des ne bis in idem“ sprechen, weicht der deutsche Vertragstext somit bereits an dieser Stelle ab30. Die Kapitelüberschrift „Verbot der Doppelbestrafung“ erfaßt den Inhalt der Art. 54 – 57 SDÜ auch nicht ganz: Art. 54 SDÜ bestimmt, daß derjenige, der durch eine Vertragspartei rechtskräftig bzw. endgültig abgeurteilt worden ist, durch eine andere Vertragspartei grundsätzlich wegen derselben Tat nicht verfolgt werden darf. Die Regelung stellt damit ein umfassendes, bereits im Ermittlungsverfahren eingreifendes Verfahrenshindernis dar und soll nach der einschlägigen deutschen Rechtsprechung auch rückwirkend auf anhängige Strafverfahren und Strafvollstreckungsmaßnahmen Anwendung finden31. Art. 55 SDÜ erlaubt den Vertragsparteien, den Anwendungsbereich von Art. 54 SDÜ unter bestimmten Voraussetzungen im Sinne eines Territorial-, Sicherheits- oder Amtsträgervorbehalts durch einseitige Erklärungen für sich einzuschränken. Art. 56 SDÜ normiert zumindest für den bereits vollstreckten Freiheitsentzug ein in jedem Fall geltendes Anrechnungsgebot und im übrigen eine Ermessensreduktion zu Gunsten des mehrfach Verfolgten bei etwa vorhandenen Vorschriften des nationalen Rechts. Art. 57 SDÜ versucht schließlich, die zuvor verbürgten Begrenzungen der staatlichen Strafverfolgungskompetenzen durch wechselseitige Informationspflichten abzusichern. Die Vertragsparteien haben also nicht nur ein systemübergreifendes Doppelbestrafungsverbot vereinbart, sie haben vielmehr einige wichtige, in ihrer Gesamtheit ein eigenes System bildende Teilaspekte eines umfassenden Prinzips mit transnationaler Verbindlichkeit ausgestattet. In der Schlußakte zum SDÜ haben sie weiterRn. 1 ff., Art. 4 Rn. 1 ff. , Art. 5 Rn. 1; in der Literatur wird deshalb behauptet, wegen des nahezu identischen Wortlauts könne bezüglich der einzelnen Anwendungsvoraussetzungen auf das SDÜ verwiesen werden, siehe etwa Auer ÖRiZ 2000, 52 (56). 29 Protokoll zur Einbeziehung des Schengen-Besitzstandes in den Rahmen der EU, abgedruckt in ABl. EG 1997 Nr. C 340 / 93 mit Sonderregelungen für Dänemark in Protokoll ABl. EG 1997 Nr. C 340 / 101; zum unterschiedlichen historischen Kontext der beiden Übereinkommen und der daraus zu fordernden Vorsicht bei der Übertragung von Auslegungsergebnissen schon Radtke / Busch EuGRZ 2000, 421 (425). 30 Zu dieser Abweichung auch Schomburg / Lagodny, IRSt, Art. 54 SDÜ Rn. 10. 31 Saarländisches OLG Beschlüsse vom 25. April 1995 – 1 Ws 65 / 95 und vom 16. Dezember 1996 – 1 Ws 65 / 95 dargestellt bei Wolf 22. Strafverteidigertag, S. 67 (72 f.)
II. Der Grundsatz des ne bis in idem im Schengener Durchführungsübereinkommen 143
führend erklärt, in der Zukunft Regeln über die gegenseitige Übertragung der Strafverfolgung zu erarbeiten32.
1. Grundlegendes Verständnis des Prinzips des ne bis in idem im SDÜ – insbesondere der Begriff der „rechtskräftigen Aburteilung“ Die schon zu Beginn der Arbeit angedeuteten methodischen Mängel der aktuellen Diskussion der systemübergreifenden Regelungen eines Verbots mehrfacher Strafverfolgung zeigen sich ganz besonders bei der Behandlung der Art. 54 ff. SDÜ. Da in der Praxis die größten Schwierigkeiten namentlich bei der näheren Bestimmung der Voraussetzungen und der Reichweite des für die Gesamtregelung zentralen Begriffs der „rechtskräftigen Aburteilung“ aufgetreten sind, finden sich in der an die praktischen Probleme anschließenden wissenschaftlichen Auseinandersetzung zu diesem Thema die ausführlichsten Erörterungen. In diesen treten dann – mehr oder weniger deutlich – Grundverständnisse zu Tage, die ihrerseits einer kritischen Würdigung bedürfen. Aus diesem Dilemma ergibt sich der Gang der weiteren Darstellung. Diese versucht zunächst, den durch die Rechtsprechung abgesteckten Anwendungsbereich der Art. 54 ff. SDÜ sowie die daran anknüpfende Diskussion in der Rechtswissenschaft abzubilden und führt erst anschließend zu einem grundlegenden, eigenen Verständnis. a) Grundsätzlicher Anwendungsbereich des Art. 54 SDÜ nach dem Verständnis der Rechtsprechung Soweit (auch ausländische) Rechtsprechung zu Art. 54 SDÜ zugänglich ist, wird anhand der bisher ergangenen Entscheidungen deutlich, daß außerhalb des Kernbereichs des Begriffs der „rechtskräftigen bzw. endgültigen Aburteilung“ große Unsicherheiten über dessen Vorraussetzungen und Reichweite bestehen. Dies gilt sicher auch für die ein Ermittlungsverfahren einstellenden bzw. die die Eröffnung eines Ermittlungsverfahren ablehnenden Entscheidungen der Ermittlungsbehörden, da diese aber kaum publiziert werden, sollen sie im folgenden außer Betracht bleiben33. 32 Siehe aus dem „Protokoll der in Ergänzung der Schlußakte in dem SDÜ abgegebenen einseitigen und gemeinsamen Erklärungen“ die „Gemeinsame Erklärung der in Schengen am 19. 6. 1990 zusammengekommenen Minister und Staatssekretäre“; dies relativiert die Bemerkung von Nelles ZStW 109 (1998), 727 (737), das SDÜ kenne kein Doppelverfolgungsverbot und führe zu ermittlungsbehördlichem Befugnisshopping, dahin, daß nach den Vorstellungen der Vertragsparteien auch in diesem Bereich ein Mechanismus von Kollisionsregelungen Abhilfe schaffen soll. 33 Vgl. hierzu Ebensperger ÖJZ 1999, 171 (184), der daher zum Nachweis der praktischen Auswirkungen von Art. 54 SDÜ in Österreich auf Angaben des BMJ und eine Veröffentlichung in der allgemeinen Tagespresse (Tiroler Zeitung vom 20. Februar 1998, S. 4) zurückgreifen mußte.
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aa) Auf einer gerichtlichen Hauptverhandlung beruhende Entscheidungen Bereits aus der einfachen Lektüre des Art. 54 SDÜ ergibt sich, daß eine rechtskräftige Verurteilung die Strafklage i.S.v. Art. 54 SDÜ verbraucht. Der deutsche BGH stellt hierzu klar, daß dies auch für einen rechtskräftigen Freispruch (im konkreten Fall durch das niederländische Amtsgericht Maastricht) gilt34. Er begründet dies mit der andernfalls nicht verständlichen Differenzierung im Wortlaut der deutschen Fassung des Art. 54 SDÜ zwischen dem Begriff der Aburteilung – der auch den Freispruch erfassen soll – im ersten Halbsatz und der Verurteilung, auf die sich der letzte Halbsatz bezieht. Im übrigen verweist der BGH auf seine frühere Entscheidung zur französischen ordonnance de non-lieu, in der dies bereits – in einer die damalige Entscheidung allerdings nicht tragenden Weise – angedeutet worden war. Ebenso wurde die strafklageverbrauchende Wirkung eines in Deutschland ergangenen Freispruchs auch in der niederländischen Rechtsprechung vom Gericht Erster Instanzen Eupen anerkannt35. bb) Außerhalb der Hauptverhandlung ergangene, kriminalstrafrechtliche Entscheidungen Größere Schwierigkeiten bereitet die Einordnung außerhalb der Hauptverhandlung ergangener, strafrechtlicher Entscheidungen. So ließ der Cour d’assises in Paris in einem Verfahren gegen einen deutschen Arzt wegen eines Mordes an einer Französin das Vorliegen eines deutschen Verwerfungsbeschlusses in einem Klageerzwingungsverfahren unberücksichtigt. Er hat die Möglichkeit eines Verfahrenshindernisses gem. Art. 54 SDÜ oder gem. Art. 692 frz. StPO36 nicht einmal erwogen37. Das OLG Innsbruck (Österreich) hat dagegen später für den identischen Lebenssachverhalt entschieden, daß auch die den Klageerzwingungsantrag als unbegründet verwerfende Entscheidung eine rechtskräftige Aburteilung i.S.v. Art. 54 SDÜ darstellt38.
34 BGH NJW 2001, 2270 = NStZ 2001, 557 mit Anm. Radtke NStZ 2001, 662 = StV 2001, 448 = wistra 2001, 276 = Geppert JK 02, GG Art. 103 III / 1. 35 Gericht Erster Instanzen Eupen wistra 1999, 479 (480) = StraFo 1999, 119 (119 f.); auszugsweise dargestellt auch bei Schomburg NJW 2000, 1833 (1838 f.). 36 Zur Orientierung an Art. 692 Code de procédure pénale bei der Abfassung von Art. 54 SDÜ siehe Landau, FS f. Söllner, 627 (632); Schomburg StV 1997, 383 (383). 37 Näher zum sog. Fall Krombach BGH EuZW 1999, 26 (27 ff.) und EuGH NJW 2000, 1853 (1853 ff.), denen aber eine Überprüfung des Urteils des Cour d’assises auf Rechtsfehler gem. Art. 29, 34 Abs. 3 EuGVÜ nicht möglich war (EuGH a.a.O. S. 1854) sowie Schomburg NJW 2000, 1833 (1836 ff.); vgl. auch die Entscheidung des EGMR vom 13. Februar 2001, Fall Nr. 29731 / 96, Ziff. 9 – 55, in der materiell zwar über eine andere Rechtsfrage entschieden wird, die jedoch eine ausführliche Schilderung des gesamten Verfahrensablaufs enthält. 38 Dargestellt bei Schomburg, NJW 2000, 1833 (1838); innerstaatlich wird einem Verwerfungsbeschluß nach § 174 StPO ähnlich der Entscheidung im Zwischenverfahren eine beschränkte, strafklageverbrauchende Wirkung zuerkannt, so daß eine neue Klage nur aufgrund
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Eine französische ordonnance de non-lieu par des raisons de fait soll nach Ansicht des BGH ebenfalls kein Verfolgungshindernis gem. Art. 54 SDÜ sein39. Im konkreten Fall hatte die französische Anklagekammer in Metz (chambre d’accusation) das Verfahren gegen einen Franzosen wegen Mordes an einem Deutschen eingestellt, weil jenem eine Tatbeteiligung nicht nachzuweisen war, dennoch sollte eine Verurteilung wegen Mordes durch ein deutsches Landgericht möglich sein. Die besondere Schwierigkeit des Falles lag dabei darin, daß der französische Kassationsgerichtshof sich zur Frage der Rechtskraftfähigkeit einer ordonnance de non-lieu par des raisons de fait bislang nicht geäußert hatte. Das um Auskunft ersuchte französische Justizministerium konnte sich daher nicht auf eine gefestigte Rechtsprechung berufen, gab nur die in der französischen Literatur ausgearbeiteten Differenzierungen zwischen einer ordonnance de non-lieu aus rechtlichen und tatsächlichen Gründen wieder und hielt im Ergebnis Art. 54 SDÜ für auf den vorliegenden Fall nicht anwendbar. Dementsprechend verglich der BGH diese Form der Entscheidung nicht etwa mit einem Freispruch sondern mit einer deutschen Entscheidung im Zwischenverfahren gem. §§ 204, 211 StPO40. Nur deshalb, weil die gerichtliche Voruntersuchung nach französischem Recht gegenüber dem deutschen Zwischenverfahren einige Besonderheiten aufweise, könne nichts anderes gelten. Ob die ordonnance de non-lieu faktisch dazu führe, daß ein Angeklagter keine neue Strafverfolgung mehr zu befürchten habe, solle außer Betracht bleiben. Eine Vorlage an den EuGH erübrige sich, da vorliegend nur der französische Rechtszustand zu ermitteln gewesen sei, wofür der BGH selbst zuständig sei. Zuletzt sei unerheblich, daß das Verfahren in Frankreich auf einem deutschen Übernahmeersuchen gem. Art. 6 Abs. 2 EuAlÜbK, 21 EuRHÜbK i.V.m. Art. XI des zwischen den beiden Ländern geschlossenen Ergänzungsvertrages beruhe, da ein solches Ersuchen keinen Verzicht auf die Strafverfolgung beinhalte, sondern nur wie eine innerstaatliche Strafanzeige zu behandeln sei. Das OLG Düsseldorf hatte im Rahmen eines Auslieferungsverfahrens zu prüfen, ob eine Einstellung durch ein deutsches Gericht gem. § 154 Abs. 2 StPO eine „rechtskräftige Aburteilung“ i.S.v. Art. 54 SDÜ und damit im konkreten Fall ein Auslieferungshindernis darstellen sollte41. Es verneinte dies, da es sowohl an einer neuer Beweismittel erhoben werden kann, siehe Meyer-Goßner § 174 Rn. 6 f., der auf seine Darstellung zu § 211 StPO verweist. 39 Näher zum sog. Fall Lacour BGHSt 45, 123 = BGH NStZ 1999, 579 = NJW 1999, 3134 = StV 1999, 478 m. Anm. Kühne; siehe dazu Schomburg, NJW 2000, 1833 (1836) und Kühne JZ 1998, 876 (877 ff.); näher zur dieser Rechtsfigur siehe auch oben B II. 2. 40 Dieser wird innerstaatlich im deutschen Recht allerdings eine immerhin beschränkte, strafklageverbrauchende Wirkung zuerkannt (siehe nur Meyer-Goßner § 211 Rn. 1 ff.), so daß das Verfahren nur aufgrund neuer Tatsachen oder Beweismittel wieder aufgenommen werden kann, wobei auf die Kenntnis und den Rechtsstandpunkt des früheren Richters abzustellen sein soll. 41 OLG Düsseldorf NStZ 2001, 613 = NZV 2000, 421; einem Beschluß nach § 154 Abs. 2 wird innerstaatlich von der herrschenden Meinung beschränkte Rechtskraft zuerkannt, siehe näher Meyer-Goßner § 154 Rn. 17. 10 Mansdörfer
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rechtskräftigen Verurteilung als auch an einer zu vollstreckenden Sanktion fehle. Dagegen hat das Gericht erster Instanz in Eupen (Niederlande) eine staatsanwaltschaftliche Einstellung gem. § 153 StPO als rechtskräftige Aburteilung i.S.v. Art. 54 SDÜ angesehen, weil sie zumindest im konkreten Fall mit richterlicher Zustimmung erfolgt sei42. Zu der Frage, ob eine solche Entscheidung in Deutschland als rechtskräftig angesehen wird, hat es keine Rechtsauskunft eingeholt. Es hält in den Urteilsgründen jedoch fest, daß eine solche Entscheidung nach deutschem Recht nicht anfechtbar und nur aufgrund neuer Erkenntnisse revidierbar zu sein scheine, so daß in Deutschland nach dem Stand der Dinge eine Verfolgung und anschließende Sanktion nicht möglich wäre43. Die belgische Rechtbank van Eerste Aanleg in Veurne hat die Frage, ob eine staatsanwaltschaftliche Einstellung gem. § 153a StPO gegen Zahlung von ca. 500 A eine rechtskräftige Entscheidung gem. Art. 54 SDÜ darstellt inzwischen dem EuGH vorgelegt und insoweit einen positiven Bescheid erhalten44: Im Rahmen eines solchen Verfahrens würde erstens die Strafverfolgung durch eine Entscheidung einer Behörde beendet, die zur Mitwirkung bei der Strafrechtspflege in der betreffenden nationalen Rechtsordnung berufen sei, und zweitens würde das dem Beschuldigten vorgeworfene unerlaubte Verhalten geahndet, so daß der Betroffene als rechtskräftig abgeurteilt im Sinne von Art. 54 SDÜ anzusehen sei. Nur so könne Art. 54 SDÜ, der verhindern solle, dass eine Person, die von ihrem Recht auf Freizügigkeit Gebrauch mache, wirksam zur vollständigen Verwirklichung dieses Ziels beitragen. cc) Administrativentscheidungen Im Bereich des Verwaltungssanktionenrechts hatte der BGH zunächst darüber zu befinden, wie eine zwischen einem vormalig Mitangeklagten und dem belgischen Finanzminister vereinbarte „transactie“ zu beurteilen war45. In der Sache 42 Gericht 1. Instanz Eupen wistra 1999, 479 (480); auszugsweise besprochen bei Schomburg NJW 2000, 1833 (1838); Stange / Rillinger StV 2001, 540 (540) zufolge bringe das Urteil deutlich zum Ausdruck, daß die Belgier den Anwendungsbereich von Art. 54 SDÜ weit auslegten und großzügig mit dem Begriff der „Aburteilung“ umgingen. 43 Nach herrschender Meinung wird der in Frage stehenden Einstellung gem. § 153 Abs. 1 StPO ein beschränkter Strafklageverbrauch zugeschrieben, so daß eine mit dem Vergehen zusammentreffende Ordnungswidrigkeit gleichwohl verfolgt werden kann und eine neue Verfolgung dann möglich ist, wenn neue Tatsachen und Beweismittel dem Einstellungsbeschluß seinen Boden entziehen, siehe näher Meyer-Goßner § 153 Rn. 37 f. 44 EuGH Rs. C-385 / 01 (= NJW 2003, 1173, NStZ 2003, 332, EuZW 2003, 1059, JuS 2003, 1211) mit krit. Anm. Kühne JZ 2003, 305 (305 ff.), Vogel / Norouzi JuS 2003, 1059 (1059 ff.) u. Mansdörfer StV 2003, 313 sowie zustimmender Anm. Stein NJW 2003, 1162 (162 ff.) 45 Siehe dazu die ursprüngliche Ablehnung der Verfahrenseröffnung des LG Hamburg wistra 1995, 358, die darauf ergangene Entscheidung des HansOLG wistra 1996, 193 mit dem anschließenden Einstellungsurteil des LG Hamburg wistra 1996, 359 sowie das nach Vorlage der Sache an den BGH verfaßte Rechtshilfeersuchen NStZ 1998, 149 mit Anm. Wyngaert NStZ 1998, 153 mit dem nachfolgenden Urteil abgedruckt in StV 1999, 244 = NJW 1999, 1270 mit Anm. Schomburg StV 1999, 246.
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hatten sich die Angeklagten durch falsche Herkunftsangaben von importiertem Stahl Zollforderungen in Höhe von rund 1,5 Millionen A entziehen wollen. Nachdem deshalb Ermittlungsverfahren in Deutschland und Belgien geführt worden waren, schloß ein vormals Mitangeklagter mit dem belgischen Finanzminister einen nach belgischem Recht ohne weiteres zulässigen Vertrag, in dem er sich zur „Vermeidung einer eventuellen gerichtlichen Verfolgung“ zur Zahlung der fälligen Zölle sowie weiterer rund 150 000 A verpflichtete46. Die Zahlung der Summe sollte nach dem Vertragstext auch beinhalten, daß von einer Verfolgung zu Lasten der in den Protokollen mitgenannten Personen abgesehen würde. Nachdem der vormals Mitangeklagte diese Beträge fristgerecht bezahlt hatte, war zu klären, ob einem Verfahren gegen die Angeklagten in Deutschland das Prinzip des ne bis in idem gem. Art. 54 SDÜ entgegenstand. Der BGH stellte zunächst fest, daß eine herkömmliche Auslegung des SDÜ zu dem Schluß führe, daß nach dem Willen der Vertragsparteien nur Urteilen bzw. gerichtlichen Entscheidungen eine strafklageverbrauchende Wirkung zukommen sollte. Außerdem erkenne auch das belgische Recht seinerseits ausländischen transacties keine strafklageverbrauchende Wirkung zu. Letztlich ließ er die Frage, ob Entscheidungen von Verwaltungsbehörden nicht doch als endgültige Entscheidungen i.S.v. Art. 54 SDÜ in Betracht kommen können, jedoch offen47. Zumindest in der vorliegenden Sache fehle jede Vergleichbarkeit mit einer gerichtlichen Sanktion, da die abgeschlossene transactie unmittelbar nur eine juristische Person betreffe und erst im Wege der Auslegung ermittelt werden müsse, welche natürlichen Personen hiervon erfaßt werden sollten. Jedenfalls für Dritte, die nicht unmittelbar an dem transactie-Verfahren beteiligt seien, ergebe sich kein Verfahrenshindernis gem. Art. 54 SDÜ. Das OLG Köln hat die Frage, ob eine niederländische Transactie als „rechtskräftige Verurteilung“ i.S.v. Art. 54 SDÜ zu werten ist, inzwischen gem. Art. 35 Abs. 1 EUV i.V.m. § 1 Abs. 2 EuGHG dem EuGH zur Entscheidung vorgelegt48. Dabei zeigt es deutlich die Tendenz, unter Art. 54 SDÜ jedenfalls auch außerhalb der Hauptverhandlung ergangene, gerichtliche Entscheidungen als Aburteilungen i.S.v. Art. 54 SDÜ anzuerkennen und darüber hinaus unter Umständen sogar staatsanwaltschaftliche Verfügungen. Der EuGH hat die Vorlagefrage inzwischen ebenfalls positiv beschieden49. 46 Schomburg StV 1999, 246 (247 Fn. 6) und (für die transaction des französischen Rechts) Tiedemann GA 1969, 321 (324) bezeichnen dieses Institut als dem früheren deutschen verwaltungsstrafrechtlichen Unterwerfungsverfahren entsprechend, welches in BVerfGE 22, 49 (51 ff.) als verfassungswidrig verworfen wurde (zur Kritik an dieser Entscheidung Cordier NJW 1967, 2141 [2141 ff.]); dabei stand die Unterwerfung gem. § 445 AO vom 1. November 1921 (RGBl. 1921 I S. 1328 [1328 ff.]) einem rechtskräftigen Urteil gleich. 47 BGH StV 1999, 244 (245); ungenau insoweit Schomburg NJW 2000, 1833 (1835), der meint, der BGH habe es abgelehnt, eine belgische Transactie als Verfahrenshindernis zu sehen. 48 OLG Köln NStZ 2001, 558; EuGH Rs. C-187 / 01 (verbunden mit Rs. C-385 / 01). 49 EuGH, Urteil vom 11. Februar 2003, verb. Rs. C-187 / 01 und C-385 / 01, Ziff. 28 ff. mit Anm. Kühne JZ 2003, 605 (605 ff.); zur Begründung siehe die Ausführungen zu § 153a deutsche StPO oben D. II. 1. a) bb).
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Das BayOLG versagte dagegen einem straßenverkehrsrechtlichen Straferkenntnis der Bezirkshauptmannschaft Kufstein (Österreich), das die Tat mangels eines passenden Straftatbestandes nur als Verwaltungsübertretung ahndete, eine zwischenstaatlich strafklageverbrauchende Wirkung. Da es sich nicht um ein Urteil i.S.v. Art. 54 SDÜ handele, verurteilte es den Angeklagten gem. § 316 StGB50. Nach Auskunft des österreichischen Bundesjustizministeriums sei gegen das Straferkenntnis der Bezirkshauptmannschaft als Rechtsmittel nur die Berufung an den örtlichen Verwaltungssenat statthaft, der aber (nur) eine weisungsfreie Verwaltungsbehörde und mithin kein Gericht darstelle. Ob diese Behörde dem Begriff des „Tribunals“ in Art. 6 EMRK unterfalle, sei unerheblich, jedenfalls Art. 54 SDÜ würde nur Urteile ordentlicher Gerichte erfassen. dd) Zusammenfassung Die Rechtsprechung versteht Art. 54 SDÜ als Norm, die strafrechtlichen Entscheidungen der Mitgliedstaaten eine transnational strafklageverbrauchende Wirkung zuschreibt. Dementsprechend wird die negative Rechtskraft von Urteilen, die auf einer gerichtlichen Hauptverhandlung beruhen, allgemein anerkannt51. Bei Entscheidungen mit richterlicher Beteiligung, die außerhalb der Hauptverhandlung ergangen sind, ist die Rechtslage nach der Rechtsprechung der nationalen Gerichte offen. Für die Frage, ob eine Entscheidung als rechtskräftig bzw. endgültig anzusehen ist, wird dabei das jeweilige nationale Recht des Erstverfolgerstaates herangezogen und je nach Einzelfall eine (umfassende) Rechtskraft angenommen oder gänzlich abgelehnt. Die Frage der Reichweite der Rechtskraft bzw. eines beschränkten Strafklageverbrauchs wurde insoweit – auch vom EuGH – noch nicht diskutiert. Angesprochen wurde diese Frage bisher nur in dem von dem BGH zu beurteilenden Fall der Reichweite einer belgischen Transactie, in dem die vorgelagerte Frage, ob diese Art von Administrativentscheidung überhaupt der Rechtskraft fähig ist, offengelassen wurde, da sich nach der Auffassung des Gerichts eine solche jedenfalls in dem aktuell zu entscheidenden Verfahren nicht auf die Angeklagten erstreckt hätte. Die genaue Reichweite einer Transactie bleibt auch nach der grundsätzlich positiven Bescheidung der entsprechenden Vorlagefrage des OLG Köln durch den EuGH offen. Das BayOLG hat die Subsumtion eines österreichischen Straferkenntnisses unter Art. 54 SDÜ nach einem entsprechenden Auskunftsersuchen an das österreichische Bundesjustizministerium abgelehnt. Auch hier läßt sich eine gefestigte Tendenz der Rechtsprechung bislang noch nicht erkennen. Dem für ein erweitertes Verständnis des Begriffs der „rechtskräftigen bzw. endgültigen Aburteilung“ in Art. 54 SDÜ sprechenden Argument der fortschreitenden Integration der Mitgliedstaaten in einen einheitlichen euro50 51
BayOLG StV 2001, 263. So auch die Einschätzung von B. Hecker StV 2001, 306 (307).
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päischen Rechtsraum werden Argumente der fehlenden Gegenseitigkeit und der angebliche Wille der Vertragsparteien entgegnet, die einander die Waage zu halten scheinen. Eine Einordnung der deutschen Rechtsprechung im Vergleich zu der anderer Staaten ist angesichts der geringen Zahl zugänglicher Entscheidungen bislang nicht möglich. Allgemein zeigt sich das Bemühen, durch Anfragen bei den Behörden des Erstverfolgerstaates Lösungen zu finden, die die dortige Einschätzung der Rechtslage in nicht unerheblichem Umfang berücksichtigen. So ist bislang keine Entscheidung ergangen, in dem ein Staat für eine seiner Entscheidungsformen ausdrücklich eine transnationale Rechtskraft nach Art. 54 SDÜ gefordert hätte und ein ausländisches Gericht gegenteilig entschieden hätte. Welche Auswirkungen die Entscheidung des EuGH zeitig, ist derzeit noch nicht endgültig52 absehbar.
b) Verständnis insbesondere des Begriffs der „rechtskräftigen Aburteilung“ gem. Art. 54 SDÜ in der Rechtswissenschaft Die von der Rechtswissenschaft aufgezeigten Interpretationsmöglichkeiten knüpfen zumeist an die von der Rechtsprechung vorgegebenen Problemfälle an und versuchen, diese einer angemessenen Lösung zuzuführen. Die Diskussion konzentriert sich dabei auf das Verständnis des Begriffs der „rechtskräftigen bzw. endgültigen Aburteilung“. Einigkeit besteht – zu Recht – darin, daß der Wortlaut der Art. 54 ff. SDÜ insbesondere bei dem Begriffsmerkmal der „rechtskräftigen bzw. endgültigen Aburteilung“ eine eindeutige Auslegung nicht zuläßt. Zwischen den verschiedenen authentischen Sprachen53 bestehen Widersprüche, die sich auch durch historische Auslegungsansätze nicht weiter aufhellen lassen54. Überwiegend wird für seine Bestimmung dann vom nationalen Recht des Erstverfolgerstaates ausgegangen und insoweit von einem „nationalstaatsakzessorischen Verständnis“ gesprochen55. Abweichungen bestehen meist nur in Details bei der Beurteilung des nationalen Rechts im Einzelfall sowie insbesondere im Rahmen der sog. teleologischen Interpretation des Regelungskomplexes: Zu einer vorläufigen Einschätzug siehe Mansdörfer StV 2003, 313 (314). Art. 54 SDÜ ist nunmehr in allen jeweiligen Landessprachen der Schengen-Staaten gültig, wobei schon erste Differenzen zu Übersetzungen des EG-ne-bis-in-idem-Übereinkommens selbst innerhalb einer Sprache identifiziert wurden, Schomburg NJW 2001, 801 (803); Thomas, ne bis in idem, S. 245 will den Begriff der endgültigen Aburteilung mit der Wendung „ein durch endgültiges Urteil beendetes Verfahren“ gleichsetzen. 54 So z.B. Radtke / Busch EuGRZ 2000, 421 (424); Bohnert / Lagodny NStZ 2000, 636 (636); B. Hecker StV 2001, 306 (308 f.); Schomburg in: Schomburg / Lagodny, IRSt, Art. 54 Rn. 9 ff.; Stange / Rilinger StV 2001, 540 (540); ausführlich Specht S. 132 – 139; Kühne JZ 1998, 876 (879), Dannecker in: Eser / Rabenstein, Neighbours in law, S. 155 (176 f.); Plökkinger / Leidenmühler wistra 2003, 81 (83 ff.). 55 So etwa Radtke NStZ 2001, 642 (644); Radtke / Busch EuGRZ 2000, 421 (431); B. Hekker StV 2001, 306 (308 f.); Schomburg StV 1999, 246 (246 f.); Specht S. 153 ff. 52 53
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Göhler und Seitz wollen den Anwendungsbereich von Art. 54 SDÜ unter Hinweis auf die oben dargestellte Rechtsprechung äußerst strikt auf gerichtliche Entscheidungen beschränken und bei sonstigen Entscheidungen nationale Opportunitäts- oder Anrechnungsregelungen zur Anwendung bringen56. Schomburg57 fordert unter Hinweis auf die systematische Einordnung des Doppelbestrafungsverbots als allgemeinem Grundsatz der Rechtsstaatlichkeit und staatenübergreifendem Menschenrecht eine weitest mögliche Toleranz und Akzeptanz ausländischer Entscheidungen, wobei Ausgangspunkt der Grundsatz international arbeitsteiliger Strafverfolgung sein müsse. Angesichts der bestehenden Sanktionsdifferenzen seien etwaige Härtefälle – auch aus pragmatischen Gründen – für eine Übergangszeit noch hinzunehmen. Anscheinend als eine Art Untergrenze dessen, was anerkannt werden soll, zieht er zugleich den aus dem Rechtshilferecht bekannten Grundsatz der Gegenseitigkeit heran. Jedenfalls in dem Umfang, in dem eigenen Entscheidungen zwischenstaatliche Erledigungswirkung zukommen solle, müssten auch Entscheidungen der Partnerstaaten anerkannt werden. Insgesamt bleibt Schomburg damit in seiner Begriffsbestimmung vage und ohne klare Abgrenzungskriterien. Diese Kritik trifft letztlich auch auf Specht zu, die das SDÜ – anders als Schomburg – zunächst ausdrücklich dem europäischen Gemeinschaftsrecht zuordnet und ihre Auslegung an den hierfür geltenden Maximen ausrichtet58. Sie betont das übergeordnete Ziel des SDÜ, das nicht nur in dem Abbau der Grenzkontrollen sondern letztlich der Binnengrenzen insgesamt liege und dem die verschiedenen Politiken des SDÜ zuzuordnen seien. Auch die Regelungen der Art. 54 ff. SDÜ dienten diesem Ziel. Man dürfe nicht nur ihre menschenrechtliche Bedeutung in Rechnung stellen, sondern müsse zudem beachten, daß diese Regelungen zugleich einer effizienteren Behandlung von Strafrechtsfällen dienten und verhinderten, daß ein Staat einem anderen seine kriminalpolitischen Vorstellungen aufzwinge. Um diese Ziele umfassend zu verwirklichen, sei der Begriff der Entscheidung möglichst weit zu fassen. Da endgültige Entscheidungen per se in Rechtskraft erwachsen würden, hätte der Begriff „rechtskräftig bzw. endgültig“ in Art. 54 SDÜ nur dann einen Sinn, wenn darin eine Verweisung auf das nationale Recht des Erstentscheiderstaates zu sehen sei, das klar definiere, welchen Entscheidungen eine verfahrensbeendende Wirkung zukomme. Dies hätte eine Koppelung der verschiedenen Rechtssysteme zur Folge, die dem Gemeinschaftsrecht auch an anderen Stellen bekannt sei. Letztlich spiegelte die Auslegung von Art. 54 SDÜ aber das Problem wieder, ob eine Harmonisierung des Rechts durch Angleichung oder Anerkennung erfolgen sollte, wobei man sich hier für letztere entschieden habe. 56 Göhler, Ordnungswidrigkeitenrecht, 12. Aufl., § 84 Rn. 18 und ihm nachfolgend auch Seitz in: Göhler, Ordnungswidrigkeitenrecht, 13. Aufl., § 84 Rn. 18. 57 Schomburg in: Schomburg / Lagodny, IRSt, Art. 54 Rn. 32 ff.; an diesen anschließend Ebensperger ÖJZ 1999, 171 (183), der sich aber insgesamt für eine möglichst extensive Auslegung des Art. 54 SDÜ ausspricht. 58 Specht S. 144 – 156.
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Auch B. Hecker betont im Rahmen seiner teleologischen Interpretation von Art. 54 SDÜ die fortschreitende Integration der Mitgliedstaaten und betrachtet ein möglichst weitreichendes transnationales Doppelbestrafungsverbot als rechtsstaatliches Korrektiv gegenüber einer international arbeitsteiligen Strafverfolgung59. Die Idee, einen gemeinsamen Rechtsraum zu schaffen, könne nur durch eine Harmonisierung des Rechts oder das Prinzip der gegenseitigen Anerkennung verwirklicht werden. Da die verschiedenen nationalen Strafrechtssysteme einer Angleichung derzeit allenfalls beschränkt zugänglich seien, verbleibe damit nur das Prinzip der gegenseitigen Anerkennung60. Die Definitionsmacht über den nationalen Rechtsakt, an den Art. 54 SDÜ anknüpfe, liege daher ausschließlich beim Erstverfolgerstaat. Entscheidend sei somit, ob und in welchem Umfang eine Entscheidung nach dessen Recht zu einem Strafklageverbrauch führe. Entsprechend soll die Entscheidung über eine etwaige Wiederaufnahme des Verfahrens das Gericht des Erstverfolgerstaates treffen. Nach deutschem Recht beschränkt rechtskräftigen Entscheidungen soll demnach auch transnational nur eine beschränkte Rechtskraft zukommen. Eine solche Auffassung führt jedoch zu starken Friktionen zwischen den Systemen. Diese treten deutlich zu Tage, wenn an die verschiedenen Möglichkeiten einer Wiederaufnahme zu Ungunsten des Angeklagten oder die teils erheblich differierende Einordnung einer Tat als Kriminal- oder Verwaltungsstrafrecht erinnert wird61. Soll hier die deutsche Wiederaufnahme zu Lasten des Angeklagten über Art. 54 SDÜ in den französischen Rechtskreis importiert werden? Daß eine Wiederaufnahme nach den Rechten beider Nationalstaaten möglich ist, wird ja wohl nicht verlangt. Oder soll die österreichische Einordnung der Trunkenheit im Verkehr als Verwaltungsunrecht die Regelung des § 316 im deutschen StGB überspielen? Zuletzt: Warum sollte die Idee eines gemeinsamen Rechtsraums nicht anstelle der von Hecker erörterten Alternativen der Harmonisierung oder Anerkennung durch eine optimierte Koordination der Einzelsysteme verwirklicht werden? Bohnert / Lagodny beschreiten einen ebenfalls betont prozeßualen Lösungsweg62. Auch sie knüpfen ihre Untersuchungen an der Frage an, ob eine bestimmte Form der Entscheidung nach dem Recht des Erstverfolgerstaates in Rechtskraft erwächst. Sie beantworten diese aber nicht einfach positiv oder negativ, sondern unterscheiden nach der „Intensität der Rechtskraft“ bzw. der „Rechtskraftqualität“. Bei Entscheidungen des französisch-romanischen Rechtskreises, der eine Wiederaufnahme zu Ungunsten des Angeklagten nicht kenne, sei die Rechtskraft demB. Hecker StV 2001, 306 (309 f.). Tendenziell anders fordert B. Hecker NStZ 2002, 663 (664) neuerdings in Bezug auf Art. 62 SDÜ eine Auslegung der Auslieferungsbestimmungen des SDÜ im Lichte von Art. 29 EUV und betont in diesem Zusammenhang den Zielsetzung, den einheitlichen Rechtsraum durch eine intensivierte polizeiliche und justizielle Kooperation herzustellen. 61 Ähnlich bereits das Fazit für die derzeit rechtstatsächlich bestehende Situation von Stange / Rilinger StV 2001, 540 (541); kritisch zur Tragfähigkeit dieses Ansatzpunktes auch Radtke NStZ 2001, 662 (664). 62 Bohnert / Lagodny NStZ 2000, 636 (640). 59 60
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D. Problematik eines zwischenstaatlich wirkenden Prinzips des ne bis in idem
nach intensiver als bei österreichischen Entscheidungen, wo das Verfahren schon beim Vorliegen neuer Tatsachen wieder aufgenommen werden könne. Um Wertungswidersprüche zu vermeiden, müsse man sich auf den kleinsten gemeinsamen Nenner festlegen. Rechtskräftige bzw. endgültige Entscheidungen i.S.v. Art. 54 SDÜ sind demnach zweifellos solche, die jeglicher Wiederaufnahme zu Ungunsten des Angeklagten entgegen stünden, aber auch solche, bei denen eine Wiederaufnahme bereits aufgrund neuer Tatsachen zulässig sei. Dies stünde im übrigen im Einklang mit Art. 4 Abs. 2 7. ZPEMRK, wonach eine Wiederaufnahme bei Vorliegen neuer Tatsachen zulässig sei. Zuständig für die Beurteilung, ob die Voraussetzungen einer Wiederaufnahme gegeben sind, ob also neue Tatsachen vorliegen, solle die Instanz sein, die die rechtskräftige Entscheidung erlassen habe. Insgesamt nehmen Bohnert / Lagodny damit eine vermittelnde Position ein. Sie fassen den Kreis der rechtskräftigen Entscheidungen zunächst recht weit, schränken andererseits aber das Prinzip der Rechtskraft in seinen Wirkungen deutlich ein. Wenn in einem konkreten Fall die Voraussetzungen einer Wiederaufnahme angenommen werden, sieht sich das Individuum gleichwohl im Zweitverfolgerstaat einem neuerlichen Verfahren mit allen seinen nationalen Besonderheiten ausgesetzt. Über die Förderung der europäischen Integration hinaus betonen Radtke / Busch, das SDÜ solle die Grundlage für eine gemeinsame europäische Innenpolitik und eine engere justizielle Zusammenarbeit schaffen63. Die Art. 54 ff. SDÜ sollen verhindern, daß ein Vertragsstaat ausländische Informationen und Unterstützungshandlungen benutzt, um ein abgeschlossenes ausländisches Strafverfahren aufzurollen und so seine Wertvorstellungen im Strafrecht gegenüber denen des Erstentscheidungsstaates durchzusetzen. Im Hinblick auf einen einheitlichen Anwendungsbereich des SDÜ sei daher auf das Recht des Erstentscheidungsstaats abzustellen. Dabei sei von den formellen und materiellen Kriterien auszugehen, die nach dem maßgeblichen nationalen Strafverfahrensrecht des Erstverfolgungsstaates für die Rechtskraftfähigkeit relevant sind, wie die Art und Weise der Sachverhaltsaufklärung oder die Beteiligungsmöglichkeiten der Verfahrenssubjekte64. Eine Beschränkung auf in einer Hauptverhandlung ergangene Sachurteile führe aufgrund der unterschiedlich umfänglichen Möglichkeiten nicht-richterlicher Ver63 Radtke / Busch EuGRZ 2000, 421 (426 ff.); Radtke NStZ 2001, 662 (664) bezeichnet diese Auffassung als – soweit überhaupt einschlägige Äußerungen zu finden seien – in der deutschen Literatur vorherrschend; ihm in der Sache nachfolgend für Österreich Auer ÖRiZ 2000, 52 (54), soweit er das Erfordernis einer richterlichen Entscheidung problematisiert, während er für die Frage, ob Beschlüsse Entscheidungen i.S.v. Art. 54 SDÜ sind, auf eine nicht nur vorübergehende Sperrwirkung nach dem nationalen Recht abstellt. 64 Radtke NStZ 2001, 662 (664), der zugleich vor der Gefahr warnt, sich zu sehr von der deutschen Vorstellung eines auf einer mündlichen Verhandlung beruhenden Sachurteils leiten zu lassen; ähnlich stellt auch Kühne JZ 1998, 876 (877 ff.) und ders. StV 1999, 480 (480 f.) für die von ihm ausführlich behandelte Frage, ob eine französische ordonnance de non-lieu eine rechtskräftige bzw. endgültige Entscheidung gem. Art. 54 SDÜ ist, auf einen umfassenden Systemvergleich der verschiedenen Rechte ab und rückt hierbei die Grundsätze der Unmittelbarkeit der Beweisaufnahme, der Mitwirkungsmöglichkeiten der Verfahrensbeteiligten, Akteneinsichtsrechte und strafprozessuale Zwangsmaßnahmen in den Vordergrund.
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fahrensbeendigungen in den verschiedenen Mitgliedstaaten zu erheblichen Unterschieden im Anwendungsbereich von Art. 54 SDÜ, die mit dem Prinzip der Gegenseitigkeit im Rahmen völkerrechtlicher Verträge nicht vereinbar sei. Zudem bestünde mit der Gewährleistung des rechtstaatlichen Verfahrens eine gemeinsame Basis, die das von Art. 54 SDÜ geforderte Vertrauen zusätzlich rechtfertige. Da das SDÜ keine Regelungen über die Wiederaufnahme des Verfahrens enthalte, sei zu überlegen, ob Art. 54 SDÜ für den Fall, daß die materiellen Voraussetzungen eine Wiederaufnahme des Verfahrens nach dem Strafverfahrensrecht des Erstverfolgerstaates vorliegen, nicht teleologisch reduziert werden müsse. Auch Radtke / Busch vermeiden es aber, die genauen Kriterien für die Ermittlung dieser Rechtskraftfähigkeit zu nennen, und enthalten sich zunächst einer Stellungnahme zu der Problematik beschränkt rechtskräftiger Entscheidungen. In einer nachfolgenden Auseinandersetzung mit diesem Thema, favorisiert Radtke zunächst dann abweichend eine Bestimmung der Rechtskraft nach „europäischen“ Kriterien. Dabei verweist er zunächst nur auf die von Bohnert / Lagodny entwickelten Ideen65. In ihrem jüngsten Versuch, den Anwendungsbereich von Art. 54 SDÜ näher zu bestimmen, versuchen Radtke / Busch, die „für die Ausfüllung der Wendung ,rechtskräftig abgeurteilt‘-maßgeblichen Kriterien materieller Rechtskraft“ zu verfeinern66. Der Rechtskraftumfang soll nunmehr danach bestimmt werden, ob „die den ersten Prozess abschließende Entscheidung die Überzeugung (des Richters) von der Schuld des Angeklagten voraussetzt, wie weit die Kognitionskompetenz, also die rechtliche Pflicht, die angeklagte Tat aufzuklären und über sie zu entscheiden, reicht, wie die Methoden der Sachverhaltsaufklärung des Verfahrens gestaltet sind und ob schließlich eine Begründung der verfahrenserledigenden Entscheidung zu erfolgen hat.“67 Die extensivste Auslegung des Merkmals der „endgültigen Aburteilung“ gem. Art. 54 SDÜ findet sich bei Endriß / Kinzig68. Diese gehen von dem Beispielsfall eines niederländischen Staatsbürgers aus, dem wegen eines Drogendelikts in der Schweiz der Prozeß gemacht wurde und der Jahre später in Deutschland erneut zu einer mehrjährigen Freiheitsstrafe wegen derselben Tat verurteilt wird, obwohl in den Niederlanden das schweizerische Urteil die Strafklage verbraucht hatte. Sinn und Zweck der Art. 54 ff. SDÜ sei, den Angeklagten vor einem zweiten Verfahren überhaupt zu schützen. Art. 54 SDÜ müsse daher bereits dann eingreifen, wenn in einem hypothetischen Prozeß im Heimatstaat des Angeklagten aufgrund einer im dortigen nationalen Recht normierten weitgehenden Anerkennung der Erledigungswirkung eines ausländischen Urteils zwingend ein unbehebbares Prozeßhindernis bestanden habe. Schließlich könne es keinen Unterschied machen, ob die Behörden des Heimatstaates – richtigerweise – die Erledigungswirkung erkennend 65 66 67 68
Radtke NStZ 2001, 662 (664). Radtke / Busch NStZ 2003, 281 (287). Radtke / Busch NStZ 2003, 281 (287). Endriß / Kinzig StV 1997, 665 (668).
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D. Problematik eines zwischenstaatlich wirkenden Prinzips des ne bis in idem
überhaupt kein Verfahren einleiten oder ob ein Verfahren – fälschlicherweise – eingeleitet würde, das unstreitig den Eintritt des Doppelbestrafungsverbot gem. Art. 54 SDÜ zur Folge hätte. Schon das von Endriß / Kinzig gewählte Beispiel des niederländischen Rechts mit seiner im europäischen Vergleich außergewöhnlich weitgehenden Anerkennung jeglicher ausländischer Urteile weist auf die diesem Ansatz implizite Ungleichbehandlung von Tätern hin, deren Heimatrechte in diesem Punkt restriktiver gehalten sind. Um dieser Ungleichbehandlung entgegen zu wirken, bliebe nur der Rückgriff auf einen weltweiten materiell-strafrechtlichen Mindeststandard, womit über das Anliegen des Schengener Übereinkommens, das nur eine engere Kooperation und Koordination der nationalen Rechtssysteme der Vertragsstaaten zum Gegenstand hat, weit hinausgegangen würde. Bemerkenswert erscheint zuletzt noch die Konzeption des Art. 54 SDÜ in den Schlußanträgen des Generalanwalts Ruíz-Jarabo Colomer zu den verbundenen Rechtssachen C-178 / 01 und C-385 / 01. Obgleich der Gerichtshof in den beiden Verfahren lediglich darüber zu entscheiden hat, ob eine deutsche Einstellung von Seiten der Staatsanwaltschaft gem. § 153a StPO bzw. eine niederländische Transactie rechtskräftige bzw. endgültige Entscheidungen gem. Art. 54 SDÜ sind, hat Ruíz-Jarabo Colomer umfassend zur Konzeption der Art. 54 ff. SDÜ Stellung genommen: Um eine bestmögliche Integration der nationalen Strafrechte zu erreichen, sollten die Art. 54 SDÜ autonom ausgelegt werden69. Art. 54 SDÜ beruhe danach auf zwei Pfeilern, der Rechtssicherheit und der Gerechtigkeit70, und stelle insgesamt ein Grundrecht der EU-Bürger dar71. Zweck der Strafe sei Vergeltung und Abschreckung, wenn in diesem Sinn in einer Entscheidung die staatliche Strafgerichtsbarkeit zum Ausdruck kommt, soll eine endgültige Aburteilung im Sinne von Art. 54 SDÜ vorliegen72. Dabei verlange der Grundsatz des ne bis in idem in seiner klassischen Formulierung eine Identität des Täters, des Sachverhalts und des geschützten Rechtsguts73. Insgesamt erscheint dieser Ansatz mit seinem grundrechtlichen Verständnis des Art. 54 SDÜ sehr progressiv, zeigt aber auch einige entscheidende Mängel. So wird nicht zwischen den systeminternen, zwischenstaatlichen und supranationalen Wirkrichtungen des Prinzips unterschieden. Die systematische Auslegung des Begriffs der endgültigen Aburteilung in Art. 54 SDÜ erscheint verfehlt, soweit sie den extensiven Wortlaut „Justizentscheidungen“ der 69 Schlussantrag des Generalanwalts Ruíz-Jarabo Colomer vom 19. September 2002 in den verb. Rs. C-178 / 01 und C-385 / 01, Ziff. 42. 70 Schlussantrag des Generalanwalts Ruíz-Jarabo Colomer vom 19. September 2002 in den verb. Rs. C-178 / 01 und C-385 / 01, Ziff. 49. 71 Schlussantrag des Generalanwalts Ruíz-Jarabo Colomer vom 19. September 2002 in den verb. Rs. C-178 / 01 und C-385 / 01, Ziff. 114. 72 Schlussantrag des Generalanwalts Ruíz-Jarabo Colomer vom 19. September 2002 in den verb. Rs. C-178 / 01 und C-385 / 01, Ziff. 50, 62. 73 Schlussantrag des Generalanwalts Ruíz-Jarabo Colomer vom 19. September 2002 in den verb. Rs. C-178 / 01 und C-385 / 01, Ziff. 56 mit Verweis auf die Entscheidung des EuGH im Fall Maizena, Rs. 137 / 85, Ziff. 21 ff.
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Auffangvorschrift des Art. 58 SDÜ einfach auf Art. 54 SDÜ überträgt. Wenn schließlich als Voraussetzung für das Eingreifen des Grundsatzes des ne bis in idem eine Identität der geschützten Rechtsgüter verlangt wird, wird eine – zudem noch im Detail anders gelagerte – Rechtsprechung des EuGH zum supranationalen Recht übernommen74, die auch dort stark umstritten ist75, und neueren Tendenzen etwa in der Rechtsprechung zum internationalen Zivilprozeßrecht diametral entgegen steht76.
c) Kritik und Entwicklung eines systematisch-teleologischen Lösungsansatzes Wie namentlich Bohnert / Lagodny und Endriß / Kinzig zeigen, kann das Verständnis des Begriffs der „rechtskräftigen bzw. endgültigen Aburteilung“ in Art. 54 SDÜ nicht nur – wie es dem Verständnis der herrschenden Meinung entspricht – nationalstaatsakzessorisch an das Recht des Erst- oder Zweitverfolgerstaates anknüpfen, ebenso ist es möglich, einen eigenen Standard zu entwickeln. Welcher Weg dabei gewählt werden sollte, hängt maßgeblich davon ab, mit welchem qualitativen Grundverständnis77 an die Interpretation der Art. 54 ff. SDÜ herangegangen wird bzw. welches Verständnis sich hinter der jeweiligen Argumentation verbirgt, wenn dieses – was bereits zu Beginn der Erörterungen moniert wurde – nicht hinreichend deutlich offengelegt wird78. Die Argumentation ist dabei teilweise in sich widersprüchlich, da sowohl dem Völkerrecht als auch dem 74 Die Entscheidung des EuGH im Fall Maizena, Rs. 137 / 85 hatte die Frage zum Gegenstand, ob die Auferlegung von zwei Kautionen, von denen die eine die Rückzahlung im voraus gewährter Ausfuhrerstattungen und die andere die fristgerechte Ausfuhr bestimmter Güter sichern sollte, gegen das Prinzip des ne bis in idem verstoße. 75 Erinnert sei etwa an die Diskussion um die Identität des Rechtsguts beim Schutz des nationalen und des europäischen Wettbewerbs; ausführlicher dazu unten E. III. 76 Siehe etwa EuGH im Fall Gubisch gegen Palumbo, Rs. 144 / 86 Ziff. 8, 13 ff., wonach die Rechtshängigkeit einer Klage auf Erfüllung eine Klage der anderen Partei auf Auflösung des Vertrages ausschließen soll, damit insgesamt eine einheitliche Entscheidung des Streitfalles gesichert ist. Obwohl die Klage auf Auflösung des Vertrages in ihren Wirkung sehr viel umfassender ist, wurde hier aufgrund des Zwecks der entsprechenden Regelungen des EuGVÜ darauf abgestellt, ob die beiden Klagen „wegen desselben Anspruchs“ anhängig gemacht wurden. 77 Siehe dazu oben D. I. 1.; im Ansatz ähnlich Specht S. 123 – 130. 78 Dies mag daran liegen, daß es zum Teil an einem solchen Konzept fehlt, daß die Einordnung des SDÜ aufgrund seines provisorischen Charakters erhebliche Schwierigkeiten aufweist oder daß aufgrund der Ungewohntheit der Materie bewußt Zurückhaltung geübt wird; den provisorischen Charakter des SDÜ betont insbesondere Schomburg NJW 2000, 1833 (1839 f.); ähnlich Schermers, Liber amicorum Pierre Pescatore, S. 601 (611), der die „beste“ Lösung in einem Internationalen Kollisionsrecht sieht; nach Dannecker in: Eser / Rabenstein, Neighbours in Law, S. 155 (156) beinhalten u. a. Art. 50 EU-Grundrechtscharta und die Art. 54 ff. SDÜ „the same regulation“.
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Bereich der Supranationalität der Europäischen Union zuzuordnende Topoi parallel verwendet und diese dann einander angepaßt werden müssen79: aa) Grundlegende Unterscheidung zwischen völkerrechtlichen und supranationalen Interpretationsansätzen Ein bedeutender Topos innerhalb der verschiedenen Auffassungen ist zum einen die Figur der Gegenseitigkeit, der insbesondere im traditionellen Völkerrecht eine herausragende Rolle zukommt. Hinter ihr verbirgt sich ein Mechanismus, der den agierenden Staaten gewährleistet, daß sie im Rahmen eines völkerrechtlichen Übereinkommens nicht mehr Kompetenzen abgeben, als sie im Gegenzug auf Kosten des anderen Vertragsstaates hinzugewinnen80. Formelles Instrumentarium sind hier die verschiedenen Formen intergouvernementaler Abstimmung81. Gerade im völkerrechtlichen Bereich gilt der Grundsatz der Wahrung der nationalen Souveränität, wie er etwa in den Einzelregelungen des „in dubio mitius“ oder dem grundsätzlichen Verbot von Analogieschlüssen zum Ausdruck kommt, und der durch die extensiven Interpretationsansätze des Europäischen Gemeinschaftsrechts schlicht überspielt würde82. Das andere in die Diskussion geworfene Stichwort ist das der Supranationalität, mit dem deutliche Unterschiede zum „normalen“ Völkerrecht zum Ausdruck gebracht werden83. Die Art. 54 ff. SDÜ werden hier implizit der Supranationalität der Europäischen Gemeinschaft teilhaftig, vermöge derer die Mitgliedstaaten in dem konkreten – ursprünglich ihrer Souveränität unterstehenden – Bereich ohne ihre ausdrückliche Zustimmung verpflichtet werden können84. Durch weithin ge79 Siehe insbesondere oben D. II. 1. b) die Interpretationsansätze von B. Hecker und Radtke. 80 J. Hecker EuR 2001, 826 (841); kritisch zu einer solchen Argumentation Hillgruber JZ 2002, 1072 (1075). 81 Hillgruber JZ 2002, 1072 (1076). 82 Siehe näher Seidl-Hohenveldern, Völkerrecht, Rn. 342 ff.; vgl. auch Hillgruber JZ 2002, 1072 (1075), wonach sich die Souveränität der Einzelstaaten bei der Vertragsinterpretation dadurch fortsetzt, daß jeder Staat zunächst selbständig beurteilt, welche Pflichten sich für ihn aus einem völkerrechtlichen Vertrag ergeben. 83 Schweitzer / Hummer, Europarecht, Rn. 58 sprechen in diesem Zusammenhang von „zwei unterschiedlichen Rechtsmassen, nämlich Gemeinschaftsrecht und Völkerrecht, die [erg.: durch den Vertrag von Maastricht] unter einen einheitlichen institutionellen Rahmen gebracht wurden“; Bleckmann NJW 1982, 1177 (1178 ff.) spricht zusammenfassend von einer Reihe typischer Verschiebungen der völkerrechtlichen Auslegungsregelungen, die in der Struktur des Gemeinschaftsrechts angelegt sind. 84 So die generelle Definition des Begriffs „Supranationalität“ bei Schweitzer / Hummer, Europarecht, Rn. 872; Schermers, Liber amicorum Pierre Pescatore, S. 601 (605) meint diesbezüglich: „For community matters the Member States sacrificed their sovereignityt“; deutlich wird dies auch bei Pechstein / Koenig, Europarecht, Rn. 7 ff., 360, die von einem prinzipiellen Unterschied zwischen dem supranationalen Gemeinschaftsrecht und dem rein völkerrechtlichen Recht der PJZS sprechen; noch weiter gehen in diesem Bereich Bogdandy /
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billigte Instrumentarien wie die teleologische Argumentation mit dem Topos der fortschreitenden Integration der Mitgliedstaaten, dem Prinzip des „effet utile“ und die Lehre von den „implied powers“ läßt sich die nationale Souveränität daher in erheblichem Maße beschränken85. Integrationsziele werden hier durch eine Öffnung des Staates zur übergeordneten Ebene und deren exekutives und judikatives86 Einwirken, Rechtsangleichung und -vereinheitlichung realisiert87. Welchem dieser beiden Bereiche das Schengener Übereinkommen zuzuordnen ist oder ob für dieses zwar ähnliche, aber doch andere Prämissen gelten88, läßt sich am besten anhand seiner Entwicklungsgeschichte entscheiden und erörtern. bb) Klassifizierung der Art. 54 ff. SDÜ als intergouvernementales Recht und horizontalintegrierender Interpretationsansatz Die wechselhafte Geschichte des Schengener Übereinkommens beginnt im Juni 1984. Der französische Präsident und die Regierungschefs der übrigen EG Staaten geben zunächst im Rahmen des Europäischen Rates in der „Erklärung von Fontainebleau“ ihre Absicht bekannt, die Kontrollen an den EG-Binnengrenzen für den Verkehr von Waren und Personen bis zum 1. Januar 1993 abzuschaffen89. Kurz darauf schließen die Regierungen der Bundesrepublik Deutschland und Frankreichs das sog. „Saarbrücker Abkommen“ über den schrittweisen Abbau der Kontrollen an der deutsch-französischen Grenze90. Aus überwiegend wirtschaftlichen Erwägungen beschließen die Beneluxstaaten, sich an diesem Unternehmen zu beteiligen, so daß im Juni 1985 in dem luxemburgischen Ort Schengen das gleichnamige Übereinkommen unterzeichnet wird91. Das Schengener-Übereinkommen Nettesheim NJW 1995, 2324 (2324 ff.), die im Rahmen ihrer Verschmelzungsthese (ebenso wie Trües [dargestellt bei Pechstein / Koenig, Europarecht, Rn. 19] mit seiner Einheitsthese) auch dem Unionsrecht Supranationalität zusprechen. 85 Zu den Auslegungsgrundsätzen im europäischen Gemeinschaftsrecht und den Besonderheiten gegenüber reinem Völkerrecht, siehe stellvertretend Bleckmann NJW 1982, 1177 (1178 ff.); speziell zur Integration durch Richterrecht aus jüngerer Zeit Knauff JA 2002, 719 (719 ff.); zum Unterschied zwischen völkerrechtlichem Effektivitätsprinzip und gemeinschaftsrechtlichem Grundsatz des „effet utile“ siehe zusammenfassend Pühs, Vollzug von Gemeinschaftsrecht, S. 80 – 105. 86 Für das Ausmaß der Integration durch Richterrecht und der damit verbundenen Rolle des EuGH im europäischen Einigungsprozeß siehe stellvertretend Knauff JA 2002, 719 (719 ff.). 87 J. Hecker EuR 2001, 826 (842); Bogdandy, Supranationaler Föderalismus, S. 18 ff. 88 Zum fließenden Übergang der Kooperationsformen im Prozeß der Europäischen Einigung siehe Leisner JZ 2002, 735 (735 ff.). 89 Ausführlich hierzu und zu den entsprechenden Bemühungen auch bereits zuvor auf der Ebene der Europäischen Gemeinschaft Taschner, Schengen, S. 15 – 31. 90 Saarbrücker Abkommen vom 13. Juli 1984 (veröffentlicht in BGBl. 1984 II S. 767 [768 ff.]). 91 Rüter, FS f. Tröndle, S. 855 (857).
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bricht dabei mit der bis dato üblichen europäischen Integrationsmethode und ist insoweit „verkehrte Welt“: Die Aufhebung der Grenzkontrollen ist nicht mehr der natürliche und fast automatisch eintretende Abschluß einer vollständig vollzogenen Integration sondern ein Vertragsziel, das trotz – manche meinen, gerade wegen – der offensichtlichen Unvollkommenheit dieser Integration kurzfristig verwirklicht werden soll92. Am 19. Juni 1990 wird schließlich das sog SchengenerDurchführungsübereinkommen geschlossen. Aufgrund ihrer Entstehung außerhalb des politisch-institutionellen Rahmens der Europäischen Gemeinschaften sind diese Übereinkommen eindeutig dem Völkerrecht zuzuordnen, so daß bei deren Auslegung die klassischen Prinzipien der Gegenseitigkeit zunächst mit Recht stark betont werden. Durch den Amsterdamer Vertrag soll der inzwischen erreichte sog. „SchengenBesitzstand“ in den Rahmen der Europäischen Union überführt werden93. Mit dem Beschluß 1999 / 436 / EG vom 20. Mai 199994 weist dann der Rat die Regelungen des Schengen-Besitzstandes verschiedenen Rechtsgrundlagen des Gemeinschaftsrechts bzw. der Polizeilichen und Justiziellen Zusammenarbeit in Strafsachen (PJZS) zu. Die Schengen-Maßnahmen erhalten mit dieser Zuordnung die Rechtsqualität als Gemeinschaftsrecht bzw. als Unionsrecht95 und der einst geschaffene gesonderte Rechtskreis wird aufgelöst96. Der Rat tritt an die Stelle des SchengenExekutivausschusses und das Schengen-Sekretariat wird en bloc in das Generalsekretariat des Rates eingegliedert97. Obgleich teilweise auch eine Zuweisung zur im EGV geregelten Freizügigkeit gefordert wird98, werden die Art. 54 ff. SDÜ den Art. 31 und 34 EUV und damit der völkerrechtlichen, zweiten Säule der Union zugeordnet. Insgesamt stellt dies einen Neuerlaß der Vorschriften in einem besonderen Verfahren dar99. Ob die Entwicklung der Regelung des Prinzips des ne bis in idem in den Art. 54 ff. SDÜ damit abgeschlossen ist, bleibt jedoch abzuwarten: 92 Rüter, FS f. Tröndle, S. 855 (858) geht noch einen Schritt weiter, indem er schreibt: „Sicher scheint, daß es sich hier um ziemlich einsame Grundsatzentscheidungen der Regierungschefs handelt, ohne vorherige Anhörung zum Beispiel von Experten aus den Reihen von Polizei und Justiz, anfänglich sogar manchmal ohne Beteiligung der jeweiligen Justizund Innenminister und, wie man wohl vermuten kann, ohne tiefe Einsichten in die Folgen für die Sicherheits- und Kriminalpolitik. 93 Protokoll zur Einbeziehung des Schengen-Besitzstandes in den Rahmen der Europäischen Union, ABl. EG 1997 Nr. C 340 / 93; siehe dazu auch Plöckinger / Leidenmühler wistra 2003, 81 (82 f.). 94 ABl. EG 1999 Nr. L 176 / 17. 95 Pechstein / Koenig, Europarecht, Rn. 365. 96 Schomburg NJW 1999, 550 (550). 97 Röben in: Grabitz / Hilf, Das Recht der Europäischen Union – Kommentar, vor Art. 29 EUV Rn. 12. 98 So Specht S. 124 (Fn. 318); ähnlich schon zuvor die Stellungnahme des Bundesrates zum Schengener Übereinkommen BT.-Drs. 12 / 2453 S. 96 (96). 99 Röben in: Grabitz / Hilf, Das Recht der Europäischen Union – Kommentar, vor Art. 29 EUV Rn. 12.
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Zum einen behält Art. 42 EUV dem Rat ausdrücklich das Recht vor, die in Art. 29 EUV genannten Politiken später in das Gemeinschaftsrecht zu überführen100. Zum anderen kann die Richtigkeit der derzeitigen Zuordnung vom EuGH überprüft werden. Die Unionsorgane müssen diese Akte nämlich auf gemeinschaftsrechtliche Grundlagen stützen, soweit diese einschlägig sind, und dem EuGH steht in diesem Punkt eine besondere Prüfungskompetenz zu101. Damit sind die Art. 54 ff. SDÜ als intergouvernementales Recht auszulegen, wobei sich die Weiterentwicklung des Schengen Besitzstandes gem. Art. 5 Abs. 1 Schengen-Protokoll nunmehr nach den Vorschriften des jeweils anwendbaren Vertrages – hier also nach den Art. 31, 34 EUV – richtet102. Der Topos der fortschreitenden Integration der Mitgliedstaaten in die Europäischen Gemeinschaften gewinnt dabei insofern an Bedeutung, als eine horizontale Integration im Sinne einer stärkeren Verzahnung der mitgliedstaatlichen Hoheitsgewalten vorangetrieben wird. Den Art. 54 ff. SDÜ werden mit ihrer Zuordnung zu den Art. 31 und 34 EUV indessen ein klarer normativer Rahmen und Grenzen gesetzt. Indem die Mitgliedstaaten die Art. 54 ff. SDÜ einem Bereich zugewiesen haben, in dem sie ihre domaine réserve generell aufgeben, geht die Regelung über Völkerrecht im klassischen Sinn deutlich hinaus, ohne dadurch aber supranational zu werden. Die Mitgliedstaaten sehen diese Materien von einem gemeinsamen Interesse geprägt, nehmen sie durch gemeinsame Institutionen selbständig wahr und betonen gleichzeitig, daß hier ein sensibler Bereich staatlicher Souveränität betroffen ist103. Insgesamt zeigt sich darin die Bereitschaft, zwar selektiv auf die Ausschließlichkeit der nationalen Strafgewalt zu verzichten, zugleich aber eigene Handlungs- und Gestaltungsspielräume nicht über die Maßen beschneiden zu lassen104. Anstelle einer 100 Zur fortdauernden politischen Diskussion in diesem Bereich siehe Vogel GA 2002, 517 (517 f., 533). 101 EuGH Urteil vom 12. Mai 1998, Rs. C-170 / 96; Slg. 1998, I-2763 (2788); zustimmend Röben in: Grabitz / Hilf, Das Recht der Europäischen Union – Kommentar, vor Art. 29 EUV Rn. 41 sowie Schütz / Sauerbier JuS 2002, 658 (663 f.). 102 Ebenso Röben in: Grabitz / Hilf, Das Recht der Europäischen Union – Kommentar, vor Art. 29 EUV Rn. 13. 103 Röben in: Grabitz / Hilf, Das Recht der Europäischen Union – Kommentar, vor Art. 29 EUV Rn. 21; Dieckmann NStZ 2001, 617 (621); insoweit übereinstimmend auch der Befund von Vogel in: Zieschang / Hilgendorf / Laubenthal, Strafrecht, S. 29 (40 ff.), wonach sich die Harmonisierungspolitik zunehmend vom ersten Pfeiler in den dritten Pfeiler der Europäischen Union verschiebt – freilich ist es nach herrschender Meinung nicht, wie Vogel behauptet, Sache der Politik zu entscheiden, wo eine solche Materie geregelt werden soll, da die Rechtsprechung des EuGH insoweit einen Vorrang der ersten Säule annimmt, soweit dieser entsprechende Kompetenzen zustehen (EuGH Urteil vom 12. Mai 1998, Rs. C-170 / 96; Slg. 1998, I-2763 [2788] sowie aus der Literatur zustimmend Röben in: Grabitz / Hilf, Das Recht der Europäischen Union – Kommentar, vor Art. 29 EUV Rn. 41) . 104 Ein entsprechendes Fazit für den Gesamtbereich der polizeilichen und justiziellen Zusammenarbeit zieht Röben in: Grabitz / Hilf, Das Recht der Europäischen Union – Kommentar, vor Art. 29 EUV Rn. 48, der darin den Versuch sieht, zwischen den Polen supranationaler und völkerrechtlicher Methode pragmatisch handhabbare Übergangsformen zu entwickeln;
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D. Problematik eines zwischenstaatlich wirkenden Prinzips des ne bis in idem
supranationalen Hoheitsgewalt, die legislativ und exekutiv in die Mitgliedstaaten hineinwirkt, sollen durch eine Öffnung zur Seite die verschiedenen mitgliedstaatlichen Hoheitsgewalten miteinander verzahnt werden, um eine transnationale Wirkungseinheit zu begründen105. Indem sich diese Wirkungseinheit auf die Ebene von Strafverfolgungsbehörden sowie Gerichten und nicht auf Regierungen bezieht, geht sie über die traditionelle intergouvernementale Kooperation hinaus. Die Steuerungsressourcen sind dabei so einzusetzen, daß die überkommenen nationalen Systeme Bestand haben können und eine unionsweite Uniformität nicht notwendig ist106. cc) Ausformung dieses Ansatzes im normativen Rahmen der Art. 31, 34 EUV Näher ausgeformt werden diese grundsätzlichen methodischen Überlegungen durch den normativen Rahmen der Art. 31, 34 EUV, in den die Art. 54 ff. SDÜ nunmehr eingebettet sind. Er gibt die Richtung für die weitere Interpretation des im Grunde neu erlassenen Gesetzestextes vor und ist maßgebend für die zukünftige Entwicklung107. Dies gilt um so mehr, als sich der Wortlaut der Vorschrift an Begriffe anlehnt, die zur Bewältigung der jeweiligen systeminternen Anforderungen des Verbots mehrfacher Strafverfolgung entwickelt wurden, und die historische Auslegung aufgrund der wechselhaften Geschichte besonderen Bedenken begegnet. In Titel VI des EUV werden gem. Art. 29 EUV die Ziele von Art. 2 EUV aufgegriffen108 und Freiheit, Sicherheit und Recht als unmittelbar interdependente Gröebenso – insbesondere für den Bereich des Polizeikooperationsrecht – J. Hecker EuR 2001, 826 (842). 105 Zur Ausgestaltung und zum Einsatz des zur Verfügung stehenden Instrumentariums siehe etwa die Darstellung der Möglichkeiten zur Bekämpfung der transnationalen organisierten Kriminalität von Militello in: Militello / Arnold / Paoli, Organisierte Kriminalität, S. 3 (11 – 22) sowie Bogdandy, Supranationaler Föderalismus, S. 18 ff., der darauf hinweist, daß diese Mittel der Horizontalintegration erstmals mit dem Maastrichter Vertrag auf Unionsebene zur Verfügung standen, und in diesem Zusammenhang explizit die Bedeutung der Unionisierung des Schengen-Besitzstandes unterstreicht. 106 Zu diesem Integrationsansatz vergleiche auch J. Hecker EuR 2001, 826 (841 ff.) mit zahlreichen Beispielen aus dem europäischen Polizeikooperations-, Versicherungs- und Bankrecht; allgemeiner Cromme DÖV 2002, 593 (598 f.), der ein solches Kooperationsmodell der Union zukünftig generell zugrunde legen will; aus dem Bereich des Strafrechts neuerdings Schünemann GA 2002, 501 (503). 107 Ähnlich unter Betonung der nunmehr gegeben Zuständigkeit des EuGH für die Auslegung der Norm Dannecker in: Eser / Rabenstein, neighbours in law, S. 153 (176): „The necesssity of an independent interpretation of Art. 54 of the Convention applying the Schengen Agreement in relation to the legal situation in the Member States, arises from the fact that, since the entry into force of the Treaty of Amsterdam, the ECJ is responsible for the interpretation of Art. 54.“ 108 Röben in: Grabitz / Hilf, Das Recht der Europäischen Union – Kommentar, vor Art. 29 EUV Rn. 26.
II. Der Grundsatz des ne bis in idem im Schengener Durchführungsübereinkommen 161
ßen verstanden. Die Grundlage der Rechtsstellung des Individuums bildet hier die Unionsbürgerschaft und als Mittel zur Zweckerreichung werden die Zusammenarbeit von Polizei- und Justizbehörden sowie die Angleichung der nationalen Strafvorschriften genannt109. Art. 29 EUV richtet die polizeiliche und justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen auf diese Ziele aus und grenzt sie zu den Kompetenzen der Europäischen Gemeinschaft ab110. In Art. 31 EUV wird dieses Instrumentarium aufgenommen und präzisiert. Dabei steht grundsätzlich nicht etwa eine Mindestharmonisierung, sondern eine Koordinierung der nationalen Vorschriften im Vordergrund111. Deutlich zum Ausdruck kommt dies in Art. 31 lit. d EUV, wonach das gemeinsame Vorgehen im Bereich der justiziellen Zusammenarbeit in Strafsachen die Vermeidung von Kompetenzkonflikten zwischen den Mitgliedstaaten einschließt, was insbesondere das Verbot der Doppelbestrafung (ne bis in idem) betreffen soll112. Aus dieser – im europarechtlichen Schrifttum soweit absehbar unumstrittenen – Zuordnung des Prinzips des ne bis in idem und damit der Art. 54 ff. SDÜ zu Art. 31 lit. d EUV folgt eine Kritik insbesondere der Interpretationsansätze von Endriß / Kinzig sowie Bohnert / Lagodny und Radtke113. Deren Lösungen des Problems der Doppelbestrafung in Fällen mit transnationalen Bezugspunkten führen alle zu einer durch den Amsterdamer Vertrag gerade nicht in den Vordergrund gerückten Harmonisierung der verschiedenen nationalen Rechte. Sie unterscheiden sich vornehmlich dadurch, daß die einen auf einen materiell-rechtlichen Mindeststandard abstellen, während die anderen eine Vereinheitlichung im Prozessualen fordern. Dies korrespondiert mit den rechtstheoretischen Überlegungen zu Beginn dieser Arbeit zwar insoweit, als dort aufgezeigt wurde, daß das systeminterne Prinzip des ne bis in idem je nach der konkreten Ausgestaltung des Strafrechts ebenfalls Aus109 Die außerdem daneben stehenden Finanzinstrumente finden ihre Grundlage in Art. 41 EUV, sollen im Folgenden aber außer Betracht bleiben. 110 Röben in: Grabitz / Hilf, Das Recht der Europäischen Union – Kommentar, Art. 29 EUV Rn. 1. 111 Röben in: Grabitz / Hilf, Das Recht der Europäischen Union – Kommentar, Art. 31 EUV Rn. 1. 112 Pechstein / Koenig, Europarecht, Rn. 358; ebenso Röben in: Grabitz / Hilf, Das Recht der Europäischen Union – Kommentar, Art. 31 EUV Rn. 12, der die sich bei der Anknüpfung verschiedener Rechtsordnungen an eine Tat ergebenden Kompetenzkonflikte ebenfalls aus den mit dem Prinzip des ne bis in idem verbundenen rechtsstaatlichen Überlegungen für regelungsbedürftig hält; Böse in: Schwarze, EUV-Kommentar, Art. 31 Rn. 2, 8 sowie Geiger, EUV-Kommentar, Art. 31 EUV Rn. 5 und Brechmann in: Callies / Ruffert, Kommentar zu EUV und EGV, Art. 31 EUV Rn. 5, die in diesem Zusammenhang auch ausdrücklich auf Art. 54 SDÜ in seiner Fortgeltung als Unionsrecht verweisen; Schünemann GA 2002, 501 (503 f.). 113 Soll der prozeßuale oder materiell rechtliche Charakter des Doppelbestrafungsverbots betont werden, würde sich statt dessen eine Zuordnung zu Art. 31 lit. c EUV bzw. Art. 31 lit. e EUV anbieten; ebenso Brechmann in: Callies / Ruffert, Kommentar zu EUV und EGV, Art. 31 Rn. 4 u. 6, wonach Maßnahmen zur Harmonisierung des Strafprozeßrechts auf Art. 31 lit. d EUV beruhen.
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formungen im formellen wie im materiellen Recht findet. Völlig außer Acht gelassen wurden gleichwohl diejenigen Ansatzpunkte, die zu einer Vermeidung der Doppelbestrafungsproblematik a priori durch organisationsrechtliche Maßnahmen führen. Die mit Art. 31 lit. d EUV angestrebte Vermeidung von Kompetenzkonflikten bleibt bei dieser Auslegung – wie von Klip befürchtet114 – Werbeslogan und symbolische Gesetzgebung. Deutliche Ansätze in Richtung Vermeidung von Kompetenzkonflikten finden sich dagegen auch im zwischenstaatlichen Bereich bereits frühzeitig in multilateralen Abkommen wie zum Beispiel in der am 15. Mai 1972 geschlossenen Konvention über die Übertragung der Strafverfolgung115 und in deutlichem Zusammenhang mit dem Schengener Übereinkommen in der Gemeinsamen Erklärung der in Schengen am 19. Juni 1990 zusammengekommenen Minister und Staatssekretäre zur zukünftigen, gegenseitigen Übertragung von Strafverfahren einschließlich der Möglichkeit der Überstellung des Verdächtigen in sein Herkunftsland sowie im Jahr 2001 wieder in dem Maßnahmeprogramm zur Umsetzung des Grundsatzes der gegenseitigen Anerkennung gerichtlicher Entscheidungen in Strafsachen116. dd) Kompetenzverteilungsprinzip als Idealzustand de lege ferenda? Gerade auch für den Geltungsbereich des Schengener Übereinkommens wird dementsprechend de lege ferenda als Idealzustand ein System regional – auf (ein Teil-)Europa – begrenzter, internationaler Kollisionsnormen gefordert117. DerarKlip 22. Strafverteidigertag S. 39 (43). ETS No. 73; zu weiteren Beispielen siehe Gribbohm in: Jähnke / Laufhütte / Odersky (Hrsg.), Leipziger Kommentar, StGB, vor § 3 Rn. 138; Oehler, Internationales Strafrecht, S. 432 (Rn. 686) sieht in diesem Übereinkommen das Kompetenzverteilungsprinzip als am umfassendsten verwirklicht an. 116 ABl. EG 2001 Nr. C 12 / 2 ff. 117 So ausdrücklich z.B. Schermers, Liber amicorum Pierre Pescatore, S. 601 (611) und Schomburg StV 1999, 246 (247, Fn. 7), nach dem es „angesichts der Begründung des Gerichtsstands in immer mehr Staaten durch entsprechende Übereinkommen und daraus abgeleiteten Verpflichtungen zur Strafverfolgung, dringend kompensatorisch der Erarbeitung objektiv nachvollziehbarer Kriterien für die Bestimmung des (einen!) Gerichtsstands, die justiziell auszulegen sind, und bezüglich derer Strafverfolgungsbehörden und Beschuldigten rechtliches Gehör zu gewährleisten ist“ bedarf; Jung StV 1990, 509 (516) bezeichnet das nationalstaatliche Kompetenzgerangel schon seit langem als anachronistisch und fordert statt dessen eine europäische, kriminalistische Gesamtabstimmung; Rüter ZStW 105 (1993), 30 (45 f.) schlägt als Lösungsmodell unter Verweis auf Savigny ein striktes Territorialitätsprinzip vor; auch B. Hecker StV 2001, 306 (306) sieht den Hauptgrund der Gefahr einer mehrfachen internationalen Strafverfolgung in der Ausdehnung der nationalen Strafgewalten, die im Gegensatz zu den Regelungen des Internationalen Privatrechts gerade keine Kollisionsregelungen enthalten; weitergehend Lagodny 22. Strafverteidigertag S. 27 (28 ff.), der dem nach wie vor dominanten Denken in nationalen Kategorien das Konzept eines „international-arbeitsteiligen Strafverfahrens“ entgegenhält; neuerdings präzisiert Lagodny, FS f. Trechsel, S. 253 (262 ff.) seinen Ansatz dahin, daß die Zuständigkeit mehrerer Strafgewalten durch ein „Qualitätsprinzip“ reduziert werden müsse, was im Grunde nichts anderes als ein inhaltlich spezifiziertes Kompetenz114 115
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tige Kompetenzverteilungsprinzipien gewinnen zunehmend an Bedeutung und treten neben die herkömmlichen Grundsätze des internationalen Strafrechts118. In Einklang mit den im Rahmen der rechtstheoretischen Fundierung des Grundsatzes angestellten Überlegungen für ein systemintern wirkendes Prinzip des ne bis in idem führt dies zur Zuständigkeit eines einzigen Gerichts und weitergedacht einer einzigen Strafverfolgungsbehörde. Anknüpfungspunkte solcher Kompetenzverteilungsprinzipien sind dann nicht mehr grundsätzlich der Tatort und die Staatsangehörigkeit des Täters sondern der Täterwohnsitz oder andere Zweckmäßigkeitsüberlegungen. Dies korrespondiert mit der bei der Bekämpfung der Organisierten Kriminalität zu beobachtenden Tendenz zur Bestrafung unabhängig vom Tatort und zu Aufweichungen des Territorialitätsgrundsatzes bei Taten gegen Gemeinschaftsrechtsgüter119. Insgesamt werden damit nicht nur Doppelbestrafungen vermieden, verteilungsprinzip darstellt; ähnlich meint auch Vogel in: Tiedemann, Freiburg-Symposium, S. 91 (100), die Zeit sei reif, positive Kompetenzkonflikte durch eine horizontale Lösung im Sinne eines Kompetenzverteilungsprinzips beizulegen; zur ansatzweisen Verwirklichung im Bereich des Auslieferungs- und Rechtshilferechts de lege lata vgl. etwa die Regelungen in § 9 deutsches IRG, Art. 8, 9 EuAuslÜbk und Art. 21 EuRhÜbk sowie Wolf 22. Strafverteidigertag S. 67 (68, 69 f.), der diese Regelungen explizit auch dem Grundsatz des ne bis in idem zuordnet, und ähnlich für die Rechtslage in Frankreich Pralus Rev. sc. crim. 1996, 551 (562); ähnlich auch bereits Oehler, Int. Strafrecht, S. 585, der sich in einem vergleichbaren Zusammenhang für eine Vereinheitlichung der verschiedenen, nationalen Kollisionsnormen ausspricht; die deutsche Bundesregierung, BT-Drs. 14 / 4991 vom 14. Dezember 2000 S. 1 (40 f.), verweist in einer entsprechenden Stellungnahme zum einen auf die Komplexität einer solchen Regelung und auf die Einführung von Eurojust, dessen Ziel die Unterstützung bei der Koordinierung von Ermittlungen in mehreren Staaten sei, so daß derzeit noch abzuwarten sei, ob langfristig ein Bedürfnis für derartige Zuständigkeitsregelungen bestehe. 118 Gribbohm in: Jähnke / Laufhütte / Odersky (Hrsg.), Leipziger Kommentar, StGB, vor § 3 Rn. 137; ähnlich Oehler, Internationales Strafrecht S. V sowie S. 138 ff. (mit besonderem Verweis auf die Regelungen in den Strafgesetzbüchern der nordischen Länder, S. 140) und S. 431 ff.; Lagodny ZStW 101 (1989), 987 (1004 ff.), der zugleich die Schwierigkeit betont, die traditionellen Anknüpfungsprinzipien des internationalen Strafrechts hierarchisch gegeneinander abzustufen (zu einem entsprechenden Versuch siehe ders., FS f. Trechsel, S. 253 [262 ff.], wobei das dort erarbeitete „Qualitätsprinzip“ schlicht darauf hinausläuft, den Staat zu ermitteln, zu dem ein Geschehen insgesamt die engste Verbindung aufweist; das Problem der Vielzahl der maßgebenden Faktoren und ihre Gewichtung untereinander löst indessen auch dieser Ansatz nicht; zu einem im wesentlichen identischen Schluß wie Lagodny kommt auch eine niederländische Studie von Vander Beken / Vermeulen / Steverlynck / Thomaes, deren wesentliche Ergebnisse zusammengefaßt sind in Vander Beken / Vermeulen / Lagodny NStZ 2002, 624 [625 ff.]). 119 Röben in: Grabitz / Hilf, Das Recht der Europäischen Union – Kommentar, Art. 29 Rn. 11; zu den zunehmenden Auswirkungen der Einheitlichkeit des Rechtsraums im Bereich der kriminalpolizeilichen Ermittlungen vgl. die Stellungnahme des deutschen Innenministers Seiters zum Schengener-Übereinkommen in: Verhandlungen des Dt. BT, 12. WP Stenographische Berichte Bd. 161 S. 7296 (7297) sowie später auf europäischer Ebene Art. K. 3 des Maastrichter Vertrages bzw. Art. 30 Abs. 2 lit. b des Amsterdamer Vertrages und Gleß NStZ 2001, 623 (623 ff.), die einen Überblick über die Entwicklung von Europol als Sinnbild für die grenzüberschreitende Strafverfolgung in Europa gibt; einen Überblick über die Herausforderungen und Reaktionen, die die organisierte Kriminalität in Schengenland provoziert, gibt Militello in: Militello / Arnold / Paoli S. 3 (6 ff., 16 ff.). 11*
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D. Problematik eines zwischenstaatlich wirkenden Prinzips des ne bis in idem
sondern auch andere Friktionen im internationalen Strafrecht gelöst, namentlich in den Bereichen der Strafvollstreckung, der Anerkennung des ausländischen Strafrechts und der möglichst effektiven Einwirkung auf den Täter120. Für die mit dieser Thematik eng verbundene Frage der Harmonisierung der verschiedenen Rechte führt ein solcher Ansatz überdies zu einem Hinterfragen der sachlichen Legitimation nationaler Sonderwege. Es kommt zu einem Vereinheitlichungsdruck aus der Mitte des Volkes anstelle eines nationale Dissonanzen fördernden, zwischenstaatlichen Zwanges121. Gegen eine solche Konzeption läßt sich vorbringen, daß in dem Umfang, in dem das Kompetenzverteilungsprinzip verwirklicht würde, das internationale Strafrecht zu einem Recht der Gerichtsstände zurückgebildet würde. Dies wäre in der Geschichte Europas zwar kein bis dato einmaliger Vorgang122, der Vorschlag als solches ist aber angreifbar: Die entsprechenden Anknüpfungspunkte erscheinen zum Teil zufällig und eine hierarchische Abstufung unter ihnen ist äußerst schwierig123. Zumindest aus deutscher Perspektive droht zudem eine Verletzung der Grundsätze des gesetzlichen Richters und des nullum crimen sine lege. Deutlich wird dies an den Stellen, an denen die Anknüpfung über jede herkömmliche Lehre hinausgeht und im ersuchten Staat an solchen Gegebenheiten festmacht, die mit Täter und Tat nur noch ganz lose in Verbindung stehen oder mit einem Wahlrecht der Ermittlungsbehörden verbunden sind124. Der Hintergrund für diese Gefahren liegt darin, daß das Kompetenzverteilungsprinzip vornehmlich auch der Solidarität der Staaten entspringt und diese begriffsnotwendigerweise gerade nicht fordert, daß der Täter das anzuwendende Recht berechnen kann. Insgesamt besteht damit Grund zur Sorge, daß bei der Ausgestaltung eines europäischen Kompetenzverteilungsprinzips zu sehr von Zweckmäßigkeitserwägungen ausgegangen würde als von den Prinzipien der Rechtsstaatlichkeit125.
Oehler, Internationales Strafrecht, S. 432 (Rn. 685). Näher zur Entstehung und positiven Wirkung eines solchen innerstaatlichen Anpassungsdrucks siehe Rüter, FS f. Tröndle, S. 855 (866), ähnlich auch Schomburg StV 1997, 383 (385). 122 Zu entsprechenden Entwicklungen in der Geschichte des gemeinen Rechts in Deutschland siehe Oehler, Internationales Strafrecht, S. 84 ff.; Ähnlichkeiten hierzu weist auch die Entwicklung im spanischen Recht in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts auf, als das Prinzip des ne bis in idem herangezogen wurde, um die Kompetenzstreitigkeiten zwischen Verwaltungssanktionenrecht und Strafrecht zu lösen, siehe die eingehende Darstellung bei León Villalba S. 68 ff. 123 Lagodny ZStW 101 (1989), 987 (1004). 124 Zur ähnlichen Diskussion um die Verfassungsmäßigkeit des Wahlrechts der Staatsanwaltschaft zwischen mehreren örtlich zuständigen Gerichten im deutschen Schrifttum siehe stellvertretend Meyer-Goßner vor § 7 Rn. 10 und Wendisch in: Rieß (Hrsg.), Löwe-Rosenberg, Strafprozessordnung, vor § 7 Rn. 41 ff. jeweils m.w.N. 125 Dazu insgesamt Oehler, Internationales Strafrecht, S. 434 f. 120 121
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ee) Deutung der Art. 54 ff. SDÜ als Kombination von begrenztem Kompetenzverteilungsprinzip und herkömmlichem Strafanknüpfungsrecht Eine Auslegung der Art. 54 ff. SDÜ als Kompetenzverteilungsprinzip im dargestellten Sinne würde neben den soeben dargestellten Bedenken verkennen, daß es sich dort um einen originären Grundsatz handelt. Sein Regelungspotential geht weit über die in der staatstheoretischen Fundierung des Prinzips des ne bis in idem formulierten Forderungen hinaus und kann angesichts der bestehenden Bedenken als Zustand de lege lata (noch) nicht verwirklicht werden. So wurde bei der staatstheoretischen Ableitung des Grundsatzes betont, daß die Rolle des Individuums im zwischenstaatlichen Bereich allenfalls durch den Staat mediatisiert Geltung entfalten kann. Daß hier individuelle Ansprüche a priori nicht bestehen, sondern erst als Reflex der zwischenstaatlichen Verträge entstehen können. Die mit einem Kompetenzverteilungsprinzip verbundene Koordination der verschiedenen nationalen Strafverfahren ab initio war von den Nationalstaaten als den Herren der Verträge aber nie gewollt. Vielmehr war man sich bewusst, daß man bereits mit der Normierung eines umfassenden Verbots mehrfacher Strafverfolgung nach dem Vorliegen einer endgültigen Entscheidung einen sehr weiten Schritt gemacht hatte126. Vor diesem Hintergrund hat die europarechtliche Zuordnung der Art. 54 ff. SDÜ zu einer der Vermeidung von Kompetenzkonflikten dienenden Rechtsgrundlage zur Folge, daß diese weder als ein Kompetenzverteilungsprinzip im eigentlichen Sinn noch als eine für völkerrechtliche Verträge typische Vereinbarung über die gegenseitige Anerkennung von Gerichtsurteilen zu verstehen sind. Die Neuinterpretation der Art. 54 ff. SDÜ führt vielmehr zu einem mit dem Vorliegen einer endgültigen Entscheidung in einem anderen Mitgliedstaat eingreifenden Verbot der Strafverfolgung in den übrigen Mitgliedstaaten im Sinne eines nachträglichen Zuständigkeitsverlusts127. Dies hat Auswirkungen auf die Rechtspraxis. Fragen wie die, unter welchen Voraussetzungen und in welchem Umfang Entscheidungen des Erstentscheiderstaates in einem Mitgliedstaat eine strafklageverbrauchende Wirkung zukommt, stellen sich dann nicht mehr. Ob eine Wiederaufnahme möglich ist, ob bestimmte Tatsachen neu sind und wer darüber zu befinden hat, ist Sache des Erstverfolgerstaates. Die Einleitung eines Verfahrens im Zweitverfolgerstaat, die Anklage eines Sachverhaltes vor Gericht und ggf. die weitere Vollstreckung bereits beschlossener Sanktionen erweisen sich nach diesem Verständnis als unzulässig und rechtswidrig128. Nur in den Fällen, in denen Art. 54 SDÜ gem. Art. 56 SDÜ nicht eingreift, Siehe dazu ausführlich oben bb). Im Ergebnis teilweise ähnlich B. Hecker StV 2001, 306 (310), soweit er im Fall beschränkt rechtskräftiger Entscheidungen (konkret im Fall der beschränkten Rechtskraft eines deutschen Strafbefehls) die Befugnis, die beschränkte Rechtskraft zu durchbrechen nur dem Gericht des Erstverurteilungsstaates zuweist. 128 Siehe erst aus neuerer Zeit B. Hecker StV 2002, 71 (71 f.) mit Hinweisen auf die Auswirkungen von Art. 54 SDÜ beim Erlaß eines Haftbefehls und Ebensperger ÖJZ 1999, 171 126 127
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soll eine Erstverurteilung strafklageverbrauchende Wirkung lediglich im Rahmen des dort normierten Anrechnungsprinzips erhalten. ff) Bedeutung, Anforderungen und Inhalt des Tatbestandmerkmals der „rechtskräftigen bzw. endgültigen Aburteilung“ i.S.v. Art. 54 SDÜ Dem Begriff der „rechtskräftigen bzw. endgültigen Aburteilung“ kommt nach alledem eine überragende Bedeutung zu. Ob eine solche vorliegt, ist bereits von der Strafverfolgungsbehörde zu berücksichtigen, sobald ihr entsprechende Hinweise vorliegen, daß gegen den Beschuldigten bereits in einem anderen Mitgliedstaat ein Strafverfahren geführt wurde. Damit die Regelung des Art. 54 SDÜ hier handhabbar bleibt, sollte diese Feststellung möglichst einfach zu treffen sein. Gerade den Ermittlungsbehörden wird es in der täglichen Arbeit kaum möglich sein, komplizierte Systemvergleiche anzustellen und die jeweiligen nationalen Besonderheiten ihrem Gewicht entsprechend zu würdigen129. Art. 57 SDÜ sieht zwar vor, daß die Behörden, die einer Anschuldigung nachgehen – und nicht erst die Gerichte –, die zuständigen Behörden des Erstentscheiderstaates um Auskunft ersuchen, aus der Einschränkung „soweit sie dies für erforderlich halten“ wird jedoch deutlich, daß es sich hierbei keineswegs um eine Regelanfrage handeln soll. Dies gilt um so mehr, als die Beantwortung dieser Anfragen ebenfalls recht zügig möglich sein muß, da der Beschuldigte nicht länger als unbedingt nötig der Belastung eines unzulässigen Zweitverfahrens ausgesetzt werden darf. Ausgangspunkt für die Begriffsbestimmung müssen die die Art. 54 ff. SDÜ tragenden Erwägungen sein. Ein Rückgriff auf nationalstaatsakzessorische Begründungen zur Rechtskraftfähigkeit bestimmter Entscheidungen erscheint in Anbetracht des unterschiedlichen Regelungsgehalts der Rechtskraft130 und des Strafverfolgungsverbots des Art. 54 SDÜ auf den ersten Blick höchstens insoweit hilfreich, als in beiden Fällen ein Zeitpunkt bestimmt wird, von dem an dem Verfolgten eine gewisse Rechtssicherheit zugebilligt wird. Unterschiede bestehen dagegen insofern, als die Entscheidung i.S.v. Art. 54 SDÜ dem Individuum nur (182), der darauf hinweist, daß das in Art. 54 SDÜ begründete Verfahrenshindernis auch ein Rechtshilfehindernis beinhaltet; für die Auswirkungen von Art. 54 SDÜ auf bereits anhängige Verfahren bis hin in das Stadium der Strafvollstreckung siehe die Beschlüsse des Saarländischen OLG vom 25. April 1995 – 1 Ws 65 / 95 und vom 16. Dezember 1996 – 1 Ws 65 / 95 dargestellt bei Wolf 22. Strafverteidigertag, S. 67 (72 f.) 129 Vor diesem Hintergrund sieht etwa Sommer StraFo 1999, 37 (40) ein zukünftiges Aktionsfeld der Strafverteidigung darin, zu ermitteln, welche Bedeutung eine verfahrensabschließende Entscheidung im Ausland im Kontext des jeweiligen nationalen Verfahrensrechts hat, um aufgrund eigenständiger Nachforschungen die vorgezeichnete intergouvernementale Kommunikation kritisch beleuchten zu können. Die Komplexität und Kostenintensität derartiger Tätigkeiten bleibt aber auch hier ein Problem. 130 Kritisch gegenüber solchen Überlegungen wegen der damit verbundenen erheblichen nationalen Abweichungen auch Dieckmann NStZ 2001, 617 (622).
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zusichert, daß von nun an keine ausländischen Verfahren mehr geführt werden dürfen, während die Regeln der Rechtskraft nach dem nationalen Recht festlegen, ob und inwieweit noch nach dem nationalen Recht sanktionierende Maßnahmen ergriffen werden dürfen. Es ist daher keineswegs zwingend, von einem Gleichlauf systeminterner Rechtskraft und systemübergreifendem Verbot mehrfacher Strafverfolgung auszugehen. Zwar ließe sich einerseits vertreten, daß andere Staaten erst dann an einer eigenen Strafverfolgung gehindert werden sollten, wenn im Erstverfolgerstaat abschließend über eine Tat entschieden wurde. Jedoch stellt auch eine nach nationalstaatlichem Verständnis nur begrenzt rechtskräftige Entscheidung ein hinreichendes Indiz für einen Strafverfolgungswillen des Erstverfolgerstaates dar und kann das Verbot einer mehrfachen Strafverfolgung nach sich ziehen. Derartige Überlegungen sind innerhalb der nationalen Rechte seit langem anerkannt und in der Rechtsfigur des Einwands der anderweitigen Rechtshängigkeit dem jeweiligen System entsprechend detailliert ausgestaltet. Da die Art. 54 ff. SDÜ ebenfalls einen Zeitpunkt bestimmen, von dem an die Mitgliedstaaten zur Verfolgung einer bestimmten Tat nicht mehr zuständig sein sollen, spricht vieles dafür, auch in diesem Bereich parallel zu den systeminternen Regelungen zur Vermeidung einer doppelten Strafverfolgung einen Anknüpfungspunkt im Vorfeld einer umfänglich rechtskräftigen Aburteilung zu bestimmen. Dies gilt um so mehr, als im supranationalen Bereich höchst unterschiedliche nationale Systeme kompatibel gemacht werden müssen. Der Ausschnitt der Tat, der von einer bestimmten, nur teilrechtskräftigen Entscheidung im Erstentscheiderstaat nicht erfaßt ist, kann in einem nachfolgenden Verfahren eines anderen Mitgliedstaates aufgrund des dort geltenden formellen und materiellen Rechts möglicherweise überhaupt nicht abgebildet werden, so daß in Teilbereichen dann entweder gleichwohl eine Doppelverfolgung stattfinden oder bestimmte Ausschnitte möglicherweise auch im Zweitverfolgerstaat ungestraft bleiben würden131.
Legt der Begriff der „rechtskräftigen bzw. endgültigen Aburteilung“ in Art. 54 SDÜ somit den Zeitpunkt fest, von dem an einem Mitgliedstaat untersagt ist, ein eigenständiges Verfahren gegen den Beschuldigten zu führen, so verbleibt die Notwendigkeit, diesen näher zu bestimmen: Der spätest denkbare Zeitpunkt wäre grundsätzlich der, an dem das komplette historische Geschehen vollständig richterlich abgeurteilt ist und Rechtsmittel gegen die Entscheidung nicht mehr möglich sind. Dem entspricht es, zusätzlich eine Beschränkung auf richterliche Entscheidungen zu fordern, da diese in besonderer Weise die Unabhängigkeit und Richtigkeit der Entscheidung verbürgen. Dabei kann es keinen Unterschied machen, wie weit im Einzelfall die Kognitionskompetenz des Gerichts reicht bzw. wie das Verfahren im Detail ausgestaltet ist. Soweit der Kompetenz des Richters hier Schranken gesetzt sind, sehen die verschiedenen Systeme selbst hinreichende Ausgleichsmechanismen vor, um das historische Geschehen insgesamt einer angemessenen 131 Zu denken ist hier insbesondere an die unterschiedlichen Möglichkeiten der Kategorisierung von Straftaten in Verbrechen, Vergehen, Übertretungen und Verwaltungsstraftaten, an die unterschiedlichen Möglichkeiten, andere Taten mit aburteilen zu lassen, die verschiedenen Praktiken bei der Behandlung von Verbrechensserien, wie fortlaufende Betrügereien oder Wirtschaftsdelikte, die Möglichkeiten von Absprachen zwischen Gericht und Verteidigung etc.
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D. Problematik eines zwischenstaatlich wirkenden Prinzips des ne bis in idem
Behandlung zuzuführen. Ebenso unter den Begriff der „rechtskräftigen bzw. endgültigen Entscheidungen“ müssen ferner diejenigen Entscheidungen fallen, die der jeweilige nationale Gesetzgeber gerichtlichen Strafurteilen gleichstellt – so etwa § 410 Abs. 3 deutsche StPO für den Strafbefehl oder die Anordnung in § 84 Abs. 2 deutsches OWiG für das Ordnungswidrigkeitenrecht. Schließlich handelt es sich in solchen Fällen, regelmäßig um in ihrem Unrechts- und Schuldgehalt weniger schwerwiegende Taten, so daß sich der nationale Gesetzgeber zu deren Ahndung meist vereinfachter Verfahren bedient. Die Ausdehnung des Begriffs der „rechtskräftigen bzw. endgültigen Aburteilung“ über diesen Kernbereich hinaus auf frühere Verfahrensstadien oder nichtrichterliche Entscheidungen, birgt weitere Schwierigkeiten in sich: Zwar kennt jedes Strafrechtssystem Mittel und Wege, Verfahren frühzeitig auch ohne richterliches Urteil zu beenden, die Wirkungen solcher Entscheidungen sind jedoch nicht nur in ihrer zwischenstaatlichen, sondern teilweise bereits in ihren systeminternen Wirkungen stark umstritten. Noch größer werden die Differenzen bei nichtrichterlichen Sanktionen durch verschiedene Verwaltungsbehörden. Schließlich sind diese Ausdruck unterschiedlich starker Bestrebungen, bestimmte Verhaltensweisen zu entkriminalisieren, und finden in den anderen Systemen teilweise überhaupt keine Entsprechung bzw. wurden in ähnlicher Form sogar als verfassungswidrig betrachtet132. Bisher wird meist versucht, auch diese Problematik über das Institut der Rechtskraft zu lösen und sich hierbei auf den gemeinsamen Mindeststandard zurückzuziehen133. Wegen der zu diesem Kriterium vorgebrachten Einwände sollte jedoch auf einen Zeitpunkt bzw. eine Form „qualifizierter Verfahrensbeendigung“ im Strafverfahren abgestellt werden, von dem bzw. von der ab – psychologisierend formuliert –, das Vertrauen des Individuums, innerhalb des Schengen-Raums keine 132 So wurde beispielsweise das dem belgischen und niederländischen transactie-Verfahren ähnliche deutsche Unterwerfungsverfahren vom deutschen BVerfG für verfassungswidrig erklärt, BVerfGE 22, 49 (51 ff.); da aus einer Anerkennung solcher Entscheidungen im Rahmen von Art. 54 SDÜ aber kein Grundrechtseingriff, sondern vielmehr eine Beschränkung staatlicher Gewalt erfolgt, ist die Einbeziehung solcher Entscheidungen in den Anwendungsbereich von Art. 54 SDÜ verfassungsrechtlich unbedenklich, so auch Lagodny NStZ 1997, 265 (266). 133 Bohnert / Lagodny NStZ 2000, 636 (640) und bereits zuvor Lagodny NStZ 1997, 265 (266), der Zwischenlösungen nicht für tragfähig hält, da diese die Wirkung von Art. 54 SDÜ ausschließen würden, wenn ein anderer Schengen-Staat die nichtrichterliche Erledigung im Vorverfahren in größerem Maße als definitiv verfahrensabschließend anerkennen sollte, als es in Deutschland der Fall ist. Dabei übersieht er aber zum einen die Möglichkeit der nationalen Gesetzgeber, solche Entscheidungen per Gesetz einem richterlichen Urteil gleichzustellen, diskutiert mit dem von ihm angeführten Beispiel der Begrenzung von Art. 54 SDÜ seinerseits eine nicht unbedingt repräsentative Zwischenlösung und beachtet nicht, daß Sanktionen, die nicht das Verfahrenshindernis des Art. 54 SDÜ auslösen, eventuell im Rahmen von Art. 56 SDÜ berücksichtigt werden können; vorsichtig gegenüber diesem Rückzug auf einen Mindeststandard („bedarf noch weiterer Aufarbeitung“) ist auch Radtke NStZ 2001, 662 (664).
II. Der Grundsatz des ne bis in idem im Schengener Durchführungsübereinkommen 169
internationale Strafverfolgung mehr befürchten zu müssen, hinreichend geschützt werden muß134. Dieser Zeitpunkt müßte dann jedenfalls nach Abschluß der Ermittlungen seitens der Untersuchungsbehörden liegen und hinreichend markant sein, um den Mitgliedstaaten und dem betroffenen Individuum gleichermaßen den Eindruck zu vermitteln, daß der Verfahrensgegenstand von einer der ermittelnden Behörde im Verfahrenablauf nachgeschalteten Institution eingehend gewürdigt wurde135. Wenn dann eine Entscheidung ergeht, in der dem Angeklagten bzw. Betroffenen das Vertrauen vermittelt wird, daß der gegen ihn konkret erhobene Tatvorwurf – ggf. nach der Vollstreckung einer bestimmten Sanktion – grundsätzlich erledigt ist, kann dies wertungsmäßig als eine „rechtskräftige bzw. endgültige Aburteilung“ verstanden werden. Eine nur (vorläufige) Abschlußbetrachtung seitens der ermittelnden Behörde würde demgegenüber ebenso wenig genügen wie eine rein summarische, richterliche Beurteilung auf Grundlage der von den Ermittlungsbehörden vorgelegten Akten. So würde ein Strafbefehl, der in der deutschen Praxis von der Staatsanwaltschaft als der ermittelnden Behörde gefertigt und nur aufgrund einer Prüfung nach Aktenlage nicht als endgültige Aburteilung angesehen werden können, wenn er nicht einfachgesetzlich einem Urteil gleichgestellt wäre. Das notwendige Vertrauen auf die Endgültigkeit des Strafbefehls ergibt sich also nicht faktisch aus dem Verfahren, sondern normativ aus § 410 Abs. 3 StPO. Legt man dem Begriff der „rechtskräftigen bzw. endgültigen Entscheidung“ i.S.v. Art. 54 SDÜ ein solches Verständnis zugrunde, so können einige in ihrem Sinngehalt zweifelhafte Diskussionen vermieden werden. Anstatt nach der (richterlichen) Qualität der Sanktionsgewalt oder dem Umfang der Rechtskraft im Erstverurteilungsstaat zu fragen, wird auf die jeder rechtsstaatlichen Sanktion vorausgehenden Prinzipien der umfassenden (aber nicht zwingend unmittelbaren136) Beweisaufnahme und der Trennung von ermittelnder und sanktionierender 134 Im deutschen Recht ist ein entsprechender Ansatz normiert in § 9 Nr. 1 IRG; vgl. auch Schomburg in: Schomburg / Lagodny, IRSt, § 9 IRG Rn. 7 ff.; außerhalb des Kernbereichs rechtskräftiger Entscheidungen auch an dem Kriterium der „qualifizierten Entscheidung“ anknüpfend Thomas, ne bis in idem, S. 361 ff.; dieses Kriterium nunmehr für den innerstaatlichen Umfang der Rechtskraft heranziehend nunmehr BGH NJW 2004, 375 (377). 135 Dies gilt um so mehr, als europaweit eine Tendenz zu beobachten ist, den Schwerpunkt der klassischen Aufgaben der Ermittlungsorgane immer weiter nach vorne zu verlagern, den Unmittelbarkeitsgrundsatz einzuschränken und im Sinne des Beschleunigungsgrundsatzes verstärkt Möglichkeiten zur Verfahrensbeendigung im Vorverfahren zu schaffen, vgl. Eser ZStW 108 (1996), 86 (94 ff., 117 ff., 120 ff.); zu den verschiedenen neueren Formen der Verfahrensbeendigung außerhalb der Hauptverhandlung und den verschiedenen Möglichkeiten, dort auch die Interessen des Angeschuldigten einzuführen, siehe auch den rechtsvergleichenden Überblick bei Jung GA 2002, 65 (75 ff.); ähnlich weit ist auch die Bestimmung des Begriffs „Urteil“ in Art. 1 des Übereinkommens zwischen den Mitgliedstaaten der Europäischen Gemeinschaft über die Vollstreckung ausländischer strafrechtlicher Verurteilungen (BGBl. 1997 II S. 1351), das gleichrangig neben rechtskräftigen Entscheidungen auch Entscheidungen der Verwaltungsbehörden erwähnt, sofern dem Betroffenen die Möglichkeit eröffnet war, die Sache vor Gericht zu bringen.
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D. Problematik eines zwischenstaatlich wirkenden Prinzips des ne bis in idem
Institution zurückgegriffen137. Wenn hier das nationale System in bestimmten Fällen von den ihm an sich zur Verfügung stehenden Erkenntnismitteln in gewissem Umfang – aus Effizienz- oder Verhältnismäßigkeitserwägungen – keinen Gebrauch macht, so kann diese Nachlässigkeit bzw. dieser Verzicht dem Betroffenen nicht ohne weiteres zum Nachteil gereichen und dessen (Rechts-)Sicherheit beeinträchtigen. Härtefälle zu Lasten des Betroffenen sind dagegen auch denkbar und zwar in den Fällen, in denen bereits im Vorfeld einer solchen Entscheidung in informeller Weise von einer Strafverfolgung abgesehen wird138. Die Legitimität vereinfachter Verfahren in Fällen von Massen- oder Bagatellkriminalität bzw. bei Vorliegen von Geständnissen seitens des Täters ist vor dem Hintergrund der Funktionsfähigkeit hoheitlicher Verfahren unbestritten139, auch hier werden indessen differenzierende Betrachtungen unvermeidbar sein140. Die Grenze des mißbräuchlichen Herbeiführens nationaler Gerichtsentscheidungen, um in den Genuß eines transnationalen Strafklageverbrauchs zu gelangen, die in der Literatur und in internationalen Vereinbarungen neuerdings immer wieder genannt wird141, erscheint im Europa des Schengener Übereinkommens zum einen außer Sichtweite142 und bedarf meines Erachtens zum anderen keiner ausdrücklichen Normierung.
136 Die etwaige Vorstellung, ein rechtsstaatlicher Strafprozeß sei untrennbar mit formeller und materieller Unmittelbarkeit verbunden (zu dessen Ursprung siehe Roxin, Strafverfahrensrecht, § 44 A II. u. III.), läßt sich schon angesichts seiner Durchbrechungen im nationalen deutschen Recht (vgl. nur Meyer-Goßner § 250 Rn. 1 f.) und erst recht nach rechtsvergleichenden Betrachtungen (siehe etwa Perron ZStW 112 [2000], 202 [211 ff.]) nicht aufrechterhalten; Jung GA 2002, 65 (69) spricht angesichts der aktuellen Strafprozeßrechtsreformen in den verschiedenen, europäischen Rechtssystemen von einer „fortschreitenden Erosion des Unmittelbarkeitsprinzips“. 137 Eine reine Verwirklichung des Inquisitionsprinzips, die einem solchen Ansatz entgegen stehen würde, findet sich in Schengen-Land nicht, Leibinger in: Jescheck / Leibinger, Funktion und Tätigkeit der Anklagebehörde im ausländischen Recht, S. 684 (in rechtsvergleichender Zusammenfassung der Rechtslage in Frankreich, den Niederlanden, Österreich, Schweiz, Norwegen, England, Wales und den USA). 138 Siehe hierzu die Beispiele von Rüter ZStW 105 (1993), 30 (37 ff.) für das niederländische Verständnis einer zweckrationalen Strafrechtsanwendung mittels des Opportunitätsprinzips und des „vorübergehenden Übersehens von Straftatbeständen“. 139 Als Beispiele seien hier vereinfachte Verfahren wie das deutsche Strafbefehlsverfahren, die in manchen Rechten anerkannte Möglichkeit des „taking into consideration“ von vom Angeklagten eingeräumten Taten oder die Möglichkeiten von Verständigungen im Strafprozeß erwähnt; Jung GA 2002, 65 (69) stellt rechtsvergleichend fest, daß Verfahrensarten, die eine Hauptverhandlung vermeiden und mit einer informellen Sanktion abgeschlossen werden, fast überall in Europa bekannt sind. 140 Murmann GA 2004, 65 (83 ff., 85) fordert gerade das europäische Strafrecht auf, die „Last legitimierender Begründungen zu tragen“ und damit „das Erbe der europäischen Aufklärung anzunehmen“, und warnt in diesem Zusammenhang vor einseitigen Effektivitätsüberlegungen. 141 Siehe hierzu nur Schomburg StV 1999, 246 (249).
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gg) Exemplifizierung anhand von ausgewählten Fallbeispielen Keine transnational strafklageverbrauchende Wirkung haben demnach ein bloßer Formalfreispruch nach österreichischem Recht143 oder ein zum Beispiel auf einer Personenverwechslung beruhendes nichtiges Urteil nach deutschem Recht. In beiden Fällen liegt zwar möglicherweise eine in einer Hauptverhandlung ergangene und auf einer Beweisaufnahme beruhende richterliche Entscheidung vor, in beiden Fällen wurde dem Täter jedoch gerade kein hinreichendes Vertrauen vermittelt, das eine weitere Verfolgung ausschließen könnte144. Ganz ähnlich liegt der vom BGH entschiedene Fall einer mit einer juristischen Person geschlossenen Transactie, deren personelle Reichweite erst durch eine Auslegung und Hinzuziehung der Ermittlungsakten zu ermitteln ist. Auch hier fehlt es an einem Verfahren, in dem über die individuelle Schuld der Tatbeteiligten befunden wurde und das demnach geeignet gewesen wäre, diesen einen hinreichenden Vertrauensschutz zu vermitteln. Inwieweit diese Voraussetzungen in dem vom OLG Köln145 nunmehr dem EuGH vorgelegten Fall einer niederländischen Transactie erfüllt sind, läßt sich dem dort dargestellten Sachverhalt nicht mit hinreichender Sicherheit entnehmen. Tendenziell sprechen aber insbesondere die Art und Weise der Erledigung eines Verfahrens durch eine Transactie gegen deren Einordnung als „qualifizierte Entscheidung “ bzw. „endgültige oder rechtskräftige Aburteilung gem. Art. 54 SDÜ146, andererseits ist vertikal rechtsvergleichend darauf hinzuweisen, daß der Rat der Europäischen Gemeinschaft auch derartige Vergleiche als verfahrensbeendende Entscheidungen anerkennt147. Man wird hier jedenfalls verlangen müssen, daß die Beteiligten, die in den Genuß des Verfahrenshindernisses gelangen sollen, in der Transactie namentlich als Betroffene aufgeführt sind. Die deutsche Entscheidungim Klageerzwingungsverfahren und die französische ordonnance de non-lieu sind nach dieser Auffassung ähnlich zu behandeln: Einer einen Klageerzwingungsantrag als unbegründet verwerfenden Entscheidung gem. § 174 deutsche StPO geht eine Hauptverhandlung voraus, in der ein Gericht eingehend darüber entscheidet, ob nach den seitens der Ermittlungsbehörden förmlich abgeschlossenen Untersuchungen Anlaß zur Erhebung einer öffentlichen Klage Ähnlich Auer ÖRiZ 2000, 52 (56) „nur in Ausnahmefällen denkbar“. In diesen Fällen wird erst in der Hauptverhandlung festgestellt, daß eine Prozeßvoraussetzung (z.B. ein Strafantrag) fehlt, vgl. § 259 österr. StPO; dazu auch Hübner S. 60 f. 144 Auch bei dauernden Verfahrenshindernissen vermittelt nicht das Urteil und ein Vertrauen, daß kein weiterer Prozeß mehr geführt. Dies ergibt sich dort vielmehr aus dem Verfahrenshindernis selbst. 145 OLG Köln NStZ 2001, 558 (558 f.). 146 Zu den verschiedenen Wegen, die zu einer Verfahrensbeendigung mittels einer transactie führen können, und zum jeweiligen Verfahrensablauf siehe Unger / Hajda S. 111 ff. 147 So in den Erwägungen zur „Verordnung des Rates über den Schutz der finanziellen Interessen der Europäischen Gemeinschaft“, ABl. EG 1995 Nr. L 312 / 1 (2). 142 143
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besteht. Zur Vorbereitung seiner Entscheidung kann das Gericht, das sich die gesamten Akten der Staatsanwaltschaft vorlegen lassen kann, im Rahmen dieses Verfahrens gem. § 173 Abs. 3 StPO weitere Ermittlungen anordnen. Dabei ist die Beteiligung des Beschuldigten eine Ermessensentscheidung und nur vor einem stattgebenden Antrag ist dessen Anhörung zwingend vorgeschrieben148. Soweit hier der Beschuldigte gehört worden ist, hat aus seiner Sicht eine gerichtliche Untersuchung stattgefunden, in der das Gericht alle ihm zur Verfügung stehenden Erkenntnismittel einsetzen konnte. Eine die Eröffnung des Verfahrens ablehnende Entscheidung begründet von diesem Zeitpunkt an ein hinreichendes Vertrauen auf die Erledigung der Angelegenheit. Die unabhängige Würdigung des Sachverhalts durch zwei unterschiedliche Organe muß auch international ein hinreichendes Indiz für die Ernsthaftigkeit der Untersuchung und die Effektivität des mit ihr intendierten strafrechtlichen Rechtsgüterschutzes sein. Entsprechendes gilt für eine ordonnance de non-lieu Entscheidung einer französischen chambre d’accussation, da hier eine der Ermittlungsbehörde im Verfahrensgang nachgeschalteten Institution über den dem Angeschuldigten zur Last gelegten Sachverhalt in dessen Gegenwart umfassend Beweis erhebt und so objektiv und subjektiv der Eindruck vermittelt wurde, daß aus Sicht des erkennenden Organs ein staatlicher Strafanspruch nicht besteht. Für Einstellungsverfügungen gem. §§ 170 Abs. 2, 153 ff. deutsche StPO ist nach diesem Ansatz zu unterscheiden: Eine Einstellungsverfügung allein durch die Staatsanwaltschaft ist keine „endgültige Entscheidung“ im Sinne von Art. 54 SDÜ149. Hier trifft nur die ermittelnde Behörde eine Entscheidung und eine unabhängige Würdigung Dritter findet nicht statt, so daß auch bei dem Beschuldigten ein schützenswertes Vertrauen auf ein Ausbleiben einer nochmaligen, repressiven Verfolgung nicht hervorgerufen wird. Dem entspricht, daß die Staatsanwaltschaft ihrerseits auch nicht die Kompetenz hat, selbständig das Hauptverfahren zu eröffnen. Einstellungsverfügungen, die mit richterlicher Zustimmung ergehen150, sind zwar insoweit anders zu beurteilen, als solche Zustimmungserklärungen einen von der Tätigkeit der Ermittlungsbehörde deutlich abgrenzbaren, hoheitlichen Akt der Rechtsprechung darstellen151. Jedoch liegt die Kompetenz zur Feststellung, ob die Vorraussetzungen einer Einstellung vorliegen, vor der Erhebung der öffentlichen Klage in der Hand der Ermittlungsbehörde und dem Gericht verbleibt allenfalls die Möglichkeit, noch kleine Änderungen und Korrekturen anzumerken152. Da außerdem eine eingehende Beweiswürdigung seitens des Gerichts153 nicht stattfindet, ist das durch die Entscheidung vermittelte Vertrauen auf die Endgültigkeit der Entscheidung gering und Art. 54 SDÜ greift nicht ein. Anderes gilt für Einstellungs148 149
§ 175 StPO; Meyer-Goßner § 173 Rn. 2. §§ 170 Abs. 2, 153 Abs. 1 S. 2, 153c, 153d, 154 Abs. 1, 154a Abs. 1, 154b, 154c, 154d
StPO. 150 151 152
§§ 153 Abs. 1 S. 1, Abs. 2, 153a, 153b, 153e, 154 Abs. 2, 154b Abs. 4 StPO. Ständige Rechtsprechung, vgl. nur neuerdings BVerfG NJW 2002, 815 (815). §§ 153 Abs. 1 S. 1, 153a Abs. 1, 153b Abs. 1, 153e Abs. 1 StPO.
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verfügungen seitens des Gerichts nach der Erhebung der öffentlichen Klage, da hier nicht nur eine entsprechende Äußerung des Gerichts vorliegt, sondern auch eine intensive Beweiswürdigung seitens des Gerichts erfolgt154. Weiter kann auch der vom EuGH aufgegriffene Topos der Freizügigkeit nicht reichen: Gerade wenn man die Gleichwertigkeit der verschiedenen nationalen Rechte propagiert, ist es in sich widersprüchlich zu behaupten, eine Person, die selbst innerstaatlich mit einer weiteren Strafverfolgung rechnen müsse, würde aufgrund einer gleichermaßen drohenden Strafverfolgung im Ausland von ihrem Recht auf Freizügigkeit keinen Gebrauch machen. Bei der Frage, ob ein österreichisches Straferkenntnis eine „endgültige Aburteilung gem. Art. 54 SDÜ darstellt, genügt es nach der hier vertretenen Auffassung nicht, sich mit der Feststellung zu begnügen, selbst bei dem der Bezirkshauptmannschaft übergeordneten Verwaltungssenat handele es sich (nur) um eine weisungsfreie Verwaltungsbehörde und mithin nicht um ein Gericht155. Eine solche Ansicht mißachtet den Spielraum, der den nationalen Gesetzgebern für die Festsetzung von Sanktionen unterhalb des Kriminalstrafrechts i.e.S. und den entsprechenden Sachverhalten angemessenen, vereinfachten Verfahren einzuräumen ist. Auch hier ist vielmehr entscheidend, ob eine institutionelle Trennung zwischen ermittelndem und erkennendem Organ vorzufinden ist und letzteres die Angelegenheit eingehend gewürdigt hat. Gemessen an diesen Kriterien sind die Voraussetzungen einer „rechtskräftigen bzw. endgültigen Entscheidung“ i.S.v. Art. 54 SDÜ gegeben. Das österreichische Recht trennt institutionell zwischen Organen der Straßenaufsicht als ermittelnden und den Bezirksverwaltungsbehörden als erkennenden Instanzen und legt letzteren die Pflicht zur umfassenden Würdigung des Sachverhaltes auf156.
153 Zum Verfahrensablauf im Detail siehe etwa für den Fall des § 153a Abs. 1 StPO Meyer-Goßner, § 153a Rn. 27 ff. 154 §§ 153 Abs. 2 (insoweit die teilweise Rechtskraft im innerstaatlichen Bereich gerade mit den Möglichkeiten des Gerichts zur Sachverhaltsaufklärung und dem daraus folgenden Vertrauen des Angekagten auf die Endgültigkeit der Entscheidung begründend jetzt auch BGH NJW 2004, 375 [377]), 153a Abs. 2, 153b Abs. 2, 153e Abs. 2, 154 Abs. 2, 154b Abs. 4 StPO. 155 BayOLG StV 2001, 263. 156 Zur institutionellen Trennung vgl. §§ 94b und 97 österr. StPO; zur Kognitionspflicht vgl. stellvertretend die Ausführungen von Terlika / Gerhard, Straßenverkehrsordnung, § 99 Anm. 1 – 8, 15j, wonach die erkennenden Behörden umfangreich zum Maß der persönlichen Schuld ermitteln und diese Ermittlungen auch in ihrem Erkenntnis darlegen müssen, in Zweifelsfällen die Beweiswürdigung durch die Verwaltungsbehörde maßgebend sein soll und gegen das Erkenntnis der Bezirkshauptmannschaft das Rechtsmittel der Berufung innerhalb des Verwaltungsrechtswegs gegeben ist.
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hh) Praktikabilitätserwägungen Gerade die Wissenschaft muß auch darauf achten, dass die von ihr vorgeschlagenen Lösungen praktikabel sind157. In dieser Hinsicht wirft der hier unterbreitete Vorschlag gegenüber den herkömmlichen Interpretationsansätzen der Art. 54 ff. SDÜ einige Besonderheiten in der praktischen Umsetzung auf. Deren Handhabbarkeit wurde aber teilweise durch Vereinbarungen im Rahmen des SDÜ selbst deutlich vereinfacht158: Die sprachlich bedingten Verständigungs- und Kommunikationsprobleme, die sich aus einer Fortführung des Verfahrens im Ausland ergeben, sind verhältnismäßig gering. So steht einem Ausländer, der im Ausland verurteilt wurde, bei einer Fortsetzung des Verfahrens im Erstentscheidungsstaat weiterhin gem. Art. 6 Abs. 3 lit. e EMRK ein Anspruch auf Übersetzung der für ihn wesentlichen Verfahrensteile zu159. Auch war diesem Problem bereits im Rahmen des Erstverfahrens Rechnung zu tragen, so daß insoweit keine außergewöhnlichen Schwierigkeiten auftreten dürften. Dasselbe gilt, soweit im Rahmen der Kommunikation zwischen den verschiedenen nationalen Gerichten und Ermittlungsbehörden Akten oder Aktenteile zu übersetzen sind. Hier wird der Aufwand, gemessen an der bisherigen Praxis, in Zweifelsfragen jeweils umfänglich Auskunft über die Rechtslage im Ausland einzuholen, nicht weiter anwachsen. Im Gegenteil wird es oft effizienter sein, den Beschuldigten an den Ort zu verbringen, an dem sich die Beweismittel befinden, als alle Akten, Gegenstände und Personen, die zur Durchführung des Strafverfahrens benötigt werden, an den Aufenthaltsort des mutmaßlichen Täters zu schaffen160. Bedenken könnten allerdings in Bezug auf diejenigen Fälle bestehen, in denen ein Land zur Fortsetzung des Verfahrens im Rahmen der sog. primären Rechtshilfe161 eigene Staatsbürger an den Erstentscheidungsstaats ausliefert. Lange Zeit entsprach es einer weithin üblichen und in Art. 6 Abs. 1 lit. b EuAlÜbk auch völkerrechtlich anerkannten Praxis, eigene Staatsangehörige einer fremden, öffentlichen Gewalt nicht auszuliefern162. Für den hier relevanten Bereich der EuroPeters, Strafprozeß, S. 12. Einen umfassenden Überblick über die Vereinfachungen für den Bereich polizeilichen Handelns wie für den der Rechtshilfe gibt Würz, Schengener Durchführungsübereinkommen, S. 39 ff., 119 ff., der feststellt, daß die polizeiliche Zusammenarbeit mit den Schengener-Verträgen „einen erheblichen Schritt nach vorne macht“ (S. 5); zu den neueren Entwicklungen Schomburg NJW 2001, 801 (802 f.) und Schünemann GA 2002, 501 (502 ff.), der einen Überblick über die Europäisierung der Strafrechtspflege seit den Verträgen von Maastricht und Amsterdam gibt. 159 Zur Erstreckung auch auf die Hauptverhandlung nur vorbereitende Verteidigergespräche siehe BGH NStZ 2001, 107 (107 ff.) sowie Sommer StraFo 2002, 309 (311). 160 So auch die Einschätzung von Baier GA 2001, 427 (429). 161 Zum Begriff siehe Pradel in: Tiedemann, Freiburg Symposium, S. 55 (59). 162 Für Deutschland war dies lange Zeit in Art. 16 Abs. 2 GG verfassungsrechtlich festgelegt; näher dazu Baier GA 2001, 427 (427) und Schünemann GA 2002, 501 (507). 157 158
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päischen Union sieht jedoch Art. 7 Abs. 1 des EU-AuslÜbk einen grundsätzlich unbeschränkten Auslieferungsverkehr vor. In den – auch nach der nochmaligen Eingrenzung der zulässigen Ablehnungsgründe durch die Art. 59 ff. SDÜ – verbleibenden Fällen kann diesen Erwägungen durch eine Abstimmung der Strafverfolgungsbehörden im Vorfeld der Gerichtsverhandlung im Sinne einer engeren Zusammenarbeit gem. Art. 29, 31 EUV Rechnung getragen werden163. Gegen die Unterwerfung einer Person unter eine ausländische Rechtspflege wird zwar zusätzlich häufig die damit verbundene, besondere Belastung angeführt. Wenn hier eine Benachteiligung aufgrund einer mangelnden Kenntnis der Verfahrensregeln befürchtet wird, kann auf das Recht auf Beiordnung eines Verteidigers gem. Art. 6 Abs. 3 lit. c EMRK und das Recht auf eine konsularische Betreuung durch einen Diplomaten des Herkunftsstaats verwiesen werden164. Falls sich an die Verurteilung eine Strafvollstreckung anschließt, geht die Tendenz außerdem dahin, den Täter seine Strafe in seinem Heimatstaat verbüßen zu lassen165. An die Stelle originär eigener Strafverfolgungen tritt nach diesem Ansatz eine in ihrer Bedeutung zunehmende Rechtshilfe, die überdies durch die Regelungen der Art. 48 ff. SDÜ erheblich erleichtert wurde166 und deren weitere Vertiefung auch 163 Die hier hervorzuhebenden Fälle der Verweigerung der Auslieferung bei politischen Straftaten im ersuchenden Staat werden im Anwendungsbereich des EU-AuslÜbk aufgrund der Regelungen in Art. 2, 5 Abs. 1 Eu-AuslÜbk weniger, wenn auch Vorbehalte gem. Art. 5 Abs. 2 EU-AuslÜbk möglich bleiben, Baier GA 2001, 427 (429); zu den verschiedenen Vorbehaltsmöglichkeiten gem. Art. 7 Abs. 2 und 3 EU-AuslÜbk für die Fälle der Auslieferung eigener Staatsbürger, siehe den Überblick bei Baier GA 2001, 427 (443 f.); insgesamt bestehen aber auch hier Bestrebungen, die Auslieferungspraxis noch weiter zur verbessern und zu erleichtern (so die Gemeinsame Erklärung der in Schengen am 19. Juni 1990 zusammengekommenen Minister und Staatssekretäre); seit dem 1. März 2001 arbeitet in Brüssel zudem proEurojust (dazu näher Dieckmann NStZ 2001, 617 [620 ff.]), das seit dem Ratsbeschluß vom 6. März 2002 (ABl. EG 2002 Nr. L 63 / 1) als Eurojust insbesondere in Fällen schwerer Kriminalität die Ermittlungsverfahren der Mitgliedstaaten koordinieren, unterstützen und anregen darf (zu den Erwartungen, die mit Eurojust für die Zukunft verbunden sind, Schomburg NJW 2001, 801 [803 f.] und konkreter ders. NJW 2002, 1629 [1629 f.]). 164 Baier GA 2001, 427 (435). 165 Baier GA 2001, 427 (429, 443 f.); aufgrund praktischer Erfahrungen vor dem Hintergrund der in Deutschland und den Niederlanden stark differierenden Drogenpolitik kritischer Stange / Rilinger StV 2002, 109 (109 f.); für den Fall, daß sich der Täter durch eine Flucht in sein Heimatland der Strafvollstreckung entziehen will, siehe Art. 67 ff. SDÜ und die Denkschrift des Deutschen Bundestags zum Schengener Übereinkommen BT-Drs. 12 / 2453 S. 91 (94). 166 Sommer StraFo 1999, 37 (38); Denkschrift des Deutschen Bundestags zum Schengener Übereinkommen BT-Drs. 12 / 2453 S. 91 (93); Böse ZStW 114 (2002), 148 (175 ff.) für die von Art. 40 SDÜ ermöglichte grenzüberschreitende Ermittlungstätigkeit sowie (175, Fn. 139) zu weiteren Vereinfachungen durch das EG-Übereinkommen zur Rechtshilfe in Strafsachen vom 29. Mai 2000 (ABl. EG 2000 Nr. C 197 / 3); nachdem sich im EG-Verwaltungsrecht der letzten zehn Jahre das Konzept der Deregulierung als erfolgreich erwiesen hat, d. h. die Anerkennung auch ausländischer Vorschriften und Entscheidungen für die Verkehrsfähigkeit von Waren und Dienstleistungen, stellt sich, soweit einheitliche europäische Rechtsschutz-
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D. Problematik eines zwischenstaatlich wirkenden Prinzips des ne bis in idem
die EU-Kommission in ihren Planungen für die Zukunft – bis hin zu einer Verwirklichung des Grundsatzes der gegenseitigen Anerkennung von rechtmäßig durchgeführten, strafrechtlichen Ermittlungshandlungen167 – voraussetzt168. Institutionell ermöglicht dabei das 1998 überwiegend bei den Staatsanwaltschaften und Gerichten eingerichtete Europäische Justizielle Netz eine persönliche, gegenseitige Hilfestellung und Beschleunigung durch Direktkontakte zwischen den Dienststellen der EU-Mitgliedstaaten169. Diese wird in Zukunft durch die Eurojust-Behörde ergänzt, der neben anderem eine Mediatorfunktion für die Bestimmung des Gerichtsstands in parallel geführten Strafverfahren zukommen soll170. Die Vorverlagerung eines Teils der notwendigen Kooperation in den Bereich der Strafverfolgung scheint in Anbetracht der aktuellen Situation zumindest insoweit verlockend, als selbst von Skeptikern eingeräumt wird, daß „den mit Überschallgeschwindigkeit in der Concorde reisenden Verbrechern, die Polizei wenigstens noch im Porsche folgt, während die Justiz weiterhin die Postkutsche besteigt“171.
standards gelten, die Frage, ob das Konzept der „Deregulierung“ auch für die „Verkehrsfähigkeit“ z.B. eines europäischen Durchsuchungsbeschlusses gelten kann, so daß hemmende Rechtshilfeverfahren in bestimmten Bereichen unnötig werden, vgl. Sieber in: Huber, Corpus Juris, S. 16; entsprechend konstatiert Schomburg NJW 2001, 801 (801) für den Berichtszeitraum 2000 – 2001 eine Ausbreitung der Rechtshilfe „in kaum noch zu erfassender Geschwindigkeit“ und erkennt zudem ein ernsthaftes Bemühen, bestehende Vollzugsdefizite zu beseitigen. 167 Brüner / Spitzer NStZ 2002, 393 (397) sehen so vor dem Hintergrund der Diskussion um die Einrichtung einer Europäischen Staatsanwaltschaft einen europäischen Ermittlungsund Strafverfolgungsraum entstehen; allgemein zum Zusammenspiel von internationaler Rechtshilfe und sich überschneidenden nationalen Strafansprüchen Lagodny ZStW 101 (1989), 987 (1003 ff.) mit der sich daraus ergebenden Grundfrage der „Koordination der Strafansprüche im Sinne einer Konkurrenz(auf)lösung“. 168 Brüner / Spitzer NStZ 2002, 393 (395) weisen darauf hin, daß etwa der Vorschlag der Kommission für eine europäische Staatsanwaltschaft einen Europäischen Haftbefehl (Rahmenbeschluß des Rates der Europäischen Union vom 13. Juni 2002 ABl. EG Nr. L 190 / 1; dazu im einzelnen Heintschel-Heinegg / Rohlff GA 2003, 44 [44 ff.]; kritisch zur Umsetzung in Deutschland Schünemann StV 2003, 531 [531 ff.]), die Abschaffung des Auslieferungsverfahrens und Europäische Vollstreckungstitel geradezu voraussetzt; zu dieser Entwicklung auch Schünemann GA 2002, 501 (506 f.); zum gegenwärtigen Stand eines „europäischen Strafverfahrens“ und dessen Defiziten siehe nur Perron ZStW 112 (2000), 202 (205 ff.). 169 Gleß NStZ 2001, 623 (627); ähnlich beurteilt auch die Bundesregierung, BT-Drs. 14 / 4991 S. 1 (42), die Effizienz des Europäischen Justiziellen Netzes als sehr positiv und stellt fest, daß sich ihre Einschätzung mit dem Ergebnis der ersten Evaluierung des Netzes durch den Rat decke. 170 Schomburg NJW 2001, 801 (804) und ders. NJW 2002, 1629 (1629 f.); zum genauen Aufgabenkreis siehe den Ratsbeschluß zu Eurojust ABl. EG 2002 Nr. L 63 / 1 (3 f.). 171 Vgl. das entsprechende Zitat bei Perron in: Militello / Arnold / Paoli, S. 33 (35).
II. Der Grundsatz des ne bis in idem im Schengener Durchführungsübereinkommen 177
2. Konsequenzen für das Verständnis von „Tat“ und „Sanktion“ i.S.v. Art. 54 ff. SDÜ Die vorstehenden Ausführungen beeinflussen in nicht unerheblicher Weise die nähere Bestimmung des weiteren Normtextes der Art. 54 ff. SDÜ, der insbesondere mit dem zentralen Begriff der „rechtskräftigen bzw. endgültigen Aburteilung“ in Einklang gebracht werden muß.
a) Der Begriff der „selben Tat“ in Art. 54 ff. SDÜ Nach der Denkschrift des Deutschen Bundestags zum SDÜ172 soll „als Tat gem. Art. 54 SDÜ seitens der Bundesrepublik derjenige geschichtliche Vorgang verstanden werden, wie er in dem anzuerkennenden Urteil aufgeführt ist“. Zwar ist diese Bemerkung insofern berechtigt, als das deutsche Strafprozeßrecht auf einem solchen Tatbegriff fußt. Ob ein solch vorwiegend tatsächliches Verständnis für die Auslegung der Art. 54 ff. SDÜ maßgeblich sein soll, läßt sich aber besser aus dem dort geregelten Problemzusammenhang erschließen und verlangt eine grundsätzliche Offenheit in alle Richtungen173. Daß gegenüber derartigen, vom nationalen Recht ausgehenden Festlegungen zu Begriffen einer internationalen Vereinbarung Vorsicht angezeigt ist, gilt um so mehr, als hier nicht nur das Verständnis eines Begriffs „seitens der Bundesrepublik“ zu klären ist, sondern ein international möglichst einheitlicher Anwendungsbereich eines multilateralen Übereinkommens entwickelt werden soll. Bei einem Vergleich der in der bisherigen Literatur erarbeiteten Vorschläge fällt auf, daß der Begriff der „selben Tat“ in erheblichem Maße mit dem Verständnis des Begriffs der „endgültigen Aburteilung“ und dieses Regelungskomplexes insgesamt zusammenhängt. So hält es B. Hecker entsprechend seiner Vorgehensweise bei der Bestimmung des Begriffs der „rechtskräftigen bzw. endgültigen Entscheidung“ auch bei der hier erörterten Problemstellung nicht für erforderlich, einen „europäischen Tatbegriff“ zu entwickeln174. Im Lichte des von ihm schon zur Bestimmung des Begriffs der „endgültigen Aburteilung“ als maßgebend herangezogenen Prinzips der gegenseitigen Anerkennung soll die Definitionsmacht über den Verfahrensgegenstand ebenfalls allein dem Erstverfolgerstaat obliegen. Das Gericht des Zweitverfolgerstaates ist daher nach diesem Verständnis gezwungen, neben den Erwägungen zum Umfang und zur Reichweite der Rechtskraft auch die normativen Implikationen des Tatbegriffs nach der Rechtsordnung des Erstverfolgerstaates nachzuvollziehen und mit dem eigenen, nationalen Recht in Einklang zu bringen.
172 Denkschrift des Deutschen Bundestags zum Schengener Übereinkommen BT-Drs. 12 / 2453 S. 91 (94). 173 Kritisch zu dieser Erklärung des Bundestags auch schon Grotz StraFo 1995, 102 (103). 174 B. Hecker StV 2001, 306 (309 f.).
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Entsprechend gestehen Radtke / Busch grundsätzlich zu, daß angesichts der – auch von ihnen – vertretenen Maßgeblichkeit des Rechts des Erstverfolgerstaates für die Frage der Rechtskraft die Bedeutung des Tatbegriffs konsequenterweise ebenfalls entsprechend den Bewertungen des Erstverfolgerstaates ermittelt werden müsse175. Sie sehen jedoch zugleich, daß die dann zu berücksichtigenden materiell-rechtlichen Besonderheiten zu einer Zersplitterung des Verfahrensgegenstandes und damit möglicherweise zu Gerechtigkeitsdefiziten führen würden. Um dies zu verhindern, nehmen sie einen Bruch in ihrer Interpretation der Art. 54 ff. SDÜ in Kauf. Bezugspunkt der Rechtskraftwirkung soll allein das in dem Verfahren (in Anklage und Abschlußentscheidung) im Erstverfolgerstaat zugrunde gelegte, tatsächliche Geschehen sein. Demgegenüber propagiert Specht für den Bereich der Art. 54 ff. SDÜ einen autonomen historischen Tatbegriff, obgleich sie den Begriff der „rechtskräftigen bzw. endgültigen Aburteilung“ als eine Verweisungsnorm auf das jeweilige nationale Recht versteht. Sie begründet dies insbesondere mit einem Hinweis auf die recht eindeutige wörtliche Auslegung des Begriffs der Tat als historische Tatsachen, die sie aus einem Vergleich der verschiedenen authentischen Versionen des Übereinkommens herleitet176. Den Spannungen, die die normativen Einflüsse des nationalen Rechts im Einzelfall hervorrufen, will sie dabei mit einer Kasuistik begegnen. Ihr Votum für einen historischen Tatbegriff soll daher nur als abstrakte Festlegung des grundsätzlichen Ausgangspunktes verstanden werden177. Der Funktionszusammenhang, in dem der Tatbegriff in Art. 54 ff. SDÜ nach dem hier entwickelten Verständnis steht, ist nach den vorstehenden Ausführungen deutlich: Die Art. 54 ff. SDÜ werden als Kombination eines begrenzten Kompetenzverteilungsprinzips mit dem herkömmlichem Strafanknüpfungsrecht verstanden und legen einen Zeitpunkt fest, von dem an ein bestimmtes tatsächliches Geschehen nicht mehr von einem Mitgliedstaat strafrechtlich verfolgt werden kann (Art. 54 SDÜ) bzw. bereits verhängte Strafen angerechnet werden (Art. 56 SDÜ). Da dieser Zuständigkeitsverlust unabhängig von der Formulierung der materiellen Strafnorm und der Reichweite der Rechtskraft im Erstverfolgerstaat eintritt, ist er gegenüber dem Tatbegriff des materiellen Recht, aber auch gegenüber dem Prozessrecht grundsätzlich eingeständig zu bestimmen178. Er kann sich demnach nur 175 Radtke / Busch EuGRZ 2000, 421 (430); Radtke NStZ 2001, 664 (665); in diese Richtung auch Plöckinger / Leidenmühler wistra 2003, 81 (86 f.). 176 Specht S. 159 ff. 177 Specht S. 163. 178 Ähnlich wie hier bereits Vogler GA 1986, 195 (197), der bezogen auf das deutsche Rechtshilferecht ebenfalls den Unterschied dieses Tatbegriffs von dem des materiellen Rechts betont und ihn auch nicht gemäß § 264 StPO, sondern nur im Sinne von § 264 StPO als „das gesamte Verhalten des Täters, soweit es nach natürlicher Auffassung einen einheitlichen Lebensvorgang darstellt,“ versteht; zu den unterschiedlichen Bedeutungsgehalten des Tatbegriffs allein im deutschen internationalen Strafrecht vgl. Gribbohm, in: Jähnke / Laufhütte / Odersky (Hrsg.), Leipziger Kommentar, StGB, vor § 3 Rn. 198 ff.
II. Der Grundsatz des ne bis in idem im Schengener Durchführungsübereinkommen 179
auf das tatsächliche Geschehen insgesamt beziehen, das – spätestens im Bereich einer eventuellen Strafzumessung179 – Gegenstand der „endgültigen Entscheidung“ des Erstverfolgerstaates war180. Dabei greifen die Art. 54 ff. SDÜ bereits dann ein, wenn es in Teilbereichen zu Überschneidungen dergestalt kommt, daß das von der Aburteilung im Erstverfolgerstaat nicht erfaßte tatsächliche Geschehen im Zweitverfolgerstaat nicht rechtlich selbständig gewürdigt werden kann. Eine solche Auslegung der Tatidentität im Rahmen der Art. 54 ff. SDÜ korrespondiert im übrigen mit der herrschenden Ansicht zum Europäischen Auslieferungsübereinkommen. Dort kommt es für die Zulässigkeit von Auslieferungsersuchen im Zweifel darauf an, ob die dem Auslieferungsersuchen zugrunde liegende Tat nach dem Recht des ersuchenden Staates von der Vorverurteilung mit umfaßt ist oder ob sie als rechtlich selbständige Verfehlung zu beurteilen ist181. Im Ergebnis würde damit auch im Fall einer nicht umfassenden Verurteilung im Erstverfolgerstaat die Kompetenz des Erstverfolgerstaats zu Lasten des Zweitverfolgerstaates gestärkt.
b) Der Begriff der „Sanktion“ in Art. 54 ff. SDÜ und die Bedeutung nationaler Freisprüche Daß die Art. 54 ff. SDÜ sowohl im Fall einer Verurteilung als auch eines Freispruchs eingreifen, erschließt sich bereits aus dem Wortlaut von Art. 54 SDÜ. Aus der Formulierung, im Fall einer Verurteilung müsse die Sanktion vollstreckt werden, ergibt sich, daß das Verbot der Strafverfolgung aus Art. 54 SDÜ auch bei einem Freispruch ohne weiteres wirksam werden soll182. Wie bereits im Rahmen der Ausführungen zum Begriff der „rechtskräftigen bzw. endgültigen Aburteilung“ angedeutet, gilt dies freilich nur mit der Einschränkung, daß der Freispruch aus materiellen Gründen ergangen sein muß und es sich nicht um bloße Formalfreisprüche handeln darf183. Der Begriff der Sanktion ist dagegen von weiterreichender Bedeutung. Er bestimmt nicht nur, ob und wann eine Entscheidung ein transnationales Strafverfol179 Je nach der nationalen Gestaltung des Verfahrens werden in manchen Mitgliedstaaten des SDÜ bestimmte Straftaten erst bei der Strafzumessung berücksichtigt, vgl. Schomburg StV 1997, 383 (384). 180 Vgl. oben C. II. 2. b), dort auch zu den Konstellationen der fortgesetzten Handlung, der Bewertungseinheit, sowie zu Dauer- und zusammengesetzten Delikten. 181 Wolf 22. Strafverteidigertag S. 67 (69) m.w.N.; aus der deutschen Rechtsprechung zum Eu-AuslÜbk siehe beispielhaft den Fall OLG Karlsruhe NJW 1988, 1476 (1476). 182 Soweit ersichtlich ist dies allgemein anerkannt, vgl. aus der Rechtsprechung BGH NStZ 2001, 557 (558) = StV 2001, 495 (496) = NJW 2001, 2270 (2270 f.) mit zustimmender Anmerkung Radtke NStZ 2001, 662 (663); Auer ÖriZ 2000, 52 (53); Schomburg in: Schomburg / Lagodny, IRSt, Art. 54 SDÜ Rn. 11. 183 Ebenso für das Beispiel von Unzuständigkeitsurteilen nach dem österreichischen Recht Auer ÖriZ 2000, 52 (53).
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gungshindernis begründet, mit seiner Hilfe können darüber hinaus sogar bestimmte Arten von Verfahren in den Anwendungsbereich des Regelungssystems einbezogen oder von diesem ausgeschlossen werden. Auch an diesem – im fachspezifischen Sprachgebrauch nicht eindeutig besetzten – Begriff wird wieder deutlich, daß bei der Abfassung des Normtextes der Art. 54 ff. SDÜ keine strenge Bindung an die jeweilige nationale Rechtsterminologie angestrebt, sondern vielmehr Auslegungsspielräume eröffnet wurden184. Art. 56 SDÜ schreibt auch für den Fall, daß Art. 54 SDÜ nicht eingreift, vor, daß bereits erlittene Freiheitsstrafen und andere Sanktionen, sofern das nationale Recht dies erlaubt, in einem Zweitverfahren zwingend angerechnet werden müssen. Daraus folgt, daß die Art. 54 ff. SDÜ grundsätzlich für alle Arten von Strafen anwendbar sein soll. Als Strafen in Betracht kommen hier vor allem Freiheits- und Vermögensstrafen. Einige Länder kennen darüber hinaus hiervon abweichende Sanktionen, wie insbesondere die Verurteilung einer Person zu gemeinnütziger Arbeit, die im Anwendungsbereich der Art. 54 ff. SDÜ demnach ebenfalls zu berücksichtigen sind185. Da sonach eine Beschränkung der für den Regelungskomplex der Art. 54 ff. SDÜ relevanten Strafen nach deren tatsächlicher Qualität ausscheidet, bleibt die Frage, ob eine Beschränkung auf Strafen einer bestimmten rechtlichen Qualität möglich und notwendig ist. Aus dem Regelungssystem des SDÜ selbst wie aus der systematischen Einordnung der Art. 54 ff. SDÜ in den Zusammenhang der Art. 31 ff. EUV folgt, daß die Verankerung des Prinzips des ne bis in idem sich in erster Linie auf Kriminalstrafen beziehen sollte. Indessen kennen einige Mitgliedstaaten neben dem Kriminalstrafrecht ein in Anwendungsbereich und Sanktionsbereich jeweils unterschiedlich ausgestaltetes Verwaltungsstrafrecht186. Solange keine schwerwiegenden Gründe bestehen, die hier getroffenen Wertentscheidungen einiger Mitgliedstaaten, Fälle deutlich geringerer Kriminalität aus dem Bereich des Kriminalstrafrechts auszunehmen, zu konterkarieren, erscheint es angemessen, den Anwendungsbereich der Art. 54 ff. SDÜ auf Verwaltungsstrafen insgesamt auszudehnen187.
Ähnlich Specht S. 165. Ein kurzer Blick über die in den verschiedenen Mitgliedstaaten üblichen Sanktionen und zu der unterschiedlichen Ausgestaltung der Geldstrafe findet sich in BT.-Drs. 14 / 4991, 1 (25 f., 28 f.). 186 Dies sind namentlich Deutschland, Österreich, Spanien, Portugal und die Niederlande, vgl. den kurzen Überblick in BT.-Drs. 14 / 4991, 1 (6 f.); zu den ähnlichen Entwicklungen auch in Finnland, Schweden, Frankreich siehe die Zusammenfassung bei Böse, Sanktionen, S. 40 – 45. 187 Auch im Übereinkommen zwischen den Mitgliedstaaten der Europäischen Gemeinschaft über die Vollstreckung ausländischer strafrechtlicher Verurteilungen (BGBl. 1997 II S. 1351) sind Entscheidungen der Verwaltungsbehörden ohne weiteres mit einbezogen, vgl. Art. 1 des Übereinkommens; zum historisch schon seit der Aufklärung zu beobachtenden Zusammenrücken der Rechtsordnungen unter Wahrung der verschiedenen Grundmodelle siehe generell Sieber ZStW 103 (1991), 957 (963). 184 185
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3. Weite Auslegung des Begriffs der „Vollstreckung“ Für den Fall einer Verurteilung soll das Doppelverfolgungsverbot nach Art. 54 SDÜ nur dann eingreifen, wenn die „Sanktion bereits vollstreckt worden ist, gerade vollstreckt wird oder nach dem Recht des Urteilsstaat nicht mehr vollstreckt werden kann“. Als klärungsbedürftig haben sich in diesem Zusammenhang bislang vor allem die Fälle einer zur Bewährung ausgesetzten Strafe und dem Straferlaß im Rahmen einer Gnadenentscheidung bzw. von gnadenähnlichen Entscheidungen erwiesen: So entschied der BGH – im Einklang mit der Ansicht der Landesjustizverwaltungen und des Bundesjustizministeriums sowie der herrschenden Meinung in der Literatur188 – zu dieser Problematik zunächst, daß eine Sanktion i.S.v. Art. 54 SDÜ auch dann „gerade vollstreckt“ wird, wenn ihre Vollstreckung zur Bewährung ausgesetzt ist189. Bei einer laufenden Bewährung könne die Strafaussetzung jederzeit widerrufen und (bei einem Aufenthalt des Täters im Ausland) um Auslieferung zur Vollstreckung oder Übernahme der Vollstreckung gerade nach dem SDÜ ersucht werden. Ebenfalls deutlich extensiv interpretierte das OLG München diese Klausel, als eine deutsche Staatsbürgerin die nach dem Mord an ihrer Mutter in Spanien frühzeitig aus der Haft entlassen und für fünf Jahre außer Landes verwiesen worden war, in Deutschland erneut vor Gericht gestellt werden sollte190. Dabei betrachtete es das SDÜ als Motor der fortschreitenden Integration und Kooperation im rechtlichen Bereich innerhalb der Europäischen Union und bekräftigte die damit verbundene Forderung nach weitest möglicher Toleranz und Akzeptanz anderer Rechtsordnungen im Schengen Raum. Weiter wird darauf abgestellt, daß das gnadenähnliche Absehen von Strafe durch die damit verbundene Ausweisung einer Strafaussetzung zur Bewährung vergleichbar werde und eine im spanischen Recht ansonsten allgemein vorgesehene Begnadigung wegen des fehlenden legalen Wohnsitzes der Angeklagten dem spanischen Gericht nicht möglich gewesen sei. Ähnlich hatte bereits zuvor das Landgericht Landshut191 ein Verfahrenshindernis gem. Art. 54 SDÜ darin gesehen, daß einem in Portugal ursprünglich zu 7 Jahren Freiheitsstrafe verurteilten Angeklagten zunächst 1 Jahr und 2 Monate der Strafe aufgrund einer Resolutivverordnung erlassen worden waren und er sodann noch vor der vollständigen Verbüßung der Reststrafe aus der Haft entlassen und 188 Nach der Erkenntnis von Wolf 22. Strafverteidigertag, S. 67 (71) vertreten auch die deutschen Landesjustizverwaltungen und das deutsche Bundesjustizministerium einhellig die Auffassung, daß eine Strafaussetzung zur Bewährung ein Verfahrenshindernis nach Art. 54 SDÜ begründet; aus der Literatur siehe stellvertretend Ebensperger ÖJZ 1999, 171 (183); Sommer StraFo 1999, 37 (39 f.); Schomburg NJW 2000, 1833 (1839, Fn. 38). 189 BGH StV 2001, 262 (263). 190 OLG München StV 2001, 495 (496) = NStZ 2001, 614 (614). 191 LG Landshut unveröffentlichter Beschluß vom 30. Oktober 1996, Az.: 1 KLs 45 Js 4018 / 92 (zitiert nach Wolf 22. Strafverteidigertag, S. 67 [71]).
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nach Deutschland abgeschoben worden war. Da dem Angeklagten der Strafrest verbunden mit der Abschiebung erlassen worden war, könne die Strafe in dem Erstverfolgerstaat nämlich gem. Art. 54 3. Alt. SDÜ nicht mehr vollstreckt werden. Weitaus restriktiver erwies sich demgegenüber noch die Haltung des OLG Saarbrücken192, das den Fall einer belgischen Erstverurteilung zu einer Freiheitsstrafe unter Gewährung eines Strafaufschubs in Verbindung mit einer Geldbuße zu entscheiden hatte. Da die Freiheitsstrafe zur Bewährung ausgesetzt worden war, sei sie nicht vollstreckt worden und werde auch nicht gerade vollstreckt. Ob die Freiheitsstrafe nach belgischem Recht noch vollstreckt werden könne, obwohl die Bewährungszeit mittlerweile verstrichen sei, könne dahinstehen, da neben der Freiheitsstrafe auch auf eine Geldstrafe als Gesamtsanktion erkannt worden sei und die Geldstrafe noch nicht vollstreckt worden sei, nach belgischem Recht aber noch vollstreckt werden könne und nicht „gerade vollstreckt“ werde. Unerheblich soll dabei sein, daß der Verurteilte mittels eines „Vollstreckungsbescheids“ zur Zahlung aufgefordert worden war. Nach Ansicht des OLG Saarbrücken stelle dies möglicherweise eine „Einleitung“ der Vollstreckung dar, was mit dem Tatbestandsmerkmal „gerade vollstreckt wird“ in Art. 54 SDÜ nicht identisch sei. Werden in einem Urteil verschiedenartige Sanktionen verhängt, so ist der Ausgangspunkt des OLG Saarbrücken, zunächst zu prüfen, ob bei jeder einzelnen Sanktion des Urteils die entsprechenden Vorraussetzungen des Art. 54 SDÜ erfüllt sind, durchaus richtig. Die Trennung zwischen der Einleitung der Vollstreckung und der Vollstreckung an sich bei der Beitreibung der Geldstrafe überzeugt indessen nicht und erscheint als unnatürliche Aufspaltung eines an sich einheitlichen Vorgangs193. Wolf sieht den Zweck dieser Einschränkung in Art. 54 SDÜ richtigerweise darin, daß eine grenzüberschreitende Vollstreckung von Strafurteilen (noch) nicht in allen Fällen gesichert ist und daher eine erneute Strafverfolgung in anderen Vertragsstaaten zulässig sein soll, wenn sich der Verurteilte der Vollstreckung im Urteilsstaat entzieht194. Den oben dargestellten, den Anwendungsbereich von Art. 54 SDÜ extensiv interpretierenden Ansätzen ist daher im Ergebnis uneingeschränkt zuzustimmen. Gestützt wird diese Auffassung, wenn man in Rechnung stellt, daß die bei der Abfassung des Art. 54 SDÜ als Vorbild herangezogene Vorschrift des Art. 692 frz. StPO die Fälle der Strafaussetzung zur Bewährung, der Amnestie und der Gnadenentscheidungen ebenfalls erfaßt195.
192 OLG Saarbrücken StV 1997, 359 (359 f.); dazu jeweils ablehnend Wolf 22. Strafverteidigertag, S. 67 (72) und Sommer StraFo 1999, 37 (39 f.) 193 Im Ergebnis ebenso Auer ÖRiZ 2000, 52 (53), der zudem darauf hinweist, daß in derartigen Fällen zumindest eine Vorgehensweise nach den Bestimmungen über die Übertragung der Vollstreckung von Strafurteilen sinnvoll wäre. 194 Wolf 22. Strafverteidigertag, S. 67 (72); tendenziell noch weitergehend Plöckinger / Leidenmühler wistra 2003, 81 (87 f.). 195 Pralus Rev. sc. crim. 1996, 551 (571).
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Daß das Vollstreckungserfordernis in Art. 54 SDÜ eng zu verstehen ist, zeigt auch ein anderes Beispiel: Nach § 456a deutsche StPO kann von der Vollstreckung (eines Teils) einer Strafe abgesehen werden, wenn der Verurteilte aus der Bundesrepublik ausgewiesen wird196. Die Vollstreckung kann allerdings nachgeholt werden, wenn der Ausgewiesene nach Deutschland zurückkehrt. Eine Ausweisung von EU-Bürgern ist trotz der in den Art. 39 ff. EGV garantierten Niederlassungsfreiheit nach Maßgabe von § 12 Aufenthaltsgesetz / EWG – das heißt vor allem aus spezialpräventiven Gründen und zumindest zeitweise197 – zulässig. Auch in diesem Fall hat sich der Betroffene aber nicht der Vollstreckung entzogen; die Bundesrepublik wollte sich vielmehr gerade von der mit dem Strafvollzug verbundenen Last und der von dem Betroffenen ausgehenden Gefahr für Grundinteressen der Gesellschaft befreien198. In seinem Heimatstaat muß der Betroffene Art. 54 SDÜ gleichwohl geltend machen können, da er sonst lediglich aufgrund nationaler Besonderheiten im Strafvollstreckungsrecht einer erneuten Strafverfolgung ausgesetzt wäre. Eine übermäßige Begünstigung des Straftäters muß in diesem Fall die deutsche Strafvollstreckungsbehörde verhindern, indem sie zur Verteidigung der (betroffenen europäischen) Rechtsordnung(en) die Wirkungen von Art. 54 SDÜ in ihre Ermessensentscheidung gem. §§ 456a StPO, 17 StrVollstrO einstellt199. Sie muß also auch hier den Hintergrund der Art. 54 ff. SDÜ, den Gedanken der transnationalen Wirkungseinheit der durch Art. 54 SDÜ verzahnten mitgliedstaatlichen Hoheitsgewalten200, beachten.
196 Daneben kommt aber auch eine Überstellung des Verurteilten zur Vollstreckung der Strafe in sein Heimatland nach Art. 71 IRG, bzw. Art. 3 des Übereinkommens über die Überstellung verurteilter Personen vom 21. März 1983 (ETS No. 112) in Betracht, vgl. stellvertretend die AV des Justizministeriums Baden-Württemberg Justiz 1996, 500 (500 ff.). 197 Siehe stellvertretend VGH Baden-Württemberg vom 15. Juni 1987, Az.: 13 S 597 / 87 (Leitsatz: Bei straffällig gewordenen EG-Ausländern darf die Ausweisung nicht auf generalpräventive Erwägungen gestützt werden. Entscheidend ist die Schwere der Wiederholungsgefahr.) sowie Hessischer VGH vom 04. März 2002, Az.: 12 UE 200 / 02 (Leitsatz: Die gemeinschaftsrechtlichen Vorschriften über die Beschränkung der Freizügigkeit von Unionsbürgern überlagern die Ausweisungsvorschriften des § 47 Abs. 1 AuslG über die Ist-Ausweisung mit der Folge, dass diese nicht unmittelbar anwendbar sind, sondern aufgrund einer individuellen aktuellen Gefährdungsprognose festgestellt werden muss, ob die weitere Anwesenheit des Unionsbürgers in Deutschland eine tatsächliche und hinreichend schwerwiegende Gefährdung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung darstellt, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt.) 198 Kleinknecht / Meyer-Goßner § 456a StPO Rn. 1. 199 Zu dem Verfahren im Einzelnen siehe Wetterich / Hammann, Strafvollstreckung, Rn. 227 ff. 200 Siehe dazu oben D. II. 1. c) bb) am Ende.
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D. Problematik eines zwischenstaatlich wirkenden Prinzips des ne bis in idem
4. Materielle Ergänzung des Ansatzes, um „besondere“ nationale Hoheitsinteressen berücksichtigen zu können? Materiell hat das oben ausgearbeitete Konzept – insbesondere auch aufgrund des weiten Verständnisses des Begriffs der „Tat“ – zur Folge, dass eine endgültige Entscheidung über eine Straftat zu großflächigen Zuständigkeitssperren für Zweitverfolgerstaaten führt201. Es liegt daher der Einwand nahe, dass bei einem solchen Ansatz einschränkende Parameter eingeführt werden sollten, damit im Einzelfall besonders bedeutende, spezifische Interessen des „ausgesperrten“ Nationalstaates hinreichend berücksichtigt werden können. Dementsprechend könnte generell verlangt werden, dass Art. 54 SDÜ dann nicht eingreift, wenn im Zweitverfahren ein Unrecht geahndet werden soll, das mit dem im Erstverfahren abgeurteilten nicht einmal im Kern identisch ist. Man könnte die Norm aber auch dahin einschränken, dass sie zumindest dann nicht gilt, wenn das Verbot des Zweitverfahrens zu einem wesentlichen Widerspruch mit den Grundgedanken materieller Gerechtigkeit führen würde. Zumindest könnten aber spezifische Staatsschutzerwägungen herausgearbeitet werden, die im Einzelfall gegen ein solch weitreichendes Verbot mehrfacher zwischenstaatlicher Strafverfolgung angeführt werden könnten. Materiell finden diese Bedenken im Rahmen der hier vorgeschlagenen Lösung insofern Berücksichtigung als die Nationalstaaten gem. Art. 55 SDÜ die Möglichkeit haben, in Bezug auf von ihnen als besonders wichtig eingestufte Rechtsgüter einen Vorbehalt zu erklären. Dieser Vorbehalt hat zur Folge, dass das Verbot mehrfacher Strafverfolgung gem. Art. 54 SDÜ nicht eingreift. Der Kern der nationalen Souveränität und der Vorbehalt bezüglich besonderer nationaler Interessen wird also respektiert. Zwar mag man einwenden, dass dieser Vorbehalt gem. Art. 55 SDÜ in abstrakt-genereller Weise ex-ante ausgedrückt werden muß. Gerade bei gewichtigen Interessen sollte es den Mitgliedstaaten indessen möglich sein, diese auch in der entsprechenden Art und Weise zu formulieren. Namentlich das Schengener-Durchführungsübereinkommen hat überdies aber auch verfahrensrechtliche Regelungen geschaffen, die diesem Einwand Bedeutung nehmen. Auf die Verbesserungen und Erleichterungen in der Auslieferungspraxis 201 Böse GA 2003, 744 (761) meint daher, ein solches Verständnis des Grundsatzes des ne bis in idem sei „in der Sache Teil einer unionsweiten Zuständigkeitsverteilung und greife daher weit über den Regelungsbereich des Art. 54 SDÜ hinaus“; dabei erkennt er freilich selbst, dass Art. 54 SDÜ auch bei einem solchen Verständnis nur in Bezug auf abgeschlossene Verfahren zur Anwendung kommt und den anderen Mitgliedstaaten lediglich ein Vertrauen in eine funktionierende Strafrechtspflege des Erstverfolgerstaates abverlangt, was – auch nach der Ansicht von Böse (a.a.O. S. 752) – in der Sache weit hinter der von Böse zuvor durchaus unterstützten Einführung des Prinzips der gegenseitigen Anerkennung (a.a.O. S. 752) zurückbleibt, die ihrerseits wiederum von Art. 54 SDÜ getragen werden soll; nach dem hier verfolgten Ansatz gewährleisten indessen bereits die Anforderungen, die an die rechtskräftige Erstentscheidung geknüpft werden, eine hinreichende Ernsthaftigkeit der Strafverfolgung seitens des Erstverfolgerstaates.
II. Der Grundsatz des ne bis in idem im Schengener Durchführungsübereinkommen 185
wurde bereits hingewiesen. Art. 66 Abs. 2 SDÜ ermöglicht hier nunmehr den Verzicht auf das Erfordernis der Spezialität durch den Auszuliefernden, auch insoweit wurde also die Souveränität der Mitgliedstaaten zurückgeschnitten202. Sollte im Einzelfall der Schwerpunkt der Vorwerfbarkeit der Tat in der Verletzung der Hoheitsinteressen eines bestimmten Mitgliedstaates liegen, kann hier im Vorfeld der gerichtlichen Verfolgung der Tat verfahrensrechtlich eine Koordinierung durch Eurojust203 und das Europäische Justizielle Netz erfolgen204. Obwohl diese Institutionen erst Ende der neunziger Jahre eingerichtet wurden, ist es in verhältnismäßig kurzer Zeit gelungen, ein „gut funktionierendes Kommunikationssystem“ aufzubauen, das in der Praxis bereits „in vielen Fällen zu einer erheblichen Beschleunigung notleidender Rechtshilfeersuchen geführt“ hat205. In der Zukunft soll diesen Institutionen eine besondere Rolle gerade auch bei der Koordination der verschiedenen nationalen Strafverfolgungsmaßnahmen zukommen. Die materiellen Folgen des hier vorgeschlagenen Verständnisses der Art. 54 SDÜ kann daher nicht ohne Rücksicht auf diese Instrumentarien der Horizontalintegration gewürdigt werden. Soweit dann aus nationalstaatlicher Sicht trotz allem noch gewichtige Gerechtigkeitsdefizite bestehen sollten206, könnten diese bei der Interpretation der nationalen Straftatbestände berücksichtigt werden. Wenn hier nicht nur der Einwand, der zuvor als „völkerrechtlichen Gegenseitigkeit“ verkleidet, den Anwendungsbereich des Grundsatzes des ne bis in idem einschränken sollte, wiederholt werden soll, könnten – etwa im Bereich der Aussagedelikte oder der Steuerstraftaten207 – die Konsequenzen aus Art. 29 ff. EUV gezogen und – de lege lata gegebenenfalls im Rahmen einer unionskonformen Auslegung – in Zukunft auch die Rechtsgüter 202 Zum Spezialitätsgrundsatz als Ausdruck staatlicher Souveränität siehe nur Vogler GA 1986, 195 (196) sowie ders. ZStW 105 (1993) S. 3 (3 ff.). 203 Errichtet mit dem Ratsbeschluss vom 28. Februar 2002 ABl. EG Nr. L 63 S. 1 ff. 204 Kühne, Strafverfahrensrecht, Rn. 100.3 weist darauf hin, dass sich die Kompetenzen beider Einrichtungen überschneiden, und fragt deshalb, ob es nicht sinnvoller wäre, beide Einrichtungen auch organisatorisch zu einer Einheit zusammenfassen. Dem korrespondiert, dass das Sekretariat des EJN in der Praxis bei Eurojust angesiedelt ist und dessen Budget von Eurojust als Teil des eigenen Haushalts verwaltet wird (vgl. Langsdorff StV 2003, 472 [474]). 205 Langsdorff StV 2003, 472 (473), der die Entwicklung der Tätigkeit von Eurojust und EJN insgesamt als sehr effektiv und leistungsfähig beschreibt. 206 Schünemann GA 2002, 501 (508) bewertet die zahllosen Rechtsvereinheitlichungsmaßnahmen aufgrund von Art. 34 EUV bereits jetzt als „in ihrem Gesamtumfang gigantisch“. 207 Das Beispiel eines Steuerbetrugs, der die Finanzinteressen verschiedener Staaten berührt, veranlasst etwa Schermers in: Captorti, Du droit international, S. 601 (612) zu dem Vorschlag, „to split the offence into several separate offences“, gerade für diesen Bereich zeigt aber § 264 deutsches StGB, dass es durchaus möglich ist, über den Schutz rein nationaler Finanzinteressen hinauszugehen, siehe dazu ausführlicher nur Lührs wistra 1999, 89 (94 f.) .
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der Mitgliedstaaten geschützt werden208. Auch ohne diese Ausdehnung der nationalen Strafgewalten, ist der hier vertretene weitreichende Schutz des Individuums vor mehrfacher zwischenstaatlicher Strafverfolgung geradezu notwendiges Korrelat zu den Eingriffen in seine Freiheiten durch die europäisierte Strafverfolgung209. Im übrigen bleibt auch die Rechtsstellung des Einzelnen gegenüber den für ein rein systemintern wirkendes Prinzip des ne bis in idem abstrakt aufgestellten Forderungen defizitär. Die Defizite liegen dabei insbesondere im Bereich des Ermittlungsverfahrens, wo das Individuum bis zum Vorliegen einer entsprechenden Entscheidung mit einer Verfolgung durch mehrere Rechtsordnungen rechnen muß, sowie im Hauptverfahren, wo dem Angeklagten ein Strafverfahren nach einer ihm nicht unbedingt vertrauten Rechtsordnung zugemutet wird. Auch das Individuum hat diese Einbußen hinzunehmen, solange es sich eben noch nicht in einem Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts befindet, sondern in einem Raum, der sich erst in einer entsprechenden Entwicklung befindet.
5. Prozedurale Absicherung und Gewährleistung einer einheitlichen Auslegung der Art. 54 ff. SDÜ Die Berücksichtigung des Art. 54 SDÜ im Zweitverfolgerstaat folgt aus dessen Ausgestaltung als im gesamten Verfahren von allen Beteiligten zu beachtendem Verfahrenshindernis. Lange Zeit offen war dagegen die Frage, wie eine einheitliche Rechtsauslegung der Art. 54 ff. SDÜ gewährleistet werden könnte210. Da die Schengener-Übereinkommen zunächst außerhalb des institutionellen Rahmens der europäischen Union entstanden sind, kam eine Vorlage von Rechtsfragen an den EuGH etwa gem. Art. 177 EGV nicht in Betracht211. Da das Vertragswerk auch 208 Speziell zum Diskussionsstand über die Einbeziehung ausländischer und internationaler Institutionen in den Anwendungsbereich der §§ 153 ff. StGB in Deutschland siehe Lackner / Kühl, StGB, vor § 153 Rn. 2 sowie Gribbohm, in: Jähnke / Laufhütte / Odersky (Hrsg.), Leipziger Kommentar, StGB, vor § 3 Rn. 181 ff. spricht bezüglich der Eidesdelikte vor supranationalen Gerichtshöfen bereits von einem „stillschweigenden Bedeutungswandel“, die sich jedoch noch allesamt auf die Rechtslage vor Inkrafttreten der Art. 29 ff. EUV beziehen. Die Kompetenzen, die der EU insoweit durch Art. 31 lit. c EUV eingeräumt sind, sind bislang noch nicht einmal andeutungsweise ausgelotet (im deutschen strafrechtlichen Schrifttum hat bislang vor allem Schünemann GA 2002, 501 [503] dezidiert die Frage gestellt, ob die Art. 29 ff. EUV überhaupt eine gegenständliche Begrenzung für die Rechtsangleichung durch die Union enthalten). 209 Siehe etwa zur Reichweite des Europäischen Haftbefehls Schünemann StV 2003, 531 (531 ff.). 210 Bereits recht frühzeitig aufgezeigt hat diese Problematik Schomburg StV 1997, 383 (385); für die Rechtsschutzmöglichkeiten nach dem SDÜ im Bereich der grenzüberschreitenden Observation und Nacheile sowie zu Ausschreibungen im Schengener Informationssystem Gleß / Lüke Jura 2000, 400 (402 ff.). 211 Ebensperger ÖJZ 1999, 177 (182); Schomburg StV 1997, 383 (385).
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keine sonstigen Mechanismen vorsah, die eine einheitliche Auslegung hätten verbindlich gewährleisten können212, wurde in der Literatur de lege ferenda beispielsweise eine Beleihung des EuGH vorgeschlagen213. Für wie drängend dieses Bedürfnis auch in der Praxis empfunden wurde, zeigen die dort unternommenen Anstrengungen der Zweitverfolgerstaaten durch informelles Handeln wenigstens zu bilateral einvernehmlichen Lösungen mit dem Erstverfolgerstaat zu gelangen214. Mit der Einbeziehung des Schengen-Besitzstandes in den Rahmen der Europäischen Union durch den Amsterdamer Vertrag und die Zuordnung der Art. 54 ff. SDÜ zu den Art. 29 ff. EUV ist der EuGH nunmehr eindeutig gem. Art. 46 lit. b, 35 Abs. 1 EUV für die Auslegung des SDÜ zuständig, sofern diese Zuständigkeit von den Mitgliedstaaten gem. Art. 35 Abs. 2 EUV anerkannt wurde215. Die bisherige Zweifelsfrage, ob sich die Zuständigkeit des EuGH bereits allein aus dem Amsterdamer Vertrag ergab, hat sich damit erledigt216. Auch die Ansätze, die über die Verpflichtung zur Beachtung der EMRK in Art. K. 2. EUV zu einer Zuständigkeit des EGMR hätten führen können, sind damit hinfällig217. Bemerkenswert an dem Verfahren vor dem EuGH sind namentlich zwei Dinge: Entscheidet der EuGH auf der Rechtsgrundlage von Art. 35 EUV218 i.V.m. Art. 1 212 Auch im Bereich des Rechtschutzes gegen Strafverfolgungsmaßnahmen führen die Regelungen des SDÜ zu einer Zuständigkeit nur der jeweiligen nationalen Gerichte, die dann ggf. über die im SDÜ gewährten sekundärrechtlichen Ansprüche (siehe z.B. Art. 43 SDÜ) zu entscheiden haben, vgl. Gleß / Lüke Jura 2000, 400 (403). 213 Schomburg StV 1997, 383 (385). 214 Siehe etwa das Auskunftsersuchen des BGH NStZ 1998, 149 (149 f.) und BGHSt 45, 123 (125 ff.), vgl. auch B. Hecker StV 2001, 306 (307), das Vorgehen des BGH ebenfalls begrüßend Thomas, ne bis in idem, S. 280. 215 EuGH Urteil vom 11. Februar 2003, verb. Rs. C-187 / 01 und C-385 / 01, Ziff. 1; die gem. Art. 35 Abs. 2 EUV erforderliche Erklärung wurde etwa von Deutschlands abgegeben (siehe BGBl. 1999 I, 728; Schütz / Sauerbier JuS 2002, 658 [661], die außerdem einen Überblick über die Rechtsprechungs- und Kontrollkompetenzen des EuGH im Unionsrecht insgesamt geben); dazu Jokisch, S. 171 – 208; selbst wenn die Opt-in Möglichkeit des Art. 35 Abs. 2 EUV von manchen Mitgliedstaaten nicht gewählt wird, so werden Entscheidungen des EuGH gem. Art. 35 Abs. 4 EGV Bindungswirkung entfalten, vgl. Schomburg NJW 1999, 540 (543); so neuerdings (offen noch im Urteil des BGH vom 10. Juni 1999 = BGHSt 45, 123 [129] im sog. Fall Lacour) auch das Urteil des BGH vom 6. Juni 2002 Az.: 4 ARs 3 / 02 zu Art. 64 SDÜ = JZ 2002, 1173 mit zustimmender Anm. Vogel JZ 2002, 1175 (1176). 216 Siehe dazu Schomburg StV 1999, 246 (248), der zwar mit Blick auf Art. 35 Abs. 7 EUV ein engeres Verständnis von Art. 35 Abs. 1 EUV für vertretbar hält, ein solches aus teleologischen Gründen und unter Hinweis auf die Materialien zum EuGHG und das Protokoll zur Einbeziehung des Schengen-Besitzstandes in den Rahmen der Europäischen Union ablehnt; ähnlich bereits zuvor ders. NJW 1999, 540 (543) und NJW 1999, 550 (550) 217 Zu diesen Ansätzen vgl. Röben in: Grabitz / Hilf, Das Recht der Europäischen Union – Kommentar, vor Art. 29 Rn. 37. 218 Unrichtig Radtke NStZ 2001, 662 (663), der eine Vorlagepflicht gem. Art. 234 Abs. 3 EGV annimmt, so dass der EuGH als supranationales Gericht zuständig wäre, sich dabei aber zu Unrecht auf Bohnert / Lagodny NStZ 2000, 636 (640, Fn. 49) und Schomburg NJW 2000, 1833 (1839) beruft; Radtke / Busch NStZ 2003, 281 erkennen zwar die Zuständigkeit des
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D. Problematik eines zwischenstaatlich wirkenden Prinzips des ne bis in idem
Abs. 2 EuGHG219, übt er erstens nicht etwa eine supranationale, sondern zumindest im Ansatz eine klassische völkerrechtliche (!) Zuständigkeit aus220, so daß insoweit ein Methodenwechsel in der Integrationsrechtsprechung des EuGH zu erwarten ist221. Zum anderen muß diese Zuständigkeit des EuGH von derjenigen der nationalen Gerichte abgegrenzt werden222. So läßt das OLG Köln für die von ihm vorgenommene Vorlage an den EuGH genügen, daß eine andere Rechtsauffassung nicht unmöglich erscheint223. Schomburg demgegenüber verweist – in Einklang mit den Ausführungen des BGH in NStZ 1999, 579 (580) – auf die Tatsache, daß Vorlagepflichten von deutschen Gerichten gemeinhin restriktiv gehandhabt werden, und will diese entsprechend auf bilateral abweichende Rechtspositionen beschränken224. Eine solche Begrenzung der Vorlagepflicht kann indessen nicht überzeugen. Das Schengener Übereinkommen ist als multilaterales Übereinkommen in Verbindung mit der nach Art. 35 Abs. 2 EUV anerkannten Kompetenz des EuGH zur transnational verbindlichen – und die nationalen Souveränitäten im Einzelfall beschränkenden – Auslegung einer bilateralen Dispositionsbefugnis in Zweifelsfragen entzogen. Auch wenn Art. 35 Abs. 1 EUV selbst keine Vorlagepflicht vorsieht, ergibt sich diese in Deutschland für letztinstanzliche Gerichte aus § 1 Abs. 2 EuGHG. Für die genaue Ermittlung des Umfangs der Vorlagepflicht ist die Rechtsprechung des EuGH zu § 234 EGV, der die Vorlagepflicht dort auf die Wahrung der Rechtseinheit und Kohärenz stützt, übertragbar225. In Anwendung EuGH gem. Art. 35 EUV (S. 282), argumentieren teilweise aber noch immer gemeinschaftsrechtlich (z.B. S. 283 a. E,). 219 Vgl. das Gesetz betreffend die Anrufung des Gerichtshofes der europäischen Gemeinschaften im Wege des Vorabentscheidungsverfahrens auf dem Gebiet der polizeilichen und justiziellen Zusammenarbeit in Strafsachen nach Art. 35 EUV, BGBl. 1998 I 2035. 220 Koenig / Pechstein / Sander, EU- / EG-Prozessrecht, Rn. 828 ff. (insbes. Rn. 836); Müller-Graff, FS f. Everling, S. 925 (931 f.); Vogel / Norouzi JuS 2003, 1059 (1061) meinen dagegen, seit der Überführung des SDÜ in das Unionsrecht seien die vom EuGH entwickelten Grundsätze zur Auslegung europäischen Gemeinschafts- und Unionsrechts zu berücksichtigen, ohne zwischen den Unterschieden einer horizontal (= EU)- und vertiklaintegrierenden (= EG) Rechtsprechung zu differenzieren, aus dem selben Grund abzulehnen ist auch die Ansicht von Böse GA 2003 744 (747, etwas vorsichtiger aber auf S. 752), wonach sich die Auslegung von Art. 54 SDÜ nach dem dynamischen Charakter des Gemeinschaftsrechts (!) richten soll. 221 Herdegen, Europarecht, Rn. 469; ähnlich wie hier auch Böse in: Schwarze, EUV-Kommentar, Art. 35 EUV Rn. 1, wonach die Gerichtsbarkeit des EuGH im Rahmen der EPJZS eigenen Regeln folge; das Urteil des EuGH vom 11. Februar 2003, verb. Rs. C-187 / 01 und C-385 / 01, Ziff. 32 ff., 36 ff. läßt einen solchen Methodenwechsel allerdings noch vermissen (kritisch dazu Mansdörfer StV 2003, 313 [313 f.], weniger kritisch, aber vom Befund her übereinstimmend Thym NStZ 2003, 334 [335]). 222 Siehe etwa die Versuche der Abgrenzung der Auslegungskompetenzen in BGH NStZ 1999, 579 (580) und BGH StV 2001, 495 (495), die den jeweiligen Fall dem EuGH nicht vorgelegt haben, sowie OLG Köln NStZ 2001, 558 (559), das den Fall dem EuGH vorgelegt hat. 223 OLG Köln NStZ 2001, 358 (360). 224 Schomburg NJW 2000, 1833 (1839).
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der sog. Acte-claire-Theorie des EuGH226 kann ein letztinstanzliches, nationales Gericht von einer an sich gebotenen Vorlage an den EuGH (nur) dann absehen, wenn die Anwendung des Europarechts derart evident ist, daß keinerlei Raum für einen vernünftigen Zweifel an der Entscheidung der gestellten Frage bleibt227. Der Verbindlichkeit der EuGH Entscheidung auch für die am Verfahren nicht unmittelbar als Partei beteiligten Staaten trägt dabei Art. 35 Abs. 4 EUV Rechnung, der diesen Staaten die Möglichkeit einräumt, zu entsprechenden Streitfragen Schriftsätze einzureichen oder schriftliche Erklärungen abzugeben. Auch nach der nunmehr gegebenen Zuständigkeit des EuGH zur allgemein verbindlichen Auslegung der Art. 54 ff. SDÜ bleibt ein Problem freilich ungelöst. Ein rechtsstaatliches Verfahren verlangt nicht nur die Einmaligkeit und Endgültigkeit von Strafverfahren; gleichrangig daneben steht der Grundsatz auf ein zügiges Verfahren. Ob letzterer nach der Einbeziehung des EuGH, bei dem in Vorabentscheidungsverfahren mit einer Verfahrensdauer von zwölf bis siebzehn Monaten zu rechnen ist228, noch gewährleistet ist, erscheint zweifelhaft. Hier bleibt an dieser Stelle nicht mehr, als sich den Forderungen nach einem speziell strafrechtlichen Spruchkörper beim EuGH anzuschließen oder zumindest einer vorgezogenen Behandlung von Strafsachen das Wort zu reden229.
225 Böse in: Schwarze, EUV-Kommentar, Art. 35 EUV Rn. 4; im Ergebnis ebenso neuerdings BGH vom 6. Juni 2002 = JZ 2002, 1173 (1175) = NStZ 2002, 661 (663 Rn. 10 - 12) mit zustimmender Anmerkung B. Hecker NStZ 2002, 663 (663 f.); Vogel JZ 2002, 1174 (1177) verweist in diesem Zusammenhang unklar auch auf die Willkürrechtsprechung des deutschen BVerfG (BVerfGE 73, 339 [376 – 389]; 89, 155 [159]) und übersieht offenbar dabei die Deformation der EuGH-Rechstprechung durch diese Willkürgrenze – nämlich das dieser Rechtsprechung gegenläufige Gewähren übermäßiger Beurteilungsspielräume bezüglich der Vorlagepflicht (zur heftigen Kritik seitens der Literatur siehe nur Voßkuhle JZ 2001, 924 [925, insb. Fn. 17 m.w.N.], der mit der Entscheidung des BVerfG vom 9. Januar 2001, Az.: 1 BvR 1036 / 99 = JZ 2001, 923 allerdings eine mögliche Wende eingeleitet sieht; zu einer im Extremfall möglichen Individualbeschwerde vor dem EGMR [!] vgl. jüngst Breuer JZ 2003, 433 [439 ff.]). 226 Zu den Ursprüngen der sog. Acte-clair-Theorie im französischen Recht und ihrer deutlich divergierenden Zielsetzung siehe den Schlußantrag von Captorti in der EuGH Rs. 283 / 81 Slg. 1982, 3415 (3435 ff.). 227 Im Ergebnis – da fälschlicherweise direkt von einer Vorlagepflicht gem. Art. 234 Abs. 2 EGV ausgehend – ebenso Radtke NStZ 2001, 662 (664) mit Verweis auf EuGH Rs. 283 / 81 Slg. 1982, 3415 (3430) und Streinz, Europarecht, Rn. 564. 228 Jokisch, S. 195 ff. 229 Schomburg NJW 1999, 540 (543) bezeichnet das Bedürfnis nach einem strafrechtlichen Spruchkörper des EuGH als „dringend“; ähnlich auch die Einschätzung von Vogel JZ 2002, 1175 (1177), wonach „Reformbedarf“ bestehe und überlegt werden sollte, dem EuGH nach dem Vorbild des Gerichts erster Instanz ein „Gericht für europäische Strafsachen“ an die Seite zu stellen.
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III. Gesamtbewertung Die Art. 54 ff. SDÜ regeln den Grundsatz des ne bis in idem im transnationalen, europäischen Recht zwar relativ weitgehend und können insoweit als Leitbild eines zwischenstaatlichen Prinzips des ne bis in idem in einem vereinheitlichten, transnationalen Wirtschaftsraum herangezogen werden. Entgegen der traditionellen Auffassung wirkt der Grundsatz jedoch nicht nur und nicht erst als individuelles Menschenrecht sondern auch, schon und vor allem als objektives Organisationsprinzip zur Vermeidung von Kompetenzkonflikten. Er bedarf insofern einer fortschreitenden Horizontalintegration der nationalen Sanktionssysteme bereits zuvor im Ermittlungsverfahren und danach im Rahmen der Strafvollstreckung230. Die Regelung des Verbots mehrfacher Strafverfolgung in den Art. 54 ff. SDÜ steht nach diesem Verständnis in einer Linie mit den aktuellen Entwicklungen im europäischen Polizeikooperationsrecht 231 und im justiziellen Bereich mit dem Maßnahmenprogram des Rates zur Umsetzung des Grundsatzes der gegenseitigen Anerkennung gerichtlicher Entscheidungen in Strafsachen, in dessen Zusammenhang auch die Regelungen der Art. 54 ff. SDÜ nochmals überprüft werden232. Die Entwicklung des Verbots mehrfacher Strafverfolgung zu einem Grundsatz international arbeitsteiliger Strafverfolgung ist damit eingeleitet 233. Inhaltlich übernehmen der systeminterne und der transnationale Grundsatz des ne bis in idem ganz unterschiedliche Funktionen. Bei der Transformation bestehender, nationaler Begrifflichkeiten zur Bestimmung des transnationalen Gehalts des Grundsatzes ist daher Vorsicht angezeigt. In besonderer Weise gilt dies für den Begriff der „rechtskräftigen Aburteilung“. Im systeminternen Bereich bringt dieser in 230 Zu den substantiellen Unterschieden einer solchen Horizontalintegration zur Supranationalität und zu einer bloßen intergouvernementalen Kooperation siehe J. Hecker EuR 2001, 826 (841) sowie zu den Unterschieden in den Steuerungsmechanismen (842 f.); noch weitergehend die Forderung von Jokisch S. 125 nach einer Kompetenz der Europäischen Gemeinschaften zur Harmonisierung des internationalen Strafprozeßrechts, dessen Verweis auf parallele Entwicklungen im europäischen, internationalen Zivilprozeßrecht (S. 126) mit der Verordnung Nr. 44 / 2001 des Rates über die gerichtliche Zuständigkeit in Zivilsachen (ABl. EG 2001 Nr. L 12 / 1, sog. EuGVO) insofern bestätigt wurde, als dort der zuvor im EuGVÜ geregelte Bereich nunmehr aufgrund einer Gemeinschaftsverordnung harmonisiert wurde; kritisch gegenüber den Möglichkeiten einer verstärkten Kooperation Esser, Europäisches Strafverfahrensrecht, S. 13 ff., wobei fraglich ist, ob die von ihm favorisierte Vereinheitlichung der Rechte sich wirklich schneller und einfacher erreichen läßt. 231 Aus jüngerer Zeit ausdrücklich J. Hecker EuR 2001, 826 (834), wonach das europäische Polizeikooperationsrecht auf Zusammenarbeit unter Inkaufnahme der unterschiedlichen nationalen rechtlichen und organisatorischen Strukturen ziele und es (nur) seine Aufgabe sei, diese Zusammenarbeit rechtlich zu organisieren. 232 ABl. EG 2001 Nr. C 12; zur zunehmenden Bedeutung der Kooperation als Mittel zur Verwirklichung des einheitlichen Europäischen Rechtsraums auch Pradel in: Tiedemann, Freiburg-Symposium, S. 55 (58, 63 ff.). 233 So bereits Schomburg NJW 1999, 540 (542) und als einer der ersten in der wissenschaftlichen Diskussion Linke in: Oehler / Pötz, Aktuelle Probleme des Internationalen Strafrechts, S. 85 (91).
III. Gesamtbewertung
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erster Linie das staatliche Strafverfolgungsinteresse und den individuellen Anspruch auf Rechtssicherheit zum Ausgleich. Wird dieser Begriff zur Ausgestaltung des transnationalen Grundsatzes des ne bis in idem herangezogen, wird er über seinen Inhaltskern hinaus zur Koordination verschiedener Staatsgewalten herangezogen. Jene erfolgt möglicherweise besser nach anderen Kriterien, die sich mit dem von diesem eigentlich zu lösenden Interessenkonflikt nur ansatzweise in Kongruenz bringen lassen. Die verschiedenen, mehr oder weniger stark normativ geprägten Tatbegriffe der nationalen Rechte, die unterschiedlichen Grundentscheidungen in der Frage, inwieweit ausländische Strafentscheidungen allgemein Erledigungswirkung beigemessen wird, aber auch materielle Grundentscheidungen in der (Kriminal)Strafwürdigkeit bestimmter sozialschädlicher Verhaltensweisen geben der nationalen Rechtskraft in Reichweite und Intensität ein Gepräge, das sich in den verschiedenen Strafprozeßordnungen der Mitgliedstaaten nur schwer nachbilden läßt. Das Ziel der Ausgestaltung eines Raums der Freiheit, Sicherheit und des Rechts für die Unionsbürger läßt sich einfacher realisieren, wenn Art. 54 SDÜ als negative Kompetenznorm begriffen wird, als transnationales Verfahrenshindernis bei Vorliegen einer qualifizierten Endentscheidung im Erstentscheiderstaat. Überlegungen zur Erledigungswirkung oder zum Strafklageverbrauch im dortigen nationalen Recht sind damit obsolet. Die Spannungen, die dies mit sich bringt, wurden dabei von Beginn an vorhergesehen, ja sogar beabsichtigt: So sind in bestimmten Bereichen, wie etwa der Drogen- oder Umweltdelikte, traditionell recht starke Divergenzen und damit einhergehende Konflikte zu beobachten. Auch wenn diese durch die verbindliche Annahme gewisser Mindeststandards, namentlich mittels des Mediums der Rahmenbeschlüsse, in ihrer Schärfe zunehmend gemildert werden234, so überläßt selbst die Europäische Gemeinschaft im Rahmen bestehender Anweisungskompetenzen den Nationalstaaten die Entscheidung über die Sanktionsart, das heißt die Einordnung als Kriminal- oder Verwaltungsstrafrecht235. Weiter bieten die Art. 54 ff. SDÜ nur einen unvollständigen Schutz bzw. überhaupt keinen Schutz vor einer mehrfachen, parallelen Strafverfolgung oder vor einem grenzüberschreitenden Befugnisshopping seitens der Ermittlungsbehörde. Umgekehrt nähren sie – zumindest theoretisch236 – Befürchtungen, dem Straftäter würde ein sog. forum shopping ermöglicht, so daß sich dieser durch eine geschickte Wahl des Tatorts günstige Konditionen für den Fall einer strafrechtlichen Verfolgung sichern kann237. Diesem letzten 234 Zum zunehmenden Einsatz des Mediums des Rahmenbeschlusses und des Aktionsplans, vgl. Möhrenschlager wistra Heft 12 / 2001, S. VI ff. 235 Die Praxis der Gemeinschaft und die herrschende Meinung zum Spielraum der Mitgliedstaaten bei der Umsetzung von Richtlinien zusammenfassend Eisele JZ 2001, 1157 (1161). 236 Der Bundesregierung lagen auf eine entsprechende Anfrage hin keine tatsächlichen Erkenntnisse zu diesem Problembereich vor, vgl. BT-Drs. 14 / 4991 S. 1 (40). 237 Nelles ZStW 109 (1997), 727 (738); Jokisch S. 245; Brüner / Spitzer NStZ 2002, 393 (397); Thomas, ne bis in idem, S. 162 ff.
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D. Problematik eines zwischenstaatlich wirkenden Prinzips des ne bis in idem
Einwand kann in Zukunft allerdings durch eine frühzeitige Koordination der Verfahren durch EJN und Eurojust wirksam begegnet werden. Zuletzt bleibt abzuwarten, welche Einflüsse die Justiziabilität der Art. 54 ff. SDÜ durch den EuGH mit sich bringen wird. Hier ist zu hoffen, daß sich der EuGH entgegen der von ihm im Gemeinschaftsrecht eingenommenen Rolle eines Integrationsmotors bei Entscheidungen im Bereich der politischen und justiziellen Zusammenarbeit moderat verhält und keine tieferen Eingriffe in die nationalen Strafrechtssysteme vornimmt als notwendig238. Mittel dieser Integration sollte dabei nicht etwa ein zwischenstaatlicher Druck sein, der geeignet wäre, Völker auseinander zu treiben, vielmehr sollte ein kritisches Hinterfragen der überkommenen Haltung des eigenen, nationalen Souveräns, zu einer Vereinheitlichung von innen führen239. Die Unterschiede der Art. 54 ff. SDÜ zu der ebenfalls über der nationalstaatlichen Ebene liegenden Regelung des Art. 4 7. ZPEMRK sind gleichfalls deutlich: Während Art. 4 7. ZPEMRK einen internationalen Standard setzt, an dem sich die einzelnen nationalen Regelungen messen lassen müssen, legen die Art. 54 ff. SDÜ einen Mindeststandard für die Koordination verschiedener Strafverfolgungsmaßnahmen fest und gewähren dem Individuum in einem die nationale Souveränität übergreifenden Rechtsraum Rechtssicherheit. Beide Regelungen sind somit trotz ihres ähnlichen Wortlauts und ihrer Internationalität in ihrer Zielsetzung grundverschieden. Die klärungsbedürftigen Fragen mögen zwar im Ansatz ähnlich sein, sie differieren jedoch in ihrer jeweiligen Bedeutung und die Übertragung von Ergebnissen bedarf daher einer kritischen Würdigung. So hat sich vorliegend zwar gezeigt, daß sich sowohl im Rahmen der Art. 54 ff. SDÜ als auch im Rahmen von Art. 4 7. ZPEMRK ein tatsächliches Verständnis des Tatbegriffs anbietet. Bereits der Begriff der Strafe bzw. der Sanktion mußte im Bereich des SDÜ indessen wesentlich enger gefaßt werden. Am deutlichsten wurden die Unterschiede im grundlegenden normentheoretischen Verständnis. Während Art. 4 7. ZPEMRK als in seinen Rechtsfolgen flexibles Menschenrecht verstanden wurde, wurde Art. 54 SDÜ als Teil der Gesamtregelungen der Art. 54 ff. SDÜ und vor allem des in Art. 56 SDÜ angesiedelten Anrechnungsgebots als absolutes Verbot betrachtet.
238 Nach Röben in: Grabitz / Hilf, Das Recht der Europäischen Union – Kommentar, Art. 35 EUV Rn. 34 ist es nur eine Frage der Zeit, bis sich entsprechende Einwirkungen auf das nationale Recht abzeichnen werden. 239 Rüter, FS f. Tröndle, S. 855 (866).
E. Der Grundsatz des ne bis in idem im europäischen Strafrecht – insbesondere die supranationale Wirkrichtung des Prinzips Mit der Untersuchung des Grundsatzes des ne bis in idem im europäischen Strafrecht wird nach der systeminternen und der transnationalen die vertikale Dimension dieses Prinzips, das Verhältnis paralleler oder sukzessiver Sanktionen von Organen der Europäischen Gemeinschaft und solchen der Mitgliedstaaten, in den Vordergrund gestellt1. Nicht näher angesprochen wird dagegen das Verhältnis von mehrfachen Sanktionen innerhalb der Europäischen Gemeinschaft2 und das Verhältnis von Gemeinschaftssanktionen und Sanktionen, die von Staaten außerhalb der Gemeinschaft verhängt werden3. In diesen beiden letzten Fällen gelten der Sache nach die bereits eingangs entwickelten Grundsätze, die nur auf den konkreten Sachverhalt hin angewendet werden müssen4. Die supranationale Wirkrichtung des Grundsatzes des ne bis in idem ist dagegen historisch und rechtlich ohne Beispiel, will man nicht den in jüngerer Zeit eingerichteten Internationalen Strafgerichtshöfen ebenfalls Supranationalität zuerkennen5. 1 Grundlegend zum Verhältnis zwischen Europäischer Gemeinschaft und ihren Mitgliedstaaten siehe das sog. Maastrichturteil des BVerfG JZ 1993, 1100 (1103 ff.). 2 Angesprochen sind damit zum einen Sachverhaltskonstellationen wie sie dem EuGH in den Sachen Gutmann / Kommission (Rs. 18 u. 35 / 65 Slg. 1966, 153 [178]), Estel / Kommission (Rs. 270 / 82, Slg. 1984, 1195 [1218]), Usinor / Kommission (Rs. 78 / 83, Slg. 1984, 4177 [4195 ff.]) oder Limburgse Vinyl Maatschappij u. a. / Kommission (Rs. T-305 / 94, T-306 / 94, T-307 / 94, T-313 / 94, T-314 / 94, T-315 / 94, T-316 / 94, T-318 / 94, T-325 / 94, T-328 / 94, T329 / 94 u. T-335 / 94, Slg. 1999 II-984 [972 ff.]) vorgelegen haben, aber auch die Verhängung von Geldbußen von Seiten der Gemeinschaft gegenüber den Mitgliedstaaten z.B. nach Art. 104 Abs. 11 a.E. EGV (siehe dazu ausführlich Pühs, Vollzug von Gemeinschaftsrecht, S. 264 ff., 282 ff.); zu einer entsprechenden Unterscheidung der verschiedenen Wirkebenen des Grundsatzes des ne bis in idem vgl. Kindhäuser in: Glassen, Frankfurter Kommentar, Art. 81 EGV Bußgeldrechtliche Folgen Rn. 146 ff. sowie neuerdings De La Cuesta / Eser RIDP 2001, 753 (754); Kuck WuW 2002, 689 (689 ff.) und ansatzweise bereits Winkler Außenwirtschaftsdienst des Betriebs-Beraters 1972, 565 (570). 3 Damit sind Fallkonstellationen angesprochen wie sie etwa dem Fall Boehringer / Kommission (Rs. 7 / 72 Slg. 1972, 1281 [1290]; siehe dazu Winkler Außenwirtschaftsdienst des Betriebs-Beraters 1972, 565 [565 ff.]) zugrunde liegen; zur stillschweigenden Ablehnung eines zwischenstaatlichen Grundsatzes des ne bis in idem im Verhältnis der EG zu Nicht-Mitgliedstaaten Kuck WuW 2002, 689 (694 f.); unrichtig insoweit König, Europarecht, Rn. 86, wonach der EuGH in dieser Entscheidung das Prinzip des ne bis in idem als Verfahrensgrundrecht anerkannt haben soll. 4 Im ersten Fall bedeutet dies, dass das Prinzip des ne bis in idem grundsätzlich umfassend gilt; im zweiten Fall ist nach den zwischen den verschiedenen Systemen bestehenden Verbindungen zu differenzieren.
13 Mansdörfer
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E. Der Grundsatz des ne bis in idem im europäischen Strafrecht
Als Vergleichsobjekte wurden in der Literatur bisher zwar auch föderale Staatssysteme herangezogen6, die dort gefundenen Lösungen lassen sich indessen nicht zwingend auf das Verhältnis zwischen der Europäischen Gemeinschaft und ihren Mitgliedstaaten übertragen. Schließlich waren die geschichtlichen und kulturellen Wurzeln, die jeweils zur Ausbildung dieser föderalen Staaten geführt haben, sehr viel enger und eine Reaktion auf eine Epoche der Kleinstaaterei. Darüber hinaus wird die Ansicht, die auch den Europäischen Gemeinschaften bundesstaatlichen Charakter zuschreibt, gemeinhin mit dem Hinweis auf die fehlende KompetenzKompetenz und Organisationskompetenz der Gemeinschaften abgelehnt. Gerade im Rahmen der in den letzten Jahren fortschreitenden Integration der Staatsgewalten hat sich gezeigt, daß die Mitgliedstaaten auf ihrer Stellung als Herren der Verträge beharren und wichtige Bereiche der gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik außerhalb des Bereichs der Gemeinschaften auf völkerrechtlicher Ebene koordinieren7.
I. Relevanz der Thematik In ihrer vollen Schärfe würde sich das Problem mehrfacher Strafverfolgung dann stellen, wenn den Europäischen Gemeinschaften eine Kompetenz zum Erlaß von Kriminalstrafrecht samt eines entsprechenden Exekutiv- und Judikativapparats zur Verfügung stehen würde. Derartige Befugnisse haben die Gemeinschaften nach der gegenwärtigen Rechtslage jedoch nicht8. Obgleich von einem Teil der Literatur mit Blick auf Art. 280 Abs. 4 S. 1 EGV zumindest eine partielle Kompetenz zum Erlaß eines supranationalen Kriminalstrafrechts im Bereich der Finanzschutzinteressen der Gemeinschaften gefordert wird9, sind diese Vorschläge abzulehnen. 5 Schomburg NJW 2001, 801 (803) spricht dem mit dem Rom-Statut von 1998 ins Leben gerufenen IStGH „supranationalen Charakter“ zu; ebenso Eser, FS f. Kaiser, S. 1499 (1514) sowie De la Cuesta / Eser RIDP 2001, 753 (761 ff.); allgemein zur Verfassungsverschränkung als konzeptionellem Problem Bieber in: Kreuzer / Scheuning / Sieber, Europäisierung der mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen, S. 71 (72 ff.). 6 Siehe zum Beispiel die Vergleiche von Lillich S. 63 f. 7 Zur Entwicklung, die die Union in diesem Zusammenhang genommen hat, siehe Bogdandy, Supranationaler Föderalismus, S. 22 ff., 32 ff., 38 ff. m.w.N. 8 Siehe stellvertretend bereits BGHSt 25, 190 (193 f.); EuGH im Fall Cowan / Trésor public Rs. 186 / 87, Slg. 1989, 195 (221 f.); EuGH NJW 1993, 47 (47 f.) mit kritischer Anmerkung Tiedemann NJW 1993, 49 (49) ordnet auch die punitiven Sanktionen als verwaltungsrechtliche Maßnahmen ein; aus neuerer Zeit siehe Satzger in: Tiedemann, Freiburg-Symposium, S. 71 (72) und Pühs, Vollzug von Gemeinschaftsrecht, S. 276 (dort auch ausführlich zum bestehenden Demokratiedefizit der Gemeinschaften S. 145 – 183) je m.w.N.; Dannecker JZ 1996, 869 (873 f.); Schünemann GA 2002, 501 (505); Lüderssen GA 2003, 71 (74 ff.). 9 Stellvertretend Tiedemann GA 1998, 107 (108, insb. Fn. 7) sowie Dannecker, FS f. Hirsch, S. 141 (144); zu einer entsprechenden Richtlinienkompetenz zur Vereinheitlichung des Betrugsstrafrechts nach Art. 100 ff. EGV (Maastrichter Fassung) Zuleeg JZ 1992, 761 (766 f.).
I. Relevanz der Thematik
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Denn über die weithin vorgebrachten Bedenken hinaus10, daß eine solche Strafgewalt einem unmittelbar vom Volk legitimierten Gesetzgeber und unabhängigen Gerichten überlassen bleiben müsse, fehlt auch ein hinreichendes praktisches Bedürfnis für ein gemeinschaftsrechtliches Kriminalstrafrecht als ultima ratio. Zwar ist das tatsächliche Ausmaß der Unregelmäßigkeiten und Betrügereien zu Lasten des Gemeinschaftshaushalts erheblich11, jedoch sind die Mitgliedstaaten bereits nach Art. 10 EGV durch das Prinzip der Gemeinschaftstreue hinreichend verpflichtet, die Interessen der Gemeinschaft durch eigene, nationale Strafvorschriften wirksam zu schützen12. Wo aus Sicht der Gemeinschaft gleichwohl Handlungsbedarf besteht, kann sie mit der ihr zustehenden Anweisungskompetenz durch den Erlaß von Richtlinien den nationalen Gesetzgebern einen gemeinschaftsrechtlichen Schutzauftrag vorgeben13. Im übrigen gilt es, präventiv die Regelungstechniken bei der Verordnungsgebung sowie entsprechende Kontroll- und Prüfverfahren zu verbes10 Ganz herrschende Meinung; siehe stellvertretend BGH NJW 1995, 2174 (2175) sowie aus der Literatur Eisele JZ 2001, 1157 (1158) und Haas, Schengener Abkommen, S. 171 jeweils m.w.N. auch aus dem internationalen Schrifttum; Jokisch S. 63. 11 Trotz mangelnder statistischer Erfassung kann der der Gemeinschaft zugefügte Schaden mit einem Volumen von gut 10 – 15% des Gesamthaushalts angesetzt werden, vgl. nur Pache, Schutz finanzieller Interessen, S. 62 ff. und Tiedemann, FS f. Pfeiffer, S. 101 (107 f.); auf Grundlage der bekannt gewordenen Betrugsfälle wurde allein für das Jahr 1999 ein Gesamtschadensvolumen von 413 Mio. A errechnet, vgl. Grünbuch zur Schaffung einer europ. Staatsanwaltschaft, Kom (2001) 715 endg. S. 9.; die Erscheinungsformen dieser Unregelmäßigkeiten sind vor allem die Hinterziehung von Abgaben bei der Einfuhr von Waren in die EG, das Erschleichen von Subventionen bei der Ausfuhr von Waren in Drittländer, die Hinterziehung von Abgaben und das Erschleichen von Subventionen innerhalb der EG, betrügerische Karussellgeschäfte, das Erschleichen mehrmaliger Subventionen für dieselben Geschäfte oder (in manchen Ländern der EG strafbare) Umgehungsgeschäfte, siehe dazu ausführlich Dannecker ZStW 108 (1996), 577 (579 ff.). 12 So die Rechtsprechung des EuGH im sog. „Griechischen Mais-Fall“ EuGH Slg. 178 / 2151 sowie nachfolgend im „Portugiesischen Betrugsfall“ Rechtssache C-186 / 98 (jeweils dargestellt bei Haas, Schengener Abkommen, S. 173); hinzu kommen speziellere Regelungen wie z.B. Art. 78i EGKS, die diese Pflicht der Mitgliedstaaten noch einmal explizit aufgreifen. 13 So geschehen zum Beispiel durch die „Insider-Richtlinie“ (ABl. EG 1989 Nr. L 334 / 30), die „Geldwäscherichtlinie“ (ABl. EG 1991 Nr. L 166 / 77; geändert durch Richtlinie 2001 / 97 / EG) oder neuerdings mit dem Vorschlag für eine Richtlinie übe den strafrechtlichen Schutz der finanziellen Interessen der Gemeinschaft (KOM[2001]272 endgültig); siehe auch den Überblick bei Eser / Huber, Strafrechtsentwicklung 5. 1, S. 58 f.; Jokisch S. 80 ff.; Dannecker Jura 1998, 79 (81 ff.); Pühs, Vollzug von Gemeinschaftsrecht, S. 277; Tiedemann in: Kreuzer / Scheuning / Sieber, Europäisierung der mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen, S. 133 (135 f.); Eisele JZ 2001, 1157 (1160 ff.); ergänzt wird dieses Instrumentarium neuerdings im Bereich der PJZS auf Unionsebene durch das Instrument des Rahmenbeschlusses, vgl. etwa die „Initiative der Bundesrepublik Deutschland im Hinblick auf die Annahme eines Rahmenbeschlusses des Rates über den strafrechtlichen Schutz gegen betrügerisches oder sonstiges unlauteres wettbewerbswidriges Verhalten im Zusammenhang mit der Vergabe von öffentlichen Aufträgen im Gemeinsamen Markt“ (ABl. EG 2000 Nr. C 253 / 3); einen Überblick über die bereits erlassenen Rahmenbeschlüsse gibt Dieckmann NStZ 2001, 617 (618 ff.); Satzger in: Tiedemann, Freiburg-Symposium, S. 71 (78 ff.).
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E. Der Grundsatz des ne bis in idem im europäischen Strafrecht
sern14. Zusätzlich sollten vor der Normierung weiterer materieller Strafvorschriften die Möglichkeiten der Polizei- und Verwaltungskooperation, notfalls durch die Schaffung einer Europäischen Staatsanwaltschaft, ausgeschöpft werden15. All dies bedeutet jedoch nicht, daß damit die Frage nach den supranationalen Wirkungen des Verbots mehrfacher Strafverfolgung obsolet geworden wäre. Die Europäischen Gemeinschaften haben schließlich jenseits des Kriminalstrafrechts ein ausgedehntes verwaltungsrechtliches Sanktionenrecht installiert16. So finden sich bereits im EGKS primärrechtliche Sanktionsvorschriften für den Montansektor17, aber auch der Agrarsektor und das Wettbewerbs- und Kartellrecht sind mit 14 Tiedemann, FS f. Pfeiffer, S. 101 (109 ff.); Dannecker ZStW 108 (1996), 577 (580) sowie ders. JZ 1996, 869 (875 f.); kritisch zu dem System dezentraler Kontrollen auch Spannowsky JZ 1994, 326 (333), der für bestimmte Länder von einem „Ausfall“ der Kontrolle spricht; Rump in: Dannecker, Subventionsbetrug im EG-Bereich, S. 35 (41) merkt dazu an, daß der Fahnder manchen Verordnungen schon vorher ansieht, welchen Betrugsmöglichkeiten sie Vorschub leisten, und hofft, daß es irgendwann vielleicht auch die verantwortlichen Stellen sehen; Kilchling / Braun, Die Kriminalprävention, 2002, 12, 45 (14, 18, 51 f.) weisen darauf hin, daß namentlich im Bereich des Subventionsbetrugs erst die rechtliche Regelung als solche neue Tatgelegenheiten entstehen läßt und daß im Grunde beim Erlaß jeder Norm zugleich ein geeignetes Erfolgscontrolling installiert werden müßte, wobei sie speziell auch im Bereich transnationaler organisierter Kriminalität und organisierter Kriminalität auf EUEbene ein der traditionellen, primären und sekundären Prävention vorgelagertes „Risk Assessment“ als besonders wirkungsvoll einstufen; ganz auf dieser Linie ist im übrigen auch die nationale Kriminalpolitik einiger – insbesondere nordischer – EU-Staaten, vgl. Zila in: Hohloch (Hrsg.), Wege zu einem Europäischen Recht, S. 63 (66 ff.); grundsätzlich vor übertriebenen Erwartungen an das Strafrecht warnend Frisch in: Gedächtnisschrift für Schlüchter, S. 669 (686 ff.). 15 Zu entsprechenden Vorstößen seitens der Kommission vgl. Dieckmann NStZ 2001, 617 (621 ff.); bei der Einschätzung der Problematik zu einem ähnlichen Schluß gelangen neuerdings Satzger StV 2003, 137 (142) und Hilgendorf in: Dreier (Hrsg.), Raum und Recht, S. 333 (341); zu einem Überblick über den Meinungsstand siehe Schulz StV 2003, 142 (142 ff.), grundsätzlich gegen eine zentrale Rechtssetzungskompetenz als Mittel zur europäischen Strafrechtsangleichung Köhler in: FS f. G.A. Mangakis, S. 751 (756 ff.). 16 Siehe hierzu ausführlich die Darstellung bei Böse, Sanktionen, S. 137 – 407; Jokisch S. 60 – 103; Dannecker ZStW 108 (1996), 577 (605) spricht – unbeirrt von Art. 5 Abs. 2 Verordnung 2988 / 95, wonach die in Art. 5 Abs. 1 aufgeführten verwaltungsrechtlichen Sanktionen strafrechtlichen Sanktionen nicht gleichgestellt werden können – noch deutlicher von „strafrechtlichen Sanktionen“; den Horizont strafrechtlicher Regelungsgebiete zeigen auch die Arbeiten zu einem „Besonderen Teil der Europadelikte“ veröffentlicht in: Tiedemann, Freiburg-Symposium, S. 199 – 383 auf; zur Begründung einer entsprechenden Kompetenz aus dem Grundsatz des effet utile siehe Pühs, Vollzug von Gemeinschaftsrecht, S. 272 ff.; eine derartige Kompetenz der Gemeinschaften bestreitend Spannowsky JZ 1994, 326 (329); insoweit unzutreffend König in: Göhler, Ordnungswidrigkeitenrecht, Einl Rn. 17, wo behauptet wird, das Europäische Gemeinschaftsrecht habe außerhalb der Sanktionstatbestände des Kartellrechts keine Sanktionstatbestände gesetzt. 17 Siehe z.B. die Art. 47, 54, 58 § 4, 59 § 7, 64 ff. EGKS; ausführlich zu den Hintergründen der Übertragung einer solchen beschränkten Strafgewalt an die Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl Jescheck ZStW 65 (1953), 496 (502 ff.) sowie bezogen auf die EWG Winkler, Geldbuße im Wettbewerbsrecht der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft, S. 8 ff.
II. Hintergrund der Problematik
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sekundärrechtlichen Sanktionen durchsetzt18, und die Verordnung 2988 / 95 zum Schutz der finanziellen Interessen der Gemeinschaft19 bildet eine gemeinsame Rahmenregelung für einheitliche Kontrollen und verwaltungsrechtliche Sanktionen20.
II. Hintergrund der Problematik – System der punitiven Sanktionen im Europäischen Gemeinschaftsrecht Der Begriff der Sanktion wird im Gemeinschaftsrecht und von den Gemeinschaftsorganen recht häufig verwendet21 und es besteht weithin Einigkeit, daß die Gemeinschaften über die explizite Befugnis in Art. 83 EGV (Amsterdamer Fassung) hinaus in bestimmten Bereichen Geldbußen und andere präventive und punitive Sanktionen als Reaktion auf Gemeinschaftsrechtsverstöße normieren können. Beispiele hierfür sind die Anordnung eines Kautionsverfalls, Strafzuschläge, Subventionskürzungen, Leistungssperren oder die Auferlegung von Zahlungsverpflichtungen22. Für die Verhängung solcher Sanktionen lassen sich aus der Rechtsprechung des EuGH einige Grundsätze ableiten, aus denen sich ergibt, daß die klassischen, strafrechtlichen Garantien grundsätzlich auch in diesem Bereich gelten sollen23. Eigene Ermittlungen stellt die EG dabei im Kartellrecht zur Durchsetzung des Kartellverbots aber auch in anderen Bereichen insbesondere durch OLAF im Rahmen der Betrugsbekämpfung an24. Soweit die Sanktionen von der Kommission 18 Siehe auch die Beispiele bei Bohnert in: Boujong, Karlsruher Kommentar zum Ordnungswidrigkeitengesetz, Einl. Rn. 250; aus dem Bereich des Agrarsektors siehe nur die Verordnung 2419 / 2001 ABl. EG 2001 Nr. L 327 / 11. 19 ABl. EG 1995 Nr. L 312 / 1. 20 Dannecker ZStW 108 (1996), 577 (604); Heitzer, Sanktionen, S. 122. 21 So die Feststellung von Böse, Sanktionen, S. 49 ff.; vgl. etwa im Primärrecht Art. 229 EGV, wo sich in den meisten anderen Vertragsfassungen (in der englischen: penalties; in der französischen: sanctions; in der spanischen: sanciones; in der italienischen: sanzioni) anstelle des Begriffs der „Zwangsmaßnahmen“ der Begriff der Sanktion findet, und Art. 66 § 7 EGKS sowie im Sekundärrecht die Erwägungen zur Verordnung 2988 / 95 über den Schutz der finanziellen Interessen der Europäischen Gemeinschaften ABl. EG 1995 Nr. L 312 / 1. 22 Ausführlich dargestellt sind die einzelnen Sanktionen bei Heitzer, Sanktionen, S. 18 ff. 23 Angesprochen sind damit namentlich das Gesetzlichkeitsprinzip, das Rückwirkungsverbot, der Grundsatz „nulla poena sine lege“ oder das Analogieverbot, vgl. Jokisch S. 67 f. mit zahlreichen Nachweisen aus der Rechtsprechung des EuGH und Böse, Sanktionen, S. 149 ff.; Dannecker in: Immenga / Mestmäcker, EG-Wettbewerbsrecht, VO 17 Vorbem. Art. 15 Rn. 26 – 42. 24 Jokisch S. 68 ff.; Böse, Sanktionen, S. 137 ff.; vgl. auch aus dem Primärrecht Art. 58 § 4 EGKS, Art. 59 § 7 EGKS, Art. 64 EGKS, Art. 65 § 5 EGKS und Art. 66 § 7 EGKS sowie aus dem Sekundärrecht Art. 15 Abs. 2 lit. a VO Nr. 17 / 62 zur Durchführung der Art. 85 und 86 EGV (ABl. EG 1962 13 / 204) oder Art. 14 VO Nr. 4064 / 89 über die Kontrolle von Unternehmenszusammenschlüssen (ABl. EG 1989 Nr. L 395 / 1), der auch Geldbußen gegen natür-
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E. Der Grundsatz des ne bis in idem im europäischen Strafrecht
verhängt werden, geht sie tendenziell von einem extensiven Täterbegriff aus und unterscheidet in der Sache zwischen prozessualer Tat im Sinne des insgesamt zu beurteilenden Lebenssachverhalts und materieller Tat im Rahmen der rechtlichen Würdigung25. Soweit sie für mehrere Zuwiderhandlungen (nur) eine Geldbuße festsetzt, wird jeder Verstoß für sich genommen bewertet, ohne daß die Kommission indessen die Anteile der Zuwiderhandlungen an der Gesamtgeldbuße aufschlüsselt26. Bei Dauerdelikten oder in Fällen von Fortsetzungszusammenhang wird ebenfalls nur eine Geldbuße wegen einer Handlung verhängt27. In der Regel werden gemeinschaftsrechtliche Sanktionen jedoch von nationalen Behörden verhängt28. Die meisten Sanktionen finden sich hier aufgrund der besonderen Regelungsdichte und der hohen Schäden im Agrarbereich29. Ausdrückliche Regelungen zur Behandlung von mehreren Verstößen, Dauerverstößen oder fortgesetzten Taten sind im geschriebenen Gemeinschaftsrecht allerdings grundsätzlich nicht normiert30. Der Vollzug des Gemeinschaftsrechts durch nationale Behörden führt daher zur ergänzenden Anwendung des nationalen formellen und materiellen Rechts31. Verbotene Verhaltensweisen sind auf dem Gebiet des Wettbewerbs– und Kartellrechts namentlich den freien Markt behindernde Absprachen sowie auf dem Agrarliche Personen vorsieht; ausführlich zur Art und Weise des Vollzugs des gemeinschaftsrechtlichen Wettbewerbsrechts und aktuellen Problemen siehe Pühs, Vollzug von Gemeinschaftsrecht, S. 334 – 370; zu Entwicklung, Rechtsgrundlagen und Ziele von OLAF siehe Spitzer / Kuhl AGON 25 (1999), 21 (23 ff.); für die Jahre 1980 – 1984 geben Dannecker / FischerFritsch, EG-Kartellrecht in der Bußgeldpraxis, S. 133 – 250 einen Überblick über alle förmlich entschiedenen Kartellrechtsfälle mit und ohne Verhängung einer Geldbuße. 25 Siehe die Entscheidungen der Kommission „Gußglas Italien“ ABl. EG 1980 Nr. L 383 / 19 (24 f.), wo im konkreten Fall jedoch auf die Verhängung einer Geldbuße verzichtet wurde, oder „BMW Belgium“ ABl. EG 1978 Nr. L 46 / 33 (42); für einen restriktiven Täterbegriff sind demgegenüber große Teile der Literatur siehe stellvertretend Böse, Sanktionen, S. 194 f. m.w.N.; Tiedemann, FS f. Jescheck, S. 1411 (1420, 1424). 26 Böse, Sanktionen, S. 229; Kindhäuser in: Glassen, Frankfurter Kommentar, VO 17 / 62 Art. 15 Rn. 70 und Art. 14 FKVO Rn. 33. 27 Siehe beispielhaft die Entscheidung der EG-Kommission ABl. EG 1978 Nr. L 46 / 33 (42) (BMW Belgium); diese Figur ablehnend Kindhäuser in: Glassen, Frankfurter Kommentar, VO 17 / 62 Art. 15 Rn. 70, der bei dem Hinweis auf die Aufgabe dieser Figur in der deutschen Rechtsprechung übersieht, daß diese in den anderen Ländern der Gemeinschaft gleichwohl noch praktiziert wird, vgl. oben B. 28 Böse, Sanktionen, S. 253; sog. „indirekter Vollzug“ des Gemeinschaftsrechts, vgl. Pache, Schutz finanzieller Interessen, S. 76 ff., der mit Recht darauf hinweist, daß die Verträge in ihrer Grundstruktur auf diese Art des Gemeinschaftsrechtsvollzugs angelegt sind, und der in diesem Punkt auch eine wichtige Ursache für die Unregelmäßigkeiten beim Vollzug des Gemeinschaftshaushalts sieht (S. 66). 29 Böse, Sanktionen, S. 254. 30 Durch ungeschriebene gemeinschaftsrechtliche Grundsätze kann das nationale Recht nach der Rechtsprechung des EuGH grundsätzlich nicht verdrängt werden, näher dazu Böse, Sanktionen, S. 398 ff. 31 Böse, Sanktionen, S. 340 u. 397.
II. Hintergrund der Problematik
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sektor insbesondere falsche Angaben zur Erlangung von Subventionen und Beihilfen sowie Karussell–, Schein–, Umgehungs– und fiktive Handelsgeschäfte32. Wegweisend für deren Behandlung ist namentlich die Verordnung 2988 / 95, die einen ersten Versuch darstellt, einen „Allgemeinen Teil“ des supranationalen Sanktionenrechts zu etablieren. Sie sieht zum Schutz der finanziellen Interessen der Gemeinschaften als tatbestandsmäßiges Verhalten jeden Verstoß gegen eine Gemeinschaftsbestimmung als Folge eines Handelns oder Unterlassens eines Wirtschaftsteilnehmers, das einen Schaden für den Gesamthaushaltsplan der Gemeinschaften bewirkt hat33. Die Rechtsfolgen unterscheiden sich – je nach dem, ob den Betroffenen Vorsatz bzw. Fahrlässigkeit vorgeworfen werden kann oder nicht – nach Maßnahmen und Sanktionen. Die Maßnahmen gem. Art. 4 VO 2988 / 95 bestehen in der Rückzahlung des rechtswidrig erhaltenen Geldbetrags bzw. in dem Verlust einer entsprechenden Sicherheit. Mit verwaltungsrechtlichen Sanktionen gem. Art. 5 VO 2988 / 95 können den Betroffenen weitergehende wirtschaftliche Nachteile zugefügt werden. Neben den Maßnahmen im Bereich der ersten Säule der Union werden die finanziellen Interessen der Gemeinschaft auch durch den dritten Pfeiler der Union und die Zusammenarbeit mit den Mitgliedstaaten geschützt34. So wird von den jeweiligen nationalen Strafrechten die Verkürzung von Einnahmen über das Zollund Steuerstrafrecht pönalisiert und das Erschleichen von Subventionen wird von den allgemeinen Betrugs- und speziellen Subventionstatbeständen erfaßt35. Daneben greifen je nach den Umständen des Falles Urkundendelikte – wobei erhebliche Unterschiede vor allem bei der Strafbarkeit der schriftlichen Lüge bestehen – und Bestechungstatbestände ein. Zusammenfassend wurde bei einem Vergleich des Schutzniveaus nationaler und supranationaler Interessen für den Bereich der Verkürzung von Einnahmen und bzw. der Erschleichung von Subventionen teilweise bereits festgestellt, daß speziell durch das Übereinkommen zum Schutz der finanziellen Interessen der Europäischen Union in bestimmten Punkten Gemeinschaftsinteressen stärker geschützt würden als nationale Rechtsgüter36. Strafbarkeitslükken in den nationalen Strafrechten bestehen demgegenüber insbesondere in der 32 Einen Überblick über die Arten der Unregelmäßigkeiten in diesem Bereich gibt Dannecker ZStW 108 (1996), 577 (580 ff.); weitere Beispielsfälle aus der Praxis beschreibt Lührs wistra 1999, 89 (95 ff.). 33 So Art. 1 Abs. 2 VO 2988 / 95 über den Schutz der finanziellen Interessen der Gemeinschaften, der allerdings nicht unmittelbar anwendbar ist und rein deklaratorisch umschreibt, wann der Gemeinschaftsgesetzgeber entsprechende Sanktionen normieren soll, vgl. Heitzer, Sanktionen, S. 124, die zu recht auf den ansonsten verletzten Bestimmtheitsgrundsatz hinweist. 34 Zum Hintergrund dieser Aufteilung Heitzer, Sanktionen, S. 121 f. 35 Nähere Einzelheiten zu den unterschiedlichen Betrugsmodellen und zu den Differenzen insbesondere bei den Anforderungen im subjektiven Bereich und bei der Schwere der angedrohten Rechtsfolgen finden sich bei Dannecker ZStW 108 (1996), 577 (583 ff.). 36 Dannecker ZStW 108 (1996), 577 (599, 602); weniger deutlich ders. JZ 1996, 869 (876 ff.).
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E. Der Grundsatz des ne bis in idem im europäischen Strafrecht
„Grauzone“ fiktiver Handelsgeschäfte, Schein- und Umgehungsgeschäfte. Sie werden in den nationalen Rechtsordnungen nicht oder nur unzulänglich strafrechtlich erfaßt, sind neuerdings jedoch Gegenstand von Verordnung 2988 / 9537 bzw. der Verordnung 2419 / 2001 und werden dort mit punitiven Sanktionen belegt. Pühs resümiert das Zusammenspiel der verschiedenen Ebenen als „Stufenbau des gemeinschaftlichen Sanktionensystems“ und rückt damit ebenfalls die Notwendigkeit einer umfassenden Gesamtbetrachtung der sich überlagernden und ergänzenden Systeme in den Vordergrund38.
III. Entwicklungsstand des supranational wirkenden Grundsatzes des ne bis in idem im gegenwärtigen europäischen Strafrecht 1. Entwicklung in der Rechtsprechung und Gesetzgebung der Gemeinschaften – insbesondere auf dem Gebiet des Wettbewerbsrechts Ausdrücklich normiert ist der Grundsatz des ne bis in idem im Recht der Europäischen Union bzw. der Europäischen Gemeinschaften bisher nicht. Vielmehr wird grundsätzlich von einer Eigenständigkeit des gemeinschaftsrechtlichen gegenüber dem nationalen Sanktionenrecht ausgegangen39. Jedoch wurde die Problematik paralleler Verfahren – wenn auch noch nicht explizit unter dem Stichwort des Prinzips des ne bis in idem – primärrechtlich bereits in Art. 90 EGKS einer ansatzweisen Regelung zugeführt40. Stellt danach eine von einem Unternehmen begangene Verletzung einer Pflicht aus dem EGKS zugleich eine Verletzung nationalen Rechts dar und wurde deshalb gegen das Unternehmen ein Gerichts- oder Verwaltungsverfahren eingeleitet, so muß die Kommission hiervon benachrichtigt werden. Die Kommission kann dann ihre Beschlußfassung aussetzen und ist über den weiteren Verlauf des nationalen Verfahrens und der endgültigen Entscheidung zu unterrichten, die sie bei der etwaigen Festsetzung einer Sanktion dann berücksichtigen muß41. In der Rechtsprechung des EuGH wurde die vertikale Wirkrichtung des Grundsatzes des ne bis in idem zunächst im Fall Wilhelm / Bundeskartellamt themati37 Dannecker ZStW 108 (1996), 577 (582 f., 607); anders Heitzer, Sanktionen. S. 126, die die in Art. 4 Abs. 3 VO 2988 / 95 enthaltene Klausel als vom Tatbestand der Unregelmäßigkeit nicht erfaßt ansieht. 38 Pühs, Vollzug von Gemeinschaftsrecht, S. 270 ff. 39 Vgl. etwa die Stellungnahme von Generalanwalt Mayras im Fall Boehringer II EuGH Slg. 1972, 1281 (1303); ebenso Dannecker in: Immenga / Mestmäcker, EG-Wettbewerbsrecht, VO 17 / 62 Vorbem. Art. 15 Rn. 119. 40 Pralus Rev. Sc. Crim. 1996, 551 (556) sieht in Art. 90 EGKS trotz dieses Anrechnungsgebots die grds. Erlaubnis einer Doppelbestrafung. 41 Böse, Sanktionen, S. 177 f. merkt dazu an, daß der Wortlaut insoweit nicht auf eine strikte Anrechnung, sondern auf eine flexible Berücksichtigung hindeutet.
III. Entwicklungsstand des Grundsatzes ne bis in idem im europäischen Strafrecht 201
siert42: Dort wurden gegen die Firmen Bayer, Casella, Hoechst und BASF vom deutschen Bundeskartellamt wegen einer unerlaubten Vereinbarung einer Preiserhöhung für Anilin in Höhe von 8% Geldbußen festgesetzt. Bereits zuvor war jedoch von der Europäischen Kommission ein Kartellverfahren eingeleitet worden, das ebenfalls zur Festsetzung einer Geldbuße führen konnte. Der EuGH entschied hierzu, die Gefahr einer Doppelsanktion stehe der Zulässigkeit zweier Parallelverfahren nicht entgegen, wenn beide Verfahren unterschiedlichen Zielen dienten. Die Zulässigkeit einer solchen Verfahrenshäufung folge aus der Zuständigkeitsverteilung zwischen der Gemeinschaft und den Mitgliedstaaten auf dem Gebiet des Kartellrechts. Art. 81 EGV43 schütze den Handel zwischen den Mitgliedstaaten, während „die nationalen Kartellrechte von ihren Erwägungen“ ausgingen. Allerdings gebiete ein allgemeiner Billigkeitsgedanke, die frühere Sanktion bei der Bemessung der späteren Sanktion mit zu berücksichtigen44. Der EuGH hat damit im Wesentlichen die Argumentation von Generalanwalt Roemer übernommen, wonach ein vollständiger Strafklageverbrauch nur eintritt, wenn die zuerst tätig gewordene Behörde rechtlich nicht gehindert war, die Tat unter den besonderen Gesichtspunkten der verletzten Norm zu würdigen45. Mit demselben Sachverhalt hatte sich danach der BGH in der sog. „Teerfarbenentscheidung“46 auseinanderzusetzen. Der BGH stellte zunächst fest, die Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs hindere die deutschen Gerichte nicht, in dieser Sache zu entscheiden, da die Einschränkungen, die der EuGH in diesem Punkt gemacht habe, nicht eingreifen würden. Gleichwohl könne einem nationalen Verfahren noch ein Verfahrenshindernis nach dem innerstaatlichen Recht entgegen stehen. Von dieser Prämisse ausgehend verneint der BGH dann eine Verletzung von Art. 103 Abs. 3 GG. Zwar würden das Verfahrenshindernis der Rechtskraft und der Rechtshängigkeit auch im Ordnungswidrigkeitenrecht gelten und der EuGH könne aufgrund der Supranationalität der Gemeinschaften und der vielfältigen Verschränkung von nationalen und gemeinschaftlichen Behörden und Gerichtsbarkeit auch nicht als ausländisches Gericht, für das Art. 103 Abs. 3 GG grundsätzlich nicht 42 EuGH Rs. 14 / 68, Slg. 1969, 1 (15); ausführlich zu dieser Entscheidung und ihren Folgen in der Praxis der Kartellbehörden und in der Wissenschaft C. Jung, Subsidiarität im Recht der Wettbewerbsbeschränkungen, S. 104 – 130. 43 In der damaligen Entscheidung Art. 85 EGV, aus Gründen der Übersichtlichkeit wird hier jedoch die Numerierung des EGV nach der Fassung des Amsterdamer Vertrages zugrunde gelegt. 44 Pralus Rev. sc. crim. 1996, 551 (558) weist darauf hin, daß der EuGH damit zur Schließung einer Regelungslücke in der VO 17 / 62 stillschweigend auf die Regelung in Art. 90 Abs. 2 EGKS zurückgegriffen hat. Ohne die genauen Kriterien zu erarbeiten, die eine entsprechende Abstufung legitimieren würden, bewertet er das Vorgehen des EuGH, wenn auch nicht als vollständige Anwendung des Grundsatz des ne bis in idem, so doch zumindest als Anwendung einer abgeschwächten Form desselben („une sorte de diminutif de celle-ci“). 45 EuGH Rs. 14 / 68, Slg. 1969, 1 (25). 46 BGHSt 24, 54 (56 ff.).
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E. Der Grundsatz des ne bis in idem im europäischen Strafrecht
gelte, angesehen werden47. Gleichwohl könne das Verbot der Doppelverfolgung nach nationalem Recht hier nicht greifen. Beide Bußgeldverfahren würden unter ganz verschiedenen rechtlichen Gesichtpunkten geführt. Zwar überschnitten sich die den nationalen und gemeinschaftsrechtlichen Bußgeldbestimmungen zugrunde liegenden Tatbestände, jedoch bestünde zwischen ihnen kein Widerspruch, sondern vielmehr Übereinstimmung. Konkurrenzrechtlich liege aufgrund der unterschiedlichen Schutzzwecke (Art. 81 EGV schütze den zwischenstaatlichen Handel, während § 1 GWB den innerdeutschen Markt betreffe) kein Fall der Spezialität, Subsidiarität oder Konsumtion, sondern einer der Idealkonkurrenz vor48. Da Art. 103 Abs. 3 GG – und im übrigen auch § 15 OWiG – zur selbstverständlichen Voraussetzung hätten, daß das Gericht die idealkonkurrierenden Vorschriften entweder selbst anwenden könne oder die Sache an ein Gericht verweisen könne, das für die Anwendung beider Vorschriften zuständig wäre, könne Art. 103 Abs. 3 GG hier nicht zur Anwendung kommen49. Der Grundsatz der Rechtsstaatlichkeit und die darin enthaltene Idee der Gerechtigkeit gebiete es aber, die früher auferlegte, in ihrer Wirkung auf den Betroffenen gleichgerichtete Sanktion bei der später zu verhängenden Sanktion zu berücksichtigen50. Die gemeinschaftsrechtliche Rechtsprechung bestätigt und präzisiert der Gerichtshof später in der Sache Procureur de la République / Giry und Guerlain51: Die Kommission hatte hier ein Verfahren nach Art. 81 EGV gegen mehrere französische Parfumhändler wegen des Vertriebs ihrer Produkte über selektive Vertriebssysteme angesichts der geringen Marktanteile der einzelnen Gesellschaften eingestellt. Gleichwohl wurden gegen die Leiter der Gesellschaften in Frankreich Strafverfahren wegen eines Verstoßes gegen Art. 37 Abs. 1 lit. a der französischen Preisverordnung Nr. 45 – 1483 vom 30. Juni 1945 eingeleitet, wonach eine strafbare Handlung begeht, wer sich weigert, im Rahmen seiner Möglichkeiten bestimmte Bestellungen auszuführen52. Der EuGH stellte dabei zunächst fest, daß Schreiben, in denen die Kommission den Beteiligten die Einstellung des Verfahrens mitteilt, die nationalen Gerichte nicht daran hinderten, aufgrund der ihnen vorliegenden Tatsachen eine andere Beurteilung dieser Vereinbarungen vorzunehmen. Derartige Schreiben hätten keine Bindungswirkung und stellten nur einen tatsächlichen Umstand dar, den diese Gerichte bei ihrer Prüfung der Frage, ob bestimmte Vereinbarungen mit Art. 81 EGV vereinbar seien, zu berücksichtigen hätBGHSt 24, 54 (58). BGHSt 24, 54 (59 f.). 49 BGHSt 24, 54 (60). 50 BGHSt 24, 54 (61). 51 EuGH Rs. 253 / 78 und 1 bis 3 / 79, Slg. 1980, 2327 (2374 f.); dazu auch Wolf EuZW 1994, 233 (234). 52 Zum historischen Hintergrund der französischen Wirtschaftsstrafverordnungen Nr. 45 – 1483 und Nr. 45 – 1484 und deren Intention die Sanktionskompetenzen der Verwaltung durch eine Rückübertragung wesentlicher Kompetenzen auf die Staatsanwaltschaft zu beschneiden siehe Tiedemann GA 1969, 321 (323 f.). 47 48
III. Entwicklungsstand des Grundsatzes ne bis in idem im europäischen Strafrecht 203
ten. Zur Frage der Anwendung des innerstaatlichen Wettbewerbsrechts verweist der EuGH auf die Entscheidung Wilhelm / Bundeskartellamt, wonach die nationalen Stellen befugt seien, gegen Sachverhalte vorzugehen, die Gegenstand einer Entscheidung der Kommission sein können. Er betont dabei, daß die Anwendung des nationalen Wettbewerbsrechts nur statthaft sei, soweit sie die Anwendung und die volle Wirksamkeit des Gemeinschaftskartellrechts nicht beeinträchtige. Auch die Kommission53 berücksichtigt in ihrer Praxis vorausgegangene Bußgeldentscheidungen nationaler Behörden und bemerkt stereotyp, bei der Ermittlung der Höhe der festzusetzenden Geldbußen habe sie die von den nationalen Behörden bereits verhängten Bußen mit einbezogen. Die bereits verhängten Sanktionen werden dabei neben Betrachtungen zur wirtschaftlichen Lage der betroffenen Unternehmen, der Dauer oder Schwere des Verstoßes oder der Genehmigung einzelner wettbewerbsbeschränkender Maßnahmen seitens der nationalen Behörden als ein Umstand der Strafzumessung aufgeführt. Der genaue summenmäßige oder prozentuale Abschlag, den die vorausgegangene Bußgeldentscheidung bedingt, wird in den Entscheidungen der Kommission dagegen nicht festgesetzt. Die normative Grundlage dieser Praxis bilden bereichsspezifische Verordnungen wie etwa im Wettbewerbsrecht die sog. Kartellverordnung 17 / 6254 bzw. die Verordnung 1 / 2003 als deren Nachfolgeregelung55 oder aus jüngerer Zeit die Fusionskontrollverordnung 4064 / 8956. Neuerdings wurde die Problematik des Doppelbestrafungsverbots für von nationalen Behörden verhängte und im Gemeinschaftsrecht wurzelnde Sanktionen ansatzweise auch in der Verordnung 2988 / 95 geregelt57. Für die hier diskutierte Problematik des ne bis in idem beschränkt Art. 6 Abs. 5 VO 2988 / 95 den Anwendungsbereich der Verordnung jedoch erheblich, da Art. 6 Abs. 1 – 4 VO 2988 / 95 nicht für finanzielle Sanktionen gelten soll, die Bestandteil von Unterstützungssystemen sind und die unabhängig von etwaigen strafrechtlichen Sanktionen angewendet werden können, wenn und soweit sie diesen nicht gleichgestellt werden 53 Siehe beispielhaft die Entscheidungen der Kommission „Betonstahlmatten“ ABl. EG 1989 Nr. L 260 / 1 (41 f.) sowie „Gußeisen- und Gußstahlwalzen“ ABl. EG 1983 Nr. L 317 / 1 (15). 54 Verordnung vom 6. Februar 1962, ABl. EG 1962 S. 204 (204 ff.). 55 Ein Überblick zu den Änderungen und aus strafrechtlicher Sicht teilweise sehr problematischen Konsequenzen siehe Hossenfelder / Lutz WuW 2003, 118 (118 ff.). 56 Verordnung vom 21. Dezember 1989, ABl. EG 1989 Nr. L 395 / 1 (1 ff.); speziell für die Fusionskontrollverordnung ist allerdings anzumerken, daß die Kommission von der Möglichkeit, in diesem Bereich Sanktionen zu verhängen, nur äußerst zurückhaltend Gebrauch macht, siehe Löffler, Kommentar zur Europäischen Fusionskontrollverordnung, S. 241 f. 57 Vgl. etwa die der VO 2988 / 95 voranstehenden Erwägungen (ABl. EG 1995 Nr. L 312 / 1), wonach gemäß dem Erfordernis der Billigkeit und dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz sowie unter Berücksichtigung des Grundsatzes des ne bis in idem unter Wahrung des gemeinschaftlichen Besitzstandes geeignete Bestimmungen geschaffen werden sollten, um eine Kumulierung finanzieller Sanktionen der Gemeinschaft und einzelstaatlicher strafrechtlicher Sanktionen bei ein und derselben Person für dieselbe Tat zu verhindern.
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E. Der Grundsatz des ne bis in idem im europäischen Strafrecht
können58. Nach Art. 6 Abs. 1 VO 2988 / 95 steht es im Ermessen der zuständigen Behörde, ein Bußgeldverfahren auszusetzen, wenn gegen einen Betroffenen ein Strafverfahren eingeleitet worden ist, das dieselbe Tat betrifft. Nach Abschluß des Strafverfahrens kann das Verwaltungsverfahren gem. Art. 6 Abs. 3 VO 2988 / 95 unter dem Vorbehalt „entgegenstehender allgemeiner Rechtsgrundsätze“ wieder aufgenommen werden; wird das Strafverfahren nicht fortgesetzt, so muß das Verwaltungsverfahren gem. Art. 6 Abs. 2 VO 2988 / 95 wieder aufgenommen werden. Bei einer Wiederaufnahme des Verfahrens soll die Verwaltungsbehörde gem. Art. 6 Abs. 4 VO 2988 / 95 dafür sorgen, daß unter Berücksichtigung jeglicher von Seiten der Justizbehörden verhängter Sanktionen insgesamt eine Sanktion verhängt wird, die der im Gemeinschaftsrecht vorgesehenen Sanktion mindestens gleichwertig ist. 2. Entwicklung in der Literatur von generellen Kollisionsüberlegungen hin zu umfassenden Lösungsversuchen Die Stellungnahmen zum Problem mehrfacher Strafverfolgung in der Literatur divergieren sehr stark und bezeugen damit eine erhebliche Rechtsunsicherheit, die letztlich wohl auch in den – nach deutschem Verständnis – sehr kurzen und geradezu skizzenhaften Begründungen der Urteile des Gerichtshofs bzw. der Entscheidungen der Kommission sowie in dem in den entscheidenden organisatorischen Fragen anzuerkennenden erheblichen politischen Gestaltungsspielraum begründet sein mögen. Den Anknüpfungspunkt bildete zunächst aufgrund seiner überragenden wirtschaftlichen Bedeutung vor allem das Wettbewerbs- und Kartellrecht. Erst in den letzten Jahren wurde versucht, umfassende Konzeptionen zu erstellen. Dabei stand selbst im Bereich des zum 1. Januar 1958 inkraftgetretenen europäischen Wettbewerbsrechts anfangs nicht die Problematik der Doppelbestrafung bzw. -verfolgung einzelner Verstöße, sondern das grundsätzliche Verhältnis nationalen und gemeinschaftsrechtlichen Wettbewerbsrechts im Vordergrund59: Hierzu entwickelte sich zunächst unabhängig vom allgemeinen Problem des Rangverhältnisses von Gemeinschaftsrecht und nationalem Recht die Auffassung, daß im Recht der Wettbewerbsbeschränkungen ein Kollisionsproblem nicht entstehe60. Dies entsprach der Auffassung des EuGH, wonach es die Aufgabe des Tatbestandsmerkmals der „Beeinträchtigung des zwischenstaatlichen Handels“ in 58 Böse, Sanktionen, S. 385 und Heitzer, Sanktionen, S. 172 weisen darauf hin, daß dies für die meisten der gemeinschaftlichen Sanktionen gelten dürfte. 59 Zu den großen Theorieströmungen jener Zeit und der Rezeption der EuGH-Entscheidung Wilhelm / Bundeskartellamt siehe zusammenfassend C. Jung, Subsidiarität im Recht der Wettbewerbsbeschränkungen, S. 87 ff.; zudem muß in Rechnung gestellt werden, daß der EuGH in seiner Rechtsprechung bis zum Ende der 1960er Jahre die Bedeutung der Grundrechte ohnehin nicht klar erkannt hatte, siehe zur Entwicklung des Grundrechtsschutzes in der EG / EU allgemein Walter in: Ehlers, Europäische Grundrechte, § 1 Rn. 19 ff. 60 Siehe den Überblick bei Mestmäcker in: Mestmäcker (Hrsg.), Wettbewerb als Aufgabe, S. 569 (569 ff.).
III. Entwicklungsstand des Grundsatzes ne bis in idem im europäischen Strafrecht 205
Art. 81 ff. EGV sei, die Anwendungsbereiche des nationalen und des europäischen Rechts gegeneinander abzugrenzen61. Die aus unvermeidbaren Überschneidungen folgenden Probleme wurden – in den Mitgliedstaaten weitgehend übereinstimmend62 – mit Hilfe der sog. „Zweischrankentheorie“ gelöst63. Demnach sollte zwischen den europäischen und nationalen Normen Idealkonkurrenz bestehen, so daß sich das jeweils strengere Recht durchsetzte. Auch im heutigen Schrifttum ist die dogmatische Einordnung der Zwischenstaatlichkeitsklausel umstritten und reicht von einem Verständnis als Kollisionsnorm bis zu dem einer Sachnorm oder gar einer Kompetenznorm bzw. einer Verbindung dieser Funktionen64. In der Praxis der Gemeinschaftsorgane wird diese Klausel indessen als Sachnorm verstanden und zur Begrenzung des Anwendungsbereichs herangezogen65. Da der EuGH jedoch darauf abstellt, ob eine Maßnahme für die Verwirklichung der Ziele des einheitlichen zwischenstaatlichen Marktes mittelbar oder unmittelbar nachteilig sein kann, führt diese extensive Auslegung zu einer nahezu grenzenlosen Ausuferung des Anwendungsbereichs des Gemeinschaftsrechts66. Nicht zuletzt aufgrund der – auch aus dieser extensiven Interpretation der Zwischenstaatlichkeitsklausel der Art. 81, 82 EGV folgenden – Überbelastung der Kommission und unter dem Eindruck des Subsidiaritätsprinzips in Art. 3b EGV (Mastrichter Fassung bzw. Art. 5 EGV Amsterdamer Fassung) kam dann eine Diskussion in Gang, die wieder eine Stärkung der nationalen Gerichte und Behörden im Kartellverfahren fordert67. Neuere Ansätze in der Literatur betonen daher den Versuch, den Konflikt zwischen europäischem und deutschem Wettbewerbsrecht – auch zur Steigerung der Effizienz des europäischen Kartellrechts – durch verfahrensrechtliche Maßnahmen aufzulösen. Die unterbreiteten Vorschläge reichen hier verfahrensrechtlich von einer Aufweichung des Freistellungsmonopols der Gemeinschaften und einer verstärkten Anwendung des europäischen Rechts durch nationale Behörden über materielle Forderungen nach einer verstärkten Harmonisierung der nationalen Kartellgesetze. Parallel gehen auch die europäische Rechtsprechung und die Kommission prozessual dazu über, kartellrechtliche Beschwerden aufgrund eines mangelnden 61 EuGH Consten u. Grundig / Kommission Rs. 56 und 58 / 64 Slg. 1966, 321 (389); EuGH Société Technique Minière / Maschinenbau Ulm Rs. 56 / 65 Slg. 1966, 281 (303); EuGH Brasserie de Haecht / Wilkin und Janssen Rs. 23 / 67 Slg. 1967, 544 (556). 62 In Italien wurde auch die Einschrankentheorie stark vertreten, siehe zusammenfassend C. Jung, Subsidiarität im Recht der Wettbewerbsbeschränkungen, S. 96 ff. 63 Mestmäcker in: Mestmäcker (Hrsg.), Wettbewerb als Aufgabe, S. 569 (574 f.) mit zahlreichen Hinweisen aus dem internationalen Schrifttum. 64 Vgl. den Überblick über das Schrifttum bei Roth / Ackermann in: Glassen, Frankfurter Kommentar, Art. 81 EGV Grundfragen Rn. 301. 65 Roth / Ackermann in: Glassen, Frankfurter Kommentar, Art. 81 EGV Grundfragen Rn. 301. 66 Stockenhuber in: Grabitz / Hilf, Das Recht der Europäischen Union – Kommentar, Art. 81 EGV Rn. 206 f. 67 Einen Überblick hierüber gibt Pernice in: Grabitz / Hilf, Das Recht der Europäischen Union – Kommentar, 11. Lieferung 1997, nach Art. 87 EGV (Maastrichter Fassung) Rn. 8a.
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E. Der Grundsatz des ne bis in idem im europäischen Strafrecht
Gemeinschaftsinteresses zurückzuweisen bzw. verstärkt mit den nationalen Wettbewerbsbehörden zu kooperieren68. Infolge der Rechtsprechung des EuGH in den Fällen „Walt Wilhelm“ sowie „Giry und Guerlain“ kann jedoch auch heute noch im materiellen Recht die sog. modifizierte Zweischrankentheorie als herrschend betrachtet werden. Danach besteht selbst bei der parallelen Anwendbarkeit der nationalen und gemeinschaftsrechtlichen Normen insofern ein Vorrang des Gemeinschaftsrechts, als die nationalen Rechtsfolgen das EG-Recht nicht konterkarieren dürfen69. Im Ergebnis liegt dies auf der Ende der 60er Jahre von Mestmäcker entwickelten Lösung der Problematik der „parallelen Geltung von Verbotsnormen des deutschen und des europäischen Rechts der Wettbewerbsbeschränkungen“70. Mestmäcker beschäftigt sich zunächst mit dem grundsätzlichen Verhältnis von nationalem und europäischem Recht und verwirft die der Zweischrankentheorie als Legitimationsgrundlage dienende Behauptung, nationales und europäisches Kartellrecht hätten unterschiedliche Schutzbereiche71. Statt dessen zeigt er, wie der EG-Vertrag, namentlich Art. 83 Abs. 2 lit. e EGV (Amsterdamer Fassung), selbst von einer parallelen Geltung der Rechte ausgeht, solange und soweit die parallele Geltung mit der gleichmäßigen Anwendung des Gemeinschaftsrechts vereinbar ist. Erst im Konfliktfall greife der sog. Vorrang des Gemeinschaftsrechts72. Ein solcher Konflikt entstehe noch nicht aus der parallelen Geltung von Verbotsnormen. Auch parallele Verwaltungsverfahren würden den Vorrang des Gemeinschaftsrechts nur auslösen, soweit die Unternehmen ein von der EG-Kommission ge- oder verbotenes Verhalten nicht an den Tag legen könnten, ohne sich mit einer nationalen Verfügung in Widerspruch zu setzen. Ob daneben auch parallele Bußgeldverfahren zulässig sein sollen, macht Mestmäcker davon abhängig, inwieweit im nationalen Recht der Mitgliedstaaten ausländischen Entscheidungen eine strafklageverbrauchende Wirkung zukommt. Er legt dem Gemeinschaftsrecht damit den höchsten Stand des Rechtsschutzes in den Mitgliedstaaten – wie die rechtsvergleichenden Betrachtungen gezeigt haben, also die grundsätzliche Anerkennung ausländischer Verurteilungen im niederländischen 68 Automec II Entscheidung EuG Rs. T-24 / 90 Slg. 1992 II, 2223 (2277); Pernice in: Grabitz / Hilf, Das Recht der Europäischen Union – Kommentar, 11. Lieferung 1997, nach Art. 87 EGV (Maastrichter Fassung) Rn. 8a, 13a; Beispiele für abgestimmtes Verhalten von europäischen und nationalen Behörden gibt C. Jung, Subsidiarität im Recht der Wettbewerbsbeschränkungen, S. 11 – 25, 84 ff. 69 Aus dem jüngeren Schrifttum Wolf EuZW 1994, 233 (234) mit den Konsequenzen für die verschiedenen verfahrensbeendenden Entscheidungsformen im Kartellrecht wie etwa dem Negativattest, der schlichten Einstellung oder Nichteröffnung des Verfahrens, dem „comfort letter“ sowie formellen Einzelfreistellungen und Unvereinbarkeitsentscheidungen; sowie kritisch zusammenfassend C. Jung, Subsidiarität im Recht der Wettbewerbsbeschränkungen, S. 121 – 140. 70 So der Titel des von Mestmäcker im Betriebsberater (BB) 1968, 1297 (1297 ff.) erschienenen Aufsatzes. 71 Mestmäcker BB 1968, 1297 (1298). 72 Mestmäcker BB 1968, 1297 (1299).
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Recht – zugrunde73. Der Vorrang des Gemeinschaftsrechts gebiete dann weiter, daß durch das Vorgehen der nationalen Behörden gemeinschaftsrechtliche Verfahren nicht ausgeschlossen werden dürften. Die Lösung dieses Konflikts liege daher nicht im materiellen Recht sondern auf verfahrensrechtlicher Ebene. Der Kommission müsse im konkreten Einzelfall Gelegenheit gegeben werden, sich über die Einleitung eines gemeinschaftsrechtlichen Verfahrens schlüssig zu werden. Grundlage für solch eine Lösung wäre de lege ferenda eine Verordnung nach Art. 83 Abs. 2 lit. e EWGV74 bzw. ein entsprechendes Verständnis der Verfahrensvorschriften in der VO 17 / 62 (bzw. neuerdings in deren Nachfolge der VO 1 / 2003) selbst. Lillich geht dann im Rahmen seiner Dissertation speziell über das „Doppelbestrafungsverbot bei Kartelldelikten im deutschen Recht und im Recht der Europäischen Gemeinschaft“75 zunächst von der Rechtslage nach dem deutschen und gemeinschaftsrechtlichen Kartellrecht aus. Nachdem er die Geltung des Prinzips des ne bis in idem als allgemeinem Rechtsgrundsatz im Gemeinschaftsrecht feststellt76, kommt er in der nachfolgenden Analyse der Rechtsprechung des EuGH zu der Auffassung, der EuGH verwende einen materiellen Tatbegriff und bestimme die Tat (vermutlich) nach einem finalen Handlungsbegriff77. Vor diesem Hintergrund nennt er die Identität der Handlung und der Rechtsgutsverletzung als Entscheidungskriterien bei der Kollision nationaler Kartellsanktionen mit EG-Geldbußen78. Die Identität der Handlung könne zur Bestimmung der Tatidentität jedoch nur dann herangezogen werden, wenn die jeweils zur Tatbestandsverwirklichung führenden „Verhaltensakte“79 konkret festgestellt und miteinander verglichen würden, was in den Entscheidungen des EuGH aufgrund seines nur skizzenhaften Begründungsstils und wegen der Besonderheiten der Materie unterblieben sei. Im nachfolgenden konzentriert sich seine Diskussion auf die Bestimmung der Rechtsgüter im Kartellstrafrecht und führt zu dem Ergebnis, den Kartellstrafrechten der EG und ihrer Mitgliedstaaten würden einheitliche Rechtsgüter zugrunde liegen80. Eine Identität unter allen rechtlichen Gesichtspunkten sei dabei nicht erforderlich, es genüge, wenn „die Rechtsgüter ihrem Wesen nach dieselben Schutzfunktionen in ihren Rechtsordnungen wahrnehmen würden“81. Die Frage, ob nur ein nationaler Markt oder der Mestmäcker BB 1968, 1297 (1304). Mestmäcker BB 1968, 1297 (1305). 75 Lillich, Das Doppelbestrafungsverbot bei Kartelldelikten im deutschen Recht und im Recht der europäischen Gemeinschaft, 1978. 76 Lillich S. 45 f. (und noch deutlicher S. 70). 77 Lillich S. 55. 78 Lillich S. 56 ff. 79 Lillich S. 56, eine nähere Präzisierung dieses Begriffes wird dort jedoch nicht vorgenommen. 80 Lillich S. 63 ff. 81 So wörtlich das Fazit der Überlegungen von Lillich zur Identität von Rechtsgutsverletzungen (S. 66), gemeint ist bezogen auf das von Lillich diskutierte Kartellrecht wohl, daß die geschützten Rechtsgüter ihrem Wesen nach dieselben Institutionen erfassen. 73 74
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E. Der Grundsatz des ne bis in idem im europäischen Strafrecht
zwischenstaatliche Handel beeinträchtigt würde, mache dabei keinen qualitativen Unterschied. Daraus folgt die Kritik an der Entscheidung des EuGH im Fall Walt Wilhelm, das nationale und das gemeinschaftsrechtliche Verfahren hätten nicht unterschiedlichen Zielen gedient und der EuGH hätte sich – wie später der deutsche BGH – mit dem Problem einer fehlenden Instanz zur umfassenden Aburteilung auseinandersetzen müssen. Zur Behebung der bestehenden Mißstände schlägt Lillich eine verfahrensrechtliche Lösung vor. Diese besteht alternativ darin, den Mitgliedstaaten die Befugnis zur Entscheidung nach Tatbeständen des Gemeinschaftsrechts bzw. der Gemeinschaft die Befugnis zur Beurteilung auch rein nationaler Wettbewerbstatbestände zu verleihen oder besser noch einen dreistufigen Instanzenzug einzuführen, in dem nach zwei nationalen Gerichten die dritte Instanz zur Entscheidung berufen ist, soweit die Verletzung von Gemeinschaftsrecht gerügt wird 82. Zu recht kritisch mit dem Beitrag von Lillich setzt sich insbesondere Raisch auseinander, der – jedenfalls bei nach deutschem Recht zu beurteilenden Sachverhalten – von der Begriffsbestimmung der Tatidentität nach dem nationalen – deutschen – Recht ausgehen will83. Maßgeblich sei, welche konkreten Handlungen im nationalen bzw. gemeinschaftsrechtlichen Sinn unter Strafe gestellt seien und hier seien sowohl die nationalen wie auch die gemeinschaftsrechtlichen Tatbestände hinreichend genau, um die wesentlichen Konturen der untersagten Handlungen sichtbar zu machen. Mit seiner schnellen Hinwendung zur Frage nach dem geschützten Rechtsgut habe sich Lillich der notwendigen dogmatischen Feinarbeit versagt, die auch unentbehrlich sei, wenn man im deutschen und europäischen Kartellrecht einen übereinstimmenden Rechtsgutsbegriff annehme84. Raisch gelangt auf der Grundlage der von ihm vorgeschlagenen handlungsorientierten Betrachtungsweise zu der Ansicht, daß die vom EuGH zur Feststellung der Tatidentität herangezogenen Kriterien der unterschiedlichen Zielsetzung einer Sanktion – dem Schutz des gemeinsamen Marktes oder des nationales Marktes bzw. das Abstellen auf den geographischen Schwerpunkt der Tat – grundsätzlichen Bedenken ausgesetzt sind und vornehmlich in größeren Sachverhaltszusammenhängen praktikabel seien85. Beim Zusammentreffen gemeinschaftsrechtlicher Bußgeldtatbestände mit deutschen Strafrechtsbestimmungen unterscheidet Raisch – möglicherweise aufgrund der unterschiedlichen normativen Grundlagen für die Auflösung von Konfliktfällen – die Fälle, daß zunächst die Behörden der Gemeinschaft ein Bußgeld verhängt haben und nachfolgend die nationalen Behörden ein Bußgeld verhängen wollen und umgekehrt. Im ersten Fall sei eine weitere Verfolgung nach deutschem Recht gemäß dem Grundsatz des ne bis in idem86 unzulässig, Lillich S. 71 ff. Raisch, FS f. Beitzke, S. 965 (969). 84 Raisch, FS f. Beitzke, S. 965 (970). 85 Raisch, FS f. Beitzke, S. 965 (973 f.). 86 Damit meint Raisch FS f. Beitzke, S. 965 wohl Art. 103 Abs. 3 GG, vgl. die Gleichsetzung auf S. 969. 82 83
III. Entwicklungsstand des Grundsatzes ne bis in idem im europäischen Strafrecht 209
zumindest müsse aber eine Anrechnung nach § 51 Abs. 3 deutsches StGB erfolgen; im umgekehrten Fall solle im Ergebnis nichts anderes gelten, methodisch ergebe sich dies dort aus Gründen der Gerechtigkeit und zur besseren Durchsetzung der gemeinschaftlichen wirtschaftlichen Ziele. Insgesamt könnte § 84 des deutschen OwiG für diese Fälle eine bedeutsame Argumentationshilfe sein87. Dannecker geht zunächst von einer grundsätzlichen Geltung des Prinzips des ne bis in idem als allgemeinem Rechtsgrundsatz aus88. Nach seiner Auffassung legt der EuGH – dem romanischen Rechtskreis entsprechend89 – der Bestimmung des Begriffs „der selben Tat“ ein normatives Tatverständnis zugrunde, bei dem zur Bestimmung der Tatidentität auf das jeweilige tatbestandlich vertypte Unrecht abgestellt wird. So sei es möglich, ein bereits abgeurteiltes Geschehen unter anderen rechtlichen Gesichtspunkten erneut strafrechtlich zu verfolgen. Praktisch relevant würde dies, wenn ein Verhalten zunächst als Verstoß gegen Art. 81 EGV (Amsterdamer Fassung) gewürdigt wurde und im Nachhinein bekannt würde, daß ein Mißbrauch einer marktbeherrschenden Stellung gem. Art. 82 EGV (Amsterdamer Fassung) vorgelegen hat. In diesem Fall solle nach dem Verständnis des EuGH eine erneute Verfolgung und Ahndung der Tat möglich sein90. Bei zunächst unbekannt gebliebenen Handlungen oder Auswirkungen eines Dauerverstoßes und erst nachträglich bekannt gewordenen Einzelakten im Falle fortgesetzten wettbewerbswidrigen Verhaltens soll die Rechtskraft einer vorangegangenen Bußgeldentscheidung verhindern, daß eine erneute Geldbuße seitens der Kommission festgesetzt wird91. Dies wird man aber im Zusammenhang mit den zuvor dargestellten Ausführungen zum normativen Tatbegriffsverständnis des EuGH einschränkend dahin verstehen müssen, daß dieses Verbot nur dann gilt, wenn sich durch die später bekannt werdenden Umstände die rechtliche Qualifikation der Tat nicht ändert. Wie dann aber der Belastung des Betroffenen durch das erste Verfahren und die dort verhängte Sanktion genau Rechnung getragen werden soll, läßt Dannecker offen. Soweit im Bereich des Kartellrechts neben der Kommission auch nationale Behörden zur Anwendung bestimmter Verbotsnormen zuständig sind, werde dem Grundsatz des ne bis in idem dadurch Rechnung getragen, daß nach Art. 9 Abs. 3 VO 17 / 62 (bzw. neuerdings Art. 11 Abs. 6 VO 1 / 2003) die Zuständigkeit der nationalen Behörden ausgeschlossen ist, sobald die Kommission ihrerseits ein Verfahren eingeleitet hat92. In Fällen, in denen eine nationale Kartellbehörde ein Verfahren nach Art. 85 Raisch, FS f. Beitzke, S. 965 (976). Dannecker in: Immenga / Mestmäcker, EG-Wettbewerbsrecht, VO 17 Vorbem. Art. 15 Rn. 110. 89 Angesichts der einführenden rechtsvergleichenden Betrachtungen erscheint diese Unterstellung jedoch besonders begründungsbedürftig. 90 Dannecker in: Immenga / Mestmäcker, EG-Wettbewerbsrecht, VO 17 Vorbem. Art. 15 Rn. 112, allerdings ohne konkrete Nachweise aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs oder der Entscheidungspraxis der Kommission anzuführen. 91 Dannecker in: Immenga / Mestmäcker, EG-Wettbewerbsrecht, VO 17 Vorbem. Art. 15 Rn. 115. 87 88
14 Mansdörfer
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E. Der Grundsatz des ne bis in idem im europäischen Strafrecht
oder 86 EGV (Maastrichter Fassung) rechtskräftig entschieden hat, dürfe andererseits die Kommission kein Bußgeldverfahren mehr durchführen, weil über diesen Sachverhalt bereits entschieden sei93. Daß die nationale Behörde keine Geldbuße verhängen konnte, soll unerheblich sein94. Im Verhältnis nationaler Gerichte zum Gerichtshof soll der Grundsatz des ne bis in idem Anwendung finden, da der Gerichtshof im Einklang mit der Auffassung des BGH in der „Teerfarben“-Entscheidung nicht als ausländisches Gericht zu behandeln sei95. Soweit die nationalen Gerichte und der EuGH aber wegen ihrer jeweils nur beschränkten Kognitionskompetenz aufgrund von Normen urteilten, die einen unterschiedlichen Unrechtsgehalt erfaßten, entspreche es einem Gebot der Billigkeit, die früher ergangene Entscheidung im Rahmen der späteren Bußgeldbemessung zu berücksichtigen. Darüber hinaus entspreche es der herrschenden Meinung, von einer Verfolgung der Tat als Ordnungswidrigkeit nach nationalem Recht ganz abzusehen, wenn der Unrechtsgehalt der Tat durch eine vorangegangene Entscheidung seitens der Kommission oder des Gerichtshofs voll erfaßt ist. Die Behandlung des Grundsatzes des ne bis in idem durch Dannecker ist insofern begrüßenswert, als er versucht, die Problematik für den Bereich des Wettbewerbsrechts einer umfassenden und kohärenten Lösung zuzuführen. Sein Ansatz verdient Zustimmung, soweit er den verschiedenen Fallkonstellationen bereits frühzeitig durch eine entsprechende Zuständigkeitsverteilung Rechnung trägt und erst, soweit dies nicht möglich ist, – entsprechend dem klassisch strafrechtlichen Denken – das Instrument der Rechtskraft anwendet. Auch Dannecker erfaßt damit das Prinzip des ne bis in idem der Sache nach als primär organisationsrechtliches Prinzip, das je nach der Ebene, auf der es zum Tragen kommt, kompetenz-, verfahrensoder materiellrechtliche Auswirkungen entfaltet. Sehr viel mehr Zurückhaltung wird man indessen gegenüber seinen Ausführungen zum Tatbegriff und zu den Auswirkungen der Rechtskraft üben müssen. Wenn Dannecker meint, den Entscheidungen des EuGH liege ein vom französischen Recht geprägtes (materielles) Verständnis des Tatbegriffs zugrunde, so deutet er auf eine Entscheidung des EuGH zwischen zwei Rechtssystemen hin, die zu Lasten eines historisch-tatsächlichen Tatbegriffs zu gehen scheint und möglicherweise weitgehende Folgen implizieren könnte. Dabei kann man Dannecker durchaus zugestehen, daß die vom EuGH gewählte Terminologie der „unterschiedlichen Verfahrensziele“ eine solche 92 Dannecker in: Immenga / Mestmäcker, EG-Wettbewerbsrecht, VO 17 Vorbem. Art. 15 Rn. 114; anders Kindhäuser in: Glassen, Frankfurter Kommentar, Bußgeldrechtliche Folgen Rn. 150, nach dem sich das Verbot der mehrfachen Strafverfolgung für den Fall, daß die deutschen Behörden einen Bescheid der Kommission zu beachten haben, aus Art. 103 Abs. 3 GG ergibt. 93 Ebenso Kindhäuser in: Glassen, Frankfurter Kommentar, Art. 81 EGV Bußgeldrechtliche Folgen Rn. 150. 94 Dannecker in: Immenga / Mestmäcker, EG-Wettbewerbsrecht, VO 17 Vorbem. Art. 15 Rn. 116. 95 Dannecker in: Immenga / Mestmäcker, EG-Wettbewerbsrecht, VO 17 Vorbem. Art. 15 Rn. 118.
III. Entwicklungsstand des Grundsatzes ne bis in idem im europäischen Strafrecht 211
materielle Beurteilung des tatsächlichen Geschehens in den Vordergrund zu rücken scheint. Es ist indessen nicht notwendig, hieraus eine grundsätzliche Entscheidung für einen materiellen Tatbegriff abzuleiten. Auch im Kontext der Entscheidungen, insbesondere in den Stellungnahmen der Generalanwälte, lassen sich entsprechende Diskussionen nicht finden. Die vom EuGH verwendete Terminologie läßt sich meines Erachtens schlüssiger erklären, wenn man mit den Erwägungen des Generalanwalts Mayras96 im Fall Boehringer die Eigenständigkeit des Wettbewerbsrechts (samt seiner verwaltungsrechtlichen Sanktionen) vom Strafrecht betont. Berücksichtigt man nun das verwaltungsrechtlich geprägte Selbstverständnis des EuGH und vergleicht dieses mit dem Gegenstand des Verwaltungsverfahrens im deutschen Recht mit seiner Prägung durch Sachverhalt und Antrag97 findet sich eine weit näher liegende Parallele98. Grund für einen „normativen Tatbegriff“ wäre hier die mit der Spezialisierung bzw. der begrenzten Kompetenzzuschreibung der Behörde verbundene begrenzte Zielorientierung ihres Handelns. Als Mittel zum Ausgleich des Individualinteresses an Rechtssicherheit und des öffentlichen Interesses an der Durchsetzung der allgemein verbindlichen Ordnung würden dann neben das Instrumentarium des Strafklageverbrauchs auch die Grundsätze der Selbstbindung der Verwaltung und des Vertrauensschutzes treten. Zu alledem zeigt das von Dannecker entwickelte Verständnis des Prinzips des ne bis in idem Friktionen, soweit er den Entscheidungen der nationalen Kartellbehörden eine umfassende Sperrwirkung zuschreibt, obgleich diesen gerade keine Kompetenz zur Verhängung gemeinschaftsrechtlicher Geldbußen zusteht. Hier fehlt eine tragfähige Begründung, weshalb der Einwand der beschränkten Kognitionskompetenz, der in Fällen einer Erstentscheidung durch nationale Behörden zu einer Begrenzung des Verbots der Doppelbestrafung führt, in der umgekehrten Konstellation, in der zuerst supranationale Behörden entscheiden, gerade nicht gelten soll. (Erst seit der Geltung von Art. 11 Abs. 4 VO 1 / 2003 ließe sich dies damit legitimieren, daß der Kommission bereits vor der nationalen Entscheidung Gelegenheit gegeben wurde, sich darüber schlüssig zu werden, ob ihr Eingreifen aus ihrer Sicht notwendig erschien.)
96 Schlußanträge von Generalanwalt Mayras im Fall Boehringer / Kommission Rs. 7 / 72 Slg. 1972, 1281 (1305). 97 Nach ganz herrschender Meinung bestimmt in diesen Fällen die Einleitungsentscheidung zugleich auch das Ziel und den formellen Gegenstand des Verfahrens in rechtlicher und tatsächlicher Hinsicht, so daß in der Folge das in der Sache anwendbare formelle und materielle Recht maßgebend dafür sind, was den Gegenstand des Verfahrens bildet, siehe stellvertretend Kopp / Ramsauer, VwVfG, § 9 Rn. 24 f.; Kopp / Schenke, VwGO, § 90 Rn. 7 ff.; Eyermann, VwGO, § 121 Rn. 23 ff. 98 Zur Rolle des EuGH im Bereich des Kartellrechts als Verwaltungsgericht siehe auch Rittner, Wettbewerbs- und Kartellrecht, § 14 Rn. 104; allgemein zur Nähe des Wirtschaftsstrafrechts mit seiner Ausrichtung am Schutz des staatlichen Wirtschaftsorganismus zum Verwaltungsrecht Tiedemann GA 1969, 321 (326 f.) und zur Anfechtung von Bußgeldfestsetzungen gem. Art. 36 Abs. 2 EGKS im Rahmen eines dem französischen Verwaltungsprozeß nachgebildeten Streitverfahren (329).
14*
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E. Der Grundsatz des ne bis in idem im europäischen Strafrecht
Sehr viel umfassender und vor allen Dingen bereichsübergreifend haben sich in jüngerer Zeit Böse und Heitzer mit der Behandlung des Grundsatzes des ne bis in idem im Verhältnis nationaler und gemeinschaftsrechtlicher Sanktionen auseinandergesetzt: Dabei folgt Böse weitgehend der von der Kommission und vom Gerichtshof im Wettbewerbsrecht geübten Praxis, eine mehrfache nationale und gemeinschaftsrechtliche Sanktionierung generell zuzulassen, da der Schutz des innerstaatlichen und des gemeinschaftlichen Wettbewerbs nicht grundsätzlich gleichgesetzt werden könnten und weitergehende Forderungen zu erheblichen verfahrensrechtlichen Problemen führten. Regelmäßig habe hier eine weitestgehende Anrechnung zu erfolgen und nur ausnahmsweise, wenn die nationale Geldbuße nur in einem organisatorischen, nicht aber in einem sachlichen Zusammenhang stehen würde, sei lediglich ein Teil der Geldbuße anzurechnen. Nur soweit eine Anrechnung technisch nicht möglich sei, etwa weil eine dem Gemeinschaftsrecht nicht bekannte Form von Strafe verhängt wurde, soll eine bloße Berücksichtigung als Strafmilderungsgrund genügen99. Soweit gemeinschaftsrechtliche Sanktionen von nationalen Behörden verhängt werden, verweist Böse demgegenüber auf Art. 6 VO 2988 / 95. Bei der Bewertung dieser Regelung trägt Böse zunächst dem Umstand Rechnung, daß sich in den nationalen Rechten der Mitgliedstaaten Kriminal- und Verwaltungsstrafen nicht in jedem Fall ausschließen und hält die Regelung insgesamt für angemessen100. Gegen eine strikte Befolgung des Grundsatzes des ne bis in idem spreche nämlich, daß die supranationalen Sanktionen als gemeinschaftsrechtlich fixiertes Ahndungsminimum angesehen würden, so daß diese Sanktionen ihrem Ursprung und ihrer Ratio nach auf ein Nebeneinander mit den nationalen Strafrechten angelegt seien. Zuletzt verweist Böse auf den Umstand, daß es auch in diesen Fällen an einer Instanz fehle, die eine umfassende rechtliche Würdigung vornehmen könnte. So könne etwa ein deutsches Strafgericht im Rahmen eines Strafverfahrens keine Wohlverhaltenssicherheit für verfallen erklären101. Statt dessen soll es auch hier genügen, daß dem Verhältnismäßigkeitsprinzip und Billigkeitserwägungen entsprechend beim Verhängen der späteren die bereits zuvor verhängte Sanktion berücksichtigt wird102. Etwas strengere Maßstäbe legt Böse in den Fällen an, in denen nationale Behörden Sanktionen nach nationalem und zugleich nach Gemeinschaftsrecht verhängen. Zwar soll die Verhängung mehrerer Sanktionen nebeneinander auch hier möglich sein, diese müssen jedoch in einem Verfahren verhängt werden103. Böse, Sanktionen, S. 178. Böse, Sanktionen, S. 386 m.w.N. 101 Böse, Sanktionen, S. 388 f. 102 Böse, Sanktionen, S. 388; im Ergebnis ebenso Heitzer, Sanktionen, S. 172, die an dieser Stelle allerdings etwas pauschaler argumentiert und generell meint, eine unterschiedliche Behandlung von Kartellgeldbußen und anderen punitiven Sanktionen sei nicht begründbar. 103 Böse, Sanktionen, S. 390 f. 99
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IV. Kritik und Entwicklung eines eigenen Lösungsansatzes
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Heitzer betont bei ihrer Auslegung von Art. 6 VO 2988 / 95, mit dem Begriff „derselben Tat“ könne keinesfalls eine Tat im (rein) normativen Sinn gemeint sein. Dies legten nicht nur die französische und englische Fassung des Textes nahe, dies ergebe sich vielmehr bereits aus Gründen der Logik, da im Straf- und Verwaltungsverfahren notwendigerweise unterschiedliche Normen anzuwenden seien104. Unter den Begriff des „Abschluß des Strafverfahrens“ faßt Heitzer jede förmliche Beendigung des Verfahrens, nach der das Verfahren nicht ohne weiteres wieder aufgenommen werden könne, weil die Entscheidung der Rechtskraft fähig sei105. Als „allgemeiner Grund“, der einer Wiederaufnahme des Verwaltungsverfahrens entgegenstehen könne, komme das Prinzip des ne bis in idem für die Anwendung von Art. 6 VO 2988 / 95 im deutschen Recht aufgrund einer fehlenden Instanz mit umfassender Kognitionskompetenz nicht in Betracht. Eine entsprechende Anwendung der §§ 84, 86 OWiG sei abzulehnen, da Sanktionen nach Gemeinschaftsrecht nicht als subsidiäre Form der Sanktionierung angesehen und daher nicht mit Ordnungswidrigkeiten nach deutschem Recht gleichgesetzt werden könnten. Auch Heitzer begnügt sich daher letztlich mit einer gegenseitigen Anrechnung der Sanktionen, weist jedoch auf die praktischen Probleme einer mangelnden gegenseitigen Information hin106.
IV. Kritik und Entwicklung eines eigenen Lösungsansatzes Die vorstehende Entwicklung ist insofern zu begrüßen, als das Verbot der Doppelbestrafung auch in seinem vertikalen Wirkungsbereich zunehmend erkannt und anerkannt wird. Während die Rechtsprechung noch versucht, organisatorische Defizite durch Anrechnungs- bzw. Berücksichtigungsgebote auszugleichen, wird dem Prinzip als solchem in der jüngeren rechtswissenschaftlichen Diskussion, aber auch auf legislativer Ebene, mehr und mehr Rechnung getragen. Besonders positiv sind dabei diejenigen Lösungsversuche hervorzuheben, die Doppelbestrafungen bereits im Ansatz durch die Schaffung von Kollisionsnormen, eine entsprechende Zuständigkeitsverteilung oder durch erweiterte Kognitionsmöglichkeiten der mit der jeweiligen Sache befaßten Behörden und Gerichte begegnen wollen. Im Bereich der rechtstheoretischen Begründung bestehen dagegen offensichtliche Defizite. So wird eine grundsätzliche Geltung des Prinzips mit wenig überzeugenden Gründen im Rahmen eines Vergleichs von nationaler und ausländischer Staatsgewalt mehrheitlich abgelehnt, um sogleich ein auf nicht näher spezifizierten Billigkeitsgründen beruhendes Berücksichtigungsgebot zu etablieren. Auch hier 104 Heitzer, Sanktionen, S. 171 mit Verweis auf die französische Fassung „procédure pénale qui porte sur les mêmes faits“ und auf die englische Fassung „criminal proceedings in connection with the same facts“ von Art. 6 VO 2988 / 95. 105 Heitzer, Sanktionen, S. 171, die als Beispiele die transactie nach belgischem oder französischem Recht oder auch die Einstellung gem. § 153a StPO nach deutschem Recht anführt. 106 Heitzer, Sanktionen, S. 175 f.
214
E. Der Grundsatz des ne bis in idem im europäischen Strafrecht
wird dann wieder mit Bedacht eine Lösung von größtmöglicher Flexibilität gewählt, die dem Gericht allen Spielraum läßt, um zu einer sachgerechten Entscheidung zu gelangen, die dem Betroffenen die Voraussehbarkeit der Entscheidung indessen wesentlich erschwert. Rechtspraktisch haben sich mit der Einführung einer supranationalen Instanz die vorhandenen Administrativapparate multipliziert. Die Steuerungssysteme sind derart angewachsen, daß es zunehmend schwieriger wurde, sie sinn- und maßvoll zu koordinieren. Aktionen zu einer effektiven Durchsetzung des Gemeinschaftsrechts bedürfen zugleich Reaktionen zur Begrenzung der ihnen impliziten Tendenzen übermäßiger Freiheitseinschränkungen. Gerade in Randbereichen sind Mittel und Gegenmittel jedoch nur vage auf einander abgestimmt. Der Grundsatz der Rechtsstaatlichkeit, dessen Maximen formeller und materieller Gerechtigkeit im Grundsatz des ne bis in idem ihren Ausgleich finden sollen, steht hier zu allem Überfluß im Kontext solch widersprüchlicher Topoi wie dem des Vorrangs des Gemeinschaftsrechts, des Subsidiaritätsprinzips und der Gemeinschaftstreue. Es scheint, als müßten Individualrechte wie der Anspruch auf Rechtssicherheit stillschweigend zurücktreten, um das supranationale Gefüge in seiner Gesamtheit nicht zu gefährden.
1. Rechtstheoretische Einordnung des vertikalen Grundsatzes des ne bis in idem in der EG Schon die Überlegungen zu Beginn der Arbeit haben gezeigt, daß der Inhalt und der Gewährleistungsgehalt des Doppelbestrafungsverbots von seiner grundsätzlichen Konzeption als systeminternes oder zwischenstaatliches Prinzip abhängen. Die Einordnung der europäischen Gemeinschaften als supranationales Gebilde scheint nun zur Folge zu haben, daß an keinen dieser beiden rechtstheoretischen Ausgangspunkte unmittelbar angeknüpft werden kann und es möglicherweise eines eigenen, dritten Entwurfs bedarf107. Gegen das Verständnis des vertikal wirkenden Doppelbestrafungsverbots als systeminternes Prinzip spricht, daß hier zwei unterschiedliche Hoheitsgewalten koordiniert werden müssen. Gegen die Anwendung der für das zwischenstaatlich wirkende Prinzip des ne bis in idem erarbeiteten Grundsätze spricht allerdings, daß sich beide Seiten nicht als zunächst autarke Gewalten gegenüber stehen. Die supranationale Organisation wurde vielmehr im Verhältnis zum Nationalstaat von Beginn an in gegenseitiger Abhängigkeit entwickelt, um den Bürgern erst einen erweiterten Wirtschaftsraum und dann einen erweiterten Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts zur Verfügung zu stellen. 107 In diese Richtung Eser in: Meyer, Kommentar zur Charta der Grundrechte der Europäischen Union, Art. 50 Rn. 3, 11, der das Prinzip des ne bis in idem in seiner vertikalen Wirkrichtung tendenziell dem transnationalen Prinzip des ne bis idem gleichstellt.
IV. Kritik und Entwicklung eines eigenen Lösungsansatzes
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Zwar bezeichnet der Begriff der Supranationalität das Recht einer internationalen Organisation, ihre Mitgliedstaaten in bestimmten Bereichen auch ohne deren ausdrückliche Zustimmung zu verpflichten108. Dieser Verpflichtungsmacht sind indessen anerkannte Grenzen gesetzt. Solche können explizit aus dem beschränkten sachlichen Mandat der internationalen Organisation, aus Grundsätzen, denen sich die Organisation selbst verpflichtet, oder aus der Bindung an sonstige völkerrechtliche Konventionen folgen. Bezogen auf das Rechtsstaatsprinzip und seine Ausprägungen ergibt sich eine solche Bindung aus dessen expliziter Aufzählung in Art. 6 Abs. 1 EUV und der dortigen Einordnung als Wesenselement der Europäischen Union, der Europäischen Gemeinschaften und darüber hinaus aller Mitgliedstaaten. Ob der Verweis in Art. 6 Abs. 2 EUV auf die EMRK auch Art. 4 7. ZPEMRK erfaßt, ist dagegen fraglich. Schließlich ist der Begriff der „Achtung“ der in der EMRK verbürgten Rechte ebenso so unspezifisch wie der Verweis auf die EMRK als solcher, aus dem nicht deutlich wird, ob er die verschiedenen Zusatzprotokolle mit erfaßt oder nicht109. Auch Art. 23 des deutschen Grundgesetzes bringt die doppelte Verpflichtung der Europäischen Gemeinschaft auf das Rechtsstaatsprinzip deutlich zum Ausdruck. Neben der Mitwirkung der Bundesrepublik Deutschland an einer „rechtsstaatlichen Grundsätzen verpflichteten Europäischen Union“ wird noch im selben Satz konstatiert, daß diese einen dem Grundgesetz im Wesentlichen vergleichbaren Schutz gewährleistet (Art. 23 Abs. 1 S. 1 GG). Diese Forderung nach einem supranational vergleichbaren Schutzniveau bezieht sich nicht nur auf rein systeminterne Akte der Europäischen Union sondern gerade auch auf die Ausstrahlungswirkungen der Unions- und Gemeinschaftsakte auf die Nationalstaaten und deren Bürger. Für die eingangs gestellte Frage, welcher Konzeption das Prinzip des ne bis in idem verpflichtet ist, ist damit ein erheblicher Teil der Antwort vorgegeben: Aus der doppelten Verpflichtung der Europäischen Union als Integrationsrahmen für die Europäische Gemeinschaft auf das Rechtsstaatsprinzip – ihrer Selbstverpflichtung und ihrer Verpflichtung gegenüber den Mitgliedstaaten – folgt, daß für den materiellen Schutzgehalt des vertikalen Prinzips des ne bis in idem kein anderes Niveau angenommen werden darf als für die systemintern wirkende Schutzrichtung. Der Spielraum, der gleichwohl besteht, zeigt sich anhand der recht unterschiedlichen Ausgestaltung des Prinzips des ne bis in idem in den Mitgliedstaaten und der Rechtsprechung des EGMR zu Art. 4 7. ZPEMRK. Zu ähnlichen Anforderungen wird man über diesen positivistischen Ansatz hinaus auch gelangen, wenn man entsprechend der Verpflichtung der Nationalstaaten auf das Rechtsstaatsprinzip die Voraussetzungen für die Bildung einer ihnen gemeinsamen supranationalen Organisation untersuchen würde. Dann würde sich herausstellen, daß die Schaffung einer größeren Einheit die Nationalstaaten nicht ihrer originären, zu Beginn der Arbeit dargestellten Grundverpflichtungen enthe108 109
Schweizer / Hummer, Europarecht, Rn. 873. Zu diesen Unklarheiten auch Leutheusser-Schnarrenberger ZRP 2002, 329 (330).
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E. Der Grundsatz des ne bis in idem im europäischen Strafrecht
ben kann und etwaige Einschränkungen allenfalls durch besondere Sachzwänge gerechtfertigt werden können110.
2. Gewährleistungsgehalt des vertikalen Grundsatzes des ne bis in idem und die Rechtfertigung von Eingriffen In der Konsequenz dieser rechtstheoretischen Einordnung muß die Europäische Gemeinschaft zwar ein in den Mitgliedstaaten einheitliches, in seiner Dichte den nationalen Rechtsordnungen angeglichenes Schutzniveau sichern, kann hierfür jedoch je nach den Gegebenheiten des nationalen Rechts, mit dem sich die supranationale Rechtsordnung verschränkt, unterschiedliche Integrationswege wählen111. Daraus folgt auch, daß der Grundsatz des ne bis in idem in seiner Ausgestaltung als Rechtsnorm hinreichend flexibel sein muß, um den möglicherweise divergierenden Ausgestaltungen einheitlich als Maßstab dienen zu können. Wegen der in diesen Punkten vergleichbaren Ausgangslage werden insbesondere die nachfolgend gewählte Normstruktur und deren Gewährleistungsgehalt stark an Art. 4 7. ZPEMRK angelehnt: a) Gewährleistungsgehalt Das Verbot einer mehrfachen Bestrafung bzw. Strafverfolgung kann entsprechend den Ausführungen zu Art. 4 7. ZPEMRK auch in seiner supranationalen Variante nicht nur für ein in irgendeiner Form begrenztes Kriminalstrafrecht seine 110 Andernfalls würde in der Tat die von Leutheusser-Schnarrenberger ZRP 2002, 329 (330) schon im bestehenden Recht als gegeben angesehene paradoxe Situation vorliegen, daß Unionsbürger grundrechtlich schlechter gestellt sind als Bürger von Staaten, die ausschließlich dem Europarat und nicht der EU angehören, da Maßnahmen der EU nicht vor dem EGMR gerügt werden können; ausführlich zu dem als „Flucht in organisatorisch verselbständigte Einheiten auf zwischenstaatlicher Ebene“ umschriebenen Phänomen siehe auch Walter in: Ehlers, Europäische Grundrechte, § 1 Rn. 14 sowie Ehlers in: ders. (Hrsg.), Europäische Grundrechte, § 2 Rn. 23 f., § 13 Rn. 13; wie hier auch die Reaktionen des EGMR im Urteil vom 18. Februar 1999, Waite u. Kennedy gegen Deutschland, Fall Nr. 26083 / 94, Ziff. 67 = NJW 1999, 1173 (1175), wobei diese Rechtsprechung des EGMR dazu führt, daß Personen, deren Heimatstaaten an das 7. ZPEMRK gebunden sind, mögliche Verletzungen von Art. 4 7. ZPEMRK durch Gemeinschaftsorgane und nationale aber Gemeinschaftsrecht anwendende Organe rügen können. 111 Diesen durchaus hohen Anforderungen entspricht in der Praxis ein den Gemeinschaften zur Verfügung stehendes Instrumentarium, das im Bereich der vertikalen Integration grundsätzlich weitaus stärkere Eingriffe in die nationale Souveränität erlaubt als etwa das im Bereich der Horizontalintegration, wie es bei der Erörterung des zwischenstaatlichen Grundsatzes des ne bis in idem in den Vordergrund gerückt wurde, siehe auch J. Hecker EuR 2001, 826 (841 ff.); als Beispiel einer solchen materiellen Verpflichtung der Mitgliedstaaten zum Erlaß von Sanktionsnormen zum Schutz von Gemeinschaftsrechtsgütern und deren Integration in das nationale Recht siehe BGHSt 25, 190 (199); Bogdandy, Supranationaler Föderalismus, S. 16 ff.
IV. Kritik und Entwicklung eines eigenen Lösungsansatzes
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Wirkung entfalten. Es gilt darüber hinaus für jede Form staatlichen Handelns, deren Hauptzweck – bei objektiver Betrachtung – eine Sanktionierung normwidrigen Verhaltens ist. Dieses weite Verständnis des Begriffs der Strafe erlangt im Geltungsbereich des supranationalen Prinzips des ne bis in idem insbesondere in Anbetracht der mangelnden Kompetenz der Gemeinschaft zum Erlaß originär kriminalstrafrechtlicher Normen besondere Bedeutung. Ein engeres Verständnis des Begriffs der Strafe würde hier angesichts der Entwicklungen im Gemeinschaftsrecht, die finanziellen Interessen der Gemeinschaft über ein immer komplexeres System punitiver Verwaltungssanktionen zu schützen, zu einem unnötigen Ausfall der Kontrolle der gemeinschaftsrechtlichen Bemühungen in diesem Bereich führen112. Geltung erlangt das Prinzip des ne bis in idem dabei in allen Verfahren vor Verwaltungs- und Kriminalbehörden von der Einleitung eines Ermittlungsverfahrens bis hin zum Ausspruch einer etwaigen Strafe und deren Vollstreckung. Der Begriff der „Tat“ als Mittel zur Festlegung des Vergleichsgegenstandes sollte aus Gründen der Praktikabilität und namentlich wegen der geforderten Flexibilität möglichst weit gefaßt werden. Eine unnötige Begrenzung auf einen mit stark normativen Elementen angereicherten Tatbegriff erscheint der Sache daher wenig förderlich. Vielmehr ist wie bei der Festlegung des Tatbegriffs im Rahmen von Art. 4 7. ZPEMRK auf einen funktionalen Tatbegriff abzustellen, der einen in einem Sinnzusammenhang stehenden Ausschnitt eines tatsächlichen Verhaltens einer Person meint und von normativen Elementen weitgehend entkleidet ist113. Adressaten der Gewährleistung sind neben der Europäischen Gemeinschaft mit ihren Exekutiv- und Legislativorganen auch nationale Gesetzgeber, Gerichte und Behörden. Gerade aufgrund seiner vertikalen Dimension verpflichtet das supranationale Prinzip des ne bis in idem alle an der Schaffung und Umsetzung des Gemeinschaftsrechts beteiligten Hoheitsträger und fordert von der abstrakt-generellen Normsetzung bis hin zur konkret-individuellen Anwendung im Einzelfall angemessene Berücksichtigung.
b) Eingriffe in den Gewährleistungsgehalt Eingriffe in den Gewährleistungsgehalt sind dementsprechend bereits von Seiten des gemeinschaftsrechtlichen Normgebers bei der Setzung einer punitiven Gemeinschaftsrechtsnorm oder einer Verpflichtung der Mitgliedstaaten zu einer entsprechenden Strafrechtsnormsetzung denkbar, wenn diese zwingend zu einer mehrfachen Bestrafung eines etwaigen Betroffenen führen. Weitere Verletzungen können erfolgen, sofern die nationale Legislative vorhandene Umsetzungsspiel112 Wie hier hat zur Abgrenzung von Strafrecht und sonstigen gemeinschaftsrechtlichen Verwaltungszwangsmaßnahmen auch schon Spannowsky JZ 1994, 326 (329) auf die entsprechende Grenzziehung des EGMR verwiesen. 113 Vgl. oben C. II. 2. b., dort auch zu den Konstellationen der fortgesetzten Handlung, der Bewertungseinheit, sowie zu Dauer- und zusammengesetzten Delikten.
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E. Der Grundsatz des ne bis in idem im europäischen Strafrecht
räume nicht hinreichend nutzt, um gemeinschaftsrechtliches Sanktionenrecht mit eigenem nationalem Recht abzustimmen. Schließlich können nationale wie supranationale Gerichte und Verwaltungsbehörden das vorhandene Ermessen fehlerhaft gebrauchen und eine mehrfache Strafverfolgung bzw. Bestrafung provozieren.
c) Rechtfertigung derartiger Eingriffe Die größten Besonderheiten weist der supranationale Grundsatz des ne bis in idem bei der Rechtfertigung etwaiger Eingriffe in den Gewährleistungsbereich auf. Die Besonderheiten der Verschränkung der nationalen und supranationalen Rechtsordnungen und die Regelungen zu etwaigen Geltungskonflikten kommen hier in besonderer Weise zum Tragen114. Dabei wird die Lösung dieser Konfliktpotentiale wiederum in einer möglichst trennscharfen Abgrenzung der Kompetenzen beider Handlungsebenen und in diese ergänzenden Prinzipien für die Kompetenzausübung liegen115. Im Verlauf der nachfolgenden abstrakten Betrachtungsweise kann das Spannungsverhältnis formeller und materieller Gerechtigkeit nur grundsätzlich dargestellt und ein Bezug hergestellt werden zu den besonderen supranationalen Prinzipien wie etwa der Subsidiarität, des Vorrangs des Gemeinschaftsrechts, des effet utile oder einander überschneidender Zuständigkeiten. aa) Direktvollzug von punitivem Gemeinschaftsrecht durch supranationale Behörden Im Fall des Direktvollzugs von punitivem Gemeinschaftsrecht durch supranationale Behörden gelten grundsätzlich dieselben Erwägungen, die schon zum systemintern wirkenden Prinzip des ne bis in idem angestellt wurden. Besonderheiten treten hier vor allem durch sich sachlich überschneidende Sanktionen nationaler Behörden oder Gerichte auf. Beispiele sind punitive Sanktionen der Gemeinschaft wegen erschlichener Subventionen und eine gleichzeitige nationale Kriminalstrafe wegen eines Betrugs- oder Urkundendelikts oder auf dieselbe tatsächliche Handlung abstellende Sanktionen wegen einer wettbewerbswidrigen Beeinträchtigung des nationalen und des Gemeinschaftsmarktes.
114 Vgl. Zuleeg JZ 1992, 761 (764 f.) sowie König, Europarecht, Rn. 129 f., bei dem sich ein Beispiel einer solchen Verschränkung aus dem Bereich der EG-Beihilfenkontrolle findet. 115 Inhaltlich ebenso, aber mit Bezug auf Art. 10 EGV allgemeiner gefaßt Hatje in: Callies / Ruffert, Kommentar zu EUV und EGV, Art. 10 Rn. 3; zu entsprechenden Ansätzen (insbesondere zur verfahrensrechtlichen Auflösung der materiell bestehenden Gefahr mehrfacher Strafverfolgung) im Rahmen der sog. „dual sovereignty doctrine“ im US- amerikanischen Recht siehe Stuckenberg, double jeopardy, S. 37 ff.
IV. Kritik und Entwicklung eines eigenen Lösungsansatzes
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Zur Rechtfertigung einer solchen Bestrafung in mehreren Verfahren lassen sich insbesondere die jeweils beschränkten Zuständigkeiten anführen. Bereits aus der einleitenden Übersicht des Sanktionensystems der Gemeinschaften wurde darüber hinaus deutlich, daß Ansätzen zur Vermeidung von Doppelbestrafungen, die die Schaffung ausschließlicher Zuständigkeiten bzw. die Übertragung von Zuständigkeiten zum Gegenstand haben, Grenzen gesetzt sind. Die grundsätzliche Zulässigkeit sich überschneidender Verfahren folgt daraus allerdings erst, wenn keine andere adäquate Möglichkeit besteht, diesen Konflikt auszuräumen. Als Lösung kommen entweder materiell (trotz der oben genannten Schwierigkeiten) die (teilweise) Aufgabe eines der beiden Sanktionensysteme oder organisatorisch die Koordination der beiden Verfahren bzw. die Installation eines einheitlichen Verfahrens in Betracht116. So wäre es im Bereich des Wettbewerbsrechts möglich, daß die Nationalstaaten in Fällen, in denen ein bestimmtes Verhalten zumindest auch den Handel zwischen den Mitgliedstaaten beeinträchtigt, auf Sanktionen wegen der Beeinträchtigung auch des nationalen Marktes materiell gänzlich verzichten oder zwar materiell ihre Sanktionstatbestände aufgeben, ihre Interessen aber durch eine positiv-rechtlich abgesicherte personelle Mitwirkung im supranationalen Verfahren verfolgen117. Umgekehrt könnte die Gemeinschaft ihre punitiven Sanktionen unter den Vorbehalt stellen, daß die Tat nicht in einem nach dem Tatort- oder Personalitätsprinzip zuständigen Mitgliedstaat (kriminal-)strafrechtlich verfolgt wird und in dem nationalen Verfahren ihre Interessen gegebenenfalls durch die Mitwirkung eines Gemeinschaftsanwalts vertreten lassen. Ein gemeinschaftsrechtliches Ahndungsminimum, das teilweise zur Legitimation von Beschränkungen des Verbots mehrfacher 116 Zur Notwendigkeit einer systemadäquaten Komplexität der Verfahren und den mit einer Unterkomplexität verbundenen Problemen siehe Bogdandy, Supranationaler Föderalismus, S. 49 f. 117 Dies entspricht dem Urteil des EuGH vom 14. Dezember 2000 im Fall Masterfoods, Rs. C-344 / 98, Ziff. 52, wonach es die Sache der nationalen Gerichte sein soll, den Konflikt einander widersprechender Entscheidungen der Kommission und einer nationalen Instanz zu vermeiden; siehe dazu auch Kamann / Horstkotte WuW 2001, 458 (458 ff.) und Bartels ZfRV 2002, 83 (86, 88), der auch kritisiert, daß der Topos der Rechtssicherheit, mit dem der EuGH noch im Fall Delimitis seine Entscheidung begründete (EuGH vom 28. Februar 1991 Rs. C-234 / 889 Ziff. 47: „Sodann ist zu prüfen, welche Folgen diese Zuständigkeitsverteilung für die konkrete Anwendung der gemeinschaftsrechtlichen Wettbewerbsvorschriften durch die nationalen Gerichte hat. In diesem Zusammenhang ist zu berücksichtigen, daß die Gefahr besteht, daß diese nationalen Gerichte Entscheidungen erlassen, die im Gegensatz zu denjenigen stehen, die die Kommission zur Anwendung der Artikel 85 Absatz 1 und 86 wie auch des Artikels 85 Absatz 3 getroffen hat oder zu treffen beabsichtigt. Solche gegensätzlichen Entscheidungen stünden im Widerspruch zu dem allgemeinen Grundsatz der Rechtssicherheit. Sie sind daher zu vermeiden, wenn die nationalen Gerichte über Vereinbarungen oder Praktiken befinden, zu denen noch eine Entscheidung der Kommission ergehen kann“), im Fall Masterfoods vollständig dem Argument der gemeinschaftsrechtlichen Treuepflicht gewichen ist; vgl. darüber hinaus Art. 16 VO 1 / 2003, mit dem die in der Masterfoods-Entscheidung erarbeiteten Grundsätze nun auch de lege lata weiter verfolgt werden.
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E. Der Grundsatz des ne bis in idem im europäischen Strafrecht
Strafverfolgung angeführt wird118, könnte durch den Erlaß etwaiger Richtlinien sichergestellt werden, die die Mitgliedstaaten verpflichten, entsprechende Sanktionen vorzusehen. Derartige Ansätze zur Installation eines einheitlichen Verfahrens zeigen sich neuerdings im Corpus Juris zum Schutz der finanziellen Interessen der Union119. Danach soll im Bereich der Straftaten zum Nachteil der finanziellen Interessen der Union eine europäische Staatsanwaltschaft vor nationalen Gerichten auftreten und so eine effektive Vertretung des supranationalen Strafanspruchs sicherstellen. Dabei sollte der „alleinige“ (Art. 17 Abs. 2 CJ) Vorrang des Gemeinschaftsrecht jedoch nur gelten, soweit nationale und supranationale Normen den (teil-)identischen Gegenstand schützen. Soweit tateinheitlich noch andere Rechtsgüter verletzt werden, kann daneben nationales Recht zur Anwendung kommen. Die horizontal strafklageverbrauchende Wirkung des Urteils wäre dann insgesamt nach den Regelungen in den Art. 54 ff. SDÜ – und nicht nach Art. 23 Abs. 1 S. 4 b CJ120 – zu beurteilen. Zwar zeigen die bisher entwickelten Formen der Verwaltungskooperation für die damit geforderten Modelle der Zusammenarbeit Grenzen auf, jedoch müßten aufgrund der gestiegenen informationstechnischen Möglichkeiten weitere Verbesserungen im Sinne steigender Rechtssicherheit des Einzelnen möglich sein121. Namentlich der Problematik der notwendigen wechselnden Zusammensetzung der exekutiven Organe läßt sich möglicherweise durch eine fraktale Organisation122 118 So etwa im Bereich des indirekten Gemeinschaftsrechtsvollzugs Heitzer, Sanktionen, S. 176 und Böse, Sanktionen, S. 386; Erwägungsgrund Nr. 11 VO 2988 / 95. 119 Namentlich in den Art. 18 ff. CJ; näher zum Corpus Juris siehe oben B. V. 3.; kritisch zu dieser Institution Satzger StV 2003, 137 (138 ff.). 120 Die Beschränkung von Art. 23 Abs. 1 S. 4 b CJ auf die „in Art. 1 bis 8 genannten Straftaten“ hätte entweder zur Folge, daß eine Mehrfachbestrafung wegen tateinheitlich verwirklichter Delikte danach gleichwohl möglich wäre bzw. hierfür die Art. 54 ff. SDÜ zur Anwendung kommen würden oder (so möglicherweise Delmas-Marty, Corpus Juris, S. 47) bestimmte Rechtsgutsverletzungen gänzlich ungeahndet blieben. 121 Beispielhaft zu denken ist etwa an die Abwicklung gemeinsamer Projekte über virtuelle „dealsights“, über die der gesamte Aktenvorgang allen Beteiligten mit unterschiedlichen Berechtigungen zu Bearbeitung zugänglich gemacht werden kann, die terminliche Abstimmung koordiniert wird, Zugang zu den verschiedensten nationalen Datenbanken gewährt werden kann, die gemeinsame Kommunikation erfolgt usw. 122 Der Begriff der fraktalen Organisation wurde in der Betriebswirtschaftslehre zur Organisation von virtuellen Unternehmen entwickelt, deren Probleme lassen sich aber im Ansatz auf die Europäische Gemeinschaft und insbesondere den Direktvollzug von Gemeinschaftsrecht übertragen. Auch dort besteht eine flache Hierarchie, aber eine relativ intensive vertikale Kommunikation zwischen je nach Fall unterschiedlichen, miteinander kooperierenden Einheiten (näher zur fraktalen Organisation siehe Carl / Kiesel S. 269 ff., wonach in der Praxis auf eigene Räumlichkeiten weitgehend verzichtet, zur Kommunikation die öffentliche Infrastruktur genutzt, die Fixkostenbelastung dergestalt relativ niedrig gehalten wird und an die Stelle fester Hierarchien auch intern eine Kooperation nach dem Subsidiaritätsprinzip tritt). Praktisch bedeutet dies, daß für die Behandlung eines deutschen, französischen und gemeineuropäischen Kartellrechtsfalls konkret deutsche, französische und Gemeinschaftsbehörden kooperieren. Sollte in einem anderen Fall zusätzlich der italienische Markt betroffen sein,
IV. Kritik und Entwicklung eines eigenen Lösungsansatzes
221
bzw. ein integriertes Verwaltungshandeln von Kommission und nationalen Behörden begegnen123. Nur solange und soweit der Gemeinschaftsgesetzgeber derartige Lösungen (noch) nicht entwickelt hat, ist ein Ausgleich materieller und formeller Gerechtigkeitserwägungen auf der Ebene der Rechtsanwendung vorzunehmen. Dabei kommt dem Anrechnungsprinzip ein axiologischer Vorrang gegenüber einem bloßen Berücksichtigungsprinzip zu. bb) Erlaß punitiver Sanktionen und materiell-strafrechtlicher Richtlinien durch die Gemeinschaft bei gleichzeitigem Gesetzesvollzug durch nationale Behörden Soweit sich der supranationale Grundsatz des ne bis in idem an die Gemeinschaft als Gesetzgeber richtet, könnte ein Verstoß zunächst darin liegen, daß die Gemeinschaft einseitig den Grundsatz materieller Gerechtigkeit betonend ein immer stärkeres Netz supranationaler Verwaltungssanktionen knüpft bzw. durch Richtlinien die Mitgliedstaaten zum Erlaß von Strafnormen verpflichtet, ohne dafür Sorge zu tragen, daß eine mehrfache Bestrafung des Täter unterbleibt. Dies gilt insbesondere in den Fällen, in denen zumindest Teilaspekte des sanktionierten Verhaltens auch von nationalen Gesetzen unter Strafe gestellt sind. Daß eine solche Vorgehensweise dennoch zulässig sein kann, zeigen der Grundsatz der begrenzten Einzelermächtigung in Art. 5 Abs. 1 EGV und der Grundsatz der Subsidiarität in Art. 5 Abs. 2 EGV. Selbst dort, wo der Europäischen Gemeinschaft eine Kompetenz zur Schaffung materieller Sanktionsnormen zusteht, bedarf sie zum Erlaß von den Vollzug des Gemeinschaftsrechts regelnden Vorschriften einer besonderen Kompetenz124. Überdies stellt dort, wo auf nationaler und gewird speziell für diesen Fall auch die italienische Behörde einbezogen. Der Vorrang des Gemeinschaftsrechts könnte durch eine entsprechende Richtlinienkompetenz der Gemeinschaftsorgane abgesichert werden; die Interessen der Mitgliedstaaten ließen sich trotz der Verfahrenskonzentration durch Mitentscheidungsbefugnisse und Initiativrechte gewährleisten. 123 Zu ähnlichen Entwicklungen im Bereich des Strafrechts siehe auch Art. 24 CJ, wonach die Entscheidungen der europäischen Strafverfolgungsbehörden und der entsprechenden Entscheidungen der europäischen Gerichte auf dem gesamten Gebiet der europäischen Union gültig sein sollen und strafrechtliche Entscheidungen somit verkehrsfähig werden sollen. In eine ähnliche Richtung weisen – freilich eher traditionell ausgerichtete – Überlegungen, die sich überschneidenden Kompetenzen durch einen dreistufigen Instanzenzug aufzulösen; zu entsprechenden Überlegungen speziell für den Bereich des Wettbewerbsrechts siehe C. Jung, Subsidiarität im Recht der Wettbewerbsbeschränkungen, S. 256 ff.; zu den hierfür politikwissenschaftlich entwickelten Konstruktionen siehe Bogdandy, Supranationaler Föderalismus, S. 11 ff. 124 Zu dem rechtspolitischen Kontext des Subsidiaritätsprinzips im strafrechtlichen Integrationsprozeß bereits früh Sieber ZStW 103 (1991), 957 (974) und Zuleeg JZ 1992, 761 (768); allgemeiner König, Europarecht, Rn. 128; zu der eng damit verbundenen Frage der Auslegung der Gemeinschaftskompetenzen überhaupt siehe Lienbacher in: Schwarze,
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E. Der Grundsatz des ne bis in idem im europäischen Strafrecht
meinschaftsrechtlicher Ebene konkurrierende Kompetenzen bestehen125, das in Art. 5 EGV verankerte Subsidiaritätsprinzip eine allgemeine Kompetenzausübungs- und Kompetenzbegrenzungsregelung dar und führt in der Praxis der Kommission wie auch der Mitgliedstaaten zu einer entsprechenden Vorprüfung der (Sekundär-)Rechtsakte auf ihre Zulässigkeit126. Auch langfristig wird daher infolge des Subsidiaritätsprinzips an einer dezentralen Sanktionierung festzuhalten sein und hiervon nur abgewichen werden können, wenn und soweit die nationale Kontrolle versagt oder im Fall grenzüberschreitender Sachverhalte nicht wirksam genug vorgenommen werden kann127. Der Grundsatz formeller Gerechtigkeit – also vor allem die Ansprüche der Bürger auf Orientierung und Rechtssicherheit – muß also auf der Ebene der Rechtsetzung durch die Gemeinschaft zurücktreten, weil diese im Rahmen der den supranationalen Organen eingeräumten Kompetenzen nur unzulänglich geschützt werden können. Ein angemessener Ausgleich der widerstreitenden Elemente des Doppelbestrafungsverbots ist daher nur durch eine entsprechend stärkere Berücksichtigung des Elements der Rechtssicherheit auf der nationalen Ebene möglich128. Die Übertragung der Aufgabe der Gewährleistung formeller Gerechtigkeit auf die nationalen Gesetzgeber und Rechtsanwender hat dementsprechend Auswirkungen auf die europarechtlich geprägte Rechtsanwendung im Einzelfall. Wie sonst auch unterliegen die Anwendung und Auslegung des nationalen Rechts zunächst dem Gebot des – unter anderem in Art. 10 EGV zu verortenden – sog. Vorrangs des Gemeinschaftsrechts und des sog. Prinzips des effet utile129. Der EUV-Kommentar Art. 5 Rn. 7 ff. insb. Rn. 11 und Callies in: Callies / Ruffert, Kommentar zu EUV und EGV, Art. 5 Rn. 8 ff. (dort insbesondere auch zu Kompetenzerweiterungen durch die Lehre der sog. „implied powers“ und die „effet utile“-Auslegung). 125 Callies in: Callies / Ruffert, Kommentar zu EUV und EGV, Art. 5 Rn. 4, 18 ff. betont unter Hinweis auf den Normtext von Art. 5 Abs. 2 EGV, daß das Kriterium einer konkurrierenden Kompetenz eine formale Anwendungsvoraussetzung des Subsidiaritätsprinzips darstellt. 126 Zur erheblichen praktischen Bedeutung des Subsidiaritätsprinzips siehe Lienbacher in: Schwarze, EUV-Kommentar, Art. 5 Rn. 3, 5 und im sog. Maastricht-Urteil bereits BVerfG JZ 1993, 1100 (1105 ff., 1111 f.). 127 Spannowsky JZ 1994, 326 (335). 128 Eine solche Komplementärfunktion des nationalen Rechts erkennt auch der EuGH insbesondere im Bereich des indirekten Vollzugs des Gemeinschaftsrechts an und zwar selbst dann, wenn die Durchsetzung subjektiver Rechte des Gemeinschaftsrechts in Frage steht, vgl. etwa die Entscheidung EuGH Rs. 35 / 74, Slg. 1974, 1241 (1247 f.) für die Anwendung nationaler, verwaltungsrechtlicher Verjährungsvorschriften sowie Bleckmann NJW 1982, 1177 (1182); dem hier verfolgten Ansatz tendenziell ähnlich Bieber in: Kreuzer / Scheuning / Sieber, Europäisierung der mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen, S. 71 (73 f.) der im Zusammenhang des von ihm dargestellten Beispiels des Verfassungsrechts von einer optimalen Ausnutzung der (Rechts-)Vielfalt spricht, wenn die Austarierung prozedural als Ergebnis vieler Einzelschritte mit Hilfe wandelbarer Verfahren erfolgt. 129 Zur exakten Begründung dieser Grundsätze siehe Geiger, EUV-Kommentar, Art. 10 Rn. 27 ff. und das Urteil des EuGH im Fall Costa / E.N.E.L., Rs. 6 / 64, Slg. 1964, 1251 (1269 ff.).
IV. Kritik und Entwicklung eines eigenen Lösungsansatzes
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Vorrang des Gemeinschaftsrechts verpflichtet Behörden und Gerichte der Mitgliedstaaten, im Kollisionsfall entgegenstehende nationalstaatliche Normen gemeinschaftsrechtskonform auszulegen oder nicht anzuwenden130. Dabei können direkte Kollisionen wegen entgegenstehenden nationalen Rechts und indirekte Kollisionen, wenn die praktische Wirksamkeit des Gemeinschaftsrechts durch die Anwendung nationaler Verfahrens- oder Prozeßrechtsnormen (mittelbar) beeinträchtig wird, unterschieden werden131. Zugleich gewährt auf der Ebene der Norminterpretation der Grundsatz des effet utile die Funktionsfähigkeit und Einheit des Gemeinschaftsrechts132. Diese allgemeinen Beschränkungen zur Sicherung der Durchsetzung der Gemeinschaftsrechtsordnung können jedoch dort nicht eingreifen, wo der nationale Gesetzgeber im Sinne der Subsidiarität zur Wahrung formeller Gerechtigkeit tätig wird. Die Legitimation der Begrenzung des supranationalen Rechts ist in diesen Fällen keine rein nationale, sondern ihrerseits Ausfluß des Gemeinschaftsrechts und der Verschränkung der Rechtsordnungen. Der Grund der Begrenzung des Gemeinschaftsrechts liegt dann nicht in einer gemeinschaftsfeindlichen Haltung der nationalen Organe, sondern gerade in der Gewährleistung eines supranationalen Teilaspekts der Gesamtorganisation des Rechts, der an die Mitgliedstaaten zurückverwiesen wurde133. Auf der Ebene des Gemeinschaftsrechts könnte allenfalls eine klarstellende Klausel abgefaßt werden, die im Fall des Erlasses punitiver Verwaltungssanktionen oder kriminalrechtlicher Richtlinien die Aufgabe der Mitgliedstaaten betont, diese Maßnahmen mit ihrem Sanktionensystem insgesamt abzustimmen und einen einseitigen Überschutz der Gemeinschaftsrechtsgüter zu vermeiden.
d) Zusammenfassung Der Grundsatz des ne bis in idem enthält in seiner vertikalen Wirkrichtung grundsätzlich dieselben Verbürgungen wie in seiner systeminternen Wirkweise. Aufgrund der aus der Verschränkung der verschiedenen Rechtsordnungen folgenden notwendigen Flexibilität liegt es nahe, sich bei der Bestimmung des Begriffs der Tat und Strafe an Art. 4 7. ZPEMRK anzulehnen. Bei der Frage nach der Rechtfertigung möglicher Eingriffe gilt es zunächst, einen schonenden Ausgleich zwischen den Anforderungen materieller Gerechtigkeit und individueller Rechtssicherheit zu schaffen. Sehr wirkungsvoll erscheinen dabei Ansätze, die Fälle mehrfacher Bestrafung im Bereich des Direktvollzugs durch entsprechende organisatorische Maßnahmen aufzulösen und im Bereich des indirekten Vollzugs von 130 Ausführlich hierzu Bleckmann, Europarecht, Rn. 1086 ff.; Jokisch S. 46 f.; BGHSt 37, 168 (174 f.) für den Fall nicht fristgerecht umgesetzter Richtlinien. 131 Jokisch S. 50 – 53. 132 Bleckmann NJW 1982, 1177 (1179 f.). 133 Siehe dazu Bleckmann NJW 1982, 1177 (1182).
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E. Der Grundsatz des ne bis in idem im europäischen Strafrecht
Gemeinschaftsrecht die Verantwortung für eine hinreichende Berücksichtigung der Elemente formeller Gerechtigkeit auf die nationalen Hoheitsträger zu deligieren. Soweit derartige Möglichkeiten nicht vorhanden sind, kommen auf einer nachgelagerten Ebene das Anrechungs- und das Berücksichtigungsprinzip zum Tragen. Angesichts des derzeitigen Zustandes des Verhältnisses zwischen nationalem und supranationalem Sanktionenrecht läßt sich damit aus dem vertikalen Prinzip des ne bis in idem ein erheblicher Handlungsbedarf insbesondere des Gemeinschaftsgesetzgebers ableiten. Dabei entspricht das oben ausgearbeitete Konzept der auch ansonsten vom Europäischen Gerichtshof geübten Praxis, die Gemeinschaftsrechtsordnung im Bereich des Direktvollzugs zu einer echten eigenständigen Rechtsordnung auszubauen und in Bereichen indirekten Gesetzesvollzugs häufig komplementär auf die nationalen Rechte zu verweisen134. Um den Standard zu gewährleisten, den materiell auch der EGMR bereits im Fall Gradinger135 vorgegeben hat, muß verfahrensrechtlich für eine Kompatibilität der Rechtsordnungen gesorgt werden136.
3. Exemplifizierung am Recht der Bundesrepublik Deutschland Wie sich diese Forderungen konkret umsetzen lassen, kann aufgrund der Unterschiede zwischen den nationalen Systemen und den oben geforderten Umsetzungsspielräumen nur gesondert für jeden Mitgliedstaat ermittelt werden137. Das Recht der Bundesrepublik Deutschland erscheint für eine solche Exemplifizierung besonders geeignet, weil die Problematik des Verbots mehrfacher Strafverfolgung im Bereich des Kartellrechts häufig vor dem Hintergrund des Falles Wilhelm / Bundeskartellamt diskutiert wird und das deutsche Recht auch intern strikt zwischen Ordnungswidrigkeitenrecht und Strafrecht unterscheidet. Die nachfolgenden Ausführungen beschränken sich dabei auf klassische Grundkonstellationen des Verbots mehrfacher Strafverfolgung. Detailprobleme wie zum Beispiel im Wettbewerbsrecht Fragen nach der Identität der Person bei Verstößen verschiedener Toch134 Zur Praxis des Verweises auf lückenfüllendes nationales Recht siehe Bleckmann NJW 1982, 1177 (1182); siehe aus der Rechtsprechung des EuGH nur bereits die frühen Urteile in Rs. 94 / 71, Slg. 1972, 307 (317 ff.); EuGH Rs. 96 / 71, Slg. 1972, 1005 (1015); EuGH Rs. 35 / 74, Slg. 1974, 1241 (1247 f.); EuGH Rs. 118 / 76, Slg. 1977, 1177 (1188). 135 EGMR, Urteil vom 23. Oktober 1995, Fall Nr. 33 / 1994 / 480 / 562; siehe dazu auch oben C. I. 2. b) aa). 136 Wie eine solche erreicht werden kann, skizziert beispielhaft Bieber in: Kreuzer / Scheuning / Sieber, Europäisierung der mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen, S. 71 (75 ff.). 137 Einen auch historischen Überblick über die wechselnde Einordnung des Wirtschaftsstrafrechts in den Bereich des Verwaltungssanktionenrechts und des Kriminalstrafrechts in den westeuropäischen Rechtsordnungen gibt Tiedemann GA 1969, 321 (323 ff.); als Beispiele für die Divergenz der Systeme seien nur die Unterschiede in der Unterteilung in Kriminal- und Verwaltungsstrafrecht, der Strafbarkeit der juristischen Person, der Bemessung von Geldstrafen oder der Anordnung von Nebenfolgen angeführt.
IV. Kritik und Entwicklung eines eigenen Lösungsansatzes
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ter- / Muttergesellschaften eines Konzerns138, Fragen der bindenden Wirkung von Negativattesten, Freistellungsentscheidungen oder nicht förmlichen Erledigungsentscheidungen139 werden nicht angesprochen.
a) Die Problematik konkurrierender nationaler und gemeinschaftlicher Zuständigkeiten am Beispiel des Wettbewerbsrechts Wirtschaftspolitisch gehört es zu den wichtigsten Aufgaben eines Systems, die Voraussetzungen für einen freien Wettbewerb zu schaffen und aufrechtzuerhalten. Zu diesem Zweck wurden in Deutschland mit dem Gesetz zur Bekämpfung von Wettbewerbsbeschränkungen und auf Gemeinschaftsebene mit den Art. 81 ff. EGV und der dazu erlassenen Durchführungsverordnung 17 / 62 nahezu zeitgleich ähnliche Instrumentarien zum Schutz des nationalen und des europäischen Marktes eingeführt. Um eine möglichst effektive und einheitliche Durchsetzung des Gemeinschaftsrechts zu gewährleisten, erklärt Art. 9 Abs. 2 VO 17 / 62 neben den nationalen Behörden auch die Kommission für die Anwendung der Art. 81 ff. für zuständig, wobei Geldbußen gem. Art. 15 VO 17 / 62 ausschließlich von der Kommission verhängt werden können. Wenn die Kommission ein Verfahren eingeleitet hat, wird diese für die Anwendung der Art. 81 ff. EGV allein zuständig und die Befugnisse der mitgliedstaatlichen Behörden werden auf Informationsrechte und das Recht zur Stellungnahme beschränkt. Die Anwendung des nationalen Wettbewerbsrechts bleibt von dieser Regelung ebenso unberührt wie ein mögliches Strafverfahren zum Beispiel wegen eines Vergehens gem. § 240 StGB. Da eine Koordination der materiellen Rechte unterblieben ist, waren Konstellationen, wie sie der EuGH im Fall Wilhelm / Bundeskartellamt zu entscheiden hatte, somit bereits beim Erlaß der entsprechenden Rechtsnormen angelegt. Obwohl der mit diesen Regelungen intendierte umfassende Schutz der nationalen wie der europäischen Märkte ein legitimes Ziel der Gemeinschaften darstellt, könnte mit der Aufspaltung der Zuständigkeiten gegen das Prinzip des ne bis in idem verstoßen worden sein. Die Anordnung paralleler Verfahren wäre nämlich nicht erforderlich140 gewesen, wenn der Wettbewerb auf den verschiedenen Märkten durch andere Maßnahmen gleichermaßen hätte geschützt werden können: Im Rahmen dieser Erforderlichkeitserwägungen ist insbesondere die Legislative aufgefordert, durch eine entsprechende Ausgestaltung des Verfahrens und eine Besetzung der Entscheidungsgremien dafür Sorge zu tragen, daß ein Sachverhalt möglichst in einem Verfahren umfassend abgehandelt werden kann, die GrundanDazu einführend Mansdörfer / Timmerbeil WM 2004, 362 (367 ff.). Zum letzten Problemkreis siehe aus dem jüngeren Schrifttum nur Wolf EuZW 1994, 233 (234). 140 Zur (in der Praxis teilweise eingeschränkten) Erforderlichkeits- und Angemessenheitsprüfung des EuGH siehe Callies EuZW 2001, 261 (262); Nettesheim EuZW 1995, 106 (106 ff.); Bogdandy JZ 2001, 157 (163 ff.); Kischel EuR 2000, 380 (382 ff.). 138 139
15 Mansdörfer
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E. Der Grundsatz des ne bis in idem im europäischen Strafrecht
forderungen des Prinzips des ne bis in idem also beachtet werden. Die notwendigen gestalterischen Mittel hierfür sind die Befugnisse der Europäischen Gemeinschaften zu einer verstärkten materiellen Harmonisierung der Rechte und umfassende Kompetenzen zur Ausgestaltung des Verfahrens im Bereich des Direktvollzugs141. Denkbar wäre etwa ein Verfahren, das durch die Entsendung nationaler Wettbewerbshüter oder sonstiger nationaler Verbindungsbeamter in das entsprechende Entscheidungsorgan der Kommission und entsprechende Berücksichtigungspflichten bezüglich ihrer Stellungnahmen eine hinreichende Einbeziehung nationaler Interessen gewährleistet. Durch eine gleichzeitige Subsidiaritätsklausel oder durch ähnliche Maßnahmen könnten die mehrfachen Bußgeldverfahren dann vermieden werden. Praktikabilitätserwägungen dürften einem solchen organisationsrechtlichen Vorgehen kaum entgegen stehen, da bereits die 1989 erlassene Fusionskontrollverordnung im Ansatz genau solch flexible Zuständigkeitsregelungen vorsieht und Art. 87 Abs. 2e EGV der Kommission die notwendige Kompetenz zur Regelung möglicher Kollisionen einräumt142. Soweit deutsche bzw. europäische Kartellbehörden Bußgelder verhängen, sind das deutsche Ordnungswidrigkeitenrecht und das gemeinschaftsrechtliche Verwaltungssanktionenrecht im wesentlichen vergleichbar143, so daß nur noch die Strafzumessungskriterien und deren Einfluß auf das Strafmaß aufeinander abgestimmt und gegebenenfalls angeglichen werden müssen. Erste Ansätze hierzu finden sich in den Art. 11 ff. VO 1 / 2003: Auch danach bleibt zwar für die Verhängung einer Geldbuße de lege lata144 allein die Kommis141 In diese Richtung ging beispielsweise Art. 3 des Entwurfs für eine neue Verordnung zur Durchführung der Art. 81 und 82 EGV (ABl. EG 2000 Nr. C 365, 284 [287]: „Bei Vereinbarungen zwischen Unternehmen, [ . . . ] im Sinne von Art. 81 EG-Vertrag und bei Fällen der mißbräuchlichen Ausnutzung einer beherrschenden Stellung im Sinne von Art. 82, die geeignet sind, den Handel zwischen Mitgliedstaaten zu beeinträchtigen, ist allein das Wettbewerbsrecht der Gemeinschaft unter Ausschluß des Wettbewerbsrechts der Mitgliedstaaten anwendbar.“), der sich allerdings insbesondere in Bezug auf Art. 82 EG-Vertrag nicht durchsetzen konnte, vgl. die endgültige Fassung von Art. 3 VO 1 / 2003 (ABl. EG 2003 Nr. L 1 / 8; siehe dazu auch Hossenfelder / Lutz WuW 2003, 118 [120 f.]); zu den im Rahmen der Reform des europäischen Wettbewerbsrechts erwogenen verfahrensrechtlichen Ansätzen siehe Böge / Scheidgen EWS 2002, 201 (201 ff.). 142 Anders als die VO 17 / 62 sieht die deutlich später erlassene Fusionskontrollverordnung 4064 / 89 in Art. 9, 21 Abs. 2 ausdrücklich vor, daß die Kommission Fälle ganz oder teilweise an die Mitgliedstaaten verweisen kann bzw. daß die Mitgliedstaaten ihr Recht auf Fälle von gemeinschaftsweiter Bedeutung nicht anwenden; siehe hierzu auch Bohnert in: Boujong, Karlsruher Kommentar zum Ordnungswidrigkeitenrecht, Einleitung Rn. 252. 143 Ebenso Bohnert in: Boujong, Karlsruher Kommentar zum Ordnungswidrigkeitenrecht, Einleitung Rn. 251; Jescheck ZStW 65 (1953), 496 (503 ff.); unter Hinweis auf bestehende gemeinschaftsrechtliche Besonderheiten ebenso bereits Winkler, Geldbuße im Wettbewerbsrecht der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft, S. 81 ff; einen rechtsvergleichenden Überblick über die verfahrensrechtlichen Unterschiede bei der Anwendung des europäischen Kartellrechts durch die nationalen Behörden geben Zinsmeister / Lienemeyer WuW 2002, 331 (333 ff.).
IV. Kritik und Entwicklung eines eigenen Lösungsansatzes
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sion zuständig (Art. 23 VO 1 / 2003), das supranationale Verfahren wird jedoch mit dem nationalen Verfahren abgestimmt. Zunächst wird dafür gesorgt, daß sowohl auf nationaler wie auf supranationaler Ebene hinreichend Informationen über die laufenden Verfahren vorhanden sind. So muß die Kommission gem. Art. 11 Abs. 3 u. 4 VO 1 / 2003 unterrichtet werden, wenn die Wettbewerbsbehörden der Mitgliedstaaten aufgrund von Artikel 81 oder Artikel 82 des Vertrags tätig werden. Diese Informationen können auch den Behörden der Mitgliedstaaten zur Verfügung gestellt werden. Bedeutung entfalten diese Informationen, wenn dann gem. Art. 13 VO 1 / 2003 ein Verfahren ausgesetzt oder eingestellt wird, weil sich mit einer Beschwerde bereits die Behörden eines anderen Mitgliedstaates beschäftigen bzw. beschäftigt haben145. Problematisch ist, daß auch in den Fällen, in denen die Kommission beschließt, selbst tätig zu werden, nur die Zuständigkeit der Mitgliedstaaten zur Anwendung der Art. 81 f. EGV entfällt, aber nicht auch die zu der Anwendung des nationalen Rechts. Damit bleiben Fallkonstellationen wie diejenige im Fall Walt Wilhelm / Bundeskartellamt auch weiterhin möglich146. Dies ist um so bedauerlicher, als vor einer Entscheidung der Kommission gem. Art. 23 VO 1 / 2003 der Beratende Ausschuß gem. Art. 14 VO 1 / 2003 gehört werden muß, in dem gerade auch die verschiedenen nationalen Interessen vertreten werden können. Eine daneben theoretisch denkbare Kollision gemeinschaftlicher Geldbußen mit nationalem Strafrecht – namentlich mit § 298 StGB – scheidet in diesem Bereich für das deutsche Recht aus, da sich Geldbußen gem. Art. 15 VO 17 / 62 ausschließlich gegen Unternehmen oder Unternehmensvereinigungen richten und eine Strafbarkeit juristischer Personen dem deutschen Kriminalstrafrecht fremd ist. Neben dem Unternehmen gegebenenfalls noch Personen aus dem Bereich der Unternehmensführung persönlich kriminalstrafrechtlich haften zu lassen, begegnet unter dem Gesichtspunkts des Verbots der Doppelbestrafung wegen der Verschiedenheit der betroffenen Rechtssubjekte keinen Bedenken. Eines Ausgleichs zwischen den verschiedenen Elementen des Prinzips des ne bis in idem als Ausprägung systemorganisierter Freiheit im Rahmen von Verhältnismäßigkeitserwägungen im engeren Sinne bedarf es somit nicht. Der Rückgriff des EuGH im Fall Wilhelm / Bundeskartellamt147 und des BGH in der sog. 144 Zu den möglichen Folgen, wenn der deutsche Gesetzgeber sich dazu entschließen würde, zukünftig auch Verstöße gegen die Art. 81 und 82 EGV unmittelbar mit Bußgeld zu bewehren, siehe Hossenfeler / Lutz WuW 2003 118 (119 f.). 145 In der Praxis soll innerhalb einer „indikativen Fallverteilungsfrist“ von nicht mehr als 3 Monaten geklärt werden, welche Behörde den Fall bearbeitet, wobei als hauptsächliches Fallverteilungskriterium der „wettbewerbliche Schwerpunkt des Falles“ herangezogen werden soll, siehe näher Hossenfelder / Lutz WuW 2003, 118 (125). 146 Ebenso Hossenfelder / Lutz WuW 2003, 118 (125 f.); anders, wenn Art. 3 des Entwurfs für eine neue Verordnung zur Durchführung der Art. 81 und 82 EGV (ABl. EG 2000 Nr. C 365 / 284 [287] in Kraft getreten wäre, der zu einer alleinigen Anwendbarkeit des gemeinschaftsrechtlichen Wettbewerbsrechts geführt hätte. 147 EuGH Rs. 14 / 68, Slg. 1969, 1 (15).
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E. Der Grundsatz des ne bis in idem im europäischen Strafrecht
„Teerfarbenentscheidung“148 auf die Pflicht, die vorangegangene Sanktion bei der Bemessung der nachfolgenden Sanktion lediglich zu berücksichtigen, erweist sich damit als vorschnell. Da die Doppelbestrafung keine Folge einer mangelhaften Anpassung des deutschen Rechts an das Gemeinschaftsrecht darstellt, sondern, wie der Fall Procureur de la République / Giry und Guerlain149 zeigt, geradezu im Gemeinschaftsrecht angelegt ist, hätte nach der hier vertretenen Auffassung ein Verstoß gegen das Prinzip des ne bis in idem vorgelegen. In der Folge eines stattgebenden Urteils hätte es dann nahe gelegen, daß die Kommission die bestehende Regelung mit dem Ziel einer besseren Koordinierung der verschiedenen Rechte überprüft und entsprechend den Erfordernissen der Rechtssicherheit ändert.
b) Die Problematik gemeinschaftsrechtlicher Sanktionen bei indirektem Verwaltungsvollzug an Beispielen aus dem Bereich der Agrarordnung Die Gefahr einer mehrfachen Strafverfolgung bei indirektem Vollzug von Gemeinschaftsrecht besteht insbesondere deshalb, weil viele Verordnungen gemeinschaftsrechtliche Sanktionen unabhängig von der Ahndung einer Tat nach nationalem Recht vorsehen150. Soweit man diese Sanktionen nach den Grundsätzen des EGMR als strafrechtlich im weiteren Sinne ansehen muß, können bei deren Anwendung in Deutschland Konkurrenzprobleme mit daneben bestehenden nationalem Kriminalstrafrecht – namentlich den §§ 263, 264 StGB, 370 AO – und Ordnungswidrigkeitenrecht – z. B. § 18 TierSchG – entstehen. Deutlich werden diese Probleme der Kumulation der verschiedenen Sanktionsnormen in folgendem – fiktiven, aber einem realen Fall nachgebildeten 151 – Beispiel: BGHSt 24, 54 (56 ff.). EuGH Rs. 253 / 78 und 1 bis 3 / 79, Slg. 1980, 2327 (2374 f.); dazu auch Wolf EuZW 1994, 233 (234). 150 Beispielhaft etwa die Regelung in Art. 6 Abs. 2 VO 3887 / 92 („Wird festgestellt, daß die Zahl der bei der Kontrolle festgestellten tatsächlich prämienfähigen Rinder unter der Zahl der in einem Prämienantrag angegebenen Tiere liegt, so wird der Prämienbetrag auf der Grundlage der festgestellten Tiere berechnet. [ . . . ] Handelt es sich jedoch um falsche Angaben, die absichtlich oder aufgrund schwerer Nachlässigkeit gemacht wurden, so wird der betreffende Erzeuger ausgeschlossen von der Gewährung der betreffenden Beihilfe im betreffenden Kalenderjahr und der Gewährung derselben Beihilfe im folgenden Kalenderjahr. [ . . . ]“) und in Art. 7 Abs. 1 VO 3887 / 92 („Die in dieser Verordnung vorgesehenen Strafen gelten unbeschadet der im einzelstaatlichen Recht vorgesehenen zusätzlichen Strafen“); einen – teilweise allerdings nicht mehr aktuellen – Überblick über vergleichbare Verordnungen geben Böse, Sanktionen, S. 385 und Hix in: Schwarze, EUV-Kommentar, Art. 34 Rn. 97 ff. 151 Der tatsächliche Hintergrund des Falles ist dargestellt bei Rump in: Dannecker, Subventionsbetrug im EG-Bereich, S. 35 (40). 148 149
IV. Kritik und Entwicklung eines eigenen Lösungsansatzes
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Bei einer Prüfung auf dem Hof des Bauern B fiel auf, daß dieser, um Förderbeihilfen für eine größere Menge als die von ihm tatsächlich gehaltene Anzahl von Tieren zu erhalten, Manipulationen an den Ohrmarken der Tiere vorgenommen hatte. Diese Manipulationen haben den Tieren erhebliche, aber rasch abklingende Schmerzen bereitet. aa) Beispiel zum Verhältnis von nationalen und supranationalen Verwaltungssanktionen Gegen den Bauer B ergeht von Seiten des örtlichen Landratsamts eine – neuerdings auf VO 2419 / 2001 gestützte – Verfügung, daß er wegen des Erschleichens überhöhter Beihilfen die erhaltenen Gelder zurückzahlen muß und auch im folgenden Jahr keine Beihilfen erhält152. Insgesamt bedeutet dies für B eine finanzielle Belastung von mehreren 10.000 A und trifft ihn angesichts der Krise in der Landwirtschaft schwer. Später geht B ein auf § 18 Abs. 1 Nr. 1 TierSchG gestützter Bußgeldbescheid über 3.000 A ebenfalls von Seiten des Landratsamts wegen Tierquälerei zu. Versteht man den Grundsatz des ne bis in idem so, daß ein tatsächliches und einen Sinnzusammenhang bildendes Verhalten – vorliegend also die Manipulation an den Ohrmarken sowie die etwaigen Falschangaben etc., um die Beihilfen zu erhalten – nicht mehrfach verfolgt und bestraft werden soll, tritt der Verstoß gegen dieses Prinzip hier offen zu Tage. Wird darüber hinaus die Kompetenz der Europäischen Gemeinschaft, auch im Agrarbereich materielle Sanktionsnormen zu erlassen, anerkannt, liegt die Koordination der verschiedenen Rechte und damit die Aufgabe, die Begrenzung des Gewährleistungsbereichs zu rechtfertigen, vorrangig beim nationalen Gesetzgeber und Rechtsanwender. Zwar hat mittlerweile auch der Gemeinschaftsgesetzgeber mit Art. 6 VO 2988 / 95 erste Regelungen zur Koordinierung der verschiedenen Sanktionensysteme geschaffen; deren Grenzen werden jedoch rasch deutlich153. Neben ihrem stark ein152 Der Sanktionscharakter von Kürzungsregelungen und Leistungssperren ist zwar umstritten: dafür sprechen sich aus die Bundesregierung in EuGH Rs. C-240 / 90, Deutschland / Kommission, Ziff. 17 (NJW 1993, 47 [47]); Heitzer, Sanktionen, S. 93 ff., 105 ff., insbes. 107 ff.; Böse, Sanktionen, S. 283 ff.; Pache, Schutz finanzieller Interessen, S. 274 ff.; der EuGH stellt hierzu in der Rs. C-240 / 90, Deutschland / Kommission, Ziff. 25 ff. nur fest, daß die Maßnahme nicht strafrechtlicher Art ist (NJW 1993, 47 [48]: „Der streitige Leistungsausschluß stellt nämlich keine Strafsanktion dar.“); Tiedemann NJW 1993, 49 (49) stellt den Leistungsausschluß ausdrücklich dem punitiven Verwaltungssanktionenrecht ähnlich deutschem Ordnungswidrigkeitenrecht gleich; aus neuerer Zeit ist auch die entsprechende Einordnung der Leistungssperre als verwaltungsrechtliche Sanktion in Art. 5 Abs. 1 VO 2988 / 95 ein recht deutlicher Hinweis für die Einordnung der Leistungssperre als punitive Sanktion; eine rein oder überwiegend präventive Funktion misst ihr dagegen Vogel in: Dannecker, Subventionsbetrug in der EG, S. 170 (179) bei. 153 Tiedemann in: Kreuzer / Scheuning / Sieber, Europäisierung der mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen, S. 133 (142) bezeichnet diese Regelung kurz zusammenfassend als Nor-
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E. Der Grundsatz des ne bis in idem im europäischen Strafrecht
geschränkten Anwendungsbereich154 läßt Art. 6 Abs. 3 VO 2988 / 95 in weitem Umfang eine Wiederaufnahme des Verfahrens zu, so daß den Vertrauensschutzinteressen des Betroffenen nur unzureichend Rechnung getragen wird. So kann die zuständige Behörde gem. Art. 6 Abs. 1 VO 2988 / 95 ein Verfahren zur Verhängung von finanziellen (Gemeinschafts-)Sanktionen zwar aussetzen, wenn gegen die betreffende Person wegen derselben Tat ein Strafverfahren eingeleitet worden ist. Kommt das Strafverfahren zum Abschluß, soll das ausgesetzte Verwaltungsverfahren gem. Art. 6 Abs. 3 VO 2988 / 95 aber wieder aufgenommen werden, sofern allgemeine Grundsätze dem nicht entgegenstehen. Ob das Verbot einer mehrfachen Strafverfolgung einen solchen Grundsatz darstellt, ist zunächst unklar. Nachdem die Erwägungsgründe der Verordnung dem Prinzip des ne bis in idem ausdrücklich Rechnung tragen und die grundsätzliche Konzeption des Prinzips dem nicht entgegensteht, ist dies aber anzunehmen155. Der Begriff des „Abschlusses des Strafverfahrens“ wird in Art. 6 Abs. 3 VO 2988 / 95 äußerst weit verstanden, so daß nach den Erwägungsgründen ausdrücklich auch Vergleiche und damit Rechtsfiguren wie die französische und belgische transactie erfaßt sind156. Gem. Art. 6 Abs. 4 VO 2988 / 95 muß die Verwaltungsbehörde im Falle einer Wiederaufnahme dafür Sorge tragen, daß eine der in der Gemeinschaftsregelung vorgesehenen Sanktion mindestens gleichwertige Sanktion verhängt wird. Im deutschen Recht liegt der Ansatzpunkt zur Bewältigung dieser Problematik zunächst in der Gleichsetzung der supranationalen Sanktionen mit nationalen Ordnungswidrigkeiten. Angesichts der bisherigen Untätigkeit des Gesetzgebers, der es versäumt hat, durch eine ausdrückliche Regelung in diesem Bereich für Klarheit zu sorgen157, verbleibt es beim Rechtsanwender, den Begriff der Ordnungswidrigkeit entsprechend europarechtskonform zu interpretieren und hierunter auch punimierung des Grundsatzes des ne bis in idem „im Sinne der Möglichkeit einer Anrechnung entsprechend dem Verhältnismäßigkeitsprinzips“. 154 Siehe nur Art. 6 Abs. 5 VO 2988 / 95; Heitzer, Sanktionen, S. 172 f. weist darauf hin, daß die praktische Bedeutung dieses Regelungsmechanismus wegen des Vorbehalts in Art. 6 Abs. 1 VO 2988 / 95 zugunsten solcher Sanktionen, die auf zum Zeitpunkt des Inkrafttretens der Verordnung bestehenden sektorbezogenen Regelungen beschlossen wurden oder werden, gering ist, und will Art. 6 zudem auf das Verhältnis von supranationalem Sanktionenrecht und nationalem (Kriminal-)Strafrecht beschränken; Letzteres kann indessen aufgrund des weiten Verständnisses des Strafrechts in der Rechtsprechung des EGMR, der unterschiedlichen Ausgestaltung des Verhältnisses von Kriminal- und Verwaltungsstrafrecht in den Mitgliedstaaten und der auch bei nicht kriminalstrafrechtlichen Sanktionen bestehenden Interessen an einer insgesamt verhältnismäßigen Bestrafung nicht überzeugen. 155 Anderer Auffassung ist an dieser Stelle Heitzer, Sanktionen, S. 172 ff., die zwar im Ansatz davon ausgeht, daß der Grundsatz des ne bis in idem hier im selben Umfang gilt wie im innerstaatlichen Recht, dann allerdings übersieht, daß dieses Prinzip auch Anforderungen an den Normgeber enthält, seine Verfahren so zu organisieren, daß eine mehrfache Strafverfolgung von vorneherein weitestgehend vermieden wird. 156 Ebenso Heitzer, Sanktionen, S. 171. 157 So bereits die Forderung von Tiedemann im Anschluß an das Urteil des EuGH in Rs. C-240 / 90, Deutschland / Kommission, NJW 1993, 47 (49).
IV. Kritik und Entwicklung eines eigenen Lösungsansatzes
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tive Verwaltungssanktionen in gemeinschaftsrechtlichen Verordnungen zu fassen158. Sind danach die Voraussetzungen für eine Anwendung dieser Verfahrensordnung gegeben, steht mit den §§ 19 ff., 36 ff. OWiG ein hinreichendes Instrumentarium zur Bewältigung des gemeinschaftsrechtlich ausgelösten Konflikts zur Verfügung: So löst sich das Problem unterschiedlicher Zuständigkeiten für die Ahndung der verschiedenen Verstöße relativ leicht durch § 39 Abs. 1 OWiG. Danach gebührt im Fall mehrfacher Zuständigkeiten derjenigen Verwaltungsbehörde der Vorzug, die den Betroffenen wegen der Tat zuerst vernommen hat. Soweit die Unregelmäßigkeiten daher im Rahmen von Kontrollen entdeckt werden, ist für die Aburteilung der Tat als Ordnungswidrigkeit insgesamt die Behörde zuständig, die die Subventionen gewährt hat. Auch dort, wo dies nicht der Fall sein sollte, können sich die Behörden wegen der Besonderheiten des Gemeinschaftsrechts gem. § 39 Abs. 2 S. 1 OWiG auf eine Zuständigkeit der Landwirtschaftsbehörden verständigen. Daß die Sanktion insgesamt den Rahmen der Verhältnismäßigkeit nicht überschreitet, wird im weiteren durch § 19 OWiG gewährleistet, der für Fälle der Tateinheit die Festsetzung einer einzigen Geldbuße bestimmt. Im vorliegenden Beispiel wurden diese Regelungen von den zuständigen Behörden nicht angewendet. Gleichwohl hätte ein zweiter Bußgeldbescheid nicht ergehen dürfen, da diesem gem. § 84 Abs. 1 OWiG die (beschränkte) Rechtskraft des ersten Bescheids entgegen steht. Sie bewirkt, daß dieselbe Tat nicht mehr als Ordnungswidrigkeit verfolgt werden darf. Im Ergebnis erweist sich daher in dem hier besprochenen Beispielsfall der Bußgeldbescheid wegen Verstoßes gegen das Tierschutzgesetz als rechtswidrig159. Die Rechtskraft des Erstbescheids wäre von Amts wegen als Verfahrenshindernis zu beachten gewesen.
158 Daß auch die deutsche Exekutive der Auffassung ist, daß der Beihilfeausschluß eine punitive Sanktion darstellt, ergibt sich aus der Rs. C 240 / 90, Bundesrepublik Deutschland / Kommission der Gemeinschaft , Ziff. 17 (NJW 1993, 47 [47]), in der eine entsprechende Kompetenz der europäischen Gemeinschaft bestritten wurde; soweit Bohnert in: Boujong, Karlsruher Kommentar zum OWiG, Einleitung Rn. 249 meint, das Bußgeldrecht der EG stehe selbständig neben dem OWiG, bezieht er sich damit auf den Bereich des Direktvollzugs und macht zu dem hier thematisierten Bereich keine Aussage; König in: Göhler, Ordnungswidrigkeitenrecht, Einl Rn. 17, meint immerhin, ohne auf diese Frage einzugehen, die gemeinschaftsrechtliche Geldbuße auf dem Gebiet des Kartellrechts habe der Sache nach dieselbe Funktion wie die Geldbuße des deutschen Ordnungswidrigkeitenrechts; unter Hinweis auf bestehende gemeinschaftsrechtliche Besonderheiten ebenso bereits Winkler, Geldbuße im Wettbewerbsrecht der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft, S. 81 ff. 159 Eine Nichtigkeit des Bußgeldbescheids wird man wegen der schweren rechtlichen Fragen der Anwendbarkeit des OWiG auf das Recht der punitiven Sanktionen im Gemeinschaftsrecht nicht annehmen können; zu den möglichen Rechtsmitteln, die dem Betroffenen offen stehen, siehe ausführlich Steindorff in: Boujong, Karlsruher Kommentar zum Ordnungswidrigkeitenrecht, § 84 Rn. 9.
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E. Der Grundsatz des ne bis in idem im europäischen Strafrecht
bb) Beispiel zum Verhältnis von supranationalem Sanktionenrecht und nationalem Strafrecht Zur Verdeutlichung dieses Konfliktes läßt sich das Eingangsbeispiel nun so fortführen, daß dem Bauer nach der behördlichen Verfügung und dem Bußgeldbescheid noch ein Strafbefehl über 120 Tagessätze wegen eines Vergehens gem. § 264 StGB zugeht. Der Eingriff in den von dem Prinzip des ne bis in idem gewährleisteten Schutzbereich erscheint in dieser Fallvariante zunächst weitaus größer, da nach der behördlichen Verfügung nicht nur ein weiterer Bußgeldbescheid ergeht, sondern sogar eine kriminalstrafrechtliche Entscheidung. Indessen betont das nationale Recht in diesem Fall das materielle Recht dergestalt, daß es Entscheidungen im Ordnungswidrigkeitenverfahren gem. § 84 OWiG nur eine beschränkte Rechtskraftwirkung zukommen läßt. Eine Tat kann daher nochmals als (Kriminal)Straftat verfolgt werden160. Mit Rücksicht auf den Grundsatz des ne bis in idem müssen die zuvor ergangenen Verwaltungsentscheidungen in dem nachfolgenden Strafverfahren allerdings gem. § 86 OWiG aufgehoben161 und bereits bezahlte Geldbeträge auf die Geldstrafe angerechnet werden. Der Begriff der Geldbeträge ist bewußt weit gefaßt und meint neben Geldbußen auch Mehrerlöse, den Wertersatz an Stelle der Einziehung eines Gegenstandes, den Verfall eines Geldbetrags oder sogar die Kosten des Bußgeldverfahrens162. Aufgrund dieser im geltenden Recht vorgesehen Ausgleichsmechanismen bleibt die Entscheidung der Verwaltungsbehörde nur pflichtwidrig, wenn sie trotz gegebener Anhaltspunkte für eine Straftat einen Bußgeldbescheid erläßt, anstatt die Angelegenheit insgesamt gem. § 41 Abs. 1 OWiG an die Staatsanwaltschaft abzugeben163. Ein umfassendes Verfahrenshindernis entsteht jedoch nicht. Auch wenn die Vorkehrungen im nationalen Recht auf den ersten Blick geeignet erscheinen, die dem nationalen Gesetzgeber durch das Subsidiaritätsprinzip zugewiesene Aufgabe, die Rechtssicherheit zu schützen, hinreichend zu bewältigen, ergeben sich bei näherer Betrachtung doch einige Schwierigkeiten. So entstehen aus der Verschränkung der verschiedenen Rechtsordnungen namentlich im Rahmen der Urteilsfindung und Strafzumessung einige Konflikte. Insbesondere darf wegen der Verpflichtung der Mitgliedstaaten zur Gemeinschaftstreue das supranationale Recht durch die Anwendung des nationalen Rechts nicht unwirksam werden. Der Eintritt der Rechtsfolgen des Art. 38 VO 2419 / 2001 muß vielmehr als Ahndungsminimum gewährleistet bleiben, das Maß des Beihilfeaus160 Allgemeine Meinung, siehe nur Seitz in: Göhler, Ordnungswidrigkeitengesetz, § 84 Rn. 13; Lemke, Ordnungswidrigkeitengesetz, § 84 Rn. 6. 161 Seitz in: Göhler, Ordnungswidrigkeitengesetz, § 84 Rn. 6. 162 Seitz in: Göhler, Ordnungswidrigkeitengesetz, § 86 Rn. 10a. 163 Lemke, Ordnungswidrigkeitengesetz, § 84 Rn. 6; entsprechend hätte – im Fall einer gerichtlichen Überprüfung – das Gericht die Angelegenheit gem. § 81 OWiG in das Strafverfahren überführen müssen.
IV. Kritik und Entwicklung eines eigenen Lösungsansatzes
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schlusses muß also als Untergrenze für die im Strafverfahren zu verhängende Strafe Wirkung entfalten164. Sonstige Nebenfolgen können vom Gericht gem. § 21 Abs. 1 S. 2 OWiG verhängt werden165. Da Beihilfeausschlüsse als Sanktionen im deutschen Strafrecht unbekannt sind, könnte hier von Seiten der Judikative eine Zuordnung teils zur Strafe im engeren Sinne und teils zu den Nebenfolgen gem. § 21 Abs. 1 S. 2 OWiG stattfinden; Regelungen wie Art. 38 VO 2419 / 2001 könnten aber auch Anlaß für die Legislative sein, eine explizit normative Lösung des Problems anzugehen. Eine extensive europarechtliche Auslegung von § 21 Abs. 1 S. 2 OWiG seitens der Judiaktive erscheint insbesondere angesichts des historischen Hintergrunds und des Normzwecks, das tateinheitliche Zusammentreffen ungleichartiger Unrechtsformen zu regeln, möglich166. Faßt man unter dem Begriff der Nebenfolge weiter alle neben der Ahndung durch Bußgeld wegen der Ordnungswidrigkeit zulässigen Maßnahmen zusammen167, so können von Seiten des Gerichts auch solche Maßnahmen angeordnet werden, die im Grunde keine Sanktionswirkung haben sollen. Da die richterliche Rechtsfortbildung zumal in einem äußerst grundrechtsrelevanten Bereich in Anbetracht des Parlamentsvorbehalts und des Wesentlichkeitsprinzips begrenzt ist168, sollte die Judikative jedoch den Gesetzgeber auffordern, entsprechende ausdrückliche Regelungen zu erlassen. Dabei kann die Aufgabe, das supranationale Recht in das nationale zu integrieren, zugleich zu einem Überdenken der nationalen Strukturen und zu einer Rechtsvereinheitlichung von innen führen169. Im konkreten Fall sieht etwa das portugiesische Recht eine Leistungssperre als eigene Sanktion für Ordnungswidrigkeiten vor, in Spanien kann der Angeklagte mit der Verurteilung durch den Strafrichter zugleich für einen Zeitraum von drei bis sechs Jahren von öffentlichen Subventionen und Beihilfen ausgeschlossen wer164 Vgl. nur Art. 6 Abs. 4 VO 2988 / 95 sowie die entsprechende Forderung von Böse, Sanktionen, S. 389. 165 § 21 Abs. 1 S. 2 gilt gerade auch in dem Fall, daß der Unrechtsgehalt der Straf- und Bußgeldnorm divergiert, Bohnert in: Boujong, Karlsruher Kommentar zum OWiG, § 21 Rn. 14; kritisch gegenüber einer solchen Häufung von Sanktionen neuerdings aber der EGMR im Fall Göktan Nr. 33402 / 96, Ziff. 50. 166 Kleinewefers / Boujong / Wilts in: Rotberg, Ordnungswidrigkeitengesetz, § 21 Rn. 1. 167 Kleinewefers / Boujong / Wilts in: Rotberg, Ordnungswidrigkeitengesetz, § 21 Rn. 8. 168 Die exakte Abgrenzung zwischen zulässiger richterlicher Rechtsfortbildung und unzulässigen Eingriffen in die Domäne des Gesetzgebers ist schwierig und noch nicht vollständig geklärt, so Röhl, Allgemeine Rechtslehre, S. 618 ff.; Larenz, Methodenlehre, S. 426 ff. sieht eine allgemeine Grenze dort, wo eine Antwort mit spezifisch rechtlichen Erwägungen nicht getroffen werden kann und es vorwiegend um Fragen der Zweckmäßigkeit geht; ähnlich argumentiert BVerfGE 20, 162 (219), das Verfassungsgericht könne nicht neues Recht, das ein Verfassungsgebot erst voll realisieren würde, aber keinen eindeutig bestimmten Inhalt habe, also näherer Präzisierung durch den Gesetzgeber bedürfe, selbst setzen, indem es einen ihm vorliegenden Fall entschiede, wie wenn dieses Recht schon gälte. 169 Zu den Vorzügen einer solchen Integrationsweise siehe nur Rüter, FS f. Tröndle, S. 855 (866).
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E. Der Grundsatz des ne bis in idem im europäischen Strafrecht
den170. Zumindest sektoriell wird die Bundesregierung durch entsprechende Richtlinien der Europäischen Gemeinschaften ohnehin dazu angehalten (werden), auch im nationalen Recht Maßnahmen zum Ausschluß von öffentlichen Zuwendungen oder Hilfen vorzusehen171. Ein Rückgriff auf eine bloße Anrechnungslösung würde dem Grundsatz des ne bis in idem dabei allerdings nicht gerecht. Obige Ausführungen zeigen, daß auch hier organisationsrechtliche Lösungen möglich und im Interesse des Betroffenen vorrangig sind172.
V. Fortentwicklung des Verbots der mehrfachen Strafverfolgung in Art. 50 der Europäischen Grundrechtscharta? Angesichts der kontroversen integrationspolitischen Diskussion der Grundrechtscharta erscheint zuletzt das in Art. 50 Charta verankerte Prinzip des ne bis in idem einiger besonderer Erwägungen wert173. Dies gilt um so mehr, als in der Charta der Grundrechte der Europäischen Union zum ersten Mal in der Geschichte der Europäischen Union in einem einzigen Text die Gesamtheit der bürgerlichen, politischen, wirtschaftlichen und sozialen Rechte der europäischen Bürger sowie aller im Hoheitsgebiet der Union lebenden Personen zusammengefaßt sind174. Die Charta bildet den Bestand dessen ab, was im Rahmen einer europäischen Verfassung als gemeinsamer Konsens denkbar wäre, und ist daher trotz ihrer im Detail umstrittenen Bindungswirkung zumindest für die Ermittlung allgemeiner Rechtsgrundsätze des europäischen Rechts auch von erheblicher praktischer Bedeutung175. Näher dazu Heitzer, Sanktionen, S. 108 f. Siehe etwa Art. 4 des Vorschlags für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates über den strafrechtlichen Schutz der Umwelt (Dok. Kom [2001], 139 endg.): „Die Mitgliedstaaten stellen sicher, daß bei Straftaten gem. Artikel 3 (. . . ) angemessene Sanktionen verhängt werden können. b) Hinsichtlich natürlicher und juristischer Personen sollen die Mitgliedstaaten in angemessenen Fällen Maßnahmen zum Ausschluß von öffentlichen Zuwendungen oder Hilfen (. . . ) vorsehen“; hierzu auch Eisele JZ 2001, 1157 (1164 f.); kritisch bezüglich einer hinreichenden Kompetenz der Europäischen Gemeinschaften B. Hecker JA 2002, 723 (726); Satzger, Europäisierung S. 399 ff. 172 Anderer Auffassung Böse, Sanktionen, S. 389 f., der im Gegensatz zu der hier vertretenen Ansicht davon ausgeht, daß dem Strafgericht keine umfassende Kognitionskompetenz zusteht und auch keine entsprechende Verpflichtung des Gesetzgebers zum Tätigwerden annimmt. 173 Schröder JZ 2002, 849 (849) sieht in der Charta einen faktischen Einstieg in den Prozeß der Verfassungsgebung; eine Zusammenfassung der Diskussion findet sich bei Calliess EuZW 2001, 261 (261). 174 Siehe Walter in: Ehlers, Europäische Grundrechte, § 1 Rn. 30 ff. sowie Callies in: Ehlers, Europäische Grundrechte, § 19 Rn. 1 ff., 18 ff. 175 Von Seiten der Kommission wurde signalisiert, daß die EU-Grundrechtscharta zumindest die in Art. 6 Abs. 2 EUV als Maßstab benannten Menschenrechte näher spezifiziere und in diesem Punkt für mehr Rechtssicherheit sorgen könne, sowie darauf hingewiesen, daß es 170 171
V. Art. 50 der Europäischen Grundrechtscharta
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1. Hintergrund der Normierung Der Europäische Rat von Köln (3. / 4. Juni 1999) beauftragte einen Konvent mit der Ausarbeitung eines Entwurfs einer europäischen Grundrechtscharta. Dieser Konvent konstituierte sich im Dezember 1999 und nahm den Entwurf am 2. Oktober 2000 an, so daß die Grundrechtscharta am 7. Dezember 2000 in Nizza proklamiert wurde176. Im Rahmen der darin ausgearbeiteten Justiziellen Rechte sollte in Art. 50 Grundrechtscharta dem Grundsatz des ne bis in idem mit folgenden Worten Geltung verschafft werden177: „Niemand darf wegen einer Straftat, derentwegen er bereits in der Union nach dem Gesetz rechtskräftig verurteilt oder freigesprochen worden ist, in einem Strafverfahren erneut verfolgt oder bestraft werden.“ 2. Erste gegensätzliche Bewertungen in der Literatur Schomburg bezeichnet Art. 50 Charta im Rahmen einer Kurzübersicht zur internationalen Rechtshilfe in Strafsachen im Vergleich zu Art. 54 SDÜ als Quantensprung178. Er weist zwar auf die fehlende Verbindlichkeit der Charta hin, meint jedoch, die einstimmige politische Verständigung auf einen solchen weiter gehenden Wortlaut lade schon jetzt nachhaltig zu einer extensiveren Interpretation bisheriger Regelungen dieses Bereichs ein. Etwas intensiver mit der Regelung des Art. 50 EU-Grundrechtscharta auseinandergesetzt hat sich dann Dannecker179: Er zieht zur Bestimmung des Regelungsgesich kaum um ein glaubwürdiges Verhalten handeln würde, wenn der Rat und die Kommission zukünftig eine von ihnen proklamierte Charta nicht beachten würden (eine zusammenfassende Darstellung der Äußerungen gibt Dannecker in: Eser / Rabenstein, neighbours in law, S. 153 (168 f.); ebenso mit einem Beispiel für die Anwendung der Charta in der Praxis des EuGH durch Generalanwalt Tizzano Callies (EuZW 2001, 261 [267], dazu auch Callies, in: Ehlers, Europäische Grundrechte, § 19 Rn. 27 ff.) sowie neuerdings die Entscheidung des EuG vom 30. Januar 2002 in der Rs. T 54 / 99 (max.mobil) abgedruckt in EuGRZ 2002, 266 (270); eingehend zur Berücksichtigung der Grundrechtscharta in der neueren Rechtsprechung der Europäischen Gerichte Triebel Jura 2003, 525 (525 ff.); zum Einfluß der EUGrundrechtscharta auf die Auslegung der EMRK siehe Walter in: Ehlers, Europäische Grundrechte, § 1 Rn. 32 mit einem Verweis auf EGMR, Urteil vom 11. Juli 2002, Fall Christine Goodwin gegen Vereinigtes Königreich, Nr. 28957 / 95, Ziff. 100; zu zukünftigen Möglichkeiten der Integration der Charta in die EU-Verträge Leutheusser-Schnarrenberger ZRP 2002, 329 (332); vor einer Überbewertung der EU-Grundrechtscharta gleichwohl warnend Mahrenholz in: Handelsblatt vom 28. September 2000 S. 10; zu den mit der Charta nicht erreichbaren Wirkungen siehe auch Schröder JZ 2002, 849 (850). 176 Zur Tagung des Europäischen Rats von Nizza generell siehe zusammenfassend Borchmann EuZW 2001, 170 (170 ff.). 177 ABl. EG 2000 Nr. C 364 / 1. 178 Schomburg NJW 2001, 801 (803). 179 Dannecker in: Eser / Rabenstein, neighbours in law, S. 153 (155 ff.) sowie ders., FS. f. Kohlmann, S. 593 (611 ff.).
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E. Der Grundsatz des ne bis in idem im europäischen Strafrecht
halts zunächst die Erläuterungen zur Grundrechtscharta heran, wo unter Hinweis auf die Art. 54 ff. SDÜ festgestellt wird, daß diese Regelung nicht nur systemintern im Bereich der Union sondern auch zwischenstaatliche Geltung entfalten sollte. Daran schließt er die Frage an, ob Art. 50 Charta nur eine neuerliche Fixierung des Ist-Zustandes darstellt oder neuen Standard etablieren will180. Dabei kommt er zu dem Ergebnis, Art. 50 Charta stelle mit Rücksicht auf die Geltung des Prinzips in nahezu allen Mitgliedstaaten, dessen Begründung aus materiellen Gerechtigkeits– und Rechtssicherheitserwägungen sowie dessen bisheriger Anerkennung im Fallrecht des EuGH letztlich nur eine Art Bestandsaufnahme des bisherigen Rechts dar, durch die der Grundsatz des ne bis in idem in seiner Bedeutung jedoch substantiell gestärkt werde181. Aus denselben Erwägungen solle Art. 50 Charta auch im europäischen Wettbewerbsrecht Anwendung finden182. Trotz des insoweit nicht eindeutigen Wortlauts solle Art. 50 Charta gemäß der Spruchpraxis des EuGH gleichermaßen für natürliche und juristische Personen Geltung entfalten, was der Anerkennung einer begrenzten Grundrechtsfähigkeit juristischer Personen in den Mitgliedstaaten entspreche183. Auf Gemeinschaftsebene würden vor allem die Kommission und die Judikative verpflichtet, wobei der Begriff der Sanktion weit verstanden werden müsse, da er ansonsten wegen der fehlenden Kompetenz der Gemeinschaften zum Erlaß von Kriminalstrafrecht leerzulaufen drohe184. Im Verhältnis von mitgliedstaatlichen und supranationalen Sanktionen solle Art. 50 Charta dagegen keine Wirkungen entfalten. Dies folge aus der Kompetenzverteilung zwischen Mitgliedstaaten und Europäischer Union. So könne sich die Endgültigkeit nationaler Entscheidungen nur auf rechtliche Gesichtspunkte des nationalen Rechts beziehen und die Europäische Union könne das Geschehen unter anderen rechtlichen Gesichtspunkten in einem selbständigen Verfahren würdigen. Zu beachten sei jedoch das Verhältnismäßigkeitsprinzip in Form des Anrechnungsprinzips, das in Art. 56 SDÜ seinen Niederschlag gefunden habe und über die Bezugnahme der Grundrechtscharta auf das SDÜ zu einem allgemeinen Rechtsprinzip der Europäischen Union geworden sei.185 Dagegen sollen mitgliedstaatliche Verfahren nach einem Verfahren seitens der Europäischen Union ausgeschlossen sein. Wegen der hierarchischen Beziehung der Rechtssysteme müsse ein Mitgliedstaat Verfahren der Europäischen Union in derselben Sache als abschließend anerkennen186. Im Verhältnis zu Nichtmitgliedstaaten würde die Gemeinschaftsrechtsprechung durch die Bezugnahme auf Art. 56 SDÜ im Rahmen der Erwägungen zur Grundrechtscharta sowie die Anerkennung des Rechtsstaats180 181 182 183 184 185 186
Dannecker in: Eser / Rabenstein, neighbours in law, S. 153 (156). Dannecker in: Eser / Rabenstein, neighbours in law, S. 153 (177). Dannecker in: Eser / Rabenstein, neighbours in law, S. 153 (179). Dannecker in: Eser / Rabenstein, neighbours in law, S. 153 (179). Dannecker in: Eser / Rabenstein, neighbours in law, S. 153 (180). Dannecker in: Eser / Rabenstein, neighbours in law, S. 153 (180). Dannecker in: Eser / Rabenstein, neighbours in law, S. 153 (181).
V. Art. 50 der Europäischen Grundrechtscharta
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und des Verhältnismäßigkeitsprinzips verpflichtet, hier auch in Zukunft das Anrechnungsprinzip anzuwenden187. Überzeugen kann Danneckers Interpretation allerdings nicht. Bereits der Schluß, aus den Verweisungen in den Erläuterungen zu Art. 50 Grundrechtscharta auf die Art. 54 SDÜ und aus der – wie aus den bisherigen Ausführungen deutlich wurde eher – rudimentären Anerkennung des Prinzips des ne bis in idem in der Rechtsprechung des EuGH folge, daß dieser mehr eine Bestandsaufnahme denn eine wirkliche Neuerung darstellt, ist mehr als zweifelhaft. Daß der Konvent bei seiner Arbeit von bereits vorhandenen Normierungen ausgeht, dürfte der Regelfall sein. Würdigt man den Wortlaut der Regelung und dessen Differenzen zu den in Bezug genommenen Regelungen, fällt das Ergebnis möglicherweise ganz anders aus. Auch innerhalb der Interpretation Danneckers bleibt manches unklar. Ob Art. 50 Grundrechtscharta auch für juristische Personen gelten solle, beinhaltet die grundsätzlichere Frage, ob die Verfahrensrechte der Grundrechtscharta generell auch für juristische Personen gelten oder nicht. Erst wenn diese Frage verneint würde – wofür keine Gründe ersichtlich sind –, könnte man – insbesondere in Anbetracht von Art. 53 Charta188 überlegen, ob dies – nicht gleichwohl aus der bisherigen Rechtsprechung des EuGH zu folgern ist. Wenn Dannecker weiter meint, Entscheidungen auf Unionsebene würden nationale Entscheidungen ausschließen, im umgekehrten Fall solle dies aber nicht gelten, überschätzt Dannecker die angebliche „hierarchische Beziehung der Rechtssysteme“. Nationale und supranationale Rechtsordnungen sind verschränkt, ein grundsätzliches Hierarchieverhältnis besteht indessen nicht – und genau das zeigt auch Art. 53 Charta. Das Anrechnungsprinzip allein durch die Bezugnahme der Erläuterungen zu Art. 50 Grundrechtscharta auf Art. 56 SDÜ zu einem allgemeinen Rechtsprinzip der Europäischen Union aufzuwerten, erscheint übertrieben. Der finale Rekurs auf das Anrechnungsprinzip bleibt meines Erachtens auch weiterhin nicht mehr als eine – in ihrer Konsequenz oft halbherzige – Reaktion auf Defizite im Vorfeld.
3. Eigene Stellungnahme: Art. 50 Charta als einheitliches Grundrecht mit je divergierender Rechtfertigungssystematik Die euphorische Bewertung des Art. 50 Charta durch Schomburg als Quantensprung und die eher nüchterne Feststellung Danneckers, fordern einen eigenständiDannecker in: Eser / Rabenstein, neighbours in law, S. 153 (182 f.). Art. 53 lautet: „Keine Bestimmung dieser Charta ist als eine Einschränkung oder Verletzung der Menschenrechte und Grundfreiheiten auszulegen, die in dem jeweiligen Anwendungsbereich durch das Recht der Union und das Völkerrecht sowie durch die internationalen Übereinkommen, bei denen die Union, die Gemeinschaft oder alle Mitgliedstaaten Vertragsparteien sind, darunter insbesondere die Europäische Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten, sowie durch die Verfassungen der Mitgliedstaaten anerkannt werden.“ Zur Grundrechtsberechtigung juristischer Personen im Gemeinschaftsrecht siehe Ehlers in: ders. (Hrsg.), Europäische Grundrechte, § 13 Rn. 26. 187 188
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E. Der Grundsatz des ne bis in idem im europäischen Strafrecht
gen Bewertungsversuch heraus. Zurückhaltung scheint zunächst deshalb angebracht, weil die verfassungsrechtliche Verankerung des Grundsatzes des ne bis in idem keineswegs eine conditio sine qua non für dessen Geltung darstellt. Die rechtsvergleichenden Betrachtungen haben vielmehr gezeigt, daß der Grundsatz dort, wo er verfassungsrechtlich nicht ausdrücklich normiert ist, gleichwohl als Wert von Verfassungsrang aus dem Rechtsstaatlichkeitsprinzip, Verhältnismäßigkeitserwägungen oder Gesetzlichkeitserwägungen abgeleitet wird. Auch im Recht der Bundesrepublik Deutschland hat die Aufnahme des Verbots mehrfacher Strafverfolgung in das Bonner Grundgesetz nur dazu geführt, das einfach-gesetzliche Strafverfahrensrecht, seine Rechtskraftlehre und das Sanktionensystem im Lichte des Art. 103 Abs. 3 GG zu überdenken und (lediglich) eine verfassungsrechtliche Basisgarantie eigenständig zu entfalten189. Ein Quantensprung könnte allerdings in dem Wortlaut von Art. 50 Charta liegen. Dessen Text ist zum einen mit Absicht stark angelehnt an Art. 4 7. ZPEMRK190 und spricht zum anderen von der gesamten (Europäischen) Union, weshalb er bei einer unbefangenen Interpretation des Wortlauts umfassende Geltung in die verschiedensten Wirkrichtungen entfalten könnte.
a) Einheitlicher systeminterner, horizontaler und vertikaler Gewährleistungsgehalt der Norm Ein Blick auf die Erläuterungen zu Art. 50 Charta, in denen Art. 50 Charta und Art. 4 7. ZPEMRK einander direkt gegenüber gestellt werden und die darüber hinaus auf Art. 54 ff. SDÜ Bezug nehmen, zeigt, daß diese Anknüpfungen nicht zufällig sind191. So wird neben dem allgemeinen Hinweis in Art. 52 Abs. 3 der Charta auch in den Erläuterungen zur Art. 50 Charta darauf verwiesen, daß Art. 50 Charta, soweit er die in Art. 4 7. ZPEMRK bezeichneten Fälle betrifft, nämlich die Anwendung des Grundsatzes in ein und demselben Mitgliedstaat, dieselbe Bedeutung und dieselbe Reichweite wie das entsprechende Recht der EMRK habe192. Demnach liegt der Gedanke nahe, daß die Verfasser der Grund189 Schmidt-Aßmann in: Maunz / Dürig, Kommentar zum Grundgesetz, Art. 103 Abs. 3 Rn. 257, 265; Fliedner AöR 99 (1972), 242 (246). 190 Art. 4 Abs. 1 7. ZPEMRK lautet: „Niemand darf wegen einer strafbaren Handlung (engl.: offence, frz.: infraction), wegen der er bereits nach dem Gesetz und dem Strafverfahrensrecht eines Staates rechtskräftig (engl.: finally, frz.: par un jugement définitif) verurteilt oder freigesprochen worden ist, in einem Strafverfahren desselben Staates erneut vor Gericht gestellt, verfolgt oder bestraft (engl.: shall not be liable to be tried or punished, frz.: poursuivi ou puni pénalement) werden.“ Die von Art. 50 Grundrechtscharta divergierenden Stellen sind dabei in gewöhnlich gesetzt. 191 Entwurf der Charta der Grundrechte der Europäischen Union – Text der Erläuterungen zum vollständigen Wortlaut der Charta (Dok. Charte 4487 / 00 Convent 50) S. 44 f.; Eser in: Meyer, Kommentar zur Charta der Grundrechte der Europäischen Union, Art. 50 Rn. 1 f. 192 Entwurf der Charta der Grundrechte der Europäischen Union – Text der Erläuterungen zum vollständigen Wortlaut der Charta (Dok. Charte 4487 / 00 Convent 50) S. 45; zu
V. Art. 50 der Europäischen Grundrechtscharta
239
rechtscharta bereits im Vorfeld der Gefahr einer Divergenz der Rechtsprechung zu einander entsprechenden Verbürgungen in der EMRK und der EU-Grundrechtscharta begegnen wollten193. Ebenso sollten mit dem Verweis auf die Art. 54 ff. SDÜ die errungenen Fortschritte im Bereich der horizontalen Wirkungen des Prinzips des ne bis in idem gesichert werden. Versteht man den Begriff der Europäischen Union überdies untechnisch als die Gesamtheit von Europäischer Gemeinschaft und Europäischer Union im engeren Sinne und trägt man dem Umstand Rechnung, daß die EU-Grundrechtscharta gem. Art. 51 Charta auch für die Mitgliedstaaten bei der Durchführung des Rechts der Union gilt, so gelangt man zu dem Ergebnis, daß Art. 50 Charta – wie bereits nach dem ersten Lesen vermutet – tatsächlich auch die supranationalen Wirkungen des Verbots mehrfacher Strafverfolgung enthalten muß194. Mit dem hier vertretenen rechtstheoretischen Ansatz und dem damit verbundenen Verständnis des Grundsatzes des ne bis in idem als Forderung systemorganisierter Freiheit scheint ein solcher umfassender Gewährleistungsgehalt zunächst in Widerspruch zu stehen. Schließlich wurde dort betont, daß die Verbürgung des Grundsatzes des ne bis in idem untrennbar mit einem Herrschaftssystem als solchem und der Begrenzung dessen Machtmonopols gegenüber dem Individuum verbunden ist. Gerade im zwischenstaatlichen Bereich scheint es jedoch an dem danach notwendigen, übergeordneten System zu fehlen und der Grundsatz des ne bis in idem nicht begründbar zu sein. Der Verweis auf die Art. 54 ff. SDÜ sowie die umfassende Formulierung des Anwendungsbereichs der Grundrechtscharta in Art. 51 Charta zeigen aber, daß eine Grundrechtsbindung in Zukunft auch in dem derzeit noch unter einem primär völkerrechtlichen Regime stehenden Bereich der Polizeilichen und Justiziellen Zusammenarbeit bestehen soll195. Sieht man Art. 50 Charta vor dem Hintergrund der Grundrechtscharta als Teil einer Europäischen Verfassung und damit einer stark fortgeschrittenen Integration, wird ohnehin zu hinterfragen sein, inwieweit die horizontale Koordination nicht insgesamt dem den Sachgründen für diese Anlehnung an die EMRK siehe nur Pernice DVBl. 2000, 847 (854 f.). 193 Vgl. dazu die Verpflichtung der Europäischen Union zur Achtung der EMRK in Art. 6 Abs. 2 EUV sowie Callies EuZW 2001, 262 (262 ff.), der für die in Kapitel VI der Charta garantierten Justizgrundrechte generell darauf hinweist, daß diese sich überwiegend auf die Garantien der Art. 6 und 13 EMRK gründen. 194 Zum Anwendungsbereich der Grundrechtscharta und den Schwächen in der Formulierung siehe Calliess EuZW 2001, 261 (266 f.), der insbesondere auch in Frage stellt, ob die Grundrechtsbindung auch für die „Polizeiliche und Justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen“ gilt; ähnlich will auch Pernice DVBl. 2000, 847 (852, 855) die Grundrechtscharta auf die dritte Säule der Union anwenden und hält in Anbetracht der in diesem Bereich schon jetzt mangelnden Transparenz und demokratischen Legitimation ein anderes Ergebnis für einen „Skandal ersten Ranges“; die supranationale Wirkung im Ergebnis – aber nicht in ihrer Dimension – ebenfalls anerkennend Dannecker in: Eser / Rabenstein, neighbours in law, S. 153 (180 f.). 195 Eine solche anzunehmen noch zögernd, aber keineswegs ablehnend Calliess EuZW 2001, 261 (266).
240
E. Der Grundsatz des ne bis in idem im europäischen Strafrecht
Kompetenzbereich einer dann supranationalen Union zugewiesen wird. Dem Einwand, der Grundsatz des ne bis in idem würde gegenüber von einander grundsätzlich unabhängigen Systemen keine Wirkung entfalten, wäre dann für den Bereich der Europäischen Union der Boden entzogen. Aus diesen Gründen entfaltet Art. 50 Charta entgegen der Ansicht Danneckers grundsätzlich keine Wirkung gegenüber Staaten außerhalb der Europäischen Union. Bereits der Wortlaut der Norm bezieht sich ausdrücklich auf Erstverurteilungen „in der Union“, nicht aber in einem Drittstaat und auch der Verweis auf die Art. 54 ff. SDÜ in den Erläuterungen zu Art. 50 Charta vermag einen umfassenden transnationalen Grundsatz des ne bis in idem nicht zu begründen. Selbst Art. 56 SDÜ gilt grundsätzlich nur für Vertragsstaaten des Schengener Übereinkommens und regelt diejenigen Fälle, in denen ein absolutes Doppelbestrafungsverbot nicht eingreifen kann. Im übrigen ist selbst in der Rechtsprechung des EuGH zum Wettbewerbsrecht keineswegs klar, wie das von ihm dort angenommene Anrechnungsprinzip genau ausgestaltet sein soll, ob etwa eine strikte Anrechnung im engeren Sinn oder eine bloße strafmildernde Berücksichtigung gefordert wird. Zuletzt würde ein für alle Unionsstaaten als Mindeststandard festgeschriebenes transnationales Anrechnungsprinzips auch ein völkerrechtliches Novum darstellen, das über den derzeitigen Stand der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik weit hinausreichen würde. Ein umfassender Gewährleistungsgehalt stellt besondere Anforderungen an die Auslegung des Art. 50 Charta. Einerseits muß der Normtext so bestimmt werden, daß er auf die verschiedensten Situationen und Subsysteme hin anwendbar bleibt. Andererseits sollte nicht ohne Not von dem Ansinnen der Verfasser abgewichen werden, eine weitestmögliche Konvergenz mit den Grundrechtsgewährleistungen in der EMRK anzustreben. Da indessen gerade die Auslegung von Art. 4 7. ZPEMRK auf eine größtmögliche Flexibilität hin ausgerichtet wurde, bietet es sich auch im Folgenden an, zunächst von den dortigen Begriffsbestimmungen auszugehen und lediglich auf eventuelle Besonderheiten hinzuweisen.
b) Bestimmung des Schutzbereichs in Anlehnung an Art. 4 7. ZPEMRK Der Begriff der Straftat in Art. 50 Charta ist zunächst grundsätzlich weit und entsprechend der Ausführungen des EGMR zu Art. 4 7. ZPEMRK bzw. Art. 6 EMRK zu verstehen. Entscheidend sind die Einordnung im Recht der Union selbst, die Art und die Schwere der Rechtsfolgen sowie die wahre Natur der Zuwiderhandlung – nach der hier vertretenen Auffassung also, ob die Sanktionswirkung der staatlichen Reaktion bei objektiver Betrachtung gerade deren Hauptzweck darstellt196.
196
Vgl. oben C. II. 2. a).
V. Art. 50 der Europäischen Grundrechtscharta
241
Mit Blick auf mögliche zukünftige Entwicklungen in den Bereichen eines supranationalen Kriminalstrafrechts wie eines supranationalen Verwaltungsstrafrechts sowie der horizontalen, transnationalen Dimension von Art. 50 Charta werden von diesem Begriff zunächst die Kriminal- und Verwaltungsstrafrechte erfaßt. Zu letzteren gehören dann ohne weiteres auch Geldbußen im Bereich des Wettbewerbsund Kartellrechts der Europäischen Gemeinschaften. Über diesen Bereich hinaus sind aber entsprechend den Ausführungen zu Art. 4 7. ZPEMRK je nach Art und Schwere der Sanktion auch Disziplinarmaßnahmen im Beamtenrecht der Europäischen Union bzw. der Europäischen Gemeinschaften grundsätzlich an Art. 50 Charta zu messen. In ähnlicher Weise können die Ausführungen zur EMRK bei der Bestimmung des „idem“, des Begriffs der „selben Handlung“ bzw. der „Straftat“ herangezogen werden. Zwar unterscheiden sich Art. 50 Charta und Art. 4 7. ZPEMRK – indem einmal von „Straftat“ und einmal von „strafbarer Handlung“ gesprochen wird – im Wortlaut, entscheidend sollte aber auch hier eine funktional-teleologische Auslegung sein. Trägt man dem Umstand Rechnung, daß der Begriff der „selben Handlung“ in diesem Kontext allein zur Bestimmung des Schutzbereichs eines Grundrechts mit einer flexiblen Rechtsfertigungs- und Abwägungssystematik als Rechtsfolge dient197, bietet sich wiederum ein möglichst weites faktisches Tatverständnis an. Maßgebend ist daher, ob sich ein Geschehen insgesamt als einheitlich darstellt, wobei Einzelheiten der jeweiligen Strafprozeßordnung überlassen werden können, so daß jedenfalls in Bezug auf eine Ausdehnung dieses faktischen Tatbegriffs durch verschiedene Rechtsfiguren Spielräume bestehen. Als Normadressaten verpflichtet Art. 50 Charta alle Träger hoheitlicher Gewalt innerhalb der Europäischen Gemeinschaften, der Europäischen Union und ihren Mitgliedstaaten, im Rahmen ihrer Amtshandlungen das Verbot der mehrfachen Strafverfolgung zu berücksichtigen198. Neben der Judikative verpflichtet Art. 50 Charta also auch die Legislative, bereits im Rahmen der Gesetzgebungsverfahren die beteiligten Hoheitsgewalten zu koordinieren, sowie die Exekutive namentlich bei der Anwendung des Verwaltungssanktionenrechts mögliche kriminalstrafrechtliche Konsequenzen zu bedenken. Jede natürliche und juristische Person innerhalb der Europäischen Union ist berechtigt, Art. 50 Charta als Abwehrrecht gegen ein Zweitverfahren anzuführen.
197 Zur „hochkomplexen Schrankenregelung“ der Grundrechtscharta siehe Callies in: Ehlers, Europäische Grundrechte, § 19 Rn. 14 ff. 198 Den Anwendungsbereich regelt insoweit Art. 51 Grundrechtscharta, der allerdings etwas unglücklich formuliert ist, vgl. Callies in: Ehlers, Europäische Grundrechte, § 19 Rn. 24 ff. (dort insbesondere auch zu den Problemen, die der Wortlaut von Art. 51 Grundrechtscharta bei der Verpflichtung der Mitgliedstaaten in sich bergen könnte).
16 Mansdörfer
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E. Der Grundsatz des ne bis in idem im europäischen Strafrecht
c) Rechtfertigung von Eingriffen in Art. 50 Charta je nach betroffener Wirkrichtung Gem. Art. 52 Abs. 1 Charta muß jede Einschränkung der Ausübung der in der Charta anerkannten Rechte gesetzlich vorgesehen sein, den Wesensgehalt der Rechte garantieren und den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit wahren199. Diese allgemeine Formulierung zeigt, daß die Verfasser der Grundrechtscharta, die von ihnen gewährleisteten Rechte zunächst grundsätzlich einer Einschränkung zugänglich sehen, daß also auch Art. 50 Charta nicht als absolutes Verbot jeder Doppelbestrafung verstanden werden kann. Einschränkungen sind daher grundsätzlich möglich. Aufgrund des umfassenden Gewährleistungsgehalts von Art. 50 Charta ist jedoch zu unterscheiden, welche Wirkrichtung des Verbots der mehrfachen Strafverfolgung betroffen ist und welche gesetzliche Beschränkungen eingreifen. Wie diese Divergenzen grundsätzlich aussehen können und welche Rechtsprinzipien im jeweiligen Fall in Einklang zu bringen sind, wurde bereits im Verlauf der vorstehenden Erwägungen aufgezeigt. Deutlich wurde insbesondere, daß sich ein Rückgriff auf ein bloßes Anrechnungsgebot in vielen Fällen als vorschnell und der Sache nicht angemessen erweist. Die konkreten Schlußfolgerungen hieraus werden sich im Lauf der Zeit allerdings im Rahmen einer dynamischen Interpretation des Grundrechts wandeln. So werden etwa mit einem Zuwachs von Kompetenzen im Bereich der Polizeilichen und Justiziellen Zusammenarbeit eines Tages selbst die – derzeit als fortschrittlich geltenden – Regelungen der Art. 54 ff. SDÜ in ihrer Angemessenheit in Frage gestellt werden müssen und den Forderungen von Art. 50 Charta mit seinem Verbot mehrfacher Strafverfolgung nicht mehr vollständig genügen200. Die möglichen Kollisionen in diesem Bereich sind bereits in dem unterschiedlichen Wortlaut der Regelung angelegt.
d) Gesamtbewertung Mit Art. 50 Charta wurde erstmals eine Norm geschaffen, die neben einem rein systeminternen Verbot mehrfacher Strafverfolgung nach dem Willen ihrer Verfasser auch horizontal zwischenstaatliche und bei entsprechender Auslegung sogar vertikal supranationale Wirkungen enthält. Insofern stellt die Norm tatsächlich eine wesentliche Neuerung und weit mehr als eine bloße Bestandsaufnahme dar.
199 Ausführlich zur Rechtfertigungsdogmatik der Art. 52 f. Grundrechtscharta Callies in: Ehlers, Europäische Grundrechte, § 19 Rn. 14 ff. 200 Pernice DVBl. 2000, 847 (852) fordert etwas allgemeiner, mit einem dynamischen Zuwachs von Kompetenzen müsse auch der Katalog der Grundrechte mitwachsen.
V. Art. 50 der Europäischen Grundrechtscharta
243
Ein Quantensprung wurde indessen auch mit Art. 50 Charta nicht vollzogen – und kann durch den bloßen Erlaß einer solchen Norm auch grundsätzlich nicht vollzogen werden. Gerade in seiner horizontalen und vertikalen Wirkrichtung ist der Grundsatz des ne bis in idem abhängig vom Zustand des die Nationalstaaten übergreifenden Gesamtsystems überhaupt. Wesentliche Fortschritte kann hier erst eine vollständige europäische Verfassung geben, die sich Rechenschaft darüber ablegt, auf welches Ziel die europäische Einigung endgültig hinauslaufen soll, auf einen Bundes(- oder Regionen)staat oder einen lockereren Staatenbund201.
201 Zum gegenwärtigen Stand der Integration siehe nur Broß EuGRZ 2002, 574 (575 ff.) sowie Rupp JZ 2003, 18 (21 f.).
16*
F. Zusammenfassung und Schlußbemerkungen „Europa als ein einheitlicher Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts“ wurde als Schlagwort bereits bei den Erörterungen zur Auslegung der Art. 54 ff. SDÜ ausdrücklich thematisiert und strapaziert1. Ein anderes Schlagwort zur Konstruktion des zukünftigen Europas ist das von der „Einheit in Vielfalt“, und auch dieses hat in der vorstehenden Erörterung – zugegebenermaßen eher unbewußt und verborgen in den Forderungen nach gemeinsamen Oberbegriffen, gegenseitiger Offenheit und Subsidiarität – seinen Niederschlag gefunden. Will man diesen Grundpfeilern des europäischen Rahmens zur Ordnung und Gewährleistung von Selbstverwirklichung komplementär einen „europäischen Ermittlungs- und Strafverfolgungsraum“2 zur Seite stellen, so bietet es sich an, diesen zunächst von allgemein gültigen Prinzipien her zu konstituieren und zu konkretisieren3. Ein solches Prinzip ist der Grundsatz des ne bis in idem. Die stark unterschiedliche Ausgestaltung dieses Prinzips in den Mitgliedstaaten rührt daher, daß der Grundsatz traditionell nicht nur ein schlichtes strafrechtliches Verbot, sondern zugleich ein subjektives Abwehrrecht und objektives staatsorganisatorisches Ziel formuliert, ohne die Mittel und Wege festzulegen, auf denen dieses erreicht wird. Vor diesem Hintergrund kann auch die schon seit langer Zeit gestellte Frage, ob der Grundsatz des ne bis in idem dem formellen oder dem materiellen Recht angehört, mit einem eindeutigen „Weder-Noch“ beantwortet werden: Nach dem hier entwickelten Konzept muß der Grundsatz des ne bis in idem zunächst trotz seiner stets im Vordergrund der Betrachtungen stehenden Wirkung als individuelles Abwehrrecht immer in Bezug zu einem mit Strafgewalt ausgestatteten öffentlichen Gesamtsystem gesehen und als eine Begrenzung der Zugriffsbefugnis auf das Individuum auf das absolut Notwendige verstanden werden. Der Grundsatz des ne bis in idem erweist sich als Grundelement jeglicher freiheitlicher Ordnung – geradezu als Forderung systemorganisierter Freiheit –, stellt dadurch grundlegende staatsorganisatorische Forderungen auf und wird damit in seiner ob1 An dieser Stelle sei stellvertretend lediglich noch auf Riedel in: Kreuzer / Scheuning / Sieber (Hrsg.), Europäischer Grundrechtsschutz, S. 73 (79 ff.) hingewiesen, der als an der Ausarbeitung des Amsterdamer Vertrages unmittelbar Beteiligter das Kapitel zu Freiheit, Sicherheit und Recht als Kernstück des neuen Vertrages von Amsterdam bezeichnet. 2 So die Begriffsbildung bei Brüner / Spitzer NStZ 2002, 393 (397). 3 Dagegen neuerdings Vogel GA 2002, 517 (522 ff.), der für das europäische Strafrecht einen Vorrang der Probleme und Sachfragen vor seinem System und seinen Kategorien fordert; zu diesem Denken siehe generell die oben A. I. 3. angebrachte Kritik sowie Perron ZStW 109 (1997), 281 (285 ff., 296 ff.).
F. Zusammenfassung und Schlußbemerkungen
245
jektiven Dimension an eine Staatszielbestimmung 4 angenähert. Die Ausprägungen, die diese im einfachen Recht findet, differieren je nach der Gesamtkonzeption des Strafrechts selbst und finden sich in unterschiedlichem Maße sowohl im formellen als auch im materiellen Recht. Vor diesem Hintergrund erfolgt die zweite wesentliche, hier dogmatische Abweichung vom herkömmlichen Verständnis des Doppelbestrafungsverbots. In Anbetracht der erheblichen gesetzgeberischen Ausgestaltungsspielräume wurde der Grundsatz des ne bis in idem für den Bereich des hier untersuchten europäischen Strafrechts als ein in seinen Rechtsfolgen einer Abwägung zugängliches Rechtsprinzip konzipiert und ausgearbeitet. Dadurch sollte zum einen die notwendige Flexibilität gewonnen werden, um die verschiedenen Systeme – trotz der notwendigen Toleranz gegenüber den systembedingten Eigenheiten gleichermaßen präzise – substantiellen Einschränkungen unterwerfen, die divergierenden Interessen klar ansprechen und zu einem Ausgleich bringen zu können. Bestätigt werden diese Überlegungen durch die anschließenden rechtsvergleichenden Ausführungen. So wird bei der grundsätzlichen Ableitung des Prinzips des ne bis in idem in den verschiedenen europäischen Systemen scheinbar beliebig auf das Rechtsstaatsprinzip, das Gesetzlichkeitsprinzip, Prinzipien der Rechtssicherheit und des Vertrauensschutzes wie auch auf den Grundsatz der Prozeßökonomie rekurriert. Dies liefert in seiner Summe gewichtige Hinweise dafür, daß das Prinzip des ne bis in idem doch stark vom grundsätzlichen Verständnis des Verhältnisses zwischen Staat und Individuum geprägt wird. Die Ausprägung im Detail zeigt, wie die verschiedenen nationalen Systeme trotz zum Teil erheblicher Divergenzen bei der Ausgestaltung und Verwirklichung ihres Sanktionenrechts allesamt Ausgleichsmechanismen vor einer zu großen Gesamtbelastung des Individuums geschaffen haben. Diese reichen von Lösungen im materiellen Recht, wie etwa der Formulierung der normativen Handlungseinheit in einem Tatbestand oder der Normierung einer materiellen Konkurrenzlehre, über solche im Prozeßrecht, wie etwa der Nachtragsanklage, bis hin zu solchen auf der Ebene der Strafvollstreckung. Angewendet wurde dieses Konzept zunächst auf Art. 4 7. ZPEMRK. Trotz eines mittlerweile vorhandenen Grundbestands an Entscheidungen zum Prinzip des ne bis in idem in der EMRK und trotz überwiegend begrüßenswerter Urteile mangelt es diesen bislang an dogmatischer Klarheit5. Als endgültig geklärt kann nur die Beschränkung des Anwendungsbereichs des Grundsatzes des ne bis in idem auf innerstaatliche Entscheidungen angesehen werden. Bereits beim Begriff der „strafbaren Handlung“ werden erste Unschärfen deutlich, die sich nur dadurch abmildern lassen, daß als strafbare Handlung einbahnig 4 So für die Grundrechte im deutschen Grundgesetz allgemein Hesse, Verfassungsrecht, Rn. 298. 5 Siehe auch das Urteil des EGMR vom 2. Juli 2002, Fall Göktan gegen Frankreich, Nr. 33402 / 96, Ziff. 44, wo der EGMR selbst feststellt: „La Cour note, en premier lieu, que sa jurisprudence relative à la règle non bis in idem n’est pas très fournie.“
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F. Zusammenfassung und Schlußbemerkungen
autonom eine solche verstanden wird, bei der die Sanktionswirkung – bei objektiver Betrachtung – gerade der Hauptzweck der durch diese provozierten staatlichen Reaktion sein muß. Einbahnig ist dieses Verständnis deshalb, weil die Organe der EMRK einer Diskussion enthoben sind, wenn eine entsprechende Einordnung im Recht des Unterzeichnerstaates offiziell vorgenommen wird. Autonom ist die Begriffsbildung, weil sich die EMRK auch darüber hinaus als Kontrollinstanz zur Feststellung des mit einer Maßnahme im Grunde intendierten Zwecks verstehen muß. Erhebliche – wenn auch eher methodische als sachliche – Vorteile bietet das hier verfolgte Konzept bei der Interpretation des Begriffs der „Tat“. Indem die eigentlichen Interessenkonflikte erst auf der Ebene der Rechtsfolgen gelöst werden, kann bei der Beschreibung des Schutzbereichs ein extensiver, natürlicher Tatbegriff verwendet werden. Weitergehende Implikationen für Strafrechtssysteme, die ihrem Prozeßrecht einen stark normativen Tatbegriff zugrunde legen, beinhaltet dies nicht. Die eigentlichen Erwägungen, ob sich die Ausgestaltung und Anwendung des Rechts im konkreten Fall innerhalb der von Art. 4 7. ZPEMRK gesetzten Schranken gehalten hat, erfolgen dann unter Benennung der Sachargumente auf der nachgelagerten Ebene. Bei der dadurch notwendig gewordenen Rechtfertigung von Eingriffen darf nicht vorschnell auf die individualschützende Komponente des Grundsatzes zurückgegriffen werden, sondern muß bereits im Vorfeld mit der systeminternen Multiplikation der Sanktionsgewalten deren Koordination einhergehen. Dieselbe Forderung findet sich auch bei den nachfolgenden Erörterungen zu einem zwischenstaatlichen Verbot mehrfacher Strafverfolgung wieder und deren Mißachtung lässt sich bei der Überprüfung der Verwirklichung des Prinzips in seiner vertikal supranationalen Wirkrichtung als Hintergrund der meisten aktuellen Streitfragen identifizieren. Dabei sollte der Grundsatz des ne bis in idem gerade mit seinen Forderungen nach einer Koordination der verschiedenen Kompetenzen möglichst früh – nämlich schon im Bereich der Strafverfolgung – eingreifen, um beobachtbaren Tendenzen der Informalisierung des Strafverfahrens entgegen zu wirken6. Im Rahmen der notwendigen Abwägung ist jenseits eines absolut geschützten Kernbereichs die Sicherung von Erwartungen, Vertrauen und erlangten Positionen des konkret wie des nur abstrakt möglicherweise betroffenen Individuums dem Interesse der Allgemeinheit an der Durchsetzung der sanktionsbewehrten Verhaltensordnung gegenüberzustellen. Auch für die Konkretisierung des Prinzips des ne bis in idem wird damit ein Verfahren gefordert, das sich bei anderen Justizgrundrechten – wie etwa der Anwendung des Prinzips des fair trial – längst durchgesetzt hat7. 6 Zu diesen Entwicklungen siehe im zwischenstaatlichen Bereich Nelles ZStW 109 (1997), 727 (730 ff.); zu entsprechenden Vorgängen im innerstaatlichen Bereich siehe Eser ZStW 108 (1996), 86 (94 ff., 112 ff., 120 ff.). 7 Siehe nur Sommer StraFo 2003, 309 (311 ff.), wonach die Einhaltung der Konventionsrechte eine „Gesamtschau“ erfordere und Verletzungen dann nicht festzustellen seien, wenn
F. Zusammenfassung und Schlußbemerkungen
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Ein Einwand gegen die Konzeption des systeminternen Grundsatzes des ne bis in idem als in seinen Rechtsfolgen einer Abwägung zugängliches justizielles Menschenrecht liegt möglicherweise darin, dem ursprünglich absoluten Verbot mit seiner scharfen Rechtsfolge auch Klarheit genommen und damit Mißbrauchsmöglichkeiten geschaffen zu haben. Die Gefahr eines Mißbrauchs folgt aber weniger aus der hier vorgenommenen Konzeption als aus einem möglichen Wandel der Wertordnung, deren Resistenz bezüglich der Annahme von Freiheit als einem ihrer obersten Leitprinzipien aus den eingangs erwähnten Gründen vorausgesetzt wurde8. Ein institutioneller Mißbrauch erscheint angesichts der bisherigen Erfahrungen insbesondere mit dem EGMR und dem EuGH aktuell ausgeschlossen. Ein allgemein gültiges und zwischenstaatlich wirkendes Prinzip des ne bis in idem stellt nach der hier vertretenen Konzeption keine logisch zwingende Forderung dar. So gilt bis heute, daß der zwischenstaatliche Grundsatz des ne bis in idem bislang kein universell anerkanntes Prinzip darstellt und die vorfindbaren Regelungen vielmehr in sachlicher und / oder räumlicher Hinsicht sektoriell begrenzt sind. Auch der Wissenschaft ist bislang keine überzeugende theoretische Konzeption eines entsprechenden Menschenrechts gelungen. Versuche, sog. Weltstrafgesetzbücher oder interkulturelle Strafrechte (so z. B. Höffe) zu schaffen, gehen im Kern häufig von einer Hegemonie westlicher Kulturstandards aus, die untereinander und teils sogar in sich weitaus vielgestaltiger sind, als es diese (zu) grobmaschigen Ansätze suggerieren. Es gilt insoweit die Feststellung von Naucke: „Es gibt einen engen Bereich von Verbrechen und vergeltender Strafe, dessen Bestand unangetastet gelassen werden muß, gleichgültig, wie die Gesellschaft gerade verfaßt ist. Und es gibt einen weiten, fast riesengroßen Bereich von Abweichungen und präventiver Sanktion, den die Gesellschaft ihrer jeweiligen Verfassung entsprechend anpassen kann, mit dem sie, wenn es ihrer Verfassung dann entspricht, auch spielen darf“9. Aufgrund dieser Überlegungen läßt sich auch die Frage, ob ein Bedürfnis nach einer Erweiterung der EMRK über das 7. ZPEMRK hinaus hin zu einer in der EMRK verankerten zwischenstaatlichen Geltung des Prinzips des ne bis in idem besteht10, verneinen. Soweit derzeit von einem „espace judicaire pénal européen“, einem „europäischen Strafrechtsraum“, gesprochen wird, ist dieser auf die Europäische Union begrenzt11. Darüber hinaus läßt sich eine allgemeine Geltung des Grundsatzes nur schwer legitimieren. Soweit gegenüber bestimmten Staaten (etwa das Verfahren „als Ganzes betrachtet noch fair“ sei, sowie Esser StraFo 2003, 335 (338 ff.) jeweils mit Nachweisen aus der Rechtsprechung des EGMR. 8 Siehe gegen die an einer solchen Konzeption ansetzenden Einwände allgemein Dworkin, Bürgerrechte, S. 74 ff. 9 Naucke, Strafziel und Verbrechensbegriff, S. 35. 10 Dafür etwa Jung, FS f. Schüler Springorum, S. 493 (501). 11 So auch Vogel GA 2002, 517 (521); dazu auch Jung, FS f. Schüler Springorum, S. 493 (495).
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F. Zusammenfassung und Schlußbemerkungen
dem erweiterten Kreis der EMRK-Staaten) ein generelles Prinzip des ne bis in idem gelten soll, empfiehlt sich ein gemeinsames Vorgehen im Rahmen der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik (GASP). So können Widersprüche vermieden und die Einheitlichkeit dieses Rechtsraums auch nach außen dokumentiert werden. Dem entspricht die Entwicklung der Ausgestaltung des zwischenstaatlichen Grundsatzes des ne bis in idem in der jüngeren europäischen Strafrechtsgeschichte. Nach dem Beginn der wissenschaftlichen Diskussion um die Vermeidung zwischenstaatlicher Kompetenzkonflikte auf dem Gebiet des Strafrechts ab etwa 1970 und umfassender Kodifikationsversuche ab etwa 1985 auf dem Gebiet des Europarats gelang erst mit dem Schengener Durchführungsübereinkommen ein wesentlicher Schritt in Richtung auf ein zwischenstaatlich geltendes Prinzip des ne bis in idem. Räumlich bleibt dieses allerdings auf den Bereich der Europäischen Union begrenzt – ja umfaßt diese nicht einmal voll umfänglich. Die besondere Dynamik, die diesem Prozeß inne wohnt, wird unter anderem mit der Überführung des SDÜ in die Europäische Union, dessen Zuordnung zu den Art. 29 ff. EUV und der damit notwendig gewordenen Revision der Interpretation der Art. 54 ff. SDÜ deutlich. Die Art. 54 ff. SDÜ sind danach intergouvernementale Normen zur Vermeidung von Kompetenzkonflikten und damit zur Koordination der verschiedenen nationalen Strafgewalten innerhalb der Union. Damit wird ein horizontaler Integrationsansatz verfolgt, bei dem die Verzahnung der Nationalstaaten durch die Art. 54 ff. SDÜ als Kombination eines begrenzten Kompetenzverteilungsprinzips mit dem herkömmlichem Strafanknüpfungsrecht erfolgt: Sobald in einem anderen Mitgliedstaat eine endgültige Entscheidung vorliegt, besteht in den übrigen Mitgliedstaaten ein Verbot mehrfacher Strafverfolgung im Sinne eines nachträglichen Zuständigkeitsverlusts. Derartige Entscheidungen ergehen nach Abschluß der Ermittlungen seitens der Untersuchungsbehörden und müssen hinreichend markant sein, um den Mitgliedstaaten und dem betroffenen Individuum gleichermaßen den Eindruck zu vermitteln, daß der Verfahrensgegenstand von einer der ermittelnden Behörde im Verfahren nachgeschalteten Institution eingehend gewürdigt wurde12. Wenn in der Entscheidung dem Angeklagten bzw. Betroffenen dann mitgeteilt wird, daß der gegen ihn konkret erhobene Tatvorwurf – ggf. nach der Vollstreckung einer bestimmten Sanktion – grundsätzlich erledigt ist, kann dies wertungsmäßig als eine „rechtskräftige bzw. endgültige Aburteilung“ verstanden werden. Der Begriff der Tat meint hier das historische Geschehen, wie es das Gericht spätestens im Rahmen 12 Dies gilt um so mehr, als europaweit eine Tendenz zu beobachten ist, den Schwerpunkt der klassischen Aufgaben der Ermittlungsorgane immer weiter nach vorne zu verlagern, den Unmittelbarkeitsgrundsatz einzuschränken und im Sinne des Beschleunigungsgrundsatzes verstärkt Möglichkeiten zur Verfahrensbeendigung im Vorverfahren zu schaffen, vgl. nur Eser ZStW 108 (1996), 86 (94 ff., 117 ff., 120 ff.).
F. Zusammenfassung und Schlußbemerkungen
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der Strafzumessung zum Gegenstand seiner Überlegungen gemacht hat. Auch der Begriff der Strafe ist grundsätzlich weit auszulegen und umfaßt neben Kriminalstrafen auch solche des Verwaltungssanktionenrechts. In der Zukunft wird die europaweite Weiterentwicklung der Art. 54 ff. SDÜ wesentlich durch die Rechtsprechung des EuGH geprägt sein. Dieser wurde mit der Einbeziehung des SDÜ in den Besitzstand der Europäischen Union für die Auslegung dieses Übereinkommens zuständig und kann so in der Zukunft ein einheitliches Verständnis der Regelung gewährleisten. Politisch zeichnet sich eine Novellierung dieser Regelungen hin zu einem strafrechtlichen Kollisionsrecht ab, das in seinen Wirkungen aber weit über das mit dem Prinzip des ne bis in idem verfolgte Grundanliegen hinaus geht und eine noch stärker fortgeschrittene Horizontalintegration der Mitgliedstaaten voraussetzt. Besonders in der vertikalen Schutzrichtung des Prinzips des ne bis in idem im supranationalen System der Europäischen Gemeinschaften zeigt sich der Wandel der Europäischen Gemeinschaften. Hatte diese ursprünglich die Schaffung eines Gemeinsamen (Wirtschafts-)Marktes zum Ziel, hat sie sich inzwischen zu einer sachbereichsübergreifenden Europäischen Union entwickelt, die ihren Unionsbürgern einen erweiterten Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts gewährleisten will13. Das Individuum rückt stärker in den Mittelpunkt des Unionshandelns, so daß sich grundrechtliche Forderungen allgemein in neuer Schärfe stellen und konkret auch der Grundsatz des ne bis in idem stärkeres Gewicht bekommt. Die Erkenntnis, daß der Grundsatz des ne bis in idem in diesem Bereich denselben Regelungsgehalt und dieselbe Regelungsintensität wie ein rein systemintern wirkendes Prinzip des ne bis in idem aufweist, setzt sich allerdings erst langsam durch. Immerhin zeigt die Entwicklung der Gemeinschaftsrechtsprechung und der in der Literatur vorgeschlagenen Lösungsversuche eine Tendenz zu einer möglichst umfassenden Geltung eines vertikalen Grundsatzes des ne bis in idem: In Rechtssprechung und Literatur stehen anfangs generelle Kompetenzfragen im Vordergrund; diese werden speziell für das europäische Wettbewerbs- und Kartellrecht im Sinne der sog. modifizierten Zweischrankentheorie gelöst. Europäisches und nationales Recht schützen danach unterschiedliche Rechtsgüter bzw. verfolgen unterschiedliche Ziele. Eine Anrechnung soll dann nur aus „Billigkeitsgründen“ erfolgen. In jüngeren Arbeiten wird dagegen versucht, einen Kern unzulässiger Doppelbestrafung auszumachen und in einem Randbereich Anrechnungs- und Berücksichtigungslösungen zuzulassen14. Daß der vertikal wirkende Grundsatz des ne bis in idem für den Bereich der Europäischen Gemeinschaft einem systemintern wirkenden Grundsatz gleichgeZu diesem Wandel siehe auch Schröder JZ 2002, 849 (851 f.). Wobei je nach Autor die Identität der Handlung (Raisch), des tatbestandlich vertypten Unrechts (Dannecker) oder des geschützten Rechtsguts (zuletzt Böse) maßgeblich sein soll; siehe oben E. III. 13 14
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F. Zusammenfassung und Schlußbemerkungen
stellt werden muß, läßt sich rechtstheoretisch nachweisen. Besonderheiten gegenüber letzterem folgen dann nur aus der Verschränkung der nationalen und supranationalen Rechtsordnung im Bereich der Rechtfertigung etwaiger Eingriffe, denn dort kommt das Zusammenspiel der nationalen und supranationalen Rechtsordnungen besonders zum Tragen. Der „Stufenbau des gemeinschaftlichen Sanktionensystems“15 führt zu einer Aufteilung der Verpflichtungen des Grundsatzes des ne bis in idem auf die verschiedenen nationalen und supranationalen Hoheitsträger, so daß sich ein Rückgriff auf das Anrechnungsprinzip in vielen Fällen erübrigt. Bei der Anwendung des Doppelbestrafungsverbots im konkreten Fall sind zwei Grundkonstellationen auseinander zu halten16: Der Direktvollzug von punitivem Gemeinschaftsrecht durch supranationale Behörden und der Vollzug originär gemeinschaftsrechtlicher Sanktionen durch nationale Behörden. Im Bereich des Direktvollzugs folgt ein Großteil der Fälle von Doppelbestrafung aus den jeweils beschränkten Kompetenzen der handelnden Organe. Materiellen Lösungsversuchen, die die Aufgabe eines der konkurrierenden Systeme zum Gegenstand haben, sind hier a priori Grenzen gesetzt. Ein erster Ausgleich muß daher auf verfahrensrechtlicher Ebene geschaffen werden. Der Gemeinschaftsgesetzgeber wird hier durch das Prinzip des ne bis in idem verpflichtet, in Zusammenarbeit mit den Mitgliedstaaten geeignete Formen integrierten Verwaltungshandelns zu entwickeln. Nur soweit parallele Verfahren zum Schutz der verschiedenen Regelungsgegenstände erforderlich und verhältnismäßig sind, darf dem Grundgedanken des Prinzips des ne bis in idem durch bloße Anrechnungs- und Berücksichtigungsgebote Rechnung getragen werden. Vordringlich auf der Ebene der Mitgliedstaaten zu lösen, ist dagegen das Problem mehrfacher Bestrafungen soweit Sanktionen wegen Verstößen (auch) gegen Gemeinschaftsrechtsgüter dezentral durch Behörden der Mitgliedstaaten verhängt werden. Sie haben ihr nationales Sanktionenrecht so zu gestalten, daß insgesamt eine Tat nur einmal strafrechtlich verfolgt wird. Diese sind dabei verpflichtet, insgesamt einen angemessenen Schutz der Gemeinschaftsrechtsgüter zu gewährleisten. Einschränkungen der Wirksamkeit des supranationalen (Sanktionen-)Rechts können soweit gerechtfertigt werden, wie die Nationalstaaten dem Element formeller Gerechtigkeit Rechnung tragen müssen, das auf supranationaler Ebene aus Gründen der Subsidiarität berechtigterweise vernachlässigt wurde. Noch weitgehend ungeklärt ist bislang die Frage, inwieweit das Prinzip des ne bis in idem im europäischen Strafrecht durch Art. 50 Grundrechtscharta fortentwickelt wird. Die bisherigen Stellungnahmen sind teils euphorisch, teils ernüchternd. Ein Novum stellt Art. 50 Grundrechtscharta zunächst dogmatisch dar, da hier erstmals eine Norm geschaffen wurde, die für das Gebiet der Europäischen Gemeinschaften alle drei Wirkrichtungen des Doppelbestrafungsverbots fest15 16
Vgl. Pühs, Vollzug von Gemeinschaftsrecht, S. 270 ff. Siehe oben E. IV. 2.
F. Zusammenfassung und Schlußbemerkungen
251
schreibt und in sich vereint. Materiell gilt auch hier, was der EGMR für die Auslegung der EMRK oder das BVerfG für die Auslegung der Grundrechte des deutschen Grundgesetzes festgestellt haben: Die Interpretation muß dynamisch sein, das heißt, sie ist abhängig vom jeweiligen Grad der europäischen Integration und dem dabei angestrebten Endzustand17.
17 Hinweise, wie zumindest die nähere Zukunft gestaltet werden könnte, gibt der am 13. Juni 2003 akklamierte Entwurf einer europäischen Verfassung (zu einer ersten, kritischen Würdigung siehe Epping JZ 2003, 821 [822, 824 ff.]).
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Stichwortverzeichnis Aburteilung 79, 143, 146, 148, 149, 166, 177, 190 Ahndungsminimum 212, 219, 232 Aktenprozeß 64 Anerkennung, ausländischer Entscheidungen allgemein 71, 92, 139 Anerkennung, einseitige von Strafurteilen 137, 153 Anerkennung, Grundsatz der gegenseitigen 23, 151, 162, 176, 177, 190 Angemessenheit 128, 130, 131, 242 Angleichung 78, 91, 150, 151, 161 Anrechnungsprinzip 46, 52, 60, 65, 80, 221, 237, 240, 250 Anweisungskompetenz 195 Ausgleichsmechanismen 125, 129, 168, 232, 245 Auslandstaten 64, 68, 74, 78, 79, 137 Auslieferung 62, 78, 86, 175, 181, 261 autorité de la chose jugée 29, 66 Bagatellkriminalität 170 Befugnisshopping 143, 191 Beihilfe 228 Berücksichtigungsgebot 213, 221 Beweisaufnahme 48, 49, 63, 64, 152 – unmittelbare 170 Boehringer 19, 101, 193, 200, 211 Brottskonkurrens 77 Bußgeldverfahren 202, 204, 206, 210, 226 comportement 112 conduct 112 Constitutio Criminalis Carolina 56 cosa juzgada 72, 73 Dauerdelikt 198 decision de non lieu 66 delito complejo 73
Direktvollzug 218, 220, 250 Disziplinarerkenntnis 61 Disziplinarrecht 15, 47, 60, 71, 85, 110 double jeopardy 80, 82, 84, 85, 218 effet utile 157, 196, 218, 222 Einschätzungsprärogative 129 Einstellung 24, 60, 71, 94, 120, 145, 146, 154, 172, 206, 213 Einstellungsurteil 59, 146 Entscheidung 48, 154, 165, 169, 248 – endgültige 48, 69, 147, 150, 152, 154, 166, 172, 184, 248 – rechtskräftige 146, 152, 166 Ermittlungsverfahren 123, 126, 142, 175, 190 Eurojust 93, 163, 175, 176, 185, 192 Europäische Justizielle Netz 176, 185 Europol 163 exceptio rei iudicatae 55, 75 Formalfreispruch 171 forum shopping 191 Freiheitsorganisation 33, 37, 49, 51, 97 Fusionskontrollverordnung 203, 226 Gegenseitigkeit 150, 153, 156, 158, 185 Geldbuße 94, 109, 196, 198, 201, 209, 212, 226, 231 Gemeinschaftssanktionen 193 Gemeinschaftstreue 195, 214, 232 Gesamtbetrachtung 67, 117, 200 Gesichtspunkt, unwesentlicher 129 Gesichtspunkt, wesentlicher 62, 114 Gestaltungsspielraum 128, 129, 204 Gewährleistungsumfang 44, 45, 126 Gewaltmonopol 34 Giry und Guerlain 202, 206, 228 giudicato formale 75 giudicato sostanziale 75
272
Stichwortverzeichnis
Gnadenentscheidung 181 Gradinger 62, 105, 111, 127, 224
Organisationskompetenz 194 Orientierungssicherheit 36, 37
Harmonisierung 31, 133, 150, 161, 205 Helsinki-Vertrag 78 Horizontalintegration 160, 185, 190, 216, 249
Paulussentenzen 55 plea of autrefois acquit 81 plea of autrefois convict 80, 81, 83, 84 Qualitätsprinzip 28, 162, 163
Idealkonkurrenz 61, 67, 69, 73, 113, 202, 205 Imperativentheorie 41 implied powers 157, 222 Individualrechte 214 Individualrechtsschutz 138 Instanzentzug 131, 208, 221 Integrationsmethode 158 Integrationsrahmen 215 Internationalisierung 53, 138, 259 Kartellrecht 196, 198, 206, 207, 211, 249 Kernbereich 113, 128, 136, 137, 168 Klageerzwingungsverfahren 144, 171 Kognitionskompetenz 120, 124, 153, 167, 210 Kompetenzverteilungsprinzip 162, 165 Konstitutionalisierung 140 Konstitutionalisierungsgrad 140 Konzern 225 Koordination 16, 24, 36, 37, 151, 154, 165, 185, 191, 219, 225, 229, 239, 246 Lagkonkurrens 77 Leistungssperre 229, 233 Massenkriminalität 170 Mindestharmonisierung 161 Montansektor 196 Nationalsozialismus 58 Negativattest 206 OLAF 93, 197, 198 Optimierungsgebot 41, 42 Ordnungswidrigkeit 109, 146, 210, 230, 231, 233 ordonnance de non-lieu 66, 144, 145, 152, 171 ordre public 24
Rechtsauskunft 146 Rechtsgut 25, 82, 112, 208 Rechtshilfe 24, 37, 54, 104, 174, 176 Rechtskraftfähigkeit 27, 145, 152, 166 Rechtskraftqualität 49, 151 Rechtsmittelinstanz 122 Rechtsprinzip 32, 40, 43, 56, 69, 236, 237, 245 Rechtsregel 40, 43, 54 Rechtssicherheit 25, 26, 33, 36, 46, 72, 75, 129, 154, 191, 211, 245 Rechtsstaatsprinzip 27, 29, 33, 60, 97, 136, 215, 245 Referenzsystem 139 Sachurteil 27, 81 Schuldprinzip 31, 42 Schutzniveau 16, 91, 215, 216 Spezialität 185, 202 Steuerungsressourcen 160 Straßenverkehr 87, 138 Strafanknüpfungsrecht 165, 178, 248 Strafbefehl 58, 168, 169, 232 Straferkenntnis 24, 148, 173 Strafmilderungsgrund 212 Strafübernahmebegehren 65 Strafvollstreckung 37, 95, 164, 175, 245 Strafzuschlag 109 Subsidiaritätsprinzip 64, 220, 222, 232 Supranationalität 156, 190, 193, 201, 215 tainted acquittals 84 taking into consideration 23, 83, 124, 170 Tat 177 Tatbegriff 45, 67, 95, 114, 177, 207, 210, 246 Tateinheit 59, 75, 77, 84, 231 Tatmehrheit 59, 75, 77 Teerfarbenentscheidung 201, 228
Stichwortverzeichnis Tendenzaussage 41 Territorialitätsprinzip 31, 60, 62, 64, 68, 70, 76, 78, 79 Transactie 69, 147, 154, 171 Übernahmeersuchen 145 Verfahrensfehler 66, 119 Verfahrenshindernis 58, 61, 66, 70, 77, 142, 191, 231 Verfolgungshindernis 145 Verhältnismäßigkeitsgrundsatz 31, 67, 203 Vertrauensschutz 171 Verwaltungsstrafrecht 180 Verwaltungsübertretung 24, 148 Völkerrecht 39, 140, 155, 156
18 Mansdörfer
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Vollstreckung 62, 68, 69, 75, 82, 96, 127, 133, 165, 169, 181, 217, 248 Vorabentscheidungsverfahren 189 Vorlagepflicht 187, 189 Vorrang des Gemeinschaftsrechts 93, 206, 207, 221, 223 Voruntersuchung 145 Weltrechtsprinzip 70, 78 Wettbewerbsrecht 203, 205, 212, 224, 236 Wiederaufnahme 49, 61, 84, 119, 165, 204 Zuständigkeit 25, 118, 132, 189, 209 Zweischrankentheorie 205, 249 Zwischenstaatlichkeitsklausel 205