Das polnische Fenster: Deutsch-polnische Kontakte im staatssozialistischen Alltag Leipzigs 1972-1989 9783486717259, 9783486713039

„Polnisches“ übte im sozialistischen Alltag der DDR eine große Faszination aus. Am Beispiel der Bürger Leipzigs untersuc

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German Pages 378 Year 2012

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Table of contents :
Einleitung
1. Rahmenbedingungen deutsch-polnischer Kontakte in Leipzig
1.1. Auftakt. Faszination des Polnischen
1.2. Leipzig und Volkspolen. „Völkerfreundschaft“ unter den Bedingungen des Staatssozialismus
1.2.1. Geschichtsbilder in der DDR und in Volkspolen und Aspekte der gegenseitigen Wahrnehmung
1.2.2. Die offene Grenze. Leipzig als Beispiel einer propagandistisch gewollten Partnerschaft
1.2.3. Die geschlossene Grenze. Die ‚Gefahr‘ aus Volkspolen und Leipziger ‚Aufbauhilfe‘
1.3. Exkurs. Die Staatssicherheit als Garant der Macht und als Akteur im Alltag. Private deutsch-polnische Kontakte als Instrument der Stasi
2. Deutsch-polnisches Leben in Leipzig und polnische Erfahrungen von Leipzigern. Akteure und Kontakträume
2.1. Offiziell angebahnte Kontakte. Sozialistische Internationale und kleine Dienste unter Freunden
2.2. Polnische Vertragsarbeiter in Leipzig. Wirtschaftliche Notwendigkeit und private Aneignungen
2.2.1. Soziologische Faktoren und Rahmenbedingungen
2.2.2. Der Alltag polnischer Vertragsarbeiter in Leipzig
2.3. Polnisches Studentenleben in Leipzig
2.4. Deutsch-polnisches Leben in Leipzig
2.5. Eine Insel in Leipzig. Das Polnische Informations- und Kulturzentrum
2.5.1. Tätigkeit und „Öffentlichkeitsarbeit“
2.5.2. Alltägliches und Informelles – das PIKZ als Vermittler des Polnischen
2.5.3. Das PIKZ in den Augen der Staatssicherheit
2.6. Ergebnisse und Thesen: Deutsch-polnisches Leben in Leipzig und polnische Erfahrungen von Leipzigern
3. Reisen ins Nachbarland. Volkspolen zwischen Sehnsuchtsziel und sozialistischer Urlaubsidylle
3.1. Der Tourismus zwischen der DDR und Volkspolen
3.1.1. Reisen zur Zeit der offenen Grenzen
3.1.2. Organisierte Reisen in den achtziger Jahren
3.2. Kinder-, Jugend- und Studentenaustausch
3.3. Ergebnisse und Thesen: Reisen ins Nachbarland. Volkspolen zwischen Sehnsuchtsziel und sozialistischer Urlaubsidylle
4. Deutsch-polnischer Schleichhandel in Leipzig. „Hamsterkäufe“ und Konsumkultur „von unten“
4.1. Einstellungen zum deutsch-polnischen Schleichhandel
4.2. Praktiken und Bekämpfung des Schleichhandels
4.2.1. Waren und Warenmenge
4.2.2. Die Praktiken des Schleichhandels
4.2.3. Bekämpfung des Schleichhandels durch die Staatsorgane
4.3. Der „Schmugglerzug“. Ein Beispiel der Verflechtung von Einstellungen und Praktiken
4.4. Ergebnisse und Thesen: Deutsch-polnischer Schleichhandel in Leipzig
Zusammenfassung
Danksagung
Abkürzungsverzeichnis
Quellen und Literatur
Quellen
Literatur
Register
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Das polnische Fenster: Deutsch-polnische Kontakte im staatssozialistischen Alltag Leipzigs 1972-1989
 9783486717259, 9783486713039

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Daniel Logemann Das polnische Fenster

Europas Osten im 20. Jahrhundert Schriften des Imre Kertész Kollegs Jena Herausgegeben von Wlodzimierz Borodziej und Joachim von Puttkamer Band 2

Oldenbourg Verlag München 2012

Daniel Logemann

Das polnische Fenster Deutsch-polnische Kontakte im staats­ sozialistischen Alltag Leipzigs 1972–1989

Oldenbourg Verlag München 2012

Das Imre Kertész Kolleg Jena „Europas Osten im 20. Jahrhundert. ­Historische ­Erfahrungen im Vergleich“ an der Friedrich-Schiller-­Universität Jena, ist ein ­Institute for Advanced Study zur Geschichte des östlichen Europas im 20. Jahrhundert. Das Kolleg unter der Leitung von Prof. Dr. Włodzimierz ­Borodziej und Prof. Dr. Joachim von Puttkamer wurde im ­Oktober 2010 als neuntes Käte Hamburger Kolleg des Bundes­ministeriums für ­Bildung und Forschung (BMBF) gegründet.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2012 Oldenbourg Wissenschaftsverlag GmbH Rosenheimer Straße 145, D-81671 München Tel: 089 / 45051-0 www.oldenbourg-verlag.de Das Werk einschließlich aller Abbildungen ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ­außerhalb der Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Bearbeitung in elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: hauserlacour Frankfurt Satz: Typodata GmbH, Pfaffenhofen a.d. Ilm Druck und Bindung: Memminger MedienCentrum, Memmingen Dieses Papier ist alterungsbeständig nach DIN/ISO 9706 ISBN 978-3-486-71303-9 eISBN 978-3-486-71725-9

Inhalt Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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1. Rahmenbedingungen deutsch-polnischer Kontakte in Leipzig . . . .

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25

1.1. Auftakt. Faszination des Polnischen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

1.2. Leipzig und Volkspolen. „Völkerfreundschaft“ unter den Bedingungen des Staatssozialismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.2.1. Geschichtsbilder in der DDR und in Volkspolen und Aspekte der gegenseitigen Wahrnehmung . . . . . . . . . . . . 1.2.2. Die offene Grenze. Leipzig als Beispiel einer propagandistisch gewollten Partnerschaft . . . . . . . . . . . . 1.2.3. Die geschlossene Grenze. Die ‚Gefahr‘ aus Volkspolen und Leipziger ‚Aufbauhilfe‘ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

34 37 47 57

1.3. Exkurs. Die Staatssicherheit als Garant der Macht und als Akteur im Alltag. Private deutsch-polnische Kontakte als Instrument der Stasi . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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2. Deutsch-polnisches Leben in Leipzig und polnische Erfahrungen von Leipzigern. Akteure und Kontakträume . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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2.1. Offiziell angebahnte Kontakte. Sozialistische Internationale und kleine Dienste unter Freunden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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2.2.

Polnische Vertragsarbeiter in Leipzig. Wirtschaftliche Notwendigkeit und private Aneignungen . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.1. Soziologische Faktoren und Rahmenbedingungen . . . . 2.2.2. Der Alltag polnischer Vertragsarbeiter in Leipzig . . . . . .

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2.3. Polnisches Studentenleben in Leipzig . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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2.4. Deutsch-polnisches Leben in Leipzig . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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2.5. Eine Insel in Leipzig. Das Polnische Informations- und Kulturzentrum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.5.1. Tätigkeit und „Öffentlichkeitsarbeit“ . . . . . . . . . . . . . . . . 2.5.2. Alltägliches und Informelles – das PIKZ als Vermittler des Polnischen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.5.3. Das PIKZ in den Augen der Staatssicherheit . . . . . . . . . . 2.6. Ergebnisse und Thesen: Deutsch-polnisches Leben in Leipzig und polnische Erfahrungen von Leipzigern . . . . . . . . . . . . . . . .

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VI   Inhalt 3. Reisen ins Nachbarland. Volkspolen zwischen Sehnsuchtsziel und sozialistischer Urlaubsidylle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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3.1. Der Tourismus zwischen der DDR und Volkspolen . . . . . . . . . 3.1.1. Reisen zur Zeit der offenen Grenzen . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1.2. Organisierte Reisen in den achtziger Jahren . . . . . . . . . .

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3.2. Kinder-, Jugend- und Studentenaustausch . . . . . . . . . . . . . . . .

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3.3. Ergebnisse und Thesen: Reisen ins Nachbarland. Volkspolen zwischen Sehnsuchtsziel und sozialistischer Urlaubsidylle . . . .

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4. Deutsch-polnischer Schleichhandel in Leipzig. „Hamsterkäufe“ und Konsumkultur „von unten“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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4.1. Einstellungen zum deutsch-polnischen Schleichhandel . . . . . .

272

4.2. Praktiken und Bekämpfung des Schleichhandels . . . . . . . . . . . 4.2.1. Waren und Warenmenge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2.2. Die Praktiken des Schleichhandels . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2.3. Bekämpfung des Schleichhandels durch die Staatsorgane . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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4.3. Der „Schmugglerzug“. Ein Beispiel der Verflechtung von Einstellungen und Praktiken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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4.4. Ergebnisse und Thesen: Deutsch-polnischer Schleichhandel in Leipzig . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Danksagung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Abkürzungsverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Quellen und Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Quellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Register . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Einleitung Lieber Freund! Mit großer Freude habe ich Deinen Brief erhalten und danke Dir zugleich im Namen mei­ ner Frau sehr herzlich für Deine guten Worte. Wir sind hier gut informiert über die Aktivi­ täten in Vorbereitung Eures Parteitages. Für die Umsetzung dieser bedeutsamen Beschlüsse und für die Vorbereitung Eurer Gewerkschaftswahlen wünsche ich Dir persönlich großen Erfolg. Ich bedanke mich zugleich für Dein Angebot, nach Zakopane in die Ferien zu kommen. Ich bitte um Verständnis dafür, daß wir diese freundliche Einladung leider nicht annehmen können. Wir haben bereits für die Zeit vom 24. 12. 71 bis 2. 1. 72 in unserer Republik Ferien­ plätze gebucht; eine Änderung ist so kurzfristig nicht mehr möglich. Sicher wird sich im nächsten Jahr noch eine andere Gelegenheit finden, daß wir uns in der DDR – Du bist uns immer herzlich willkommen – oder in der VR Polen sehen und treffen können. Wir gestatten uns gleichzeitig, Dir, Deiner Gattin und allen Freunden des Vorstandes unse­ re besten Grüße und Wünsche zum Jahreswechsel und für eine erfolgreiche Arbeit, gute Gesundheit und persönliches Wohlergehen im Jahre 1972 zu übermitteln. Mit den besten Grüßen1 Sehr verehrter und teurer Jochen! Die Gelegenheit nutzend möchte ich Dir und allen Genossen der Bezirksleitung der SED in Leipzig herzliche Grüße übermitteln. Auf diesem Wege möchten wir noch einmal herzlich danken für die Hilfe, die wir ständig erfahren. Besonders hoch schätzen wir die Erfahrun­ gen, welche eine Gruppe von Genossen aus dem Parteiapparat, die vor kurzem auf Eure Einladung bei Euch war, gewinnen konnte. […] Ich möchte ganz herzlich für die Einladung an meine Frau und mein Kind für einen Auf­ enthalt in Eurem Ferienhaus danken. Bei dieser Gelegenheit habe ich noch eine vorsichtige Bitte: Meine Frau würde gern, wenn auch nur im Überblick, Leipzig kennenlernen. Wenn es also keine Überbeanspruchung Eurer herzlichen Gastfreundschaft bedeuten würde, sie nach der Rückkehr aus dem Ferienhaus für 3–4 Tage in Leipzig aufzunehmen, damit sie sich die schöne Stadt ansehen kann, wäre ich sehr dankbar. Zum Schluß sende ich Dir noch einmal herzliche und kommunistische Grüße und danke für alles, was Ihr für uns tut. Hochachtungsvoll2

Ein Deutscher schreibt einem Polen und ein Pole einem Deutschen. Beide Schreiber tauschen mit ihren Adressaten Höflichkeiten aus. Sie beziehen sich eindeutig auf das politische System, in dem sie leben und an dessen Aufbau und Fortbestand sie mitwirken. Der offizielle politisch-gesellschaftliche Be­ reich ist in der Eigenwahrnehmung der Briefschreiber nicht nur außerordent­ lich zentral, sondern zudem durch „bedeutsame Beschlüsse“ und berufliche 1

Archiwum Akt Nowych [AAN], Związek Zawodowy Energetyków Nr. 36/95. Brief, Ber­ lin, 2. 12. 1971. 2 SächsStA, StA-L, 21123 SED-BLL Nr. IV/E/2/18/501. Brief, Krakow, 7. 5. 1982 [Überset­ zung aus dem ebenfalls archivierten polnischen Original].

2   Einleitung wie persönliche Erfolge aufgeladen. Politik ist im zweiten Brief gleichzeitig ein ausgesprochen sensibles Thema: mit dem Entstehen der unabhängigen Ge­ werkschaft „Solidarność“3 und während des Kriegszustandes gerät das staats­ sozialistische System in Volkspolen unter Druck und die ostdeutsch-volks­ polnischen4 Beziehungen sind extrem belastet. Deswegen bedankt sich der polnische Funktionär für Hilfe und Unterstützung untertänigst – seine Posi­ tion ist in Frage gestellt. Nur oberflächlich betrachtet, begegnen sich polni­ sche und deutsche Funktionäre freundschaftlich und kollegial. Eigentlich zeu­ gen ihre Briefe von Distanz – nicht nur in Wortwahl und Stil. Auf Formeln, die eine feste Freundschaft zu signalisieren scheinen, verfallen beide Schreiber in Höflichkeitsfloskeln, die nicht auf enge Vertrautheit schließen lassen. Die Briefe spiegeln auf den ersten Blick eine gewisse Behutsamkeit wider, die je­ doch darunter liegende Unsicherheiten und Ungewissheiten nur überdeckt. Beide Schreiber operieren indirekt oder offen mit der Gegenüberstellung von ‚Wir‘ und ‚Ihr‘; sie beschreiben mit ‚Wir‘ keine gemeinsame Gruppe. Die privaten Anliegen der Briefeschreiber zielen ebenfalls auf ein span­ nungsgeladenes Feld: Beide thematisieren vorsichtig und doch unverhohlen Urlaubs- und Besuchsfahrten ins Nachbarland. Begonnen als politische Glück­ wünsche, enden die Briefe mit privaten Angelegenheiten. Der polnische Schreiber ist in der Position eines Bittstellers, der deutsche lehnt ein großzü­ giges Angebot mit der Begründung bürokratischer Schwierigkeiten ab. Der private Kontakt ins Nachbarland wird zur Verhandlungsmasse und schafft die Möglichkeit, sich gewisse Privilegien zu sichern, sie zu vergeben und über sie zu verfügen. Der Übergang von offizieller Kommunikation zwischen System­ trägern zu informellen Absprachen ist hier an einer Schnittstelle ostdeutschvolkspolnischer Beziehungen greifbar. Denn gerade Reisefreiheit und Urlaub zählten zu den wesentlichen Konsumwünschen der Bevölkerung in DDR und Volkspolen. Eine entsprechende Rolle spielten Tourismus und Reisemöglich­ keiten auch in der Politik beider Staaten. Reisen ins jeweilige Nachbarland berührten die Probleme von Mangel und erhöhtem Bedürfnis. Der deutschpolnische Kontakt auf Reisen betraf in verflochtenen historischen, politischen und gesellschaftlichen Konstellationen das empfindliche Feld sozialistischer Völkerfreundschaft und gleichzeitigem gegenseitigen Misstrauen. Hier über­ 3

Kurz und informativ ist die Geschichte der „Solidarność“ von Andrzej Paczkowski zu­ sammengefasst worden: Vgl. Andrzej Paczkowski: Polnischer Bürgerkrieg. Der unaufhalt­ same Abstieg des Kommunismus, in: Osteuropa 59 (2009), H. 2–3, S. 97–117. 4 „Ostdeutsch-volkspolnisch“ wird in dieser Arbeit dann benutzt, wenn die staatlichen Be­ ziehungen zwischen der DDR und der Volksrepublik Polen gemeint sind. „Deutsch-pol­ nisch“ wird benutzt, wenn die Beziehungen und Kontakte zwischen Menschen mehr oder weniger abseits der politischen Strukturen gemeint sind.

Einleitung   3

schnitten sich Privates und Öffentliches, aber auch Deutsches und Polnisches wie in kaum einem anderen Bereich. Beide oben vorgestellten Briefe veranschaulichen jenes Spannungsfeld zwi­ schen offizieller und privater Ebene, das für die Kontakte zwischen Polen und Deutschen während des gesamten Zeitraums des Bestehens der DDR und der Volksrepublik Polen von einschneidender Bedeutung war. Sie zeichnen sich durch eine seltsame Mischung von Offiziellem und Informellem aus, das auf der Ebene privater Kontakte ausgehandelt wird. Den Briefen scheint also kei­ nesfalls nur berufliche oder gar private Sympathie zu Grunde zu liegen. Sie eint auch der Duktus des ‚eine Hand wäscht die Andere‘ und von Netzwerken, denen im Staatssozialismus eine gewichtige Rolle zukam. Dennoch blieben die institutionellen und staatssozialistisch gelenkten Weichenstellungen für die deutsch-polnischen Kontakte konstitutiv und bereiteten das Feld der Mög­ lichkeiten.

Methodischer Zugang und Fragestellung Diese Arbeit versteht sich als Alltagsgeschichte5, die ostdeutsch-volkspol­ nische Verflechtungen6 auf der Leipziger Mikroebene untersucht. Sie wählt ­einen regional- und akteursbezogenen Ansatz, um zu alltäglichen Kontakten vorzudringen. Am Beispiel Leipzigs sollen wichtige Faktoren der Kontakte ­erfasst und deren Auswirkungen auf das Leben der Kontaktpersonen beschrie­ ben werden.

5

Alltagsgeschichte wird in Anlehnung an Alf Lüdtke als eine Geschichte der „kleinen Leu­ te“ verstanden, der es darum geht, die soziale Praxis und die Aneignungsprozesse der Menschen zu untersuchen. Der Ansatz aus der Miniatur soll in einer Mischung aus „dichter Beschreibung“ und Analyse die Deutungs-, Wahrnehmungs-, Orientierungswei­ sen der Beteiligten als Subjekte und Objekte historischer Prozesse rekonstruieren. Vgl. Alf Lüdtke: Einleitung. Was ist und wer treibt Alltagsgeschichte? In: Ders. (Hrsg.): All­ tagsgeschichte. Zur Rekonstruktion historischer Erfahrungen und Lebensweisen. Frank­ furt am Main/New York 1989, S. 9–47. 6 Deutsch-polnische Verflechtungen werden hier durchaus im Sinne ‚transnationaler‘ ­Verflechtungen gebraucht. Zum Verständnis von Verflechtung in transnationalen Zu­ sammenhängen jenseits des Transfers oder des Vergleichs sind die Überlegungen von Michael Werner und Bénédicte Zimmermann zur histoire croisée ausgesprochen instruk­ tiv. Werner und Zimmermann schlagen u. a. vor, induktiv vorzugehen, die Untersuchungs­ kategorien laufend in Frage zu stellen und die Wechselseitigkeit von Struktur und Hand­ lung jeweils mehrperspektivisch zu analysieren. Vgl. Michael Werner/Bénédicte Zimmermann: Vergleich, Transfer, Verflechtung. Der Ansatz der Histoire croisée und die Herausforderung des Transnationalen, in: GG 28 (2002), S. 607–636.

4   Einleitung In der Analyse wird meistens der staatlich initiierte Überbau als Ausgangs­ punkt gewählt. Vor dem Hintergrund der offiziellen Beziehungen Leipzigs und damit seiner Bewohner zur Volksrepublik Polen soll untersucht werden, wie sich die Kontakte im Lebensalltag der Menschen darstellten und wie sie diesen Alltag beeinflussten. Die staatssozialistischen Voraussetzungen in Leip­ zig waren die Koordinaten, zwischen denen sich die Akteure des Alltags be­ wegten. Somit stehen die privaten Aneignungen und die Aushandlungspro­ zesse zwischen staatlichen Vorgaben und privaten Praktiken im Fokus. Die Verflechtung zweier Kommunikationsräume, geknüpft an unterschied­ liche Sprachen, historische Kontexte und Wahrnehmungen, zweierlei kultu­ relle Codes usw. macht die Dynamik und Lebendigkeit aber auch die Schwie­ rigkeit der Kontakte zwischen Deutschen und Polen in DDR und Volkspolen aus. Es soll darum gehen, den staatssozialistischen Lebensalltag mit seinen Perspektiven von oben und unten anhand der ostdeutsch-volkspolnischen Kontakte plastisch zu machen und dabei Multiperspektivität und Ambivalen­ zen in Einzelbeispielen mit allgemeinen Tendenzen in Verbindung zu setzen. Diffusen Befindlichkeiten und Vorannahmen gilt es möglichst dicht an der Überlieferung der Betroffenen auf die Spur zu kommen. Den oben aus den Briefen entworfenen Assoziationen soll ein Panorama zur Seite gestellt wer­ den, das viele Details einer komplizierten Beziehungsgeschichte auf der Ebene des Alltags aufdeckt. Die zentralen Fragen dieser Arbeit richten sich auf deutsch-polnische Ver­ flechtungen in Leipzig und darauf, wie durch solche Verflechtungen Freiräu­ me und Annäherung von deutschen und polnischen Menschen im Alltag er­ möglicht wurden: Erstens: Wie wurden deutsch-polnische Kontakte von der staatlichen Poli­ tik geplant und gelenkt? Welche Rahmen wurden den privaten Kontakten zwischen Bürgern beider Staaten vorgegeben? Mit welchen Mitteln wurden die Kontakte reglementiert und kontrolliert? Zweitens: Wo lagen die Kontaktzonen im Alltag und wer pflegte die Kon­ takte? Wie sahen die Praktiken der Kontakte zwischen Deutschen und Polen aus? Wie wurden sie wahrgenommen und welche Folgen hatten sie für den Alltag der Menschen? Drittens: Wie weit reichte die Annäherung zwischen Polen und Deutschen in der Volksrepublik Polen und der DDR, wenn sie sich jenseits der politi­ schen Propaganda und ideologischen Formeln entfaltete? Gewährleisteten die Kontakte zwischen Deutschen und Polen eine alltägliche Integration der Ge­ sellschaften? Viertens: Welche Freiräume ergaben sich für Deutsche und Polen durch den Kontakt mit dem Nachbarland und dessen Bewohnern und eröffneten die

Einleitung   5

Eigenarten und Charakteristika des jeweiligen Nachbarlandes spezifische Chancen und Spielräume? Inwiefern konnte man aus privaten Kontakten per­ sönlichen Nutzen ziehen und welcher Art war dieser Nutzen? Kurz, welche ‚Schleichwege‘7 gab es zwischen Deutschen und Polen aus der DDR und Volkspolen? Fünftens: Lassen sich materielle bzw. immaterielle und ideelle Sphären der Freiräume und Schleichwege ausmachen und voneinander unterscheiden? Lassen sich ‚deutsche‘ von ‚polnischen‘ Schleichwegen unterscheiden? Sechstens: Sind die Praktiken privater deutsch-polnischer Kontakte system­ spezifisch für den Staatssozialismus in der DDR und in Volkspolen? Um Antworten auf diese Fragen zu finden, wird in dieser Arbeit die gegen­ seitige deutsch-polnische Wahrnehmung immer wieder aufgegriffen. Dies le­ gen sowohl die Quellen nahe, als auch die Methode, die ihren Reiz aus der Beschreibung von Verflechtung zweier national konstituierter Gesellschaften gewinnt. Wie nahmen die Polen und Deutschen aus Volkspolen und DDR also das ‚Deutsche‘ und ‚Polnische‘ wahr? Wie beeinflusste die Wahrnehmung das Zustandekommen und die Pflege von Kontakten?

Zeit und Raum Zeitlich umfasst diese Arbeit die siebziger und achtziger Jahre des 20. Jahr­ hunderts. In der DDR wie in der Volksrepublik Polen standen die siebziger Jahre mit den Wechseln an der Spitze der Staatsparteien für einen neuen Ab­ schnitt staatsozialistischer Herrschaft. Sowohl Erich Honecker als auch Ed­ ward Gierek standen für eine neue Wirtschafts- und Sozialpolitik mit dem Versprechen höheren Lebensstandards. Die folgenden Jahre brachten in der DDR höhere Stabilität und außenpolitische Anerkennung. In den achtziger Jahren rutschte die DDR immer weiter in Stagnation und Resignation. In Volkspolen leitete die Staatsverschuldung den Niedergang ein und mit wie­ derkehrenden politischen Unruhen erfolgte spätestens ab 1980 der Bruch zwi­ schen Machthabern und Bevölkerung. Die gesellschaftliche Utopie des Sozia­ lismus löste sich bis 1989 in beiden Ländern auf. Für Kontakte zwischen Ost­ deutschen und Polen sind die siebziger und achtziger Jahre vor diesem Hintergrund der politischen Weichenstellungen und darauffolgender Stagna­ tions- und Auflösungsprozesse in Staat und Gesellschaft von Bedeutung. Der 7

Die Metapher ‚Schleichwege‘ stammt aus dem Titel des Projektes, in dessen Rahmen ­diese Arbeit entstanden ist: „Schleichwege“. Inoffizielle Kontakte zwischen Bürgern sozia­ listischer Staaten 1956–1989.

6   Einleitung gewählte Zeitraum gewährleistet es, die Versprechungen und Realitäten in der Endphase des Staatssozialismus transnational8 in Beziehung zu setzen. Die DDR und Volkspolen unternahmen Anfang der siebziger Jahre ent­ scheidende Schritte zu einer Verbesserung ihrer binationalen Beziehungen. Sie erleichterten vor allem den Grenzübertritt, indem sie 1972 die Grenze zwischen beiden Staaten für den pass- und visafreien Verkehr öffneten. Die Beziehungen zwischen den Nachbarländern wurden ausgebaut und Kommu­ nikation und Austausch zwischen den Staaten, aber auch den Gesellschaften angestoßen. Mit der Erleichterung im Reiseverkehr erfuhr der Auslandstou­ rismus einen vormals unerreichbaren Boom. Die logische und nur teilweise auch gewollte Folge waren deutsch-polnische Kontakte. Die achtziger Jahre lassen sich als das Gegenteil dieser Periode der ‚offenen Grenze‘ lesen. Im Oktober 1980 wurde die Grenze wegen politischer Ängste vor der „Solidarność“ und anderer ostdeutsch-volkspolnischer Kontroversen geschlossen. Es folgte eine weitgehende Isolierung der Staaten und Gesell­ schaften voneinander. Von den Verheißungen einerseits und den vielfachen Kontakten in den siebziger Jahren andererseits blieb kaum etwas übrig. Es er­ gibt sich für den Untersuchungszeitraum damit die interessante Konstellation zweier unterschiedlicher Jahrzehnte. Die Konfrontation von ‚Deutschem‘ und ‚Polnischem‘ getrennt nach den siebziger und achtziger Jahren ist eines der Stilelemente dieser Untersuchung. Kristallisationspunkt der Überlegungen und Alltagsbeispiele ist wie bereits erwähnt Leipzig. Die Wahl von Leipzig soll mit einigen Stichworten begrün­ det werden: Leipzig war die größte Stadt im Süden der DDR und als Handelsund Industriezentrum von enormer Bedeutung.9 Besonders die Leipziger Messe galt als Prestigeprojekt der DDR.10 Die Leipziger Hochschullandschaft   8 Zum

Konzept der transnationalen Geschichtsschreibung siehe neben Werner/Zimmer­ mann (vgl. Fußnote  6 in dieser Einleitung) u. a.: Heinz-Gerhard Haupt: Historische ­Komparatistik in der internationalen Geschichtsschreibung, in: Gunilla Budde/Sebastian Conrad/Oliver Janz (Hrsg.): Transnationale Geschichte. Themen, Tendenzen und ­Theorien. Göttingen 2006, S. 137–149. Manfred Hildermeier stellt Überlegungen zur Ver­ wendbarkeit dieses Paradigmas auf die Osteuropäische Geschichte an. Vgl. Manfred ­Hildermeier: Osteuropa als Gegenstand vergleichender Geschichte, in: ebd., S. 117–136.   9 Vgl. zu Leipzigs Rolle als Industriezentrum u. a.: Michael Hofmann: Die Leipziger Metall­ arbeiter. Etappen sozialer Erfahrungsgeschichte, in: Michael Hofmann/Michael Vester/ Irene Zierke (Hrsg.): Soziale Milieus in Ostdeutschland. Gesellschaftliche Strukturen zwi­ schen Zerfall und Neubildung. Köln 1995, S. 136–192; Dieter Rink: Leipzig. Gewinnerin unter den Verlierern? in: ebd., S. 51–90 und Michael Vester: Milieuwandel und regionaler Strukturwandel in Ostdeutschland, in: ebd., S. 7–50. 10 Zur Leipziger Messen vgl. u. a.: Karsten Rudolph/Jana Wüstenhagen: Große Politik – klei­ ne Begegnungen. Die Leipziger Messe im Ost-West-Konflikt. Berlin 06 und Patricia F. Zeckert: „Eine Versammlung der Sehnsucht“. Die Internationale Leipziger Buchmesse

Einleitung   7

mit der Karl-Marx-Universität, der Handelshochschule, der Hochschule für Grafik und Buchkunst und dem Herderinstitut besaß internationales Renom­ mee.11 Darüber hinaus manifestierten Veranstaltungen wie das international besetzte Dokumentar- und Kurzfilmfestival Leipzigs wichtige Position in der Kulturlandschaft der DDR.12 Obwohl die Stadt nicht mehr in der unmittel­ baren Grenzregion zu Volkspolen lag, waren polnische (Einkaufs-)Touristen besonders zu Messezeiten ein sichtbares Phänomen in der Leipziger Innen­ stadt.13 Leipzig hatte traditionell stabile Beziehungen nach Polen. Die Lage der Stadt an traditionellen Handelswegen, die Leipziger Messe, die Personalunion von sächsischem Fürsten und polnischem König und polnische Arbeitsmigra­ tion spielten dabei eine wichtige Rolle. Diese Beziehungen rissen in der DDR nicht gänzlich ab, sondern erhielten einen ideologisch institutionellen Rah­ men. 1973 wurden Leipzig und Krakau durch politische Festlegungen zu Part­ nerstädten und -bezirken erkoren.14 Grundlage einer solchen Partnerschaft war immer die Zusammenarbeit der sozialistischen Massenorganisationen und dabei in erster Linie der kommunistischen Parteien.15 Der Austausch von Delegationen, die Organisation ostdeutsch-volkspolnischer Festtage, Jubiläen und Veranstaltungen und besonders in den achtziger Jahren der Austausch von Kindern, Jugendlichen und Urlaubern waren die Pfeiler dieser Zusam­ menarbeit.16 Mit einem polnischen Generalkonsulat (seit 1972) und einem Polnischen Informations- und Kulturzentrum (seit 1969) waren in Leipzig und die Leser in der DDR, in: Susanne Muhle/Hedwig Richter/Juliane Schütterle (Hrsg.): Die DDR im Blick. Ein zeithistorisches Lesebuch. Berlin 2008, S. 179–187. 11 Zum Auslandsstudium in der DDR und der Rolle auch der Leipziger Hochschulen vgl. u. a. Damian Mac Con Uladh: Studium bei Freunden? Ausländische Studierende in der DDR bis 1970, in: Christian Th. Müller/Patrice G. Poutrus (Hrsg.): Ankunft – Alltag – Ausreise. Migration und interkulturelle Begegnung in der DDR-Gesellschaft. Köln/Wei­ mar/Wien 2005, S. 175–220. 12 Zur Strahlkraft des Festivals vgl. Caroline Moine: Eine DDR zwischen Provinzialismus und internationaler Öffnung. Das Leipziger Dokumentarfilmfestival als Ort der Begeg­ nung und des kulturellen Austauschs, in: Emmanuel Droit/Sandrine Kott (Hrsg.): Die ostdeutsche Gesellschaft. Eine transnationale Perspektive. Berlin 2006, S. 147–163. 13 Vgl. hierzu die Magisterarbeit des Verfassers: Einkaufstourismus, Schmuggel und Schleich­ handel. Alltags- und kulturgeschichtliche Dimensionen deutsch-polnischer Kontakte in Leipzig in den 70er und 80er Jahren (vorgelegt am Historischen Institut der FSU Jena im Wintersemester 06/07). 14 Vgl. http://www.leipzig.de/de/business/wistandort/international/partnerst/krakow/, 1. 6.  2009. 15 Vgl. Lesław Koćwin: Polityczne determinanty polsko-wschodnioniemieckich stosunków przygranicznych 1949–1990 [Politische Determinanten polnisch-ostdeutscher Beziehun­ gen im Grenzraum 1949–1990]. Wrocław 1993, S. 109/10. 16 Vgl. Kapitel 1 und 3 dieser Arbeit.

8   Einleitung polnische Institutionen fest verankert.17 Beide Institutionen waren Zentren eines polnischen Lebens in Leipzig, um sie herum entfaltete sich ein spezielles Milieu und ein polnisch-deutsches Kulturleben. Dokumentiert ist dies nicht nur in deutschen und polnischen Akten, sondern in der lebhaften Erinnerung von Leipzigern. Deutsch-polnische Kontakte prägten sich nicht nur in vielfältiger Weise in­ stitutionell, sondern auch in den Lebensläufen der Menschen aus. Wesentliche Faktoren und Multiplikatoren waren Reisen, dienstliche oder institutionelle Leipzigfahrten, Auslandstudium und die Arbeitsaufenthalte in Leipzig. Allein die Messe zog immer wieder Ausländer an – unter ihnen natürlich auch ­Polen: 1981 sollten laut Reisebürozahlen 2930 Polen zur Herbstmesse in die DDR einreisen.18 Leipzig entwickelte sich zunehmend zu einem wichtigen Einkaufsparadies für polnische Touristen.19 In der Stadt lebte darüber hinaus eine nicht unbeachtliche Anzahl von Po­ len, sei es zeitweise als Studenten oder Vertragsarbeiter oder mit ständigem Wohnsitz, zum Beispiel in deutsch-polnischen Ehen, im diplomatischen Dienst oder aus anderen Gründen. Zwar ist es schwierig, genaue und stimmi­ ge Zahlen zu ermitteln, jedoch dürfte es sich um ca. 1500 bis etwas über 2000 Personen gehandelt haben.20 Eine katholische Messe in polnischer Sprache, gefeiert von einem polnischen Priester, gehörte zu den traditionellen Einrich­ tungen in Leipzig.21 Am Beispiel Leipzigs lassen sich aufgrund seiner Bedeu­ 17 Vgl. zur generellen Verortung beider Institutionen: Birgit Glorius: Transnationale Perspekti­

ven. Eine Studie zur Migration zwischen Polen und Deutschland. Bielefeld 2007, S. 125/26. Zum Polnischen Informations- und Kulturzentrum siehe Kapitel 2 dieser Arbeit. 18 Vgl. BStU, MfS, BV Leipzig, Abt. II Nr. 124/02, Information über bedeutsame Erschei­ nungen und Hinweise im Zusammenhang mit der Entwicklung in der VR Polen. Leipzig, 1. 9. 1981, Bl. 121–125. 19 Vgl. Magisterarbeit des Verfassers und Jonathan R.: Zatlin: „Polnische Wirtschaft“ – „deutsche Ordnung“? Zum Umgang mit Polen in der DDR, in: Müller/Poutrus (Hrsg.): Ankunft, S. 295–315. 20 1980 zählte die Staatssicherheit 2068 in Leipzig wohnhafte und berufstätige Polen. Vgl. BStU, MfS, BV Leipzig, Leitung Nr. 1319. Aufstellung über polnische Bürger, die im Be­ zirk Leipzig berufstätig sind (Stand vom 30. 6. 1980). Leipzig, 13. 8. 1980, Bl. 1/2. 1984 wurden ca. 1750 Polen im Bezirk Leipzig gezählt. Vgl. BStU, MfS, BV Leipzig, Abt. II Nr. 116/01. Übersicht über den Einsatz ausländischer Bürger im Bezirk Leipzig. Leipzig, 6. 8. 1984, Bl. 32–35. 1989 waren zu den polnischen Sejmwahlen in Leipzig 1800 Polen wahlberechtigt. Vgl. BStU, MfS, HA II Nr. 29508. Information zur Schaffung von Voraus­ setzungen für in der DDR aufhältige polnische Staatsbürger hinsichtlich einer Beteili­ gung an den Wahlen zum Sejm und Senat der VR Polen. Berlin, Mai 1989, Bl. 58. Genaue und verlässliche Zahlen sind praktisch nicht zu ermitteln, verschiedene Zählungen schwanken in ihren Angaben. 21 Nach dem Zweiten Weltkrieg kam erst 1974 ein polnischer Seelsorger nach Leipzig, bis zum Zweiten Weltkrieg und bis heute sind polnische Gottesdienste eine ständige Einrich­ tung. Vgl. Glorius: Perspektiven, S. 128.

Einleitung   9

tung und Lage nicht nur in der DDR, sondern auch im ostdeutsch-volkspol­ nischen Kontext, verallgemeinerbare Ergebnisse und Thesen entwickeln.

Methodologische Modelle Der hiesige Zugriff auf die deutsch-polnischen Kontakte ist inspiriert durch die Überlegungen einer Alltagsgeschichte in der Diktatur, wie sie zum Beispiel Thomas Lindenberger vorgeschlagen hat.22 Eingeordnet in Forschungsstand und -kontroversen folgt die Untersuchung in wesentlichen Punkten einer Strömung der Historiografie zur DDR, die eine Gesellschafts- und Alltagsge­ schichte der DDR aus der Auseinandersetzung von Gesellschaft und Staat bzw. Individuum und Herrschaft entwickelt.23 In Betonung des diktatorischen Charakters der DDR sprechen manche DDR-Historiografen von einer „durch­ herrschten Gesellschaft“.24 Diese Auffassung ist nicht unumstritten und zum Teil heftigen Polemiken ausgesetzt.25 So wird die DDR von politikgeschicht­ lich argumentierenden Forschern als von der SED dominierte Diktatur ver­ zentralen Überlegungen dieses Ansatz vgl.: Thomas Lindenberger: Die Diktatur der Grenzen. Zur Einleitung, in: Ders. (Hrsg.): Herrschaft und Eigen-Sinn in der Diktatur. Studien zur Gesellschaftsgeschichte der DDR. Köln/Weimar/Wien 1999, S. 13–44. Ein kluger Diskussionsbeitrag vgl. Ders.: Alltagsgeschichte und ihr möglicher Beitrag zu einer Gesellschaftsgeschichte der DDR, in: Richard Bessel/Ralph Jessen (Hrsg.): Die Grenzen der Diktatur. Staat und Gesellschaft in der DDR. Göttingen 1996, S. 298–325. 23 Die Beispiele für diese Auffassung, für Polemiken und Begrifflichkeiten sind zahlreich. Stellvertretend seien genannt: Richard Bessel/Ralph Jessen: Einleitung. Die Grenzen der Diktatur, in: Dies. (Hrsg.): Diktatur, S. 7–23; Johannes Huinink: Individuum und Gesell­ schaft in der DDR – Theoretische Ausgangspunkte einer Rekonstruktion der DDR-Ge­ sellschaft in den Lebensverläufen ihrer Bürger, in: Johannes Huinink/Karl Ulrich Mayer u. a. (Hrsg.): Kollektiv und Eigensinn. Lebensverläufe in der DDR und danach. Berlin 1995, S. 25–44; Ralph Jessen: Die Gesellschaft im Staatssozialismus. Probleme einer Sozial­ geschichte der DDR, in: GG 21 (1995), S. 96–110; Detlef Pollack: Die konstitutive Wider­ sprüchlichkeit der DDR. Oder: War die DDR-Gesellschaft homogen? in: GG 24 (1997), S. 121–124. 24 Vgl. Alf Lüdtke: „Helden der Arbeit“ – Mühen beim Arbeiten. Zur mißmutigen Loyalität von Industriearbeitern in der DDR, in: Jürgen Kocka/Hartmut Kaelble/Hartmut Zwahr (Hrsg.): Sozialgeschichte der DDR. Stuttgart 1994, S. 188 und Jürgen Kocka: Eine durch­ herrschte Gesellschaft, in: ebd., S. 547–553. 25 Ein Beispiel dafür ist die Debatte, die sich um die Aufsatzsammlung zu Ehren des DDRHistoriografen Hermann Weber im Deutschland Archiv entspann. Vgl. Jürgen Kocka: Bilanz und Perspektiven der DDR-Forschung. Hermann Weber zum 75. Geburtstag, in: DA  36 (2003), S. 764–769; Henrik Bispinck u. a.: DDR-Forschung in der Krise? Defizite und Zukunftschancen – Eine Entgegnung auf Jürgen Kocka, in: DA 36 (2003), S. 1021– 1026; Thomas Lindenberger/Martin Sabrow: Zwischen Verinselung und Europäisierung: Die Zukunft der DDR-Geschichte, in: DA 37 (2004), S. 123–127. 22 Zu

10   Einleitung standen.26 Wieder andere Forscher prägen die Vorstellung einer „klassenlosen Gesellschaft“27, die „stillgestellt“ gewesen sei, so dass aus „sozialen Subsyste­ men“ kaum „eigensinnige Rationalität und Handlungsdynamik“ hervorgegan­ gen sei.28 Der überzeugende Versuch, die DDR-Forschung für eine Alltagsgeschichte zu öffnen, betont jedoch die Rolle der Interaktionen zwischen Beherrschten und Herrschenden. Der Herrschaftsapparat wird nicht als alleinbestimmen­ des und statisches Etwas begriffen, das seine Ansprüche auf Lenkung und Kontrolle auf die unteren Ebenen des Staates durchstellen kann. Vielmehr werden in diesem Ansatz Gesellschaft, soziale Geflechte und Individuen in alltäglicher Perspektive zu einem zentralen Element der Untersuchung. Der Alltag in der Diktatur soll zum Verständnis von Herrschaftsmechanismen in der DDR beitragen. „Herrschaft“ wird als „soziale Praxis“ verstanden und der Umstand ernst genommen, dass gerade in der DDR der Einzelne aufgefordert war, am Gelingen des Projekts Sozialismus mitzuwirken.29 Es wird nicht das statische Gerüst der Diktatur beschrieben, sondern nach den Funktionswei­ sen von Herrschaft gefragt. Die Handlungsspielräume der Menschen in einer Diktatur werden in einem Feld verstanden, in dem nach den jeweiligen in­ dividuell und situativ gebundenen Zielen Einstellungen und Handlungen schwanken können, nicht eindeutig sind oder sich der eindeutigen Kategori­ sierung entziehen. Die Metapher des Eigen-Sinns dient als Beschreibung eines Changierens entlang der gültigen Regeln mit eigenen Zielen und Sinnstiftungen: Der Begriff des ‚Eigen-Sinns‘ zielt auf den deutenden und sinnproduzierenden Aspekt indi­ viduellen wie kollektiven Handelns in sozialen Beziehungen. Er soll die potentielle Mehr­ deutigkeit von Haltungen und Handlungen erschließen und ist gewissermaßen im Plural zu denken; genauso genommen geht es hier um die ‚Eigen-Sinne‘ der in der DDR lebenden Menschen. Das Spektrum der als ‚eigen-sinnig‘ zu charakterisierenden Verhaltensweisen und Motive ist daher sehr breit angelegt. Es reicht vom Übereifer der glühenden Idealisten und der egoistischen Nutzung der Möglichkeiten einer aktiven Mitarbeit über äußerlich ­loyales, aber innerlich distanziertes Verhalten bis hin zu passiven Formen der Verweige­ rung, zu offener Dissidenz und Gegenwehr. Diese Haltungen und Motive lassen auch die u. a. Manfred Wilke: Der SED-Staat. Geschichte und Nachwirkungen. Gesammelte Schriften. Zu seinem 65. Geburtstag zusammengestellt und herausgegeben von HansJoachim Veen. Köln/Weimar/Wien 2006. 27 Vgl. Sigrid Meuschel: Legitimation und Parteiherrschaft in der DDR. Zum Paradox von Stabilität und Revolution in der DDR 1945–1989. Frankfurt am Main 1992, S. 10–15. 28 Vgl. Dies.: Überlegungen zu einer Herrschafts- und Gesellschaftsgeschichte der DDR, in: GG 19 (1993), S. 6. 29 Thomas Lindenberger zitiert in diesem Zusammenhang die Formel: „Arbeite mit, plane mit, regiere mit!“. Vgl. Lindenberger: Alltagsgeschichte, S. 314. Vgl. zur „Herrschaft als sozialer Praxis“: Ebd., S. 312–321. 26 Vgl.

Einleitung   11 herrschaftsunterworfenen Akteure als Machtsubjekte hervortreten; sie können daher nicht losgelöst von Herrschaft betrachtet werden.30

Dieses Verständnis der Handlungsoptionen und Spielräume von Beherrschten in der Diktatur korrespondiert zum Teil mit der Darstellung der DDR als „Nischengesellschaft“.31 Der Rückzug ins Private und in herrschaftsferne Räume wird in der Histo­ riografie zunehmend sogar als herrschaftsstabilisierend verstanden. Für die Tschechoslowakei ist argumentiert worden, die Möglichkeit des Rückzugs sei von den kommunistischen Machthabern sogar aus Kalkül zum Herrschafts­ erhalt akzeptiert worden.32 Individuelle Freiräume verorten sich jenseits der offiziellen Bahnen besonders in privaten und informellen Sphären.33 Auch Ulf Brunnbauer verweist auf den erheblichen Einfluss informeller Beziehun­ gen bei der Austarierung des ‚realsozialistischen‘ Alltags, ohne diese jedoch als oppositionelle Handlungen zu verstehen. Er belegt vielmehr, dass Partei und Staat Informalität duldeten bzw. dulden mussten: „[…] viele Nischen und vermeintliche Freiräume waren eben solche im System und wurden von des­ sen Zwängen strukturiert.“34 Beim Versuch, die deutsch-polnischen Kontakte im staatssozialistischen Alltag zu rekonstruieren, muss auf eindeutige Zuschreibungen verzichtet wer­ den. Eine recht gute Begrifflichkeit kann von Detlef Pollack entlehnt werden, der in etwas anderer Konstellation von „informellen Kommunikationszu­ sammenhängen“35 schreibt. Pollack ist es auch, der von der DDR-Gesellschaft als „Organisationsgesellschaft“ spricht, und betont, dass die „DDR […] als eine widersprüchliche Gesellschaft gesehen“ werden müsse.36 „Prozesse der politischen Entmündigung“ seien ebenso charakteristisch wie „Prozesse der 30 Lindenberger:

Diktatur, S. 23. Metapher von der „Nischengesellschaft“ wurde schon in den achtziger Jahren von Günter Gaus zur Beschreibung der DDR-Gesellschaft herangezogen. Vgl. Günter Gaus: Wo Deutschland liegt. Eine Ortsbestimmung. Hamburg 1983. 32 Auf die Bedeutung privater Räume in der Auseinandersetzung mit dem Regime hat Pau­ lina Bren am Beispiel der Tschechoslowakei hingewiesen: Vgl. Paulina Bren: Weekend Getaways: The Chata, the Tramp, and the Politics of Private Life in Post-1968 Czechoslo­ vakia, in: David Crowley/Susan E. Reid (Hrsg.): Socialist Spaces. Sites of Every Day Life in the Eastern Bloc. Oxford/New York 2002, S. 123–140. 33 Über das Verhältnis von Formalität und Informalität siehe Pollack: Widersprüchlichkeit, S. 121–124. 34 Ulf Brunnbauer: „Die sozialistische Lebensweise“. Ideologie, Gesellschaft, Familie und Politik in Bulgarien (1944–1989). Köln/Weimar/Wien 2007, S. 38/39 [Hervorhebung im Original]. 35 Zu diesem Begriff siehe Pollack: Widersprüchlichkeit, S. 122. 36 Vgl. Ders.: Politischer Protest. Politisch alternative Gruppen in der DDR. Opladen 2000, S. 39. 31 Die

12   Einleitung politischen Verweigerung, des subversiven Arrangements, der parasitären An­ lagerung informeller Netzwerke an die offiziellen Strukturen sowie der gesell­ schaftlichen Selbstorganisation und Selbstbehauptung“ gewesen.37 Johannes Huinink prägt die These, dass erst „staatliche Garantien“ die „Konstruktion von autonomen Refugien, privaten ‚Märkten‘, mehr noch, von privaten Ge­ genwelten“ ermöglicht haben.38 Sein Bild von der „gemeinschaftlichen Tritt­ brettfahrer-Strategie“ verschränkt somit staatliche und persönliche Strategien, ohne dass zwischen ihnen eine Interessensgleichheit bestanden hätte.39 Auf dieser Linie sind auch die deutsch-polnischen Verortungen und Praktiken zu betrachten, die zwar eine Alternative boten und insbesondere als individuelle Strategien funktionierten, aber nicht als oppositionelle oder widerständige Gruppen oder gar Bewegungen organisiert waren. Zusammengefasst vertritt diese Arbeit die Position, dass informelle Netzwerke und Praktiken im Staats­ sozialismus nicht nur systemimmanent, sondern manchmal sogar systemsta­ bilisierend waren. Wie unzweifelhaft informelle Kontakte die Aufrechterhaltung eines halb­ wegs normalen Lebens in Volkspolen erst ermöglichten und wie unentwirrbar offizielle und inoffizielle Ebene miteinander verwoben waren, zeigen auch die Beobachtungen der Anthropologin Janine R. Wedel während ihres Aufenthalts in der Volksrepublik Polen Anfang der achtziger Jahre.40 Sie belegt, dass in der polnischen Mangelwirtschaft das ‚Erledigen‘ von begehrten Gütern egal wel­ cher Art auf informellem oder gar illegalem Wege die einzig praktikable Me­ thode war. Jerzy Kochanowski verweist nachdrücklich darauf, dass die Existenz einer „zweiten Gesellschaft“ in Volkspolen am eindeutigsten in der ökono­ mischen Sphäre zu belegen ist.41 Die informellen Räume in Volkspolen waren aber zumindest in den siebziger und achtziger Jahren in erheblichem Maße auch mit politischen und damit oppositionellen Bewegungen verknüpft.42 Deutlich herausgearbeitet ist die Bedeutung informeller Netzwerke und der Schattenwirtschaft unter- und innerhalb der sozialistischen Planwirtschaft für das Funktionieren und notdürftige Aufrechterhalten des maroden Wirt­ 37 Vgl.

ebd. Huinink: Individuum, S. 41. 39 Vgl. ebd., S. 41/42. 40 Vgl. Janine R. Wedel: Prywatna Polska [Privates Polen]. Warszawa 2007, S. 181–185. 41 Vgl. Jerzy Kochanowski: Tylnymi drzwiami. „Carny rynek“ w Polsce 1944–1989 [Durch die Hintertür. „Schwarzmarkt in Polen 1944–1989]. Warszawa 2010, S. 11. 42 Zum Selbstverständnis der polnischen Gesellschaft in der Auseinandersetzung mit der Staatsmacht vgl. z. B.: Hans Henning Hahn: Die Gesellschaft im Verteidigungszustand. Zur Genese eines Grundmusters der politischen Mentalität in Polen, in: Ders./Michael S. Müller (Hrsg.): Gesellschaft und Staat in Polen. Historische Aspekte der polnischen ­Krise. Berlin 1988, S. 15–48. 38 Vgl.

Einleitung   13

schaftssystems der DDR.43 Auf der Ebene des Konsums war vor allem der Umgang mit der Mangelwirtschaft von Versuchen geprägt, durch informelle Kontakte und Beziehungen, einen Ausgleich zu erreichen. Individuelle Strate­ gien und kulturelle Praktiken der Konsumkultur in der DDR hat Ina Merkel untersucht.44 Die Auswirkungen, die Einkaufsstrategien auf die deutsch-pol­ nischen Beziehungen hatten, beleuchten sowohl konsumgeschichtliche wie auch durch Stereotypenforschung inspirierte Ansätze.45 Deutlich schwieriger sind informelle Verhaltensweisen in den immateriellen bzw. ideellen Beziehungen zwischen Menschen nachzuvollziehen. Zum einen ist zu bedenken, dass die alltäglichen und privaten Kontakte zwischen Deut­ schen und Polen durchaus nicht immer informell im Sinne von inoffiziell oder illegal waren, sondern sich innerhalb der offiziellen und erlaubten Bahnen ab­ spielten. Trotzdem konnten sich die Inhalte des Austauschs neben den offiziel­ len Diskursen46 entfalten und von den Protagonisten auch mit individuellen Bedeutungen und Handlungsoptionen aufgeladen werden.47 ­Einen Anstoß fin­ det diese Annahme in den Überlegungen zum Leipziger Dokumentar- und Kurzfilmfestival, die von Caroline Moine und Thomas Lindenberger angestellt wurden. Lindenbergers Postulate unterfüttern den hiesigen Versuch: Wenn auch nur für die Dauer eines Festivals und nur in der Atmosphäre des weltoffenen Leipzig, aber dank der selbstbindenden Regelhaftigkeit eines solchen Kalenderereignisses kaum vermeidbar, zeigte sich hier im Innersten der DDR einer interessierten Öffentlichkeit Jahr für Jahr, woran es der DDR und ihrer politischen Kultur mangelte: radikaler Kritik, undogmatischer Weltläufigkeit und der Autonomie künstlerischer Praxis.48 u. a. André Steiner: Von Plan zu Plan. Eine Wirtschaftsgeschichte der DDR. Bonn 2007, S. 14/15. 44 Vgl. Ina Merkel: Utopie und Bedürfnis. Die Geschichte der Konsumkultur in der DDR. Köln/Weimar/Wien 1999. 45 Vgl. Rainer Gries: Konfrontationen im „Konsum“. Einkaufserfahrungen in der Mangel­ wirtschaft des real existierenden Sozialismus, in: Historische Anthropologie  14 (2006), S. 370–390 und Zatlin: „Polnische Wirtschaft“. 46 Zum praktikablen Umgang mit dem Begriff „Diskurs“ wird der Definition von Stadel­ mann gefolgt, der „unter ‚Diskurs‘ Denk- und Redeweisen, die sich aufgrund ­verschiedener (kultureller, geistiger, politischer, wirtschaftlicher, psychologischer etc.) Einflussfaktoren in der Gesellschaft – oder bestimmten Teilen von ihr – zu normierenden Vorstellungsund Artikulationsrahmen institutionalisieren, welche nicht nur das Sprechen über, son­ dern auch den tatsächlichen Umgang mit bestimmten Themen prägen, also nicht gedan­ ken-, sondern auch handlungsleitend werden“ versteht. Vgl. Matthias Stadelmann: Isaak Dunaevskij – Sänger des Volkes. Eine Karriere unter Stalin. Köln/Weimar/Wien 2003, S. 59/ Fußnote 144. 47 Vgl. Daniel Logemann: Eine Insel? Das Polnische Informations- und Kulturzentrum in Leipzig (1969–1989), in: Journal of Modern European History 8 (2010), H. 2, S. 243–265. 48 Thomas Lindenberger: Das Andere im Innern der DDR. Kommentar, in: Droit/Kott: Ge­ sellschaft, S. 184.

43 Vgl.

14   Einleitung Moines Befunde sind jedoch vorsichtig, insgesamt wenig empirisch und bestä­ tigen die Annahme kaum mit wirklich belastbaren Quellen. Sie meint aber ­bestimmt sagen zu können, dass trotz der starken Rolle des Staates bei der ­Organisation des Festivals Spielräume geblieben seien. Der Eigen-Sinn von ­In­dividuen und gesellschaftlichen Gruppen mit eigenen Identitäten habe sich außerhalb des offiziellen Diskurses und staatlicher Kulturpolitik entfaltet, eine klare Trennung zwischen Staat und anderen Akteuren sei jedoch illusorisch.49

Forschungsstand Mit ihrem Fokus auf einer deutsch-polnischen Alltagsgeschichte der zwi­ schenmenschlichen Kontakte betritt die vorliegende Arbeit weitgehend Neu­ land.50 Der Forschungsstand zu den Beziehungen zwischen der DDR und der Volksrepublik Polen umfasst bereits politikgeschichtlich und ansatzweise so­ zialgeschichtliche Untersuchungen.51 Ihm Grundtenor fassen sie die Bezie­ hungen zwischen der DDR und Volkspolen als ein schwieriges Geflecht von Missverständnissen und gegenseitigem Misstrauen auf, das basierend auf his­ torischen Hypotheken und langlebigen Vorurteilen und Stereotypen eine offe­ ne Partnerschaft weitestgehend verhindert habe. In der Historiografie zu bei­ den Ländern sind vergleichende und transnationale Studien weiterhin die Ausnahme; zumeist umfassen sie zudem andere zeitliche Abschnitte.52 Zu Po­ Moine: DDR, S. 152. ein Sammelband des Projektes, in dessen Rahmen auch diese Arbeit entstand greift ganz ähnliche Fragestellungen in transnationaler Perspektive auf. Vgl. Włodzimierz Borodziej/Jerzy Kochanowski/Joachim von Puttkamer (Hrsg.): „Schleichwege“. Inoffizielle Begegnungen sozialistischer Staatsbürger zwischen 1956 und 1989. Köln/Weimar/Wien 2010. 51 Am breitesten hierzu vgl. Koćwin: Polityczne determinanty und Burkhard Olschowsky: Einvernehmen und Konflikt. Das Verhältnis zwischen der DDR und der Volksrepublik Polen 1980–1989. Osnabrück 2005. Einen guten Einblick in verschiedene Themen bietet ein Sammelband: Vgl. Basil Kerski/Andrzej Kotula/Kazimierz Wόycicki (Hrsg.): Zwangs­ verordnete Freundschaft? Die Beziehungen der DDR und Polen 1949–1990. Osnabrück 2003. 52 Vgl. u. a. Jan C. Behrends: Die erfundene Freundschaft. Propaganda für die Sowjetunion in Polen und in der DDR. Köln/Weimar/Wien 2006; Małgorzata Mazurek: Socjalistyczny zakład pracy. Porównanie fabrycznej codzienności w PRL i NRD u progu lat sześćdziesią­ tych [Der sozialistische Betrieb. Vergleich des Fabrikalltags in Volkspolen und DDR An­ fang der sechziger Jahre]. Warszawa 2005. Nicht vergleichend, aber doch beide Staaten berücksichtigend ein Sammelband. Vgl. Sandrine Kott/Marcin Kula/Thomas Lindenberger (Hrsg.): Socjalizm w życiu powszechnim. Dyktatura a społeczeństwo w NRD i PRL [Sozialismus im Alltag. Diuktatur und Gesellschaft in DDR und Volkspolen]. Warszawa 2006. 49 Vgl.

50 Einzig

Einleitung   15

len in Leipzig liegt eine soziologische Untersuchung zu polnischen Migranten in Leipzig vor.53 Eine dezidierte Alltagsgeschichte deutsch-polnischer Kontak­ te in der DDR gibt es nicht, so dass die Reich- und Tragweite deutsch-polni­ scher Kontakte im Alltag und zwischen den Menschen beider Staaten unbe­ kannt ist. Einen politikgeschichtlichen Überblick über die gesamte Periode nach dem Zweiten Weltkrieg bis zum Nachwendejahr 1990 hat Lesław Koćwin vorge­ legt.54 Er charakterisiert die politisch verordnete Annäherung zwischen bei­ den Ländern vor allem als ideologischen Schachzug, der in den Bevölkerun­ gen und selbst in der politischen Klasse nicht durchgängig auf fruchtbaren Boden fiel. Eine echte Annäherung auf gesellschaftlicher Ebene sei nie er­ wünscht gewesen, die Kontakte seien in der Realität nicht nur durch staatliche Instanzen bis in kleinste Details geplant gewesen, sondern sollten auch mit allen Mitteln unter Kontrolle gehalten werden. Allgemein positiver bewertet Koćwin die Periode der offenen Grenze zwischen der DDR und der Volks­ republik vom 1. Januar 1972 bis zum 30. Oktober 1980. Polnische Soziologen haben diesen Zeitraum sicherlich nicht zu Unrecht als eine Phase der Annä­ herung auf politischem, kulturell-geistigem und ökonomischem Gebiet cha­ rakterisiert.55 Auf diese Phase der relativen Öffnung folgte die erneute Isolie­ rung in den achtziger Jahren, wie Burkhard Olschowsky in einer breit ange­ legten Studie nachzeichnet.56 In seiner Analyse der ökonomischen, politischen und kulturellen Beziehungen beschreibt er diese als einen stetigen Abwehr­ mechanismus der DDR gegen die möglicherweise aus der Volksrepublik ­Polen überschwappende politische Opposition. Während in Volkspolen gesellschaft­ liche Strömungen und zunehmend die politische Klasse einen westlichen Kurs Glorius: Perspektiven. Koćwin: Polityczne determinanty. 55 Vgl. Kazimierz Wasiak: Wpływ otwartej granicy pomiędzy Polską a  NRD na przebieg procesόw internacjonalizacyjnych [Der Einfluss der offenen Grenze zwischen Polen und der DDR auf den Verlauf internationalistischer Prozesse]. Szczeciń 1985. Hingewiesen sein auch auf Untersuchungen polnischer Forscher, die zur deutsch-polnischen Grenz­ region entstanden und vielfach auf die gegenseitige Wahrnehmung abhoben: Andrzej Kwilecki: Badania socjologiczne na pograniczu Polski i NRD [Soziologische Untersuchun­ gen in der der ostdeutsch-polnischen Grenzregion], in: Sprawy Międzynarodowe  7–8 (1973), S. 145–146; Ders.: Problematyka socjologiczna ruchu granicznego i  kontaktów ludnościowych Polska-NRD [Die soziologische Problematik des Grenzverkehrs und der zwischenmenschlichen Kontakte Polen-DDR], in: Przegląd Zachodni 3–4 (1974), S. 399– 404. Einen unzensierten Bericht Kwileckis aus dem Jahre 1972 gab Jerzy Kochanowski erst 2001 heraus: Vgl. Jerzy Kochanowski (Hrsg.): Socjologiczny zwiad po otwarciu granic PRL-NRD [Soziologische Aufklärung nach der Öffnung der DDR-polnischen Grenze], in: Polski Przegląd Dyplomatyczny 2 (2001), S. 229–255. 56 Vgl. Olschowsky: Einvernehmen. 53 Vgl. 54 Vgl.

16   Einleitung und den Weg von politischen Reformen einschlugen, habe die DDR – einge­ keilt zwischen der Bundesrepublik und dem sich auflösenden Ostblock – auf ihrer starren Linie der Abschottung beharrt. Beide Staaten und Gesellschaften hätten in der Konsequenz keine wesentlichen gemeinsamen Nenner mehr ge­ funden. Aufschlussreich bearbeitet sind in Aufsätzen und Dokumentensamm­ lungen die politischen Wendepunkte von Grenzöffnung und -schließung, die Auswirkungen der „Solidarność“ auf das politische Klima zwischen den ­Staaten und geheimdienstliche Tätigkeiten in der DDR in Reaktion auf die Geschehnisse.57 Diese grundlegenden und quellenfundierten Arbeiten werden durch eine Aufsatzsammlung ergänzt, die verschiedene Ansätze und Themenschwer­ punkte miteinander vereinigt.58 Neben politikgeschichtlichen Fragestellungen werden auch milieuspezifische und kulturelle Themenfelder aus unterschied­ licher wissenschaftlicher und essayistischer Perspektive behandelt. Die Frage des Buchtitels nach einer „zwangsverordneten Freundschaft“ wird im Band weitestgehend bejaht. Herrschaftsebene und Gesellschaften beider Länder hätten in erheblicher Distanz nebeneinander hergelebt, obwohl die ideolo­ gischen Beteuerungen das Gegenteil behaupteten.59 Diese Einschätzung deckt sich im Übrigen mit dem Befund von Miroslav Kusý, der eine grundsätzliche Feindseligkeit und ein „Getrenntsein“ zwischen den Bewohnern des Ostblocks beobachtet haben will und eine mögliche Integration „von unten“ rundweg verneint.60 Erhard Crome und Jochen Franzke hingegen machen für die sieb­ ziger Jahre „unmittelbare Begegnungen“ sowie „persönliche Kontakte und auch Freundschaften“ aus. Ihre Gesamtbilanz der Beziehungen zwischen Ost­ deutschen und Polen fällt jedoch ebenfalls skeptisch aus. Die Autoren be­ Włodzimierz Borodziej/Jerzy Kochanowski (Hrsg.): PRL w oczach STASI [Die Volks­ republik Polen in den Augen der Stasi], Bd. 1, Dokumenty z lat 1971, 1980/1982. Wars­ zawa 1995; Bd. 2, Dokumenty z lat 1980/1983. Warszawa 1996; Reinhardt Gutsche/Michael Kubina/Manfred Wilke: Die SED-Führung und die Unterdrückung der polnischen Oppo­ sitionsbewegung 1980/81, in: Schriftenreihe des Bundesinstituts für ostwissenschaftliche und internationale Studien 36 (1994); Monika Tantzscher: „Was in Polen geschieht, ist für die DDR eine Lebensfrage!“ – Das MfS und die polnische Krise 1980/81, in: Materialien der Enquete-Kommission „Aufarbeitung von Geschichte und Folgen der SED-Diktatur in Deutschland“ (12. Wahlperiode des Deutschen Bundestages), hrsg. Vom Deutschen Bundestag, Band V/3, S. 2601–2760. 58 Vgl. Kerski/Kotula/Wόycicki (Hrsg.): Freundschaft. 59 Vgl. Ludwig Mehlhorn: Zwangsverordnete Freundschaft? Die Entwicklung der Beziehun­ gen zwischen der DDR und Polen, in: Kerski/Kotula/Wόycicki (Hrsg.): Freundschaft, S. 35. 60 Vgl. Miroslav Kusý: Wir, die mitteleuropäischen Osteuropäer, in: Frank Herterich/Chri­ stian Semler (Hrsg.): Dazwischen. Osteuropäische Reflexionen. Frankfurt am Main 1989, S. 186–193. 57 Vgl.

Einleitung   17

schreiben die politischen Versuche, Freundschaft zwischen den Staaten zu etablieren, als durchaus wegweisende Vereinbarungen. Sie betonen aber umso stärker die Defizite einer Aussöhnungspolitik, die stetige Pflege von antipolni­ schen Ressentiments und die negativen Folgen politischer Entscheidungen auf die ostdeutsch-volkspolnischen Beziehungen.61 Fruchtbare Überlegungen zur „erfundenen Freundschaft“ zwischen den Nationen des Ostblocks hat Jan C. Behrends anhand der Propaganda für die sowjetisch-deutsche und sowjetisch-polnische Freundschaft entwickelt.62 Behrends Gesamtbilanz, die Propagandakampagnen seien aufgrund von Ein­ stellungen, Emotionen und Erinnerungen in der Bevölkerung weitestgehend ins Leere gelaufen und hätten in den als „Misstrauensgesellschaften“ struktu­ rierten Gemeinwesen des Ostblocks einen Rückzug ins Private befördert, ­lassen sich – was Behrends in einem Unterkapitel auch andeutet – auf die Freundschaftspropaganda von DDR und Volkspolen übertragen.63 Die ost­ deutsch-volkspolnische Freundschaft sei auf Staatsräson begründet gewesen und der „Fiktion der Voraussetzungslosigkeit“ aufgesessen. Das kollektive Ge­ dächtnis der Bevölkerung habe sie ignoriert, was zu ihrem Scheitern beigetra­ gen habe.64 Wenn also die Freundschaft zwischen Staaten und Gesellschaften ein Konstrukt blieb, ist es umso interessanter, die Mikroebene deutsch-polni­ scher Kontakte in den Blick zu nehmen. Der untaugliche Überbau musste auf der Alltagsebene durch Aneignungen der Kontaktpartner unterfüttert, ergänzt oder abgewandelt werden. An diese Überlegung knüpfen die Kapitel dieser Arbeit immer wieder an. Denn alles in allem enden die Versuche, ein ‚Ge­ meinsames‘ zwischen der DDR und der Volksrepublik Polen zu finden, bisher in der Formulierung von Postulaten und nicht mit der Beschreibbarkeit dieser Kontakte: Was bei den einzelnen Reisen, den Aufenthalten an der polnischen Ostseeküste oder langen Wanderungen in den einsamen Beskiden touristische oder kulturelle Stippvisite blieb, was zu engeren Kontakten, Bekanntschaften und Freundschaften führte, ist in zahllosen Einzel­ beispielen bekannt, bis heute aber kaum aufgearbeitet.65

Welche Folgen polnische Migration in die DDR für den Lebensalltag und die Identität der Migranten hat, hat Birgit Glorius untersucht. Ihre Untersuchung Erhard Crome/Jochen Franzke: Die DDR und Polen. Betrachtung über das Verhältnis der Ostdeutschen zu den Polen, in: Jochen Franzke (Hrsg.): Polen Staat und Gesellschaft im Wandel. Beiträge zur Debatte. Berlin 1998, S. 198–211 (Zitate S. 207). 62 Vgl. Behrends: Freundschaft. 63 Vgl. ebd., S. 374–377 und S. 263–280 zur DDR-polnischen Freundschaftspropaganda. 64 Vgl. ebd., S. 267 und S. 272. 65 Wolfgang Templin: Thesen zu den kulturellen Beziehungen zwischen der DDR und Polen, in: Kerski/Kotula/Wόycicki (Hrsg.): Freundschaft, S. 271. 61 Vgl.

18   Einleitung zu Polen in Leipzig ist für diese Arbeit deswegen interessant, weil sie die schon zu DDR-Zeiten erfolgte Heiratsmigration mit aufgreift und die Lebenswege von Polen in der DDR kursorisch mitbehandelt.66 Alltagsgeschichtliche Bereiche thematisieren einige Regionalstudien, ohne diese Perspektive jedoch durchzuhalten oder gründlich zu belasten. Zur ost­ deutsch-volkspolnischen Grenzregion werden die infrastrukturellen Spezifika und die Auswirkungen der politischen Konstellationen auf den empfindlichen Mikrokosmos der deutsch-polnischen Beziehungen beschrieben.67 Für den Bezirk Frankfurt/Oder liegt eine Studie von Rita Röhr zu den polnischen Pendlern und Vertragsarbeitern vor, die ebenfalls den Betriebsalltag auf­ greift.68 All diese Arbeiten haben jedoch keinen eindeutig alltagsgeschicht­ lichen Fokus. Gerade Röhr liefert jedoch viele Anstöße, denen weiter gefolgt werden soll. Forschungen zur gegenseitigen deutsch-polnischen Wahrnehmung sind vielen Ursprüngen und Funktionsweisen von Stereotypen bereits auf den Grund gegangen. Polen wurde von Deutschen (nicht nur in der DDR) immer wieder Unorganisiertheit, ein romantischer Hang zu Anarchie und Rückstän­ digkeit nachgesagt, was in der Rede von der „polnischen Wirtschaft“ seine griffige Formel zu finden schien.69 Deutsche wurden von ihren östlichen Nachbarn als diszipliniert, arbeitsam, gut organisiert aber auch phantasielos wahrgenommen. Eine wesentliche Rolle spielte beim Aufbau und der Instru­ mentalisierung von Stereotypen die komplizierte deutsch-polnische Geschich­ te. In dieser Hinsicht ‚fruchtbare‘ Themen waren aus polnischer Sicht unter anderem die Siedlung von deutschen Kreuzrittern in den Masuren, das preu­ ßische Teilungsgebiet und der ‚Kulturkampf ‘ gegen polnische Katholiken oder die deutsche Besatzung Polens im Zweiten Weltkrieg.70 z. B. Glorius: Perspektiven, S. 134–137 und S. 141–144. Dagmara Jajeśniak-Quast/Katarzyna Stokłosa: Geteilte Städte an Oder und Neiße. Frankfurt (Oder) – Słubice, Guben – Gubin und Görlitz – Zgorzelec 1945–1995. Berlin 2000 und Katarzyna Stokłosa: Grenzstädte in Ostmitteleuropa. Guben und Gubin 1945– 1995. Berlin 2003. 68 Rita Röhr: Hoffnung – Hilfe – Heuchelei. Geschichte des Einsatzes polnischer Arbeits­ kräfte in Betrieben des DDR-Grenzbezirkes Frankfurt/Oder 1966–1991. Berlin 2001. 69 Vgl. Hubert Orłowski: „Polnische Wirtschaft“. Zum deutschen Polendiskurs der Neuzeit. Wiesbaden 1996. 70 Vgl. Tomasz Szarota: Niemcy i  Polacy. Wzajemne postrzeganie i stereotypy [Deutsche und Polen. Gegenseitige Wahrnehmung und Stereotype]. Warszawa 1996. Zu Stereotypen siehe auch: Hans-Henning Hahn: Stereotypen in der Geschichte und Geschichte im ­Stereotyp, in: Ders. (Hrsg.): Historische Stereotypenforschung. Methodische Überlegun­ gen und empirische Befunde. Oldenburg 1995, S. 190–204; Tomasz Szarota: Der deutsche ­Michel. Die Geschichte eines nationalen Symbols und Autostereotyps. Osnabrück 1998.

66 Vgl. 67 Vgl.

Einleitung   19

Quellen Die Quellenbasis dieser Untersuchung greift auf die breite Überlieferung der Archivbestände zu Partei- und Massenorganisationen sowie anderer Instituti­ onen der DDR und der Volksrepublik Polen zurück und stützt sich gleichzei­ tig auf die Narrative von Interviews. Relativ breite Berücksichtigung erfahren auch DDR-Belletristik und Reiseliteratur. Archivdokumente bieten aufgrund ihrer Nähe zum politischen System der DDR einen gleichermaßen problema­ tischen wie aufschlussreichen Zugriff auf die Fragestellung. Es ist mühsam, in den offiziellen Überlieferungen der Diktaturen Spuren des Alltags oder sogar aus dem Privatleben verschiedener Akteure zu finden. Informelle Bereiche sind zumeist nur in Randnotizen und jenseits der ursprünglich gemeinten Botschaften und Aussagen der Dokumente zu eruieren. Erst wenn man auch den impliziten Motiven und Absichten der Verfasser der Quellen nachspürt, enthüllen sich tieferliegende Schichten. Die Konzeptualisierung von EigenSinn und Aneignungsprozessen macht die Aufschlüsselung zum Zwecke einer Alltagsgeschichte möglich. Zur Rekonstruktion der offiziellen Verbindungen Leipzigs mit Krakau und seinen Partnerregionen sowie zur Einbettung der Regionalbeziehungen in die Gesamtzusammenhänge zwischen der DDR und Volkspolens zieht diese ­Arbeit die Überlieferung der Parteien SED und PVAP und der Massenorga­ nisationen wie Gewerkschaften, Jugendorganisationen, Künstlerverbänden, Tourismusverbänden usw. im Sächsischen Staatsarchiv Staatsarchiv Leipzig (SächsStA, StA-L), der Abteilung SAPMO-DDR des Bundesarchivs in Berlin (SAPMO-BArch) und des Archiwum Akt Nowych (AAN) in Warschau heran. Im Sächsischen Staatsarchiv Leipzig wurde zudem der Rat des Bezirks, die Überlieferung aus mehreren Volkseigenen Betrieben (VEB) und die Akten der Deutschen Volkspolizei berücksichtigt; in letzterem Bestand finden sich viele Hinweise zum Schleichhandel polnischer Bürger in Leipzig, in den ­Akten der VEB lässt sich der Einsatz polnischer Vertragsarbeiter in Leipzig veranschaulichen. Aufschlussreiche Informationen zum Polnischen Informa­ tions- und Kulturzentrum (PIKZ) erbrachte die Recherche im Archiv des Außen­ministeriums der Republik Polen (AMSZ). Eine bedeutsame und bereits durch die Menge der überlieferten Informa­ tionen wichtige Überlieferung stellen die Akten der Bundesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen Deutschen De­ mokratischen Republik (BStU) dar. Zum einen lassen sich anhand der Berich­ te und Einschätzungen der Staatssicherheit in vielen gesellschaftlichen und vor allem wirtschaftlichen Bereichen die inoffiziellen und informellen Kon­ takte zwischen Bürgern der DDR und Volkspolen belegen. Zum anderen war

20   Einleitung die Staatssicherheit in vielen Fällen fest in das Alltagsleben und ins Private der Menschen integriert; sie nutzte gerade die privaten Verbindungen von Deut­ schen und Polen, um mit geheimdienstlichen Methoden an vertrauliche und verwertbare Informationen zu gelangen. Die Dokumente des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS) sollen deshalb nicht nur als Belegstellen genutzt werden. Es soll vielmehr der Versuch unternommen werden, sie nicht nur als Beweise der Repressivität des Regimes zu lesen, sondern sie als Quelle für All­ tagsgeschichte der DDR nutzbar zu machen. Die Quellen aus der MfS-Über­ lieferung sollen nicht ausschließlich neben und abseits der Themen behandelt werden, sondern soweit möglich in die Erzählung integriert werden. Auch Ansätze zur Erforschung der Funktionsweisen und Verfasstheit der Staatssi­ cherheit fordern eine Einbindung dieser Institution in einer breiter verstande­ ne Gesellschafts- oder Alltagsgeschichte: Der zentrale Ausgangspunkt lautet, dass die Präsenz der Staatssicherheit im Alltag der DDR mit dem Instrumentarium gängiger Top-Down-Modelle ideologisch gesteuerter kommu­ nistischer Herrschaftsausübung nicht adäquat zu erfassen ist, sondern eines Ansatzes be­ darf, in den die soziale Interaktion zwischen Herrschenden und Beherrschten einbezogen wird.71

Diese Verflechtung von Staatssicherheit und Gesellschaft lässt sich in den hier herangezogenen Quellen gut belegen und kann sowohl zur Beantwortung der Fragen als auch bei der Bewertung der BStU-Quellen weiterhelfen. Gerade in Hinblick auf die deutsch-polnischen Kontakte zwischen Privatpersonen lässt sich sowohl der Kontroll- und Lenkungsanspruch, das tatsächliche Eindrin­ gen in die Privatsphäre aber auch manchmal der Dilettantismus der Staatssi­ cherheit wiederholt zeigen. Einen weiteren Quellenblock stellen Interviews mit dreizehn deutschen und polnischen Leipzigern dar, die in vielschichtiger Weise deutsch-polnische Kontakte pflegten und pflegen. Ein weiteres Interview zum Jugendaustausch wurde mit einem Jenaer geführt. Ein Interview wurde in Polen von einem Projektpartner aufgezeichnet. Diese Interviews waren in einem ersten Teil im­ mer narrativ angelegt, so dass der Erzählende selbst Schwerpunkte setzen konnte. Die Impulsfrage lautete, wann und unter welchen Umständen der ers­ te Kontakt mit Polen oder Deutschen stattgefunden habe. Im Nachgang wur­ den – einem Expertengespräch ähnlich – Fragen an die Interviewten gerichtet und Themenfelder des deutsch-polnischen Lebens abgefragt. Dazu zählten Reisen, Besuche im Polnischen Informations- und Kulturzentrum der Kon­ Gieseke: Staatssicherheit und Gesellschaft – Plädoyer für einen Brückenschlag, in: Ders. (Hrsg.): Staatssicherheit und Gesellschaft. Studien zum Herrschaftsalltag in der DDR. Göttingen 2007, S. 7/8.

71 Jens

Einleitung   21

takt mit Polen in Leipzig usw. So wurde versucht, sich die oral-history-Tradi­ tion des Kreises um Lutz Niethammer nutzbar zu machen, ohne allerdings ein lebensgeschichtliches Interview im eigentlichen Sinne zu führen.72 Ein aussagekräftiger Quellenblock sind literarische Reiseberichte und die Verarbeitung deutsch-polnischer Themen in fiktionalen Texten. Die Nutzung von DDR-Literatur schärft das Verständnis der anderen Quellen, weil sie durch literarische Narration ähnliche Themen in strukturierten Sinnzusam­ menhängen präsentiert. Sie illustriert nicht nur die deutsch-polnischen All­ tagswelten, sondern greift das Thema in zeitgebundenen Sichtweisen auf, die zur Vergegenwärtigung des Verständnisses von Zeitgenossen aufschlussreich sind.73 Den Texten ist gemeinsam, dass sie historische Themen und deutschpolnische Stereotype aufgreifen. Sie liefern so einen lebensnahen Beleg der Sicht auf Polen und den realsozialistischen Nachbarstaat aus der DDR-Per­ spektive. Viele der belletristischen Texte sind in der Tradition der Abbildung von Alltagwelten gestaltet und rekonstruieren deutsch-polnische Kontakträu­ me im Lebensalltag der literarischen Protagonisten, so zum Beispiel während einer Delegationsreise, im Arbeitsalltag oder in der alltäglichen Freizeitgestal­ tung. Andere Texte wählen Initiationssujets, klassische Reiseerzählungen und Motive der Liebesgeschichte. So wird das Thema der deutsch-polnischen ­Begegnungen im literarischen Kanon eingebettet und darüber hinaus wieder­ kehrende literarische Motive an die Lebenswelten im Staatssozialismus rück­ gekoppelt. Auf polnischer Seite ist ein Nachwenderoman „Przebitka“ von Henryk ­Sekulski von einigem Interesse. In seinem Roman verknüpft er polnische Er­ fahrungen in Leipzig mit einer Vertragsarbeitergeschichte und deutsch-polni­ schen Alltagswelten vor und nach dem Fall der Mauer. Die meisten Quellen werden für diese Arbeit erstmals in Hinblick auf eine alltagsgeschichtliche Fragestellung genutzt. Der Quellencorpus zeichnet sich und umfassend zur oral history siehe: Dorothee Wierling: Oral History, in: Aufriß der Historischen Wissenschaften Bd. 7. Neue Themen und Methoden der Ge­ schichtswissenschaft. Stuttgart 2003, S. 81–151. Inspirierend sind weiterhin die Texte Lutz Niethammers. Vgl. u. a. Lutz Niethammer: Fragen – Antworten – Fragen. Methodische Erfahrungen und Erwägungen zur oral history, in: Ders./Alexander von Plato (Hrsg.): „Wir kriegen jetzt andere Zeiten.“ Auf der Suche nach der Erfahrung des Volkes in nach­ faschistischen Ländern. Lebensgeschichte und Sozialkultur im Ruhrgebiet 1930 bis 1960 Band 3. Bonn 1985, S. 392–445. 73 Wolfgang Emmerich schreibt in seiner Geschichte der DDR-Literatur dieser „drei Grund­ eigenschaften zu: ‚Dokument, ›Zeuge‹ des historischen Prozesses‘, ‚Bewußtsein [der und] gegen die Geschichte‘ und schließlich ‚wirkender Faktor‘ im Geschichtsprozeß zu sein.“ Vgl. Wolfgang Emmerich: Kleine Literaturgeschichte der DDR. Erweiterte Neuausgabe. Leipzig 1996, S. 18. 72 Einführend

22   Einleitung sowohl durch seine Breite wie seine scheinbare innere Widersprüchlichkeit aus. Allerdings ist es gerade diese innere Spannung der Quellen, die eine ­detailreiche wie polyvalente Beschreibung des Alltags ermöglicht. In ihrer ­Gegensätzlichkeit, Vielschichtigkeit und Ergänzung entsteht ein tragfähiges Panorama deutsch-polnischen Lebens in Leipzig.

Aufbau der Arbeit Die vorliegende Arbeit setzt sich aus vier Kapiteln zusammen. Zu Beginn wer­ den die politischen und gesellschaftlichen Voraussetzungen der deutsch-pol­ nischen Kontakte in Leipzig behandelt. Aus dem organisatorischen Überbau heraus sollen die Möglichkeiten und Felder der Kontakte entwickelt werden. Das Kapitel greift die politischen und gesellschaftlichen Weichenstellungen in gesamtstaatlicher und in der Leipziger Perspektive auf. Eine besondere Rolle werden hier die Partnerschaftsbeziehungen Leipzigs mit Krakau spielen. Ein kürzerer Teil des ersten Kapitels widmet sich zudem der Faszination von Leip­ zigern gegenüber dem ‚Polnischen‘. Ziel ist es, deutlich zu machen, wo die privaten Wurzeln deutsch-polnischer Kontakte lagen und warum sich DDRLebensläufe mit ‚Polnischem‘ verflochten. Aufgenommen wird auch die Dis­ kussion um die Aussagekraft von Dokumenten der Staatssicherheit. In einem Exkurs wird untersucht, wie die Staatssicherheit die deutsch-polnischen Kon­ takte überwachte und wie tief sie in deutsch-polnischen Alltagswelten ein­ drang und sie gleichzeitig für sich zu nutzen wusste. Im zweiten Kapitel sollen Leipziger Akteure in den Blick genommen wer­ den. Ein erster Abschnitt untersucht die Verschränkung offizieller Kontakte von Systemträgern mit informellen Praktiken. Im zweiten und dritten Ab­ schnitt werden die staatsozialistischen Voraussetzungen und die alltäglichen Praktiken von Vertragsarbeit und Studium von Polen in Leipzig behandelt. Hier geht es immer wieder um die Diskrepanz ideologischer Grundannah­ men und der Aneignung auf der individuellen Ebene. Ein weiterer Abschnitt thematisiert polnischen und deutsch-polnischen Alltag in Leipzig. Hier rü­ cken Bekannt- und Freundschaften sowie familiäre Bindungen in den Mittel­ punkt. Es soll gezeigt werden, wie äußere Bedingungen auf deutsch-polnisches Privatleben einwirkten und wie man einerseits mit staatlichen Zumutungen konfrontierte war und sich diesen andererseits zu entziehen versuchte. Der fünfte Abschnitt stellt das deutsch-polnische Milieu um das Polnische Infor­ mations- und Kulturzentrum in den Mittelpunkt. Hier soll gezeigt werden, wie im Rahmen offizieller politischer Informations- und Kulturprogramme individuelle Freiräume erschlossen wurden.

Einleitung   23

Im dritten Kapitel soll der Tourismus nach Volkspolen in den siebziger und achtziger Jahren sowie organisierter Kinder- und Jugendaustausch untersucht werden. Damit verlagert sich der Fokus aus Leipzig heraus und es werden Er­ fahrungen von DDR-Bürgern im Nachbarland und mit dem ‚Polnischen‘ im weiteren Sinne thematisiert. Das knappe Jahrzehnt der offenen und die Jahre der geschlossenen Grenze werden als unterschiedliche Perioden erfasst, weil sich entlang der staatlichen Regulierungen Reisecharakter und -erfahrungen entscheidend änderten. Ein kurzer Abschnitt greift auch polnischen Touris­ mus in Leipzig auf. Insgesamt wird gefragt, welche Rolle der ostdeutsch-volks­ polnische Tourismus hatte und mit welchen Erwartungen Urlauber reisten, welche Erfahrungen sie sammelten und welche Urlaubspraktiken es gab. Als besonderer Aspekt sozialistischen Tourismus‘ wird Einkaufstourismus als grenzübergreifender Ausgleich von Mangel auf dem Konsumgütermarkt the­ matisiert. Das vierte Kapitel widmet sich den informellen Konsumkontakten und Schleichhandel zwischen Deutschen und Polen in Leipzig. Wirtschaftliche und konsumptorische Freiräume und ‚Schleichwege‘ sollen in ihrer Verflech­ tung mit der Alltagswelt in den Blick genommen werden. Das Kapitel unter­ sucht, wie deutsch-polnischer Schleichhandel organisiert war und inwiefern er private Netzwerke in Leipzig nutzte. Die Praktiken der Schleichhändler, die Reaktionen und Einstellungen der Bevölkerung und die Bekämpfung des Schleichhandels durch die Staatsorgane gliedern das Kapitel.

1. Rahmenbedingungen deutsch­polnischer Kontakte in Leipzig 1.1. Auftakt. Faszination des Polnischen Man musste nach Osten fahren, um nach Westen gucken zu können. Wir haben dann immer gesagt: Polen ist unser Fensterchen nach dem Westen, obwohl es nach Osten geht.1

Was faszinierte die Ostdeutschen an der Volksrepublik Polen? Diese Frage hat für viele Bereiche der Untersuchung von privaten deutsch-polnischen Kontakten Relevanz. Sie umfasst die Überlegungen, wen das polnische Nachbarland faszinierte, aber vor allem, worin diese Faszination bestand. Die Frage ist, wie die Menschen im Alltag ihre Auseinandersetzung mit dem Polnischen erlebten und welche Möglichkeiten oder sogar Freiräume ihnen dies eröffnete. Der Artikulation solcher Einstellungen und in großem Maße auch Empfindungen heute auf die Spur zu kommen, ist ein schwieriges Unterfangen. Es ist aber gleichzeitig ein lohnendes – nicht nur in Hinblick auf die Problemzonen und Spannungsmomente dieser Arbeit. Die unmittelbare Begeisterung und Freude, die in den Erzählungen von Leipzigern hervortritt, belegt die Lebendigkeit deutsch-polnischer Kontakte in beeindruckendem Maße. Quell der hiesigen Versuche, die Faszination am Polnischen zu erklären, sind in erster Linie Interviews. Die Belastbarkeit solcher Narrative ist zu problematisieren, denn im Rückblick besteht immer die Gefahr, dass Erinnerungen das Vergangene verklären. Durch die auffallende Übereinstimmung der Erzählungen unterschiedlicher Menschen ist der Reiz, dieser Fährte nachzugehen, größer als die Vorsicht. Die Konfrontation der Erinnerungen von Leipzigern mit Forschungs- und Erinnerungsliteratur und literarischen Berichten machen belastbare Aussagen möglich. Denn die Darstellung schwer greifbarer Phänomene wie Faszination und Begeisterung stößt in eines der Kernelemente der privaten Kontakte zwischen Deutschen und Polen vor. Etwas einseitig wird die Darstellung dadurch, dass vor allem die DDR-Sicht auf Volkspolen berücksichtigt werden kann. Dies ist zum einen in der Fokussierung der Arbeit auf Leipzig begründet, zum anderen konnten für diese Untersuchung nur in Leipzig lebende Polen interviewt werden, deren Migrationshintergrund nicht mit den Begriffen Faszination oder Begeisterung zu fassen ist. Grundsätzlich ist anzunehmen, dass sich die Ostdeutschen trotz aller Hindernisse 1

Interview mit Frau B., 3. 5. 2006. Viele Interviewzitate sind zum Ziel besserer Lesbarkeit grammatisch geglättet, ohne die Aussagen zu verändern.

26   1. Rahmenbedingungen deutsch-polnischer Kontakte in Leipzig intensiver mit ihrem Nachbarland auseinandergesetzt haben, als es die Polen mit der DDR taten. Positive polnische Erinnerungen an die DDR – dem „roten Preußen“ – sind daher wahrscheinlich seltener.2 Es waren viele und nicht nur Einzelne, die Erfahrungen sammelten und Entdeckungen machten. Immerhin reisten Millionen Polen und Deutsche in die Nachbarländer und standen auf vielfältige Weise miteinander in Kontakt. Volkspolen wird häufig als ein ursprüngliches, manchmal archaisch anmutendes Land mit beeindruckenden Naturlandschaften und faszinierenden Städten beschrieben, das von herzlichen und gastfreundlichen Menschen bewohnt wird. Eine Leipziger Künstlerdelegation verfasste einen begeisterten Bericht, der dem Nachbarland der Hauch des Exotischen zuschrieb: Ein Markttag. Babylonisches Stimmengewirr, orientalische Atmosphäre. Ein Hans im Glück läuft mit einem quikenden Schweinchen durch die Pfütze, wir kaufen für 25 Zl Kunst. […] Wir lassen uns… nein, da kommt das türkische (man bedenke: Die Türken in Polen) Volkskunstensemble aus Instambul und improvisiert auf der Straße. Nein, das gibt es doch nicht, einfach zauberhaft! Schmierige Bauern dazwischen, die ausgezeichnete Käseröllchen an­ bieten [sic!].3

Im Gegensatz zur DDR standen gemäß dieser Wahrnehmung in Volkspolen rückständige Antagonismen und ausgelebte Phantasien nebeneinander. Der exotische Alltag im Nachbarland suggerierte ein Mehr an spielerischem ­Chaos, ‚lassez faire‘ und schöpferischer Energie. Die weibliche Erzählerin des Romans „Die Reise nach Jarosław“ schwärmt von Krakau: In Krakau könnte ich mich auf den Markt setzen, zwei Kirchtürme ansehen, ein Stück warmes Brot essen und vergessen, daß es auf der Welt überhaupt noch irgendetwas anderes gibt als Krakau. Ich könnte dabei alt werden und würde mir hinterher sagen, ich hätte ein großartiges Leben gehabt.4

Krakau mit seiner Vergangenheit aus Königsstadt der ersten Jagiellonen, jüdischer Lebenswelt und Wiener Kaffeehauskultur und einer unbeschadet erhaltenen Altstadt besaßen besondere Anziehungskraft. Ein DDR-Reiseführer von 1980 wiederum lobt die Schönheit der Hauptstadt Warschau. Die Warschauer Frauen seien „selbstbewußt, klug, aufgeschlossen und charmant. Nicht umsonst heißt es ‚der Polin Reiz bleibt unerreicht‘.“ Die Männer seien dagegen „Kavaliere vom Scheitel bis zur Sohle“, die noch den Handkuss beherrschten.5 Vgl. Basil Kerski: Die Beziehungen zwischen der DDR und Polen – Versuch einer Bilanz, in: Horch und Guck 15 (2006), S. 1. 3 Vgl. SächsStA, StA-L, 20237 BT/RdB Nr. 8076, Bericht über die Studienreise nach Zakopane vom 5.–12. 9. 1976 (genannt Plenair „TATRA HERBST“), Leipzig, Oktober 1976, Bl. 47. 4 Rolf Schneider: Die Reise nach Jarosław. 2. Aufl. Darmstadt 1979, S. 167. 5 Vgl. Wolfgang Polte: Reiseratgeber Volksrepublik Polen. Berlin/Leipzig 1980, S. 217. 2

1.1. Auftakt. Faszination des Polnischen   27

Die sprichwörtliche Schönheit der polnischen Frauen war auch in der DDRLiteratur ein verbreitetes, positives Stereotyp: Sie hatte sich halb von mir weggedreht, saß quer auf dem Stuhl, die Beine übereinandergeschlagen, den linken Arm auf die Lehne gestützt. Sie schien nur die Tauben beobachten zu wollen. Obwohl ich sie mit einer gewissen Voreingenommenheit betrachtete, fand ich keinen Makel an ihr. Vielleicht wirkte ihre Art zu rauchen ein wenig zu männlich, aber das war mir auch schon bei anderen polnischen Frauen aufgefallen, und da hatte ich das Adjektiv ‚kühn‘ dafür gewählt. […] ‚Sie sind sehr schön‘, sagte ich impulsiv.6

Die Eleganz polnischer Frauen war eine seltsam selbstverständliche Verinner­ lichung auch der Erzählungen von Leipzigern. Eine Frau erinnerte sich so an ihre Freundin: „Vermutlich so der Typ der Polin, die sich immer schick kleidet, egal, ob sie viel Geld hat oder nicht. […] Da entsprach sie schon ziemlich dem Bild, was man so von dem Chic der Polen sagt.“7 Frau St. sprach von „eleganten“ und „gepflegten“ polnischen Frauen.8 Gerade das positive Bild von der polnischen Frau als einer eleganten und selbständigen Persönlichkeit wirft ein interessantes Licht auf die Wahrnehmung des Polnischen. Das Verführerische und Fremde wird mit einem – teils auch unbewussten – Vorwissen verknüpft. Das Nachbarland lag damit dicht am eigenen und erwarteten Erfahrungsschatz und bot doch interessante Reize und vor allem positiv aufladbare Potentiale. Besonders die verhältnismäßig liberalen siebziger Jahre eröffneten für Individualtouristen und Jugendliche besondere Erlebnisräume. In seiner Alltagsgeschichte der DDR bündelt Stefan Wolle die Erfahrungen von Jugendlichen folgendermaßen: Die Jugendlichen aus der DDR lernten insbesondere in Polen ein Lebensgefühl kennen, das weitaus freiheitlicher war als bei ihnen zu Hause. Sie durften trampen, ohne die Polizei fürchten zu müssen, und konnten ohne langwierige Anmeldeprozedur in den Studentenwohnheimen billig oder sogar unentgeltlich übernachten. In den Studentenclubs, Jazzkellern und Kneipen trafen sie auf eine Jugendkultur, die in der DDR undenkbar gewesen wäre. Bei den obligaten Diskussionen wurde in schlechtem Englisch auf die Russen und auf die Kommunisten geschimpft, so daß einem wohlige Schauer des Entzückens über den Rücken liefen. In jeder Stadt gab es eine Buchhandlung mit westlichen Titeln. In den Antiquariaten fand sich manche Kostbarkeit in deutscher Sprache, in sogenannten Pressklubs konnte man westdeutsche Tageszeitungen und sogar den ‚Spiegel‘ lesen, in den Kinos liefen im Original die neuesten Hollywood-Streifen mit polnischen Untertiteln. Es herrschte jener Hauch von Buntheit, Lebensfreude und Weltoffenheit, den man in der DDR so sehr vermißte.9 Helmut Richter: Scheidungsprozeß. Halle/Leipzig 1971, S. 55. Interview mit Frau T., 7. 6. 2006. 8 Vgl. Interview mit Frau St., 27. 6. 2006. 9 Stefan Wolle: Die heile Welt der Diktatur. Alltag und Herrschaft in der DDR 1971–1989. 2., durchgesehene Aufl. Bonn 1999, S. 93/94. Einen Querschnitt durch „polnische Erfahrungen“ von jungen Menschen in der DDR liefert auch der Kabarettist Bernd-Lutz Lange in seinen Erinnerungen zu den sechziger Jahren in der DDR. Vgl. Bernd-Lutz Lange: Mauer, Jeans und Prager Frühling. Berlin 2006, S. 208–215.

6 7

28   1. Rahmenbedingungen deutsch-polnischer Kontakte in Leipzig Wolfgang Templin rechnet touristische Abenteuerlust, kulturelle Neugier und „Ausbruchsversuche auf Zeit“ zu den Motiven, in die Volksrepublik Polen zu reisen. Jugendliche zog es zum Jazz Jamboree nach Warschau, zur dortigen Buchmesse und zum Studentenfest Juwenalia nach Krakau. Auch polnisches Theater, Plakatkunst und Karikaturen hatten ihre ostdeutsche Fangemeinde.10 Christoph Dieckmann beschreibt die alljährliche Reise zum Jazz Jamboree nach Warschau schon auf der ersten Seite seiner autobiografischen Erinnerungen als „herbstliches Fest“: Die Tauben am Altstädter Markt, die bunten Parks, die Lesestuben mit Tee und ‚Spiegel‘Lektüre. Westplatten-Handel im Foyer des Kongreßpalastes, Konzerte bis weit nach Mitternacht, Sessions bis zum Morgen in den Clubs – ‚Stodola‘, ‚Rynek‘, ‚Remont‘.11

Solche Erfahrungen machten nicht nur jene Journalisten und Historiker, die den heutigen Diskurs mitbestimmen. Eine Leipzigerin berichtete von einem Gespräch mit einem Studenten aus der DDR, den sie im Zug nach Krakau traf. Der Student war von seinen Erlebnissen in der Volksrepublik Polen sehr beeindruckt und löcherte die ‚polenerfahrene‘ Reisegefährtin mit unzähligen Fragen. Er erkundigte sich sogar nach der Möglichkeit, in Leipzig Polnisch zu lernen.12 Reiseerlebnisse solcher Art hatten oftmals Konsequenzen für die Alltagswelten vieler DDR-Bürger und sind lebhaft in Erinnerung. Manchmal prägten sich in der Erfahrung des Polnischen und mit dem Polnischen sogar Identitäten und Praktiken aus, die sich in deutsch-polnischen oder rein polnischen Milieus verorteten. Dabei ist keinesfalls nur Außergewöhnliches gemeint, sondern ausdrücklich Alltägliches und Banales. Die Konfrontation der DDR-Lebenswelt mit einer polnischen Alternative konnte den Charakter von Schlüsselerlebnissen haben und den Lebensstil beeinflussen. Dazu kann in konsequenter Anwendung des Paradigmas Alltagsgeschichte durchaus die Entscheidung für einen polnischen Urlaubsort und die Lagerfeuerromantik mit polnischen Urlaubern zählen; oder der Wunsch, Polnisch zu lernen, polnische Schriftsteller zu lesen und sich mit der Geschichte des Nachbarlandes auseinanderzusetzen. All diese Dinge hinterließen Spuren und sorgten bei Einigen für eine echte Faszination, deren Zeuge man noch heute werden kann. Vorsicht gegenüber den Narrativen ist trotzdem oder gerade deshalb geboten. Die heutige Interpretation der Erzähler hinsichtlich ihrer Motive, sich mit polnischen Lebenswelten zu beschäftigen oder gar zu identifizieren, ist zu10 Templin:

Thesen, S. 271. Dieckmann: My Generation. Cocker, Dylan, Honecker und die bleibende Zeit. 2. veränderte Aufl. Berlin 1999, S. 9. 12 Vgl. Interview mit Frau B. 11 Christoph

1.1. Auftakt. Faszination des Polnischen   29

mindest problematisch. Ein neuralgischer Punkt in der Rückschau der Betroffenen ist, inwiefern sich politische oder – vorsichtiger formuliert – DDR-kritische Ansichten mit der Alltagspraxis vermischten. Für DDR-Bürger konnte die Erfahrung größerer Möglichkeiten und sogar echter Freiheiten sicherlich eine politische Dimension erhalten. Die Auseinandersetzung mit der polnischen Alternative zur DDR-Normalität setzte jeweils individuelle Aneignungsprozesse in Gang. Folgen davon waren eine innere Verortung jenseits der alltäglich erfahrenen DDR-Gesellschaft und wohl auch das Bewusstsein, mit ­offeneren Augen durch die Welt zu gehen. Paradigmatisch hierfür ist die ­Äußerung einer Gesprächspartnerin: „Ich glaube, man musste die DDR so richtig satt haben und dann völlig unvoreingenommen nach Polen fahren. Und man musste seine Antennen alle draußen haben, um dann dieser Fas­ zination zu erliegen.“13 Bei aller geratenen Skepsis angesichts solcher zurückprojizierter Begeisterung ist folgende Hypothese doch verlockend: In der Faszination ­gegenüber dem Polnischen spielten Selbstverwirklichungsprozesse und der Überdruss an der DDR in vielen Fällen eine gewichtige Rolle. Dass dies nicht immer so sein musste, zeigen Erinnerungen aus deutsch-polnischen Ehen in Leipzig. Eine Ehe mit einer Polin und viele Aufenthalte bei Familie und Freunden im Nachbarland gingen zwar mit einer tiefen Sympathie und natürlich auch Interesse am Nachbarland einher. Das bedeutete aber nicht zwangsläufig, daraus einen Lebensentwurf abzuleiten.14 Der erste Eindruck vieler Leipziger in der Volksrepublik Polen waren Farbtupfer im Gegensatz zum Grau in Grau der DDR. Frauen erinnern sich zum Beispiel an Blumen im Winter: „Das war wie ein Märchen, das konnte man sich gar nicht vorstellen, dass es so was gibt.“15 Auch die Menschen und das Straßenleben hinterließen einen bleibenden Eindruck. Die ‚Oberfläche‘ des polnischen Lebens, die Kleidung und das Verhalten der Polen stachen positiv von den DDR-Erfahrungen ab.16 Fast alle Erzählungen streifen auch die außerordentliche Offenheit und Kontaktfreudigkeit der Polen. Die polnische Gastfreundschaft wurde teilweise sogar als „beschämend“ großzügig empfunden.17 Fast Jeder war zu Gast im Hause vorher noch völlig Fremder, genoss Einladungen zum Essen oder konnte bei neuen wie alten Bekannten übernachten: „Aber in Polen kann man gar nicht alleine sein, da wird man immer irgendwo aufgefangen und wird angesprochen.“18 13 Ebd. 14 Vgl.

Interview mit Frau J., 30. 10. 2007. Interview mit Frau K., 22. 5. 2006. Ähnlich erinnert sich Frau B. 16 Vgl. Interview mit Frau B. 17 Vgl. Interview mit Herrn P., 21. 7. 2006. 18 Interview mit Frau K. 15 Vgl.

30   1. Rahmenbedingungen deutsch-polnischer Kontakte in Leipzig Diese offensichtlich markanten äußerlichen Unterschiede zur DDR wurden durch ideelle Faktoren ergänzt, die einen bleibenden Einfluss hinterließen. Volkspolen wurde im Vergleich zur DDR als freiheitliches Land empfunden. Die Entdeckung neuer Möglichkeiten verschlug Einigen geradezu die Sprache, sie stürzten sich kopfüber in eine bisher unbekannte Welt. Das Leben wurde in vollen Zügen genossen: „Jeden Abend waren wir woanders eingeladen, jeden Abend haben wir getanzt. Und es war unwahrscheinlich das Leben dort – für uns.“19 Diese Konfrontation mit etwas manchmal völlig Neuem wirkte wie ein Erweckungserlebnis: „Ich kam also nach Polen wie jemand, der aus der tiefsten Provinz kommt und von der großen weiten Welt keine ­Ahnung hatte.“20 Die empfundene Freiheit betraf zum einen unmittelbar den Alltag und den Umgang der Menschen miteinander: „Und in Polen war eben alles viel lockerer, viel einfacher, viel unkomplizierter und auch menschlicher.“21 In einem autobiografischen Interview beschreibt auch Ludwig Mehlhorn ­seine Eindrücke in Polen als eine Mischung aus spontaner Abenteuerlust und Flucht aus der DDR: „Polen war ein Fluchtpunkt, ein Raus aus der DDR. Ein Land, in dem man ein größeres Maß an Liberalität zu sehen bekam. Das, was man nicht kannte aus der DDR. Ja, sogar bis ins Exotische…Das Fremde hat diese Anziehungskraft ausgeübt […].“22 In Mehlhorns Beschreibung sind sowohl erste Eindrücke und Reflexionen eingeflochten. Beides zu trennen ist fast unmöglich, Mehlhorn wie auch ­einige Leipziger fassen ihre Eindrücke in ähnlichen Worten zusammen. Die ‚polnischen‘ Freiheiten hatten eine kulturelle und für manche auch politische Dimension. Das Gefühl, der strikten Regulierung und Bevormundung der DDR entkommen zu sein, erfasste aufmerksame und politisch sensible Ostdeutsche schnell. Besonders die spezifische Tradition polnischer Kultur hinterließ ihre Spuren. Daneben waren auch ausgewählte westliche Kultur und Medien – natürlich besonders reizvoll die aus der Bundesrepublik – frei zugänglich. Ein bekannter Leipziger Grafiker erinnert sich an die Signalwirkung, die polnische Kunst auf die eigenen Ideen ausübte. Ein 14-tägiger Aufenthalt auf der Krakauer Grafik-Biennale „war für mich auf alle Fälle das große Ereignis in meiner ganzen Entwicklung.“ Die Vorstellung davon, wie Kunst in einer restriktiven Welt zu machen sei, habe sich wesentlich verändert. Fluxus und Happening seien über die DDR hinweg nach Volkspolen gelangt, das moderne 19 Interview 20 Interview 21 Ebd.

22 „Die

mit Frau B. mit Herrn P.

Haltung war wichtig…“. Anna Hadrysiewicz und Britta Wuttke sprechen mit Ludwig Mehlhorn, in: NRD-PRL literatura niezależna – DDR-VRP unabhängige Literatur, hrsg. von WIR. Berlin 1996, S. 76.

1.1. Auftakt. Faszination des Polnischen   31

Theater aus Warschau habe die DDR-Inszenierungen an Formsprache bei weitem übertroffen. Polen habe so eine große ideelle Bedeutung erlangt.23 Die polnische Kulturszene war nicht nur eine Auseinandersetzung mit in der DDR unbekannten Formen, sondern bot die Möglichkeit, den in der DDR heiß ersehnten Westen nachzuerleben: Und wir sind in Kunstausstellungen gegangen. Ich habe dort das erste Mal abstrakte Malerei gesehen, abstrakte Plastik […]. Es war dieses […] – für unser Gefühl damals – sehr stark westlich ausgerichtete, was meine Generation so fasziniert hat. […] Am Anfang war es für mich gar nicht das Polen, wie ich es später dann für mich entdeckt habe, also die polnische Geschichte, die polnische Folklore. Das ist jetzt für mich einfach faszinierend, aber damals lief es eigentlich über diese andere Schiene – ein Stück Westen.24

Relativ problemlos konnte man in Volkspolen in der Bundesrepublik verlegte Bücher, Zeitungen und Zeitschriften in Presseclubs lesen und kaufen.25 Die Anziehung war riesig: Und dann kam folgendes hinzu: spätestens am dritten Tag hab’ ich gemerkt, dass es dort Westfilme gab, dass es dort Buchhandlungen gab, wo man westliche Bücher kaufen konnte. Das war mir dann völlig egal, dass es solche manchmal so ganz billige rororo oder so was waren […]. Aber wir waren fasziniert und wir haben die Dinger gekauft und wir wussten ganz genau, wir durften das nicht mitnehmen. Aber wir haben das gekauft!26

Ungeheure Anziehungskraft entfalteten selbstverständlich auch westdeutsche Filme oder Hollywoodproduktionen.27 Ludwig Mehlhorn wiederum fasst diese Erfahrungen so zusammen: Im Kontrast mit der kleinbürgerlich-spießigen Enge der DDR-Kultur, in der nicht nur abweichende politische Positionen unterdrückt, sondern auch die Gestaltungsprinzipien des ‚sozialistischen Realismus‘ noch nach dem Ende der stalinistischen Ära verpflichtend blieben, erschien das Kulturleben Polens als eine provozierende und befreiende Alternative.28

Der Kontakt mit dem Polnischen wirkte sich auf den Alltag in der DDR und manchmal sogar auf die persönliche Entwicklung aus – er konnte die Ausprägung eines Lebensstils und einer ‚polnischen‘ Identität zur Folge haben:

23 Interview

mit Herrn M., 6. 3. 2008. mit Frau B. 25 Vgl. Wolle: Welt, S. 94. 26 Interview mit Frau B. 27 Hier decken sich die Erfahrungen von Herrn P. und Frau B. Auch Herr T. berichtet, tagelang in polnischen Kinos zugebracht zu haben, um die neuesten Produktionen zu sehen. Vgl. Interview mit Herrn T., 23. 5. 2008. 28 Ludwig Mehlhorn: Zwangsverordnete Freundschaft? Die Entwicklung der Beziehungen zwischen der DDR und Polen 1949–1990, in: Wolf-Dieter Eberwein/Basil Kerski (Hrsg.): Die deutsch-polnischen Beziehungen 1949–2000. Eine Werte und Interessensgemeinschaft? Opladen 2001, S. 65/66. 24 Interview

32   1. Rahmenbedingungen deutsch-polnischer Kontakte in Leipzig Also diese ganze Zeit in Warschau – und anschließend sind wir dann noch in Krakau gewesen und in Zakopane, in einem Studentenwohnheim, diese ganze Zeit war für mich wie ein Traum. […] Es war ein Stück farbiges buntes Leben, es war ein Stück Freiheit. Und das hat mich dazu gebracht, dass ich angefangen habe, Polnisch zu lernen und das ich von da an, jede freie Minute in Polen verbracht habe. Und ich habe gleich in den ersten Tagen dort enge Kontakte geknüpft zu den dortigen Studenten und die laufen bis heute.29

(Volks-)Polen wurde wirklich zu einem „Fluchtpunkt“ im Leben mancher Menschen: „Für mich war Polen auch immer so ein Land, in das ich fahren konnte, wenn ich dann meinen DDR-Koller bekam.“30 Ein Leben in der DDR ohne die Möglichkeit des Ausbruchs schien unmöglich, was besonders nach der Grenzschließung dramatische Folgen haben konnte: Ich habe gedacht, dass ich es ohne Polen nicht aushalte. Und es konnten mich nur die verstehen, die genauso ‚polenverrückt‘ waren, wie ich. Die meisten haben gesagt: ‚Was willst’n da, da kriegste doch kein Fleisch zu essen‘ usw. Und dann bin ich auf eine sehr kluge Idee gekommen. […] Ich bin mit einem Reisebüro nach Polen gefahren. Das hat unheimliches Geld gekostet und war eine Zumutung. […] So war ich dann wenigstens vier Tage in Warschau und habe mich mit meinem Freund treffen können […].31

Die Lebenswelten des Nachbarlandes färbten auf den DDR-Alltag ab und halfen bei seiner Bewältigung. Die Erfahrungen in Polen wurden als echte Alternative begriffen: Ich habe in Polen gelernt, meine Angst zu besiegen. Ich glaube, jeder DDR-Bürger hatte ­irgendwie Angst. Und so Schritt für Schritt – und das war ein sehr, sehr langer Prozess – Zivilcourage zu bekommen und zu sagen: ,Nee, das mach ich jetzt nicht mit und ich muss mich jetzt dagegen wehren‘, dabei haben mir die Polen und das Land Polen unheimlich geholfen.32

Es verdient Aufmerksamkeit, wie diese Aussagen das Wertesystem und die Erfahrungen anderer DDR-Bürger aufgreifen und gegen individuelle Einstellungen abgrenzen: Zum einen wird beschrieben, dass die Begeisterung für Polen individuell war und von Anderen nicht verstanden wurde; zum anderen konnte die Angst, die in vielen DDR-Bürgern schlummerte, durch persön­ liche polnische Erfahrungen überwunden werden. Was blieb, war eine um ­Alternativen bereicherte Einstellung – gewachsen aus Wahlmöglichkeiten und größerer Freiheit. Diese Eigenschaften und die Erfahrungen mit dem Polnischen, dessen Entzifferung und Übernahme, hoben ‚Polenverrückte‘ von der Masse der DDR-Bevölkerung ab. Allerdings teilten andere Menschen diese Haltung durchaus, so dass in kleinen Gruppen Übereinstimmung hergestellt werden konnte: 29 Interview

mit Frau B. mit Herrn P. 31 Interview mit Frau B. 32 Interview mit Herrn P. 30 Interview

1.1. Auftakt. Faszination des Polnischen   33 Dann […] die anderen, die ‚polenverrückt‘ waren. […] Das waren die, die aus politischen Gründen zu Polen gekommen waren. […] Ich glaube das Politische hat meistens die Hauptrolle gespielt in der DDR. Die Faszination durch das Land an sich, die ist dann immer erst später gekommen. Ich glaube, dass das immer im Vordergrund gestanden hat – die größere Freiheit.33

Solche Interviewaussagen werden in spärlichen Fällen auch von Archivfunden unterfüttert. Zeugnis einer Vermengung ganz verschiedener Motive von DDRBürgern, ihre Freiheiten in der Volksrepublik Polen auszuleben, ist ein IMBericht aus dem Jahr 1977.34 Der inoffizielle Mitarbeiter weilte bei DDR-Bekannten in Warschau, um die Buchmesse zu besuchen. Es stellte sich heraus, dass die Bekannten illegal in Warschau Unterschlupf gefunden hatten, um beim Aufbau eines im Zweiten Weltkrieg zerstörten Kinderkrankenhauses zu helfen. Finanziell unterstützt wurden sie durch die Aktion Sühnezeichen35 in der DDR, Unterkunft und Verpflegung waren frei. Der IM fasste zusammen: Ihre freie Zeit „verbringen sie [die Beobachtete] damit Reisen durch Polen zu unternehmen bzw. Kontakte mit der Bevölkerung in Warschau zu suchen.“36 Der Zweck sei darin zu sehen, „daß sie mit polnischen Menschen, dem Leben im Land und der Sprache bekannt werden.“37 Zudem suchten die Bekannten Kontakt zu regimekritischen Personen und Gruppen. Während des Aufenthaltes des IM wird klar, dass die ‚Aussteiger‘ in Warschau ihr Leben voll ­auskosteten. Das Theater Józef Szajnas38, Studentenclubs, die Buchmesse mit ausgiebigen Besuchen am Stand des S. Fischer Verlages und das Kennen­lernen westdeutscher Reisender waren die Attraktionen des Aufenthaltes in Warschau. Die vom Stasispitzel Beobachteten suchten also in der Volksrepublik Polen ein intellektuelles und existenzielles Abenteuer, das sie in der DDR nicht verwirklichen konnten. Die Eigenbeschreibung, „polenverrückt“39 gewesen zu sein, umfasste eine spezifische Faszination und emotionale Bindung an das Polnische auch heute noch treffend. Der polnische Journalist Herr S., der länger in Leipzig lebte und arbeitete und sicherlich über eine scharfe Beobachtungsgabe verfügt, 33 Interview

mit Frau B. BStU, MfS, HA XX/4 Nr. 129, Tonbandabschrift, Leipzig, 9. 6. 1977, Bl. 9–13. 35 Zur Aktion Sühnezeichen und deren Tätigkeit in Volkspolen vgl. u. a.: Konrad Weiß: ­Aktion Sühnezeichen in Polen. Erste Schritte zur Aussöhnung und Verständigung, in: Kerski/Kotula/Wóycicki (Hrsg.): Freundschaft, S. 243–249. 36 Vgl. BStU, MfS, HA XX/4 Nr. 129, Tonbandabschrift, Leipzig, 9. 6. 1977, Bl. 9. 37 Vgl. ebd., Bl. 10. 38 Der Regisseur und Künstler Józef Szajna war eine der bekanntesten Figuren des polnischen experimentellen Theaters. Vgl. Bożena Kowalska (red.): Józef Szajna i  jego świat [Józef Szajna und seine Welt]. Warszawa 2000. 39 Der Begriff stammt von Frau B. 34 Vgl.

34   1. Rahmenbedingungen deutsch-polnischer Kontakte in Leipzig schildert in einem Interview Vergleichbares.40 Während er in Leipzig im Polnischen Informations- und Kulturzentrum arbeitete, fiel ihm die „polnische Verrücktheit“ – wie er es formuliert – einiger „Großmütterchen“ auf, die sich in die polnische Mentalität verliebt hätten. Seine Beschreibung „fanatischer Polonophiler“ aus seinem eigenen Umgang in Leipzig deckt sich aber mit dem, was hier beschrieben werden sollte. Das (Gemeinschafts-)Erlebnis im Polnischen und das gleichzeitige ‚am Rand stehen‘ im DDR-Alltag waren Faktoren der Eigenwahrnehmung und des Selbstverständnisses des Lebens in der Diktatur. Die Besonderheit des Inte­ resses am Polnischen lag in gewisser Hinsicht auch in seiner Seltenheit. Das ­habituelle Anderssein und Andersdenken war einer der Bestandteile privater deutsch-polnischer Kontakte. Wären die deutsch-polnischen Kontakte tatsächlich massenhaft und konfliktfrei verlaufen, wäre die Faszination sehr wahrscheinlich geringer ausgefallen. Hier ist auch zu einem guten Teil ihre systemspezifische Dynamik innerhalb der staatssozialistischen Diktaturen zu suchen. Durch das Abgeschnittensein von (westlichen) Entwicklungen und die Isolation im internationalen Umfeld war die Volksrepublik Polen für Bürger der DDR ein möglicher Fluchtpunkt. Der als farblos, langweilig und überreguliert wahrgenommene Alltag in der DDR förderte die eigen-sinnige Verortung in alternativen Wahrnehmungen und Praktiken. Inwiefern auf solche DDR-skeptischen Verortungen systemkritische Handlungen folgten, kann aus den vorliegenden Materialien nicht eindeutig beantwortet werden. Die Frage, ob eine Identifikation mit dem Polnischen eher systemstabilisierend oder ­-destabilisierend wirkte, wird im weiteren Verlauf dieser Arbeit aber wieder aufgegriffen werden. Nach diesen essayistischen Andeutungen vom inneren Wesen der „Polenverrücktheit“ soll daher der Blick auf die Realitäten des deutsch-polnischen Zusammenlebens im Alltag des Staatssozialismus folgen.

1.2. Leipzig und Volkspolen. „Völkerfreundschaft“ unter den Bedingungen des Staatssozialismus Die Eindrücke und Erinnerungen der erlebnisreichen Tage meines Besuches im November des vergangenen Jahres in Krakow41 werden für immer unauslöschlich sein. Die herzlichen Begegnungen, die ich in Krakow mit Kommunisten, mit Arbeitern und Werktätigen der Stadt oder in Nowa Huta und anderen Orten hatte, festigten die Überzeugung, daß unsere 40 Vgl.

Interview mit Herrn S., 9. 2. 2007. der DDR benutzte man nicht den deutschen Stadtnamen „Krakau“, sondern den polnischen. Dabei wurde aber auf polnische Schriftzeichen verzichtet, so dass „Krakow“ anstatt „Kraków“ geschrieben wurde.

41 In

1.2. Leipzig und Volkspolen   35 Völker und Parteien, der DDR und der VR Polen, der SED und der PVAP, eine brüderliche Freundschaft und enge Zusammenarbeit verbindet, daß wir gemeinsam als Bestandteil des sozialistischen Lagers und fest um die Sowjetunion geschart die Ideale und Ziele des Sozialismus verwirklichen. Ich denke immer wieder gern an die Tage meines Aufenthaltes zurück und kann Ihnen versichern, daß es uns als Kommunisten Herzensangelegenheit ist, diese Freundschaft und Zusammenarbeit weiterzuentwickeln, zu vertiefen zum Nutzen unserer Staaten und Völker.42

Alltägliche Kontakte zwischen Polen und Deutschen in Leipzig waren von den Beziehungen zwischen der DDR und der Volksrepublik Polen abhängig. Die staatssozialistischen Diktaturen steuerten mit ideologisch begründeten Partnerschaften die Begegnungen. Politische Mechanismen eröffneten und verschlossen die Möglichkeiten. Initiativen ‚von unten‘ waren suspekt. Als aufrichtig freundschaftlich können die Beziehungen zwischen der DDR und Volkspolen deshalb zu keiner Zeit bezeichnet werden. Die offizielle Propaganda betonte zwar die brüderliche Zusammenarbeit mit dem sozialistischen Nachbarn, den verhältnismäßig hohlen Phrasen folgten jedoch in wenigen Fällen tragfähige Umsetzungen. Selbst die Staatsparteien hinkten den eigenen Ansprüchen hinterher. 1977 bilanzierte man in der SED, der Delegations- und Erfahrungsaustausch werde nicht immer nach Plan realisiert und er verlaufe auch in Leipzig „schleppend“.43 Die Ursachen für diese Entwicklung waren vielfältig. Eine schwere Hypothek war die deutsch-polnische Geschichte. Auch die instabile Stellung der DDR im Kalten Krieg und zur Bundesrepublik, die Oder-Neiße-Grenze und Probleme des Tagesgeschäfts machten einen unverkrampften Umgang unmöglich. Zwischen den Führungskreisen beider staatstragender Parteien herrschten mancherlei Animositäten und persönliche Abneigungen; in der SED schaute man unverhohlen auf die Polnische Vereinigte Arbeiterpartei (PVAP) herab und misstraute ihr.44 Politische Krisen in der Volksrepublik Polen trugen in den Augen der SED zum Vertrauensverlust in die Politik der PVAP bei. All dies erschwerte die ideologisch begründete sozialistische Partnerschaft nach dem Zweiten Weltkrieg. Gegenseitiges Misstrauen brach beharrlich wieder hervor und Propagandakampagnen machten auch vor den Nachbarn nicht immer Halt: So beispielsweise spürbar in der SED-Propaganda gegen die „Solidarność“, die sich auch antipolnischer Vorurteile bediente bzw. antikatholische und nationalistische Elemente polenfeindlicher Propaganda wie42 SächsStA,

StA-L, 21123 SED-BLL Nr. IV/C/2/18/770, Interview für die „Gazeta Krakowska“ [undatiert], S. 3. 43 Vgl. SAPMO-BArch, DY 30 IV/B/2/20 Nr. 145, Zu den Parteibeziehungen SED – PVAP, 20. 5. 1977. 44 Vgl. Crome/Franzke: DDR, S. 204.

36   1. Rahmenbedingungen deutsch-polnischer Kontakte in Leipzig deraufleben ließ45, oder in der nationalistischen und antideutsche Propaganda der PVAP.46 Die Einbindung in den Warschauer Pakt und die nachbarschaftliche Lage zwangen die DDR und Volkspolen jedoch trotz aller Erschwernisse und Zerwürfnisse zu einer engen Kooperation. So kollidierten die Erfordernisse der politischen Vernunft immer wieder mit den Einstellungen nicht nur der politischen Eliten, sondern auch der deutschen und polnischen Bevölkerung. Einerseits durfte es laut offizieller Propaganda keinerlei Verstimmungen geben, andererseits drängt sich in der Nachbetrachtung der Eindruck auf, die DDR und Volkspolen hätten in vielen Bereichen nur die allernötigsten Be­ ziehungen unterhalten. Obwohl der schöne Schein der ostdeutsch-volkspol­ nischen Eintracht nie angekratzt wurde, herrschte in der Realität ein „auffallender Mangel an Kommunikation“.47 Das Schlagwort „Zwangsfreundschaft“ beschreibt diesen Zustand einleuchtend, blendet aber die Aneignungsprozesse auf der Mikroebene aus. Es ist daher zu untersuchen, wie unter den Bedingungen der offiziellen Kontakte der Staaten die privaten Kontakte der Bürger entstehen konnten. Durch Quellennähe soll im Folgenden ein Leipziger Panorama entworfen werden, das die übergeordneten Verhältnisse berücksichtigt und daneben die regionale Lage und die Einstellungen der Menschen reflektiert. In der Auseinandersetzung mit Propaganda, alltäglichen Praktiken und gegenseitiger Wahrnehmung lassen sich aus der Perspektive der Quellen die komplexen deutschpolnischen Kontaktzonen beschreiben. Es wird so besser deutlich, wie deutsch-polnische Kontakte gelingen konnten, warum sie aber andererseits auch immer wieder in den Anfängen stecken blieben und wie sie durch die offizielle Politik in regulierte Bahnen abgelenkt wurden.

z. B. ebd., S. 202 und S. 206 und Mehlhorn: Freundschaft, in: Kerski/Kotula/Wóycicki (Hrsg.): Freundschaft, S. 39. 46 Einen Einblick in die antideutsche Argumentation in Partei und Presse bietet Olschowsky anhand des Konfliktes zwischen DDR und Volkspolen um die Territorialgewässer in der Schweinebucht. Vgl. Olschowsky: Einvernehmen, S. 409–428. Marcin Zaremba verweist ebenfalls auf die antideutschen Tendenzen der Parteipropaganda in Volkspolen, macht deren Schwerpunkt aber besonders in den Nachkriegsjahren bis in die sechziger Jahre aus. Ziel der antideutschen Kampagnen war natürlich vor allem die Bundesrepublik. Auch hier findet sich ein Beispiel nationalistischer Politik für den Streit um Territorialgewässer. Vgl. Marcin Zaremba: Komunizm, legitymizacja, nacjonalizm. Nacjonalistyczna legitymizacja władzy komunistycznej w Polsce [Kommunismus, Legitimation, Nationalismus. Nationalistische Legitimation kommunistischer Macht in Polen]. 2. Aufl. Warszawa 2005, S. 394. 47 Mehlhorn: Freundschaft, in: Kerski/Kotula/Wóycicki (Hrsg.): Freundschaft, S. 35. 45 Vgl.

1.2. Leipzig und Volkspolen   37

1.2.1. Geschichtsbilder in der DDR und in Volkspolen und Aspekte der gegenseitigen Wahrnehmung Der oben angesprochene Mangel an Kommunikation resultierte aus historischen Altlasten, sich fortschreibenden Dissonanzen sowie Desinteresse und bedingte eine weitgehende Unwissenheit über das jeweilige Nachbarland. Ein ehemaliger Direktor des Polnischen Informations- und Kulturzentrums in Leipzig berichtete, er habe schnell feststellen können, dass in den südlichen Bezirken der DDR gegenüber Polen Stereotype und „alte, unüberwundene Ansichten“ existierten: „Darüber hinaus habe ich das Fehlen von Informationen oder unzureichende Informationen, und nicht selten sogar Elemente der Desinformation, bemerkt.“ Er erklärte diesen Befund auch mit den Anfang der siebziger Jahre herrschenden zwischenstaatlichen Beziehungen, die nicht „die besten“ gewesen seien.48 Die Volksrepublik Polen und ihre staatlichen Vorläufer standen in der DDR beileibe nicht im Mittelpunkt des Interesses. Die Ursachen hierfür waren vielfältig. Eine bedeutungsschwere Schnittstelle für gegenseitige Fehlinterpretationen waren die Geschichtsbilder der DDR wie der Volksrepublik Polen.49

Die DDR Die Aufarbeitung der NS-Vergangenheit war in den Augen der SED nicht so notwendig wie die Betonung der gemeinsamen ostdeutsch-volkspolnischen Entwicklung zum Sozialismus: Aus [dieser] Perspektive bildeten schon allein die ‚objektiven Gemeinsamkeiten‘ beim Aufbau des Sozialismus in beiden Ländern die hinreichende Grundlage für eine Freundschaft zwischen beiden Völkern. In dem Maße wie sich die Sicht durchsetzte, trat in der SBZ/ DDR eine breite gesellschaftliche Auseinandersetzung in den Hintergrund, welche die in der Geschichte beider Völker akkumulierten Spannungen, die wechselseitigen Vorurteile und Stereotype offen thematisiert und weiter abgebaut hätte. Unter der Decke des offiziellen Antifaschismus und der Freundschaftspropaganda blieben jene oft erhalten oder wurden lediglich an der Oberfläche durch ‚politisch korrekte‘ Sprachregelungen kaschiert.50 48 AMSZ,

DWKN 11/77 w-19, Heft 528, Sprawozdanie, Łódź, 16. 11. 1973, S. 1. [Alle Übersetzungen, soweit nicht anders vermerkt, vom Verfasser.] 49 Prägnant umrissen finden sich die Geschichtsmythen der DDR und Volkspolens in dem Katalog zur Ausstellung „Mythen der Nationen“ des Deutschen Historischen Museums. Vgl. Monika Flacke/Ulrike Schmiegelt: Aus dem Dunkel zu den Sternen: Ein Staat im ­Geiste des Antifaschismus, in: Monika Flacke (Hrsg.): Mythen der Nationen. 1945 – Arena der Erinnerungen. Bd. 1. Mainz 2004, S. 173–189 und Beate Kosmala: Lange Schatten der Erinnerung: Der Zweite Weltkrieg im kollektiven Gedächtnis, in: ebd. Bd. 2. Mainz 2004, S. 509–540. 50 Jürgen Danyel: Vergangenheitspolitik in der SBZ/ DDR 1945–1989, in: Włodzimierz Borodziej/Klaus Ziemer (Hrsg.): Deutsch-polnische Beziehungen 1939–1945–1949. Eine Einführung. Osnabrück 2000, S. 276/77.

38   1. Rahmenbedingungen deutsch-polnischer Kontakte in Leipzig Solche Urteile in der Sekundärliteratur werden in Quellen, wie zum Beispiel einem Leitfaden für Betreuer des Kinder- und Jugendaustausches zwischen der DDR und Volkspolen, eindrücklich belegt. In diesem Leitfaden findet sich eine Einleitung zur polnischen Geschichte. Die Sequenz zum Zweiten Weltkrieg widmet sich besonders dem aufopferungsvollen Kampf vieler Polen im Widerstand und an der Seite der Sowjetunion gegen die „faschistischen Okkupanten“; die Rolle der Deutschen wird – im Verhältnis zur Gesamtlänge des Textes – nur kurz behandelt: Am 1. September 1939 fielen die deutschen Hitlerfaschisten in Polen ein. Der 2. Weltkrieg begann. Gleich nach der Besetzung ging der Faschismus zur systematischen Ausrottung insbesondere der Intelligenz über. Das wirtschaftliche Potential sowie die Arbeitskräfte Polens wurden vom deutschen Imperialismus brutal für seine aggressiven, gegen die sozialistische Sowjetunion gerichteten Pläne ausgebeutet. Der Krieg kostete über 6 Millionen Polen das Leben, 38% des Volksvermögens waren vernichtet, die Industrie und das Verkehrswesen lagen am Boden. Der Hitlerfaschismus hat damit das deutsche Volk mit großer Schuld beladen.51

Mit dem „Sieg der sozialistischen Kräfte“ habe eine „dynamische Entwicklung des Landes“ begonnen: „Polen, einst ein rückständiges Agrarland, entwickelte sich in Zusammenarbeit mit der Sowjetunion und den anderen Ländern der sozialistischen Gemeinschaft zu einem anerkannten Industriestaat.“52 Damit konnten ansatzlos die sozialistische Zukunft und die ostdeutsch-volkspolnische Erfolgsgeschichte beginnen: Mit der Machtübernahme der Arbeiterklasse und der mit ihr verbündeten anderen werktätigen Klassen und Schichten in Polen sowie der Gründung des ersten Arbeiter-und-BauernStaates auf deutschem Boden am 7. Oktober 1949 entstanden entscheidende Voraussetzungen für die zielstrebige Entwicklung von Beziehungen der brüderlichen Freundschaft, eines stabilen Friedens und konstruktiver Zusammenarbeit zwischen Deutschen und Polen. Am 6. Juli 1950 wurde in Görlitz der Vertrag über den Verlauf der Grenze zwischen DDR und der VRP entlang der Oder und Neiße unterzeichnet, die zurecht den Namen Friedensgrenze erhielt. Der Sozialismus hat damit einen Schlussstrich unter die unheilvolle Vergangenheit in den Beziehungen beider Länder gezogen und somit die Bedingungen für dauerhaft friedliche und freundschaftliche Beziehungen geschaffen.53

Diese Abweisung aller Schuld an der jüngsten deutschen Geschichte durch die offizielle Geschichtspolitik der DDR verstand man in Volkspolen durchaus zu Recht als „Farce“.54 Die „offizielle DDR-Politik“ sei „zu keiner Zeit fähig oder

51 BStU,

MfS, BV Leipzig, Abt. XX Nr. 509, Lektion zur Vorbereitung des Kinder- und Jugendaustausches zwischen der DDR und der VR Polen 1989, [undatiert], Bl. 60. 52 Vgl. ebd., Bl. 62. 53 Ebd. 54 Vgl. Basil Kerski: Die Beziehungen zwischen der DDR und Polen. Versuche einer Bilanz, in: Ders./Kotula/Wόycicki (Hrsg.): Freundschaft, S. 16.

1.2. Leipzig und Volkspolen   39

bereit“ gewesen eine „echte Aussöhnung“ mit dem Nachbarn herbeizuführen.55 Hinsichtlich der skeptischen Sekundärliteratur und den entweder ideologisch verbrämten oder alte und neue Vorurteile bestätigenden Dokumente aus den Archiven, lohnt es sich, den Blick auf die deutsch-polnischen Alltagswelten in der doch recht umfangreichen DDR-Belletristik zum deutsch-pol­ nischen Thema zu richten. Die Literaten der DDR griffen die Beziehungen zwischen Polen und Deutschen häufig in einer alltagsbetonten Variante auf. Geleitet von den Vorgaben sozialistischer Kulturpolitik wurden Arbeit und Wohnen, Wochenendromanzen oder Liebe in der Beschreibung sozialistischen Lebens verankert. Die Erzähler orientierten sich betont nüchtern am Alltagsgeschehen und verstetigten so das Bild von deutsch-polnischen Begegnungen im Sozialismus. DDR-Literatur ist somit als Quelle zum Umgang von Deutschen und Polen und zur Verbreitung einer Vorstellung von diesem Umgang unter den Lesern aufschlussreich. Gerade geschichtliche Themen wurden gehäuft aufgegriffen. Der Roman „Der Aufenthalt“ von Hermann Kant ist ein Paradebeispiel des ‚aufgeklärten‘ Historienromans. Der Ich-Erzähler Mark Niebuhr thematisiert die Verbrechen der Deutschen am polnischen Volk ziemlich schonungslos und trotzdem vollführt der Roman eine kommunistische Volte mit dem Versprechen einer besseren Zukunft. „Der Aufenthalt“ ist damit ein Beispiel für einen Antifaschismus in der DDR, der eine historische Schuld des deutschen Volkes nicht leugnet und sein Sendungsbewusstsein trotzdem hervorkehrt: Im Wissen – und keinesfalls deren Beschweigen – um die Vergangenheit wird ein guter Kommunist geboren. Die historische Aufklärung im Roman bedient sich des Kunstgriffs der naiven Perspektive eines anfangs unwissenden Deutschen.56 Der junge Wehrmachtsoldat Mark Niebuhr gerät in polnische Kriegsgefangenschaft und wird irrtümlicherweise wegen Kriegsverbrechen ­angeklagt. Während seiner Odyssee durch polnische Gefangenenlager und Gefängnisse setzt er sich anders als die meisten Mitgefangenen immer folgenreicher mit der polnischen Geschichte und dem polnischen und jüdischen Schicksal während des Zweiten Weltkriegs auseinander. Der eingangs völlig unwissende Erzähler fühlt sich den ehemaligen Feinden immer näher und versteht die Dimensionen deutscher Schuld. In der unfreiwilligen, aber lehrreichen Initiation der Gefangenschaft wandelt Niebuhr sich zum Kriegsgegner, Polenfreund und politisch überzeugten Kommunisten. Bezeichnend ist geradezu, dass diese Art der Aufarbeitung nationalsozialistischer Vergangenheit in Volkspolen auf we55 Vgl. 56 Vgl.

Crome/Franzke: DDR, S. 202. Hermann Kant: Der Aufenthalt. 7. Aufl. Berlin 1982.

40   1. Rahmenbedingungen deutsch-polnischer Kontakte in Leipzig nig Gegenliebe stieß. Die DDR-Verfilmung von „Der Aufenthalt“ passte nicht in die nationalistische Propaganda der PVAP während des Kriegsrechts und wurde in der Volksrepublik nicht gezeigt.57 Eine symbolische Katharsis wie Niebuhr erleben Deutsche und Polen und mit ihnen die deutsche und die polnische Gesellschaft auch in vielen Liebesgeschichten. Insbesondere der Leipziger Autor Helmut Richter greift das ­Motiv deutsch-polnischer Liebesgeschichten auf; sei es im Stile wohl autobiographisch angehauchte Reminiszenzen oder in der Thematisierung von Liebesaffären, Ehe und Jugendliebe.58 In Richters Erzählung „Über sieben Brücken mußt du gehen“ nimmt Jerzy Roman, der Sohn eines in deutscher Lagerhaft umgekommenen polnischen Zwangsarbeiters, in der DDR eine Stelle als Bauarbeiter an.59 Er kehrt so an jenen Ort zurück, in dem er während des Krieges geboren wurde und wo sein Vater starb. Dort verliebt er sich in Gitta Rebus, die Tochter eines in die Bundesrepublik geflohenen Nazitäters. Beide wissen nichts über die Vergangenheit des Anderen, doch im Dorf wird ­gemunkelt und selbst der Bürgermeister versucht Gitta vor unvorsichtigen Schritten zu warnen. Bei der Betrachtung eines Fotoalbums fliegt die fatale Verstrickung der Vergangenheit der Väter – dem polnischen Zwangsarbeiter und dem Lageraufseher – auf. Jerzy verlässt die DDR und die schwangere Gitta. Von Sehnsucht geplagt, entschließt sich Jerzy jedoch, zu Gitta und Kind zurückzukehren… Dieses Gleichnis einer gemeinsamen Zukunft von Polen und Deutschen greift zwar die Ereignisse des Zweiten Weltkriegs auf, der historische Konflikt lässt sich aber durch Versöhnung und Liebe bewältigen. Allein die Existenz der DDR als kommunistischer und antifaschistischer Staat und die Tendenz, die nationalsozialistische Vergangenheit der Bundesrepublik anzulasten, reichen aus, einen Neuanfang, einen sozialistischen Aufbruch, zu erhoffen. Ganz ähnliche Sinnzuschreibungen lassen sich in Richters Literatur auch anderweitig belegen. In seinem Roman „Der Scheidungsprozeß“ beschreibt der Unterhändler eines Kombinats aus Leipzigs seine Reaktion auf polnisches Misstrauen: Ich war […] ganz fassungslos. Schließlich gehörte ich einem Jahrgang an, der erst nach dem Krieg bewußt lebte. Außerdem kam ich aus einem deutschen Staat, der dem ihrigen freundschaftlich verbunden war. Schon ein Vierteljahrhundert! Aber wenn wir etwas begreifen sollten, und zwar sehr rasch begreifen sollten, dann ist es dies: Uns mußte es leichter fallen, zu vergessen.60 Danyel: Vergangenheitspolitik, S. 294/95 und Olschowsky: Einvernehmen, S. 316–324 und S. 641. 58 Vgl. Richter: Die Begegnung, in: Brücken, S. 115–150; Ders.: Scheidungsprozeß und Ders.: Über sieben Brücken mußt du gehen, in: Brücken, S. 78–114. 59 Vgl. Richter: Brücken, S. 78–114. 60 Ders: Scheidungsprozeß, S. 58.

57 Vgl.

1.2. Leipzig und Volkspolen   41

Ihm war in Warschau vorgeworfen worden, polnischen Geschäftspartnern aus der Warte des Ranghöheren über den Mund zu fahren. Auch hier wird ein gutmeinender DDR-Bürger mit langlebigen Mustern der polnischen Erinnerung konfrontiert. Wütend entfährt ihm, dass seine Gesprächspartnerin „verständliche Ressentiments“ hätscheln würde. Der Erzähler im „Scheidungsprozeß“ wirbt insgesamt deutlich für eine Annäherung und die Verständigung zwischen Polen und Deutschen aus DDR und Volkspolen. Er setzt sich mit der Geschichte der nationalsozialistischen Besatzung in Polen auseinander und lernt Einzelschicksale von Ermordeten und Überlebenden kennen. Seine Botschaft bleibt aber gegenwarts- bzw. zukunftsbezogen: Die Bewohner von DDR und Volkspolen sollten noch enger als in den ersten 25 Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg zusammenrücken. Weniger zukunftsfrohe Stimmen mengten sich jedoch auch unter die DDRLiteratur. Eine kritische Beschreibung von Polenfeindschaft in der DDR liefert die Novelle „Ein Sommer mit Wanda“ von Manfred Jendryschik.61 Ein Chemiestudent lernt auf einer Landpartie Wanda, die Tochter eines polnischen Zwangsarbeiters und einer Deutschen, kennen, die in der Dorfgemeinschaft wenig Achtung genießt. Bei einem Tanzabend kommt es zu handgreiflichen Auseinandersetzungen, als ein betrunkener Landarbeiter fragt, wie das „Polenmädchen“ im Bett sei. Die Ausgrenzung der Polin durch die deutsche Umwelt wird auch an anderen Stellen der Erzählung deutlich. Die Liebe zwischen Wandas deutscher Mutter und ihrem polnischen Vater wird in der deutschen Dorfgemeinschaft auch nach dem Krieg noch nicht akzeptiert. Der Vater „kam“ in der DDR nicht „zurecht“ und kehrte in die Heimat zurück. Die Dorfbewohner erinnern sich, dass man dem Vater Wandas nicht habe helfen können, weil man an sich selbst habe denken müssen. In Peter Löpelts Roman „Die Rosen heb für später auf “ scheitert die Liebe Peters, eines deutschen Werkelektrikers, und Paffkas, einer polnischen Vertragsarbeiterin, trotz aller historischen Vorbelastung an kulturellen Codes. Die Mutter Peters ist zwar gegen eine Liebe zu einer Polin und der polnische Vater verstößt seine Tochter, weil diese das Andenken der bei Zwangsarbeit im Dritten Reich gestorbenen Tante beschmutze; letztendlich zerbricht die Liebe der unerfahrenen Peter und Paffka jedoch an gesellschaftlichen Konventionen und an den strengen Maßstäben der Betreuerin der polnischen Vertragsarbeiterinnen.62 Jenseits dieser Liebesgeschichte problematisiert Löpelt jedoch mehrfach die Schwierigkeiten im deutsch-polnischen Alltag. Jendryschik: Ein Sommer mit Wanda. Legenden von der Liebe. 2. Aufl. Halle 1976. 62 Vgl. Peter Löpelt: Die Rosen heb für später auf. Berlin 1979. 61 Manfred

42   1. Rahmenbedingungen deutsch-polnischer Kontakte in Leipzig Trotz einiger pessimistischer Stimmen, verbreitete die Literatur der DDR oftmals die irrige Meistererzählung, die Beziehungen zu Volkpolen hätten sich nach 1945 in der sozialistischen DDR fundamental geändert oder müssten die alten Differenzen im neuen gesellschaftlichen System überwinden. Historischen Argumenten wurde durchaus Raum gegeben, ihre Ausstrahlung auf die Gegenwart aber stellenweise ignoriert und die polnische Sicht verkürzt wahrgenommen. Die Langlebigkeit historischer Erfahrung von Polen mit Deutschen wurde so kaschiert. Solche Symptome einer gewissen Zufriedenheit mit dem Erreichten in der DDR und dem Unverständnis für polnische Gefühls­ lagen führten insgesamt trotz einer Beschäftigung mit der deutsch-polnischen Vergangenheit zu Missverständnissen, Verwunderung und Verstimmung zwischen den literarischen Charakteren. Ihre Tendenz der Problematisierung kann man der DDR-Literatur aber durchaus zugute halten; sie behandelte das Problem, kam aber zu unterschiedlichen und teils oberflächlichen Lösungen. In der DDR-Literatur verliefen deutsch-polnische Kontakte keineswegs so reibungslos, wie das zwischen ­sozialistischen Brüdern der Fall hätte sein sollen. Vielen Geschichten gehen zwar gut aus und Polen wie Deutsche sind einander auch in aller Regel sehr sympathisch. Reibereien und sogar Krisen sind aber trotz allen neuen Aufbruchs ein stetiges Motiv der Literatur. Charakteristisch ist trotz allem, dass die negativen Elemente oftmals in einer besseren und sozialistischen Gegenwart und Zukunft überwunden werden. Dieser Bezug auf die sozialistische Utopie und damit einhergehend die Flucht aus den realen Alltagskonstellationen funktionierte allerdings nur in der Literatur. In den Interviews mit Leipzigern finden sich weder besonders häufig Hinweise auf die Übernahme ideologischer Versprechungen in den deutsch-polnischen Kontakt, noch spielt die symbolhafte Liebe als Versöhnung eine Rolle. Wirkliche Kontakte konnten weder in Propaganda noch in Diskursen der Literatur Anleihen finden. Verortung in Geschichte, Gegenwart und Zukunft musste anders erfolgen, als in zeitgenössischen (auch literarischen) Diskursen eingefordert.

Die Volksrepublik Polen Hält man dieser oberflächlichen Geschichtspolitik und den verklärenden Geschichtsbildern in der DDR polnisches Geschichtsverständnis und Wahr­ nehmungen entgegen, lassen sich obige Tendenzen noch vertiefen. In der Volksrepublik rieb man sich natürlich an der Staatsdoktrin vom Antifaschismus der DDR. Polnische Nationalstaatlichkeit und polnischer Kommunismus waren nicht nur ein Projekt der Gegenwart und Zukunft, sondern dezidiert ein Rückgriff auf hunderte von Jahren Nationalgeschichte. Daher hatte Ge-

1.2. Leipzig und Volkspolen   43

schichte und besonders deutsch-polnische in Volkspolen eine große Wirkungsmacht. Den Zusammenhang zwischen Kommunismus und Nationalismus in der Legitimation der Parteiherrschaft in Volkspolen hat Marcin Zaremba belegt.63 Seine Untersuchung zeigt, dass nationalistische Legitimation von den Machthabern genutzt wurde, um die polnische Bevölkerung an das Projekt Sozialismus zu binden. Dies war zwar nicht immer von gleich bleibendem Erfolg beschieden, trotzdem spielten die Bindekräfte von Nation und nationalistisch und antideutsch gedeuteter Geschichte eine gewichtige Rolle. In den siebziger Jahren galt besonders der Wiederaufbau des im Zweiten Weltkrieg zerstörten Warschauer Königsschlosses als Schulterschluss der Partei mit der Bevölkerung. Noch Ende der achtziger Jahre brach zwischen der DDR und Volks­ polen ein Konflikt um Territorialgewässer in der Pommerschen Bucht aus.64 1989 nutzte die PVAP diese Auseinandersetzung, um mit ihrer harten Linie bei den Verhandlungen Wahlkampf zu betreiben.65 Gerade erst Vergangenes hatte für Polen eine hohe Aktualität, was sich recht gut in literarischen Texten und persönlichen Erinnerungen nachzeichnen lässt. So hatte zum Beispiel der Ich-Erzähler aus „Przebitka“ erhebliche Mühe, die nationalsozialistische Vergangenheit seiner zukünftigen Schwiegereltern zu verdrängen, als er sie das erste Mal mit seiner deutschen Partnerin besucht. Immer wieder kursieren unter den polnischen Vertragsarbeitern aus „Przebitka“ Witze und Gerüchte über die deutschen Nachbarn, die immer noch als eine Bedrohung wahrgenommen werden.66 Auch eine Gesprächspartnerin erzählte, als junge Studentin in der DDR eine gewisse Zeit gebraucht zu haben, bis sie ältere Deutsche nicht mehr als Faschisten wahrnahm.67 Eine Leipziger Polin berichtete, dass ihre Familie sieben Jahre den Kontakt zu ihr abgebrochen habe, nachdem sie ihren deutschen Mann geheiratet hatte.68 Die Haltung der Polen gegenüber der DDR war alles in allem ausgesprochen zwiespältig; positive wie negative Zuschreibungen standen sich gegenüber.69 Die DDR erschien als der unbedeutende Bruder der westdeutschen Bundesrepublik. Sie war das Objekt von Scherzen, blieb aber als Teil des alten Zaremba: Komunizm. Olschowsky: Einvernehmen, S. 409–428; Tomasz Ślepowroński: Der Konflikt um die Pommersche Bucht (1985–1989), in: Kerski/Kotula/Wόycicki (Hrsg.): Freundschaft, S. 81–87. 65 Vgl. Zaremba: Komunizm, S. 394. 66 Vgl. z. B. Henryk Sekulski: Przebitka [Triumph]. Olsztyn 2001, S. 13–15 und S. 212. 67 Vgl. Interview mit Frau J. 68 Vgl. Interview mit Frau H., 7. 7. 2006. 69 Vgl. Andrzej Sakson: Die Deutschen in der öffentlichen Meinung Polens, in: Franzke (Hrsg.): Polen, S. 229/30 und 231/32. 63 Vgl. 64 Vgl.

44   1. Rahmenbedingungen deutsch-polnischer Kontakte in Leipzig Deutschen Reiches trotzdem Bestand der aus polnischer Sicht fatalen Geschichte mit dem mächtigen deutschen Nachbarn. Herr S. urteilt in einem Interview, das polnische Bild von der DDR sei „von Grund auf falsch gewesen“, ein „Überlegenheitsgefühl aus Komplexen“ habe sich unter Polen verbreitet.70 Ähnlich erinnert sich ein Leipziger: „Die Reaktion der Polen war […] etwas bemitleidend, dass jemand aus der DDR kommt.“ Auf der anderen Seite habe sich aber auch die Freude geäußert, dass sich jemand aus der DDR mit polnischer Kultur und Literatur beschäftigte.71 Der bekannte polnische Schriftsteller Andrzej Stasiuk fuhr – so schreibt er in einem Buch über Deutschland – Anfang der achtziger Jahre nach Słubice und blickte über die Oder nach Frankfurt: „Es gab dort nichts Interessantes. Die seichte Bedrohung der DDR und sonst nichts. Kommunismus vermählt mit Deutschheit – eine höchst beunruhigende Hybris.“72

Verflechtung der Wahrnehmungen Diese nationale Aufladung der Geschichte in Volkspolen einerseits und die Wahrnehmung der DDR als sozialistischem und zukunftsorientiertem Staat andererseits hatten in ihrer Verflechtung fatale Folgen. Aus ihrem fortschrittsorientierten Welt- und Geschichtsbild heraus, empfanden viele Ostdeutsche Volkspolen als rückständig und stellten die dortige Entwicklung des Sozialismus in Frage; eine gewisse „Überlegenheitsanmaßung“ breitete sich in SED und Bevölkerung aus.73 Volkspolen verortete sich als selbständiger Staat in der Mitte Europas, der Bevormundungen – gerade von deutscher Seite – als inakzeptabel inszenierte. Von vertrauten nachbarschaftlichen Beziehungen und Kenntnissen konnte insofern keine Rede sein. Der Blick des Beobachters blieb eher an Andersartigem und Ungewöhnlichem hängen, als an Verwandtem. Ein Reisebericht von 1982 illustriert diesen ethnologischen Blick von manchen DDR-Bürgern auf das fremde Nachbarland: Eindrücke nach Passieren der Grenze: Auf dem Gebiet der DDR konnten wir die Arbeiten auf den Feldern unseres Landes bei der Einbringung der Ernte beobachten, Kombines in Größenordnungen und andere Technik waren voll im Einsatz. Auf dem Gebiet der VR Polen Kleinfeldwirtschaft, ein Pferd, ein Wagen und Menschen, die Getreidegarben verladen haben. Nur einmal (offensichtlich ein Staatsgut) sah man etwas Technik. Die Menschen in den Städten rein optisch nicht anders als bei uns.74

70 Interview

mit Herrn S. mit Herrn P. 72 Andrzej Stasiuk: Dojczland. Wołowiec 2007, S. 28. 73 Vgl. Crome/Franzke: DDR, S. 202. 74 SächsStA, StA-L, 21123 SED-BLL Nr. IV/E/2/18/504, Reisebericht in die VR Polen v. 2. 8.–5. 8. 1982, Leipzig, 10. 8. 1982, S. 1 [Hervorhebung im Original]. 71 Interview

1.2. Leipzig und Volkspolen   45

Volkspolen war in dieser Lesart ein rückständiges Agrarland, dessen Einwohner sich – zumindest in den Städten – äußerlich aber nicht von DDR-Bürgern unterschieden. Augenfällig ist in obiger Schilderung die Eigenbeschreibung des DDR-Kollektivs in der ersten Person Plural in Abgrenzung vom Polnischen. Deutsch-polnische Wahrnehmungsmuster verliefen wie in diesem ­Beispiel geradezu entgegengesetzt zueinander. Die offizielle Politik der DDR sah ihre außenpolitischen Kontakte als eine Mission mit Sendungscharakter an: Die Gastspiele von Theatern, Orchestern, Ballettensembles, Ensembles des künstlerischen Volksschaffens, Unterhaltungsgruppen und Künstlern der DDR im Ausland sind von großer Bedeutung für die Verwirklichung der auf Frieden, Sicherheit und Entspannung gerichteten Außenpolitik, für die offensive Propagierung des realen Sozialismus, der kulturellen Leistungen der sozialistischen DDR und ihrer Verankerung in der sozialistischen Staatengemeinschaft.75

In Volkspolen wurden die tatsächlichen Errungenschaften der DDR-Kultur etwas nüchterner bewertet. In der polnischen Wahrnehmung konnte die DDR-Kunst im Gegenteil von den Inhalten und Formen des polnischen Kulturschaffens viel lernen: Man sollte in Erinnerung behalten, dass die DDR – begründet in spezifischen politischen Bedingungen – viel isolierter vom Westen ist [als die Volksrepublik Polen, D.L.]. Deswegen erfüllt unser Land […] die Funktion eines Mediums, das der Gesellschaft der DDR die fortschrittlichsten, wertvollsten und interessantesten Erscheinungen der Weltkultur [durchgestrichen und ersetzt wurde: westlichen Kultur, D.L.] übermittelt.76

Die Geschichte Deutschlands wurde anders als in der DDR viel stärker als Konstante verstanden. So wurde dem künstlerischen Schaffen in der DDR ein gewisser Ahistorismus vorgeworfen, weil sich die DDR mit der „ganzen deutschen peinlichen Genauigkeit und Konsequenz“ von der faschistischen Vergangenheit abtrenne. Das habe zur Folge, dass fast alle Diskussionen über die Gesamtheit der historischen deutsch-polnischen Beziehungen und die Durchdringung ­beider Kulturen zwischen der Bundesrepublik und Volkspolen stattfänden. Die DDR-Kunst habe es somit schwer, den Anschluss an internatio­nale Kunst­ strömungen zu erhalten und die Künstler verschlössen sich Experimenten in der Kunst. Das Interesse der Polen an der DDR sei dementsprechend gering.77 75 Ebd.

Nr. 1115, Ordnung für die Vorbereitung, Durchführung und Auswertung der Gastspiele von Theatern, Orchestern, Ballettensembles, Ensembles des künstlerischen Volksschaffens, Unterhaltungsgruppen und Künstlern der DDR im Ausland [undatiert], S. 1. 76 AAN, KC PZPR, Wydział Kultury Nr. 790 (909/7), Ocena wymiany kulturalnej z NRD w okresie międzyzjazdowym/ 1971/75/, 7. 1. 1976, S. 2. 77 Diese und vorherige Sequenzen vgl. AAN, KC PZPR, Wydział Kultury Nr. 790 (909/7), Współpraca kulturalna z Niemiecką Republiką Demokratyczną w l. 1976–1979, 15. 2. 1980, S. 2–4.

46   1. Rahmenbedingungen deutsch-polnischer Kontakte in Leipzig In Volkspolen war die Abkapselung der DDR von der Kunst der Zwischenund Nachkriegszeit und die Starre einer sozialistischen Kulturpolitik ein ­wesentlicher Faktor einer stockenden Zusammenarbeit. Auch hier trafen unterschiedliche Blicke auf Geschichte aufeinander. Für die DDR war geschichtliche Zeit viel stärker an das revolutionäre Modell von Zeit und Geschichte in der Sowjetunion angelehnt. In Volkspolen spielten die Kontinuitätslinien in die (europäische) Vergangenheit eine große Rolle.78 Während also die DDR eine sozialistische, eigenständige Gegenwart imaginierte, verortete sich die Volksrepublik Polen in einer gemeinsamen ­europäischen Kultur jenseits des Denkens in politischen Blöcken. Ein Teufelskreis gegenseitiger Fehlwahrnehmung und -interpretation schien vorgezeichnet. Zumal keine der Seiten ernsthaft erkennen ließ, sich daraus zu befreien. Insgesamt zeigen diese Beispiele, dass auf polnischer wie ostdeutscher Seite erhebliche Vorbehalte und Hindernisse bestanden. Die DDR war in Volkspolen keineswegs ein bevorzugter Partner; in vielen Bereichen ließ die Politik unter Gierek neben der systemgebundenen Nähe zur Sowjetunion Einflüsse aus dem Westen Europas und den USA zu.79 Dieser Entwicklung verschloss sich die offizielle Politik der DDR nicht gänzlich, aber doch zumeist recht ­resolut. Dem Urteil Olschowskys bleibt kaum etwas hinzuzufügen: Besonders die SED schottete die DDR vor Fremden und gar Avangardistischem auch aus Volkspolen ab, um ihre politische Kontrolle zu bewahren. „Gegenseitige Unaufrichtigkeit“ zwischen der DDR und Volkspolen war besonders in den achtziger Jahren ein wesentlicher Faktor der Beziehungen.80 Die gesellschaftliche Annäherung blieb ein Stiefkind der zwischenstaatlichen Beziehungen, „klassische zwischenstaatliche Diplomatie und Propagandagetöse“ waren deren Hauptmerkmale.81 Bereits die siebziger Jahre trugen zu dieser Entwicklung in vielerlei Hinsicht entscheidend bei. Sie standen zunächst für Kommunikation und Öffnung und für einen Aufbruch auf gesellschaftlicher Seite. Wechsel auf den Führungssesseln der Parteien läuteten in der DDR und Volkspolen auch Wechsel im Politikstil ein. Nach einer Probezeit von knapp zehn Jahren ­wurden die Kontaktmöglichkeiten zwischen Bürgern der DDR und der Volks-

78 Stefan

Plaggenborg hat die verschiedenen Denkweisen über Zeit und Geschichte in der Sowjetunion und deren Folgen für die soziale Praxis näher untersucht. Vgl. Stefan Plaggenborg: Experiment Moderne. Der sowjetische Weg. Frankfurt am Main 2006, S. 81– 119. 79 Vgl. z. B. Andrzej Friszke: Polska Gierka [Giereks Polen]. Warszawa 1995, S. 41. 80 Vgl. Olschowsky: Einvernehmen, S. 640. 81 Vgl. Mehlhorn: Freundschaft, in: Eberwein/Kerski (Hrsg.): Beziehungen, S. 64.

1.2. Leipzig und Volkspolen   47

republik in den achtziger Jahren aber weitgehend eingefroren. Auf eine viel versprechende Öffnung erfolgte Stagnation.

1.2.2. Die offene Grenze. Leipzig als Beispiel einer ­propagandistisch gewollten Partnerschaft Am 1. Januar 1972 wurde die Grenze zwischen der DDR und Volkspolen für den pass- und visafreien Übertritt geöffnet. Schon seit der Unterschrift unter das Görlitzer Abkommen von 1950 galt die Oder-Neiße-Grenze als „Friedensgrenze“. Die DDR erkannte den Grenzverlauf an, die Verantwortung an den Verbrechen des Dritten Reiches wurde der Bundesrepublik zugeschrieben und Diskussionen über Flucht und Vertreibung und die polnischen Westgebiete wurden tabuisiert. Es setzte eine Zusammenarbeit auf wirtschaftlichem, wissenschaftlichem und kulturellem Gebiet ein, die Grenze blieb aber für die Menschen undurchlässig.82 Als Ende der sechziger Jahre die Beziehungen der Bundesrepublik mit der Sowjetunion, mit der DDR und der Volksrepublik Polen erstmalig auf eine verlässliche vertragliche Basis gestellt wurden, ergaben sich auch für die Beziehungen innerhalb des Ostblocks neue Spielräume – namentlich zwischen DDR und Volkspolen.83 Erheblichen Einfluss auf eine Annäherung beider Staaten hatte zudem der Wechsel der Ersten Sekretäre in den Staatsparteien beider Länder.84 Nach den blutigen Auseinandersetzungen des Dezember 1970 in Folge von Streiks der Arbeiter mehrerer polnischer Werften ersetzte Edward Gierek Władysław Gomułka.85 In der DDR wurde Walter Ulbricht durch Ränkespiele in der SED zum Rücktritt gezwungen, ihm folgte Erich Honecker.86 Die neuen Machthaber gaben sich fortschrittlicher und begannen einen Austausch, der Folgen für die nachbarschaftlichen Beziehungen hatte. Vom Polnischen Informations- und Kulturzentrum in Leipzig Basil Kerski: Beziehungen, in: Ders./Kotula/Wóycicki (Hrsg.): Freundschaft, S. 15; Burkhard Olschowsky: Die staatlichen Beziehungen zwischen der DDR und Polen, in: ebd.: Freundschaft, S. 41–58 und Jajeśniak-Quast/Stokłosa: Städte, S. 13. 83 Vgl. Einführung von Jerzy Kochanowski: Kochanowski (Hrsg.): Socjologiczny zwiad, S. 229. Ein großes Panorama der Beziehungen des geteilten Deutschlands zu westlichen wie östlichen Bündnispartnern entfaltet Timothy Garton Ash: Timothy Garton Ash: Im Namen Europas. Deutschland und der geteilte Kontinent. Frankfurt am Main 1996. 84 Vgl. Kochanowski (Hrsg.): Socjologiczny zwiad, S. 232 und Czesław Osękowski: Der passund visafreie Personenverkehr zwischen der DDR und Polen in den siebziger Jahren. Politische, wirtschaftliche und gesellschaftliche Auswirkungen, in: Kerski/Kotula/Wóycicki (Hrsg.): Freundschaft, S. 124. 85 Vgl. Friszke: Polska, S. 5–12. 86 Vgl. Mary Fulbrook: Ein ganz normales Leben. Alltag und Gesellschaft in der DDR. Darmstadt 2008, S. 56/57. 82 Vgl.

48   1. Rahmenbedingungen deutsch-polnischer Kontakte in Leipzig wurde zum Beispiel eingeschätzt, dass die Atmosphäre zwischen DDR und Volkspolen nach dem Wechsel an den Parteispitzen sowie die Arbeit des ­Zentrums in Leipzig einer „kolossalen Verbesserung“ unterlagen.87

Die Grenzöffnung Die Motive der Grenzöffnung waren auf deutscher und polnischer Seite unterschiedlich gelagert. Die DDR wollte sich mit dem Schritt aus ihrer internationalen Isolation befreien und ihren Bürgern Auslandsreisen ermöglichen. Der Wunsch nach Reisemöglichkeiten – auch im Vergleich mit denjenigen von Bürgern der Bundesrepublik – war auch eine Folge von steigenden Löhnen und sinkenden Arbeitszeiten. Auslandreisen waren bis 1972 gar ein wahres Luxusgut geblieben. Das Ziel der Grenzöffnung war also nicht in erster Linie die Annäherung an den Nachbarn, sondern eine Reaktion auf inneren und äußeren Druck.88 Von Seiten der Volksrepublik waren die Beweggründe ebenso pragmatisch. Jedoch sollte nicht in erster Linie Urlaub in der Luxus­ variante ermöglicht werden, sondern die sozialistischen Planer kalkulierten mit einer Entlastung des Binnenmarktes durch die Möglichkeit von Einkäufen polnischer Bürger in der DDR.89 Illustriert werden die Überlegungen beider Staaten in den Parteizeitungen. Das „Neue Deutschland“ veröffentlichte augenfällig spät am 23. Dezember 1971 eine Nachricht zum visafreien Verkehr nach Volkspolen: Die Maßnahmen im Reiseverkehr bieten den Bürgern der Deutschen Demokratischen Republik und der Volksrepublik Polen günstigere Möglichkeiten, sich mit den Errungenschaften des Nachbarlandes beim Aufbau des Sozialismus vertraut zu machen, seine Sehenswürdigkeiten und Naturschönheiten kennenzulernen sowie Freizeit und Urlaub interessant und erlebnisreich zu verbringen. Sie tragen dazu bei, daß sich die freundschaftlich verbundenen Völker unserer beiden sozialistischen Bruderländer noch näher kommen und immer besser kennen- und verstehenlernen.90

Der Wortlaut dieser Pressemitteilung ist fast identisch mit der Präambel des ostdeutsch-volkspolnischen Abkommens über die Grenzöffnung.91 Das ist zum einen so zu werten, dass die Propagandisten im „Neuen Deutschland“ die Schlagwörter sozialistischer Integration weiterverbreiteten, zum anderen wird so auch deutlich, dass von der systemtreuen Bevölkerung die Umsetzung der sozialistischen Programmatik verlangt wurde. Es ist davon auszugehen, 87 Vgl.

AMSZ, DWKN Nr. 11/77 w-19, Heft 528, Sprawozdanie, Łódź, 16. 11. 1973, S. 2. Crome/Franzke: DDR, S. 204. 89 Vgl. Wasiak: Wpływ, S. 54–61. 90 Ab 1. Januar 1972: Reiseverkehr mit Polen visafrei, in: ND, 23. 12. 1971, S. 1. 91 Vgl. SAPMO-BArch, DY 30 Nr. 12419, Abkommen zwischen der Regierung der Deutschen Demokratischen Republik und der Regierung der Volksrepublik Polen über den grenzüberschreitenden Verkehr von Bürgern beider Staaten, Warschau, 25. 11. 1971, S. 1. 88 Vgl.

1.2. Leipzig und Volkspolen   49

dass dieser offizielle Diskurs auf die Beziehungen zwischen Deutschen und Polen Einfluss hatte und diese anhand der vorgegebenen Formulierungen beschrieben und bewertet wurden. Die konkrete Bedeutung der Grenzöffnung wurde im Artikel des „Neuen Deutschland“ hingegen nicht erläutert, sofern die offizielle Politik überhaupt mit handfesten Folgen rechnete. Immerhin gab eine andere kurze Notiz den Reisewilligen noch Informationen zu neuen Zugverbindungen zwischen der DDR und Volkspolen an die Hand.92 Die polnische Presse verbreitete ein anderes Bild. Die „Trybuna Ludu“ kündigte die Grenzöffnung zwar ebenfalls kurzfristig an, aber es wurden wichtige Informationen zur Bedeutung und den Folgen dieser Abmachung hinzugefügt. So wurden Grenzformalitäten genauso erläutert wie Wechselkurse und die erlaubte Dauer des Aufenthaltes. Es wurde unter anderem darauf hingewiesen, dass private Einkäufe – ohne die Absicht des Weiterverkaufs – künftig erlaubt seien und dem Geldumtausch keine Obergrenze mehr gesetzt sei.93 Die Information für die potentiellen polnischen Reisenden ging also nicht nur sehr viel weiter als die Informationen für DDR-Bürger, die Akzente verschoben sich von Allgemeinplätzen auf ganz konkrete Hinweise zum Nutzen der offenen Grenze. Der Eindruck, die Volksrepublik habe die konsumpolitische Perspektive mit berücksichtigt, dürfte kaum trügen. Niemand hatte jedoch 1972 erwartet, welch ungeheure touristische Massen die neuen Reisemöglichkeiten nutzen würden. 1972 wurde das Jahr mit den meisten Aus- und Einreisen zwischen Volkspolen und der DDR im Zeitraum der offenen Grenze: 9 468 000 Polen reisten in die DDR ein, 6 763 000 Deutsche aus der DDR besuchten den polnischen Nachbarstaat.94 Insgesamt reisten im Zeitraum der offenen Grenze von 1972 bis 1980 ca. 100 Millionen Menschen aus DDR und Volkspolen ins jeweilige Nachbarland.95 Diese enormen Zahlen deuten auf die ungeheure Attraktivität des erleichterten Reisens hin. Die Motive der Reise in das Nachbarland blieben bei Deutschen und Polen jedoch unterschiedlich. Während Deutsche zumeist in die Volksrepublik reisten, um dort die Ferien zu verbringen und das Land kennen zu lernen (60–70 Prozent der Reisenden), und nur ca. 25 Prozent dort ausschließlich Einkäufe erledigen wollten, nutzten Polen die Reisen stärker zum Einkaufen (knapp unter 40 Prozent) und nicht so stark für Erholungsreisen (ca. 17 Prozent).96 92 Vgl.

Neue Zugverbindungen nach der VR Polen, in: ND, 13. 1. 1972, S. 8. Dalszy rozwój ruchu turystycznego między Polską i  NRD, in: Trybuna Ludu, 29. 12. 1971, S. 4. 94 Vgl. Wasiak: Wpływ, Tabelle 1, S. 64. 95 Vgl. Osękowski: Personenverkehr, S. 124. 96 Vgl. Wasiak: Wpływ, Tabelle 13, S. 78. 93 Vgl.

50   1. Rahmenbedingungen deutsch-polnischer Kontakte in Leipzig Trotz oder gerade wegen der unterschiedlichen Prioritäten der Reisenden war die offene Grenze auch eine Institution, die es Polen wie Deutschen erleichterte, ihre individuellen Wünsche zu erfüllen und vorher unerreichbar erscheinende Güter zu konsumieren. In der ersten Hälfte der siebziger Jahre wurden die neuen Möglichkeiten von breiten Kreisen der Gesellschaften enthusiastisch genutzt. Allerdings verlief die Entfaltung in recht selbständigen und schwer zu kontrollierenden Bahnen; Ideologie und Realität waren nicht in Deckung zu bringen. Deshalb lenkten die Parteien beider Länder – aber besonders die SED – gegen. Die Dynamik der Geschehnisse wurde ab 1975 wieder eingegrenzt, allzu selbständige Initiativen wurden wieder stärker an Institutionen von Staat und Gesellschaft gebunden.97 Die politische Leitung beider Länder betrachteten die Folgen der offenen Grenze nur bedingt als Erfolg, besonders an massenhaften privaten Kontakten zwischen der Bevölkerung war man nicht interessiert und versuchte, sie wieder unter Kontrolle zu bringen.98 Dies belegen z. B. Listen der SED-Zentrale. Monat für Monat dokumentierte man die offiziellen Kontakte in verschiedenen Städten der DDR.99 Ein beredtes Zeugnis konkreter Versuche des Gegensteuerns findet sich bereits für die Phase kurz nach der Grenzöffnung: In einem Brief des Ministerrats der DDR an den Bezirkstag und den Rat des Bezirks in Leipzig wurde darauf hingewiesen, dass sich an den Bedingungen für Dienstreisen und ­kommerziellem Künstleraustausch nichts ändere. Nach wie vor sei die Delegierung nur mit Direktiven und der Befürwortung der „vorgesehenen Stellen“ möglich. „Eine kulturpolitisch nicht gelenkte Gastspieltätigkeit ist weder von uns noch von den sozialistischen Partnerländern erwünscht“ lautete der la­ konische Kommentar.100 Dass eine solche Aufforderung überhaupt verbreitet ­werden musste, lässt annehmen, dass es durchaus Initiativen abseits der offi­ ziellen Kulturpolitik gegeben hatte.

Leipzig und Krakau Für Leipzig hatten die Ereignisse seit Anfang der siebziger Jahre konkrete Folgen. Die zentral gelenkte Partnerschaftspolitik mit Krakau und den Partner­ regionen in der Volksrepublik Polen entfaltete sich parallel zu den Vorgaben aus Berlin und Warschau. Sie durchdrang Politik, Wirtschaft und Kultur und

Koćwin: Polityczne determinanty, S. 103/04. Ebd., S. 117–119.   99 Listen für die siebziger Jahre vgl. u. a.: SAPMO-BArch, DY 30 Nr. 12424. 100 Vgl. SächsStA, StA-L, 20237 BT/RdB Nr. 8078, Betr.: Visafreier Reiseverkehr mit der VR Polen und der CSSR, Berlin, 2. 5. 1972, Bl. 1.   97 Vgl.   98 Vgl.

1.2. Leipzig und Volkspolen   51

war der ‚Transmissionsriemen‘ zur Annäherung und Freundschaft sozialistischer Gesellschaften. In den Worten des Ersten Sekretärs der SED in Leipzig: Zwischen den Parteileitungen der Bezirke Leipzig und der Wojewodschaft Krakow gibt es feste Vereinbarungen, wie auf der Grundlage der Beschlüsse unserer beiden Zentralkomitees die Zusammenarbeit und die Kontakte zwischen Parteiorganisationen, Betrieben, wissenschaftlichen und kulturellen Einrichtungen, gesellschaftlichen Organisationen usw. in der kommenden Zeit gepflegt und entwickelt werden soll. […] Natürlich spielen bei der Gestaltung der gegenseitigen Kontakte die Fragen der Kultur keine untergeordnete Rolle. Ermöglichen sie doch auf diesem Gebiet, mehr mit dem Freundesland und seinem Volk, seiner kulturellen Geschichte und Gegenwart sich bekannt zu machen. Das wird für alle, vor allen Dingen aber für unsere Jugend, von großem Nutzen sein.101

Die „brüderliche Freundschaft“102 zwischen den Völkern der DDR und Volkspolen diente den gleichsam transzendenten Zielen sozialistischer Gegenwart und Zukunft. Den ersten Rang belegten die Kontakte zwischen den Parteien, die systematisch vom obersten bis ins niedrigste Glied geplant wurden.103 „Freundschaft und Zusammenarbeit“ strebten auch die Massenorganisationen an.104 Einen hohen Stellenwert besaß der Austausch auf den Gebieten Kultur bzw. Bildung und Wissenschaft105, fest verankert im sozialistischen Weltbild waren auch die Begegnungen von Kindern und Jugendlichen beider Staaten.106 Die Partnerbeziehungen zwischen Leipzig und Krakau umfassten dann auch alle diese Bereiche: Parteiebene, Gewerkschaften, Jugend, Sport, Betrie101 SächsStA,

StA-L, 21123 SED-BLL Nr. IV/C/2/18/770, Interview für die „Gazeta Krakowska“ [undatiert], S. 4. 102 Vgl. ebd., S. 3. 103 Vgl. z. B. AAN, KC PZPR, Wydział Zagraniczny Nr. 980 (850/17), Plan współpracy ­partyjnej pomiędzy Polską Zjednoczoną Partią Robotniczą i Niemiecką Socjalistyczną Partią Jedności na lata 1976–1977, Berlin, 20. 1. 1976, unter Dokument  1: Współpraca PZPR-SED 1976/1977/ ocena współpr. w latach 1974–1975/ und SAPMO-BArch, DY 30 IV/B/2/20 Nr. 145, Plan des Delegations- und Erfahrungsaustausches zwischen der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands und der Polnischen Vereinigten Arbeiterpartei in den Jahren 1976/77, Berlin, 20. 1. 1976. 104 Vgl. SächsStA, StA-L, 21706 FDGB-Bezirksvorstand Leipzig Nr. 6013, Plan der internationalen Arbeit des Bundesvorstandes des FDGB für das Jahr 1973, 27. 12. 1972. 105 Vgl. z. B. ebd., 20237 BT/RdB Nr. 8076, Vereinbarung des Konsultationstreffens von Vertretern des Ministeriums für Kultur der DDR und des Ministeriums für Kultur und Kunst der VR Polen und Vertretern von Bezirken und Wojewodschaften, die ständige Arbeitsbeziehungen auf dem Gebiet der Kultur haben. – Görlitz/Zgorzelec 27./28. 66.  1973 –, Bl. 20–23. 106 Vgl. z. B. ebd., 21123 SED-BLL Nr. IV/E/2/16/473, Vereinbarung zwischen der Regierung der Deutschen Demokratischen Republik und der Regierung der Volksrepublik Polen über den organisierten Ferien- und Erholungsaufenthalt von Kindern und Jugendlichen aus der Volksrepublik Polen in der Deutschen Demokratischen Republik und von Kindern und Jugendlichen aus der Deutschen Demokratischen Republik in der Volksrepublik Polen im Jahre 1984.

52   1. Rahmenbedingungen deutsch-polnischer Kontakte in Leipzig be, Institutionen und Bildungseinrichtungen. Ausgangspunkt waren in aller Regel die Staatsparteien, die in den Partnerregionen die schon in den Zentralkomitees hinsichtlich Inhalt und Umfang festgelegten Partnerbeziehungen umsetzten: also auf Bezirks-, Kreis- und Stadtebene und in Institutionen der Partei, der Regierungsebene wie Bezirks- und Stadträte wie der Massenorganisationen.107 Sogar sie Verpflichtung zu Grußadressen anlässlich von Feiertagen wurde von oben angeordnet.108 Allein die Bezirksleitung der SED in Leipzig verpflichtete sich zum Austausch von Studiendelegationen, Informa­ tionsmaterialien und Lektoren, zur Zusammenarbeit der Kreisleitungen, der Partei­presse und den gesellschaftliche Organisationen, zum Erfahrungsaustausch der Grundorganisationen, zum Austausch von Spezialisten und einigem mehr.109 Erreicht werden sollte so die „internationalistische Verbundenheit der Kollektive“.110 Der Erste Sekretär der Leipziger SED war sich in einem Interview für die polnische Zeitung „Gazeta Południowa“ sicher, dass Schüler und Arbeiter aus Leipzig in regem Kontakt mit polnischen Partnern stünden. Die „Arbeiter und Angehörigen der Technischen Intelligenz in wichtigen Leipziger Betrieben“ würden „zweifellos in den Begegnungen mit Arbeiterdelegationen ihrer Partnerbetriebe aus Krakow wichtige Erfahrungen diskutieren und austau­ schen.“111 Genauso beeindruckend fand der Funktionär die „freundschaftlichen Beziehungen“ Leipziger Schüler zu ihren polnischen Altersgenossen.112 Einige dieser Impulse wirkten sich gewiss auf der Alltagsebene privater Kontakte aus. In offiziellen Dokumenten überzeichnete man ihre ideologische ­Bedeutung zwar einerseits, ihre konkreten Wirkungen erreichten andererseits jedoch erkennbare Dimensionen. Jedenfalls fasste der Erste Sekretär der SED in Leipzig angesichts der Verträge zwischen der DDR und Volkspolen stolz zusammen, dass es kaum einen Lebensbereich gebe, der nicht von fruchtbringender Zusammenarbeit geprägt sei.113 Der Anspruch des Systems, die Le107 Vgl.

ebd., Abteilung Parteiorgane Nr. IV/C/2/18/762, Ordnung für die Durchführung der internationalen Arbeit im Bezirk Leipzig, Leipzig, 18. 6. 1974, S. 2. 108 Vgl. ebd., S. 6. 109 Vgl. ebd., 21123 SED-BLL Nr. IV/C/2/18/168, Vereinbarung zum Delegations- und ­Erfahrungsaustausch zwischen dem Wojewodschaftskomitee Krakow der Polnischen Vereinigten Arbeiterpartei – PVAP – und der Bezirksleitung Leipzig der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands, [undatiert]. 110 Vgl. ebd., 20237 BT/RdB Nr. 22770, Programm der Zusammenarbeit zwischen dem Bezirk Leipzig und der Stadtwojewodschaft Krakau für 1976/77, Bl. 180–86, hier Bl. 180. 111 Vgl. ebd., 21123 SED-BLL Nr. IV/D/2/17/557, Antworten für das Interview mit der ­„Gazety [sic!] Poludniowa“, Leipzig, 7. 11. 1978, S. 4. 112 Vgl. ebd. 113 Vgl. ebd., S. 3.

1.2. Leipzig und Volkspolen   53

bensbereiche der Menschen zu dominieren, verwob sich – wie unten gezeigt werden kann – mit dem Lebensalltag und sicherlich auch den Bedürfnissen von Leipzigern. Gerade kulturelle Kontakte waren für die deutsch-polnischen Beziehungen von Bedeutung. Hier bot sich nicht nur ein weites und traditionelles Feld der Verständigung, sondern auch die stilisierte Selbstvergewisserung nahm einen erheblichen Raum ein. Wirtschaftskontakte sollen hier hingegen nicht behandelt werden, ihre Überlieferung ist spärlicher und nicht so eindeutig auf ideologische Ansprüche zugespitzt. Symbol der Freundschaft und Zusammenarbeit zwischen Leipzig und ­Krakau waren die „Krakower Tage“ in Leipzig und die „Leipziger Tage“ in Krakau.114 Sie boten Platz für politische Repräsentation: Die Krakower Tage in Leipzig waren geprägt von der politischen Zielstellung, die Freundschaft zwischen den Völkern der VR Polen und der DDR sowie die Partnerbeziehungen zwischen der Wojewodschaft Krakow und dem Bezirk Leipzig weiter zu vertiefen. Sie waren ein Höhepunkt langjähriger Zusammenarbeit, der auf die weitere Annäherung unserer Völker, auf die Entwicklung eines gemeinsamen kulturellen Lebens und auf vielfältige Begegnungen der Werktätigen gerichtet war.115

Daneben wurden „kulturelle Errungenschaften“ präsentiert, sei es darstellende Kunst, Musik oder Folklore und Kunsthandwerk. Der Stellenwert der Kulturtage lässt sich nicht nur an den hochrangigen Teilnehmern der offiziellen Veranstaltungen ermessen, sondern auch an den zahlreichen Zeitungsartikeln, die aus Anlass der Tage in der Tagespresse erschienen.116 Zu den „Krakower Tagen“ 1978 weilten 350 Krakauer Gäste zu Vorbereitung und Durchführung der Tage in Leipzig. Allein bei der feierlichen Eröffnung waren 250 „Persönlichkeiten des gesellschaftlichen Lebens des Bezirkes Leipzig“ zugegen, die Ersten Sekretäre der Parteien hielten die Eröffnungsreden. Es waren fünf Ensembles und zwei Sportmannschaften angereist, 17 Veranstaltungen, acht Ausstellungen und drei Handelseinrichtungen gestalteten das Programm.117 Die Anteilnahme der Leipziger Bevölkerung war dem Verlauten nach durchaus rege, das Interesse an Krakau und an Volkspolen scheint in vielen 114 „Krakower

Tage“ in Leipzig sind in den Dokumenten und Interviewaussagen für 1974, 1978 und 1984 verbürgt, „Leipziger Tage“ in Krakau für 1975, 1983 und 1987. 115 SächsStA, StA-L, 20237 BT/RdB Nr. 28572, Abschlußbericht über die „Krakower Tage in Leipzig“ vom 14. bis 21. November 1978, Bl. 23. 116 In den Akten des Polnischen Außenministeriums wurden für das Jahr 1974 über 60 Presseartikel zu Krakau, der VRP und insbesondere zu den „Krakower Tagen“ in Leipzig archiviert: Vgl. AMSZ, DWKN 27/78 w-18, Heft 528. 117 Alle diese Angaben und Zitate vgl. SächsStA, StA-L, 20237 BT/RdB Nr. 28572, Abschlußbericht über die „Krakower Tage in Leipzig“ vom 14. bis 21. November 1978, Bl. 23/24.

54   1. Rahmenbedingungen deutsch-polnischer Kontakte in Leipzig Fällen durchaus geweckt worden zu sein.118 Ausstellungen wurden von mehreren hundert, manchmal sogar tausenden Gästen besucht, Konzerte waren ausverkauft, zu den Sportwettkämpfen kamen ca. 1000 Zuschauer.119 Die Volks­ republik Polen wurde bei solchen Anlässen als Urlaubsland gepriesen, zum 30. Jahrestag ihres Bestehens veranstalteten die Leipziger Volkszeitung und das Polnische Informations- und Kulturzentrum ein großes Preisausschreiben.120 Die rituelle Betonung von Jubiläen und Jahrestagen war ohnehin ein Anknüpfungspunkt für gegenseitige Versicherungen von Nähe und Beistand.

Freundschaft und Alltag Es war politischer und ideologischer Konsens, dass Veranstaltungen wie gegenseitige Kulturtage die Freundschaft und Nähe zwischen den Bruderländern zu verstärken hatten. Die Leipziger Seite betonte wieder und wieder, dass die institutionellen Bindungen nur das erwünschte Ergebnis haben konnten: Der im vergangenen Jahr abgeschlossene Vertrag über Freundschaft, Zusammenarbeit und gegenseitigen Beistand zwischen der DDR und der Volksrepublik Polen gibt dieser Entwicklung [der Freundschaft unter Brudervölkern, D.L.] den richtigen Rahmen und verleiht ihr neue starke Impulse.121

Das „Interesse der DDR-Bürger am polnischen Bruderland“ wachse stetig, versicherte der Genosse Erster Sekretär.122 Gleichzeitig galt als zweifelsfrei, dass „antiquitierte Ostlandritterträume und Revanchismus an der sozialistischen Staatengemeinschaft“ zerschellten.123 Im Gegenzug warb auch die DDR in Volkspolen für sich. In Leipzigs Partnerstadt Krakau wurde in einem DDRKulturinstitut aktiv auf die ostdeutsch-volkspolnischen Beziehungen Einfluss genommen und versucht, die Praktiken der Menschen gemäß den sozialistischen Anforderungen zu lenken. Nach der Grenzöffnung berichtete das Institut, die Vorträge hätten sich zumeist der Präsentation der DDR gewidmet: Wir haben alles unternommen, um den Standpunkt des sozialist. Internationalismus zu vertreten, die politischen Ziele der stärkeren Annäherung unserer Völker in den Vordergrund

118 Vgl.

ebd., 21123 SED-BLL Nr. IV/C/2/18/770, Erste Zwischeneinschätzung „Krakower Tage“. Leipzig, 12. 5. 1974. 119 Vgl. ebd., 20237 BT/RdB Nr. 28572, Abschlußbericht über die „Krakower Tage in Leipzig“ vom 14. Bis 21. November 1978, Bl. 24–28. 120 Vgl. AMSZ, DWKN 27/78 w-18, Heft 528, Preisausschreiben „30 Jahre Volkspolen“, LVZ, 14. 6. 1974. 121 SächsStA, StA-L, 21123 SED-BLL Nr. IV/D/2/17/557, Antworten für das Interview mit der „Gazety Poludniowa“ [sic!], Leipzig, 7. 11. 1978, S. 3. 122 Vgl. ebd. 123 Vgl. ebd., Rede zur Eröffnung der „Krakower Tage“ 1978, [ohne Titel, undatiert], S. 9.

1.2. Leipzig und Volkspolen   55 zu stellen, über die Sehenswürdigkeiten unserer Republik zu sprechen und den Gesichtspunkt des privaten Handels in den Hintergrund zu drängen.124

Unliebsame Folgen der Grenzöffnung wurden also verdrängt. Die relevanten Maßeinheiten des gegenseitigen Interesses waren Erfahrungsaustausch, sozialistische Integration, gewachsene Kenntnisse und die Anerkennung von Leistungen des Anderen. Vor diesem Hintergrund schien es auch nur folgerichtig, wenn sich die Freundschaft von der offiziellen Ebene auf die persönliche verlagerte. Gemeint war aber weiterhin die ideologisch geforderte Freundschaft zwischen den Systemträgern und ihren Schutzbefohlenen: Wir selbst, die Krakower Genossen, die Leipziger Genossen, Arbeiter, Wissenschaftler, viele Werktätige sind in immer stärkerem Maße daran beteiligt, daß diese großartige Freundschaft mit Leben erfüllt, von Jahr zu Jahr fester, konkreter, inhaltsreicher und für uns alle nützlicher wird. So sind unsere Beziehungen längst aus den Stadien von offiziellen heraus. Das Wort Freundschaft, brüderliche Beziehungen und Zusammenarbeit verwirklicht sich in den vielfältigsten persönlichen Kontakten. Umfassender sind die Kenntnisse unserer Bürger vom Land und den Menschen, von ihren Freuden und Problemen geworden.125

Die Krakauer Verlautbarungen waren ganz ähnlich. Auf die Frage nach den konkreten Vorstellungen der Zusammenarbeit zwischen Leipzig und Krakau antwortete der Erste Sekretär der PVAP Krakau grundsätzlich auf der gleichen Linie, verschob aber die Akzente. Seiner Meinung nach durften die Beziehungen nicht nur offiziellen Charakter tragen und zwischen den Leitungen bestehen, um ‚echt‘ zu werden. Die Arbeiter, Jugend, Künstler und Wissenschaftler beider Länder sollten sich treffen und der Zweck dieser Treffen war konkret. Der Krakauer Sekretär beschränkte sich weitestgehend ebenfalls auf Formeln und nannte als Handel, Arbeitsorganisation und Touristik als Be­ reiche des Erfahrungsaustauschs: „Im Alltag soll es so aussehen, daß sich die Menschen untereinander treffen, daß sie Erfahrungen austauschen, daß sie Probleme und Meinungen kennenlernen.“126 Aus solchen Fragmenten weitreichende Schlüsse zu ziehen, mag etwas voreilig erscheinen. Es scheint aber signifikant, dass der Krakauer Politiker Begriffe wie „Alltag“ oder „echt“ benutzte, um die Ebene der Kontakte zu er­ fassen. Auch hier zeigt sich wieder, dass man in Volkspolen fassbare Ziele und alltägliche Folgen mit der Öffnung zur DDR bezweckte und nicht nur in rein 124 SAPMO-BArch,

DY 13 Nr. 2304, Gesamteinschätzung unserer Tätigkeit im Jahre 1972, 15. 1. 1973, S. 5. 125 SächsStA, StA-L, 21123 SED-BLL Nr. IV/C/2/18/770, Interview der Gazeta Krakowska mit dem Mitglied des Zentralkomitees der SED und 1. Sekretär der Bezirksleitung Leipzig, [undatiert], wohl 1975, S. 2. 126 Ebd., „Diese Tage, das ist eine Chance für die direkten herzlichen Gespräche“ (ein Interview mit dem Ersten Sekretär der Bezirksleitung der Polnischen Vereinigten Arbeiterpartei in Krakow, Jozef Klasa), [undatiert], S. 1/2, Zitat S. 2.

56   1. Rahmenbedingungen deutsch-polnischer Kontakte in Leipzig ideologischen Kategorien dachte. In Leipzig formulierte man kryptischer. Die Aufrichtigkeit oder gar Praxisorientiertheit beider Seiten ist jedoch anhand öffentlichkeitswirksamer Texte in keiner Weise zu erfassen oder zu belegen. Auf der alltäglichen Ebene fand sich die Propaganda einerseits bestätigt, andererseits wurde sie durch die Praktiken von Deutschen und Polen schnell ausgehebelt. Durch die offizielle Ebene, aber häufig auch abseits davon, wurden viele Leipziger in deutsch-polnische Kontakte eingebunden. Es gab wie gesehen unzählige Delegationen, die in offiziellem Auftrag das Nachbarland bereisten. Politiker, Künstler, Schriftsteller, Vertreter verschiedenster Berufsgruppen reihten sich in den geplanten Turnus ein. Die ungeheuren Zahlen von Reisen in die DDR und nach Volkspolen belegen eindrucksvoll, dass Auslandsfahrten auch aus privaten Motiven attraktiv waren. An erster Stelle standen sicherlich Ferien- und Einkaufstourismus (zum Tourismus siehe Kapitel 3 dieser Arbeit). Auch die DDR und natürlich Leipzig wurden von unzähligen polnischen Touristen bereist. Da man auf ­einen solchen Ansturm nicht vorbereitet war, fehlte es zum Beispiel in Leipzig an Hotelbetten.127 Die eigentlich günstigen Voraussetzungen der siebziger Jahre vereinfachten die Prozesse von Annäherung und Integration der ostdeutschen und polnischen Gesellschaften. Im Vergleich zu den vorhergehenden Jahrzehnten könnte man also selbst der Freundschaftspropaganda in einigen ihrer Züge zustimmen. Allerdings ließe man dann außer Acht, dass die Aneignungen der Reisemöglichkeiten nicht immer die Ziele der sozialistischen Propaganda verfolgten. Zwar entstanden die massenhaften Kontakte durch staatliche Erleichterungen, ihre Folgen wurden aber eher rückwirkend wieder in den offiziellen Diskurs integriert. Außerdem sind nicht nur positive Elemente des deutsch-polnischen Alltagskontaktes zu konstatieren. Denn die Distanz und Fremdheit zwischen deutscher und polnischer Bevölkerung nahm nicht nur ab, sie entzündete sich gerade durch die neuartigen Kontakte an neuralgischen Punkten aufs Neue. Die Konfrontation der Leipziger mit polnischen Einkaufstouristen nach der Grenzöffnung ließ sehr rasch Konflikte und aufgestaute Stereotype an den Tag treten. Das Polnische wurde als das über die wohlgeordnete DDR Hereinbrechende empfunden, ethnische Zuschreibungen der vergangenen Jahrhunderte und Jahrzehnte machten die Runde.128 Dies stand in erheblichem Maße mit 127 Vgl.

AAN, Główny Komitet Turystyki w Warszawie Nr. 10/74, Protokoll der I. Tagung der Gemischten Kommission für Fremdenverkehr zwischen der Deutschen Demokratischen Republik und der Volksrepublik Polen, die am 13. Juni 1972 in Berlin stattfand, Berlin, 16. 6. 1972, Bl. 14. 128 Vgl. Zatlin: „Polnische Wirtschaft“.

1.2. Leipzig und Volkspolen   57

dem Einkaufstourismus polnischer Bürger in der DDR und auch in Leipzig im Zusammenhang. Dieser wiederum verursachte auf dem ebenfalls durch Mangelwirtschaft gekennzeichneten Markt der DDR zusätzliche Lücken im Sortiment.129 Auf die wieder aufbrechenden Ressentiments der DDR-Bürger reagierten auch Polen mit antideutschen Einstellungen.130 In der Konsequenz wurde selbst in Leipzig früh die Schließung der Grenze gefordert.131 Das Bild der Propaganda und ideologisch gewollten Beziehungen zwischen Deutschen und Polen bröckelte im Alltag erheblich. Es wurde durch Konflikte oder zumindest durch weit reichendes Unverständnis unterlaufen. Selbst bei Gutwilligen war eine enge Kooperation mit dem Nachbarland schwierig. Es mangelte manchmal schlicht an Voraussetzungen. Ein anekdotisches Schlaglicht auf solche seltsam ‚schiefen‘ Beziehungen lieferte ein Brief des Verbandes der bildenden Künstler in Leipzig nach Krakau: „Vielen Dank für Ihre Kunstzeitung. Es ist bloß schade, daß man bei uns kaum polnisch kann. Wir haben sie uns aber trotzdem aufmerksam angeschaut. Nächste Woche werde ich Ihnen unsere letzten Nummern des ‚factum‘ schicken.“132 Getauscht wurde also fleißig, verstanden wenig.

1.2.3. Die geschlossene Grenze. Die ‚Gefahr‘ aus ­Volkspolen und Leipziger ‚Aufbauhilfe‘ „Solidarność“ und Grenzschließung

In der Nacht vom 29. auf den 30. Oktober 1980 wurde der visafreie Reise­ verkehr zwischen der DDR und Volkspolen ausgesetzt – offiziell in gegen­ seitigem Einvernehmen, realiter jedoch auf Betreiben der DDR. An diesem Zustand sollte bis 1989 nicht mehr gerüttelt werden, beide Länder blieben voneinander abgeschottet. Die faktische Schließung der Grenze bedeutete die Einschränkung der ohnehin nicht weitgesteckten Reisefreiheit der Ostdeutschen. Die Grenzschließung war natürlich auch eine entscheidende Wende für die privaten Kontakte zwischen Deutschen und Polen. Freundschaftlich oder familiär mit Polen verbundene Leipziger schildern diese Zeit im Rückblick als entscheidenden Einschnitt.133 129 Zum

Phänomen des Einkaufstourismus in Leipzig siehe Kapitel 3 und 4 dieser Arbeit. Kerski: Beziehungen, S. 18. 131 Vgl. SächsStA, StA-L, 21123 SED-BLL Nr. IV/C/2/5/415, Argumente und Fragen aus Berichten der Stadtleitung Leipzig, der Kreis- und Stadtbezirksleitungen sowie den Grundorganisationen, die an die Bezirksleitungen berichtspflichtig sind, 14. 12. 1972, S. 7. 132 Ebd., 21760 Verband der bildenden Künstler der DDR, Bezirksvorstand Leipzig Nr. 200, Brief der Bezirkssekretärin [geschwärzt] an Kollegen [geschwärzt], 21. 5. 1975, S. 1. 133 Vgl. Interviews mit Frau E., 23. 6. 2006, Frau H. und Herrn P. 130 Vgl.

58   1. Rahmenbedingungen deutsch-polnischer Kontakte in Leipzig Politischer Grund der Grenzschließung waren die anhaltenden oppositionellen Unruhen und die Legalisierung der unabhängigen Gewerkschaft „Solidarność“ in der Volksrepublik.134 Die SED-Führung und ihr Machtapparat bewerteten diese Entwicklungen sofort als „konterrevolutionär“ und verstanden sie als Bedrohung des Sozialismus im eigenen Land.135 Als besonders eklatant wurde bewertet, dass seitens der PVAP die Lage nicht annähernd so ernst eingeschätzt wurde. Die SED zog in Zweifel, dass die polnische Partei die Situation eigenständig lösen könne.136 Erich Honecker forderte wie beim Vorgehen gegen den Prager Frühling 1968 ein bewaffnetes Eingreifen durch die Verbündeten des Warschauer Paktes.137 Die SED und das Ministerium für Staatssicherheit versuchten in den Monaten der „Solidarność“ einen ideologischen Spagat. In einem Fernschreiben an die Kreis- und Bezirksleitungen der SED wurde einerseits verlangt, die Verbindung zu den „polnischen Partnern“ zu verstärken und „politisch offensiv“ Einfluss auf sie zu nehmen. Gleichzeitig sollten inoffizielle Mitarbeiter in den Delegationen Informationen sammeln. Das wichtigste blieb, „konterrevolutionäre Kräfte“ zu erkennen und den „Miß­ brauch der Partnerschaftsbeziehungen zur Verbreitung konterrevolutionärer Auffassungen bzw. andere subversive Aktivitäten zu verhindern.“138 Inwieweit die Bevölkerung der DDR wirklich Gefahr lief, vom ‚Bazillus‘ der „Solidarność“ angesteckt zu werden, ist in der Sekundärliteratur umstritten und insgesamt schwer zu belegen. Augenzeugen wollen in der DDR-Bevölkerung durchaus Respekt und Hoffnung gegenüber der „Solidarność“ festgestellt haben.139 Wahrscheinlich war das Interesse der Menschen in der DDR an den Geschehnissen relativ hoch, auch wenn man in den Massenmedien der DDR lange Zeit nicht viel aus dem Nachbarland erfahren konnte.140 Olschowsky meint in Berichten der SED und des FDGB belegen zu können, dass es unter Solidarność siehe u. a.: Timothy Garton Ash: The Polish Revolution: Solidarity. Revisited and updated edition. London 1999 und Jerzy Holzer: „Solidarität“. Die Geschichte der freien Gewerkschaft in Polen. München 1985. 135 Vgl. Michael Kubina/Manfred Wilke (Hrsg.): „Hart und kompromißlos durchgreifen“. Die SED contra Polen 1980/81. Geheimakten der SED-Führung über die Unterdrückung der polnischen Demokratiebewegung. Berlin 1995 und Tantzscher: Polen und Manfred Wilke: Die Solidarność und die SED, in: Ders.: Der SED-Staat. Geschichte und Nachwirkungen. Gesammelte Schriften. Zu seinem 65. zusammengestellt und herausgegeben von Hans-Joachim Veen. Köln/Weimar/Wien 2006, S. 245–262. 136 Vgl. Kubina/Wilke: „Hart und kompromißlos durchgreifen“, S. 21. 137 Vgl. Gutsche/Kubina/Wilke: SED-Führung. 138 Vgl. Dokument 13, MfS Der Minister, Schreiben vom 5. 2. 1981, VVS 5/81 MfS 0008 Nr. 5/81 (BStU, ZA, Dokumentenstelle 102689), in: Tantzscher: Polen, S. 2732/33. 139 Vgl. Mehlhorn: Freundschaft, in: Eberwein/Kerski (Hrsg.): Beziehungen, S. 69. 140 Vgl. z. B.: Olschowsky: Einvernehmen, S. 34 und 104. Informieren konnte man sich natürlich trotzdem problemlos über Westdeutsche Medien. 134 Zur

1.2. Leipzig und Volkspolen   59

Berliner „Arbeitnehmern“ anfangs Sympathie für die streikenden polnischen Arbeiter gegeben habe. Diese habe aber mit der Zeit abgenommen, auf die Verhängung des Kriegsrechts in Volkspolen habe man mit einer Mischung aus Entsetzen und Erleichterung reagiert.141 An anderer Stelle wird die Deutung Olschowskys mit Verweis auf die Funde in Staatssicherheitsakten akzentuiert: Aus Berichten der Staatssicherheit entwickelt Renate Hürtgen das Bild, dass sich Arbeiter in der DDR nur vereinzelt und nicht unbedingt auf Betriebsebene, sondern meistens im öffentlichen Raum, mit der polnischen Streikbewegung solidarisierten.142 Für Leipzig sind diese Tendenzen ebenfalls nachzuvollziehen. Zunächst einmal stellte die Staatssicherheit in Leipzig fest, die Vorkommnisse in Polen nähmen in Diskussionen einen „breiteren Raum“143 oder gar einen „beachtlichen Umfang“ ein.144 Die Berichte der Stasi schwanken zumeist selbst im Urteil und setzen eher auf Masse und Zuspitzung DDR-kritischer Äußerungen, denn auf ausgewogene Information. Eindeutig lässt sich herausstellen, dass die Besorgnis der Leipziger hinsichtlich Situation und Folgen im Nachbarland und für die Stabilität in Europa groß waren. Die Informationsbeschaffung verlief oft über westliche Medien (was die Stasi als Grund kritischer Meinungen betrachtete). In Kirchenkreisen und auch relativ verbreitet in anderen gesellschaftlichen Bereichen und Gruppierungen gab es durchaus Sympathie­ bekundungen für die streikenden polnischen Arbeiter und Hoffnungen, dass es in der DDR ebenfalls zu Veränderungen kommen könne. Die friedliche Lösung in Polen wurde mit Erleichterung aufgenommen, die Schwächung der PVAP wurde deutlich als solche wahrgenommen. Streiks wurden offensichtlich nur anfangs (August 1980) und später immer seltener als wirksames ­Mittel betrachtet. Ziemlich dominant blieben wirtschaftliche Argumente: Als Ursache der Krise in Volkspolen sah die DDR-Bevölkerung die schlechte wirtschaftliche Situation, zu Hilfe war man zwar grundsätzlich bereit, allerdings wurde immer wieder mit polenfeindlichen Argumenten auf die Faulheit der Nachbarn verwiesen. Vor allem fürchtete man eine Destabilisierung des Marktes in der DDR durch zu großzügige Hilfeleistungen. Die Forderung nach der 141 Vgl.

ebd. S. 101–110. Renate Hürtgen: Zwischen Disziplinierung und Partizipation. Vertrauensleute des FDGB im DDR-Betrieb. Köln/Weimar/Wien 2005, S. 277–279. 143 Vgl. BStU, MfS, BV Leipzig, AKG Nr. 246/02, Information über weitere Reaktionen der Bevölkerung im Zusammenhang mit dem Arbeitstreffen zwischen dem Generalsekretär des ZK der SED und dem Bundeskanzler Schmidt sowie zur Situation in der VR Polen, Leipzig, 20. 8. 1980, Bl. 15. 144 Vgl. ebd., Information über weitere Reaktionen zum Arbeitstreffen am Werbellinsee sowie zur Lage in der VR Polen, Leipzig, 22. 8. 1980, Bl. 29. 142 Vgl.

60   1. Rahmenbedingungen deutsch-polnischer Kontakte in Leipzig Grenzschließung zum Schutz des Konsumgütermarktes in der DDR blieb gleich bleibend laut.145 Es ist jedoch festzuhalten: Immer wieder weisen einzelne Meinungsäußerungen auf Sympathie für die polnische Gewerkschaft oder gar auf Ablehnung des Sozialismus im Allgemeinen hin.146 Die Konfrontation Leipziger Staatssicherheitsauswertungen mit der Sekundärliteratur ergeben demnach ein nicht eindeutiges, aber doch belastbares Panorama. Dies stellt sich im Großen und Ganzen so dar, dass die Bevölkerung der DDR die Lage in Polen mit einer gewissen Besorgnis verfolgte und ­Sympathiebekundungen keineswegs die Ausnahme blieben bzw. in gewissen gesellschaftlichen Kreisen wie in Kirche oder unter Arbeitern durchaus einige Verbreitung fanden. Mit der Zeit wendete sich die Stimmung gegen die „Solidarność“, wobei wirtschaftliche Probleme, die unsichere Lage in Volkspolen wie die Propaganda in der DDR eine Rolle spielten. Die Grenzschließung erfolgte jedoch keineswegs ausschließlich aus politischen Motiven. Ein wesentlicher Faktor war, dass der Markt der DDR vor den Einkäufen durch Polen geschützt werden sollte.147 Auch als sich die Lage in Volkspolen wieder stabilisiert hatte, bestand die DDR auf dem status quo. Sie schätzte nicht nur die Belastbarkeit des eigenen Marktes gering ein, sondern achtete auch auf die Stimmung der eigenen Bevölkerung, die besonders durch einen gesicherten Lebensstandard an das Regime gebunden werden sollte.148 Durchaus im Einklang mit gesellschaftlichen Stimmungslagen betrieb die SED

145 Dieser

Querschnitt ist aus verschiedenen Informationen der Staatssicherheit zusammengestellt. Vgl. z. B. Information über weitere Reaktionen der Bevölkerung des Bezirkes zu den konterrevolutionären Entwicklungen in der VR Polen, Leipzig, 2. 9. 1980, Bl. 47–52 oder Information der Bevölkerung unseres Bezirkes im Zusammenhang mit der Entwicklung in der VR Polen, Leipzig, 17. 10. 1980, Bl. 109–113. 146 Vgl. ebd. oder BStU, MfS, ZAIG Nr. 4503, Wochenübersicht 42/81, Anlage 6, Hinweise zur Reaktion der Bevölkerung der DDR im Zusammenhang mit der Lage in der VR Polen, Berlin, 26. 10. 1981, Bl. 153–159. Die Kreisdienststelle des MfS in Leipzig stellte mehrere anonyme Solidaritätsbekundungen mit der Solidarność und offene Kritik am System der DDR sicher: Vgl. BStU, BV Leipzig, KD Leipzig-Stadt Nr. 1075, Bl. 1–11. 147 Vgl. z. B. Wasiak: Wpływ, S. 210 und SAPMO-BArch, DY 30 Nr. 3205, Information über die zeitweilige Aussetzung des Abkommens über den paß- und visafreien Reiseverkehr zwischen der DDR und der VR Polen vom 25. 11. 1971, [undatiert] Bl. 434–437. 148 Zum Zusammenhang von Erhöhung des Lebensstandards und Bindung an die Regierenden unter Honecker siehe u. a.: Ulrich Mählert: Kleine Geschichte der DDR. 5. überarbeitete Aufl. München 2007, S. 117–123. Wie sich die SED unter Honecker über Versorgungsleistungen legitimierte, analysiert Christoph Boyer. Vgl. Christoph Boyer: Grundlinien der Sozial- und Konsumpolitik der DDR in den siebziger und achtziger Jahren in theoretischer Perspektive, in: Renate Hürtgen/Thomas Reichel (Hrsg.): Der Schein der Stabilität. DDR-Betriebsalltag in der Ära Honecker. Berlin 2001, S. 69–84. Vgl. auch Fulbrook: Leben, S. 59–62.

1.2. Leipzig und Volkspolen   61

eine „nationalistisch gestrickte Abschottungspolitik“.149 Dementsprechend blieb die Politik der DDR hart gegenüber polnischen Veränderungsvorschlägen – die Kriminalisierung vieler Polen ließ sich da im Satzeinschub gleich noch mit abhaken: Eine Rückkehr zu den Modalitäten vom 30. 10. 1980 würde – ausgehend von den gegenwärtigen politischen und ökonomischen Bedingungen, insbesondere der Versorgungslage in der VR Polen – vor allem zu Einreisen führen, die ausschließlich Warenabkäufe von Bürgern der VRP in Handelseinrichtungen der DDR zur Folge hätten. Derartige massenhafte Warenabkäufe, nicht unerheblich verbunden mit Schieber- und Spekulationsgeschäften, sind weder mit dem politischen Grundanliegen des paß- und visafreien Reiseverkehrs, noch mit den volkswirtschaftlichen Möglichkeiten der DDR vereinbar und würden bei den Bürgern der DDR auf Unverständnis stoßen.150

Polnische Reaktionen In Volkspolen war die Ernüchterung über die Maßnahmen der DDR-Politik und über das Verhalten der Ostdeutschen erheblich. Die interne Dokumentation der Folgen der Grenzschließung sparte nicht an kritischen Kommentaren und beschönigte den aktuellen Stand der Kontakte keineswegs. Der allgemeine Eindruck war, dass die DDR die meisten Kontakte eingefroren habe und an einer baldigen Wiederaufnahme nicht interessiert sei. Für das Jahr 1981 wurden die zwischenstaatlichen Kulturkontakte folgendermaßen zusammengefasst: Die DDR habe sich aus großen Veranstaltungen zumeist unter Angabe technischer Gründe zurückgezogen. Sie habe zwar die Einreise polnischer Künstler und Delegationen organisatorisch bestens unterstützt, Schikanen durch die Zollorgane der DDR vom September 1980 bis Mai 1981 hätten aber viele von der Reise abgeschreckt. Regelrecht ausgegrenzt worden seien polnische Delegationen jedoch von tieferen und weniger offiziellen Kontakten in Künstlerkreisen. Die DDR wiederum habe ihre Austauschkontingente nur in minimaler Weise ausgenutzt, eigentlich habe man nur die wirklich wichtigen internationalen Festivals in Volkspolen besucht. Die Anreisenden seien in der Mehrzahl eben solche Partner gewesen, die schon lange und freundschaftliche Kontakte mit den polnischen Institutionen und Künstlerkreisen unterhielten.151 Es könnte also sein, dass in der Phase der Abnabelung gerade die bewährten Kontakte aus früheren Zeiten eine brückenschlagende Funktion innehatten. Diejenigen, die ein echtes Interesse an Kontakten mit Polen hatten, Crome/Franzke: DDR, S. 205. MfS, ZAIG Nr. 4683, Reiseverkehr DDR – VR Polen, [ohne Ort, undatiert], Bl. 99. 151 Vgl. AAN, KC PZPR, Wydział Kultury Nr. 815 (909/32), Współpraca kulturalna z NRD w r. 1981 i zamierzania na r. 1982, 22. 2. 1982, S. 2. 149 Vgl.

150 BStU,

62   1. Rahmenbedingungen deutsch-polnischer Kontakte in Leipzig waren möglicherweise in der Lage, ihren Willen trotz allgemein gegenläufiger Tendenzen durchzusetzen. Weitere Indizien für die Reichweite der Grenzschließung liefern Angaben des Sozialistischen Jugendverbandes Volkspolens zum Jugendaustausch. Besonders schwerwiegend litten demnach dezentrale Kontakte mit der FDJ.152 Diese Bewertung lässt darauf schließen, dass der vormals unkomplizierte Grenzübertritt zu direkten und recht effektiven Kontakten geführt hatte. Die Zeit des Kriegszustands in der Volksrepublik Polen beendete viele Ansätze der siebziger Jahre. Der institutionell nichtorganisierte Tourismus kam in den achtziger Jahren praktisch komplett zum Erliegen. In Volkspolen wurde richtig gefolgert, dass der Rückgang der Reisen auf die Abschottungspolitik der DDR zurückzuführen war. Die polnische Seite wusste, dass für Armeeoffiziere, Staatssicherheitsmitarbeiter, Parteifunktionäre, Polizisten und Soldaten aus der DDR Reiseverbot herrschte; Parteimitglieder mussten auf Parteiversammlungen ihre Ausreise begründen und über die geplante Einladung eines polnischen Gastes in die DDR Bericht erstatten.153 Einzelne Abteilungen des Ministeriums für Staats­sicherheit wiesen ihre Mitarbeiter darauf hin, dass Reisen nach Volks­ polen nur in großen Ausnahmefällen möglich seien; bei ihren Angehörigen sollten sie darauf achten, dass Reisen ins Nachbarland und Besuche von Polen in der DDR nur bei „dringender Notwendigkeit“ stattfanden.154 Als besonders alarmierend bewertete die polnische Seite, dass die Zahl der privaten Einladungen von Polen durch DDR-Bürger außerordentlich gering blieb. Für 1981 lagen ihr folgende Zahlen vor: Während in der DDR arbeitende Polen 110 000 bis 120 000 Einladungen aussprachen, polnische Vertretungen mit insgesamt 160 Angestellten 5000 und Polen mit Konsularpässen 50 000, luden DDR-Bürger nur ca. 20 000 Polen ein.155 Hinter diesen relativ geringen Zahlen genuin ostdeutscher Einladungen vermutete man in Volkspolen eine gezielte Kampagne seitens der DDR-Organe. Eine plausible Erklärung sah man entweder in verfälschten Daten oder in Verbot, Abraten und Erschwernis sowie Einschüchterung der einladenden Antragsteller. Allerdings gebe es Signale, dass Einladungen nicht nur gut begründet sein müssten, son152 Vgl.

ebd., Notatka informacyjna nt. Związku Wolnej Młodzieży Niemieckiej, Warszawa, 28. 5. 1981, S. 2. 153 Vgl. AAN, Główny Komitet Turystyki w Warszawie Nr. 10/81, Notatka informacyjna dotycząca ruchu osobowego między PRL a NRD w 1981r., 15. 12. 1981, Bl. 154/55. 154 Vgl. BStU, MfS, HA XXII Nr. 1733/20, Privatreisen in die bzw. Besuche aus der Volksrepublik Polen, Berlin, 26. 11. 1980, Bl. 12. 155 Vgl. AAN, Główny Komitet Turystyki w  Warszawie Nr. 10/81, Notatka informacyjna dotycząca ruchu osobowego między PRL a NRD w 1981r., 15. 12. 1981, Bl. 150–154.

1.2. Leipzig und Volkspolen   63

dern auch schnell abgelehnt würden. Insgesamt zog man stark in Zweifel, dass die Effekte der offenen Grenze so gering gewesen waren. Man nahm an, dass DDR-Bürger über mehr Verwandte, Freunde und Bekannte in der Volksrepublik verfügen müssten, als die Zahl der tatsächlich Eingeladenen suggerierte.156 Das polnische Generalkonsulat in Leipzig folgerte aus der neuen Situation, dass man versuchen müsse, die Interessen Volkpolens und polnischer Bürger angesichts der sich verschlechternden staatlichen wie zwischenmenschlichen Beziehungen zu schützen.157 Dabei spielte sich offensichtlich die kreative Praxis ein, Einladungen zu bestätigen, ohne dass verwandtschaftliche Bindungen von Einladenden und Eingeladenen vorlagen.158 Die hohen Zahlen der Eingeladenen durch polnische Staatsbürger in der DDR zeigen eindrücklich, dass von polnischer Seite das Interesse an Reisen hoch war und man so viele Menschen einlud, wie man einrichten konnte. Während Individualreisen bis 1989 nicht mehr erleichtert wurden, weiteten DDR und Volkspolen die Koopera­ tion bei organisierten Reisen weiter aus. Urlauberaustausch auf Betriebs- und Gewerkschaftsebene, Kinder-, Jugend- und Studentenaustausch waren die ­kanalisierten Formen eines leichter zu kontrollierenden Kontaktes.159

‚Normalisierung‘ Eine ‚Normalisierung‘ der Beziehungen setzte erst mit der Ausrufung des Kriegszustandes am 13. Dezember 1981 durch General Jaruzelski wieder ein. Die SED stand der „Bruderpartei“ im Nachbarland mit Rat und Tat zur Seite und leistete „politische und moralische Unterstützung“.160 Da die ostdeutschvolkspolnischen Partnerschaftsbeziehungen während der Krise ohnehin unterbrochen worden waren und durch die Absetzung vieler Funktionäre der PVAP keine Kontinuität gewährleistet war, standen die Bezirke (nicht nur in Leipzig) vor einer Art Neuanfang.161 Der Motor sprang auch in Leipzig wieder an: 156 Vgl.

ebd., Bl. 153/54. ebd., Bl. 167. 158 Vgl. BStU, MfS, BV Leipzig, Abt. II Nr. 712, Operativinformation 30/89 zu Erscheinungen im Einreiseverkehr polnischer Staatsbürger, Leipzig, 20. 1. 1989, Bl. 3. 159 Vgl. u. a. Koćwin: Polityczne determinanty, S. 170. 160 Vgl. SächsStA, StA-L, 21123 SED-BLL Nr. 1637, Bericht über den internationalen Delegations- und Erfahrungsaustausch der Bezirksleitung Leipzig der SED mit Bruderparteien im Jahre 1982, [undatiert], S. 8. 161 Eingefangen wird diese Problematik auch jenseits der geheimdienstlichen Aufgaben von der Staatssicherheit: Vgl. BStU, MfS, BV Leipzig, Abt. II Nr. 737/02, Langfristige Bearbeitungskonzeption zum politisch-operativen Schwerpunkt „Schaffung neuer und Aktivierung bestehender Kontakte in die VR Polen, einschließlich der Nutzung von Partnerschaftsbeziehungen in der Wojewodschaft Krakow zur Erarbeitung perspektivreicher Ausgangsmaterialien“, Leipzig, 5. 5. 1982, Bl. 102. 157 Vgl.

64   1. Rahmenbedingungen deutsch-polnischer Kontakte in Leipzig In der brüderlichen Zusammenarbeit mit dem Krakower Komitee der PVAP wurde seit der Ausrufung des Ausnahmezustandes [Bezeichnung der DDR] über die getroffenen Vereinbarungen hinaus durch das Sekretariat der Bezirksleitung den polnischen Genossen unmittelbare Hilfe und Unterstützung gewährt.162

Diese bestand in der Verschickung von Grundnahrungsmitteln, „Waren des täglichen Bedarfs“ und Medikamenten bzw. in der Anleitung „bewährter“ polnischer Genossen und Funktionäre.163 Zu diesem Zeitpunkt hatte die SED auch die öffentliche Meinung zur „Solidarność“ wieder unter Kontrolle.164 Politisch gewollt trugen der Bezirk Leipzig und die Wojewodschaft Krakau nach den Verwirrungen der „Solidarność“-Zeit und des Kriegszustandes zur ‚Normalisierung‘ bei. Es wurden Abkommen beschlossen und erfüllt, in denen Parteien, Massenorganisationen, Gewerkschaften, Betriebe, Bildungsund Kultureinrichtungen und viele mehr in einen Austausch miteinander traten.165 Viele dieser Kontakte erfüllten aber nur den vorgefertigten Plan, ohne zu einer echten Verbesserung der Beziehungen beizutragen. Lesław Koćwins Urteil, dass ein Studium der Parteiakten ein geradezu Orwellsches Bild der ‚politischen Realität‘ abgab, traf auch auf Leipzig und Krakau zu. Koćwin gelangt nämlich für die ostdeutsch-volkspolnische Grenzregion zu der Einsicht, dass man sich auf ein Programm des Austauschs geeinigt und diesen Plan dann erfüllt habe, um sich hinterher selbst ob der erzielten Erfolge zu loben.166 Nicht zufällig wertete die Kulturabteilung der PVAP die „Leipziger Tage“ in Krakau 1983 neben dem Staatsbesuch Honeckers bei Jaruzelski als Belebung und Neubeginn der Beziehungen.167 Der Effekt dieses Events war auf der Mikroebene ebenfalls spürbar: Ein Journalist der Leipziger Volkszeitung, der als Berichterstatter an den wichtigsten Veranstaltungen der „Leipziger Tage“ teilnahm, hob die hohe ideologische Bedeutung dieser Veranstaltung hervor. Die DDR habe in den „Leipziger Tagen“ die Möglichkeit gesehen, den alten Faden der Zusammenarbeit wieder aufzunehmen. Die hohe ideologische Aufladung 162 SächsStA,

StA-L, 21123 SED-BLL Nr. 1637, Bericht über den internationalen Delegations- und Erfahrungsaustausch der Bezirksleitung Leipzig der SED mit Bruderparteien im Jahre 1982, [undatiert], S. 8. 163 Vgl. ebd., S. 8–10. 164 Über den Prozess der Rückeroberung des öffentlichen Diskurses durch stetige Propaganda vgl. Olschowsky: Einvernehmen, S. 106–110. 165 1989 umfasste eine Liste 71 Partnerschaften: Vgl. SächsStA, StA-L, 21123 SED-BLL Nr. 1627, Betrifft: Übersicht über die Partnerbeziehungen zwischen Leipzig und Krakow. 166 Vgl. Koćwin: Polityczne determinanty, S. 190/91. 167 Vgl. AAN, KC PZPR, Wydział Kultury Nr. 646 (908/26), Ocena współpracy kulturalnej z Niemiecką Republiką Demokratyczną w latach 1983–1984, (undatiert), S. 2.

1.2. Leipzig und Volkspolen   65

habe darin bestanden, nicht nur guten Willen nach der polnischen Krise zu zeigen, sondern die SED-Herrschaft in der DDR als vorbildlich und nachahmenswert zu präsentieren. Die Gesandten aus der DDR sollten in Krakau Aufbauhilfe leisten und den Genossen der PVAP den Rücken stärken. Für diese Aufgabe hätten die Leipziger einige ihrer bekanntesten Ensembles und Künstler in die Partnerstadt geschickt.168 Die Intensivierung der ideologischen Arbeit unterstrich ebenso der Abschlussbericht des DDR-Kulturinstitutes in Krakau: Unsere […] Aktivitäten trugen dazu bei, vor allem unter der jungen Generation der VRP ein realistisches Bild von der DDR weiter auszuprägen, Vorurteile und teilweise stereotype Auffassungen vom Werden und Wachsen der DDR und ihrer Geschichte zu überwinden, die Freundschaft zwischen unseren Völkern zu festigen und zu vertiefen sowie die polnischen Kommunisten zu unterstützen im Kampf um die weitere Konsolidierung der soz. Entwicklung in der VRP.169

Bei den „Leipziger Tagen“ 1987 war diese Aufbruchstimmung anscheinend schon wieder verflogen: Nicht mehr das Beste vom Besten, sondern zweitklassige Künstler sorgten auf polnischer Seite für „Verschnupfung“.170 Der Umgang zwischen Deutschen und Polen war von Distanz geprägt, die Stimmung soll unter den Schriftstellern – der polnische Schriftstellerverband hatte ­besonders viele „Solidarność“-Mitglieder – dicht am Nullpunkt gewesen sein.171 Die Situation in Leipzig war durch viele sich überkreuzende Faktoren gekennzeichnet. Als Reaktion auf den Kriegszustand vermeldete die Leipziger SED unter den Werktätigen ihres Bezirkes allgemeine Zustimmung.172 Auch der FDGB vermeldete: Insgesamt kann eingeschätzt werden, daß unsere Werktätigen bisher die Entwicklung in der VR Polen mit Besorgnis verfolgten und mit den jetzt eingeleiteten Maßnahmen durch den Staatsrat der VR Polen hoffen, daß den Konterrevolutionären eine Abfuhr erteilt wird und endlich wieder Ruhe und Ordnung zur Stabilisierung der politischen und wirtschaftlichen Lage in Polen eintritt.173

168 Vgl.

Interview mit Herrn T. SAPMO-BArch, DY 13 Nr. 3105, KIZ Kraków, Jahresabschlußbericht 1984, 3. 1. 1985, S. 1. 170 Vgl. Interview mit Herrn M. 171 Vgl. ebd. 172 Vgl. SächsStA, StA-L, 21123 SED-BLL Nr. IV/D/2/5/330, Information über erste Meinungen unter den Werktätigen zum Interview des Genossen Erich Honecker sowie zur Stimmung über die Lage in der VR Polen, 16. 12. 81, Bl. 145–147. 173 Ebd., 21740 FDGB-Stadtvorstand Leipzig Nr. 7108, Information über Meinungen und Stimmungen zu aktuellen politischen Fragen der Innen- und Außenpolitik, Leipzig, 18. 12. 1981, S. 5. 169 Vgl.

66   1. Rahmenbedingungen deutsch-polnischer Kontakte in Leipzig Die Menschen in Leipzig reagierten angesichts der allgemeinen Unsicherheit mit Erleichterung auf die definitive Entscheidung der PVAP. Im Gegensatz zu dieser ‚beruhigenden‘ Mitteilung stand jedoch die erhöhte Alarmbereitschaft der SED-Organisationen, die zur „Gewährleistung von Ruhe und Ordnung“ beitragen und mit polnischen Bürgern in Leipzig „Gespräche führen“ sollten.174 Fest steht, dass während der gesamten Phase nach der „Solidarność“ auch durch staatliche Propagandaaktionen Stimmung gegen den polnischen Staat und seine Bevölkerung gemacht wurde. Die Freundschaftspropaganda der SED wandelte sich in eine Art „verordnete Feindschaft“.175 Weit verbreitet war die Meinung vom „faulen Polen“ oder von der sprichwörtlichen „polnischen Wirtschaft“. Polenfeindliche Einstellungen wurden sogar in der Öffentlichkeit laut, auch wenn sich daraufhin per Bericht Protest regte: Kritikwürdig ist die Art und Weise des Sprechers Müller gewesen, in welcher Form er das Kinderensemble am 8. 10. 1981 – 10.00 Uhr auf die Bühne [sic] Markt angesagt hatte. Er sagte in etwa: ‚Und nun begrüßen wir das Kinderensemble ‚Hutnik‘ aus Krakow. Diese ­Kinder hat man noch nicht zum Streik erzogen, deshalb arbeiten sie heute bei uns.‘176

Während die DDR zu einer Solidaritätsaktion zu Weihnachten 1981 aufrief, um ihre Unterstützung für den Bruderstaat zu untermauern, brachen in der Bevölkerung auch Neid und Verachtung gegenüber Polen hervor. Die Bezirksleitung entsandte Lebensmittel und das Nötigste des täglichen Bedarfs beziehungsweise das, was man dafür hielt.177 Die Leipziger Staatssicherheit vermeldete, dass die Bevölkerung die Solidaritätsaktion in „überwiegendem Maße“ begrüße, jedoch auch Zweifel angemeldet werde. So äußerten zum Beispiel Arbeiter eines Leipziger Kombinats, Angestellte aus Eilenburg und Arbeiter aus Döbeln, dass „in unseren Läden […] bereits jetzt wenig zu kaufen [sei] und durch Solidaritätsspenden werde es noch weniger. Die Polen sollten lieber selber alle arbeiten.“178 In Leipziger Schulen wurde zu einer Paketaktion 174 Vgl.

ebd., 21123 SED-BLL, Nr. IV/D/2/5/330, Information über die eingeleiteten Maßnahmen sowie erste Stellungnahmen und Mitteilungen zur Lage in der VR Polen, 13. 12. 81, Bl. 140. 175 Vgl. Interview mit Frau H. 176 SächsStA, StA-L, 20237 BT/RdB Nr. 29612, Betrifft: Ensembleaustausch 7.–11. 10. 1981 in Leipzig, Leipzig, 19. 10. 1981, S. 2. 177 Vgl. ebd., 21123 SED-BLL Nr. IV/D/2/5/330, Verschlüsseltes Fernschreiben, 18. 12. 81. Zusammengestellt wurden daraufhin Lieferungen folgenden Umfangs: 15t Kartoffelstärke, 33t Mehl, 20t Pudding, 10t Wurstkonserven, 28t Zuckerwaren, 52t Teigwaren, 2t Kindergrieß, 36t Zucker, 33 Tausend Paar Kinderschuhe, weiterhin Druckmaschine, Vervielfältigungsgerät, Druckerzeugnisse, Bl. 152/53. 178 Vgl. BStU, MfS, BV Leipzig, AKG Nr. 259, Information über weitere Reaktionen von Bürgern des Bezirkes Leipzig sowie im Bezirk aufhältiger polnischer Bürger zu den Ereignissen in der VR Polen, Leipzig, 5. 1. 1982, Bl. 5.

1.2. Leipzig und Volkspolen   67

aufgerufen. Dabei wurden 145 608 Päckchen mit einem Durchschnittswert von 20 DDR-Mark gepackt.179 Nur manche Eltern wollten den „arbeitsfaulen“180 Polen nichts geben: „Für die Polen keinen Pfennig“!181 Zudem kursierten antipolnische Witze, Polen wurden sogar von Kassiererinnen auf Aufenthaltsgenehmigungen kontrolliert, allgemein setzte eine Besserwisserei von DDRBürgern gegenüber Polen ein.182 Die von Verdächtigungen der politischen Unzuverlässigkeit getragene Stimmung gegenüber der Volksrepublik bekamen auch Polen in Leipzig zu spüren. Private Kontakte zwischen deutschen und polnischen Leipzigern kühlten merklich ab oder wurden ganz abgebrochen.183 In den Stimmungs- und Meinungsberichten der SED blieben Vorurteile gegen Polen als Schmuggler und Schieber ein gern gepflegtes Motiv.184 Solche Einschätzungen wurden zudem gezielt durch die Propaganda der SED befeuert.185 Alles in allem stagnierten die zwischenmenschlichen Beziehungen in den achtziger Jahren. Echte Mühe machte man sich auf der offiziellen Ebene kaum noch, persönliche und private Initiativen wurden be- und verhindert. So ist es wohl kein Zufall, dass Kontakte zweier Leipzigerinnen, die während der siebziger Jahre lebhaft gewesen waren, genau Anfang der Achtziger verebbten.186 Beide Frauen konnten oder wollten sich in den Interviews nicht so recht an die möglichen politischen Gründe erinnern. Fester mit Polen in Kontakt stehende Leipziger halfen sich zunehmend mit kleinen Schummeleien aus der Affäre. Sie umgingen das faktische Reiseverbot nach Volkspolen, indem sie über Reisebüros reisten und so auf Personen bezogene Reiseverbote trickreich und mit etwas Glück umgingen.187 Oder sie erfanden polnische Verwandte, um polnische Freunde einzuladen und selbst eingeladen werden zu können.188 So kann nicht überraschen, was für weite Kreise der DDR-Bevölkerung galt: Mit den Bewohnern der Volksrepublik Polen gab es eigentlich keine ge179 Vgl.

SächsStA, StA-L, 21123 SED-BLL Nr. IV/D/2/5/330, Information zur Solidaritätsaktion „Hilfe für die Kinder Volkspolens“, 21. 12. 81, Bl. 159/60. 180 Vgl. ebd., 21138 SED Stadtbezirksleitung Leipzig Mitte Nr. IV/D/5/2/248, Kurzinformation zur Absicherung der Solidaritätsaktion für die Kinder der VR Polen, 19. 12. 1981. 181 Vgl. ebd., 21123 SED-BLL Nr. IV/D/2/5/330, Information über die Stimmung und Meinungen zur Solidaritätsaktion für die Volksrepublik Polen, 18. 12. 81, Bl. 151. 182 Vgl. Interview mit Herrn P. 183 Vgl. Interview mit Frau H. 184 Vgl. z. B. SächsStA, StA-L, 21123 SED-BLL Nr. 866, SED Bezirksleitung: Information über Stimmung und Meinungen zu den neuen Zollbestimmungen der DDR, Leipzig, 21. 11. 1988, S. 2. Siehe vor allem Kapitel 4. 185 Vgl. Mehlhorn: Freundschaft, in: Eberwein/Kerski (Hrsg.): Beziehungen, S. 69. 186 Vgl. Interview mit Frau St., und Frau T. 187 Vgl. Interview mit Frau B. 188 Interview mit Herrn P.

68   1. Rahmenbedingungen deutsch-polnischer Kontakte in Leipzig meinsame Sprache und keinen Verständigungsrahmen. Mittlerschichten waren erfolgreich aus dem politischen Tagesgeschehen und dem Alltag der Menschen verdrängt worden.189 Die Stellungnahmen der Machthaber der DDR hätten sogar für Zeitgenossen bereits wie Hohn geklungen: Die polnischen Gesprächspartner äußerten sich befriedigt über die hohe Dynamik in der Entwicklung der Beziehungen zur DDR, deren Grundlage die engen, vertrauensvollen Beziehungen zwischen der SED und der PVAP darstellen. In diesem Zusammenhang wurde besonders der in der Welt beispiellose Kinder- und Jugendaustausch hervorgehoben, der eine große Investition in die Zukunft darstelle und von großer Weitsicht der führenden Repräsentanten beider Parteien und Staaten zeuge. […] Die polnischen Gesprächspartner anerkannten auch die durch die großzügige Handhabung der bestehenden Regelungen für den privaten Reiseverkehr durch die DDR geschaffenen Möglichkeiten für die Entwicklung des privaten Reiseverkehrs und des Touristenaustausches, brachten jedoch erneut ihr Interesse daran zum Ausdruck, schrittweise zu den Regelungen zurückzukehren, wie sie im Jahr 1971 vereinbart wurden. Dazu wurde der Standpunkt der DDR dargelegt und auf die Notwendigkeit verwiesen, an den 1980 auf Vorschlag der DDR vereinbarten Einschränkungen festzuhalten.190

Das Parteikomitee der PVAP erkannte dagegen nüchtern an, dass die Beziehungen zwischen beiden Ländern seit 1980 keineswegs den Beziehungen von „Bruderländern“ entsprachen; sie entsprächen durch Fehler beider Seiten, jedoch besonders der DDR, weder den Intentionen noch den Notwendigkeiten und Erwartungen sozialistischer Nachbarn, die Volksrepublik sei auf die Rolle eines Schülers zurückgesetzt worden.191

Zwischenfazit Insgesamt waren deutsch-polnische Kontakte in den siebziger und besonders in den achtziger Jahren vielen Regulierungen und Einschränkungen unterworfen und konnten sich nicht freizügig entfalten. Dies lag an den zumeist angespannten ostdeutsch-volkspolnischen Beziehungen, die vielfach schon auf missverständlichen Wahrnehmungen beruhten und durch politische und gesellschaftliche Ereignisse immer wieder auf eine harte Probe gestellt wurden. Die Freundschaftspropaganda umfasste zu keinem Zeitpunkt den uneingeschränkten Willen zu einer unvoreingenommenen, partnerschaftlichen Politik der Staaten. Dies setzte sich auch auf der Ebene der Gesellschaften fort. Gerade in den achtziger Jahren verstetigten sich voreingenommene Urteile Crome/Franzke: DDR, S. 210. MfS, ZAIG Nr. 13779, Bericht über Konsultationen des Mitglieds des ZK der SED und Stellvertreter des Ministers für Auswärtige Angelegenheiten der DDR, Genossen Harry Ott, im Außenministerium der VR Polen am 13. und 14. Februar 1989, Bl. 5/6. 191 Vgl. AAN, KC PZPR, Wydział Zagraniczny Nr. 138 (973/ 136), Protokół z posiedzenia Egzekutywy KP PZPR w NRD odbytej 10 lutego 1987 roku., [undatiert], Bl. 24. 189 Vgl.

190 BStU,

1.3. Exkurs   69

gegenüber Polen. Zwischenmenschliche Kontakte zwischen Deutschen und Polen litten unter diesen Bedingungen erheblich. In Leipzig wurde das Geflecht der ostdeutsch-volkspolnischen Beziehungen propagandistisch instrumentalisiert und die offiziellen Kontakte des Bezirks und der Stadt manifestierten öffentlichen die Freundschaft mit Volks­ polen. Die Leipziger Entwicklungen lagen damit zum einen auf der Linie der zwischenstaatlichen Kontakte, in mancher Hinsicht waren sie jedoch auch exponiert. Leipzig und die Partnerstadt Krakau hatten als wichtige Großstädte eine gewisse Bedeutung und in Leipzig waren polnische Institutionen wie das Generalkonsulat und das Polnische Informations- und Kulturzentrum etabliert, die in der ostdeutsch-volkspolnischen Kommunikation eine besondere Rolle spielten. Alles in allem waren die Vorzeichen eines privaten deutsch-polnischen Austauschs in Leipzig nicht grundsätzlich anders als in anderen Teilen der DDR. Inwiefern sich private Kontakte anhand der offiziellen Bahnen entfalteten oder in informelle Bereiche abwanderten, soll in den folgenden Kapiteln diskutiert werden.

1.3. Exkurs. Die Staatssicherheit als Garant der Macht und als Akteur im Alltag. Private deutsch-polnische Kontakte als Instrument der Stasi Bereits kurz nach Aufnahme der nichtoffiziellen Zusammenarbeit mit dem IMB192 ‚Anita Genz‘ wurde bekannt, daß sie einen polnischen Bürger kennt, mit dem sie ein echtes Liebesverhältnis verbindet. […] Mit Auslösung der Streikbewegungen in der VR Polen bzw. der Gründung und der negativen Handlungsweisen der Gewerkschaft ‚Solidarnosc‘ wurde der IMB beauftragt, seinen Bekannten zu einem vorgegebenen Informationsbedarf abzuschöpfen.193

Die Frage nach der Rolle und den Aufgaben des Ministeriums für Staatssicherheit zielt mitten in die umstrittene Debatte um den Charakter von Herrschaft in der DDR.194 Repressivität und Allgegenwart der Staatssicherheit sind ein gewichtiges Element in der Bewertung der DDR als Diktatur, die die Rech192 IMB

gleich Inoffizieller Mitarbeiter der Abwehr mit Feindverbindung bzw. zur un­ mittelbaren Bearbeitung im Verdacht der Feindtätigkeit stehender Personen. 193 BStU, MfS, BV Leipzig, AIM Nr. 333/91 I/1, Aktenvermerk, Leipzig, 27. 1. 1982, Bl. 177/78. 194 Vgl. u. a.: Konrad H. Jarausch: Jenseits von Verdammung und Verklärung. Plädoyer für eine differenzierte DDR-Geschichte, in: Nicolas Beaupré/Agnès Bensussan/Dorota Dakowska (Hrsg.): Die Überlieferung der Diktaturen. Beiträge zum Umgang mit Archiven der Geheimpolizei in Polen und in Deutschland nach 1989. Essen 2004, S. 233. Siehe auch Diskussion dieses Forschungsproblems in der Einleitung.

70   1. Rahmenbedingungen deutsch-polnischer Kontakte in Leipzig te ihrer Einwohner permanent missachtete. Unbestritten ist, dass die Staats­ sicherheit unter Erich Mielke zu einem bedeutenden Machtfaktor ausgebaut wurde und in den siebziger und achtziger Jahren über ein vergleichsweise dichtes System der Überwachung verfügte.195 Als selbsternanntes „Schild und Schwert der Partei“ war sie für die Kontrolle und Manipulation in fast allen Lebensbereichen zuständig. In den siebziger Jahren „wuchs sie in die Rolle des entscheidenden Garanten innenpolitischer Stabilität unter den Bedingungen der Entspannungspolitik.“196 Eine Charakterisierung der Rolle des Ministeriums für Staatssicherheit ist also in knappen Umrissen durchaus möglich; allerdings sind damit über die Folgen des Überwachungsapparates für den Alltag und für das Bewusstsein der Menschen in der DDR noch keine Aussagen getroffen. Dieses Feld ist noch weitgehend unerforscht. Um zu den inneren Mechanismen der Stasiherrschaft in der DDR vorzustoßen, werden in der Forschung neue Modelle vorgeschlagen: Die Funktionsweisen der Diktatur und die Praktiken des Umgangs mit der Staatssicherheit könnten greifbarer gemacht werden, wenn die Erfahrungen der Menschen in der DDR mit der Staatssicherheit und deren Präsenz im Alltag mit in die Analyse eingingen. Einfließen solle in diese Überlegungen, dass sich gerade im IM-Spitzelwesen die Übergänge zwischen Herrschern und Beherrschten verwischten.197 Der Versuch, die Erforschung der Staatssicherheit in die Alltagsgeschichte zu integrieren, dürfe keineswegs in einer unpolitischen Kulturgeschichte enden, sondern müsse die geheimdienstliche Arbeit der Staatssicherheit an die Erfahrungen und Praktiken der Menschen rückbinden. Jan Palmowski sieht in der alltagsgeschichtlichen Perspektive eine Chance der DDR-Geschichtsschreibung: Eine alltagsgeschichtliche Betrachtung sowohl der sozialen Praxis in der Staatssicherheit als auch der von der Staatssicherheit rezipierten sozialen Praxis in der Bevölkerung kann diese Kluft überwinden, die Vielschichtigkeit des DDR-Alltags unterstreichen und so dazu beitragen, das Schweigen über die Staatssicherheit als integralen Bestandteil der DDR-Geschichte und des DDR-Alltags zu überwinden.198

Ein großer Teil der in dieser Arbeit benutzten Quellen stammt aus der Überlieferung der Staatssicherheit. Sie zeugen von den Überwachungs- und Repressionsmaßnahmen gegen die DDR-Bevölkerung und in erheblichem Maße Jens Gieseke: Der Mielke-Konzern. Die Geschichte der Stasi 1945–1990. München 2006, S. 71–109. 196 Ebd., S. 86. 197 Vgl. Jan Palmowski: Staatssicherheit und soziale Praxis, in: Jens Gieseke (Hrsg.): Staatssicherheit und Gesellschaft. Studien zum Herrschaftsalltag in der DDR. Göttingen 2007, S. 257. 198 Ebd., S. 271. 195 Vgl.

1.3. Exkurs   71

gegen polnische Bürger. Durch das Prisma der Staatssicherheit wird deutlich, wie die (beobachteten) Menschen in einer Diktatur handelten und welche Praktiken Beobachtungen oder gar Verfolgung nach sich zogen. So waren zum Beispiel polnische und deutsche Schleichhändler, die die Mangelwirtschaft informell umschifften, in großer Zahl betroffen. Besonders im Fokus standen natürlich auch Auffälligkeiten im Zusammenhang mit der „Solidarność“Bewegung in der Volksrepublik Polen. Es ist nicht überraschend, aber doch bemerkenswert, dass jenseits solcher kriminellen und politischen Handlungsweisen auch eine Unzahl anderer Auffälligkeiten – manchmal geradezu Lappalien – Aufnahme in die Berichte der Staatssicherheit fanden. Neben den Auswirkungen, die die Gegenwart der Staatssicherheit auf den Alltag hatte, lohnt es sich, deren Methoden selbst und die Art der Berichterstattung zu beachten. Scheinbare Zwanglosigkeit und Natürlichkeit der Spitzeltätigkeit durch inoffizielle Mitarbeiter drängen sich dem heutigen Leser geradezu auf. Denunziation und Alltagsbewältigung waren offenbar Dinge, die sich relativ problemlos miteinander vereinbaren ließen – sie gingen Hand in Hand. In vielen Fällen waren die Berichte auch nicht der Art, dass sie unmittelbare Folgen für die Beobachteten und ‚abgeschöpften‘ Personen hatten. Es handelte sich meistens um Einschätzungen und Beschreibungen, die scheinbar harmlos blieben oder – jedenfalls aus der Sicht des jeweiligen IM – keine Beschuldigungen enthielten. So wurde das Privatleben der Menschen – sowohl das der Beobachteten wie der Beobachtenden – Ausgangspunkt und Quelle vieler Staatssicherheitsberichte. Die privaten Kontakte zwischen Deutschen und Polen in Leipzig bekamen damit eine doppelbödige Konnotation. Im Folgenden sollen Stasipläne und -anweisungen nur kurz im Mittelpunkt stehen; es soll vielmehr darum gehen, der Dimension von Geheimdiensttätigkeit im Alltag der Menschen nahe zu kommen. An dieser Stelle soll hauptsächlich interessieren, wie die Staatssicherheit zur Verfolgung ihrer Ziele das Privatleben von Menschen instrumentalisierte und in den Alltag hineinagierte.

Reaktionen auf die Ereignisse von 1980/81 Dreh- und Angelpunkt der hier bedeutsamen Berichterstattung waren zumeist die politischen Ereignisse der Jahre 1980 und 1981. Hier lässt sich zeigen, welche Strategien und Mechanismen auf Seiten der Staatssicherheit griffen, um an verwertbare Informationen zur Situation in der Volksrepublik und deren Widerhall in der DDR zu gelangen. In vielen Fällen wurden bestehende Be­ ziehungen zwischen inoffiziellen Mitarbeitern und ihren Kontaktpersonen genutzt und bereits geworbene inoffizielle Mitarbeiter auf neue Aufgaben in ostdeutsch-volkspolnischen Kontaktfeldern vorbereitet.

72   1. Rahmenbedingungen deutsch-polnischer Kontakte in Leipzig Die Reaktionen des Ministeriums für Staatssicherheit auf die Ereignisse in der Volksrepublik Polen im Sommer 1980 erfolgten unmittelbar und zogen die Aktivierung aller Bereiche geheimdienstlicher Tätigkeit nach sich. Bereits im August 1980 versuchte das MfS sich einen Überblick über die Lage in der Volksrepublik Polen zu verschaffen und die Auswirkungen der Gründung der „Solidarność“ auf die Bevölkerung der DDR zu ermitteln. Die ersten Dossiers der Staatssicherheit wurden jedoch in großer Eile zusammengestellt und sind in ihrer Analyse nicht besonders treffend oder gar scharfsinnig. Sie erfassten die sich formierende politische Opposition in der Volksrepublik einseitig durch die vorgefertigte ideologische Brille und taten sich schwer, die Gründe und Motive der Streikbewegung zu erklären. Die Mitarbeiter der Staatssicherheit offenbarten sprachliche und begriffliche Mängel und lieferten einen anschaulichen Beleg intellektueller Schwäche.199 Die in Reaktion auf die Geschehnisse in Volkspolen verfassten Pläne und die Befehle des Ministers Mielke sind in einer Darstellung bereits zusammengestellt worden, ohne dass ihre konkreten Auswirkungen genauer erforscht wurden.200 Am 8. September 1980 nahm eine Operativgruppe der Hauptabteilung II (Spionageabwehr) der Staatssicherheit ihre Arbeit im Nachbarland auf. Angesiedelt an der Botschaft der DDR in Warschau unterhielt man außerdem Außenstellen in Gdańsk, Szczeciń, Wrocław und Katowice. Daneben waren auch noch andere Linien des MfS im Nachbarland tätig.201 Auf die Ereignisse folgte oft purer Aktionismus: Das Abhören von zehn Fernsprechleitungen und von insgesamt 2545 Gesprächen ist nur ein auffälliges Beispiel. Offenbar konnte die Stasi aber nur die 1241 deutschsprachigen auswerten. Von diesen wurden 269 zwischen in Volkspolen lebenden DDR-Bürgern und ihren Verwandten oder Bekannten in der DDR geführt, 295 trugen ausschließlich privaten Charakter und wurden von Deutschen und Polen geführt. Originär politische Themen wurden nur in wenigen Fällen berührt.202 Die hauptsächlichen Ziele waren umfangreiche und eigenständige Informationsgewinnung auch mittels des Einsatzes von IM und die Unterstützung der polnischen Partner bei der Bekämpfung der polnischen Oppositionsbewegung. 199 Vgl. Borodziej/Kochanowski (Hrsg.): PRL, S. 8 und S. 12. 200 Monika Tantzscher hat für die Enquete-Kommission des

Deutschen Bundestages eine erste Einschätzung der Reaktionen der Staatssicherheit auf die Ereignisse in der VRP geliefert. Ihre Ausführungen ergänzt sie durch einen reichhaltigen dokumentarischen Anhang der wichtigsten Dokumente aus den Schaltzentralen des MfS. Vgl. Tantzscher: Polen, S. 2601–2760. 201 Vgl. ebd., S. 2610. 202 Vgl. BStU, MfS, Sekr. Neiber Nr. 322, Übersicht über den Anfall und den Inhalt bei der Kontrolle des Fernsprechverkehrs zwischen der DDR und der VR Polen in der Zeit vom 12. Januar bis 2. Februar 1981, Berlin, 9. 2. 1981, Bl. 71–75.

1.3. Exkurs   73

Die Staatssicherheit ergriff auf dem Gebiet Volkspolens auch selbst Maßnahmen der Zersetzung und der psychologischen Kriegsführung gegen die Oppositionsbewegung.203 Diese Einmischung macht deutlich, wie tief das Misstrauen gegenüber den polnischen Institutionen geworden war. Die poli­ tische Klasse der DDR traute ihnen keine effektive Bekämpfung der Opposi­ tion zu und wähnte die kommunistische Partei im Rückzug vor der „Kon­ terrevolution“.204 Die Vielzahl der Anordnungen zeigt zum einen nochmals die intensive Beschäftigung mit der politischen Situation im Nachbarland, zum anderen wird ersichtlich, wie flächendeckend die Organisationen des MfS auf die Aufklärung und Bekämpfung der „Solidarność“ einwirkten. So übernahmen auch die Bezirksverwaltungen der Staatssicherheit Teile der ­„politisch-operativen“ Arbeit und trugen so erheblich zur innenpolitischen Repression in der DDR bei.205 Für diese Strategie des Eingreifens auf lokaler Ebene finden sich in der Überlieferung der Leipziger Staatssicherheit zahlreiche Belege. In Leipzig ­liefen viele Stränge bei der Abteilung  II zusammen, unter deren Obhut ab 1981 die AG 4 und ab Januar 1983 das Referat 8 mit dem polnischen Thema befasst waren.206 Aus einer großen Zahl von Arbeits- und Maßnahmeplänen sollen hier nur einige repräsentative herausgegriffen werden. Im Jahresarbeitsplan der Abteilung für 1981 kann man nachvollziehen, welchen Bereichen in Leipzig hinsichtlich ihrer möglichen Verbindung zu Volkspolen erhöhte Aufmerksamkeit gewidmet wurde. Der Auftrag war breit: Der Feind sollte im Bezirk Leipzig, in der gesamten DDR und Volkspolen bekämpft werden. Neben den Stoßrichtungen auf antisozialistische Kräfte und die Gewinnung „ope­ rativ-bedeutsamer Materialien“ usw. zielten einige Anliegen konkret auf das deutsch-­polnische Leben in Leipzig ab. Es sollten „operative Quellen“ neu gewonnen werden, von diesen mussten mindestens zwei inoffizielle Mitarbeiter „mit Verbindungen zu feindlichen Personen in der VR Polen bzw. im sozialistischen Ausland bzw. zur wirksamen Kontrolle von polnischen Bürgern im Bezirk Leipzig“ sein. Das polnische Generalkonsulat und das Polnische Informations- und Kulturzentrum sollten auf „antisozialistische Aktivitäten“ untersucht und gegebenenfalls geschützt werden. Die „operative Lage auf dem ­Gebiet der Partnerschaftsbeziehungen“ und die Situation der in Leipzig arbeitenden Polen mit Kontakt zur Bundesrepublik, ins westliche Ausland oder in Tantzscher: Polen, S. 2611–2613. Borodziej/Kochanowski: PRL, S. 9. 205 Vgl. Tantzscher: Polen, S. 2648. 206 Schriftliche Auskunft von Herrn Buczek, der in der Zweigstelle der BStU in Leipzig mit der Erfassung der Akten der Abteilung II befasst ist. 203 Vgl. 204 Vgl.

74   1. Rahmenbedingungen deutsch-polnischer Kontakte in Leipzig die Heimat waren ebenso im Fokus wie der Reiseverkehr zwischen der DDR und Volkspolen. Zur Lösung der letzteren Aufgaben wurde sogar eine eigene Arbeitsgruppe eingesetzt, die dem Leiter der Abteilung ihre Ergebnisse wöchentlich vorlegen sollte.207 Die umfassende Planung und damit einhergehende Überwachung aller Lebensbereiche in Leipzig dokumentiert als ein weiteres Beispiel von vielen der Jahresarbeitsplan des Referates  8 für 1986.208 Eine herausragende Rolle war weiterhin der Schutz und die Überwachung der polnischen Institutionen in Leipzig und die dort tätigen „bevorrechteten Personen“. Deren Anwohner, Anlieger und Kontaktpartner sollten ermittelt und überprüft werden, was einen aufwendigen Einsatz von IM und das Eindringen in die Privatsphäre vieler Menschen bedeutete. Unterstellt wurde dabei immer eher ein Verdachtsmoment, der keineswegs mit der „Solidarność“ im Zusammenhang stehen musste, als dass von einer Unschuldsvermutung ausgegangen wurde. Dieser Verdacht konnte auch krimineller Art sein oder in verdächtigen Kontakten in den Westen bestehen.209 Die polnischen Institutionen in Leipzig wurden – soweit möglich – inoffiziell unterwandert. Am Generalkonsulat unterhielt die Staatssicherheit schon ab Mitte der siebziger Jahre eine gesellschaftliche Mitarbeiterin (GMS), die dort als Schreibkraft beschäftigt war. Ihre Befähigung bestand sowohl für das Konsulat wie für die Stasi darin, dass sie als Deutsche erst 1958 aus dem ­polnischen Oberschlesien in die DDR übergesiedelt war und somit sowohl Deutsch als auch Polnisch beherrschte.210 Die Unterwanderung des Pol­ nischen Informations- und Kulturzentrums, die im weiteren Verlauf dieser ­Arbeit noch breiter thematisiert werden soll, erfolgte durch zahlreiche IM. Neben IM, die das PIKZ von außen überwachten, schleuste die Staatsicherheit auch Informanten ins Zentrum ein. So berichteten ein deutscher Graphiker und eine Dolmetscherin aus dem Innenleben des Kulturzentrums und zu erheblichen Teilen auch aus dem Privatleben der Angestellten des PIKZ.211 Die Einschätzungen lesen sich als Selbstbestätigung der Stasi: „Die Informationen von Ihrem IM ‚Felix‘ zum polnischen Informations- und Kulturzentrum sowie sein aktives operatives Wirken gegenüber Mitarbeitern bzw. Besuchern

207 BStU,

MfS, BV Leipzig, Abt. II Nr. 247/01, Jahresarbeitsplan, Leipzig, 22. 12. 1980, Bl. 7–9. 208 Vgl. ebd. Nr. 251/02, Jahresarbeitsplan des Referates  8 für 1986, Leipzig, 9. 12. 1985, Bl. 122–138. 209 Vgl. ebd., Bl. 122–125. 210 Vgl. ebd., AIM Nr. 553/89 I/1, Auftragsstruktur, Leipzig, 22. 4. 1975, Bl. 92. 211 Vgl. ebd. Nr. 507/89 I/1, II/1 und II/2.

1.3. Exkurs   75

dieser Einrichtung werden von uns als wertvoll und zum Teil operativ bedeutsam eingeschätzt.“212 In besonderer Weise waren für das Referat 8 polnische Bürger in der DDR verdächtig. Ihre Überwachung erfolgte routinemäßig, ein weiteres Ziel war die Werbung neuer Informanten.213 Mit Hilfe von IMS214 und GMS215 sollten die Beziehungen zur Partnerwojewodschaft durchdrungen werden, dies betraf zum Beispiel Hochschulkontakte und Urlauberaustausch.216 Bei Verdachtsmomenten konnte eine operative Personenkontrolle (OPK) folgen, was auch einigen der für diese Arbeit interviewten Personen widerfuhr. Der Auftrag lautete dann zum Beispiel: „Der Schwerpunkt der Bearbeitung der OPK ist zu richten auf die Motive für ihre oppositionelle Haltung und Einstellung zur sozialistischen Entwicklung sowie auf die Herausarbeitung des Bestehens und der Intensität der Kontakte zu polnischen Bürgern, die zu den Verfechtern der Solidarnosc gehören.“217 In diesem Fall sollte dieser recht allgemeine Verdacht durch mehrere IM und operative Kontrollmaßnahmen erhärtet werden.218 Gesammelt wurden alle Informationen in kontinuierlichen Berichten. Für die Zeit ab 1980 wurde monatlich bis in kleinste Details zum deutschpolnischen Leben, über deutsch-polnische Kontakte und über polnische Bürger im Bezirk Leipzig informiert. Dabei waren jede Auffälligkeit und jedes Verdachtsmoment wichtig.219

Inoffizielle Mitarbeiter Das MfS schätzte die „human intelligence“ inoffizieller Mitarbeiter [IM] als zuverlässige Quelle.220 Es gab unzählige Möglichkeiten der „Abschöpfung“; die Staatssicherheit nutzte die Berichte von IM über ihre Mitmenschen flächendeckend. Eine wichtige Komponente dieser geheimdienstlichen Methode war jedoch nicht nur die Stasiperspektive, sondern die jeweils individuelle 212 Ebd.

Nr. 7400/92 I/1, Einsatz des IM „Felix“, Leipzig, 30. 4. 1982, Bl. 164. ebd., Abt. II Nr. 251/02, Jahresarbeitsplan des Referates  8 für 1986, Leipzig, 9. 12. 1985, Bl. 125–127. 214 IMS gleich Inoffizieller Mitarbeiter zur Sicherung und Durchdringung eines Verantwortungsbereiches. 215 GMS gleich Gesellschaftlicher Mitarbeiter für Sicherheit. 216 Vgl. BStU, MfS, BV Leipzig, Abt. II Nr. 251/02, Jahresarbeitsplan des Referates  8 für 1986, Leipzig, 9. 12. 1985, Bl. 127–130. 217 Ebd., Bl. 131. 218 Vgl. ebd. 219 Ebd. Nr. 737/02, Monatliche Einschätzung der Entwicklung der Partnerschafts- und ­anderen Beziehungen der Verantwortungsbereichs zur VR Polen, Leipzig, 21. 1. 1981, Bl. 85–87. 220 Vgl. Gieseke: Mielke-Konzern, S. 112. 213 Vgl.

76   1. Rahmenbedingungen deutsch-polnischer Kontakte in Leipzig Konstitution des IM. In den hier benutzten Akten werden oftmals Motive und Einstellungen der inoffiziellen Mitarbeiter greifbar. Deren vorauseilender Gehorsam, ihre Servilität und Angst, ihr Eifer und ihre Überzeugung oder sogar ihr Profilierungsstreben machten den Alltag der Menschen in der DDR zu Themen von Staatssicherheitsdossiers.221 Anzeichen für die unterschiedlichen Motivlagen von IM finden sich auch in den hiesigen Beispielen: Ein Germanist, der als Gastdozent in Volkspolen lehrte, reagierte während des Kontaktgespräches mit den Mitarbeitern der Staatssicherheit erleichtert auf deren Anliegen. Er hatte offensichtlich mit Schwierigkeiten durch den ­Geheimdienst gerechnet. Im Werbungsgespräch erklärte er den Staatssicherheitsleuten, er sehe die „Notwendigkeit einer Verbindung zum MfS“ ein, identifiziere sich mit der DDR und finde eine Unterstützung deshalb „selbstver­ ständlich“.222 Die Kontaktmänner der Stasi protokollierten: „Er gab sich sehr jugendlich und leger und bot nach kurzer Zeit das ‚Du‘ an. Man konnte den Eindruck gewinnen, daß er das MfS für sich auszunutzen gedenkt (als Gegenleistung für seine Unterstützung).“223 Bei dem IM mischten sich also eine ­gewisse Angst mit (möglicherweise auch geheuchelter) Loyalität und dem Versuch, persönlich zu profitieren. Ein Leipziger IM wiederum war der Staatssicherheit 1980 als auskunftsfreudiger Lieferant von Informationen bekannt, was sich Ende der achtziger Jahre änderte. Die Stasi erklärte diesen Wandel damit, dass der IM beginne, an der DDR-Planwirtschaft zu zweifeln und nicht mehr in der Lage sei, seine „persönlichen Bedürfnisse“ zu stillen.224 Der Verlust an Glauben an das po­li­ tische System konnte also damit einhergehen, die Staatssicherheit ‚abzu­stra­ fen‘. Die weitgehende Verweigerungshaltung einer inoffiziellen Mitarbeiterin, die als Dolmetscherin am Polnischen Informations- und Kulturzentrum beschäftigt war, soll diese kurze Reihe an Einzelbeispielen abrunden. Die IM war im April 1982 geworben worden und beendete die Zusammenarbeit mit der 221 Helmut

Müller-Enbergs ist in einem Aufsatz die Motive von inoffiziellen Mitarbeitern auf den Grund gegangen. Er unterscheidet grob zwischen Gefühlen und Stimmungen, Interessen, Wertungen und Einstellungen, Konflikten, Ängsten oder Aggressionen und Leistung. Vgl. Helmut Müller-Enbergs: Warum wird einer IM? Zur Motivation bei der inoffiziellen Zusammenarbeit mit dem Staatssicherheitsdienst, in: Klaus Behnke/Jürgen Fuchs (Hrsg.): Zersetzung der Seele. Psychologie und Psychiatrie im Dienste der Stasi. Hamburg 1995, S. 102–129. 222 Vgl. BStU, MfS, AIM Nr. 7586/91 I/1, Bericht über durchgeführte Kontaktaufnahme, Berlin, 7. 7. 1984, Bl. 120. 223 Ebd., Bl. 121. 224 Vgl. ebd., BV Leipzig, AIM Nr. 1270/88 I/1, Einschätzung „Heinrich“, Leipzig, 3. 9. 1987, Bl. 125.

1.3. Exkurs   77

Stasi im Juni 1983, weil sie nicht mehr am Kulturzentrum tätig war. Die Stasi ging auf dieses Anliegen ein, weil die IM aus ihrer Sicht nicht die „gewünschte linienspezifische, inoffizielle Wirksamkeit“ erreichte. Insbesondere habe sie nicht zu persönlichen Angelegenheiten Stellung bezogen, während der Zusammenarbeit habe es „ständig Schwierigkeiten mit Treffdisziplin und Treffdurchführung“ gegeben.225 Die Staatssicherheit störte vor allem, dass die IM sie aus ihrem Privatleben ausgrenzte. Man musste demnach nicht alle Zumutungen der Führungsoffiziere zulassen, manchmal konnte Trotz und mutige Abgrenzung die Zusammenarbeit mit der Stasi abwehren. Ein zentrales Element der Durchleuchtung der Geschehnisse in Volkspolen und deren Auswirkungen auf die DDR war der flächendeckende IM-Einsatz. Um den Kampf mit den „konterrevolutionären Elementen“ aufzunehmen, war die „zielgerichtete Schaffung einer eigenen inoffiziellen Basis und koordinierter Einsatz von IM anderer Diensteinheiten“ ein vorrangiges Ziel; dazu sollten neue Kontakte geschaffen und alte aktiviert werden „einschließlich der Nutzung bestehender Kontakte in die Wojewodschaft Krakow […].“226 Die Leipziger Abteilungen der Staatssicherheit erstellten Listen, welche inoffiziellen Mitarbeiter über Kontakte ins Nachbarland verfügten.227 Sie sollten politische Pläne und Handlungen des Gegners aufdecken und wenn möglich auf die pro-kommunistischen Gruppierungen in Volkspolen einwirken.228 Ein Beispiel für eine solche Strategie ist die Beauftragung eines langjährigen IMS, die „Pläne und Absichten des Feindes“ aufzuklären und „progressive Kräfte“ zu unterstützen. Die Änderung der Einsatzrichtung des IM war mit den politischen Ereignissen im Nachbarland nötig geworden, die Neuorientierung er225 Vgl.

ebd. Nr. 1188/83 I/1, Einstellung der Zusammenarbeit mit dem IM „Petra“ – Reg.Nr. XIII 597/81, Leipzig, 31. 7. 1983, Bl. 259/60. 226 Vgl. ebd., Abt. II Nr. 737/02, Bestimmung der politisch-operativen Schwerpunktbereiche der AG 4, Leipzig, 29. 1. 1982, Bl. 105. 227 Vgl. z. B. ebd., Abt. XV Nr. 1738, Aktion „Reaktion“, Verbindungen von IM zu Personen der VR Polen, Leipzig, 27. 5. 1981, Bl. 2–7. Selbst die Kreisdienststelen auf der städtischen Ebene waren eingebunden: Vgl. ebd. Nr. 192, IM-Einsatz im Rahmen der Partnerschaftsbeziehungen Bezirk Leipzig – Krakow, Leipzig, 15. 5. 1981, Bl. 4. Eine komplette Übersicht über 55 inoffizielle Mitarbeiter und deren Kontaktarten im Frühjahr 1982 siehe: ebd., Abt. II Nr. 569, Übersicht über den Einsatz bestätigter IM der Diensteinheiten der BV im Rahmen der Aktion „Reaktion“ – Stand 25. 3. 1982, Leipzig, 29. 3.  1982, Bl. 59–65. 228 In der Abteilung II/ AG 4 wurden im Mai 1982 zwölf IM geführt oder koordiniert. Vgl. BStU, MfS, BV Leipzig, Abt. II Nr. 737/02, Längerfristige Bearbeitungskonzeption zum politisch-operativen Schwerpunktbereich Aufklärung aller gegen die sozialistische Entwicklung in der VR Polen gerichteten Pläne und Absichten des Feindes und konterrevolutionärer Umtriebe im Lande sowie die Unterstützung progressiver Kräfte in der VR Polen im Bezirk Leipzig, Leipzig, 4. 5. 1982, Bl. 96–97.

78   1. Rahmenbedingungen deutsch-polnischer Kontakte in Leipzig gab sich aus seiner Vita: „Günstig für diese Einsatzrichtung sind mehrere langjährige Kontakte in die VRP, wobei der Schwerpunkt auf den Kontakt zur Universität Krakow gerichtet ist.“229 An anderer Stelle begründete die AG  4 die Werbung eines IM mit ähnlichen Aufgaben in dem der Stasi eigenen Jargon der Selbstrechtfertigung: Zur Erarbeitung konkreter Fakten über bestehende Verhältnisse und Situationen in der VR Polen ist es notwendig, daß sich die AG 4 eine eigene inoffizielle Basis aufbaut. Für die Aufgaben, die sich bei der Klärung bestimmter Fakten zu lösen sind, macht es sich für uns als AG 4 erforderlich, eine Person zu werben, die die polnische Sprache beherrscht und durch längeren Aufenthalt in der VR Polen gewisse Kenntnisse über Land und Leute besitzt. Diese Grundvoraussetzung bringt die P. mit. Sie ist des weiteren in der Lage, uns bei Überprüfungshandlungen von polnischen Bürgern in der DDR zu unterstützen und uns bei der Auswertung offizieller polnischer Schriftstücke behilflich zu sein. Die politisch-operative Notwendigkeit besteht aber langfristig darin, daß sie ihre persönlichen Beziehungen zu uns interessierenden Personen in der VR Polen festigt und ausbaut. Dabei kommt der Verbindung nach Wroclaw, ihr ehemaliger Studienort, vorrangige Bedeutung zu.230

Die Staatssicherheit in Leipzig folgte der eingeschlagenen Strategie konsequent. Alle möglichen Informationskanäle durch IM-Kontakte wurden ausgeschöpft, was sich in unzähligen Berichten mit zum Teil monotonen und keineswegs neuen Feststellungen zur flächendeckenden Ausbreitung der „Solidarność“, zur schlechten Versorgungslage in Volkspolen und über die häufigen Kirchgänge der polnischen Bevölkerung und ihrer Verehrung für den polnischen Papst niederschlug. Manche Versuche sind geradezu schillernd: In offizieller Mission war ein hauptamtlicher Mitarbeiter der Staatssicherheit unterwegs. Er sammelte die Einschätzungen ehemaliger Mithäftlinge aus dem Konzentrationslager Buchenwald, die im polnischen Geheimdienst untergekommen waren. Er beginnt seinen Bericht: Meine Aufgabe bestand darin, Buchenwald-Kameraden aufzusuchen, mit denen ich bereits vor 1945 im Konzentrationslager bekannt und befreundet war, die nach 1945 zu den ­Aktivisten der ersten Stunde in Polen gehörten und immer treu zur Sache gestanden ­haben.231

229 BStU,

MfS, BV Leipzig, AIM Nr. 906/87 I/1, Präzisierung der Einsatz- und Entwicklungs­ konzeption für IMS „Clemens“, Reg. Nr. XVIII 4578/83, Leipzig, 19. 6. 1985, Bl. 272. 230 Ebd. Nr. 994/87 I/1, Vorschlag zur Werbung eines IMS zur Sicherung des Schwerpunktbereiches „Informationserarbeitung zur Entwicklung und Lage in der VR Polen“ wird vorgeschlagen, den IM-Vorlauf „Marianne“ (Reg.-Nr. XIII 853/81) zu werben und schriftlich zur inoffiziellen Zusammenarbeit mit dem MfS zu verpflichten, Leipzig, 11. 12. 1981, Bl. 64. 231 Ebd. MfS, Sekr. Neiber Nr. 322, Dienstreise vom 2. bis 4. September 1980 nach Warschau zur Erlangung von Informationen über die gegenwärtige Lage in der VR Polen, Berlin, 5. 9. 1980, Bl. 14–23.

1.3. Exkurs   79

Seine Informationen lagen auf der Linie der Vorannahmen des MfS, ihr Wert ist also bezweifelbar. In den achtziger Jahren verfassten Mitarbeiter und IM zu jeder möglichen Gelegenheit Berichte. Sei es, dass sie über ihren Urlaub, in ihrer Funktion als Reiseleiter von Jugend- oder Studentengruppen oder als Betreuer polnischer Werktätiger in Leipzig eingesetzt waren – Berichtenswertes oder etwas, was den IM als berichtenswert erschien, gab es in vielen Fällen.232 Das Referat 8 der Leipziger Staatssicherheit unterhielt sogar mindestens einen IM in der Volksrepublik Polen selbst. Dort hatte er Kontakte zu einem ehemaligen Vorsitzenden der „Solidarność“ und berichtete von alltäglichen Problemen. Er wurde auf Reisen hauptamtlicher Mitarbeiter nach Volkspolen „abgeschöpft“ und sollte bei seinen Reisen in der DDR mit dem MfS in Kontakt treten.233 Insgesamt haben die meisten von IM gelieferten Informationen zu der Situa­ tion in Volkspolen den Rahmen des schon Bekannten nicht überschritten. Die Sammlungen der Staatssicherheit machen deshalb den Eindruck, dass man die meisten Informationen nur anhäufte und sich zumindest in einigen Fällen zusätzliche Aufklärung über die Identität gewisser Personen versprach, von denen ein IM berichtete. Die Verwertbarkeit der Materialien kann aber durchaus bezweifelt werden. Es entsteht eher das Bild einer entfesselten bürokratischen Maschinerie, die den Anspruch hegte, sich über möglichst viele Einzelheiten im Klaren zu sein – zumal eine echte Gefahr des Überspringens des ‚Solidarność-Bazillus‘ auf die DDR-Bevölkerung schon sehr früh praktisch ausgeschlossen wurde.234 In einem Fall gelang es der Stasi jedoch eindrucksvoll, in sensible Bereiche einzudringen: Ein Wissenschaftler, der ursprünglich aus Polen stammte, war wegen seiner hervorragenden Kontakte und natürlich seiner Sprachkenntnis ein Glücksfall. Sein Aktionsradius, seine stetigen und breiten Kontakte zum MfS und die vielen gelieferten Berichte von hoher Qualität zeugen von einer Ausnahmestellung innerhalb der anderen mit der Volksrepublik befassten IM.235 Der IM pflegte vor allem Kontakt zu einem polnischen Kernforschungs­ zentrum,236 zu einem Journalisten der „Polityka“ mit Kontakten bis in die 232 Unzählige

Beispiele finden sich z. B. in den Akten: BStU, MfS, BV Leipzig, Abt. II Nr. 421/01 und 02. 233 Vgl. ebd. Nr. 290/01, Bericht über Treff mit IM „Lis“ vom 26. 8. bis 28. 8. 1986 in Poznan/ VR Polen, Leipzig, 8. 9. 1986, Bl. 141–149. 234 Vgl. Borodziej/Kochanowski: PRL, S. 10–12. 235 Vgl. BStU, MfS, BV Leipzig, AIM Nr. 506/91 I/2, Einschätzung eines langjährigen bestätigten Reisekader-IM als Grundlage für die Erarbeitung und Bestätigung einer Blickfeldkonzeption für den Zeitraum 1986–1988, Leipzig, 25. 2. 1987, Bl. 176–189. 236 Vgl. ebd., Bl. 179.

80   1. Rahmenbedingungen deutsch-polnischer Kontakte in Leipzig „Solidarność“-Führung und natürlich zur PVAP.237 Dass er weit in illegale Strukturen eindrang, belegt zum Beispiel der Verweis darauf, dass es ihm gelang, „zu Mitarbeitern einer illegalen Druckerei vertrauliche Kontakte herzustellen und umfangreiche konterrevolutionäre Materialien zum T. noch vor deren Verteilung zu beschaffen.“238 Damit stachen seine ‚Leistungen‘ unübersehbar aus den Ergebnissen anderer Leipziger IM heraus.

Das Eindringen in die Privatsphäre Vor dem Hintergrund vieler weitgehend fragwürdiger und ergebnisloser Ermittlungen ist es umso erschreckender, wie tief die Staatssicherheit in das Privat­leben ihrer Zuträger und deren Quellen eindrang. In den meisten Fällen wurde der private Kontakt zwischen einem deutschen IM und einem Polen zwar nicht zur Beobachtung von Bekannten oder gar des Lebenspartners genutzt, sondern dazu, Informationen über Volkspolen zu bekommen. Zwangsläufig war aber damit das Privatleben der IM und ihrer Kontaktpartner und die Kontrolle desselben ein Thema der Stasiakten. Ein so genanntes „intimes Verhältnis“ galt als ideale Ausgangsbasis zur Informationsgewinnung.239 In einer solchen Situation war zum Beispiel eine Leipzigerin dazu bereit, über ihr Verhältnis mit ihrem polnischen Freund zu berichten. In einem Kontaktgespräch hatte die Staatssicherheit ihr versichert, dass „unsererseits nichts gegen sie und ihren Bekannten vorliegt, sondern das Primat ist, welche Erfahrungen sie in ihrer beruflichen Tätigkeit und während ihrer Reisetätigkeit [zum Freund] zum Verhalten und Auftreten der polnischen Bürger gemacht hat.“240 Sie gab trotzdem ausführlich darüber Auskunft, wer ihr Freund sei und in welchen Verhältnissen er lebe. Dabei verschwammen die Kategorien zunehmend und vertrauliche Dinge des Innenlebens einer Beziehung wurden vor dem Stasioffizier ausgebreitet: „X [geschwärzt] ist ein sehr ruhiger und ausgeglichener Mensch. Sich mit ihm zu streiten ist so gut wie unmöglich. […] Nur einen Fehler hat er: Er ist sehr eifersüchtig. Ohne Grund. Aber jedem Tierchen sein Pläsierchen.“241 Als es in der Beziehung zu 237 Vgl.

ebd., Ergänzungen zur Information über den polnischen Journalisten [geschwärzt], Bl. 200. 238 Vgl. ebd., Einschätzung eines langjährigen bestätigten Reisekader-IM als Grundlage für die Erarbeitung und Bestätigung einer Blickfeldkonzeption für den Zeitraum 1986–1988, Leipzig, 25. 2. 1987, Bl. 179. 239 Vgl. ebd., AIM Nr. 1160/87 I, Auskunftsbericht, Leipzig, 28. 11. 1980, Bl. 88 und AIM Nr. 333/91 I/1, Aktenvermerk, Leipzig, 27. 1. 1982, Bl. 177. 240 Ebd., Bericht über durchgeführte Wiederaufnahme der Verbindung zum AIM „Anita Genz“ – Reg.-Nr. XVIII 3341/64, Leipzig, 29. 6. 1979, Bl. 133. 241 Ebd., AIM Nr. 1160/87 II/1, Bericht, Leipzig, 12. 2. 1982, Bl. 315.

1.3. Exkurs   81

kriseln begann, rückte der Stasimitarbeiter in die Rolle einer Vertrauens­ person.242 Diese merkwürdige, wenn nicht gar als vertrauensvoll zu bezeichnende Beziehung der IM zur Staatssicherheit schlug sich auch darin nieder, dass die Stasi über die IM Kontakt zu ihrem polnischen Freund aufnahm, um ihn ebenfalls anzuwerben. Die inoffizielle Mitarbeiterin stellte ihren Freund in einem arrangierten Gespräch der Staatssicherheit vor.243 Der Pole wurde dann ebenfalls zur inoffiziellen Mitarbeit angeworben.244 So entstand ein Dreieck zweier miteinander verbundener IM, die jeweils von der Zusammenarbeit des anderen mit der Staatssicherheit wussten, und der Stasi selbst. Nachteile erwartete man seitens der Behörde nicht, offensichtlich vertraute man auf die Einsicht der IM in die Notwendigkeit der Zusammenarbeit. Von außergewöhnlichem Druck während der Werbungen ist in den Akten jedenfalls nichts zu spüren.245 Bei einer Heirat der beiden plante die Staatssicherheit sogar, ein IM-Ehepaar aufzubauen.246 Ein anderer IM berichtete über einen ehemaligen Funktionär der „Soli­ darność“, zu dem sich nach seinem eigenen Bekunden „ein ziemlich enger persönlicher Kontakt“ entwickelt habe.247 Diese Anzeichen dafür, dass die Reflektion über die eigene Tätigkeit für die Staatssicherheit verwischte oder aber die Stasi ein echtes Vertrauensverhältnis zu den von ihr geführten inoffiziellen Mitarbeiterin aufbauen konnte, zeigen wie sich geheimdienstliches Erkenntnisinteresse und Alltag miteinander verweben konnten. Die Staatssicherheit hatte natürlich keine Skrupel, wenn es darum ging, in die Privatsphäre der inoffiziellen Mitarbeiter einzugreifen. So wanderten Abschriften von an eine inoffizielle Mitarbeiterin adressierten Briefen aus Volkspolen in die Akten des MfS.248 Ob die IM die Briefe freiwillig vorlegte oder sie ohne deren Wissen abgeschrieben wurden, ist anhand der Akten nicht mehr eindeutig zu entscheiden. Da die IM aber ebenfalls ein recht naives Verhältnis zur Stasi pflegte, könnte ersteres durchaus zugetroffen sein. Beide Briefe sind im Übrigen rein privaten Charakters und rekurrieren nicht auf die Situation in der Volksrepublik, was aber eher nicht damit zusammenhängen dürfte, dass die polnische Bekannte vom Mitlesen der Stasi wusste. 242 Vgl. 243 Vgl. 244 Vgl.

ebd., Treffbericht., Leipzig, 14. 10. 1982, Bl. 381. ebd., Aktenvermerk, Leipzig, 17. 5. 1982, Bl. 347. ebd. Nr. 236/91 I/1, Bericht über die durchgeführte Werbung des IM-Vorlaufes „André“, Reg.-Nr. XIII 1607/82, Leipzig, 3. 3. 1983, Bl. 131. 245 Vgl. ebd., Bl. 131–134. 246 Vgl. ebd. Nr. 333/91 I/1, Aktenvermerk, Leipzig, 22. 1. 1983, Bl. 194. 247 Ebd., Abt. II Nr. 290/01, Bericht über Treff mit IM „Lis“ vom 26. 8. bis 28. 8. 1986 in Poznan/VR Polen, Leipzig, 8. 9. 1986, Bl. 141. 248 Vgl. ebd., AIM Nr. 2588/84 II/3, Bl. 19 und Bl. 40.

82   1. Rahmenbedingungen deutsch-polnischer Kontakte in Leipzig Eine geschmacklose Probe geheimdienstlicher Perversion lieferte ein IM über eine Sekretärin des Polnischen Informations- und Kulturzentrums. Er hatte sie Ende der siebziger Jahre in einer Bar in Leipzig kennen gelernt und in der Folge entspann sich ein Verhältnis, das bereits vor dem heißen Sommer 1980 wieder ausklang.249 Damit gab sich die Stasi jedoch nicht zufrieden: „Auftragsgemäß suchte ich die [geschwärzt] am 5. 12. 80 in ihrer Arbeitsstelle auf. Ich konnte zu ihr wieder einen guten Kontakt herstellen und habe die Möglichkeit, diesen weiter aufrechtzuerhalten.“250 Ein solcher Erfolg schmeichelte dem Ego des IM, der selbstsicher behauptete: Aufgrund meiner Kenntnisse zur Person der [geschwärzt] kann ich sagen, daß das Motiv der [geschwärzt] für ihre Verbindung zu mir nicht vordergründig in den sexuellen Beziehungen liegt, sondern sich die [geschwärzt] gern unterhält und niveauvolle Gaststätten aufsucht, was bei mir gegeben ist.251

Wie man allerdings dazu getrieben werden konnte, nicht nur das Leben der Auszuhorchenden, sondern auch das eigene vor der Staatssicherheit auszubreiten, lässt tief in die Verstrickung von Stasi und Lebensalltag der inoffiziellen Mitarbeiter blicken. Manchmal bekam der IM für solche (Liebes-)Dienste auch 50 Mark.252 Gerade jene Fälle waren ausgesprochen häufig, in denen ein IM angehalten wurde, seine privaten Kontakte für die Staatssicherheit nutzbar zu machen. Diese steuerte dann unmittelbar die privaten Kontakte der eingespannten IM. So wies man einen IM an, einen Urlaubskontakt zu einem systemkritisch eingestellten Polen aufrecht zu erhalten. Bezeichnend ist, dass der IM vorher ­danach gefragt hatte, ob er den Kontakt halten solle.253 Eine oben bereits erwähnte inoffizielle Mitarbeiterin wurde in zweifacher Weise instruiert: Die vorrangige Aufgabe des IM ist die Informationserarbeitung zur Lage und Entwicklung innerhalb der VRP. Dabei gibt es zur Erfüllung dieser Aufgabe für den IM derzeit 2 Wege. Die erste und bisher praktizierte Möglichkeit ist der postalische Gedankenaustausch/Kontaktfestigung zu ihren polnischen Briefpartnern. Die zweite Möglichkeit ist der gegenseitige Besuch zwischen dem IM und den polnischen Bekannten.254

249 Vgl.

ebd., ZMA Abt. II Nr. PIKZ 13, Bericht zur Ergänzung zur [geschwärzt], Leipzig, 28. 1. 1981, Bl. 48. 250 Ebd., Bericht [geschwärzt], Leipzig, 9. 12. 1980, Bl. 40. 251 Ebd., Bericht zur Ergänzung zur [geschwärzt], Leipzig, 28. 1. 1981, Bl. 48. 252 Vgl. ebd., Einschätzung zum Treff mit dem IMS [geschwärzt] am 28. 1. 1981, Auftragserteilung und Instruierung, Leipzig, 28. 1. 1981, Bl. 46. 253 Vgl. ebd., MfS, AIM Nr. 10645 II/1, Bericht, 16. 3. 1981, Bl. 116/17. 254 Ebd., BV Leipzig, AIM Nr. 994/87 I/1, Konkretisierung EEK IMS „Marianne“, Leipzig, 7. 6. 1982, Bl. 96.

1.3. Exkurs   83

Während einer Reise 1984 machte sich die inoffizielle Mitarbeiterin ein Bild von der Situation und den Menschen im Nachbarland. Sie entdeckte „Solidarność“-Aufkleber: „In der Straßenbahn in Wrocław haben wir Aufkleber von der Größe einer Streichholzschachtel mit dem Bild von Wałęsa und der Unterschrift NOBEL  83 gesehen. Offensichtlich in Polen gedruckt.“255 Eine Charakteristik zweier „durchschnittlicher“ Polen folgte: „[…] gläubig, negativ zur SU eingestellt, Hoffnung, daß die Solidarność wieder erstarkt, zu Partei und Staat Abstand waren [sic!]“. Sie glaubten an die Lügen des Westens und der „Solidarność“, Radio Free Europe spiele dabei eine „unrühmliche Rolle“.256 Fast wäre man versucht, diese Einschätzungen einfach für sich sprechen zu lassen. Es ist aber doch zu reizvoll, das Urteil eines Stasimajors zur Arbeit der IM hinzuzufügen: Sie sei bestrebt gewesen, ihre Aufträge gewissenhaft zu erfüllen und dabei offen ehrlich und zuverlässig gewesen. Sie habe hohe Einsatzbereitschaft gezeigt.257 Ein weiterer IM sollte seinen Urlaubsaufenthalt in der Volksrepublik Polen bei Verwandten und Bekannten ebenfalls für Informationsgewinnung nutzen: Der IM erhält den Auftrag während seines Aufenthaltes in der Volksrepublik Polen seinen Verwandten- und Bekanntenkreis unter den Gesichtspunkt der Verbindung zu antisozialistischen Kräften zu differenzieren, entsprechend den Möglichkeiten unter Ausnutzung seiner Verwandten und Bekannten neue Verbindungen herzustellen von denen er auf Grund der Gespräche annehmen muß, daß es sich bei diesen um antisozialistische Kräfte handelt [sic!].258

Dabei sollte er sich verstellen und als gläubiger Katholik auftreten.259 In ­diesem Fall kam der Staatssicherheit zu gute, dass der IM vor dem Zweiten Weltkrieg in Polen geboren war und nicht nur über Kontakte, sondern auch über Sprachkenntnisse verfügte.260 Diese nutzte er auch bei der Betreuung und Aushorchung polnischer Werktätiger, die sich in der Leipziger Umgebung aufhielten.261 Er berichtete dabei von politischen Stellungnahmen der Polen262, fühlte sich aber auch bemüßigt über einen polnischen Arbeiter Auskunft zu erteilen, der ein Verhältnis mit einer Kollegin aus der Druckerei 255 Ebd.

II/1, Reisebericht, Leipzig, 5. 1. 1984, Bl. 146. Bl. 147. 257 Vgl. ebd. I/1, Abschlußbericht zur IMK/DA „Marianne“, Reg.-Nr. XIII 853/81, Leipzig, 5. 6. 1987, Bl. 152. 258 Ebd. Nr. 2772/92 I, ohne Titel, Delitzsch, 17. 10. 1980, Bl. 210. 259 Vgl. ebd., Bl. 211. 260 Vgl. ebd., Mein Lebenslauf! Delitzsch, 26. 6. 1981, Bl. 128. 261 Vgl. z. B. ebd. II/2, Einsatz des IM als Betreuer polnischer Werktätiger im RAW Ferienheim Niederschlag, Delitzsch, 28. 8. 1985, Bl. 108/09. 262 Vgl. ebd., Betrifft Verbindungen zu polnischen Monteuren, Delitzsch, 25. 10. 1984, Bl. 89. 256 Ebd.,

84   1. Rahmenbedingungen deutsch-polnischer Kontakte in Leipzig habe, das „diese sich bezahlen läßt.“263 Auch wenn diese Enthüllungen nicht direkt den IM oder seine Umgebung betrafen, stehen sie doch dafür, wie gering die Hemmschwelle bei der Berichterstattung über andere Menschen war. Wie tief und verletzend die Staatssicherheit durch ihren ungestillten Informationsdurst in das Leben von vielen eingriff, kann nur anhand von Beispielen immer wieder bestätigt werden. Wie diese Mechanismen über die Instruierung und Ausnutzung von IM eingesetzt wurden, ist bereits deutlich geworden. Ein kurzer Blick soll noch darauf gerichtet werden, welche Folgen diese allgegenwärtige Spitzelei von IM im Leben von Beobachteten haben konnte. Manchmal waren die Konsequenzen konkret und spürbar, manchmal blieben sie im Prinzip virtuell. Letztere Spuren sind wahrscheinlich nicht in den Lebensläufen der Betroffenen, sondern erst in Akten der Staatssicherheit sichtbar zu machen. Als sich ein IMS aus Leipzig zu einer Studienreise in Krakau aufhielt, lernte er einen dort studierenden DDR-Bürger kennen. Dieser war mit einer Polin verheiratet und lebte bereits mehrere Jahre in Volkspolen. Er hatte anscheinend Vertrauen zum IM und unterhielt sich mit ihm über Geschehnisse in der Zionskirche in Berlin und zeigte ihm in der DDR verlegten Samizdat.264 Da er häufiger zu seiner Familie nach Leipzig reiste, erkannte der IM das Potential, die Stasi ging bereitwillig auf diesen ‚Fund‘ ihres Spitzels ein.265 Diese Zuarbeit eines inoffiziellen Mitarbeiters umfasste selbstverständlich, dass er der Dienststelle der Staatssicherheit möglichst breit über das Privatleben seines neuen Zieles berichtete. Eine Randnotiz ist es in diesem Fall, dass der Student dem Referat 8 bereits vor dem obigen Vorfall bekannt war. Er wurde bei der so genannten „Wer ist wer“-Aufklärung266 „operativ bearbeitet“.267 Die Fahndungen der Stasi griffen von vielen Seiten zu. Die Anlässe waren in den Augen der Staatssicherheit unter geheimdienstlichen Gesichtspunkten vielversprechend.

263 Vgl.

ebd., Betrifft Antragsteller [geschwärzt], RAW Delitzsch, 12. 9. 1984, Bl. 84. ebd., ZMA Abt. XX Nr. 5594, Mündlicher Bericht des IMS „Gerhard Knopf “ vom 11. 01. 1988, Leipzig, 12. 1. 1988, Bl. 4. Um die Zionskirche in Ostberlin und die dort im Gemeindehaus angesiedelte Umwelt-Bibliothek entspann sich im November 1987 ein Konflikt zwischen Staatsmacht und Gegenöffentlichkeit, den die protestierenden Anhänger der Friedensbewegung für sich entschieden. Vgl. Wolle: Welt, S. 297. 265 BStU, MfS, BV Leipzig, ZMA Abt. XX Nr. 5594, Mündlicher Bericht des IMS „Gerhard Knopf “ vom 11. 01. 1988, Leipzig, 12. 1. 1988, ebd., Bl. 5. 266 Der Versuch, über verdächtige wie unverdächtige Menschen verlässliche Informationen und belastbares Material zu erlangen, nannte sich „Wer ist wer“-Aufklärung. 267 Vgl. BStU, MfS, BV Leipzig, AP Nr. 1253/91, [geschwärzt], geb. am [geschwärzt] 55 – DDR-Bürger, der zur Zeit in der VRP wohnhaft ist, Leipzig, 24. 2. 1987, Bl. 288/89.

264 Vgl.

1.3. Exkurs   85

Wegen seiner „nach wie vor engsten Beziehungen zu einer polnischen Staatsbürgerin“ geriet ein Wissenschaftler der Karl-Marx-Universität Leipzig in den Fokus der Stasi.268 Seine Freundin studierte in der Bundesrepublik und hatte laut Stasi Kontakt „mit Mitarbeitern einer Einrichtung der politischideologischen Diversion.“269 Dieser Umstand brockte dem Verdächtigen eine mehrjährige Beobachtung und Bewertung durch die Stasi ein. Sie ermittelte durch Befragung seiner Kollegen an der Universität seinen angeblichen Charakter, seine familiären Bindungen und ganz besonders sein Verhältnis zur polnischen Freundin. All diese Erkundigungen haben etwas Voyeuristisches, eine genauere Wiedergabe erscheint pietätlos. Die Auskunft gebenden Kollegen informierten außerdem darüber, dass ein Arbeitsverhältnis am Kulturzentrum der DDR in Warschau, das ab September 1980 geplant gewesen war, verschoben wurde.270 Dahinter stand der Einfluss der Staatssicherheit. Der DDR-Wissenschaftler war wegen seiner polnischen Partnerin nicht als Reisekader zugelassen worden.271 Wie die Staatssicherheit ins Privatleben hineinagierte, erschließt sich zweifelsfrei an einem anderen Fall. Eine polnische Staatsbürgerin mit Verwandtschaft in der Volksrepublik wurde durch inoffizielle Quellen bezichtigt, sich mit der „Solidarność“ zu identifizieren und während Aufenthalten bei der Verwandtschaft an „Solidarność“-Aktionen beteiligt gewesen zu sein.272 Die Befürchtung lautete, sie würde „Ideengut“ der unabhängigen Gewerkschaft in der DDR weiterverbreiten und ihre Mitmenschen über die Ereignisse im Nachbarland aufklären. Um diese Verdächtigungen zu bestätigen, sollten ihre Verbindungen im „Wohn-, Arbeits- und Freizeitbereich“ aufgeklärt werden – zudem die Verbindungen nach Volkspolen und zu den Geschwistern. Erfasst werden sollten „alle Aktivitäten und Vorhaben“, „Einflußnahme“ auf andere Personen und die Art der Informationsgewinnung der Verdächtigten. Ferner war ihr Verhältnis zu einem evangelischen Pfarrer zu „klären“.273 Die Folgen dieser Überwachungsmaßnahmen müssen für die Polin einschneidend gewesen sein. Im Abschlussbericht wurde zusammengefasst:

268 Ebd.,

MfS, HA XX Nr. 16203, Für Sie erfaßte Person [geschwärzt] – wissenschaftlicher Aspirant an der KMU, Berlin, 22. 10. 1980, Bl. 51. 269 Ebd., Information über für Sie erfaßte Person [geschwärzt] Wissenschaftlicher Aspirant an der KMU Sektion Literaturwiss, Berlin, 20. 5. 1980, Bl. 48. 270 Vgl. ebd., Objektermittlung, Leipzig, 23. 2. 1981. Bl. 56/57. 271 Vgl. ebd., Telegramm, 27. 1. 1981, Bl. 55. 272 Vgl. ebd., BV Leipzig, AOPK Nr. 2187/82, Einleitungsbericht zur OPK „Überschreitung“, Döbeln, 26. 9. 1981, Bl. 6. 273 Ebd., Bl. 7.

86   1. Rahmenbedingungen deutsch-polnischer Kontakte in Leipzig Auf Grund der sicherheitspolitischen Maßnahmen der VRP war es der erfaßten Person nicht möglich, wie gewohnt, in die VRP zu reisen bzw. Besuche zu empfangen. Während der Bearbeitung konnte herausgearbeitet werden, daß sich die erfaßte Person mit den Solidarnosc-Aktivitäten identifiziert, ohne jedoch feindlich oder öffentlichkeitswirksam anzufallen [sic!]. Durch die Einleitung abgestimmter operativer Maßnahmen auf der Grundlage inoffizieller Hinweise wurde der Informationsfluß erheblich gestört, so daß die bearbeitete Person in ihrem Handeln eingeengt wurde. Durch den IMB ‚Mühlfeld‘ wird die Einschätzung getroffen, daß durch die erfaßte Person keine feindlichen Aktivitäten zu erwarten sind und daß sie aus der DDR keine Unterstützung für weitere Aktivitäten der Solidarnosc-Anhänger geben kann. Der IM unterhält weiterhin persönliche Verbindung zur OPK-Person, um gegebenenfalls über Aktivitäten und Vorhaben zu berichten.274

Die OPK275 wurde vor diesem Hintergrund eingestellt. Gelangte man einmal in den Fokus der Staatssicherheit, wurden auch in anderen Zusammenhängen Verdachtsmomente konstruiert. Wegen einer ­ungültigen Reisekarte bei der Einreise in die Volksrepublik Polen wurde im Januar 1981 ein Leipziger auffällig, der schon in den siebziger Jahren operativ bearbeitet worden war.276 Die Stasi schätzte den Beobachteten als „kleinbürgerlich“ und „undurchsichtig“ ein. Als sich herausstellte, dass er mit dem ­Direktor des Polnischen Informations- und Kulturzentrums in Kontakt stand, war dies ein neuerlicher Anlass zu geheimdienstlicher Wachsamkeit.277 Mehrere IM aus dem Einsatz rund um das Polnische Informations- und Kulturzentrum lieferten Berichte zu dieser deutsch-polnischen Bekanntschaft278, sein Telefon wurde abgehört.279 Viel Verwertbares – außer einer umfangreichen Analyse der persönlichen Verhältnisse des Beobachteten – förderten diese Maßnahmen nicht ans Licht. In Bezug auf seine Kontakte zu Polen wurde im Abschlussbericht nur zusammengefasst, dass ein Kontakt zum Direktor des PIKZ auch über gemeinsame Bekannte bestehe und man sich gegenseitig bei der Beschaffung von Mangelwaren helfe.280 In einem Zwischenbericht konnte man erfahren, dass der ‚Verdächtige‘ bei einer Einreise zu einer Hochzeit in Volkspolen eine Einladung mit dienstlicher Begründung nutzte, was 274 BStU,

MfS, BV Leipzig, AOPK Nr. 2187/82, Abschlußeinschätzung zur OPK „Überschreitung“ –Reg.-Nr. XIII 1062/81, Döbeln, 7. 12. 1982, Bl. 178. 275 OPK gleich Operative Personenkontrolle, in der eine Person unter geheimdienstlichen Methoden durchleuchtet wurde. Zu der beobachteten Person gibt es eine Akte des MfS. 276 Vgl. ebd. Nr. 2012/84 I, Sachstandsinformation zum operativen Ausgangsmaterial „Labor“, Leipzig, 10. 9. 1982, Bl. 195. 277 Vgl. ebd., Bl. 196/97. 278 Vgl. z. B. ebd., Auszug Treffbericht „Sekretärin“ vom 5. 6. 1982, Leipzig, 15. 6. 1982, Bl. 198 und Ifo zu op. Mat. „Labor“ [geschwärzt], 24. 8. 1982, Bl. 199. 279 Vgl. ebd., Informationsbericht vom 18. 12. 82/ gegen 16 Uhr/ „Labor“ I, Leipzig, 19. 12. 1982, Bl. 356/57. 280 Vgl. ebd., ZMA Abt. II Nr. 307, Abschlußbericht zur OPK „Labor“, Leipzig, 3. 9. 1984, Bl. 11/12.

1.3. Exkurs   87

eine gewisse Findigkeit bei der Umgehung der Bedingungen der geschlossenen Grenze bewies.281 Solche Hinweise auf alltägliche Praktiken der durch die Stasi Beobachteten machen manche Berichte wiederum zu einer geeigneten Quelle einer Alltagsgeschichte deutsch-polnischer Kontakte. Ihre Verwertbarkeit für die Staats­ sicherheit bestand einerseits wohl eher darin, umfangreiche Personenprofile zu erstellen und ihrem Anspruch allgegenwärtiger Kontrolle möglichst nahe zu kommen. Andererseits waren diese umfangreiche Informationsbeschaffung und der Einblick, den diese in die deutsch-polnischen Kontakte gewährte, ein Garant dafür, dass das MfS die Sicherheitslage in der DDR einschätzen konnte. Solange der Eindruck blieb, private deutsch-polnischen Kontakte würden zu keiner ernsthaften Destabilisierung des Status quo führen, waren auch die Eingriffe der Staatssicherheit begrenzt. Zwar wurde der Aktionsradius vieler Menschen mittelbar und unmittelbar eingeschränkt, eine regelrechte Verhinderung deutsch-polnischer Kontakte war aber nicht das Ziel. Vielmehr wurden die vorhandenen Kontakte und der Alltag vieler Leipziger und Polen für die Geheimdienstarbeit operationalisiert. Damit entstand die eigentlich paradoxe Situation, dass deutsch-polnische Kontakte als verdächtig galten und doch erst durch deren Existenz deutschpolnische Kontakträume verhältnismäßig effizient beobachtet werden konnten. Dafür brauchte die Staatssicherheit zuverlässige inoffizielle Mitarbeiter, so  dass deren Leben und das Leben ihrer Mitmenschen durch immanente Zwänge zur Daten- und damit Manipulationsmasse des Geheimdienstes wurde. Die Staatssicherheit war ein repressiver Faktor im Alltag der Menschen. Der Versuch, die Macht der Stasi sichtbar zu machen, darf gerade vor dieser alltäglichen Ebene nicht Halt machen. Die Stasi war untrennbar mit dem ­Privaten verwoben. Deutsche und Polen in Leipzig unterlagen unmittelbar den Herrschaftsmechanismen der DDR.

281 Vgl.

ebd., 3. Sachstandsbericht zur OPK „Labor“, Leipzig, 12. 12. 1983, Bl. 9/10.

2. Deutsch-polnisches Leben in Leipzig und polnische Erfahrungen von Leipzigern. Akteure und Kontakträume Lieber [geschwärzt]!  Leipzig, 20. 12. 81 Lange haben wir voneinander nichts gehört. Bitte entschuldige, daß ich aber auch nicht ge­ schrieben habe, aber [geschwärzt] ich habe sehr viel in den letzten Monaten hinter mich gebracht. Du weißt selber daß ich mit einer Polin zusammen bin und habe sie sehr lieb. Besonders in dieser Stunde muß ich sehr viel an sie denken, denn sie hält sich zur Zeit bei ihren Eltern in Polen auf. Du schriebst ein Telegramm, ob Du zur Hochzeit kommen kannst, bzw. wenn ich will kann ich Dich einladen. Du weißt wir haben uns damals im Zug kennen gelernt und ich habe Dir sehr gerne zuge­ hört, wenn Du erzählt hast. Du bist auch nicht mein Bruder oder Vater, aber ich sah in Dir einen guten Menschen. Selber weißt Du bestimmt besser bescheid was in Polen loß ist. Die Spannungen halten nun schon über ein Jahr an und jetzt haben sie auch noch den Ausnah­ mezustand für das ganze Land verhängt. Und nun komme ich auch dazu was ich Dir schrei­ ben möchte. Durch die für uns sehr schwere Lage in Polen, haben wir beide in aller Stille am 15. 10. 81 in Leipzig geheiratet. Vielleicht kannst Du mich verstehen und auch [ge­ schwärzt], daß wir von Besuch Abstand genommen haben um unnötigen Problemen aus dem Weg zu gehen. Ich lege ein Foto von unserer Hochzeit mit bei. Das schlimme an der ganzen Sache ist, daß sie jetzt in Polen ist und das Land nicht verlassen kann. Sie hat immer noch keinen Paß um einreisen zu können in die DDR und ich kann dazu nicht viel tun. Sie wollte am 15. 12. kommen aber bis jetzt kann ich nur warten. In 4 Tagen ist Heiligabend und ich weiß nicht was macht sie, ist sie gesund und hat sie genug zu essen. Helfen möchte ich, aber ich kann nicht. Sie ist ein liebes, bescheidenes Mädel und sie weiß auch nicht, was ich mache. Es ist ein furchtbarer Zustand. Wir können nur hoffen daß es bald wieder besser wird. Ich werde erst froh sein wenn sie für immer bei mir sein kann. Ich werde nun Weihnachten alleine sein und kann nur mit meinen Gedanken bei meiner lieben Frau sein. Lieber [geschwärzt] ich möchte nun lang­ sam zum Schluß kommen. Ich würde mich freuen, wenn ich wieder mal von Dir hören würde. Nochmals wünsche ich Dir und Deiner Frau eine frohe und friedliche Weihnachts­ zeit sowie ein glückliches neues Jahr. Es grüßt Euch alle recht herzlich [geschwärzt]!1

Dieser Brief eines Leipzigers an einen polnischen Bekannten fiel der Staats­ sicherheit der DDR kurz nach der Ausrufung des Kriegszustandes in Volkspo­ len in die Hände. In eindrücklicher Weise wird in den Nöten des Briefschrei­ bers deutlich, wie stark die politischen Einschnitte Anfang der achtziger Jahre die Kontakte zwischen Deutschen und Polen beeinflussten. Das einprägsams­ te Problem ist die erzwungene Trennung der Ehepartner. Alle Reisemöglich­ keiten und darüber hinaus viele Kommunikationswege waren unterbrochen, weil die PVAP Volkspolen über Wochen von der Umwelt abschnitt und die 1

BStU, MfS, BV Leipzig, ZMA Abt. II Polen 588, Brief, Bl. 10–13. Orthografie und Zei­ chensetzung wie im Original.

90   2. Akteure und Kontakträume DDR keineswegs an regen Kontakten zwischen deutschen und polnischen Bürgern interessiert war. Dass solche Auflagen auch für Ehepaare und Fami­ lien galten, ist angesichts der Tragweite der damaligen politischen Entschei­ dungen nicht überraschend.2 Der Brief macht die Unmittelbarkeit nachspür­ bar, mit der der Alltag der Menschen unter dem Gewicht der Ereignisse ins Wanken geriet und wie sie den Anordnungen der sozialistischen Machthaber hilflos gegenüberstanden. Der Beschluss des deutsch-polnischen Paares zur Heirat half deshalb in der Situation des Kriegszustandes und der Abriegelung der Grenzen nicht weiter. Der unauffälligere Seitenstrang des Briefes liefert dem heutigen Leser da­ rüber hinaus einigen Aufschluss über wichtige Details deutsch-polnischer ­Kontakte unter den Bedingungen des Staatssozialismus. Der Briefeschreiber ­entsandte ja eigentlich Grüße zu Weihnachten und zum neuen Jahr, aber der Brief war ebenso eine verschämte, weil abschlägige Antwort auf die Bitte des polnischen Bekannten, ihn zur anstehenden Hochzeit einzuladen. Deutscher und Pole kannten sich von einer gemeinsamen Zugfahrt und teilten seitdem eine gegenseitige Wertschätzung. Die Bitte brachte den Leipziger jedoch in Erklärungsnöte. Vordergründig hatte die Hochzeit bereits stattgefunden, eini­ ge Zeilen früher schrieb er aber Wesentlicheres: Er halte den Bittenden zwar für einen „guten Menschen“, dieser sei aber weder sein Vater noch sein Bru­ der. Was unter den Bedingungen der Zeit hieß, dass eine Einladung in die DDR wegen fehlenden Verwandtschaftsgrades nicht möglich war – und zu­ dem belegt, wie einflussreich die offizielle Propaganda der SED war und wie sehr die Einschüchterung von DDR-Bürgern hinsichtlich der Lage in Volks­ polen ins Bewusstsein der Menschen eindrang. Über das Motiv des Polen, ­einen deutschen Bekannten abgesehen von der vermuteten Trauung um eine Einladung zu bitten, kann nur spekuliert werden. Da der Impuls eigentlich vom Einladenden ausgehen müsste, ist anzunehmen, dass der Kontakt als Möglichkeit einer DDR-Reise behutsam ausgenutzt werden sollte. Durchaus denkbar, dass dabei auch wirtschaftliche Interessen in Zeiten der ökonomi­ schen Krise in der Volksrepublik eine Rolle spielten. Im Brief werden demnach mehrere Dimensionen und Perspektiven deutschpolnischer Kontakte sichtbar. Ganz deutlich ist die Schicht einer deutsch-pol­ nischen Liebe unter ungünstigen äußeren Bedingungen, daneben liegt die 2

Auf polnischer Seite wurde der Umstand, dass sich selbst Familienmitglieder, Ehepartner sowie Eltern und Kinder vor allem während des Kriegszustandes nicht besuchen durften, benannt und bemängelt. Vgl. AIPN, MSW II BP Nr. 7740, Analiza ruchu osobowego między Polską i  NRD w  1982r. oraz perspektywy jego rozwoju w roku 1983, Berlin, 28. 2. 1983, Bl. 194/95.

2. Akteure und Kontakträume   91

Schicht der Bekanntschaft zwischen Polen und Deutschen durch alltägliche Kontaktzonen wie eine Zugfahrt. Angedeutet wird die Ebene der beidseitigen Kontaktpflege aus alltäglichen Zwängen. An alle diese Schichten knüpften sich Praktiken und zum Teil auch Eigen-Sinn an, um private Ziele trotz allem zu erreichen. Überlagert wird dies alles unübersehbar von den politischen Be­ dingungen, denen alle Kontakte zwischen Deutschen und Polen unterlagen. Es ist gewiss kein Zufall, dass die Staatssicherheit durch das Abfangen und Mitlesen des Briefes politische Kontrolle ausübte. An diesen wenigen Bemerkungen zur obigen Quelle lässt sich schon ermes­ sen, wie entscheidend es ist, den Alltagsbedingungen deutsch-polnischer Kontakte auf die Spur zu kommen. Wie wichtig dabei die politischen Konstel­ lationen und die Beziehungen zwischen der DDR und Volkspolen waren, wurde bereits hinlänglich betont. Wie sie sich jedoch auswirkten und wo sie andererseits auch umschifft werden konnten, soll genauer untersucht werden. Es soll also immer wieder darum gehen, wie deutsch-polnische Kontakte von den Menschen als möglicher Spielraum begriffen wurden. Die Kontakträume und ihr Zeitpunkt – eine wichtige Ausgangsbedingung – waren bei der Aus­ prägung privater Kontakte von einiger Bedeutung. Mindestens genauso ent­ scheidend war, wer in Kontakt trat und warum Kontakte zwischen Deutschen und Polen gepflegt wurden. So unterschieden sich die Situationen, in denen Kontakte zu Stande kamen, die Ansprüche der Kontaktpersonen und damit natürlich auch die Kontakte und Praktiken. Im Folgenden soll zunächst ein breites Umfeld privater deutsch-polnischer Kontakte in Leipzig abgesteckt werden. Verschiedene Lebenssituationen, Kon­ taktorte und Personenkreise sollen im Wandel zwischen den siebziger und achtziger Jahren in den Blick genommen werden. Jedem der hier näher zu ergründenden Szenarien liegen andere oder sich verschiebende Quellen zu Grunde. Gespeist aus unterschiedlichen Archivbeständen und wenn möglich entlang der Erinnerungen von Leipzigern soll ein dichtes Netz der Beschrei­ bung den Alltag deutsch-polnischer Kontakte in verschiedenen Perspektiven ergründen. Eine der zentralen Forderungen der Alltagsgeschichte kann so eingelöst werden, nämlich einen „bestimmte[n] Typus von Interaktionen […] und die für die Akteure damit verbundenen Möglichkeiten der Sinn-Gebung und Sinn-Gewinnung […] ins Verhältnis“3 zu setzen. Es scheint auch angemessen, den Begriff der Informalität in seiner Taug­ lichkeit, zumindest aber hinsichtlich seiner Tiefenschärfe zu problematisieren. Gerade vor dem Hintergrund informeller Kontaktzonen zwischen Deutschen und Polen in Leipzig muss darüber anders nachgedacht werden. Traditionell 3

Lindenberger: Diktatur, hier besonders S. 23–26, Zitat S. 24.

92   2. Akteure und Kontakträume wird mit informellen Beziehungen im Staatssozialismus eine Grauzone zwi­ schen offiziellen und inoffiziellen Handlungen assoziiert, die von staatlicher Seite nicht gern gesehen, aber geduldet werden musste. Informelle Beziehun­ gen auf materieller Ebene lassen sich insbesondere im Bemühen von Men­ schen und Institutionen nachweisen, die Auswirkungen der Mangelwirtschaft abzufedern.4 Die ideelle Dimension informeller Beziehungen ist schwerer greifbar – zu­ mal im Staatssozialismus, dessen Austauschprogramme, Partnerbeziehungen und Kulturveranstaltungen fest auf der offiziellen Ebene verankert waren und öffentlich wie privat genutzt wurden, ohne in die Inoffizialität abzugleiten. Die Einflussmöglichkeiten und Kontrollmechanismen der Staaten DDR und Volkspolen mögen auf privater Ebene nicht immer zur Geltung gelangt sein, in herkömmlicher Hinsicht liegen aber bei den deutsch-polnischen Kontakten nicht zwangsläufig informelle neben staatlichen Strukturen vor. Es entstanden jene informellen Kommunikationszusammenhänge, die einigen Menschen inner­halb des Systems der DDR Freiräume erschlossen. Im Lebensalltag von Leipzigern öffneten sich innerhalb des offiziellen Bereiches Zwischenräume, in denen individuelle Wahrnehmungen und Praktiken möglich waren. So fin­ det in diesem Abschnitt der Begriff „informell“ dann Verwendung, wenn auf ideeller Ebene die staatlich gewollte und geförderte Sphäre verlassen wurde und individuelle Interessen und Ziele verfolgt wurden. Es wird sich auch zei­ gen, dass „informell“ – wie es hier verstanden wird – wenig Deckungsgleich­ heit mit „inoffiziell“ oder „illegal“ aufweist, sondern vielmehr in Richtung alltäglicher, unspektakulärer oder eben eigen-sinniger Handlungsoptionen tendiert. Private Kontakte, die sich anfangs in aller Regel aus offiziellem Austausch und Delegationen ergaben, stellten den wesentlichen Rahmen deutsch-pol­ nischer Annäherung dar. Obwohl oft ritualisiert, war ihre Tragweite und ­Prägung im staatssozialistischen Alltag nicht nur eine Randnotiz, sondern ­begründete zunächst einmal ziemlich stabile Kontaktsphären. Wege durch den Alltag in Leipzig mussten auch polnische Vertragsarbeiter und Studenten suchen und finden. Auch hier knüpften sich breite Möglichkeiten von Kon­ takten an, die nicht im Offiziellen verblieben. Nicht nur Betrieb und Arbeit waren betroffen, vielmehr färbten sie auf das Privatleben ab und schufen deutsch-polnische Mikrowelten. Neben den durch offizielle Initiativen be­ 4

Vgl. u. a. Steiner: Plan, S. 14/15. In ihrer Geschichte der Konsumkultur der DDR be­ schreibt Ina Merkel die Schwierigkeiten, begehrte Waren zu kaufen, und beschreibt „non­ konforme“ Verhaltensweisen – zu denen sie auch Beziehungen zählt –, um sich diese Waren zu organisieren, vgl. Merkel: Utopie, S. 293–300, hier besonders S. 277–296.

2. Akteure und Kontakträume   93

gründeten Kontakten ergaben sich durch Reisen und allgemein Besuche im Nachbarland viele andere Möglichkeiten, sich gegenseitig kennen zu lernen. Viele Leipziger Beispiele belegen, dass sich ab den siebziger Jahren eine Bele­ bung deutsch-polnischer Begegnungen vollzog. Es entstanden Freundschaften und lebenslange Bindungen, die Spuren in Biographien und Erinnerungen hinterließen. Als eine Art Sonderfall deutsch-polnischer Interaktion in Leip­ zig kann das Umfeld um das Polnische Informations- und Kulturzentrum und Generalkonsulat aufgefasst werden. Besonders das Zentrum war ein Treff­ punkt vieler an Polen interessierter Menschen, und sein Angebot war an­ gesichts in vielfacher Hinsicht begrenzter Möglichkeiten im DDR-Alltag für viele attraktiv. Wo es möglich und lohnenswert erscheint, die Leipziger Mikroperspektive zu verlassen und die Erfahrungen und Wahrnehmungen von Leipzigern in der Volksrepublik einfließen zu lassen, wird dieser Blick aus der DDR hinaus in diesem Teil der Arbeit mitverfolgt. Es soll so eine Verflechtung und Kon­ frontation Leipziger Akteure und Alltagswelten mit polnischen erreicht wer­ den. Der emotionale und intellektuelle Input des Polnischen hatte in vielen Bereichen die schon erwähnte identitätsstiftende Bedeutung und galt vielen als Fluchtpunkt. Es versteht sich fast von selbst, dass in Leipzig lebende Polen in ihren Erzählungen immer wieder auf Erfahrungen aus ihrem Heimatland zurückgriffen – auch so entsteht ein Kontrast zwischen deutsch-polnischen Kontakten in der DDR und in Volkspolen. Der Entwurf dieser unterschiedlichen Perspektiven auf deutsch-polnische Kontakte in Leipzig soll deren Valenz und Funktion im Alltag und im Pri­ vaten der Menschen beschreiben. Indem die Praktiken und individuellen Strategien der Menschen erkennbar werden, ist es möglich, die Potentiale und ­Optionen der Kontakte und Kontaktpartner zu umreißen. Es wird deutlich, wie tief die Kontakte reichten und welchen Nutzen sie den Beteiligten boten. Die latente Frage nach den eigen-sinnigen Aneignungen und sich daraus er­ gebenden Freiräumen öffnet den Blick für allgemeine Einschätzungen. Indem die Bedeutung privater deutsch-polnischer Kontakte für die Menschen erklär­ bar wird, ist auch deren Rolle im Alltag nicht nur von Individuen, sondern auch für das Funktionieren des staatssozialistischen Alltags im Ganzen imma­ nent. Die Überlegungen nach den Auswirkungen alltäglicher Praktiken bin­ den den Alltag zurück an die politische Geschichte. Kurz: Die alltäglichen Praktiken der Menschen hatten Einfluss auf deren Selbstverständnis und Verortung in ihrer Umwelt. Welche Kontakte gab es und welche Funktionen erfüllten sie? Wie wirkten sich private deutsch-polni­ sche Kontakte auf das gesellschaftliche und vielleicht auch politische Gefüge in Leipzig aus? Wie beeinflussten sie die Praktiken des Alltags und welche

94   2. Akteure und Kontakträume Auswirkungen hatten sie auf individuelle Lebenswege? Schufen sie Freiräu­ me? Stellten sie alltägliche Praktiken in Frage und beeinflussten so das Gefüge der DDR-Gesellschaft oder bewirkten sie im Gegenteil eine Stabilisierung, weil das Ausleben von Freiräumen die alltäglichen Zumutungen erträglicher machte?

2.1. Offiziell angebahnte Kontakte. Sozialistische ­Internationale und kleine Dienste unter Freunden Unser Camp fand seinen krönenden Abschluß mit seinem emotional tief bewegendem Abend am Lagerfeuer. Beim Abschied von unseren Freunden flossen viele Tränen. Aber auch wenn das Lager vorbei ist, die Erinnerungen und Freundschaften bleiben!5 Bericht von Mitgliedern der Nationalen Front zu einem internationalen Friedenscamp

Die Kontakte zwischen den Parteien, Massenorganisationen und Verbänden der DDR und Volkspolens sollten der Motor der ostdeutsch-volkspolnischen Beziehungen sein. Wie während des obigen Friedenscamps in Auschwitz ­sollten offizielle Begegnungen zwischen den Mitgliedern der Massenorgani­ sationen die Völkerfreundschaft manifestieren. Die obigen Emotionen und ­gemeinsamen Rituale beglaubigten eine Nähe, die in der Praxis zwar nicht zwangsläufig rhetorisch blieb, aber doch häufig instrumentalisiert wurde. Kontakte zwischen Menschen aus der DDR und aus Volkspolen umfassten aber sicherlich mehr Dimensionen als gemeinsame Lagerfeuer, Tränen und Erinnerungen. Wahrnehmungen, sozialistische Inszenierungen und eigensinnige Praktiken beeinflussten auch den offiziellen Bereich ostdeutsch-volks­ polnischer Kontakte. In der ideologischen Sicht wurde die Freundschaft zwischen beiden Staaten auf offizieller Ebene dauerhaft gefestigt – für Leipzig war dies in erster Linie der Kontakt zur Partnerstadt und den Partnerregionen. Alle Treffen und Er­ eignisse wurden von langer Hand geplant, und die Zusammenarbeit bekam den Anklang einer gewissen Routine. Die kommunistischen Rituale und pro­ pagandistischen Redeweisen machten einen Hauptteil der gegenseitigen offi­ ziellen Bekundungen aus. Wenn man versucht, aus den Massen von Plänen, Vereinbarungen und Freundschaftsreden den eigentlichen Charakter der Kontakte zwischen Leipzig und Volkspolen zu evaluieren, bleibt die Aufmerk­ samkeit unter alltagsgeschichtlichen Gesichtspunkten an einigen markanten Punkten hängen. Das Ziel besteht dann nicht mehr darin, die Quantität der 5

SächsStA, StA-L, 21759 Nationale Front Bezirk Leipzig Nr. 674, Reisebericht – Internatio­ nales Friedenscamp – vom 1.–12. 8. 1988, [undatiert], S. 3.

2.1. Offiziell angebahnte Kontakte   95

Beziehungen zu erfassen, sondern nach den Wendepunkten und Untiefen der Kontakte zu fragen. So ist zum Beispiel bemerkenswert, wie in Reaktion auf die Krise 1980/81 die freundschaftlichen Bande ganz direkt oder zwischen den Zeilen (neu) bewertet wurden. Das Oberbauwerk Leipzig unterhielt „freundschaftliche Kontakte“ zu ei­ nem ähnlichen Betrieb in Gdynia. Wenn Delegationen aufeinander trafen, seien bei den polnischen Delegationsmitgliedern keine negativen Einstellun­ gen festzustellen gewesen. Allerdings bemühten sich während der Besuche in Volkspolen nicht einmal die Mitglieder der PVAP unter den Besuchern um politische Gespräche. Die politische Haltung war aus Sicht der Leipziger im­ merhin so, dass es auch bei „Veranstaltungen mit Alkoholgenuß […] keinerlei negative Tendenzen“ gegeben habe.6 Sie rätselten unter dem Eindruck der „Solidarność“ also, ob man sich in den polnischen Partnern getäuscht habe. Generell wurde weiterhin das gute Verhältnis zueinander betont, allerdings erinnerte man sich unter dem Einfluss der Ereignisse an Merkwürdigkeiten, die nun hervorgekramt wurden. Die katholische Religiosität und der angebli­ che polnische Hang zu Chaos und Unorganisiertheit wurden mit Befremden aufgegriffen: Bei Besuchen des Obw [Oberbauwerk] in Gdynia wurden zumeist Geschenke an die polni­ schen Genossen überreicht und freundschaftliche Gespräche zu Ferienproblemen und per­ sönlichen Dingen geführt. Exkursionen durchgeführt so u. a. nach Auschwitz [sic!], dort war festzustellen, daß die polnischen Genossen niederknieten und beteten, um so das An­ denken ihrer ermordeten Genossen zu ehren. Die Genossen des Obw Leipzig wollten gern an einer Parteiversammlung der PVAP teilnehmen was aber nicht möglich war. Ihnen wur­ den klar, daß Parteiversammlungen willkürlich, ohne Programm und entsprechend einer festen Disziplin erfolgten [sic!].7

Die offiziellen ideologischen Schneisen waren eben nicht nur Propagandage­ töse, sie erhielten individuelle Konturen, verfingen sich in den Lebensläufen und in der Leipziger Wirklichkeit. So ist in obigem Zitat aus Auschwitz der Klang der ideologischen Redewendungen zwar sehr deutlich, andererseits dürften die emotionalen Bindungen der Teilnehmer Folgen für die Wahr­ nehmung von Deutschen und Polen gehabt haben. Wie lange solche ‚Freund­ schaften‘ währten, kann nicht bestimmt werden. Sie waren aber sicherlich in der Perspektive der Berichtenden mindestens genauso bedeutsam wie in ­jedem anderen politischen System und damit unter anderen Kontaktbedin­ gungen auch. Diese Prämisse soll hier zunächst einmal ernst genommen werden. 6

Vgl. BStU, MfS, BV Leipzig, Abt. II Nr. 605/02, Information zum Oberbauwerk Leipzig über dort bestehende Beziehungen zur Volksrepublik Polen, Leipzig, 27. 1. 1981, Bl. 28. 7 Ebd., Bl. 29 [Hervorhebungen im Original].

96   2. Akteure und Kontakträume Den ‚offiziellsten‘ Kontakt unterhielten natürlich die beiden Ersten Sekretä­ re der kommunistischen Parteien in Leipzig und Krakau. Obligatorisch waren die jeweiligen Glückwunschschreiben, sei es zu den Jahrestagen der beiden Republiken, anlässlich des ersten Mais oder zu Silvester.8 Die Sekretäre beteu­ erten in ihrer Korrespondenz den Wert ihrer gegenseitigen Hochschätzung, in Grußformeln und inhaltlichen Floskeln erkennt man den sozialistischen Im­ petus. Józef Klasa, der erste Sekretär der PVAP Krakaus, schrieb an Horst Schumann, den ersten Sekretär der SED in Leipzig, in einem Dankschreiben zur Einladung für die Krakauer Tage in Leipzig 1974: Ich bin der gleichen Meinung wie Du, lieber Horst, daß unsere unmittelbaren Kontakte und Gespräche zur gegenseitigen Information über die Erfahrungen unserer Parteiarbeit und die Entwicklung unserer zwischenregionalen Zusammenarbeit sehr notwendig sind und daß man sie zum Wohle unserer beiden Gebiete – und im weiteren Sinne – unserer beiden Länder realisieren muß.9

Stand anlässlich der Krakauer Tage das Wohl des Gemeinwesens im Mittel­ punkt des persönlichen Erfahrungsaustauschs, so fand ein Treffen der ersten Sekretäre drei Jahre später in einem privateren Umfeld statt. Wiederum be­ dankte sich der Krakauer für eine Einladung und kündigte an, zusammen mit seiner Frau mit dem Auto einzutreffen. Dieser familiäre Rahmen und seine Freude, „Euch persönlich zu treffen und persönliche Gespräche zu führen“10, dokumentiert, dass die offiziellen Kontakte zwischen hohen Parteifunktionä­ ren in informellere Umfelder verlagert wurden. Ähnliches galt ebenso für an­ dere Funktionäre: Nach einem Arbeitsessen des Direktors des DDR-Kultur­ zentrums in Krakau mit dem Direktor des germanistischen Instituts der Kra­ kauer Universität war die allgemeine Zufriedenheit groß. Der DDR-Funktionär hielt fest, dass, das „Zusammentreffen […] unseres Erachtens zur weiteren Festigung der persönlichen Kontakte zwischen der Leitung des Instituts für Germanistik und des KIZ [Kultur- und Informationszentrum] beigetragen“ habe und dies „auch das Ziel dieser Aktion“ gewesen sei.11 Der Krakauer Pro­ fessor war „erfreut“ und regte gar an, auch einmal den Rektor oder den Dekan der Universität zu einem Essen oder zu einem Glas Wein einzuladen.12   8 Unter

vielen Funden dieser Art sei hier stellvertretend folgende Akte angeführt, in der sich zahlreiche Korrespondenzen zwischen den „Bruderparteien“ aus Leipzig und Krakau befinden: SächsStA, StA-L, 21123 SED-BLL Nr. 1640.   9 Ebd. Nr. IV/C/2/18/770, Brief von Józef Klasa an Horst Schumann [Übersetzung in Deut­ sche], Kraków, 19. 4. 1974. 10 Ebd. Nr. IV/D/2/17/555, Telegramm von Wit Drapich an Horst Schumann [Übersetzung in Deutsche], 10. 5. 1977. 11 SAPMO-BArch, DY 13 Nr. 2802a, Vermerk über ein Arbeitsessen mit dem Direktor des Germanistischen Instituts von Kraków, Prof. Dr. [geschwärzt], am 8. 6. 75 im Restaurant „Dnjepr“, 26. 6. 1975, S. 2. 12 Vgl. ebd., S. 1/2.

2.1. Offiziell angebahnte Kontakte   97

Sicherlich gehörte solche Kontaktpflege zu den normalen Vorgängen politi­ schen Lebens; die staatssozialistischen Funktionäre unterschieden sich nicht von denen anderer Systeme. Systemspezifischer wurden deren Kontakte in den achtziger Jahren, weil in dieser Zeit neben dem Mangel an Konsumgütern auch noch der Mangel an Auslands- und Besuchsreisen zu kompensieren war. Der Austausch zwischen Leipzig und Krakau bekam nach der Zeit der „Solidarność“ eine größere Brisanz. Den Genossen der PVAP wurde „politi­ sche und moralische Unterstützung“ zugesichert.13 Der Delegations- und Er­ fahrungsaustausch setzte sich gerade während der polnischen Krise fort und „bewährte und aktive Genossen der PVAP“ wurden „zum Verbringen des Ur­ laubs im Bezirk Leipzig“ eingeladen.14 Die Kommunisten rückten formal noch enger zusammen, in Krakau machte sich daher eine Art Dankbarkeit breit.15 Dass die Staatssicherheit in Leipzig allerdings nicht einmal den offiziellen Kontaktpartnern aus Volkspolen traute, belegt eine Überwachungsmaßnahme vom Februar 1983. Während eines Delegationsbesuches in Eilenburg bemerk­ te man, dass sich zwei Delegationsmitglieder anlässlich eines Stadtbesuches in Leipzig von der Gruppe entfernten.16 Man fertigte sogar eine gezeichnete Übersichtskarte an17, stellte dann aber fest, dass beide Polen nur einen bei ­einem Krakaubesuch verlorenen Ring an einen Deutschen zurückgeben woll­ ten.18 Für die achtziger Jahre häufen sich Befunde, dass sich Parteimitglieder bei­ der Länder mittels Kontakten Gefälligkeiten erwiesen oder sich – neutraler formuliert – eine Freude bereiten wollten. Der Weg über die Bruderschaft sollte die Erfüllung privater Anliegen ebnen. In den Akten des FDGB von Berlin findet sich ein Bittbrief einer hohen polnischen Gewerkschaftsfunktio­ närin an einen ebenfalls hochrangigen DDR-Kollegen. Aus der Korrespon­ denz geht hervor, dass sie die Reise einer Kollegin nutzte, um Brillengläser auf Rezept zu organisieren. Sie schrieb, dass sie dem deutschen Funktionär sehr 13 Vgl.

SächsStA, StA-L, 21123 SED-BLL Nr. 1637, Bericht über den internationalen Delega­ tions- und Erfahrungsaustausch der Bezirksleitung Leipzig der SED mit den Bruderpar­ teien im Jahre 1982, [undatiert], S. 7. 14 Vgl. ebd., Einschätzung über den Delegations- und Erfahrungsaustausch mit Bruderpar­ teien im Jahre 1981, [undatiert], S. 12. 15 Herr T. meint bei den Krakauer Systemträgern eine gewisse Erleichterung über die Un­ terstützung durch den Bezirk Leipzig beobachtet zu haben. Vgl. Interview mit Herrn T. 16 Vgl. BStU, MfS, BV Leipzig, Abt. II Nr. 116/07, Information über den Besuch einer polni­ schen Delegation am Institut für Heimerzieherausbildung Hohenprießnitz, Eilenburg, 7. 2. 1983, Bl. 7. 17 Vgl. ebd., Bl. 9. 18 Vgl. ebd., Aktennotiz zur Information über den Besuch einer poln. Deleg. am Institut für Heimerzieherausbildung Hohenprießnitz, Leipzig, 28. 2. 1983, Bl. 10.

98   2. Akteure und Kontakträume dankbar für seine Hilfe und ihm deshalb viel schuldig sei. Sie stellte in Aus­ sicht, diese Schuld „bei einer günstigen Gelegenheit“ zu begleichen. Auf einer Reise in die DDR gab sie ihrer Kollegin noch versprochene Schnellstrick­ nadeln für eine andere Gewerkschafterin mit, die bezeichnenderweise in Wrocław geboren war – also womöglich ein deutschstämmiger Flüchtling oder eine Vertriebene war.19 1987 schrieb ein Leipziger an einen Krakauer: „Entsprechend Deines Wun­ sches wird gegenwärtig überprüft, ob die Möglichkeit besteht, die Urlaubs­ planung Deiner Familie wie von Dir vorgeschlagen möglich ist [sic!]. Ich ­würde Dir in Krakow alles mitteilen und Dir die Einladung überreichen.“20 Zu diesem Zeitpunkt war die DDR schon lange nicht mehr nur ein beliebtes Er­holungsgebiet, Polen waren gerade an Urlaubsaufenthalten in der Nähe von Großstädten wegen der besseren Einkaufsmöglichkeiten interessiert.21 Ob die Einladung im obigen Fall gewährt wurde, wissen wir nicht. Eine weitere Notiz vom Dezember 1980 findet sich in einer Stasiakte. Es handelt sich um einen Brief polnischer Eisenbahner an das Oberbauwerk in Leipzig (vgl. zu diesen Beziehungen auch weiter oben). Der Inhalt spricht für sich und stützt den allgemeinen Eindruck: Lieber [geschwärzt]! Wir haben an Dich eine Bitte. Wir möchten in der zweiten Hälfte des Januars nach Engelsdorf in Urlaub kommen aber brauchen eine Einladung. Bitte schicke uns die Einladung so schnell wie möglig ist. […] P.S. Die besten Weihnachts und NeujahrsWünsche von uns allen [sic!]22

Kontakte zwischen Partei und Massenorganisationen – tatkräftig durch offizi­ elle Seilschaften arrangiert – verharrten demnach nicht nur in der Sphäre des Offiziellen, sondern entwickelten sich zu privaten Bekanntschaften und wohl auch Freundschaften. Zumindest an Einzelbeispielen kann dabei aufgezeigt werden, wie sich persönliche Wünsche und damit informelle Praktiken in die deutsch-polnischen Kontakte mischten. Besonders in der wirtschaftlich be­ klemmenden Situation der achtziger Jahre waren DDR-Aufenthalte ein gewis­ ses Privileg und waren mit angenehmen (Neben-)Effekten verbunden. Längst nicht jedem Bürger Volkspolens war eine Reise in die DDR möglich, das Pfund persönlicher Bekanntschaft konnte da durchaus dienlich eingesetzt werden. 19 Vgl.

SAPMO-BArch, DY 34 Nr. 10983, Brief, Warszawa, 21. 6. 1974 und Brief, Berlin, 25. 6. 1974. 20 SächsStA, StA-L, 21123 SED-BLL Nr. 1630, Brief. 21 Herr L., der mit dem gewerkschaftlich organisierten Urlauberaustausch etwas näher ver­ traut war, erinnert sich daran, dass bei polnischen Urlaubern die Urlauberheime in der Nähe Leipzigs wegen der Einkaufsmöglichkeiten sehr beliebt waren. Vgl. Interview mit Herrn L., 13. 12. 2007. 22 BStU, MfS, BV Leipzig, Abt. II Nr. 605/02, Gdynia, 21. 12. 1980, Bl. 32.

2.1. Offiziell angebahnte Kontakte   99

Mit Verweis auf die eingangs dieser Arbeit präsentierten Briefe eines polni­ schen und eines deutschen Funktionärs kann das Ausmaß deutsch-polnischer Gefälligkeiten aber noch pointiert werden. Der polnische Parteifunktionär be­ dankte sich in seinem Brief ausdrücklich für den Aufenthalt von Frau und Kind im Ferienhaus des Leipzigers. Und er erbat einen weiteren Kurzauf­ enthalt seiner Frau in Leipzig zwecks Stadtbesichtigung. Ob dabei auch der Hintergedanke von guten Einkaufsmöglichkeiten eine Rolle spielte, kann nur vermutet werden. In dem anderen Brief lehnte der Deutsche das großzügige Angebot seines polnischen Bekannten ab, stellte aber Treffen bei anderer ­Gelegenheit in Aussicht. Deutsch-polnische Praktiken, in denen ‚eine Hand die andere wusch‘, waren ein unübersehbarer Bestandteil der Partnerschaft. Ein weiteres Merkmal ist dabei sicherlich nicht zufällig: Der polnischen Seite kam die Position des Bittstellers zu, die Genossen der DDR wuchsen in die Rolle von Gönnern hinein. Es ergab sich ein Ungleichgewicht in den Bezie­ hungen zwischen Systemträgern, weil die polnische Seite subjektiv politisch und objektiv ökonomisch in eine prekäre Lage geraten war. Abseits der eigentlichen Funktionärsebene waren die Kontakte zwischen Leipzigern und Polen manchmal durchaus lebhaft – allerdings konnten sie ge­ nauso gut ‚geschäftsmäßig‘ bleiben. Sobald die komplizierte Ebene politischer Beziehungen überschritten wurde, entstanden Kommunikationszusammen­ hänge, deren Verständigungsmöglichkeiten bis ins Private reichten. Der Künst­ leraustausch zum Beispiel erbrachte für die deutsche wie die polnische Seite Vorteile. Die Kontakte waren offenbar häufig ungezwungen und lassen sich gut dokumentieren. In den siebziger Jahren belebten die unmittelbaren Kontakt­ möglichkeiten den gegenseitigen Austausch. Einladungen konnten unkompli­ ziert ausgefertigt werden und „direkte Verbindungen“ zumindest zwischen den Künstlerverbänden waren „jederzeit“ möglich.23 Reiseberichte zeugen von leb­ haften Künstlertreffen und einer schöpferischen Atmosphäre.24 Wir möchten besonders darauf hinweisen, daß die Initiativen von Jacek und Jan(ek) sozusa­ gen über das dienstliche Engagement hinausgingen. Jacek als sowohl philologischer, paläon­ tologischer, kunsthistorischer und chauffeurmäßiger souveräner Beherrscher der Scenerie lud uns am Donnerstag zu einer Exkursion nach Nowy Targ ein,25

23 Vgl.

SächsStA, StA-L, 21760 Verband der bildenden Künstler der DDR, Bezirksvorstand Leipzig Nr. 200, Bericht über den Aufenthalt von 6 bildenden Künstlern aus Krakow in Leipzig als Gäste des Bezirksverbandes d. VBK-DDR. 8. 12. 1975, S. 1. 24 Vgl. ebd., 20237 BT/RdB Nr. 8076, Bericht über die Studienreise nach Zakopane vom 5.– 12. 9. 1976 (genannt Plenair „TATRA HERBST“), Leipzig, Oktober 1976, Bl. 43–50 und Interview mit Herrn M. 25 SächsStA, StA-L, 20237 BT/RdB Nr. 8076, Bericht über die Studienreise nach ­Zakopane vom 5.–12. 9. 1976 (genannt Plenair „TATRA HERBST“), Leipzig, Oktober 1976, Bl. 47.

100   2. Akteure und Kontakträume fassten drei Leipziger Künstler zusammen. Reichhaltiges Programm löste viel­ leicht auch angesichts gedämpfter Erwartungen Erstaunen aus, Künstler luden in ihre Arbeitsstätten ein und Kunstdenkmäler Südpolens – wie Holzkirchen – wurden besichtigt. Sich – offiziell innerhalb eines geplanten Künstleraustausches – privat in Krakau zu bewegen und gar zu wohnen, stellte eine Bereicherung zu den ­Erfahrungen aus Leipzig dar; Ateliers, Künstlerleben und Kunsttradition ver­ mittelten neuartige Eindrücke.26 Kontakte zwischen deutschen und polni­ schen Künstlern kreisten vielfach um die Inhalte und Bedingungen der Kunst im Nachbarland. Auf dieser nonverbalen Kommunikationsebene Verständi­ gung zu erreichen war nicht sehr schwer; aufgrund von Sprachschwierigkei­ ten waren intensiven Kontakten häufig aber auch Grenzen gesetzt. Ein Funk­ tionär des Verbandes der Bildenden Künstler in Leipzig bestätigt dieses Bild. Zwar habe man die anreisenden polnischen Künstler während offizieller Pro­ grammpunkte begleitet und habe besonders über Kunst diskutiert, darüber ­hinaus sei man sich im Privaten nicht immer nahe gekommen.27 Zu Höflich­ keitsadressen reichte es jedoch, derselbe Leipziger Funktionär bekam Urlaubs­ post von polnischen Partnern.28 Ob dieses Nebeneinander und Getrenntsein außerhalb des offiziellen Programms aus einer persönlichen Konstellation ­heraus entstand oder verallgemeinerbar ist, lässt sich nur schwer bewerten. Bei Berichten aus Volkspolen sind die Erzählungen über polnische Gast­ freundschaft und die zuvorkommende Betreuung deutscher Gäste Legende. Vielleicht war die Atmosphäre von Treffen in beiden Ländern jeweils eine an­ dere und passte sich den Mentalitäten und Möglichkeiten an. Ein freundschaftlicher Umgang jedenfalls charakterisierte auch in den acht­ ziger Jahren die Beziehungen zwischen Leipzigern und ihren Kontaktpart­ nern. Die Bemühungen um eine möglichst persönliche Ebene während der Leipziger Tage in Krakau schildert Herr T., ein Journalist der Leipziger Volks­ zeitung. Die Treffen mit polnischen Journalisten fanden in einer informativen und zugleich lockeren Atmosphäre statt. Der obligatorische Wodka gehörte zur zwanglosen Annäherung dazu. Die polnische Dolmetscherin lud die Leip­ ziger Journalisten und Pressefotografen zum Ende des fast zweiwöchigen Auf­ enthalts nach Hause zu ihrer Mutter ein. Gastfreundschaft und polnische ­Spezialitäten bilden den Mittelpunkt dieser Erinnerungen. Angesprochen auf

26 Vgl.

Interview mit Herrn M. Interview mit Herrn K., 17. 1. 2008. 28 Vgl. Grußkarte an denselben Funktionär: SächsStA, StA-L, 21760 Verband der bildenden Künstler der DDR, Bezirksvorstand Leipzig Nr. 169, Postkarte, Oktober 1981. 27 Vgl.

2.2. Polnische Vertragsarbeiter in Leipzig   101

Wandaufschriften der „Solidarność“ blockte die Dolmetscherin ab und signa­ lisierte so, nicht über Politik sprechen zu wollen.29 Diese letzten Hinweise zeigen, dass es private deutsch-polnische Kontakte auch entlang der offiziellen Bahnen immer wieder gab. Sie waren jedoch nicht immer stabil, sondern ergaben sich aus den systembedingten Gelegenheiten. Die Kontaktpersonen wichen politischen Inhalten möglicherweise bewusst aus oder verständigten sich in speziellen Kommunikationsrahmen, wie zum Beispiel der Kunst. Es stimmt aber keineswegs, dass alle Kontakte zwischen Deutschen und Polen genauso wie die Beziehungen zwischen beiden Staaten kompliziert, wenn nicht sogar unehrlich und ideologisch verbrämt waren. Insgesamt wurden die Erlebnisse mit den polnischen Nachbarn als herzlich und freundschaftlich geschildert. Die Begegnung mit dem ‚Polnischen‘ auf in­ dividueller Ebene wurde als Bereicherung wahrgenommen. Leipziger Künst­ lern erschlossen sich in Volkspolen neue künstlerische Perspektiven und der kreative und bohémehafte polnische Lebensstil hinterließ durchaus Eindruck. Im Hinblick auf die Kontakte zwischen den Funktionären der Systeme kom­ plettiert sich dieses Bild. In vielen Bereichen waren die Kontakte ziemlich zu­ verlässig und reichten von solchen innerhalb der politischen Spielregeln bis zu informellen Beziehungen. Gerade in den Fragen um Versorgung und Reise­ möglichkeiten waren diese informellen Praktiken systemspezifisch. Es ist dem­ nach schwer zu bestimmen, wie viel Annäherung oder gar Freundschaft sich hinter den Bekanntschaften der Funktionäre verbarg. Einige Zeichen und An­ liegen der Kontaktpartner sprechen für stabile Bekanntschaften, in denen man auf das Wohlwollen und auf die Hilfe der Gegenseite zählen konnte. Ost­ deutsch-volkspolnische Beziehungen auf offizieller Ebene hinterließen so er­ hebliche Spuren im privaten Leben von Deutschen und Polen – und dies mit Sicherheit nicht allein auf der Linie ideologischer Freundschaftsbekundungen.

2.2. Polnische Vertragsarbeiter in Leipzig. Wirtschaft­ liche Notwendigkeit und private Aneignungen In den 2 Jahren, die wir hier leben und arbeiten, haben wir uns eingelebt und viele unver­ geßliche Stunden verbracht. Die Eindrücke von Leipzig, die wir hier gewonnen haben, wer­ den uns bestimmt ein Leben lang begleiten. Zwischen uns und den Werktätigen der DDR, mit welchen wir zusammen arbeiten, haben sich herzliche Freundschaften herausgebildet. Wir werden von unseren Kolleginnen und unseren Meistern nach Hause eingeladen, wir empfangen sie aber auch in unserem Wohnheim. Die deutschen Kolleginnen und Kollegen besuchen uns gern anlässlich politischer Feiertage, sie kommen aber auch zu Tanzveranstal­ 29 Vgl.

Interview mit Herrn T.

102   2. Akteure und Kontakträume tungen und anderen Veranstaltungen. Viele unserer Kolleginnen haben uns in Polen be­ sucht, unseren Familienkreis kennengelernt. Die geschlossenen Freundschaften haben tiefe Wurzeln geschlagen und sie werden bestimmt auch dann von Dauer sein, wenn wir die DDR verlassen. Diese Freundschaften wurden in der täglichen Zusammenarbeit im Betrieb geboren.30

Persönliche und lang andauernde Kontakte zwischen Deutschen und Polen in Leipzig entwickelten sich unter besonderen Bedingungen in Betrieben, in de­ nen Polen arbeiteten. Die Kontakträume und -möglichkeiten breitete die oben zitierte polnische Vertragsarbeiterin auf einer Jubiläumsveranstaltung vor pol­ nischen und deutschen Kollegen und Kolleginnen aus. Ort und Anlass ihres Vortrages sowie die aus ihrer Sicht umfassende Ein- und Verbindung polni­ scher Arbeiterinnen an Leipzig und die deutschen Kollegen und Kolleginnen sind ein Indiz für die umfassende Vereinnahmung polnischer Vertragsarbeit im politischen und gesellschaftlichen System der DDR. Doch gerade weil dies so war, sind die Funktionsweisen von polnischer Vertragsarbeit in Leipzig zu hinterfragen und Ursache und Wirkung voneinander zu unterscheiden. Wie die Arbeiterin betonte, war die „tägliche Zusammenarbeit“ der Ursprung der Freundschaft. Man könnte auch zuspitzen, dass die angeblich so herzliche ­Begegnung von Deutschen und Polen ein Nebenprodukt war: Denn es war vor allem der ökonomische Nutzen von Arbeit, der polnische Vertragsarbeit in der DDR nötig und akzeptierbar machte. Polnische Vertragsarbeiter deckten in der DDR seit 1971 den Arbeitskräfte­ mangel ab. Von polnischer Seite war die Entsendung von Arbeitern aufgrund starken Bevölkerungswachstums und darauf folgender Arbeitslosigkeit oder Ausbildungsplatzmangel willkommen.31 An entsandten Arbeitern verdiente der polnische Staat eine stattliche Summe.32 Obwohl also der Beschäftigung 30 SächsStA,

StA-L, 21123 SED-BLL Abt. Grundstoffindustrie Nr. IV/C/2/6/508, Protokoll der Konferenz des Bezirksvorstandes FDGB in Vorbereitung des 25. Jahrestages der Gründung der DDR und des 30. Jahrestages der Volksrepublik Polen am 31. 5. 1974 im Informationszentrum Leipzig, [undatiert], Diskussionsbeiträge, S. 15. 31 Vgl. Röhr: Hoffnung, S. 200. Rita Röhr liefert mit ihrer Geschichte der polnischen Ar­ beiter im Bezirk Frankfurt/Oder eine breite Einführung in die Geschichte, die wirtschaft­ lichen Faktoren, die rechtlichen Zusammenhänge und die Arbeits- und Lebensbedin­ gungen der polnischen Vertragsarbeiter und Pendler. Ihre Ergebnisse sind in vielen Be­ reichen auf die Situation der Vertragsarbeiter in anderen Bezirken der zu übertragen. Im Anhang der Untersuchung finden sich alle wichtigen Verträge und Abkommen zu polni­ schen Vertragsarbeitern in der DDR in einem Dokumententeil. Vgl. ebd., S. 223–260. 32 Im Regierungsabkommen vom 25. 5. 1971 wurden der Volksrepublik Polen im Artikel 10 „75% der vom Lohn der polnischen Werktätigen in Abzug gebrachten Steuern“ zugesi­ chert. Vgl. ebd., S. 225. Allein 1988 verdiente die polnische Seite an einem Vertragsarbei­ ter 5311 DDR Mark, was insgesamt einer Summe von 14 572 600 DDR-Mark entsprach: Vgl. AAN, KC PZPR, Wydział Sekretariat Komisji Międzynarodowej Nr. LXXVII-55, Sprawozdanie z zatrudnienia polskich pracowników w przedsiębiorstwach NRD w 1988

2.2. Polnische Vertragsarbeiter in Leipzig   103

von Vertragsarbeitern handfeste ökonomische Interessen seitens beider ­Staaten zu Grunde lagen, wurden die Maßnahmen immer wieder mit den Schlagwörtern von Völkerfreundschaft und proletarischem Internationalis­ mus ideologisch erklärt.33 Zwischenstaatliche Abkommen, die die rechtliche Stellung im Betrieb, die Unterbringung und Sozialleistungen regelten, steckten den Rahmen der Kon­ taktmöglichkeiten ab.34 Die Eingliederung polnischer Vertragsarbeiter wurde mit Blick auf wirtschaftliche Ziele gefördert und funktionierte am Arbeits­ platz gut, wenn auch die Pausen häufig getrennt verbracht wurden.35 Die ­Integration in den Lebensalltag der DDR beschränkte sich hingegen in vielen Betrieben auf ritualisierte Initiativen, die vor allem sozialistische ostdeutschvolkspolnische Feiertage, Gedenkveranstaltungen und Sportwettkämpfe um­ fassten.36 In Betrieb und Wohnumfeld herrschte ein erhebliches Maß an ­sozialer Kontrolle, zudem griffen auch gegenüber polnischen Vertragsar­ beitern die Mechanismen institutioneller Überwachung durch die DDR-­ Organe. In erster Linie interessierte sich die Staatssicherheit für die polnischen Bür­ ger in den Betrieben der DDR und legte einen Fundus an Maßnahmekatalo­ gen und Informationen an. Daneben waren auch SED und PVAP, der FDGB und andere Organisationen immer bestrebt, die Kontrolle über das Gesche­ hen im Alltag auszuüben. So fand das Arbeiten und Leben der Polen in der DDR unter einer Glocke sozialer Reglementierungen statt und war strikt in vorgefertigte Strukturen eingebunden. Private und alltägliche Kontakte zwi­ schen polnischen Vertragsarbeitern und Deutschen kamen deshalb innerhalb

roku, Berlin, marzec 1989 rok, załącznik 3, Bl. 80/81. Die Verdienstmöglichkeiten steiger­ ten sich demnach im Laufe Zeit. Anfang der siebziger Jahre berechnete die polnische Seite pro Arbeiter im Ausland (DDR und ČSSR) noch 1450 Mark: Vgl. Archiwum ­Państwowe w Kielcach, Komitet Wojewódzki PZPR w  Kielcach, Wydział Ekonomiczny Nr. 2923, Informacja w  sprawie zatrudnienia pracowników polskich w zakładach pracy CSRS i NRD, czerwiec 1973 (Ministerstwo Pracy, Płac i Spraw Socjalnych), Bl. 128. 33 Vgl. Röhr: Hoffnung, S. 200. 34 Vgl. Rita Röhr: Ideologie, Planwirtschaft und Akzeptanz. Die Beschäftigung polnischer Arbeitskräfte in Betrieben des Bezirkes Frankfurt/Oder, in: Jan C. Behrends/Thomas Lindenberger/Patrice G. Poutrus (Hrsg.): Fremde und Fremd-Sein in der DDR. Zu histo­ rischen Ursachen der Fremdenfeindlichkeit in Ostdeutschland. Berlin 2003, S. 284. 35 Vgl. Röhr: Hoffnung, S. 133. 36 Vgl. u. a. SächsStA, StA-L, 20937 VEB Buntgarnwerke Leipzig Nr. 88, Betr.: Einsatz polni­ scher Werktätiger im VEB Buntgarnwerke Leipzig, Leipzig, 7. 11. 1972, S. 6 und 20875 VEB Metalleichtbaukombinat Nr. 7486 (Karton 2/257), Plan zur politischen, kulturellen und sportlichen Betätigung und zur Bildung der polnischen Werktätigen im VEB Metal­ leichtbaukombinat – Werk Leipzig, Leipzig, 20. 2. 1979, S. 1.

104   2. Akteure und Kontakträume wie außerhalb der Betriebe in besonderen Konstellationen zu Stande. Dies führte zwangsläufig zu empfindlichen Beziehungen im Alltag. Inwiefern sich unter den Bedingungen des Arbeitsalltags in DDR-Betrieben und der Unterbringung in zumeist rein polnischen Wohnunterkünften Deut­ sche und Polen wirklich näher kamen, soll durch die Analyse alltagsbezoge­ ner Quellen beschrieben werden. Ein grundsätzliches Dilemma solcher ­Dokumente ist sicherlich, dass sie eher Probleme als reibungsloses deutsch-­ polnisches Zusammenarbeiten und -leben aufgriffen. Manche positive Schil­ derung ist zudem offen oder verdeckt propagandistisch. Das Hinterfragen und die Gewichtung der Quellen sind daher besonders wichtig. In einem ersten Abschnitt geht es darum, die Rahmenbedingungen polni­ scher Vertragsarbeit anhand soziologischer Faktoren und mehr oder weniger in der gesamten DDR verbreiteter Grundmuster nachzuzeichnen. Der zweite Abschnitt widmet sich dem Vertragsarbeiteralltag in Leipzig. Er greift die ­allgemeinen Strukturelemente teils auf, teils gliedert er die verschiedenen ­Bereiche des Alltags polnischer Vertragsarbeiter thematisch. Politische, gesell­ schaftliche und soziologische Einflussfaktoren bilden die Grundlage des Ver­ tragsarbeiteralltags. Berücksichtigt wird die Situation am Arbeitsplatz wie am Wohnort und in der Freizeit. Ein Augenmerk liegt zudem auf Unterschieden zwischen männlichen und weiblichen Vertragsarbeitern. Es sollen sowohl konkrete Alltagsbewältigung und -probleme der Arbeiter in Leipzig erfasst als auch diese Alltagssituationen mit allgemeinen Tendenzen polnischer Ver­ tragsarbeit in der DDR verknüpft werden.

2.2.1. Soziologische Faktoren und Rahmenbedingungen Zusammensetzung der Vertragsarbeiter

Die Arbeits- und Lebensbedingungen polnischer Vertragsarbeiter bestimm­ ten nicht nur den Alltag, sondern auch den Kontakt von Deutschen und Polen am Arbeitsplatz und in der Freizeit. Eine ganze Reihe von Indizien legt nahe, dass die Entsendung polnischer Arbeiter in die DDR spezifische Probleme mit sich brachte. Soziologische Faktoren wie Alter, Bildung und Herkunft ­sowie die Motive der Vertragsarbeiter ergaben ein Gemisch, das den ideolo­ gischen Vorgaben weitestgehend widersprach. In der DDR zu arbeiten, war häufig auch auf Seiten der Arbeiter eine Kosten-Nutzen-Rechnung, die aller­ dings derjenigen der sozialistischen Planwirtschaften nicht entsprach. Die Arbeiter waren in der Regel jung und blieben nur für eine relativ kurze Zeit in der DDR. 1976 waren fast 20 Prozent zwischen 18 und 20 Jahren alt, der Großteil von 56,5 Prozent war zwischen 21 und 25 Jahren alt. Neben einer

2.2. Polnische Vertragsarbeiter in Leipzig   105

kleineren Gruppe bis 40 Jahren waren nur 3,4 Prozent über 40 Jahre alt.37 1988 lag das Durchschnittsalter bei 29,7 Jahren, die Relationen hatten sich et­ was verschoben: Die jüngste Gruppe von 18 bis 20 Jahren umfasste nur noch acht Prozent, die größte Gruppe mit 34 Prozent blieben die 21 bis 25-jährigen; 21,3 Prozent umfassten die 26–30 und 25,6 Prozent die 31 bis 40-jährigen. Die Gruppen waren insgesamt älter, die 41 bis 50-jährigen machten 8,4 Prozent aus und die über 50-jährigen stellten noch 2,7 Prozent.38 In der DDR arbeite­ ten also im Wesentlichen familiär noch ungebundene, mobile, risikofreudige Polen. Das geringe Alter der polnischen Vertragsarbeiter brachte, wie weiter unten gezeigt werden kann, spezifische Probleme mit sich. Der Anteil von Frauen unter den Vertragsarbeitern war 1976 mit ungefähr einem Drittel angegeben39; 1988 stellten Frauen bereits mehr als die Hälfte der Arbeiter40, was ebenfalls spezifische Gründe und Folgen hatte. Die Rekru­ tierung von Frauen sollte wegen deren hoher Beschäftigungslosigkeit in Volks­ polen gefördert werden41, das Überangebot weiblicher Arbeitskraft war so zum Beispiel in der Wojewodschaft Białystok ein Problem.42 Aus der wollund baumwollverarbeitenden Industrie wurden junge Arbeiterinnen in die DDR geworben43, sie kamen unter anderem im VEB Buntgarnwerke in Leip­ zig zum Einsatz.44 37 Vgl.

AAN, KC PZPR, Wydział Zagraniczny Nr. 931 (811/8), Sprawozdanie o zatrud­nieniu polskich pracowników w przedsiębiorstwach NRD w  1976 roku, Berlin, marzec 1977r., Dokument 55, załącznik 3. 38 Vgl. ebd., Wydział Sekretariat Komisji Międzynarodowej Nr. LXXVII-55, Sprawozdanie z  zatrudnienia polskich pracowników w  przedsiębiorstwach NRD w  1988 roku, Berlin, marzec 1989 rok, załącznik 3, Bl. 80/81. 39 Vgl. ebd. Wydział Zagraniczny Nr. 931 (811/8), Sprawozdanie o  zatrudnieniu polskich pracowników w  przedsiębiorstwach NRD w  1976 roku, Berlin, marzec 1977r., Doku­ ment 55, S. 1. 40 Vgl. ebd., Wydział Sekretariat Komisji Międzynarodowej Nr. LXXVII-55, Sprawozdanie z  zatrudnienia polskich pracowników w  przedsiębiorstwach NRD w  1988 roku, Berlin, marzec 1989 rok, Bl. 69. 41 Vgl. AIPN, IPN Wr Nr. 0290/387, Załącznik, Wytyczne w sprawach związanych z organi­ zacją rekrutacji pracowników polskich w przedsiębiorstwach NRD i CSRS, Ministerstwo Pracy, Płac i Spraw socjalnych, Warszawa, 13. 12. 1972, Bl. 3. 42 Vgl. Archiwum Państwowe w Białymstoku, Urząd Wojewódzki w Białymstoku (Wydział zatrudnienia i  spraw socjalnych) Nr. 333, Analiza z zatrudnienia na terenie powiatu ­monieckiego w latach 1971, 1972, 1973., [undatiert], Bl. 12/13. 43 Vgl. ebd., Program polityki zatrudnienia powiatu zambrowskiego na rok 1975 w oparciu o plan społeczno/gospodarczy i bilans siły roboczej, [undatiert], Bl. 165. 44 Ein indirekter Beleg findet sich darin, dass das Präsidium des Nationalrates der Woje­ wodschaft Białystok vom VEB Buntgarnwerke eine Liste der dort beschäftigten bzw. nach Volkspolen zurückgekehrten Vertragsarbeiterinnen anforderte. Vgl. SächsStA, StA-L, 20937 VEB Buntgarnwerke Leipzig, Nr. 90, Schreiben des Prezydium Wojewódzkiej Rady Narodowej, Wydział Zatrudnienia w Białymstoku, 27. 9. 1973, [ohne Titel].

106   2. Akteure und Kontakträume Berücksichtigung fand in den Überlegungen zur Entsendung von Polen in die DDR auch, dass man sich eine Qualifizierung der Arbeitskräfte erhoffte.45 Im Abkommen von 1971 war zwar formuliert worden, dass die „Mehrzahl“ der versendeten Arbeitskräfte über eine abgeschlossene Berufsausbildung ver­ fügen und die Beschäftigung im Produktionsprozess erfolgen sollte.46 Der Ausbildungsgrad der polnischen Arbeiter war in der Realität jedoch eher ge­ ring, 1982 besaß ein Viertel der Entsendeten keine Berufsausbildung, und 22 Prozent waren Berufsanfänger.47 Die Tätigkeitsfelder lagen trotzdem zu über 90 Prozent in der Produktion, jeweils ca. fünf Prozent waren im Transport­ wesen oder nur als Hilfsarbeiter angestellt.48 Die polnische Seite ließ sich als Gegenleistung für die Entsendung von Arbeitskräften eine Vergütung in De­ visen oder in Waren zusichern. Ein Vorzug war zudem, dass die Arbeitskräfte in der DDR qualifiziert und überschüssige (vor allem weibliche) Arbeitskräfte „abgeladen“ werden konnten.49 Als Herkunftsgebiete der Vertragsarbeiter kamen alle Wojewodschaften der Volksrepublik Polen in Frage. Verschiedene Faktoren legen jedoch nahe, dass Vertragsarbeiter in der DDR aus ländlichen Gebieten stammten; aus struktur­ schwachen Regionen, wo der Arbeitskräfteüberschuss am höchsten war. Ein Bericht – allerdings zu in der DDR beschäftigten polnischen Bauarbeitern – gab die Anzahl der aus dem Dorf stammenden Arbeiter mit immerhin 42 Prozent an (zwischen kleineren und größeren Städten wurde nicht weiter differenziert).50 In Henryk Sekulskis Roman „Przebitka“ kommen die in ­vieler Hinsicht wohl typischen Vertragsarbeiter deshalb nicht von ungefähr aus der Nähe von Siedlce nahe der damaligen sowjetischen Grenze. Die Funde zu Röhr: Hoffnung, S. 203. In Leipziger Akten finden sich so zum Beispiel Ausbildungs­ zeugnisse polnischer Lehrlinge: SächsStA, StA-L, 20741 VEB Elektroschaltgeräte Grimma Nr. 472. 46 Vgl. Röhr: Hoffnung, S. 223/24, Dokumentenanhang. 47 Vgl. AAN, KC PZPR, Wydział Zagraniczny Nr. 960 (893/6), Sprawozdanie z zatrudnienia polskich pracowników w przedsiębiorstwach NRD w 1982 roku, Berlin, kwiecień 1983r., Dokument 33, S. 3/4. 48 Vgl. ebd., załącznik 3. 1986 lag die Tätigkeit zu 95 Prozent in der Produktion: Vgl. AAN, KC PZPR, Wydział Zagraniczny Nr. 138 (973/ 136), Raport z Przeglądu polskiego zatrud­ nienia na terenie NRD w  ramach Umowy Rządowej i  Porozumienia o  Ruchu Granicz­ nym za 1986 rok, Berlin, styczeń 1987r., Bl. 67. 49 Vgl. Archiwum Państwowe w Kielcach, Komitet Wojewódzki PZPR w Kielcach, Wydział Ekonomiczny Nr. 2923, Informacja w sprawie zatrudnienia pracowników polskich w za­ kładach pracy CSRS i NRD, czerwiec 1973 (Ministerstwo Pracy, Płac i Spraw Socjalnych), Bl. 126 und Bl. 128. 50 Vgl. AAN, KC PZPR, Wydział Nauki i Oświaty Nr. LVIII/546, Sprawozdanie z badań nad warunkami życia i pracy polskich załóg budujących zakłady przemysłowe w NRD., unter Dokument 1, Warszsawa, 4. 12. 1972, S. 2. 45 Vgl.

2.2. Polnische Vertragsarbeiter in Leipzig   107

Leipzig zeigen, dass die Vertragsarbeiter zwar aus Wojewodschaften mit teils großen Städten wie Kielce oder Białystok stammten, im Vergleich zu den Ballungs­zentren Volkspolens waren diese Herkunftsorte jedoch provinziell.51 Wie auch Sekulski nahe legt, waren viele der Arbeiter jung und unerfahren. Sie fuhren möglicherweise das erste Mal überhaupt ins Ausland, als sie in die DDR aufbrachen. In den siebziger Jahren war die Aufenthaltsdauer der polnischen Arbeiter im Durchschnitt noch kürzer als in den späten achtziger Jahren; erst mit der Dauer scheint also auch eine gewisse Konstanz erreicht worden zu sein. 1976 blieben 41 Prozent der Polen nur ein Jahr, weitere 31,2 Prozent zwei Jahre, 16,4 Prozent und 5,7 Prozent drei bzw. vier Jahre und nur 5,7 Prozent länger als vier Jahre in der DDR.52 Ende der Achtziger arbeiteten 34,9 Prozent bis zu einem Jahr, 20,5 Prozent bis zu zwei Jahren, 18,9 Prozent bis zu drei Jahren, 13 Prozent bis zu vier Jahren und 12,7 Prozent über vier Jahre in der DDR.53 In der Phase des Kriegszustandes in Volkspolen waren 55,7 Prozent der Arbeiter nur ein Jahr in der DDR und nur 1,7 Prozent über vier Jahre54; dies könnte auf politisches Kalkül von schnellem Austausch und geringer Verwurzelung der Polen in der DDR hindeuten. Insgesamt wird offensichtlich, dass der Ar­ beitsaufenthalt zwar durchaus einige Jahre währen konnte, aber keinesfalls als Daueraufenthalt geplant war; im Abkommen war allgemein von zwei bis drei Jahren die Rede gewesen.55

Motive der Vertragsarbeiter Bei der Konfrontation der Statistiken mit weiteren Dokumenten wird klar, dass neben staatlichen Vorgaben persönliche Motive und die familiäre Situa­ tion der Vertragsarbeiter den Ausschlag für einen tendenziell kurzen Arbeits­ aufenthalt gaben. Vertragsarbeiter mit Familie wollten nicht länger als nötig in der DDR leben, die Trennung von der Familie stellte für viele eine Belastung 51 Belegt

sind im Einzelnen die Wojewodschaften Kielce, Radom, Białystok, Jelenia Góra, Lublin und Siedlce. Das hieß aber noch nicht, dass die in Leipzig arbeitenden Polen aus diesen Städten stammen mussten. 52 Vgl. AAN, KC PZPR, Wydział Zagraniczny Nr. 931 (811/8), Sprawozdanie o zatrudnie­ niu polskich pracowników w  przedsiębiorstwach NRD w  1976 roku, Berlin, marzec 1977r., Dokument 55, załącznik 3. 53 Vgl. ebd., Wydział Sekretariat Komisji Międzynarodowej Nr. LXXVII-55, Sprawozdanie z  zatrudnienia polskich pracowników w  przedsiębiorstwach NRD w  1988 roku, Berlin, marzec 1989 rok, załącznik 3, Bl. 80/81. 54 Vgl. ebd., Wydział Zagraniczny Nr. 960 (893/6), Sprawozdanie z  zatrudnienia polskich pracowników w  przedsiębiorstwach NRD w  1982 roku, Berlin, kwiecień 1983r., Doku­ ment 33, załącznik 3. 55 Vgl. Röhr: Hoffnung, S. 223, Dokumentenanhang.

108   2. Akteure und Kontakträume dar.56 Es lockten jedoch der höhere Verdienst und die Tatsache, dass der Lohn in DDR-Mark ausgezahlt wurde. Die Arbeit in der DDR galt als willkommene Geldquelle für nötige Investitionen; die Pläne waren aber wohl zumeist kurz­ fristiger Art. So konnte man in einer höher bewerteten Währung auf Luxus­ güter wie Autos, Waschmaschinen, Fernseher oder Hausbau sparen bzw. in der DDR selbst Einkäufe tätigen.57 Besonders die wirtschaftliche Mangelsitu­ ation in Volkspolen machte in den achtziger Jahren die DDR als Einkaufsland für Vertragsarbeiter attraktiv. Sie kauften für ihren Verdienst in der DDR ein und erleichterten somit die Versorgung der Verwandten in Volkspolen oder erreichten durch den Weiterverkauf aus der DDR mitgebrachter Waren einen lukrativen Nebenverdienst im Heimatland.58 1984 schätzte man in der PVAP ein, dass 70 bis 80 Prozent der Verdienste polnischer Arbeiter, die ungefähr 100 Millionen Mark umfassten, in der DDR ausgegeben wurden.59 Polnische Vertragsarbeiter identifizierten sich insgesamt nur oberflächlich mit ihrem DDR-Betrieb, ihre Ziele waren zudem über die wirtschaftlichen Vorteile hinaus eigennützig.60 Für diese These gibt es viele aufschlussreiche Indizien und Belege in Literatur und Quellen. Rita Röhr hat gezeigt, dass ­polnische Schulabgänger ihre Entlassung manchmal schon vor der Ankunft in der DDR einkalkulierten; sie sahen das Arbeitsverhältnis nur als Überbrü­ ckung zu Studium oder Militärdienst.61 Sekulski beschreibt die Entscheidung seiner Protagonisten, in der DDR zu arbeiten, zwar durchaus mit materiellen Vorteilen, aber ebenso deutlich mit der politischen Desillusionierung der jungen Generation nach der Unterdrü­ ckung der „Solidarność“.62 Als ehemalige Mitglieder oder Sympathisanten wollten sie durch den Aufenthalt in Leipzig der Hoffnungslosigkeit einer pro­ vinziellen und persönlichen Öde entkommen. Dabei war die DDR hinter der ‚Flucht‘ nach Westeuropa nur die zweite Wahl – übrig geblieben für die Pro­ vinzler. Für Sekulskis Helden war die Ausreise ohnehin nur über gute Bezie­ 56 Vgl.

u. a. AAN, KC PZPR, Wydział Nauki i Oświaty Nr. LVIII/546, Sprawozdanie z badań nad warunkami życia i pracy polskich załóg budujących zakłady przemysłowe w NRD., unter Dokument 1, Warszsawa, 4. 12. 1972, S. 4. 57 Vgl. Röhr: Hoffnung, S. 138. 58 Vgl. ebd., S. 175/76. Plastisch beschreibt Sekulski die Bemühungen und die angebliche Meisterschaft polnischer Vertragsarbeiter, aus dem Schmuggel Verdienstmöglichkeiten zu erschließen: Vgl. Sekulski: Przebitka, S. 136/37. 59 Vgl. AAN, KC PZPR, Wydział Zagraniczny Nr. 951 (943/9), Sprawozdanie z zatrudnienia polskich pracowników w przedsiębiorstwach NRD w 1984 roku., Berlin, kwiecień 1984r., Dokument 42, S. 12. 60 Vgl. Röhr: Ideologie, S. 300/01. 61 Vgl. Röhr: Hoffnung, S. 138. 62 Vgl. Sekulski: Przebitka, S. 128.

2.2. Polnische Vertragsarbeiter in Leipzig   109

hungen und in Kombination mit einer demonstrativen politischen Kehrtwen­ de nach der „Solidarność“-Zeit möglich.63 Auch die polnische Vertragsarbei­ terin Paffka aus Peter Löpelts Roman „Die Rosen heb’ für später auf “ möchte auf keinen Fall in der elterlichen Landwirtschaft arbeiten und sucht den Reiz der ‚weiten‘ Welt.64 Hier griffen ähnliche Mechanismen des Bedarfs an Aus­ land wie bei jungen DDR-Bürgern. Die staatlich gebotenen Möglichkeiten wurden individuell genutzt. Stichhaltige Anhaltspunkte für eine eigen-sinnige Nutzung des Arbeitsauf­ enthaltes in der DDR registrierten die polnischen Behörden schon Anfang der siebziger Jahre. Der Weg in die Fremde war zwar in erster Linie dem Arbeits­ mangel in der Volksrepublik und den besseren Verdienstmöglichkeiten in der DDR geschuldet. In die Entscheidung floss aber weiterhin ein, dass man den polnischen Wehrdienst umgehen oder der Kontrolle der Eltern und eines als einengend empfundenen Umfeldes entgehen konnte.65 Auch wenn der Anteil von Frauen unter Vertragsarbeitern im Laufe stetig stieg, waren junge und ‚abenteuerlustige‘ Männer eine – zumindest was den Blick auf obige Phäno­ mene anging – dominante Gruppierung. An solchen neuralgischen Stellen zeigt sich deutlich, dass das ursprüngliche Anliegen der an Arbeitskräfteman­ gel oder -überschuss, geringer Wirtschaftskraft und Ineffizienz leidenden Planwirtschaft in DDR und Volkspolen in vielerlei Hinsicht schon von früh an unterlaufen wurde. Zumeist junge Arbeiter waren nicht so sehr an der ­Behebung wirtschaftlicher Probleme der Staaten interessiert, sondern nutzten die Vertragsarbeit als Ausweg aus einer individuellen Problemlage. Wirt­ schaftliche, politische und in mancher Hinsicht subjektive Probleme wie Aus­ bildung und Adoleszenz in einer kontrollierten Umwelt gaben den Ausschlag, den Schritt in die DDR zu unternehmen. Bestätigt wird diese Einschätzung durch Parteidokumente der PVAP, die wiederholt die Auswahlschwierigkeiten und die Probleme bei der Führung polnischer Arbeiter in der DDR aufgriffen. Die Auswahlkriterien standen in der Kritik, weil nicht vermieden werden konnte, dass immer wieder Probleme mit der Arbeitsdisziplin und eigennützige Motivlagen vorkamen.66 Die Sicht 63 Vgl.

ebd., S. 125–28. Auch Röhr betont, wie politische Opportunität und Beziehungen der Kandidaten ihre Auswahl zur Arbeit in der DDR begünstigten. Vgl. Röhr: Hoffnung, S. 171. 64 Vgl. Löpelt: Rosen, S. 53, 87/87, 134 und 154. 65 Vgl. Archiwum Państwowe w Kielcach, Komitet Wojewódzki PZPR w Kielcach, Wydział Ekonomiczny Nr. 2923, Informacja w sprawie zatrudnienia pracowników polskich w za­ kładach pracy CSRS i NRD, czerwiec 1973 (Ministerstwo Pracy, Płac i Spraw Socjalnych), Bl. 131. 66 Vgl. z. B. ebd.

110   2. Akteure und Kontakträume der Staatsorgane erhielt aus unerwarteter Richtung Unterstützung: Die polni­ schen katholischen Priester in der DDR befanden, dass die jungen Arbeiter der Mangel an Autoritäten wie Kirche, Eltern und Familie und die Anpassung an die neuen Gegebenheiten aus dem Gleichgewicht bringe: Solche Einstellungen und Verhaltensweisen führen meistens zum moralischen Ruin, was man unter den Bewohnern der hiesigen Arbeiterhotels sehen kann. Außerhalb der Aufsicht der Eltern lebt es sich zwanglos, d. h., dass man nicht zur Kirche gehen muss, weil die ande­ ren auch nicht gehen. Mädchen nehmen sich Burschen mit aufs Zimmer und andersherum, weil ‚eben alle das so machen, und außerdem sehen Mama und Papa das ja nicht‘. Das ist verderblich, besonders für junge Leute, die kein eigenes ‚Rückgrat‘ besitzen. Sie verwerfen die ‚alten Werte‘, haben aber keine, die sie an deren Stelle setzen könnten. Es bleibt für diese Leute nur Alkohol und Sex.67

Wie sich noch zeigen wird sind diese katholischen Moralvorstellungen den kommunistischen frappierend ähnlich.

Einbindung und Kontrolle der Vertragsarbeiter in der DDR Volkspolen wie der DDR war daran gelegen, staatsfremde Motive und EigenSinn wenn nicht auszuschalten, so doch zu registrieren und zu disziplinieren. Institutionen und Betriebe griffen fortwährend in das Leben der Vertragsar­ beiter ein. Die Auslandsabteilungen der PVAP setzte sich die Parteiarbeit und damit weitgehende politische Kontrolle der polnischen Arbeiter und ihrer Gruppenleiter zum Ziel.68 Die Einbindung polnischer Vertragsarbeiter in Par­ teiarbeit oder zumindest die Anbindung an staatssozialistische Institutionen per Lebens- und Freizeitgestaltung war ein fester Programmpunkt der Par­ tei.69 Besonderes Augenmerk bei der Führung polnischer Arbeiter und der ­Bereitstellung zuverlässiger Gruppenleiter lassen sich in der Phase nach „Solidarność“ vermuten. Die Abteilungen der PVAP in der DDR gerieten in dieser Phase unter politischen Druck und forderten deshalb eine noch offen­ sivere und effektivere Einflussnahme auf die polnischen Gruppen.70 Im Wider­spruch dazu stand, dass in der polnischen Partei oder in Massenorgani­ 67 AIPN,

IPN BU Nr. 0639/148, Doniesienie, Sprawozdanie z  konferencji polskich księży pracujących w  N.R.D. Konferencja odbyła się w  Heiligenstadt w  klasztorze Ojców Re­ demptorystów w dniach 12/13. 4. 1978r., 17. 4. 1978, Bl. 11. 68 Vgl. AAN, KC PZPR Wydział Zagraniczny Nr. 796 (735/10), Dokument 6: Protokół z po­ siedzenia Egzekutywy KC PZPR w dn. 28.III. 1972r., Berlin, 10. 4. 1972, POP PZPR w za­ kładach Przemysłowych NRD/ uwagi w sprawie zakresu i form pracy/, Berlin, kwiecień 1972, S. 1/2. 69 Vgl. ebd., Wydział Zagraniczny Nr. 931 (811/8), Protokół posiedzenia Egzekutywy Komi­ tetu PZPR w NRD w dniu 25 października 1977r., [undatiert], Dokument 19, S. 2. 70 Vgl. ebd., Wydział Zagraniczny Nr. 960 (893/6), Protokół z posiedzenia egzykutywy Ko­ mitetu PZPR w NRD w dniu 18. 02. 1982r., Berlin, 11. 5. 1982, Dokument 9, S. 1.

2.2. Polnische Vertragsarbeiter in Leipzig   111

sationen nur wenige Vertragsarbeiter organisiert waren; 1988 machten die Parteimitglieder 6,8 Prozent und Mitglieder der sozialistischen Jugendorgani­ sation (ZSMP) 23,8 Prozent der Entsendeten aus. Immerhin 75,5 Prozent ­waren im FDGB organisiert71, zur formalen Abwicklung der Gewerkschafts­ zugehörigkeit polnischer Vertragsarbeiter in der DDR gab es zwischengewerk­ schaftliche Abkommen.72 Dies war auf einen gewissen Druck der Betriebsund Gewerkschaftsleitungen in der DDR zurückzuführen, die so gedachten, die polnischen Beschäftigten effizienter zu kontrollieren.73 Das polnische Au­ ßenministerium wollte über Vorkommnisse mit Polen – egal ob als Verursa­ cher oder als Geschädigte – innerhalb von 48 Stunden unterrichtet werden.74 Dies setzte sich auf lokaler Ebene fort: Die Parteileitung des VEB Buntgarn­ werke, wo polnische Vertragsarbeiterinnen angestellt waren, war aufgefordert, dem Ersten Sekretär der SED-Stadtbezirksleitung in Leipzigs Südwesten be­ reits 1973 einmal monatlich über „besondere Erscheinungen, die im Arbeits­ prozeß, im persönlichen Leben und im Wohnheim auftreten“ Bericht zu er­ statten. Berücksichtigt werden sollten solche Probleme, die „politisch-ideolo­ gische Auswirkungen herbeiführen könnten“75; dies konnte praktisch alles oder nichts bedeuten. Hinzu kam eine weit reichende Kontrolle durch die Staatssicherheit der DDR, obwohl ursprünglich der polnische Geheimdienst – wenn auch in Zusammenarbeit mit dem MfS – die eigenen Landsleute über­ wachen sollte.76 Polnische Vertragsarbeiter unterlagen so der Aufsicht aus Volkspolen genauso wie denen des Betriebes und der Institutionen der DDR. Wie über viele andere deutsch-polnische Lebensbereiche, versuchte die Staatssicherheit auch über die polnischen Vertragsarbeiter ihr Netz von Si­ cherheitsmaßnahmen auszuspannen. Das Bewusstsein für diese Tatsache war sehr wahrscheinlich schon zeitgenössisch und den Vertragsarbeitern bekannt. In einem – zugegeben fiktiven Dialog Sekulskis aus „Przebitka“ – spricht der Ich-Erzähler mit einem Kollegen offen darüber, dass die Stasi ihr Verhalten beobachtet:

71 Vgl.

AAN, KC PZPR, Wydział Sekretariat Komisji Międzynarodowej Nr. LXXVII-55, Sprawozdanie z zatrudnienia polskich pracowników w przedsiębiorstwach NRD w 1988 roku, Berlin, marzec 1989 rok, załącznik 3, Bl. 80/81. 72 Vgl. Röhr: Hoffnung, S. 246–260, Dokumentenanhang. 73 Vgl. ebd., S. 134. 74 SächsStA, StA-L, 21123 SED-BLL Nr. IV/B/2/6/453, Information über den Einsatz polni­ scher Werktätiger in sozialistischen Betrieben des Bezirkes Leipzig, Leipzig, 7. 6. 1971, S. 3. 75 Vgl. ebd., 20937 VEB Buntgarnwerke Leipzig Nr. 90, Betr.: Polnische Werktätige, Leipzig, 26. 4. 1973. 76 Vgl. Röhr: Hoffnung, S. 171/72.

112   2. Akteure und Kontakträume Die Stasi sitzt mir sowieso auf den Fersen. – Die Stasi – sage ich – überwacht jeden, am wichtigsten ist, dass sie nichts Anstößiges finden. Über uns haben sie auch Ausforschungen angestellt, die Nachbarin hat es uns gesteckt, und jetzt haben wir mit ihnen Ruhe.77

Völlig offen berichtete auch der zweite Vorsitzende der Betriebsgewerkschafts­ leitung im Leipziger Kirow-Werk, wo ebenfalls Polen beschäftigt waren, dass ein angeblich allgemein bekannter Stasioffizier die Angelegenheiten im Be­ trieb kontrolliert habe.78 Ursprünglich wurden Arbeiter aus unterschiedlichen Herkunftsländern von der Staatssicherheit überwacht und in speziellen Aufgabestellungen bear­ beitet.79 Die Aufmerksamkeit Polen gegenüber erhöhte sich natürlich schlag­ artig 1980/81. In der Folge wurden deren Betriebs- und Lebensalltag stärker kontrolliert und gewissenhaft Informationen gesammelt. So landeten zum Beispiel zahlreiche Einschätzungen von Polen, die spontan oder auf Nach­ frage zur Situation im Heimatland Auskunft gaben, in den Sammlungen der Staatssicherheit.80 Dies Vorgehen unterschied sich nicht von der schon oben geschilderten Akribie und dem damit verbundenen Generalverdacht gegen­ über polnischen Einflüssen. Nach dem Entstehen von „Solidarność“ wurden DDR-weit umfangreiche Dossiers verfasst, in denen wesentliche Daten zusammengestellt und insbe­ sondere das Verhalten und die Reaktionen der polnischen Arbeiter erfasst wurden.81 Demnach verhielten sich die Polen bis auf einige eher vorsichtige Sympathiebekundungen ruhig.82 Gleiches galt für Leipzig: In mehreren Be­ richten vom Sommer und Herbst 1980 wurde polnischen Arbeitern ruhiges Verhalten attestiert.83 Die eigene Sicherheit und die Furcht, den gut bezahlten 77 Sekulski:

Przebitka, S. 288. Interview mit Herrn L. Herr L. beteuerte zwar sofort dass der Verbindungsmann zum MfS nichts mit polnischen Vertragsarbeitern zu tun gehabt habe, trotzdem scheint er einen Zusammenhang zwischen Staatssicherheit und Polen assoziiert zu haben. 79 Vgl. u. a. BStU, MfS, HA II Nr. 29931, Aufgabenstellung zur Gewährleistung von Sicher­ heit, Ordnung und Geheimnisschutz bei dem Einsatz ausländischer Werktätiger in Kom­ binaten und Betrieben der DDR, Berlin [undatiert], Bl. 27–37. 80 Vgl. u. a. ebd., BV Leipzig, Abt. II Nr. 605/02, Information über die Meinung des polni­ schen Dolmetschers [geschwärzt], Betreuer der 26 polnischen Werktätigen im VEB Sili­ katwerk Brandis, Betriebsabteilung  14, Bennewitz, zur gegenwärtigen Lage in der VR Polen, Wurzen, 9. 4. 1981, Bl. 64/65. 81 Vgl. ebd., MfS, ZAIG Nr. 5448, Hinweise über einige Probleme im Zusammenhang mit dem Aufenthalt polnischer Werktätiger aus beruflichen und kommerziellen Gründen in der DDR, von Werktätigen aus gleichen Gründen in der VR Polen sowie dem Austausch von Studenten beider Staaten, [undatiert], Bl. 2–22. 82 Vgl. ebd., Bl. 3. 83 Vgl. u. a. ebd., BV Leipzig, AKG Nr. 246/02, Information über weitere Reaktionen im Zu­ sammenhang mit dem Arbeitstreffen zwischen dem Generalsekretär des ZK der SED 78 Vgl.

2.2. Polnische Vertragsarbeiter in Leipzig   113

Arbeitsplatz in der DDR zu verlieren, bewogen wohl zu dieser Vorsicht. In den folgenden Jahren nach „Solidarność“ standen polnische Werktätige im Blickpunkt genauerer Erhebungen zu ihren Stimmungen und Meinungen. In der Tendenz änderte sich aber am ruhigen Verhalten und der Suche nach ­stabilen Arbeitsverhältnissen nichts.84 Um Eventualitäten vorzubeugen, oblag die Rückkehr der polnischen Arbei­ ter aus den Weihnachtsferien nach der Ausrufung des Kriegszustandes 1981 erhöhter Aufmerksamkeit. „Die über polnische Betreuer, staatliche Leiter so­ wie IM/GMS eingeleiteten Sicherungsmaßnahmen der zuständigen Dienst­ einheiten sind stabil und gewährleisten eine durchgängige operative Kontrol­ le“, lautete das für die Stasi beruhigende Fazit.85 Dieser Bericht zeigt nicht nur, wie unmittelbar die Staatssicherheit reagierte, sondern auch, dass sie alle nur denkbaren Informationsquellen ausschöpfte. Im Ergebnis gab es jedoch keine Auffälligkeiten, es fehlten lediglich 5,5 Prozent der Arbeiter zum ersten Ar­ beitstag, was der langfristigen Tendenz von 4–5 Prozent fehlenden Arbeitern entsprach. Von „politisch-ideologischen“ Auffälligkeiten wurde nicht berich­ tet.86 Die Leipziger Staatssicherheit unterwanderte die polnischen Vertragsar­ beiter, wie sich an einigen Quellen kursorisch zeigen lässt, systematisch. In dem gezielt für polnische Angelegenheiten gebildeten Referat 8 hieß es 1987: Weiterhin sind regelmäßig Absprachen mit der Diensteinheit XVIII zur Problematik polni­ scher Arbeitskräfte, die sich befristet bzw. ständig in der DDR aufhalten, zu führen mit dem Ziel, Hinweise für Kandidaten zu erarbeiten, die für eine operative Nutzbarkeit geeignet sind bzw. operativ zu bearbeiten sind.87

Diese Formulierung lehrt vielerlei: Zunächst war die Überprüfung längst zur Gewohnheit geworden, vorausgesetzt war dabei, dass bei den polnischen Ar­ beitern eine ‚Problematik‘ vorlag. ‚Problembewusstes‘ Denken war der Stasi eingeimpft. Die Reihenfolge des Problems hatte sich jedoch – zumindest in der Formulierung – umgekehrt. Das Ziel, inoffizielle Mitarbeiter zu werben und so die geplanten Zahlen zu werbender inoffizieller Mitarbeiter zu errei­ chen, rückte noch vor die eigentliche Informationsgewinnung. Das heißt nicht, dass nicht auch ‚wertvolle‘ Informationen ans Tageslicht kamen. und Bundeskanzler Schmidt sowie zur Situation in der VR Polen, Leipzig, 20. 8. 1980, Bl. 17 und Information über weitere Resonanzen zum Arbeitstreffen am Werbellinsee so­ wie zur Lage in der VR Polen, Leipzig, 22. 8. 1980, Bl. 28. 84 Vgl. ebd., MfS, ZAIG Nr. 13096, Information zur Lage in der Volksrepublik Polen und zur Haltung polnischer Werktätiger in der DDR, Berlin, 12. 5. 1988, Bl. 1–6. 85 Vgl. ebd., HA II Nr. 27440, Wiederaufnahme der Tätigkeit der polnischen Arbeitskräfte in der DDR nach der Urlaubsperiode Weihnachten/ Neujahr, Berlin, 4. 1. 1982, Bl. 4. 86 Vgl. ebd. 87 Ebd., BV Leipzig, Abt. II Nr. 277, Jahresarbeitsplan des Referates  8 für 1987, Leipzig, 8. 1. 1987, Bl. 4.

114   2. Akteure und Kontakträume So stellte ein IM über den Umweg einer Dolmetscherin fest, dass ein in Leipzig beschäftigter Pole in einem Gespräch geäußert habe, Mitglied der „Solidarność“ zu sein und hauptamtlich für sie gearbeitet zu haben. Der Polen habe geprahlt, dass bei ihm versteckte „Solidarność“-Materialien bei Entde­ ckung für drei bis fünf Jahre Haft reichen würden. Eine „mittelbare operative Kontrolle seitens der KD [Kreisdienststelle] Oschatz“ sei gegeben versicherte der Berichtende hauptamtliche Mitarbeiter, so dass die Gefahr wohl gebannt werden konnte.88 Insgesamt ging von den polnischen Vertragsarbeitern keine politische Gefährdung aus. Eine „Solidarność“-Vergangenheit taugte vielleicht zum Renommieren, war aber im Betriebsalltag der DDR nicht dienlich und wurde zumeist wohl besser verschwiegen. Auffälliger waren polnische Arbeiter wegen ihrer Zollvergehen, wenn sie ihre Löhne in der DDR in begehrte Waren umsetzten und diese nach Hause transportierten, oder wenn sie zwecks Schleichhandels Waren aus der Volks­ republik in die DDR einschmuggeln wollten. Die Listen solcher Straftäter füll­ ten bei der Staatssicherheit sicherlich ganze Regale, entweder in Form über­ greifender Berichte89 oder als endlose Liste von Einzelfällen.90 Vor dem Hintergrund so weit reichender Beobachtungen ist es kein ­Wunder, dass zu Disziplinarverstößen und allgemein zu Auffälligkeiten unter polni­ schen Vertragsarbeitern umfangreiche Datensammlungen vorliegen. Die er­ höhte Aufmerksamkeit und auch Strenge gegenüber solchen Vorfällen ist zwar einerseits den Überwachungsritualen der DDR und Volkspolens zuzuschrei­ ben, andererseits ist die Häufigkeit und auch die Art der Disziplinarvergehen durchaus wörtlich zu nehmen und steht in direktem Zusammenhang mit den äußeren und inneren Faktoren der Vertragsarbeit. Arbeitsdisziplin und Fluktuation der Vertragsarbeiter bereiteten Betrieben wie staatlichen Institutionen und Parteien am häufigsten Schwierigkeiten. Vertragsarbeiter verlängerten bei Familienbesuchen manchmal mit Hilfe ärzt­ licher Atteste ihren Aufenthalt im Heimatland oder kehrten gestresst, unaus­ geruht und krank durch die lange Reise an den deutschen Arbeitsort zurück.91 Vielfach hingen die Heimfahrten sicherlich mit der Familiensituation und der Trennung von Lebenspartnern und Kindern oder dem Heimatland zusam­ men. Spätestens in den achtziger Jahren waren häufige und längere Fahrten 88 Vgl.

ebd. Nr. 145, Titel weitestgehend geschwärzt, Leipzig, 30. 12. 1982, Bl. 86. ebd., HA VI Nr. 4845/02, zu einigen Fragen der Zollabfertigung von polnischen Werktätigen, die auf der Grundlage des Regierungsabkommens über die zeitweilige Be­ schäftigung polnischer Werktätiger in Betrieben der DDR tätig sind, [undatiert], Bl. 164– 171. Zum polnischen Schleichhandel siehe Kapitel 4 dieser Arbeit. 90 Vgl. u. a. ebd., BV Leipzig, Abt. II Nr. 1059/02, Bl. 20, 128/29, 136–138 usw. 91 Vgl. Röhr: Hoffnung, S. 135. 89 Vgl.

2.2. Polnische Vertragsarbeiter in Leipzig   115

nach Volkspolen auch der Möglichkeit von Schmuggel und Schleichhandel in beide Richtungen geschuldet.92 1988 entfielen auf jeden Vertragsarbeiter 34 Fehltage, davon die Hälfte auf eigenmächtige Aufenthalte in Volkspolen.93 Bei den Buntgarnwerken in Leipzig wurde festgestellt, dass die Fehlschich­ ten polnischer Arbeiterinnen mit ein bis zwei Tagen pro Person höher lagen als bei deutschen: „Darüber hinaus ist bei Aufenthalten im Heimatland die genehmigte Urlaubsdauer bis zu 10 und mehr Tage überschritten worden. Die betreffenden polnischen Werktätigen nehmen den damit verbundenen Ver­ dienstausfall in Kauf.“94 Heimisch wurden die meisten Vertragsarbeiter in der DDR nicht, die Quellen zeigen, dass eine ständige Bindung nach Volkspolen bestand und die Arbeit in der DDR pragmatisch verstanden wurde. Verstöße gegen die Disziplin wurden von offizieller Seite nicht nur feinfüh­ lig registriert, sondern im Verhältnis zu ähnlichen Vergehen bei deutschen Angestellten streng bestraft, indem das Arbeitsverhältnis zum Teil fristlos ge­ kündigt wurde.95 Allerdings war dieses harte Vorgehen bereits in den zwi­ schenstaatlichen Verträgen geregelt worden; im Regierungsabkommen hieß es, dass der „Arbeitsvertrag vorfristig wegen grober Verletzung der Gesetze der DDR, der sozialistischen Arbeitsdisziplin oder der Normen des gesell­ schaftlichen Zusammenlebens“ gelöst werden könne.96 Trotzdem entsteht der Eindruck, dass sowohl die deutschen Betriebe weni­ ger durchgehen ließen, als auch von polnischer Seite auf gute Führung der Vertragsarbeiter gepocht wurde. Abteilungen der PVAP zeichneten die Verge­ hen auf und differenzierten die Entlassungsgründe. Teilweise waren die Zah­ len erstaunlich hoch. Anfang der siebziger Jahre wurde die Entlassungsrate im Durchschnitt – die Zahlen galten für die DDR und die ČSSR – mit 5,7 Pro­ zent beziffert.97 In den achtziger Jahren wuchs das Problem wohl eher noch, 92 Siehe

viertes Kapitel. AAN, KC PZPR, Wydział Sekretariat Komisji Międzynarodowej Nr. LXXVII-55, Ra­ port o  stanie zatrudnienia pracowników polskich w  przedsiębiorstwach NRD w  latach 1987–1988, Berlin, grudzień 1988r., Bl. 105. Zumindest für die Jahre 1981 und 1982 könnte als Grund für viele Fehlzeiten möglicherweise gelten, dass keine festen Regelun­ gen der Vertragsarbeit existierten. Jahresprotokolle regelten das Vorgehen, viele Vertrags­ arbeiter nutzten dieses scheinbare Vakuum anscheinend aus und riskierten wohl auch eine Bestrafung. 94 SächsStA, StA-L, 20937 VEB Buntgarnwerke Leipzig Nr. 88, Betr.: Einsatz polnischer Werktätiger im VEB Buntgarnwerke Leipzig, Leipzig, 7. 11. 1972, S. 5. 95 Vgl. Röhr: Hoffnung, S. 137. 96 Vgl. ebd., S. 224, Dokumentenanhang. 97 Vgl. Archiwum Państwowe w Kielcach, Komitet Wojewódzki PZPR w Kielcach, Wydział Ekonomiczny Nr. 2923, Informacja w sprawie zatrudnienia pracowników polskich w za­ kładach pracy CSRS i NRD, czerwiec 1973 (Ministerstwo Pracy, Płac i Spraw Socjalnych), Bl. 131. 93 Vgl.

116   2. Akteure und Kontakträume 1982 waren 15 Prozent von insgesamt 2300 und 1984 zwölf Prozent von 3800 der in die Volksrepublik zurückkehrenden Arbeiter aus disziplinarischen Gründen entlassen worden.98 Einerseits war der Schmuggel polnischer Ver­ tragsarbeiter zu einem echten kriminologischen Problem geworden, hier trieb augenscheinlich der Silberschmuggel seine Blüten.99 Andererseits wurden ‚klassische‘ Gründe wie Alkoholkonsum, Brechung der Disziplin, ‚Hooliganis­ mus‘ und allgemeine Demoralisierung angeführt.100 Inwiefern auch erhöhte Aufmerksamkeit und Verdachtsmomente aufgrund der politischen Situation eine Rolle spielten, ist anhand der Quellen nicht mehr zu entscheiden. Aller­ dings wurden zum Beispiel Zollkontrollen ab der politischen Krise in Volks­ polen mit größerer Schärfe durchgeführt.101 Einen wesentlichen Faktor des Alltags polnischer Vertragsarbeiter machte die gegenseitige Wahrnehmung von Deutschen und Polen aus. Stereotype und deren Überwindung hatten großen Einfluss auf die Begegnungen am Arbeits­ platz und am Wohnort. Der interethnische Umgang miteinander gestaltete das Zusammenleben und erhielt trotz vieler Annäherungen viele Differenzen aufrecht. Befragte polnische Bauarbeiter zum Beispiel bestätigten die gängi­ gen Stereotype vom sauberen, sparsamen und gut organisierten Deutschen. Für ehrlich und kollegial hielt man die Deutschen zumindest anfänglich im Allgemeinen nicht; negative Meinungen konnten aber bei längerer Zusam­ menarbeit durchaus korrigiert werden.102 Rita Röhr sieht deutsch-polnische Berührungsängste am Arbeitsplatz in ei­ ner langen Tradition. Die Aufnahme polnischer Arbeiter sei selten freundlich gewesen und Vorurteile wurden erst durch längere Kontakte revidiert. Aller­ dings reagierten die staatlichen Stellen durchaus empfindlich auf nationalisti­ sche oder rassistische Tendenzen unter Deutschen und leisteten einige ideo­   98 Vgl.

AAN, KC PZPR, Wydział Zagraniczny Nr. 960 (893/6), Sprawozdanie z zatrudnie­ nia polskich pracowników w  przedsiębiorstwach NRD w  1982 roku, Berlin, kwiecień 1983r., Dokument 33, S. 3 und AAN, KC PZPR, Wydział Zagraniczny Nr. 951 (943/9), Sprawozdanie z zatrudnienia polskich pracowników w przedsiębiorstwach NRD w 1984 roku., Berlin, kwiecień 1984r., Dokument 42, S. 3.   99 Vgl. ebd. S. 3/4 und Röhr: Hoffnung, S. 175. 100 Vgl. AAN, KC PZPR, Wydział Zagraniczny Nr. 951 (943/9), Sprawozdanie z zatrudnie­ nia polskich pracowników w przedsiębiorstwach NRD w  1984 roku., Berlin, kwiecień 1984r., Dokument  42, S. 3/4. Zur Einführung des Begriffes „Hooliganismus“ zur Be­ schreibung von öffentlichen Ausschreitungen schon in der vorsowjetischen Zeit in ­Russland vgl.: Joan Neuberger: Hooliganism. Crime, Culture, and Power in St. Peters­ burg, 1900–1914. Berkeley/Los Angeles/London 1993, S. 1–24. 101 Vgl. Osękowski: Personenverkehr, S. 132. 102 Vgl. AAN, KC PZPR, Wydział Nauki i Oświaty Nr. LVIII/546, Sprawozdanie z  badań nad warunkami życia i pracy polskich załóg budujących zakłady przemysłowe w NRD., unter Dokument 1, Warszsawa, 4. 12. 1972, S. 6.

2.2. Polnische Vertragsarbeiter in Leipzig   117

logische Anstrengung, um die freundschaftliche Aufnahme von Polen zu ge­ währleisten und durchzusetzen. Kam es jedoch zu Interessenkonflikten und Problemen mit den polnischen Beschäftigten, führte man das Konfliktpoten­ tial auf „Muster nationaler Unterschiede“ zurück.103 Das gute Verhältnis ­deutscher und polnischer Arbeiter im Betrieb war an einen beiderseitigen Lernprozess gekoppelt, nach gegenseitiger Vertrauensbildung war es nicht mehr so leicht zu erschüttern. Die Verwirrungen um „Solidarność“ trübten den persönlichen Umgang zwischen deutschen und polnischen Arbeitern, die täglich zusammenarbeiteten, nicht.104 Die Betriebsleitungen wiederum be­ äugten die polnischen Beschäftigten weiterhin skeptisch.105 Eine wirklich enge Beziehung pflegten polnische wie deutsche Arbeiter meist ausschließlich bei der Arbeit im Betrieb. Persönlich hatten 73 Prozent der Deutschen in den Betrieben keinen Kontakt zu Polen, in den Leitungsebe­ nen waren die Kontakte breiter als unter den Arbeitern. Immerhin 53,3 Pro­ zent der Polen gaben bei Befragung an, privaten Kontakt zu Deutschen ge­ pflegt zu haben, gestaffelt ist dies nach der Ranghöhe der Anstellung und dem Alter. In höheren Positionen angestellte und jüngere Arbeiter standen auch in engerem Kontakt zu Deutschen.106 Eine Begründung für diese Unterschiede findet sich wohl in den unterschiedlichen historischen Erfahrungen junger wie älterer Polen mit Deutschen. Ein Faktor lag auch in der deutschen Spra­ che, die von besser Ausgebildeten auch besser beherrscht wurde.

2.2.2. Der Alltag polnischer Vertragsarbeiter in Leipzig In Leipzig bestätigen sich die oben gebündelten Konstellationen des Betriebs­ alltags und Lebens polnischer Vertragsarbeiter mit großer Bestimmtheit. Der Blick in die Quellen gewährleistet eine qualitative Beschreibung des Alltags und differenziert die Wahrnehmungsmuster von Deutschen und Polen. Zu­ sammenarbeit und -leben wie auch auftauchende Probleme und Konflikte werden anhand von Beispielen greifbar und können thematisch gegliedert werden. Die Potentiale von einerseits Kontrolle und andererseits Eigen-Sinn polnischer Vertragsarbeiter lassen sich erfassen. Damit einher geht der Ver­ such, die Dynamik und die Reichweite privater Kontakte zwischen polnischen Vertragsarbeitern und ihren deutschen Kollegen in Arbeitsalltag und Freizeit Röhr: Hoffnung, S. 128/29. ebd. S. 173. 105 Vgl. ebd. S. 174. 106 Vgl. ebd., S. 130/31. Rita Röhr führte Befragungen zumeist unter polnischen Pendlern, die jeden Tag zu ihrem Arbeitsplatz im Bezirk Frankfurt/Oder anreisten, und ihren deutschen Kollegen durch. 103 Vgl. 104 Vgl.

118   2. Akteure und Kontakträume zu beschreiben. Gerade auf diesem Gebiet geht die Arbeit Rita Röhrs nicht über die oben erwähnten Zeitzeugenbefragungen hinaus. Die allgemeinen Be­ dingungen von Arbeit und Wohnen und auch des Kontakts mit den polni­ schen Kollegen umreißt Röhr zwar in groben Zügen, ihre Arbeit ist allerdings nicht als Alltagsgeschichte konzipiert. An vielen Stellen ist es zweckmäßig, literarische Texte mit einzubeziehen. Diese Textgattung zeichnet Lebenssituationen der Vertragsarbeiter nach und flankiert die Interpretation der alltagsgeschichtlichen Leipziger Quellen. Peter Löpelts Vertragsarbeitergeschichte spielt in der ostdeutsch-volkspolnischen Grenzregion und verarbeitet alltagstypische Erfahrungen weiblicher Vertrags­ arbeiter. In vielen Bereichen, wie dem Arbeits- und Wohnalltag, Konflikten zwischen Deutschen und Polen oder typischen Problemen im Wohnheim der Vertragsarbeiterinnen, gelingt es Löpelt, plastische literarische Szenarien zu entwickeln. Deren Übertragung auf Leipzig ist gerade im Bezug auf die Doku­ mente aus der Überlieferung des Sächsischen Staatsarchivs plausibel; sie stützt die hiesige Deutung und malt in den Quellen auftauchende Motive aus. Hen­ ryk Sekulski beschreibt den Alltag männlicher Vertragsarbeiter in Leipzig. Auch sein reportagehafter Erzählstil speist sich aus Beobachtungen von und Erfahrungen mit Vertragsarbeit in Leipzig. Kernbereiche der deutsch-polni­ schen Wahrnehmung gehören zu den Schlüsselsequenzen des Romans.

Zahlen Der Einsatz von Vertragsarbeitern begann in Leipzig unmittelbar nach der Unterzeichnung des Abkommen zwischen der DDR und Volkspolen am 25. Mai 1971. Schon im Juni trafen über 1200 überwiegend junge Arbeiter ohne praktische Berufserfahrung bei verschiedenen Betrieben in Leipzig ein.107 Ihre Einsatzorte, wie zum Beispiel ein Kraftwerk, deuten darauf hin, dass sie unter anderem auf Baustellen zum Einsatz kamen. 1979 zählte die Deutsche Volkspolizei nur noch 425 polnische Arbeiter in sechs Betrieben der Produktion in und um Leipzig.108 In den achtziger Jahren waren die Gruppen bei den jeweiligen Betrieben in Leipzig insgesamt kleiner als 1971, mit ca. 620 Arbeitern in elf Betrieben stiegen die Zahlen aber wieder an.109 Die Staats­ sicherheit lieferte weitaus höhere Zahlen, wahrscheinlich bezog sie in ihre 107 Vgl.

SächsStA, StA-L, 21123 SED-BLL Nr. IV/B/2/6/453, Information über den Einsatz polnischer Werktätiger in sozialistischen Betrieben des Bezirkes Leipzig, Leipzig, 7. 6. 1971, S. 1 und S. 3/4. 108 Vgl. ebd., 20250 BDVP Nr. 2009, Einsatz polnischer Werktätiger 1979, Leipzig 18. 1. 1979. 109 Vgl. ebd., 21123 SED-BLL Nr. IV/E/2/6/357, Einige Probleme bezüglich des Einsatzes polnischer Werktätiger im Bezirk, Leipzig, 2. 5. 1984.

2.2. Polnische Vertragsarbeiter in Leipzig   119

­ erechnungen mehr Betriebe und andere Aufgabenfelder mit ein. 1980 be­ B zifferte sie in Leipzig 1452 polnische Beschäftigte in 111 Betrieben und 29 Industriezweigen.110 Bezogen auf den Einsatz innerhalb des Regierungs­ abkommens zählte die Stasi 1984 in neun Betrieben 596 polnische Vertrags­ arbeiter.111

Ideologische Vereinnahmung von Vertragsarbeitern Die ideologische Vorbereitung der DDR-Betriebe auf polnische Vertragsarbei­ ter ist augenfällig; die offiziellen Verlautbarungen wie auch die Einstimmung der Betriebe und deutschen Beschäftigten nahmen einen breiten Raum ein. Es fällt auf, dass die Grundsätze des Einsatzes mit der Freundschaft und der Zu­ gehörigkeit zum Rat für gegenseitige Wirtschaftshilfe (RGW) begründet wur­ den, ohne dass eindeutige ökonomische Begründungen gegeben wurden. Zu­ gleich wurde deutlich gemacht, dass die Polen als Freunde zu behandeln seien. Der VEB Buntgarnwerke in Leipzig stimmte seine Belegschaft wie folgt ein: In Durchführung der komplexen Integration der RGW-Länder arbeiten zeitweilig Werktä­ tige aus befreundeten sozialistischen Staaten in unserer Republik. Diese Form der Zusam­ menarbeit bringt den sozialistischen Ländern allseitige Vorteile. […] Mit dem Einsatz der polnischen Werktätigen übernimmt unser Betriebskollektiv eine hohe politische Verantwor­ tung. Der Einsatz ist so vorzubereiten und durchzuführen, daß die polnischen Werktätigen auf Schritt und Tritt spüren, daß sie sich bei Freunden in einem sozialistischen Bruderland befinden. Während des Einsatzes qualifizieren sich die polnischen Werktätigen zu Fach­ arbeitern der Kammgarnspinnerei und helfen uns bei Realisierung unserer volkswirtschaft­ lichen Planziele.112

Die „ideologisch-politische“ Vorbereitung in den „staatlichen Leitungen, den Leitungen der gesellschaftlichen Organisationen, in Parteiversammlungen, Gewerkschaftsversammlungen und in den Arbeitskollektiven“ nahm einen hohen Rang ein. Furcht bestand unter anderem davor, dass „Argumente der Fremdarbeiterideologie“ weiterhin verbreitet sein könnten.113 Ein solcher Re­ kurs auf die Zwangsarbeiterbeschäftigung während des Zweiten Weltkriegs im Dritten Reich und die Warnung vor nationalistischen Parolen überrascht vor 110 Vgl.

BStU, MfS, ZAIG Nr. 5448, Hinweise über einige Probleme im Zusammenhang mit dem Aufenthalt polnischer Werktätiger aus beruflichen und kommerziellen Gründen in der DDR, von Werktätigen aus gleichen Gründen in der VR Polen sowie dem Austausch von Studenten beider Staaten, Anlage 1, [undatiert], Bl. 16. 111 Vgl. ebd., BV Leipzig, Abt. II Nr. 116/01, Übersicht über den Einsatz ausländischer Bür­ ger im Bezirk Leipzig, 23. 11. 1984, Bl. 32. 112 SächsStA, StA-L, 20937 VEB Buntgarnwerke Leipzig Nr. 86, Arbeitsprogramm für den Einsatz der polnischen Werktätigen ab 1. 11. 1971, 13. 9. 1971, S. 1. 113 Vgl. ebd., Nr. 88, An alle Direktoren der volkseigenen Betriebe, Betr.: Information über den Einsatz von polnischen Arbeitskräften in Betrieben der VVB Wolle und Seide, Meerane, 14. 9. 1971, S. 2.

120   2. Akteure und Kontakträume dem Hintergrund der offiziellen Geschichtspolitik und -rhetorik. Wie realis­ tisch diese Einschätzung war, zeigte sich aber mancherorts am Arbeitsplatz. Wiederum wird deutlich, wie tief die historisch bedingten Gräben zwischen polnischer und DDR-Bevölkerung waren und wie wenig die ideologischen Bekundungen von „Brudervolk“ und „Völkerfreundschaft“ trugen.114 In Leipzig war man sich also durchaus darüber im Klaren, dass ideologi­ sche Schlagworte bei konkreten Kontakten keinesfalls belastbar waren. Die Pläne zu den Vorbereitungen und die offiziellen Reden strotzten im Gegen­ satz dazu vor Propaganda. Es wurde eine tiefe Verbundenheit von Deutschen und Polen auf dem Weg zu sozialistischen Zielen vorausgesetzt und die deutsch-polnische Geschichte kaschiert. Außerdem schien immer wieder ein Erziehungsauftrag der DDR den polnischen Arbeitern gegenüber durch. In der staatlichen Zusammenarbeit würden sich „die übereinstimmenden Klas­ seninteressen der Werktätigen unserer beiden Völker, die Gemeinsamkeit der Ziele und Aufgaben beim Aufbau des Sozialismus-Kommunismus“ dokumen­ tieren und es vollziehe sich „eine vielseitige freundschaftliche Zusammenar­ beit polnischer Werktätiger mit den Werktätigen der Deutschen Demokrati­ schen Republik.“115 Der Sendungsauftrag der DDR war deutlich: Die polnischen Werktätigen sollen während ihrer Beschäftigung in unserem Werk ein ho­ hes politisch-ideologisches Bewußtsein erhalten, sich ein hohes fachliches Wissen aneignen und durch kulturelle und sportliche Betätigung die Bildung und das Leistungsvermögen entscheidend erhöhen.116

Die Vorbereitung der deutschen Seite sollte dazu führen, „daß die polnischen Werktätigen mit allen Rechten und Pflichten voll integriert in das Werkskol­ lektiv und Territorium eingegliedert werden.“ Eingewiesen wurden die Polen durch einen deutschen Betreuer und der Vertrauensmann der deutschen Ge­ werkschaft leistete mit dem Sekretär des ZSMP auf polnischer Seite „konkrete politische Arbeit“117, was sich wohl vor allem in häufigen Versammlungen und Kontrollfunktionen gezeigt haben dürfte. Die Funktionäre stellten sich selbst ein von Wunschdenken getragenes Zeugnis aus, das ihre Bemühungen honorierte:

hierzu auch: Behrends: Freundschaft, S. 263–272. SächsStA, StA-L, 20875 VEB Metalleichtbaukombinat, Kombinatsleitung Nr. 7486 (Karton  2/257), Plan zur politischen, kulturellen und sportlichen Betätigung und zur Bildung der polnischen Werktätigen im VEB Metalleichtbaukombinat – Werk Leipzig, Leipzig, 20. 2. 1979, S. 1. 116 Ebd. 117 Vgl. ebd., Bericht über den Einsatz der polnischen Werktätigen im VEB Metalleichtbau­ kombinat – Werk Leipzig – Stand 30. 09. 79, Leipzig, 12. 10. 1979, S. 1. 114 Vgl. 115 Vgl.

2.2. Polnische Vertragsarbeiter in Leipzig   121 Alle polnischen Werktätigen sind in den Kollektiven der Produktion in den Brigaden der Meisterbereiche fest integriert. […] Eine echte Trennung zwischen DDR-Werktätigen und polnischen Werktätigen in den Kollektiven des Werkes ist nicht vorhanden, da alle polni­ schen Werktätigen in den Kollektiven integriert sind.118

Dass sich die DDR die „Erziehung“ und „Ausbildung“ von ausländischen ­Arbeitern – hier waren nicht nur Polen die Zielgruppe, sondern zunehmend ­Arbeiter aus Entwicklungsländern – zu Gute hielt, zeigte sich auch in dem ­Bestreben, die Bemühungen ideologisch auszuschlachten. Da man zu dem ­Ergebnis gelangte, dass im „Bauwesen der DDR […] seit Jahren mit guten Ergebnissen ausländische Bürger betreut, erzogen und beruflich aus- und wei­ tergebildet“ würden, sollten diese Erfolge der DDR-Lehrmeister, -Betreuer, -Brigadiere usw. auch dementsprechend nach außen dargestellt werden. Ge­ dacht war an eine Bildmappe, die die ausländischen Arbeiter beim „Lernen und Arbeiten, im Wohnheim sowie in Sozial-, Kultur- und Sporteinrichtun­ gen oder bei Demonstrationen, alleine oder in Gesellschaft mit ihren DDRKollegen zeigt.“119 Die Rhetorik gegenüber den polnischen Arbeitern und bei offiziellen Ver­ anstaltungen oder Feierstunden lag ganz auf der Linie dieser Propaganda. ­Getragen von großen Worten wurden Problemzonen umschifft. Es geht aus den Formulierungen durchaus hervor, dass den Polen Eingewöhnungsphasen zugestanden wurden. Bei Problemen sollte aber gleichsam automatisch das kommunistische Ritual greifen: In den kommenden Jahren wollen wir, die Belegschaft der Buntgarnwerke und Sie liebe polnische Freunde eine große Familie sein [sic!]. Wir wollen Ihnen helfen, sich schnell in die Arbeits- und Lebensbedingungen unserer Republik einzugewöhnen. Wir denken, daß [sich] alle dabei auftretenden Fragen im Geiste der Freundschaft und der kameradschaftli­ chen Zusammenarbeit lösen.120

Solche oder ähnliche Formeln wurden bei kommunistischen Feiertagen wie dem 1. Mai, Jubiläen der Staatsgründungen oder der Unterzeichnung von ‚Freundschaftsverträgen‘ zwischen der DDR und Volkspolen nimmermüde wiederholt. Ob die propagandistisch aufgeladenen Alltagswelten der DDR auf die polnischen Vertragsarbeiter im geplanten Sinne wirkten, ist schwer auszumachen. Fest steht, dass auch die polnischen Vertreter in das Loblied mit einstimmten, wie nicht zuletzt das in diesen Abschnitt einführende Zitat belegt. 118 Ebd.,

S. 10. ebd., 20875 VEB Metalleichtbaukombinat, Kombinatsleitung Nr. 7488 (Karton 2/528), Betr.: Einsatz von ausländischen Werktätigen, Leipzig, den 22. 12. 1978, S. 1. 120 Ebd., 20937 VEB Buntgarnwerke Leipzig, Nr. 87, Begrüßungsrede, [ohne Titel, unda­ tiert], S. 2. 119 Vgl.

122   2. Akteure und Kontakträume Da aber der polnische Alltag seit 1956, spätestens aber seit der „Solidarność“Zeit, nicht mehr allzu aufdringlich von der kommunistischen Parteipropagan­ da untermalt wurde, dürften die Rituale der DDR mancherorts etwas über­ kommen gewirkt haben. Polnische Arbeiter beteiligten sich zum Beispiel nicht automatisch an den Feiern zum 1. Mai.121 Außerdem ließen sie sich nicht ohne weiteres durch die DDR-Propaganda vereinnahmen. Als polnische Ar­ beiter am 1. Mai 1987 in Eisenhüttenstadt „Friede, Freiheit, Solidarität“ skan­ dierten, wurden sie von den Lautsprechern der Bühne mit „Es lebe unser ­sozialistisches Vaterland, die Deutsche Demokratische Republik“ übertönt.122 Auch den Helden aus Sekulskis Vertragsarbeitergeschichte kamen die einfüh­ renden ideologischen Einstimmungen bei ihrer Begrüßungsfeier reichlich lang und verschroben vor.123 Die polnische politische Realität unterschied sich im hier untersuchten Zeitraum bereits erheblich von jener der DDR. Der Versuch, Vertragsarbeit politisch zu legitimieren, traf unter den wirtschaftlich und individuell motivierten Polen nicht mehr auf ungeteilte Resonanz.

Freizeit und Wohnen Neben den stetigen Beteuerungen von Völkerfreundschaft und gegenseitiger Hilfe unternahmen die Leipziger Betriebe in Absprache mit zumeist offiziel­ len polnischen Vertretern Anstrengungen, die polnischen Vertragsarbeiter in die Gemeinschaft des Betriebes zu integrieren und eine – wie man sie sich in der DDR vorstellte – sinnvolle Freizeitgestaltung möglich zu machen. In erster Linie ist der kostenlose und verpflichtende Deutschunterricht zu nennen, die Gruppen wurden zudem von Dolmetschern begleitet, um eine Verständigung zu erleichtern.124 Vertragsarbeiter waren jedoch nicht immer am konsequenten Erlernen der deutschen Sprache interessiert. Die Pflicht­ stundenzahl von 200 Stunden wurde zwar absolviert, freiwilliger Deutschun­ terricht war aber eine Seltenheit.125 Hinzu kam, dass es in manchen Betrie­ 121 Vgl.

ebd., 21123 SED-BLL, Abt. Grundstoffindustrie Nr. IV/C/2/6/508, Bericht über den Einsatz der polnischen Werktätigen im VEB Metalleichtbaukombinat – Werk Leipzig, Leipzig, den 17. 5. 1973, S. 9. 122 Vgl. Lutz Niethammer/Alexander von Plato/Dorothee Wierling (Hrsg.): Die Volkseigene Erfahrung. Eine Archäologie des Lebens in der Industrieprovinz der DDR. 30 biogra­ phische Eröffnungen. Berlin 1991, S. 42/43. 123 Vgl. Sekulski: Przebitka, S. 30–40. 124 Vgl. SächsStA, StA-L, 21123 SED-BLL Nr. IV/B/2/6/453, Information über den Einsatz polnischer Werktätiger in sozialistischen Betrieben des Bezirkes Leipzig, Leipzig, 7. 6. 1971, S. 3. 125 Vgl. ebd., 20875 VEB Metalleichtbaukombinat, Kombinatsleitung Nr. 7488 (Karton 2/528), Fragebogen über den Deutschunterricht für polnische Werktätige, Leipzig, 11. 5.  1979.

2.2. Polnische Vertragsarbeiter in Leipzig   123

ben an der Organisation des Deutschunterrichts haperte.126 In den Bunt­ garnwerken in Leipzig konnte die polnische Seite keinen hauptamtlichen Lektor stellen und geeignete Lehrbücher gab es auch nicht. Ein polnischer Student führte den Unterricht in seiner Freizeit durch.127 Während also zum einen auf Seiten der Arbeitgeber der Kosten- und Zeitaufwand für Deutsch­ unterricht umgangen wurde, ließen andererseits die nur für kurze Zeit in Leipzig beschäftigten Polen den nötigen Ehrgeiz vermissen.128 Es ist davon auszugehen, dass die unabdingbare Kommunikation am Arbeitsplatz recht sicher funktionierte, es für Gespräche in den Pausen oder gar in der Freizeit aber nur in den seltensten Fällen reichte. Die Pausen wurden oft getrennt nach den Sprachgruppen verbracht.129 Schon solch elementare Faktoren sprachen gegen eine tiefe Integration außerhalb des eigentlichen Arbeitspro­ zesses. Bei der Bewerkstelligung des Alltags und hinsichtlich von Freizeitangebo­ ten stellten die deutschen Betriebe das übliche Angebot sozialistischer Unter­ haltungskultur. Bereits das Regierungsabkommen sah vor, dass die polnischen Vertragsarbeiter die kulturellen, sportlichen und sozialen Einrichtungen des Betriebes nutzen durften130; der Pfad des Freizeitlebens war somit zumindest theoretisch schon ausgetreten. Der deutsche und der polnische Alltag waren aber nicht ineinander verflochten. Nur einzelne Deutsche waren mit den ­Polen befasst, was manchmal große Aufopferungsbereitschaft und sicherlich Überforderung bedeutet haben dürfte: Zur Betreuung der polnischen Werktätigen im Heim ist von unserer Seite die Kolln. T. ein­ gesetzt. Diese Kolln. spricht gut polnisch und leistet neben ihrer Betreuertätigkeit auch Dol­ metscherdienste. Dies erweist sich besonders in letzter Zeit als notwendig, bei ärztlicher Hilfeleistung und bei persönlichen Anliegen der Heimbewohner, vor allem deshalb, weil die Heimleiterin Frau K., der deutschen Sprache unkundig ist.131

Den polnischen Arbeitern wurden polnische Bücher, Zeitungen und Zeit­ schriften zur Verfügung gestellt, in den Gemeinschaftsräumen am Wohnort gab es mancherorts Fernsehen, Gesellschaftsspiele und Sportanlagen wie Vol­ 126 Vgl.

u. a. ebd., Brief von Ministerium für Bauwesen an VEB Metalleichtbaukombinat, 4. 5. 1979. 127 Vgl. SächsStA, StA-L, 20937 VEB Buntgarnwerke Leipzig Nr. 88, Betr.: Einsatz polni­ scher Werktätiger im VEB Buntgarnwerke Leipzig, Leipzig, 7. 11. 1972, S. 2. 128 Vgl. ebd. Nr. 90, Festlegungen über die Besprechung des Arbeitsstabes für die polni­ schen Werktätigen am 17. 4. 1973, Leipzig, 19. 4. 1973, S. 3. 129 Vgl. Löpelt: Rosen, S. 42. 130 Vgl. Röhr: Hoffnung, S. 224, Dokumentenanhang. 131 SächsStA, StA-L, 20937 VEB Buntgarnwerke Leipzig Nr. 88, Zuarbeit zum Bericht, Teil: Betreuung der polnischen Werktätigen, Leipzig, 7. 11. 1972, S. 1.

124   2. Akteure und Kontakträume leyballplätze oder Tischtennisplatten.132 Der Empfang polnischer Vertrags­ arbeiter wurde feierlich begangen und um eine Einführung in den Betrieb und die Umgebung, eine Besichtigung von Leipzig und um eine weniger be­ liebte medizinische Untersuchung erweitert.133 Überhaupt waren manche Programme der Freizeitgestaltung anspruchsvoll. Für 1979 plante man im VEB Metalleichtbaukombinat Exkursionen zu berühmten Sehenswürdigkei­ ten der DDR und Leipzigs – so den Besuch des Museums der Bildenden Künste und des Ratskellers, der Städte Halle, Dresden, Eisenach mit der Wart­ burg, des Kyffhäusers und den Besuch der Leipziger Frühjahrsmesse. Als ge­ sellschaftliche Höhepunkte galten ein Solidaritätskonzert, ein Fußballländer­ spiel, ­Tischtennis- und Fußballturniere, ein Schießwettkampf, die Agra 79 [be­ kannte Agrarmesse der DDR] und eine Feierstunde zum 35-jährigem Bestehen der Volksrepublik Polen im Leipziger Hotel Astoria.134 Trotzdem blieb die Freizeitgestaltung in den Unterkünften ein strukturelles Problem, da sich die jungen Polen häufig langweilten. Typisch für die Wohn­ heime war der Fernsehsaal; dort konnte man auch Zusammensitzen, Karten­ spielen und Bier trinken. Für die Wohnheime der Buntgarnwerke ist 1972 überliefert, dass Rundfunkgeräte und Fernseher aufgestellt waren, wobei letz­ tere wegen des ausschließlich deutschen Programms kaum benutzt wurden. Die Vertragsarbeiterinnen konnten außerdem jeweils drei Exemplare dreier unterschiedlicher polnischer Tageszeitungen und drei Zeitschriften lesen; an Literatur standen ihnen 52 Bücher zur Verfügung. Auf Initiative der Arbeiter­ innen hin, einen Nähzirkel zu begründen, wurde ihnen eine Nähmaschine bereitgestellt. Das Schwimmprogramm wurde kaum genutzt, eine Tischten­ nisplatte sollte angeschafft werden.135 Sekulskis Protagonisten aus „Przebitka“ verbrachten ihre Freizeit zumeist isoliert in den Arbeiterhotels und manchmal 132 Vgl.

ebd., 21123 SED-BLL, Abt. Grundstoffindustrie Nr. IV/C/2/6/508, Bericht über den Einsatz der polnischen Werktätigen im VEB Metalleichtbaukombinat – Werk Leipzig, Leipzig, den 17. 5. 1973, S. 7 und 20937 VEB Buntgarnwerke Leipzig Nr. 88, Betr.: Ein­ satz polnischer Werktätiger im VEB Buntgarnwerk Leipzig, Leipzig, 7. 11. 1972, S. 6. 133 Vgl. Sekulski: Przebitka, S. 26 und SächsStA, StA-L, 20818 VEB Schwermaschinenbau S.M. Kirow Leipzig Nr. 1654, Ergänzung zum Maßnahmeplan: Eintreffen der polnischen Arbeitskräfte 1982 III. Quartal, Leipzig, den 2. 11. 1982 bzw. Maßnahmeplan: Vorberei­ tung und Ablauf beim Eintreffen der polnischen Arbeitskräfte 1982, Leipzig, 4. 10. 1982. 134 Vgl. SächsStA, StA-L, 20875 VEB Metalleichtbaukombinat, Kombinatsleitung Nr. 7486 (Karton 2/257), Bericht über den Einsatz der polnischen Werktätigen im VEB Metal­ leichtbaukombinat – Werk Leipzig – Stand 30. 09. 79, Leipzig, 12. 10. 1979, S. 9/10. Die „agra“ war eine Landwirtschaftsausstellung der DDR in Markkleeberg bei Leipzig. Vgl. Andreas Herbst/Wilfried Ranke/Jürgen Winkler: So funktionierte die DDR. Bd. 1. Ham­ burg 1994, S. 16. 135 Vgl. ebd., 20937 VEB Buntgarnwerke Leipzig Nr. 88, Zuarbeit zum Bericht, Teil: Betreu­ ung der polnischen Werktätigen, Leipzig, 7. 11. 1972, S. 1/2.

2.2. Polnische Vertragsarbeiter in Leipzig   125

noch in nahe gelegenen Kneipen beim Bier.136 Als sie sich besser eingelebt hatten, besuchten sie zunehmend auch die Kneipen in Leipzigs Innenstadt.137 Von polnischen Bauarbeitern ist aus dem Jahr 1972 bekannt, dass sie wegen des Mangels an Filmen, Zeitungen und anderer Unterhaltung ihre Freizeit mit Alkohol und Kartenspielen verbrachten.138 Daneben nahm sich die Propagandakommission der PVAP der polnischen Arbeiter an. 1975 organisierte sie etwa ein Konzert der „Czerwone Gitary“, das 6000 polnische Vertragsarbeiter und 4000 polnische Bauarbeiter sowie mehre­ re tausend Deutsche besuchten.139 Daneben gab es auch echte Reinfälle: Ein Auftritt der Künstlerischen Gruppe des Polnischen Heeres im Fleischkombinat Leipzig war so schlecht organisiert und besucht, dass in seiner Folge eine Ver­ waltungsstrafe verhängt und ein Führungsposten in der PVAP des Kombinats neu besetzt wurde. Das Polnische Informations- und Kulturzentrum sollte in der Folge dieser Pleite stärker in die Organisation der Kultur eingebunden wer­ den.140 Das PIKZ übernahm in Leipzig ohnehin die Rolle eines kulturellen Veranstaltungszentrums. Allerdings war es für die polnischen Vertragsarbeiter schwierig, den ohnehin gut besuchten Filmen und Chopinkonzerten beizu­ wohnen. Stattdessen wurden sie für langweilige und schlecht frequentierte Dichterlesungen zwangsverpflichtet, um den Saal zu füllen.141 Die Unterbringung polnischer Vertragsarbeiter in Arbeiterwohnheimen förderte die Integration in ein deutsches Umfeld keineswegs. Sie sollten laut Vereinbarung „in massiven Gemeinschaftsunterkünften, in denen pro Werk­ tätigen 5 qm Wohnfläche bereitstehen und pro Wohnraum nicht mehr als vier Personen untergebracht werden.“142 1973 wurde ergänzt, dass die Unterkünf­ te nach Männern und Frauen getrennt und die Ausstattung dem Niveau deut­ scher Arbeiterwohnheime entsprechen müsse143; ob diese Ansprüche vorher nicht erfüllt wurden, ist nicht mit Bestimmtheit zu sagen. Die Aufnahme des Sekulski: Przebitka, S. 84 und S. 89. ebd., S. 129. 138 Vgl. AAN, KC PZPR, Wydział Nauki i Oświaty Nr. LVIII/546, Sprawozdanie z badań nad warunkami życia i pracy polskich załóg budujących zakłady przemysłowe w NRD., unter Dokument 1, Warszsawa, 4. 12. 1972, S. 9. 139 Vgl. ebd., Wydział Zagraniczny Nr. 905 (788/8), Informacja o koncertach zorganizowa­ nych w 1975r. dla załóg przedsiębiorstw budowlano-montażowych i grup polskich pra­ cowników czasowo zatrudnionych w  przedsiębiorstwach przemysłowych NRD, Berlin, 17. 12. 1975, Dokument 93, S. 1. 140 Vgl. ebd. Nr. 960 (893/6), Protokół z posiedzenia egzekutywy PZPR w  NRD w dniu 5. 05. 1982r., [undatiert], Dokument 8, S. 2–4. 141 Vgl. Sekulski: Przebitka, S. 137–140. 142 Vgl. Röhr: Hoffnung, S. 227, Dokumentenanhang. 143 Vgl. ebd., S. 230. 136 Vgl. 137 Vgl.

126   2. Akteure und Kontakträume Passus spricht jedenfalls für einige Abweichungen vom geplanten Standard. Manchmal lebten die Polen separiert von den Deutschen in unmittelbarer Nähe zum Betrieb und dementsprechend weit entfernt von anderen Wohn­ siedlungen144, manchmal wiederum weit entfernt vom Betrieb, so dass schon An- und Abfahrt einen großen Teil des Tages in Anspruch nahmen.145 Im Falle der Wohnunterkünfte des VEB Buntgarnwerke in Leipzig drohte die ­­polnische Botschaft sogar, die Einsätze polnischer Vertragsarbeiterinnen zu beenden, wenn nicht an Lage und Zustand der Wohnheime entscheidende Veränderungen einträten. Die Leipziger überschlugen daraufhin die Auswir­ kungen eines polnischen Rückzuges im Vergleich zu den Kosten eines neuen Wohnheimes, um sich zugunsten des Wohnheimes zu entscheiden.146 Wie leicht um Fragen der Unterbringung und des Wohnens Konflikte ent­ stehen konnten, ist in einer Zusammenstellung der Staatssicherheit dokumen­ tiert, die aus Kopien von Originalschreiben sowie einer kurzen Information besteht.147 Wie so oft zeigt sich auch hier, bis in welche Bereiche hinein die Stasi den Alltag in der DDR verfolgte. In einem Schreiben an die Parteileitung der VEB VTA „Paul Fröhlich“ in Leipzig beschwerten sich polnische Arbeiter über verschiedene Missstände, eine Klärung mit der Direktion des Betriebes sei leider gescheitert. Es ging um Größe, Zustand und Einrichtungen der Zim­ mer bzw. um die Ausstattung von Bädern und Küchen. Besonderer Nachdruck wurde darauf gelegt, dass der zuständige deutsche Kollege sich aus einer po­ lenfeindlichen Haltung heraus nicht an der Lösung des Problems beteilige: Wir haben das Gefühl, daß er uns für Gastarbeiter hält. Wir können uns nicht mit so einer Einstellung einverstanden erklären und dies auf die Dauer dulden. Er beschuldigt unsere Arbeiter des Stehlens, des vorsätzlichen Zerstörens der Einrichtung u.d.gl. Es fällt schwer, den Eindruck von sich zu weisen, dass der Koll. L. [Name anonymisiert] eine negative Ein­ stellung zu uns Polen hat. Das ist die Meinung unserer Arbeiter.148

Der deutsche Kollege behauptete, die Bedingungen seien nicht, wie von den Polen geschildert, schlecht, und wehrte sich vehement gegen die Vorwürfe seiner Polenfeindlichkeit.149 Der Stasibericht schloss mit einer wichtigen An­ merkung: 144 Vgl.

SächsStA, StA-L, 21123 SED-BLL, Abt. Grundstoffindustrie Nr. IV/C/2/6/508, Ein­ satz polnischer Werktätiger im VEB Buntgarnwerke Leipzig, Leipzig, 4. 4. 1974 und Sekulski: Przebitka, S. 24. 145 Vgl. Röhr: Ideologie, S. 304/05. 146 SächsStA, StA-L, 20937 VEB Buntgarnwerke Leipzig Nr. 90, Einsatz polnischer Werktä­ tiger, Leipzig, 5. 4. 1974. 147 Vgl. BStU, BV Leipzig, KD Leipzig-Stadt Nr. 25/06, Bl. 64–71. 148 Ebd., An den Sekretär der SED VEB VTA Leipzig „Paul Fröhlich“, Leipzig, 10. 7. 1976, Bl. 69. 149 Vgl. ebd., [Titel in Kopie unleserlich], 21. 7. 1976, Bl. 70/71.

2.2. Polnische Vertragsarbeiter in Leipzig   127 Weitere Überprüfungen ergaben, daß die polnischen Arbeitskräfte keinesfalls auf der Grundlage eines Regierungsvertrages oder anderer Festlegungen bei VTA arbeiten, sondern durch ein anderes Werk des Industriezweiges Takraf schwarz [später handschriftlich gestri­ chen] umgesetzt wurden. [handschriftlich ergänzt: (Montageimport) zweckentfremdeter Einsatz] dadurch gibt es keinen exakt festgelegten Betreuer durch die staatliche Leitung und es fehlt auch die erforderliche Kontrolle.150

Auch wenn Vorwürfe anhand der vorhandenen Schriftstücke nicht belegt oder entkräftet werden können, zeigt sich am Einzelbeispiel, wie sich anhand von Forderungen Frontstellungen auftun konnten. Deutsch-polnische Ani­ mositäten trübten das Verhältnis zusätzlich und reduzierten die Arbeit von Polen auf ein Zweckbündnis. Die soziale Kontrolle in den Wohnunterkünften und am Arbeitsplatz war gerade auch von polnischer Seite verhältnismäßig hoch. Den polnischen Gruppen war jeweils ein politischer Betreuer zur Seite gestellt, der ein ver­ dienter Genosse der Partei, der Gewerkschaft oder des polnischen Jugendver­ bandes war.151 Er repräsentierte die Polen bei offiziellen Anlässen und vertrat ihre Interessen im Betrieb. Eine literarische Spur führt in diesen sensiblen Be­ reich ein: In Peter Löpelts Roman „Die Rosen heb für später auf “ kümmert sich Pani Porębska um zweihundert polnische Vertragsarbeiterinnen und das polnische „Mädchenwohnheim“: Was ist die Sonne, umkreist von ihren lächerlichen neun Planeten, gegen Pani Porębska mit ihren zweihundert? Und jeder ist wiederum eine interessante Welt für sich. […] Eine alte Gouvernante, sagt ein gar nicht so kleiner Teil der Mädchen. Die Herren vom polnischen Generalkonsulat hingegen bezeichnen sie als eine verdiente und zuverlässige Genossin. Und die deutschen Funktionäre des Werkes nennen sie eine verdammt hartnäckige und streitba­ re Person. Und jeder hat Recht. […] Daß sie als alte Gouvernante bezeichnet wird – insgeheim versteht sich –, hat sie ihrem ausgeprägten Sinn für ungewöhnliche Situationen, für drohende Gefährdungen, jedenfalls das, was sie unter Gefährdungen versteht, zu verdanken. Sie scheint zu erahnen, wann ein junger Mann nachts in das Heim eingeschleust werden soll. Und wenn eine mal in sehr ge­ hobener Stimmung und sehr spät nach Hause kommt, was freilich selten geschieht, kann sie damit rechnen, der Pani genau in die Arme zu laufen und sich am nächsten Morgen am Karikaturenbrett dargestellt zu finden…Daß die Betreuerin alle Verfehlungen genauestens registriert, ist erwiesen. […] Die deutschen Funktionäre des Werkes lassen sich mit der Kollegin Porębska gar nicht erst auf einen Streit ein, da der ihnen weitaus mehr Scherereien bereitet, als es die Organisation von fünf neuen Waschbecken oder der Einrichtung einer Sauna im Heim mit sich bringt. Daß die Werkleitung daneben auch ein paar Aufgaben wie Planerfüllung, Senkung des Krankenstandes, Ersatzteilfragen und dergleichen zu lösen hat, scheint Frau Porębska zu ignorieren. […] Ja, man darf sagen: Die Pani fühlt sich wohl in ihrem Amt, es ist wie eigens für sie geschaf­ fen. Die Sonne hat nur neuen Planeten. Sie aber hat zweihundert.152 150 Ebd.,

Information, Leipzig, 13. 8. 1976, Bl. 64. Sekulski: Przebitka, S. 12. 152 Löpelt: Rosen, S. 87–89. 151 Vgl.

128   2. Akteure und Kontakträume Diese literarische Charakteristik einer Betreuerin und Heimleiterin als Gou­ vernante, die als tüchtige Genossin und harte Verhandlungspartnerin galt, wird in einiger Hinsicht von alltagsgeschichtlichen Quellen bestätigt. Polni­ sche Vertragsarbeiter aber noch mehr Vertragsarbeiterinnen lebten unter strikten Regeln. Deren Umsetzung gewährleistete zwar häufig die Macht der höheren Instanzen, im Alltag war aber entweder der direkte Betreuer bzw. Vorgesetzte oder die unmittelbare Umwelt das Korrektiv. Bei „ständiger Ver­ letzung der Heimordnung“ konnte man so rigoros aus „disziplinarischen Gründen in die Heimat“ zurückgeschickt werden.153 Interessanterweise sind besonders von den weiblichen Vertragsarbeitern, die im VEB Buntgarnwerke beschäftigt waren, viele Einzelheiten ihres Alltags überliefert. Bei männlichen Vertragsarbeitern gelangten zwar hin und wieder Disziplinarverstöße in die Akten. Der Aufenthalt der Vertragsarbeiterinnen ist aber auch durch relativ viele Konflikte mit deutschen Kollegen und durch viele Notizen der polnischen Betreuerin dokumentiert. Dies hat wohl zwei Gründe: Zum einen war der Aufenthalt polnischer Frauen eine größere He­ rausforderung an die deutsche Umgebung und provozierte Aufmerksamkeit, zum anderen war die Überwachung der weiblichen Belegschaft durch polni­ sche Aufpasserinnen auffällig streng. Dies mag zum einen an den Persönlich­ keiten der polnischen Betreuer gelegen haben, doch sogar Rita Röhr verweist auf Interviewaussagen, in denen die Isolation weiblicher Arbeiter durch die polnischen Betreuer verbürgt zu werden scheint.154 Ein Bild von den Aufga­ ben der polnischen Heimleiterin liefert das Arbeitszeugnis zu ihrer Verab­ schiedung nach vier Monaten: Frau C. hat während ihrer rund 4 Monate dauernden Tätigkeit die ihr übertragenen Aufga­ ben ausgezeichnet gelöst. Besonders hervorzuheben ist ihre hohe Einsatzbereitschaft. Ohne Rücksicht auf Tages- oder Nachtzeit hat sie stets die Probleme der polnischen Werktätigen zu ihrer eigenen Sache gemacht und die vollständige Klärung durchgesetzt. Da Frau C. über gute deutsche Sprachkenntnisse verfügt, konnte die Betreuung der polnischen Werktätigen sehr effektiv von ihr durchgeführt werden. Während ihrer Tätigkeit entwickelte sich zwi­ schen Frau C. und den Verantwortlichen des Betriebes eine vom Geiste des sozialistischen Internationalismus getragene offene, ehrliche und kameradschaftliche Zusammenarbeit. Frau C. wurde von den Verantwortlichen des Betriebes auf Grund ihres parteilichen Auftre­ tens und ihrer guten Sachkenntnis sehr geschätzt.155

Die Lösung von Problemen polnischer Vertragsarbeiterinnen war eine der Hauptaufgaben, durch Kompetenz – wie die Beherrschung der deutschen 153 Vgl.

SächsStA, StA-L, 20937 VEB Buntgarnwerke Leipzig Nr. 88, Betr.: Einsatz polni­ scher Werktätiger im VEB Buntgarnwerke Leipzig, Leipzig, 7. 11. 1972, S. 2. 154 Vgl. Röhr: Ideologie, S. 305. 155 SächsStA, StA-L, 20937 VEB Buntgarnwerke Leipzig Nr. 88, Beurteilung der Kollegin K. C. [Name anonymisiert], geb. am 22. 3. 1918, 26. 10. 1972, S. 1.

2.2. Polnische Vertragsarbeiter in Leipzig   129

Sprache – und Einsatzbereitschaft verdiente sich die Polin – folgt man der wohlwollenden Beurteilung – Respekt. Aufgrund ihrer politischen Positionie­ rung und der Möglichkeit, ihre Tätigkeit in das Weltbild der DDR-Funktionä­ re einzuordnen, ließ sie sich in die ideologisch geforderten Muster integrieren. Eine der Nachfolgerinnen dieser polnischen Heimleiterin fällt in den Akten durch ihre rigorose Auffassung ihrer Tätigkeit auf. Sie schränkte den Bewe­ gungsfreiraum der polnischen Arbeiterinnen erheblich ein und fällte Ent­ scheidungen auch ohne das Einverständnis des Betriebes. So annullierte sie zum Beispiel eigenmächtig die Aufenthaltserlaubnis einer Werktätigen, die ­eigentlich in Leipzig bleiben wollte, und irritierte somit nicht zuletzt die mit ihr zusammenarbeitenden Deutschen.156 Auffallend oft richtete die Nachfolgerin Eingaben an die Direktion der Buntgarnwerke, in denen sie sich – wohlgemerkt ausschließlich in polnischer Sprache, weil sie der deutschen nicht mächtig war157 – über Männerbesuche im „Mädchenwohnheim“ beschwerte. Einmal erwischte sie drei betrunkene Männer, die probierten in die Zimmer der „Mädchen“ einzudringen und sie in der Folge daran zu hindern versuchten, den Pförtner zu informieren. Da sie bereits kurz vorher einen weiteren Betrunkenen aus dem Hotel schmeißen musste, bat sie um eine bessere Bewachung der Unterkünfte.158 Während an­ hand dieses Briefes nicht deutlich wird, wie die Männer ins Arbeiterhotel ge­ langten, wird aus weiteren Eingaben ersichtlich, dass die polnischen Vertrags­ arbeiterinnen selbst die ihnen bekannten Männer hereinließen: Ich benachrichtige Sie, dass ich am 13. 12. 1973 aus Gründen der Einschleusung zweier be­ trunkener Männer ins Zimmer durch die Kollegin O. und die Bereitstellung von Übernach­ tungsmöglichkeiten gezwungen war, den Pförtner um Hilfe zu bitten. In der Nacht musste bedingt durch den früheren Krawall durch die alkoholisierte Kollegin O. und die schon ­erwähnten Männer, die ins Hotel zurückkehrten, erneut der Pförtner und die Miliz inter­ venieren. Die Kollegin O. war zwischen 20.45 Uhr und 23.50 Uhr nicht im Hotel, obwohl sie krank geschrieben ist. Die Kollegin O. rief nach der Rückkehr um ca. 24 Uhr eine Affäre hervor, als sie mir gegenüber beleidigende Worte benutzte. Danach lief sie bis zwei Uhr in der Nacht, indem sie speziell mit ihren Holzschuhen klapperte, über den Flur, stellte die elektrische Nähmaschine an, schlug mit den Türen und schrie. Durch diese obigen Szenen konnten die im Hotel lebenden Mädchen bis zwei Uhr nicht schlafen und waren gezwungen ohne Erholung zur Frühschicht zu gehen. Im Zusammenhang mit obigem bitte ich um die Veranlassung der Entlassung der Kollegin O. in einem Disziplinarverfahren und die Veran­ lassung, dass sie das Hotel bis zum 15. 12. 1973 verlässt.159 156 Vgl.

ebd. Nr. 89, Aktennotiz, Grundsätzliche Klärung von Fragen der Zusammenarbeit mit der polnischen Heimleiterin, Kollegin K. [Name anonymisiert], Leipzig, 21. 12. 1973. 157 Vgl. ebd. Nr. 88, Betr.: Einsatz polnischer Werktätiger im VEB Buntgarnwerke Leipzig, Leipzig, 7. 11. 1972, S. 7. 158 Vgl. ebd. Nr. 90, Brief an den Direktor, Leipzig, den 28. 5. 1973. 159 Ebd. Nr. 89, Dyrekcja VEB Buntgarnwerke, Lipsk, 14. 12. 1973, [Name anonymisiert].

130   2. Akteure und Kontakträume Leider sind die Reaktion der Direktion und damit die letztendliche Konse­ quenz für die polnische Vertragsarbeiterin nicht bekannt. Der Bericht der Be­ treuerin spiegelt aber ihre moralische Entrüstung wider und zeigt die Un­ nachgiebigkeit der polnischen Verantwortlichen gegenüber disziplinarischen Verstößen. Besonders anstößig war der Kontakt der polnischen Frauen mit Männern, wie auch das nächste Beispiel aus gleicher Provenienz belegt: Ich bitte sehr um die Intervention der Miliz in der Angelegenheit des Aufenthalts des Bür­ gers W.T. auf dem Gebiet unseres Hotels […]. Der Bürger W.T. eröffnete mir am 5. 2. 1973 um 10.15 Uhr, dass er im Besitz eines Schlüssels zu unserem Hotel ist. Er erlaubt sich den Zutritt zum Hotel zu später Stunde. Er geht in die Zimmer der Mädchen und benimmt sich unangemessen. Er spricht gut polnisch. Durch sein Verhalten bewirkt er Unruhe und ­Unordnung und den Bruch der Disziplin. Ich betrachte es als unabdingbar, dass er von der Miliz den Zutritt zum Hotel verboten bekommt und ihm die Schlüssel zum Hotel abgenom­ men werden.160

Worin die Unangemessenheit des Benehmens des Mannes lag und welche Po­ linnen betroffen waren, ist genauso wenig aus der Notiz zu erfahren, wie die genaue Identität oder Funktion des Mannes. Deswegen bleibt unklar, woher er den Schlüssel zum Eintritt ins Hotel bekommen hatte. Es könnte also durch­ aus ebenso zutreffen, dass seine Anwesenheit im polnischen Hotel von den Polinnen geduldet wurde. Der polnischsprachige Deutsche muss also keines­ wegs ein unbeliebter Gast gewesen sein, sondern verkehrte womöglich freund­ schaftlich mit den polnischen Arbeiterinnen. Er erregte aber durch sein Ver­ halten Anstoß bei der Betreuerin und hinterließ aus ihrer Sicht Unordnung und Unruhe. Sie sorgte sich um die moralische Integrität der ihr Anvertrauten und es hat den Anschein, dass sie nicht so sehr im Namen der Hotelbewohne­ rinnen als vielmehr aus eigenem Antrieb handelte. Die polnischen Vertragsar­ beiterinnen wurden so im Hotel von ihrer deutschen Umwelt – und insbeson­ dere Männern – abgeschottet. Wenn es ihnen gelang, diese einzuschmuggeln oder sich die Männer selbst auf verborgenen Pfaden Zutritt verschafften, schlugen die Alarmglocken der Betreuer und wohl auch des Betriebes. Die Isolation der ‚unschuldigen‘ Mädchen war demnach eine Grundbedin­ gung eines anständigen Aufenthaltes in der DDR. In seiner Liebesgeschichte von Peter und Paffka griff Peter Löpelt ebenfalls den kontrollierten Heimall­ tag auf. Peter versucht, Paffka im Wohnheim anzurufen, was aber von der Heimleiterin Porębska, die die eingehenden Anrufe abfängt, untersagt wird. Als er kurz entschlossen ins Wohnheim eindringt, wird er wenig später im Zimmer der Mädchen entdeckt. Die Betreuerin hält eine Standpauke: 160 Ebd.

Nr. 90, Dyrekcja VEB Buntgarnwerke, Lipsk, 6. 2. 1973, [Name anonymisiert].

2.2. Polnische Vertragsarbeiter in Leipzig   131 Wenn man gut erzogen wurde, weiß man, was sich gehört…Zum Beispiel, daß man sich in unserem Heim nicht ständig Kerle mit ins Bett nehmen kann. Oder daß man zu nächtlicher Stunde keinen Besuch bei jungen Damen macht. Das hier ist kein öffentliches Haus, obwohl manche Leute das anzunehmen scheinen…161

Als Peter ein weiteres Mal, diesmal dramatischerweise nach dem Duschen und gerade nackt aus dem Badezimmer kommend, erwischt wird, verweist Pani Porębska Peter des Wohnheims und schickt Paffka nach Volkspolen zu­ rück. Die Sequenzen belegen jeweils die strenge Sexualmoral, die unter den polnischen Vertragsarbeiterinnen herrschen sollte. Auf ihre Jugend oder – wie im Roman Gefühle – wurde seitens der Aufsichtsführenden wenig Rücksicht genommen. Das Vertragsarbeiterleben sollte nicht zu ausschweifendem Le­ bensstil oder das, was man dafür hielt, verführen. Röhr glaubt sogar, belegen zu können, dass auf polnischer Seite Eheschließungen zwischen Polinnen und Deutschen unerwünscht waren.162 Das unter jungen Leuten anzutreffende Sexual­leben empörte die Wächter des Systems und – wie weiter oben schon angedeutet – die katholische Kirche. Nicht auszuschließen ist natürlich, dass auch die politischen Betreuer stärker in religiösen Vorstellungen verhaftet ­geblieben waren, als die sozialistische Neuordnung vorsah. Wahrscheinlich ist die ideologische Nähe keineswegs zufällig, auch wenn sozialistische Sexual­ moral sich offiziell aus anderen Quellen als Gottesfurcht speiste. Immerhin scheinen einige Problematiken des Liebeslebens nicht nur mora­ lische Bedenken, sondern auch praktische Folgen hervorgerufen zu haben. Jedenfalls lud der Leipziger katholische Priester zu einer Messe mit anschlie­ ßender Vorlesung einer Ärztin zu Befruchtung und Verhütung einer unge­ wollten Schwangerschaft.163 Sicherlich waren in erster Linie die katholische Auffassung von Sexualität und konservative Verhütungsmethoden Inhalt die­ ses Vortrages, das Verhalten (und dessen Folgen) der Vertragsarbeiter dürfte aber den Anlass für diese Rede ans Gewissen der ‚ausschweifenden‘ Jugend gewesen sein. Wie sensibel auch die DDR-Umwelt auf das Freizeitverhalten der polni­ schen Vertragsarbeiterinnen reagierte zeigt eine Eingabe von Anwohnern an die Betriebsleitung der Buntgarnwerke: Am Sonnabend, 24. 3. und Sonntag, 25. 3. 73 wurde in der Zeit von 9 Uhr morgens bis zum späten Abend durch poln. Kolleginnen Radios bezw. Tonbandgeräte an die geöffneten Fens­ ter gestellt und mit Lautstärken betrieben, die man in der gesamten Umgebung hören konn­ te. Besonders betroffen waren die anliegenden Einwohner Nonnenstr. 44a u. 44b. Der Lärm war so unerträglich, dass nicht einmal die geschlossenen Doppelfenster halfen. Alle Anrufe 161 Löpelt:

Rosen, S. 100. Röhr: Ideologie, S. 305. 163 Vgl. AIPN, BU 0639/148, Notatka, 8. 10. 1976, Bl. 32. 162 Vgl.

132   2. Akteure und Kontakträume durch Betriebsschutz u. a. hatten keinen Erfolg. Die Mädchen saßen z. T. sehr leicht beklei­ det auf den Fenstersimsen, sodass Passanten nur die Köpfe schüttelten. Die Volkspolizei lehnte das Eingreifen mit dem Hinweis ab, dass sie den Betrieb für die Ruhestörung verant­ wortlich machen würden. Wir Einwohner bitten deshalb die Betriebsleitung dringend da­ rauf hinzuwirken, dass sich solche Vorkommnisse nicht wiederholen. Ausserdem [sic!] ­bitten wir darum, dass entsprechende Verbotsschilder für Motorräder angebracht werden, da immer mehr Jugendliche mit Krädern den Hof befahren und damit auch sehr stören.164

Die Ruhestörung und Erregung öffentlichen Ärgernisses durch die offensicht­ lich gelangweilten polnischen Vertragsarbeiterinnen trafen auf eine spießige Nachbarschaft, die das frühlingshafte Wochenende wie gewohnt in der Idylle der Vorstadt verbringen wollte. Die männliche Jugend empfand das Frauen­ wohnheim und die dort posierenden jungen Frauen jedoch als echte Attrak­ tion. Halbstarke Jugendliche umkreisten das Gebäude auf ihren fahrbaren Untersätzen und erhofften sich einen Funken Aufmerksamkeit der fremden Schönheiten. Das Gleichgewicht der DDR-Nachbarschaft wurde so empfind­ lich beeinträchtigt, das Ärgernis sollte unbedingt beseitigt werden. Polnische Männer wurden klassischerweise mit Alkoholismus und Schläge­ reien in Verbindung gebracht. Wenn polnische Arbeiter in größeren Gruppen in die Lebenswelten der DDR ‚eindrangen‘, hatte dies meistens Folgen für das Gefüge im öffentlichen Raum oder sogar den sozialen Frieden: „Das Zusam­ menleben unserer großen Belegschaft auf dem Gebiet der 50 000 Einwohner zählenden Stadt führt zu vielen Problemen im alltäglichen Leben – Geschäfte, Cafes, Restaurants usw.“165 Konflikte waren jedenfalls keineswegs ausgeschlossen. In Kneipen und Re­ staurants kam es unter Alkoholeinfluss zu Schlägereien. Mancherorts war es Praxis der Deutschen Volkspolizei, ein Register zu den mutmaßlich schuldi­ gen polnischen Beteiligten zu führen, während ein solches für Deutsche nicht angelegt wurde.166 Die DDR-Umgebung brandmarkte die ‚Eindringlinge‘ und sah bei sich selbst kein Verschulden an zum Teil auch nationalistischen Span­ nungen zwischen Deutschen und Polen. Die Funde in den Dokumenten häufen sich Anfang der achtziger Jahre auf­ fällig – also dann, als die Polen in der DDR ohnehin im Fokus der Aufmerk­ samkeit der Behörden und Institutionen standen. Es liegt also nahe, dass man zu anderen Zeiten durchaus geneigt war, über gewisse Lappalien hinwegzu­ 164 SächsStA,

StA-L, 20937 VEB Buntgarnwerke Leipzig Nr. 90, Eingabe, Betr. Heim der poln. Werktätigen, Leipzig, 26. 3. 1973. 165 AAN, KC PZPR, Wydział Zagraniczny Nr. 905 (788/8), Informacja na temat bezpie­ czeństwa, ładu, porządku i dyscypliny na terenie Biura Budów „Komomex“ w Witten­ berdze za rok 1974, [undatiert], Anhang zu Dokument 1, S. 7. 166 Vgl. ebd. Nr. 883 (837/7), Protokół z  posiedzenia Egzekutywy Komitetu Partyjnego PZPR w NRD w dniu 23 listopada 1978r., (undatiert), Dokument 20, S. 1.

2.2. Polnische Vertragsarbeiter in Leipzig   133

sehen, in Zeiten gesteigerter Aufmerksamkeit und Profilierungspflicht der ­Berichtenden aber auch Kleinigkeiten registrierte. Dies geht einher mit der Beobachtung der PVAP, auch die Bevölkerung der DDR habe sich den Polen gegenüber ein provokantes Auftreten angewöhnt: Sie würden in Gaststätten nicht bedient, beim Einkaufen müssten sie sich ausweisen, der Verkauf werde ihnen verweigert und ihnen gedroht, dass man in Volkspolen Ordnung schaf­ fen müsse.167 Normalerweise wurde zum Beispiel Alkoholkonsum eher als Jugendsünde eingestuft. „Sie wissen doch, wie das immer ist, bei den Jungen, da war mal dort und mal da was […] das Übliche, also nichts Dramatisches“168, erinnert sich zum Beispiel ein hochrangiges Gewerkschaftsmitglied. Gerade im Oktober 1980 häuften sich im Leipziger Metalleichtbaukombi­ nat jedoch die Klagen. Dabei wurden nur in den seltensten Fällen genaue Be­ gründungen angeführt: „Das Verhalten einiger polnischer Werktätiger in der Öffentlichkeit und im Wohnheim entsprachen [sic!] in den letzten Wochen nicht immer den Normen des gesellschaftlichen Zusammenlebens.“169 Hin­ weise auf disziplinarische Probleme gab es schon vorher. So waren schon 1979 im Werk Plauen des Kombinats 18,3 Prozent der nach Volkspolen zurückkeh­ renden Arbeiter aus disziplinarischen Gründen und 5,7 Prozent sogar fristlos entlassen worden.170 1980/81 war die „politisch-ideologische Arbeit“ mit den polnischen Arbeitern angesichts der Lage in Volkspolen in vollem Gange. Trotzdem war man im Werk der Meinung, die „Disziplinarverstöße einiger polnischer Werktätiger“ würden sich häufen, was im „Interesse der Arbeiter­ klasse“ unterbunden werde.171 Die Undiszipliniertheiten betrafen dabei kei­ nesfalls die politische Landschaft, sondern es ging im Wesentlichen um Alko­ holkonsum, Prügeleien und strafrechtliche Delikte, wie ein Bericht verdeut­ licht. Die Strafen waren im Einzelfall sehr hart: Folgende Vorkommnisse polnischer Werktätiger, die im Werk Leipzig beschäftigt sind, fan­ den statt: – Am Sonntag, dem 19. 10. 80, gegen 22.00 bis 23.00 Uhr fand auf der Mockauer Str. eine Schlägerei zwischen zwei poln. Werktätigen statt, die beide betrunken waren. […] Der poln. 167 Vgl.

ebd. Nr. 1013 (870/18), Informacja o  stanie bezpieczeństwa, ładu i  porządku w  miejscu zamieszkania i  zatrudnienia pracowników polskiego budownictwa i  usług eksportowych w  NRD, Berlin, 17. 1. 1981, S. 4, angehängt an: Protokół z  posiedzenia ­Egzekutywy Komitetu Partyjnego PZPR w  NRD odbytego w  dniu 17. 02. 1981r., [un­ datiert], Dokument 8. 168 Interview mit Herrn L. 169 SächsStA, StA-L, 20875 VEB Metalleichtbaukombinat, Kombinatsleitung Nr. 7488 (Karton 2/528), Einsatz polnischer Werktätiger im VEB MLK – Werk Leipzig, 28. 10. 1980, S. 1. 170 Vgl. ebd. Nr. 7486 (Karton 2/257), Bericht zum Einsatz polnischer Werktätiger im VEB Metalleichtbaukombinat, Werk Plauen, Plauen, 2. 8. 1979, Anlage 1. 171 Vgl. ebd. Nr. 7488 (Karton 2/528), Einsatz polnischer Werktätiger im VEB MLK – Werk Leipzig, 28. 10. 1980, S. 2/3.

134   2. Akteure und Kontakträume Werktätige L., der schon mehrere Verstöße hatte, wurde vom polnischen Heimkomitee nach Hause geschickt. Beim poln. Werktätigen W. war es ein erstmaliger Verstoß – bekommt eine Disziplinarmaßnahme. – Ebenfalls wurde vom poln. Heimkomitee der poln. Werktätige R., R.-A., […] wegen wie­ derholter Trinkerei und damit verbundener Arbeitsbummelei nach Hause geschickt. […] – Der poln. Werktätige P., B. […] fand in der Nacht vom 18./19. 10. 1980 im betrunkenen Zustand den Heimweg nicht, lief über Eisenbahnkörper und fiel hin, wobei er sich das ­Gesicht aufschlug. Am darauffolgenden Montag, dem [sic!] 20. 10. 80, ging er nicht zur ­Arbeit. – Der polnische Werktätige O.,T. […] stahl am 18./19. 10. 80 im betrunkenen Zustand einer DDR-Bürgerin die Brieftasche mit 370,-M Inhalt. Die Abteilung K [Kriminalpolizei] der DVP bearbeitet diesen Vorgang. Nach Abschluß durch die K [Kriminalpolizei] wird er nach Hause geschickt. – Am 18. 10. 1980 benutzten die polnischen Werktätigen K., J. […] P., A. […], im betrunke­ nen Zustand ihr eigenes Motorrad (Fahrerlaubnis vorhanden) und fuhren in die Zaunfelder der BSG Motor Mockau. Die Verkehrspolizei, welche gleich zur Stelle war, bearbeitet diesen Vorfall.172

Nur einer der auffällig gewordenen Polen war über dreißig, alle anderen waren in den Zwanzigern. Nur der Diebstahl stellte ein schwerwiegenderes Vergehen dar, der Rest war offensichtlich gerade gut genug, um ein Exempel zu statuieren. Zwar sei das Zusammenleben der Polen mit der Bevölkerung unproblematisch und auch die Arbeitsdisziplin gut. Dennoch blieben „trotz aller Bemühungen Fehlschichten nicht aus, die überwiegend durch den ­Genuß von Alkohol entstehen.“ Persönliche Gespräche brächten Erfolge, aber Verweise und die Lösung des Arbeitsverhältnisses seien manchmal unaus­ weichlich. Daher schätzte man sich im Metalleichtbaukombinat glücklich, dass die Zusammenarbeit mit der Polizei reibungslos funktionierte.173 Die Toleranz­schwelle sank zu Zeiten der politischen Krise sichtlich, selbst bei ­guter Arbeit wurden Verstöße geahndet und polnische Arbeiter entlassen. So geschehen im Februar 1981 wegen „Alkoholmissbrauchs“, obwohl Arbeit und Integra­tion in den Betrieb als gut galten: Der Kollege D. arbeitete vom 30. 06. 1980 bis 25. 02. 1981 laut Abkommen zwischen der VR Polen und der DDR in unserem Betrieb. Sein Einsatz erfolgte im Bereich der Lagerwirt­ schaft als Transportarbeiter im Form- und Stabstahllager. Zu seinen Aufgaben gehörte das Be- und Entladen der Waggons, Lkw’s und innerbetrieblicher Transportfahrzeuge. Außer­ dem gehörte zu seinen ständigen Aufgaben das Stapeln, Einlagern und die Zuführung der Profile der Säge. Kollege D. erwarb die Bedienungsberechtigung für Hebezeuge Gruppe III und konnte somit als Kranfahrer eingesetzt werden. Kollege D. hat die ihm übertragenen Arbeitsaufgaben zufriedenstellend ausgeführt. Er zeigte auch Fleiß und Bereitschaft, ver­

172 Ebd.,

Mitteilung, Leipzig, 27. 10. 1980 [Namen anonymisiert]. ebd. Nr. 7487b (Karton 2/528), Bericht über den Einsatz der polnischen Werktäti­ gen im VEB Metalleichtbaukombinat – Werk Leipzig – Stand: 30. 09. 1981, Leipzig, den 20. 10. 1981, S. 1 und 7.

173 Vgl.

2.2. Polnische Vertragsarbeiter in Leipzig   135 stieß aber einige Male gegen die Arbeitsdisziplin durch Alkoholmißbrauch. Er war kollegial, hilfsbereit und hatte guten Kontakt zu allen Kollegen seines Arbeitskollektivs.174

Bereits im Oktober und November 1980 waren zwei weitere Polen entlassen worden. Wegen einer Verfehlung außerhalb des Betriebes – die nicht mehr näher zu bestimmen ist – und trotz „guter Arbeitsdisziplin“ und eines Verhal­ tens im Betriebswohnheim „ohne Tadel“ wurde ein polnischer Kollege nach Volkspolen zurückgesandt.175 In einem anderen Fall wurde angesichts einer Entlassung berichtet: „Der Kollege L. [Name anonymisiert] ist ruhig und flei­ ßig, muß jedoch in letzter Zeit als nicht sehr zuverlässig bezeichnet werden. Sein Verhalten im Wohnheim ließ während der letzten Wochen ebenfalls zu wünschen übrig.“176 Diese Auflistung ist exemplarisch für eine ganze Reihe ähnlicher Fälle im Metalleichtbaukombinat in den Jahren 1980/81. Disziplinarverstöße und Fehlverhalten wie „Alkoholismus“ und „Hooliga­ nismus“ waren wohl dennoch ursprünglich durch mangelhafte Freizeitange­ bote sowie in bestimmten soziologischen Faktoren auf deutscher wie polni­ scher Seite begründet. Pikanterweise waren wohl gerade Frauen das Streit­ objekt.177 Sekulski bündelt das zu einer historisch inspirierten Frontstellung zwischen Deutschen und Polen: Als der Vertragsarbeiter Zdzicho einem Deut­ schen auf einer Feier die Freundin ausspannt, bilden sich in sekundenschnelle deutsche und polnische Kampfgruppen: „Wir springen aus dem Saal. Die Situ­ ation ist angespannt. Es riecht nach Grunwald.“178 Allerdings kommt es dann doch nicht zur scheinbar vorprogrammierten Schlägerei, weil es einem polni­ schen Kollegen gelingt, den Streit zu schlichten. Für den gehörnten Deutschen ist die Situation jedoch klar: „Scheiß Arbeiter! Scheiß Ausländer! Scheiß Po­ len!“ Die Polen versuchen, ihn zu beruhigen und zeigen Verständnis für sei­ nen Ärger. Sie wissen, dass solche Konflikte und Wortwahl durch verantwort­ liche Stellen bestraft werden können.179 Sekulkis ironisierende Anspielung auf Grunwald und die deutsch-polnische Geschichte ist für die Wahrnehmung zwischen deutschen und polnischen Vertragsarbeitern durchaus bezeichnend. 174 Ebd.

Nr. 7487a (Karton 2/528), Beurteilung des polnischen Kollegen D., J. [Name an­ onymisiert], geb. 24. 06. 1958, Leipzig, 25. 2. 1981. 175 Vgl. ebd., Beurteilung des polnischen Kollegen O., T. [Name anonymisiert], geb. 19. 05. 1958, Leipzig, 6. 11. 1980. 176 Ebd., Beurteilung des Kollegen L., St. [Name anonymisiert], geb. 13. 01. 1948, Leipzig, 21. 10. 1980. 177 Vgl. AAN, KC PZPR, Wydział Nauki i  Oświaty Nr. LVIII/546, Sprawozdanie z  badań nad warunkami życia i pracy polskich załóg budujących zakłady przemysłowe w NRD., unter Dokument 1, Warszsawa, 4. 12. 1972, S. 5. 178 Sekulski: Przebitka, S. 166. 179 Vgl. ebd., S. 168.

136   2. Akteure und Kontakträume Gerade unter jungen Menschen waren Konflikte unter Alkoholeinfluss, befeu­ ert durch interethnische Konkurrenz, kaum zu vermeiden. In einem Bericht eines Mitarbeiters der Staatssicherheit über seine Alltags­ beobachtungen geht ansatzweise hervor, wie Polen und Deutsche außerhalb der Arbeit miteinander umgingen, wie feindlich sich beide Nationalitäten wahrnahmen und welcher Kontrolle polnisches Leben immer wieder unterlie­ gen konnte: Bei einem Besuch des Cafés in der Gaststätte Lindenhof in Leipzig-Grünau am Abend des 24. 11. 1984 beobachtete ich mehrere Gäste, bei denen es sich offensichtlich um polnische Bürger handelte, die z. Zt. in der DDR arbeiten. Diese männlichen Personen nahmen in größeren Mengen Alkohol zu sich, in dessen Folge 2 von ihnen dadurch hervortraten, daß sie andere Gäste des Cafés ansprachen und dabei äußerten: ‚Ruski Scheiße!‘ und mehrmals die Abkürzung ‚NRF‘ [wahrscheinlich in Abwandlung von NRD, die polnische Entspre­ chung von DDR; NRF heißt dann wohl Deutsche Faschistische Republik] verwendeten. Diese Äußerungen fanden bei den DDR-Bürgern keinen Widerhall. Es war eine ablehnende Haltung gegenüber den Polen zu beobachten. Die beiden männlichen Personen, die ca. 30 bis 35 Jahre alt sind, wohnen vermutlich in einem in der Nähe des Cafés gelegenen Wohn­ heim.180

Die Anwesenheit polnischer Arbeiter war bei deren Fehlverhalten anstößig, ihre Neigung zum Alkoholgenuss sprichwörtlich. Solch ein Verhalten, wenn nicht sogar die Polen selbst, wurden – so suggeriert es der Bericht – in der DDR abgelehnt.

Im Betrieb Wenn polnische Arbeiter neu in die Leipziger Betriebe kamen, musste von deutscher wie polnischer Seite ein Eingewöhnungsprozess am Arbeitsplatz durchlaufen werden. Die Sprachregelung in den Betrieben war, dass die Ak­ zeptanz der Deutschen den Vertragsarbeitern gegenüber steigen solle: „Fein­ fühliger sind alle Bedingungen zu beachten, die auf die polnischen Werktäti­ gen einwirken, wie Sprache, Trennung von der Familie und müssen zur wei­ testgehenden Hilfe ihnen gegenüber führen.“181 Die Vertragsarbeiter wurden trotzdem oftmals von oben herab behandelt, wie sich auch schon an der War­ nung vor der Wahrnehmung der Polen als ‚Fremdarbeiter‘ weiter oben gezeigt hat: „Auftretende Probleme in der Zusammenarbeit mit den polnischen Werktätigen resultieren vornehmlich aus oberflächlichem Verhalten von 180 BStU,

MfS, BV Leipzig, Abt. II Nr. 421/01, Hinweis auf antisowjetische Äußerungen durch in der DDR arbeitende polnische Bürger, Leipzig, 26. 11. 1984, Bl. 15. 181 SächsStA, StA-L, 21123 SED-BLL Abt. Grundstoffindustrie Nr. IV/C/2/6/508, Nieder­ schrift über eine Beratung mit Parteisekretären, in deren Betriebe [sic!] zeitweilig Werk­ tätige aus der befreundeten Volksrepublik Polen beschäftigt sind, am 10. 5. 1973 im Kombinat „Schwarze Pumpe“, Leipzig, 17. 5. 1973, S. 6.

2.2. Polnische Vertragsarbeiter in Leipzig   137

DDR-Bürgern, aus der Position der Deckung der Arbeitskräftelücke und aus nationalistischen Tendenzen.“182 Die Sanktionsschwelle bei nationalistischem und rassistischem Verhalten der deutschen Belegschaft war niedrig.183 Vor­ kommnisse wurden rigoros registriert und thematisiert. Der Leipziger Staatssicherheit wurde durch einen IM zugetragen, der Di­ rektor des VEB Delicata Leipzig verhalte sich laut einer Aussage des polni­ schen Vizekonsuls polenfeindlich. Er kehre den „großen Deutschen“ he­raus.184 Deutsche wie polnische Seite waren äußerst hellhörig, was Diskriminierun­ gen und deren Bekämpfung anging. Die Staatssicherheit maß dabei durchaus mit zweierlei Maß. Sie registrierte jene Polenfeindlichkeit, die in ­ihren eige­ nen Reihen ein oft gepflegtes Stereotyp darstellte. Sie ist damit ein sinnfälliges Beispiel der Diskrepanz zwischen sozialistischer Ideologie und langfristig ein­ geübten Praktiken. Bei Aussprachen zwischen deutschen und polnischen Kolleginnen waren die nicht erfüllten Normvorgaben und Verspätungen zu Arbeitsbeginn ein Thema. An solche Fragen war auch das innerbetriebliche Klima gekoppelt: Insgesamt entstand der Eindruck, daß das kollegiale Verhältnis in der Abteilung nicht das Beste ist. Beide Seiten zeigten z. Zt. nicht das Bestreben, hier eine Verbesserung des Arbeits­ klimas anzustreben. Dies wurde jedoch in der Aussprache empfohlen, wobei beide Seiten sich ständig bemühen sollten, ein besseres Arbeitsklima zu finden. Kolln. K. [polnische Be­ treuerin, Name anonymisiert, D.L.] hat dies dann auch in den Schlußworten ihren Kolle­ ginnen übersetzt. Es bestand Übereinstimmung darin, daß diese Aussprache dazu beitragen sollte, eine Festigung innerhalb des Kollektives zu erreichen und weitere Verärgerungen auszuschalten.185

Die angebliche Beschimpfung polnischer Vertragsarbeiterinnen als „Polen­ schwein“ im VEB Buntgarnwerke wurde geprüft und sollte nicht geduldet werden.186 Warum solche Auffälligkeiten wieder in den Buntgarnwerken do­ kumentiert sind, ist nicht leicht zu beantworten. Entweder waren hier wieder­ um die Aufmerksamkeit und die Anforderungen höher, vielleicht waren Kon­ flikte unter Frauen aber auch häufiger. Eine plastische Einführung in die Kon­ stellation polnischer junger Frauen an deutschen Arbeitsplätzen bietet zum Beispiel die Szene, in der sich Peter und Paffka in Löpelts Roman das erste Mal begegnen. Schon vorher hatte der Meister Peter aufgeklärt: „Einen gan­ 182 Ebd.,

S. 3. Röhr: Hoffnung, S. 129. 184 Vgl. BStU, MfS, BV Leipzig, Abt. II Nr. 145, Information 656/83, Leipzig, 21. 9. 1983, Bl. 121. 185 SächsStA, StA-L, 20937 VEB Buntgarnwerke Leipzig Nr. 90, Aussprache mit poln. Kolle­ ginnen des HB I am 25. 10. 1973, 5. 11. 1973, S. 1. 186 Vgl. ebd., Notiz über die am 18. 10. 1973 durchgeführte Veranstaltung „Der Direktor lädt ein“ mit polnischen Werktätigen, Leipzig, 18. 10. 1973, S. 1. 183 Vgl.

138   2. Akteure und Kontakträume zen Haufen neuer Polinnen haben wir in der Zwischenzeit gekriegt. Und ver­ dammt hübsche Dinger sind darunter!“187 Die sexistische Bemerkung stört Peter, ist aber sicherlich ein nicht zu unterschätzendes Merkmal polnischer Frauenarbeit in der DDR. Als Peter mit seinem Meister in der Fabrikhalle der Frauen arbeitet, trifft Paffka Urbańska verspätet am Arbeitsplatz ein: Da sagt die Meisterin: ‚Urbańska! Es ist heute das dritte Mal in diesem Monat, daß du zu spät kommst. Diesmal gibt es einen Verweis!‘ Sie sagt das nicht böse, eher mit einer Spur Herablassung, wie man mit Leuten spricht, von denen man nicht viel hält. Eine Polin ist das Mädel, sieh einer an! […] Die kleine Polin bekommt einen bösen, fast möchte man sagen gewöhnlichen Zug um den Mund und entgegnet heftig: ‚Ihren Verweis Sie können gleich weiterschicken an die Grenzer, die mich eine Stunde lang aufgehalten haben!‘ und sehr be­ tont: ‚Pani Majsterka!‘ Der Meisterin liegt nicht an Streit. Fängt sie mit einer an, glaubt die nächste, auch streiten zu müssen. Sie kennt das. Trotzdem kann sie Bummelei nicht durch­ gehen lassen, und das Mädel gehört zu den Unzuverlässigen. Was hat sie mit der schon ge­ redet. ‚Hör auf, Urbańska!‘ sagt sie, und es ist ihrer Stimme anzuhören, wie überdrüssig sie es ist, immer wieder dasselbe zu sagen. ‚Deine Ausreden öden mich an! Mal hast du Magen­ schmerzen, mal hat eine andere deinen Betriebsausweis eingesteckt, und jetzt sind es die Grenzer. Alles faule Eier. Sag doch, daß du keine Lust zur Arbeit hast. Für solche fällt uns auch was ein. Aber laß es nicht jedes Mal die Kaniewska [polnische Kollegin von Paffka Urbańska] ausbaden. Die hat genug andere Sorgen…‘ Peter steht der Mund ein wenig offen. Völkerverständigung ist das ja nicht gerade, was die Meisterin hier macht. […] Das Mädchen empfindet sehr wohl die Geringschätzung, mit der die Meisterin sie behandelt.188

Der Streit eskaliert, Paffka droht mit einer Beschwerde bei der Gewerkschaft. Die Meisterin weist sie scharf zurecht und fordert sie zur Weiterarbeit auf. Peter ist empört, aus seiner Sicht hat die Meisterin Paffka wie einen Menschen zweiter Klasse behandelt. Die umstehenden und sein Meister reagieren jedoch nicht. Paffka schimpft aufgebracht: „Ach, Deutsche! Verfluchte Scheiß­ deutsche!“189 Der Konflikt dreht sich um wesentliche Berührungspunkte zwi­ schen Deutschen und Polen im Betrieb – einmal ganz abgesehen davon, dass es um einen Konflikt jung gegen alt und Vorgesetzter gegen Angestellten han­ delt. Paffka und die Meisterin streiten um die Arbeitsleistung des polnischen Mädchens, wobei die Meisterin von vornherein annimmt, die polnische Ar­ beiterin sei eine so genannte Bummlerin. Die Streitenden sind aber nicht nur aufgrund ihrer Stellung im Betrieb, sondern nach Peters Wahrnehmung auch wegen ihrer nationalen Zugehörigkeit nicht gleichgestellt. Der Konflikt nimmt schnell eine ethnische Verschärfung an und endet ungeklärt in Paffkas pau­ schaler Beschimpfung aller Deutschen. Angespielt wird auch darauf, dass der deutsche Betrieb noch nachsichtig sei im Vergleich zu der polnischen Betreu­ 187 Löpelt:

Rosen, S. 24. S. 26/27. 189 Vgl. ebd., S. 27–30. 188 Ebd.,

2.2. Polnische Vertragsarbeiter in Leipzig   139

erin. Paffka gerät so als Frau und Polin in die Defensive, einen Ausweg kann es nur in der völligen Anpassung an den ‚deutschen‘ Arbeitsrhythmus geben. Auch anderswo wurde der Nutzen der polnischen Vertragsarbeiter an ih­ rem Beitrag zur Steigerung der Wirtschaftsleistung der DDR und somit – ganz auf der Linie der Propaganda – am Aufbau des Sozialismus als Projekt gemes­ sen. Die positive Berichterstattung über Polen beschränkte sich zumeist auf die Anerkennung ihrer Arbeitsleistung und ihre Einordnung in den Betrieb und die Ziele der DDR-Wirtschaft. Zum 30-jährigen Jubiläum des Görlitzer Vertrages erschien in der Betriebszeitung des VEB Elektroschaltgeräte Grim­ ma unter der Überschrift „Unser fester Bruderbund hat sich bewährt. Auch polnischen Kollegen liegt eine gute Planerfüllung am Herzen“ eine Huldigung der Zusammenarbeit: „In den vergangenen Jahren, in denen die polnischen Kollegen hier bei uns arbeiten [sic!] hat sich eine enge und feste Verbindung geknüpft.“ Die Planerfüllung liege den Polen – ebenso wie den Deutschen, ist man versucht anzufügen – am Herzen.190 Die Ideologie des Arbeitskräfteein­ satzes wurde in Wahrnehmungsmuster integriert; aus dem ‚sozialistischen‘ Blickwinkel der DDR ergab sich kein Widerspruch. Sinnvolle Arbeit garan­ tierte glückliche Menschen und so die geglückte Integration. Die Tragweite dieses Wahrnehmungsmusters färbte auf die deutsch-polni­ schen Kontakte ab und stärkte die Bindungen der Menschen. In einem einer Fotografie zweier polnischer Arbeiter zugeordneten Text liest man: Als sich M.M. […] und Z.Cz., zu Hause in der Wojewodschaft Bydgoszcz, entschlossen, für einige Zeit in der DDR zu arbeiten, dachten sie auch gleich daran, Erfahrungen zu sam­ meln, ist immer nützlich. Ihr Eindruck jetzt nach einem Vierteljahr im Bereich Einzelteil unseres Betriebes: Die Arbeit läuft, ist gut organisiert. Sie haben sich bei uns schon einge­ lebt. Zweimal im Monat zieht es sie doch nach Hause.191

Die möglichen neuen Erfahrungen und der Arbeitsablauf standen im Mittel­ punkt, das Private war zweitrangig. Man lebte in einer Enklave, die Arbeitsleis­ tung sollte stimmen und wurde gelobt.192 Sobald die Integration in den Arbeits­ rhythmus geglückt war – so hat es den Anschein – sollte sich auch das Verhält­ nis zu den deutschen Kollegen positiv gestalten. Nach diesem Muster sind Beurteilungen von polnischen Lehrlingen aus den siebziger Jahren gestrickt: Die Kollegin Sz. arbeitet in der Abteilung G1. Sie führte am Band die verschiedensten Ar­ beiten der Leergehäuseproduktion und der Blechkapselung von Lastschaltern durch. Durch Fleiß erarbeitete sie sich Kenntnisse, die es ihr ermöglichten, an jedem Arbeitsplatz am 190 Vgl.

ebd., 20741 VEB Elektroschaltgeräte Grimma Nr. 777, Unser fester Bruderbund hat sich bewährt. Auch polnischen Kollegen liegt eine gute Planerfüllung am Herzen, in: Schalter, Nr. 11, 9. Juli 1980, S. 1. 191 Ebd., 20812 VEB KombinatPolygraph. Leipzig Nr. 1323. 192 Vgl. Interview mit Frau E.

140   2. Akteure und Kontakträume Band eingesetzt zu werden. Die ihr übertragenen Arbeiten führte sie sehr selbständig und ordentlich aus. Sie trug entscheidend mit dazu bei, daß am Band die vorgegebenen Normer­ füllungen erreicht wurden und strahlte dabei auf andere Kolleginnen mit aus. In das Kollek­ tiv fügte sie sich ein und wurde durch ihre offene aber bescheidene Art anerkannt und ge­ achtet. Sie ist sehr kontaktfreudig und hat ein gutes Arbeitsverhältnis mit ihren deutschen Kolleginnen und Kollegen.193

Oder: Der Kollege W. ist seit 1972 Mitglied der Brigade Friedensfahrt. In diesem Zeitraum hat er viele Arbeitsprozesse kennengelernt und führte Montagearbeiten an FLTAS und gußgekap­ selten Geräten durch. Er eignete sich viele Fertigkeiten der Metallbearbeitung und der Mon­ tagetechnologie an. In das Kollektiv fügte er sich gut ein. Die ihm übertragenen Arbeiten wurden von ihm ordentlich, sauber und den Qualitätsparametern entsprechend ausgeführt. Er arbeitete sehr selbständig und machte sich immer Gedanken, wie er die Arbeit erleich­ tern konnte. Er reichte selbst einen Verbesserungsvorschlag ein, den er auch realisierte. Er versuchte stets, sein in der Schule erworbenes Wissen in der Praxis umzusetzen. Er ist ein anständiger, hilfsbereiter, höflicher Kollege und wurde ausgezeichnet als Mitglied einer so­ zialistischen Brigade.194

Deutsche und Polen fanden so in der Arbeit zusammen, wie der Erste Sekre­ tär der PVAP auf den Baustellen des Bezirkes Leipzig anlässlich eines Jubilä­ ums nicht müde wurde zu betonen: Wir leben und arbeiten zusammen mit der deutschen Bevölkerung. Ich bin der Meinung, daß die Beziehungen zwischen den polnischen und deutschen Werktätigen sich gut und ordentlich entwickelt haben. […] Außer der Erfüllung unserer Arbeitsaufgaben besteht un­ sere Aufgabe darin, daß unsere beiden Völker sich weiter zusammen finden, besser kennen­ lernen und die Freundschaften sich weiter vertiefen. Die deutschen Genossen schufen uns die Gelegenheit, damit wir unsere Aufgaben gut erfüllen können. Wir arbeiten hier und le­ ben unter Freunden und das ist auch ein Erfolg des vergangenen Zeitabschnitts, des 30jäh­ rigen Bestehens der Volksrepublik Polen und des 25jährigen Bestehens der Deutschen De­ mokratischen Republik.195

Wie deutsch-polnische Kollegialität real aussehen konnte, ist anekdotisch durch einen Zwischenfall im VEB VTA Leipzig kurz vor Weihnachten 1978 überliefert.196 Gegen Mittag wurde ein Brand gesichtet und gelöscht, der in ei­ nem Abfallbehälter im Aufenthaltsraum der Arbeiter ausgebrochen war. Dort hatten sich zwischen 9.15 und 10 Uhr ein deutscher Schichtleiter mit einem deutschen und drei polnischen Kollegen aufgehalten. Da vier der Anwesenden rauchten, lag nahe, dass sich heiße Zigarettenasche entzündet hatte: 193 Ebd.,

20741 VEB Elektroschaltgeräte Grimma Nr. 472, Betr. Facharbeiterausbildung polnischer Kollegen, 24. 5. 1976, S. 1 [Name anonymisiert]. 194 Ebd. [Name anonymisiert]. 195 Ebd., 21123 SED-BLL Abt. Grundstoffindustrie Nr. IV/C/2/6/508, Protokoll der Konfe­ renz des Bezirksvorstandes FDGB in Vorbereitung des 25. Jahrestages der Gründung der DDR und des 30. Jahrestages der Volksrepublik Polen am 31. 5. 1974 im Informati­ onszentrum Leipzig, [undatiert], Diskussionsbeiträge, S. 10/11. 196 Vgl. BStU, MfS, BV Leipzig, KD Leipzig-Stadt Nr. 25/06, Bl. 148–165.

2.2. Polnische Vertragsarbeiter in Leipzig   141 Während dieser Zeit wurde durch die 4 Raucher geraucht. Sie gaben an ihre Asche sowie Zigarettenreste in die vorhandenen Aschebecher [sic!] auf den Tischen gelegt zu haben. Desweiteren wurde in diesem Zeitraum durch diese 5 Personen eine 0,5 Ltr. Flasche Wodka gelehrt. Alle Personen gaben an keinerlei Zigarettenasche in den Abfalleimer geworfen zu haben.197

In den Zeugenvernehmungen gaben die Polen an, sie hätten den Schnaps mit­ gebracht und jeder der Anwesenden habe ein Glas getrunken.198 Der deutsche Schichtführer schilderte die Frühstückspause so, dass die Kollegen zusammen Alkohol getrunken hätten und er selbst einen doppelten Schnaps getrunken habe, jedoch sei niemand betrunken gewesen.199 Aus dem Bericht geht her­ vor, dass die polnischen Kollegen nur wenig deutsch sprachen oder dies in der Vernehmung zumindest vorgaben.200 Im Frühstücksraum dürfte es deswegen nicht zu langen Gesprächen gekommen sein, zumal die drei Polen und die beiden Deutschen jeweils getrennt saßen.201 Kurz vor Weihnachten und am Ende einer Frühschicht stieß man in trauter Eintracht an und leerte gemein­ sam eine Flasche Wodka, den die polnischen Kollegen gestiftet hatten.

Privates Die Reichweite der privaten Kontakte zwischen polnischen Vertragsarbeitern ist vielfach nur auf indirektem Wege oder im vorsichtigen Vertrauen auf die Quellensprache zu bestimmen. Sicherlich lag der Hauptaspekt des Arbeitskräf­ tetransfers auf wirtschaftlichen Faktoren und die soziale Kontrolle war ausge­ sprochen ausgeprägt, so dass Kontakte anfänglich immer unter dem Banner der Völkerfreundschaft im offiziellen Rahmen stattfanden. Trotzdem entstan­ den Bindungen, die den Arbeitsalltag verbesserten und diesen an vielen Stellen überschritten. Auf der anderen Seite wirkten viele der obigen Faktoren dahin­ gehend, dass kaum Kontakte und kaum enge private Bindungen zwischen Deutschen und Polen zustande kamen. Außerhalb der Betriebe waren polni­ sche Vertragsarbeiter wahrscheinlich – zumindest in einer Großstadt wie Leip­ zig – kaum präsent, wie sich auf Nachfragen in Interviews mehrfach erwies.202 197 Ebd.,

Brand im VEB VTA Leipzig Werk II am 17. 12. 1978, Leipzig, 17. 12. 1978, Bl. 150. ebd., Vernehmungsprotokolle, Bl. 160, 162 und 165. 199 Vgl. ebd., Vernehmungsprotokoll, Bl. 156. 200 Vgl. ebd., Brand im VEB VTA Leipzig Werk  II am 17. 12. 1978, Leipzig, 17. 12. 1978, Bl. 150. 201 Vgl. ebd., Vernehmungsprotokoll, Bl. 156. 202 Sowohl Herr T., wie Frau St. und Frau T. hatten polnische Vertragsarbeiter in Leipzig nur am Rande oder nicht wahrgenommen – anders als zum Beispiel vietnamesische Arbeiter. Herr L. erinnert sich sehr wohl an Polen im Betrieb und beschreibt sie auf der Lesart der schriftlichen Quellen als „arbeitsam“, auch wenn es hin und wieder kleinere Probleme gegeben habe, die trotz des Einspringens der Betriebsgewerkschaftsleitung, zum Teil hart bestraft wurden. 198 Vgl.

142   2. Akteure und Kontakträume In Übernahme wiederum der offiziellen Redewendungen schilderten pol­ nische Vertragsarbeiter und Deutsche vereinzelt private Kontakte mit ihren deutschen und polnischen Kollegen. Im Eingangszitat zu diesem Abschnitt betonte eine Arbeiterin der Buntgarnwerke die guten Beziehungen zwischen Deutschen und Polen. Durch die „tägliche Zusammenarbeit im Betrieb“ seien Freundschaften geboren worden, man sei sowohl zu den Meistern nach Hause eingeladen worden wie man auch die deutschen Kollegen ins Wohnheim ein­ geladen habe. Auch Besuche in Polen und bei den Familien seien ein guter Brauch geworden.203 Ein deutscher Kollege beschrieb ebenfalls die Entwick­ lung familiärer Bande und bestätigte die Worte der polnischen Rednerin: Wir sehen in der nunmehr 2jährigen Zusammenarbeit mit unseren Kolleginnen und Kolle­ gen als Ergebnis eine ehrliche und tiefe Verbundenheit, die sich darin ausdrückt, daß dieses Zusammengehörigkeitsgefühl nicht nur am Arbeitsplatz, sondern auch in der Familie sei­ nen Ausdruck findet. Viele polnische Kollegen werden oftmals von unseren Kollegen einge­ laden und man spürt, daß die Tätigkeit in unserer Republik den sozialistischen internatio­ nalen Charakter trägt. Es werden viele Freundschaften geschlossen und Besuche von unse­ ren Kollegen in der VR Polen durch die Eltern unserer polnischen Kollegen ermöglicht. Wir finden, daß gerade auf der Grundlage dieser gegenseitigen Besuche Land und Leute auf beiden Seiten kennengelernt werden, was sich positiv auf das freundschaftliche Nebenein­ ander auswirkt. Neben dem Einsatz in der Produktion und der kulturellen Betreuung sehen wir eine wichtige Aufgabe darin, unseren jungen polnischen Freunden auch die politische Bedeutung ihres Einsatzes in der deutschen Demokratischen Republik nahe zu bringen.204

Es entsteht der Eindruck, dass Kontakte nicht nur durch die politischen Vor­ gaben angeschoben wurden, sondern insbesondere leitende deutsche Ange­ stellte sich um die Pflege der Kontakte kümmerten. Auch Sekulski entfaltet ein literarisches Motiv davon, wie der deutsche Gewerkschaftler und Betreuer die Polen unter seine Fittiche nimmt und sie zu sich in die Gartenlaube ein­ lädt. Er entwickelt sich zu einer Bezugsperson, die den Polen auch in privaten Lebenssituationen gern weiterhilft.205 Treffen zwischen den deutschen und polnischen Funktionären gehörten ganz bestimmt zum Alltag sozialistischer Zusammenarbeit. Gewerkschaftler zum Beispiel trafen sich bei gemeinsamen Feiern, gegenseitige Einladungen gehörten zum guten Ton.206 Bezeichnend ist die Beteuerung von Herrn L., er habe zwar selbst keine privaten Kontakte über die dienstlichen hinweg gepflegt, untersagt seien diese 203 Vgl.

SächsStA, StA-L, 21123 SED-BLL Abt. Grundstoffindustrie Nr. IV/C/2/6/508, Pro­ tokoll der Konferenz des Bezirksvorstandes FDGB in Vorbereitung des 25. Jahrestages der Gründung der DDR und des 30. Jahrestages der Volksrepublik Polen am 31. 5. 1974 im Informationszentrum Leipzig, [undatiert], Diskussionsbeiträge, S. 15. Vgl. dieses Ka­ pitel einleitende Zitat. 204 Ebd., S. 20. 205 Vgl. Sekulski: Przebitka, S. 191, 208 und 217. 206 Vgl. Interview mit Herrn L.

2.2. Polnische Vertragsarbeiter in Leipzig   143

aber keineswegs gewesen.207 In den achtziger Jahren herrschte zwischen Deut­ schen und Polen – vielleicht gerade auf der Funktionsebene – Misstrauen. Obwohl etwas nicht verboten war, war es im Gegenzug auch nicht unbedingt erwünscht. Kontakte zwischen polnischen Vertragsarbeitern und Leipzigern wurden nicht verhindert, aber ganz bestimmt auch nicht gefördert. Das heiratsfähige Alter der meisten Vertragsarbeiter und Vertragsarbeite­ rinnen beflügelte die privaten Kontakte naturgemäß. Ehen zwischen Deut­ schen und Polen waren keine Seltenheit. Viele der überwiegend jungen Men­ schen verliebten sich im Nachbarland oder gingen sexuelle Beziehungen ein, die zu Schwangerschaften führten. Die polnischen Vertragsarbeiter lebten zwar vielfach isoliert, viele hätten aber doch ihre Frauen kennen gelernt, er­ zählte eine Leipziger Polin.208 Sekulski bearbeitet dieses Motiv literarisch, in­ dem drei seiner fiktiven polnischen Arbeiter deutsche Frauen heiraten. Nach Quellenlage besonders zahlreich waren Heiraten und Schwangerschaften bei den Vertragsarbeiterinnen der Buntgarnwerke. Mehrmals lassen sich Notizen über deutsch-polnische Paare finden oder der Wunsch von Arbeiterinnen, ih­ ren deutschen Partner zu heiraten.209 Geknüpft an diese Wünsche waren Fra­ gen von Wohnraum für die neu entstehenden Familien und an Krippenplätze: „Koll. G. will in unserer Republik bleiben. Sie will hier heiraten und erwartet ein Kind. Es steht die Frage eines Krippenplatzes und einer Wohnung.“210 Wenn für die deutsch-polnischen Paare ihre gemeinsame Zukunft an erster Stelle stand, so waren materielle Interessen der jungen Paare angesichts der knappen Güter für die Leipziger Betriebe keine Zweitrangigkeit: Koll. O. heiratet im Januar und würde eine Wohnung benötigen. Ihr Ehemann arbeitet ebenfalls in einem VEB. Ihr wurde geraten, daß der Ehemann in seinem Betrieb einen An­ trag auf Wohnung stellt und sie sich in der Sprechstunde unserer Wohnungskommission meldet. Sie möchte weiter in unserem Betrieb arbeiten, da ihr die Arbeit gefällt.211

Möglicherweise schoben die Betriebe die Verantwortung der Wohnungsbe­ schaffung sogar auf andere Betriebe – hier den des Ehemannes – weiter. Die Anliegen der Polinnen zu berücksichtigen, stieß an die Grenzen der Pläne und Planbarkeit der sozialistischen Betriebe, wie auch der Passus andeutet, 207 Vgl.

ebd. Interview mit Frau E. 209 Vgl. u. a. SächsStA, StA-L, 20937 VEB Buntgarnwerke Leipzig, Nr. 90, Betr.: Nachtrag zu unserem Bericht vom 9. 11. 1973 über die geführten Gespräche mit polnischen Kollegin­ nen, Leipzig, 13. 11. 1973; Betr.: Bericht über die geführten Aussprachen mit polnischen Kolleginnen, Leipzig, 9. 11. 1973 und Betr.: Polnische Werktätige, Leipzig, 23. 10. 73. 210 Ebd., Betr.: Bericht über die geführten Aussprache mit polnischen Kolleginnen, Leipzig, 9. 11. 1973, S. 1. 211 Ebd. 208 Vgl.

144   2. Akteure und Kontakträume die Polin wolle trotz Heirat mit einem Deutschen weiter beschäftigt werden. Dazu kamen Wünsche nach Schichtwechseln: „Sie erwartet Anfang April das Baby und möchte dieses in einer Tageskrippe in Gohlis [Stadtteil von Leipzig, D.L.] unterbringen. Nach der Geburt des Kindes könnte sie nur noch Normal­ schicht arbeiten. Sie bittet, daß der Betrieb bei der Unterbringung des Kindes behilflich ist.“212 Die Vertragsarbeit gerade junger Frauen in Leipzig brachte Probleme mit sich, die in der Grundauslegung der Verträge nicht berücksich­ tigt waren. Der Alltag am Arbeitsplatz und das eigenständige Handeln der Vertragsarbeiter durchkreuzte die sozialistischen Pläne und schuf neue Fak­ ten. Vertragsarbeit war so kein allein wirtschaftlicher Faktor mehr, sondern wurde um eine zwischenmenschliche Komponente ergänzt, die Auswirkun­ gen auf die Beziehungen zwischen Polen und Deutschen hatte.

Zwischenfazit Zusammengefasst ergaben sich private deutsch-polnische Kontakte am und neben dem Arbeitsplatz automatisch. Die Festigkeit der Kontakte war aber eher eine Folge von Zufällen und der Individualität der Kontaktpersonen, denn eines Bestrebens seitens der Staaten und Institutionen. Kontakte polni­ scher Vertragsarbeiter wurden gesteuert, streng reglementiert und kontrol­ liert. Sie konnten sich dem Zugriff des Staates selbst im intimen Bereich nicht entziehen, auch wenn eine umfassende Kontrolle selten gelang. Nähe und Freundschaften entstanden längs der vorprogrammierten Bahnen, unvorher­ gesehene Kontakträume mussten mehr oder weniger widerstrebend – wie bei Eheschließungen – geduldet werden. Private Kontakte zwischen Deutschen und Polen wurden nicht zuletzt in der Sprache der Zeit ideologisch fundiert und so in den sozialistischen Kanon (re-)integriert. So konnten unter dem Banner der Völkerfreundschaft und des sozialistischen Internationalismus all­ tägliche Praktiken erklärt und verklärt werden. Vertragsarbeit in der DDR folgte in der Motivlage der Arbeiter und selbst angesichts der ökonomischen Probleme der Staaten ursprünglich eben nicht den Gesetzmäßigkeiten der sozialistischen Propaganda, sondern war für alle Beteiligten eine praktikable Lösung von wirtschaftlichen Problemen oder per­ sönlichen Lebenslagen. Ökonomische und individuelle Ziele waren der An­ sporn, was natürlich nicht immer in einer deutsch-polnischen Verständigung endete und häufig von nationalen Wahrnehmungen unterlaufen wurde. Ins­ gesamt bleibt der Eindruck, dass polnische Vertragsarbeiter nur auf Zeit und isoliert in der DDR lebten und langfristige Spuren ihres Aufenthaltes nur in einigen wenigen Lebensläufen zu finden sind. 212 Ebd.

2.3. Polnisches Studentenleben in Leipzig   145

2.3. Polnisches Studentenleben in Leipzig Ich weiß, dass man mir zum Beispiel nahe gelegt hat, dass ich zu viel mit den Polen zusam­ men bin… Aber das war ja normal. Ja, wir waren schon irgendwie innig miteinander ver­ bunden. Man wollte uns so’n bisschen auch integrieren, man wollte, dass wir auch die deut­ sche Sprache lernen und uns’n bisschen auch anpassen. Aber das hat man nicht ge­ schafft.213

Polnische Studenten in der DDR unterschieden sich in mancher Hinsicht von polnischen Vertragsarbeitern. Sie unterlagen, wie das obige Zitat aufzeigt, aber gleichfalls einer dichten sozialen Kontrolle. Das Leben polnischer Studenten wurde demnach bei Unzufriedenheit offizieller Stellen direkt von institutio­ neller Seite beeinflusst. Da Studenten für verantwortungsvolle Aufgaben aus­ gebildet wurden und eine wichtige Rolle im sozialistischen Staat spielen soll­ ten, mussten sie den ausbildenden staatlichen Institutionen auch etwas zu­ rückgeben. Dies verstärkte den Druck und die Kontrollen noch. Die DDR und ihre Bürger zeigten sich zudem als wenig aufnahmebereites Gastland, so dass ausländische Studenten in ihrer Freizeit oft unter sich blieben.214 Trotzdem war die Integration polnischer Studenten an den deutschen Hochschulen in vielen Lebensbereichen weitgehender als bei Arbeitern. Dies lag zum einen an der besseren Sprachausbildung, die für ein Studium unerlässlich war und zum anderen an der Integration am Studien- und Wohnort. Auch bei polnischen Studenten überkreuzten sich individuelle Motive mit den Vorgaben der Staa­ ten und die gegenseitige Wahrnehmung beeinflusste den Alltag genauso wie die politischen Ereignisse.

Zusammensetzung der polnischen Studenten Wie bei den Vertragsarbeitern auch ist der soziologische Umriss polnischer Studenten bemerkenswert. Absolute Zahlen über polnische Studenten liegen nur wenige vor (und bezeichnenderweise auch nur aus der Phase von „Solidarność“ und später): Zum Höhepunkt der regimekritischen Aktivitäten und der Annäherung von Partei und Opposition im Herbst 1980 hielten sich in Leipzig an verschiedenen Hochschulen und höheren Bildungseinrichtun­ gen 101 polnische Studenten bzw. Lehrkräfte auf.215 In der gesamten DDR 213 Interview

mit Frau J., 30. 10. 2007, polnische Studentin in der DDR. kleine Studie zu ausländischen Studenten in der DDR , die viele dieser Punkte un­ terstreicht, hat Damian Mac Con Uladh vorgelegt. Der Untersuchungszeitraum reicht jedoch nur bis 1970. Vgl. Uladh: Studium. 215 Vgl. BStU, MfS, ZAIG Nr. 5448, Hinweise über einige Probleme im Zusammenhang mit dem Aufenthalt polnischer Werktätiger aus beruflichen und kommerziellen Gründen in der DDR, von Werktätigen aus gleichen Gründen in der VR Polen sowie dem Austausch von Studenten beider Staaten, Anlage 3, [undatiert], Bl. 19–21. 214 Eine

146   2. Akteure und Kontakträume waren immer nur wenige hundert Polen immatrikuliert216, was den relativ hohen Anteil polnischer Studenten in Leipzig unterstreicht. Sie machten dem­ nach eine relevante Gruppe aus, Aussagen zu ihnen haben damit eine generel­ le Bedeutung. Polnische Dokumente schlüsseln die Zusammensetzung der polnischen Studenten und Aspiranten auf. Im akademischen Jahr 1983/84 waren 76 Doktoranden in der DDR, davon 14 in Leipzig. Unter den Stipendiaten gehörten 77,8 Prozent der Intelligenz an, 13,9 Prozent der Arbeiterschicht und nur 6,9 Prozent kamen aus Bauern­ familien, so dass von einer Förderung der Arbeiter und Bauern, wie es die Ideologie vorsah, nicht die Rede sein konnte. Kein einziger Student war Mit­ glied der Partei. Nur wenige waren Mitglieder anderer gesellschaftlicher Or­ ganisationen; davon immerhin 14,5 Prozent bei den polnischen Pfadfindern, aber nur 6,4 Prozent in der polnischen Jugendorganisation ZSMP. Die meis­ ten (64,1 Prozent) kamen aus Wojewodschaftsstädten, der Rest aus eher länd­ lichen Verhältnissen. In der Regel gab es mehr Bewerber als Studienplätze an DDR-Hochschulen, was durch Examen reguliert wurde. Die Deutschkennt­ nisse waren den Quellen zufolge insgesamt recht dürftig.217

(Leistungs-)Kontrolle Bereits anhand dieser schablonenhaften Daten zeichnet sich ab, dass die in der DDR studierenden und promovierenden Polen in mancher Hinsicht ideo­ logisch schwer zu vermittelnden gesellschaftlichen Schichten angehörten. Sie ­waren nur bedingt mit sozialistischen Institutionen verflochten und waren ­keineswegs typische ‚Proletarier‘. Damit einhergehende ideologische ‚Sicher­ heitslücken‘ und ungewollte, aber praktisch systemimmanente Schwierigkeiten lassen sich deshalb ziemlich gut nachweisen. Der sozialistische Apparat selbst kritisierte die unter seiner Obhut Erzogenen. Ende 1985 bemängelte man in Volkspolen, dass die polnischen Doktoranden in der DDR ihre Arbeiten später als vorgesehen abschlössen. Gerade die Anfangszeit des Studiums werde nicht zielgerichtet genutzt und die Disziplin der Doktoranden sei unbefriedigend.218 216 1977

waren es 405, 1980 537 polnische Studenten. Vgl. BStU, MfS, HA XX Nr. 3699, Ein­ schätzung der Situation in der SZSP-Organisation der Studierenden aus der VR Polen in der DDR, Berlin, 4. 11. 1977, Bl. 33 und BStU, MfS, ZAIG Nr. 5448, Hinweise über einige Probleme im Zusammenhang mit dem Aufenthalt polnischer Werktätiger aus beruf­ lichen und kommerziellen Gründen in der DDR, von Werktätigen aus gleichen Gründen in der VR Polen sowie dem Austausch von Studenten beider Staaten, [undatiert], Bl. 9. 217 Vgl. AAN, KC PZPR, Wydział Nauki i Oświaty Nr. LVIII/529, Informacja w sprawie re­ krutacji kandydatów na studia zagraniczne w roku akad. 1983/84, [undatiert]. 218 Vgl. ebd. Wydział Nauki, Oświaty i Postępu technicznego Nr. LIX/96 (513, 980/84), In­ formacja o sytuacji społeczno-politycznej wśród polskich studentów i doktorantów stu­ diujących w krajach socjalistycznych, Warszawa, 4. 11. 1985, S. 10/11.

2.3. Polnisches Studentenleben in Leipzig   147

An diesen knappen Schilderungen zeigt sich, dass die mit hohen ideologi­ schen Anforderungen konfrontierten Polen möglicherweise eine Eingewöh­ nungsphase brauchten und ihre Freizeit entlang eigener Vorstellungen gestal­ teten. Das Arbeitspensum und die Erwartungshaltung der PVAP zu erfüllen, war zunächst entweder nicht so wichtig oder unmöglich. Im Resultat waren die Studienergebnisse gerade in den Jahren von 1980 bis 1982 durchschnitt­ lich und insgesamt in den achtziger Jahren schwächer als vorher.219 Entweder erbrachten die Studenten also wirklich nicht die eingeforderten Leistungen oder die objektiven Studienbedingungen der Polen und die Bewertung deut­ scher Dozenten verschlechterten sich vor dem Hintergrund der angespannten ostdeutsch-volkspolnischen Beziehungen. DDR-Organe machten sich ebenfalls ihr Bild von polnischen Studenten. Das Sekretariat des Komitees für Angelegenheiten ausländischer Studierender in der DDR beschrieb 1977 die Situation wie folgt: Die Situation unter den polnischen Studierenden sei wesentlich durch die Bedingungen in Volkspolen beeinflusst und sehr unterschiedlich. Das beträfe die politisch-ideologische Haltung, gesellschaftliche Aktivitäten, Studiendisziplin und Studienleistun­ gen.220 Auch wenn so gewisse Beanstandungen anklangen, war die Bewertung der Studienleistungen recht anerkennend. Allerdings blieb der Tenor im We­ sentlichen kritisch und die Funktionäre bemängelten vor allem die Studien­ disziplin: An verschiedenen Einrichtungen treten aber auch noch relativ viele Mängel in der Studien­ disziplin und der Studienhaltung auf, die ihre Ursache u. a. in einer stark ausgeprägten bür­ gerlichen Auffassung zu Fragen der ‚akademischen Freiheit‘ haben. […] Dabei beziehen sich die Studenten auf bestimmte Praktiken an den Hochschulen in der VRP und in anderen Ländern. Konkret drückt sich das darin aus, daß ohne Erlaubnis mehrfach bis zu einer Woche vorzeitig in Urlaub gefahren wird […], Lehrveranstaltungen nicht besucht werden […], die Sportverpflichtungen nicht erfüllt werden […], fast alle Stu­ denten am Wochenende nach Hause fahren […] und angebotene Hilfe von DDR-Studenten nicht genutzt wird […]. Das Schwergewicht des Engagements der polnischen Studenten an den Hochschulen lag zumeist auf kulturellem und sportlichem Gebiet, wie z. B. der Gestaltung von Lichtbilder­ vorträgen über die VRP, folkloristische Veranstaltungen, Chopin-Abenden u. a. m. Von ei­ nem politischen Wirken der polnischen Studierenden in der DDR war nur sehr wenig spür­ bar. […] In den meisten Fällen sind die polnischen Studenten stolz auf die Entwicklung in ihrem Heimatland. Sie treten bei der Darstellung der VRP sehr selbstbewußt auf, wobei die Neigung zu einem gewissen Nationalismus nicht zu übersehen ist.221

219 Vgl.

ebd., S. 11/12. BStU, MfS, HA XX Nr. 3699, Einschätzung der Situation in der SZSP-Organisation der Studierenden aus der VR Polen in der DDR, Berlin, 4. 11. 1977, Bl. 33. 221 Ebd., Bl. 34/35. 220 Vgl.

148   2. Akteure und Kontakträume Für die Hochschulfunktionäre der DDR entfaltete sich ein Horrorszenario: Das Bildungsbürgertum schlug zurück, die sozialistisch-internationalistischen Planspiele waren mit polnischen Studenten nicht zu erfüllen. Auf Leipzig bezogen liefern die Quellen einige Einzelheiten. Polnische Stu­ denten in Leipzig waren nicht immer ‚gute Kommunisten‘. Sie besuchten als gläubige Katholiken – und dies zumindest so oft und zahlreich, dass es ­eigens vermerkt wurde – den katholischen Gottesdienst des mit den polnischen ­Arbeitern in die DDR delegierten Priesters.222 Der Sekretär der PVAP in Leipzig vermeldete schon 1971 allerlei Besorgnis Erregendes: Die Kontrolle über die Studenten habe zwar verbessert werden können, allerdings seien ihre Studienergebnisse schlecht. Den Grund sah er nicht in der negativen Einstellung deutscher Dozenten den polnischen Studenten gegenüber, son­ dern gerade bei Studenten ohne Stipendium in den häufigen Heimfahrten, die zudem mit illegalem Handel verbunden seien. Wie auch das Polnische Informations- und Kulturzentrum bestätige, nähmen die Studenten nur sel­ ten und vereinzelt an der Hochkultur teil, die meisten würden auf schlichte Unterhaltung setzen. Es gebe unter den polnischen Leipziger Studenten auch keine Jugendorganisa­tion, so dass im Verständnis der PVAP keine ordnende Hand eingreifen konnte.223 Polnische Studenten nutzten dafür ihren Auslandsaufenthalt gemäß ihrer eigenen Interessen. Häufige Heimfahrten lassen neben den angedeuteten Neben­verdiensten durch Schleichhandel auch darauf schließen, dass man sich Heimat und Familie sehr verbunden fühlte und in Leipzig nicht immer hei­ misch wurde. Die studentische Infrastruktur in Leipzig wurde zum Leidwesen der SED von polnischen Studenten zu persönlichen Zwecken gebraucht: 1976/77 häuften sich Beschwerden aus dem SWH [Studentenwohnheim] über Mißbrauch des Klubraumes (so wurde der Schlüssel dazu mit in die VRP genommen und dort Bekann­ ten übergeben, die als Touristen illegal in diesem Raum nächtigten; der Raum wurde für Versammlungen des Baubetriebs Budimex ohne entsprechende Erlaubnis genutzt, sanitäre Anlagen des SWH demoliert bzw. beschmutzt usw.).224

Dies war ein unerfreulicher Nebeneffekt sozialistischer Völkerverständigung.

222 Vgl.

AAN, KC PZPR, Wydział Nauki, Oświaty i Postępu technicznego Nr. LIX/96 (513, 980/84), Informacja o sytuacji społeczno-politycznej wśród polskich studentów i dokto­ rantów studiujących w krajach socjalistycznych, Warszawa, 4. 11. 1985, S. 13. 223 Vgl. ebd., Wydział Zagraniczny Nr. 752 (709/15), Protokół z  posiedzenia Egzekutywy Komitetu Zakładowego Polskiej Zjednoczonej Partii Robotniczej w dniu 20 październi­ ka 1971r., Berlin, 20. 10. 1971. 224 SächsStA, StA-L, 21132 SED-Kreisleitung Karl-Marx Universität Leipzig Nr. IV/D/ 4/14/144, Information Betrifft: Klubraum für NHG der poln. Studenten, 18. 12. 81.

2.3. Polnisches Studentenleben in Leipzig   149

Der politisierte Studienalltag Aus Erzählungen zweier Polinnen, die im damaligen Karl-Marx-Stadt und Leipzig studierten und heute mit Deutschen in Leipzig verheiratet sind, lassen sich persönliche Eindrücke des Studiums in der DDR ableiten. Die Bemühun­ gen der DDR-Hochschulen, die polnischen Studenten in den Studienbetrieb zu integrieren, waren organisatorisch aufwendig. Einführende Sprachkurse und die Bereitstellung deutscher Betreuer, die Studium und Alltag mit bestrit­ ten, waren dabei die ersten Schritte. Die Ergebnisse waren jedoch unterschied­ lich – während eine Interviewpartnerin sich schneller im Studienalltag zu­ rechtfand und fachlich mit der Bewältigung des Programms beschäftigt war, ohne jedoch mit vielen Deutschen Kontakt zu pflegen225, verbrachte die zwei­ te ihre Freizeit häufig mit anderen polnischen Studenten, die im Alltag unter sich blieben. Obwohl das Zimmer im Internat – wohl bewusst – mit Deut­ schen geteilt wurde und eine Betreuung in Studium und sprachlich garantiert wurde, blieben die Polen unter Polen und fühlten sich in der DDR fremd: „Man hat versucht, uns zu integrieren.“226 Schon diese grammatische Kons­ truktion führt den Gegensatz der unpersönlichen deutschen Verwaltung und der Wir-Gruppe der Polen vor Augen. Die Freizeit verlagerte sich in polnische und internationale Studentenclubs, in denen Deutsche eher selten gesehene Gäste waren: „Aber es gab auch Deutsche, die mit zu uns kamen. Die uns auch […], die wir auch sympathisch fanden.“227 Es war demnach nicht so, dass Kontakte und positive Beziehungen zwi­ schen deutschen und polnischen Studenten sich ausschlossen. Nur waren die Gewohnheiten und Einstellungen andere. Wenn die deutschen Mitbewohner während des Wochenendes das Zimmer verließen, zogen die Polen zumindest über diese Tage zusammen. Mit den deutschen Mitbewohnern war es der Schilderung nach schwierig, eine zwischenmenschliche Nähe, wie man sie aus der Heimat kannte, herzustellen. Gastfreundliche Einladungen stießen auf re­ servierte Reaktionen. Die deutsche Hilfe war „Hilfe und auch keine Hilfe“, die polnischen Studenten lernten meistens unter sich.228 Ähnliche Überlegungen vermitteln auch polnische Leipziger, die von Birgit Glorius in ihrer Migra­ tionsstudie zu Leipzig interviewt wurden. Ein Pole erzählt zu seinem Studium, dass er und seine Landsleute im Studentenwohnheim der Leipziger Handels­ hochschule statt wie sonst üblich in Vierbettzimmern in Zweibettzimmern untergebracht waren. Der deutsche Zimmernachbar wurde ihnen zugeteilt, 225 Vgl.

Interview mit Frau H. Interview mit Frau J. 227 Vgl. ebd. 228 Vgl. ebd. 226 Vgl.

150   2. Akteure und Kontakträume was der Interviewte als Versuch der Kontrolle deutet. Ironisch hebt er hervor „gut betreut“ worden zu sein.229 Der Studienalltag war ebenso wie andere Lebensbereiche durch Probleme der gegenseitigen Wahrnehmung – wieder vor dem Hintergrund von Stereo­ typen und historischer Geschehnisse – geprägt. Ein einprägsames Beispiel lie­ fert die Erzählung von Frau J., die während des Studiums ihren späteren deut­ schen Mann kennen lernte. Als sie begann, ihn zu polnischen Veranstaltungen mitzubringen, hätten die polnischen Kommilitonen mit „Entsetzen“ reagiert. Zwischen dem unbekannten Deutschen und den polnischen Kommilitonen habe es eine Rivalität gegeben.230 Der Deutsche wurde von polnischer Seite als Eindringling behandelt. Eine ‚friedliche Koexistenz‘ musste erst durch ­näheres Kennenlernen etabliert werden, weil sich Deutsche wie Polen gegen­ seitig fremd waren und miteinander wetteiferten. Der DDR-Studienalltag trug zu einem engen Kontakt nicht besonders viel bei. Polnische Studenten sollten erfolgreich sein und pro forma auch inte­ griert. De facto sollten sie sich, wie Frau J. im einführenden Zitat schilderte, anpassen und nicht als Polen auffallen. Allzu ‚polnische‘ Lebensgewohnheiten galten als subversiv und nicht unbedingt sozialistisch. Kulturelle Differenzen resultierten sicherlich zu einem Gutteil aus der Stu­ dienkultur in der DDR und in Volkspolen. Polnische Studenten bewegten sich an der Universität spontaner und freier, das Studium hatte andere Facetten als jene Ausbildung, wie sie in der DDR verstanden und praktiziert wurde: Ich kam nicht mit einem naiven, aber mit einem völlig anderen – sagen wir – inneren ­Modell hierher. Ich glaubte, dieses Studentenleben vorzufinden, was in Kraków war. Und plötzlich waren hier seriöse, verheiratete [Studenten], viel älter als ich. Solche, die zum Jura­ studium delegiert worden waren, von der Polizei, […] von irgendwelchen gesellschaftlichen Trägern. […] Dieses Jurastudium war irgendwie so’ne Nobilisierung, so dass sich der Kon­ takt unter den Studenten nur auf diesen Hörsaal, auf das Studium bezog.231

Studentenleben wie in Krakau habe es nicht gegeben, stattdessen musste man intensiv lernen. In Volkspolen gab es zudem Anklänge einer Studentenbewe­ gung, spätestens 1968 formierten sich Studenten als gewichtige gesellschaft­ liche und politisierte Gruppe.232 In der Folge des „polnischen Märzes“ 1968 änderten sich Alltagsverhalten und Habitus, Sub- und Gegenkulturen wuch­ sen heran.233 Die indirekte Einschätzung, in der DDR habe es eine „Studen­ Glorius: Perspektiven, S. 252. Interview mit Frau J. 231 Vgl. Interview mit Frau H. 232 Vgl. u. a. Jerzy Eisler: Polski Rok 1968 [Das polnische Jahr 1968]. Warszawa 2006. 233 Vgl. Hans-Christian Petersen: Der polnische März 1968. Nationales Ereignis und trans­ nationale Bewegung, in: Osteuropa 58 (2008), H. 7, S. 84. 229 Vgl. 230 Vgl.

2.3. Polnisches Studentenleben in Leipzig   151

tenbewegung als solche ja nicht“ gegeben234, rekurriert auf diese Veränderun­ gen in Volkspolen. Aus DDR-Perspektive erschien polnisches Studentenleben immer als lebhafter. Die Krakauer Studententage „Juwenalia“ waren ein Beleg studentischen Selbstbewusstseins und seiner Präsentation in der Öffentlich­ keit: Die studentischen Vorführungen und Veranstaltungen beschrieb Frau B. als geistreich235; eine solche Beherrschung des städtischen Raumes durch S­tudenten sei in der DDR nicht möglich gewesen.236 Wegen des Verdachtes, polnische Studenten könnten polnisches Studenten­ leben und nach 1980 auch oppositionelles Gedankengut in die DDR transfe­ rieren, fiel deren Kontrolle an den DDR-Hochschulen scharf aus. Im Fokus der Beobachtungen stand das ‚politische Bewusstsein‘ der Studenten. Ein ­kleiner Teil zeigte hohes politisches Engagement, die große Masse übte sich in Zurückhaltung. Das Komitee für Angelegenheiten ausländischer Studierender bedauerte verschiedene Beispiele, die erkennen lassen, daß einige polnische Studierende Vorbehalte in politischen und weltanschaulichen Fragen haben. Des weiteren gibt es einzelne Erscheinun­ gen, wo polnische Studenten durch undiszipliniertes und unmoralisches Verhalten, wie z. B. Diebstahl, Prügeleien, übermäßiger Alkoholgenuß, unachtsamer Umgang [sic!] mit Volks­ eigentum u.ä. das Ansehen des SZSP [Sozialistische Vereinigung der polnischen Studenten] in Mißkredit bringen.237

Es fehlt in den Dokumenten leider der Vergleich zu Studenten anderer Natio­ nalitäten und insbesondere mit DDR-Studenten. Polnischen Studenten wurde schon in den siebziger Jahren geringes sozialistisches Bewusstsein und der Hang zu Gesetzesübertretungen nachgesagt. Verstärkt wurden diese Tenden­ zen in der Phase der „Solidarność“ aufgezeichnet. Wie andere Polen auch wurden polnische Studenten ziemlich umfassend beobachtet und ihr Verhal­ ten bzw. ihre Reaktionen erfasst. Dabei stellte sich zwar heraus, dass die Fol­ gen insgesamt gering blieben und polnische Studenten vorsichtig agierten. Vor allem war ihre Verunsicherung groß und sie suchten einen Ausweg aus ihrer prekären Situation allgemeiner Ungewissheit. Im Vergleich zu der Reak­ tion der polnischen Vertragsarbeiter oder anderer in der DDR wohnhafter Polen positionierten sich jedoch verhältnismäßig viele polnische Studenten politisch. Sie machten aus ihren Sympathien für die „Solidarność“ wenig Hehl und grenzten sich von den ‚Sicherungsmaßnahmen‘ der DDR ab. Sie kritisier­ ten die Methoden der Eindämmung von „Solidarność“-Einflüssen auf die 234 Vgl.

Interview mit Frau H. Interview mit Frau B. 236 Vgl. Interview mit Herrn M. 237 BStU, MfS, HA XX Nr. 3699, Einschätzung der Situation in der SZSP-Organisation der Studierenden aus der VR Polen in der DDR, Berlin, 4. 11. 1977, Bl. 35/36. 235 Vgl.

152   2. Akteure und Kontakträume DDR und demaskierten durch trotziges Verhalten die Sicherungsmechanis­ men der DDR-Organe. 1980 fasste die Staatssicherheit zusammen, dass sich Polen an DDR-Hoch­ schulen „ruhig“ und „besonnen“ verhielten, nur vereinzelt seien Unsicherheit und Bedrücktheit bemerkbar. Allerdings werde der „konterrevolutionäre ­Charakter der Ereignisse in der VR Polen nicht erkannt bzw. – getragen von  einem gesteigerten Nationalbewusstsein – heruntergespielt.“ Die freien Gewerkschaften würden „als Form der Demokratie unter sozialistischen ­Verhältnissen anerkannt“. Außerdem würden einzelne polnische Studenten „Zweifel an der wahrheitsgetreuen Berichterstattung der DDR-Medien“ äu­ ßern.238 Kontakte „mit feindlich-negativem Inhalt“ der Studenten nach Volks­ polen waren nicht bekannt, genauso wie eingeschätzt wurde, dass sie nicht negativ auf DDR-Bürger Einfluss nehmen würden.239 Die Studenten äußerten zwar durchaus eine eigene Meinung, gefährliche Handlungen, die in der DDR bestraft werden konnten, wurden aber tunlichst vermieden. An anderer Stelle schätzte die Stasi ein, dass die „breite Masse der polnischen Studenten […] eine abwartende Haltung“ gegenüber der „Solidarność“ einnehme, während ein Drittel die „Situation richtig“ beurteile.240 Allerdings beziehe eine „kleine Gruppe“ die „Position der antisozialistischen Elemente“.241 Bezeichnend ist, dass Hochschulpersonal gezielt sogenannte „Gespräche“ mit polnischen Studenten führte. Das Ministerium für Hoch- und Fachschul­ wesen bemängelte im Februar 1981, dass dabei die Relaisstelle von Freund­ schaften zwischen deutschen und polnischen Studenten nicht ausreichend als „Informationsquelle“ genutzt werde. Neben Gesprächen mit Polen und vor al­ lem polnischen Funktionären sollten mehr DDR-Studenten befragt werden.242 Diese Strategie lässt viele Deutungen zu. Zum einen sollten endlich auch pri­ vate Kontakte durch die Staatsmacht operationalisiert werden. Zum anderen hatten die Hochschulkader, bevor die Idee zur Operationalisierung aufkam, offensichtlich nicht an die möglicherweise engen Verbindungen zwischen Deutschen und Polen gedacht. Dies lässt entweder darauf schließen, dass 238 Vgl.

BStU, MfS, ZAIG Nr. 5448, Hinweise über einige Probleme im Zusammenhang mit dem Aufenthalt polnischer Werktätiger aus beruflichen und kommerziellen Gründen in der DDR, von Werktätigen aus gleichen Gründen in der VR Polen sowie dem Austausch von Studenten beider Staaten, [undatiert], Bl. 10. 239 Vgl. ebd., Bl. 11. Dieser Befund gilt auch für Leipzig. Vgl. BStU, MfS, BV Leipzig, Abt. XX Nr. 750, Information, Leipzig, 12. 11. 1980, Bl. 5. 240 Vgl. ebd., MfS, HA XX Nr. 3699, Bericht zur gegenwärtigen Situation unter den Studie­ renden aus der VRP in der DDR., Berlin, 20. 10. 1980, Bl. 86/87. 241 Vgl. ebd., Bl. 86. 242 Vgl. ebd. Nr. 3700, 2. Zur Situation unter den polnischen Studierenden an den Universi­ täten und Hochschulen der DDR, Berlin, 10. 2. 1981, Bl. 165.

2.3. Polnisches Studentenleben in Leipzig   153

­ iese in der Wahrnehmung von oben nicht bedeutsam waren oder es real nie d wurden. Vielleicht hatte sich das lehrende Personal auch bereits ein realisti­ sches Bild der deutsch-polnischen Studentenkontakte gemacht und deshalb die Deutschen nicht befragt. Oder man brachte Deutsche und Polen zunächst gar nicht miteinander in Verbindung. All dies wirft ein Licht auf die offizielle Sicht zur Verfassung deutsch-polnischer Kontakte an Hochschulen der DDR. Polnische Studenten waren für ihre deutschen Kommilitonen jedoch mit einiger Sicherheit zumindest eine Informationsquelle, um Neuigkeiten zu er­ fahren, die in der DDR nicht verbreitet wurden. Nach der Ausrufung des Kriegszustandes drangen „unsere Studenten sehr hartnäckig“ in ihre polni­ schen Mitstudenten hieß es von der Karl-Marx-Universität.243 An der Leipzi­ ger Hochschule für Grafik und Buchkunst sprachen Vertreter des Rektorates und andere mit vieren der sechs dort studierenden Polen. Es stellte sich her­ aus, dass die Polen durchaus Sympathien für die „Solidarność“ hegten, aber mit der Leitung der Hochschule dafür sorgen wollten, dass keine „Materialien (Plakate, Flugblätter usw.) antisozialistischen, konterrevolutionären Inhalts“ in der Hochschule verbreitet oder veröffentlicht würden.244 Dass man solche Gespräche für vertrauensbildend und keineswegs abschreckend für die pol­ nischen Studenten hielt, dokumentiert die Abschlusseinschätzung: „Der ­bisherige Verlauf der Gespräche mit den polnischen Studenten verwies auf die Nützlichkeit und Notwendigkeit, diese Gespräche freimütig und offen fortzu­ setzen.“245 Wie sich polnische Studenten durchaus von der Sichtweise der DDR-Ob­ rigkeiten distanzierten und politisch Stellung bezogen, lässt sich an Quellen­ funden insbesondere an der Leipziger Handelshochschule zeigen. An einem Wandbrett im Studentenwohnheim wurden von polnischen Studenten zwei Aushänge angebracht, die sich mit der Situation in Volkspolen befassten. Das Porträt und ein der Heimat verbundenes Gedicht des polnischen Exilschrift­ stellers Czesław Miłosz wurden unter Protesten polnischer Studenten vom Wohnheimleiter entfernt. Kurz darauf fand man dort einen gehenkten Adler (das polnische Wappentier), dessen Greife von einer roten Fessel zusammen­ gehalten wurden.246 Beide Botschaften waren propolnisch, aber keineswegs direkt mit der „Solidarność“ verknüpft, letztere war antisowjetisch und anti­ 243 Vgl. SächsStA, StA-L, 21132 SED-Kreisleitung Karl-Marx Universität Leipzig Nr. IV/D/4/

14/144, Betr.: polnische Studenten an der Sektion Germ./Lit., Leipzig, 14. 12. 1981, S. 1. BStU, MfS, HA XX Nr. 3700, Bericht über die Situation unter den polnischen Stu­ denten an der Hochschule für Grafik und Buchkunst, Leipzig, 12. 11. 1980. Bl. 19/20. 245 Ebd., Bl. 20. 246 Vgl. SächsStA, StA-L, 21123 SED-BLL Nr. IV/D/2/8/2/486, Brief an Horst Schumann, Leipzig, 9. 1. 1981, Bl. 31/32. 244 Vgl.

154   2. Akteure und Kontakträume kommunistisch, während erstere wohl eher durch die – zumindest in der DDR – Unperson Miłosz so provokant wirkte. Offene Provokationen oder etwas, was im politisierten Alltag und insbe­ sondere bei der Staatssicherheit so erschien, wurden in der Abteilung XX der Leipziger Staatssicherheit in Zusammenfassung der Lage rund um Volkspolen registriert. Wiederum Studenten der Handelshochschule wurden von einem IM wohl in erster Linie für ihren ‚unsozialistischen‘ Lebenswandel und damit einhergehend wegen ihrer politischen Einstellung angeschwärzt. Es handelte sich um drei Studenten: Seit der Rückkehr dieser Personen aus der in der VR Polen verbrachten Semesterpause (Weihnachten/ Neujahr) besuchen sie nur unregelmäßig die obligatorischen Lehrveranstal­ tungen; das Selbststudium wird völlig vernachlässigt. Fast täglich finden im Internat bis in die frühen Morgenstunden Gelage statt, bei denen übermäßig Alkohol genossen wird. Durch DDR-Studenten wurde in diesem Zusammenhang auf den Widerspruch verwiesen, daß einerseits diese polnischen Studenten über viel Geld verfügen, andererseits jedoch zu Spenden für Polen aufgerufen wird.247

Die Schilderung steht zunächst auch für den Sozialneid zwischen zwei sich nicht immer wohl gesonnenen nationalen Gruppen. Doch vieles spricht da­ für, dass sich bei den Vorkommnissen im Internat das Verhalten halbstarker Erwachsener mit dem Gefühl des Autoritätsverlustes seitens der kommunis­ tischen Nomenklatura vermischte. Die Studenten äußerten dementsprechend im Gespräch mit dem IM, die Ausbildung in der DDR sei nicht frei, sie seien keine Kommunisten, würden nicht an die aufgesetzte Systemtreue in der DDR glauben und vor allem die wirtschaftliche Entwicklung in Volkspolen und unter dem Kriegszustand verlaufe in falschen Bahnen. Einer der Diffa­ mierten pflegte zudem gute Kontakte zu einem Leipziger Pfarrer, was das Feindbild aus Stasisicht abrundete.248 Im Monat darauf wurde bekannt, dass ein polnischer Student sich mit der Position der „Solidarność“ „identifizier­ te“, seine Informationsquelle war unter anderem der „Feindsender“ Radio Free Europe.249 Die DDR-Organe legten nicht nur Wert darauf, über alle Entwicklungen und besonders Zwischenfälle mit polnischen Studenten an Leipziger Hoch­ schulen informiert zu sein, sondern waren in der Beschreibung und Bewer­ tung der Vorkommnisse ausgesprochen engstirnig und einfältig. Die Atmo­ sphäre für polnische Studenten nach 1980 war demnach angespannt und be­ vormundend. Eigentlich war es kein Wunder, dass sie vereinzelt mit kleinen 247 BStU,

MfS, BV Leipzig, Abt. XX Nr. 278/03, Monatliche Berichterstattung Januar 1982, 4. 2. 1982, Bl. 13. 248 Vgl. ebd., Bl. 14/15. 249 Vgl. ebd., Monatliche Berichterstattung Februar 1982, Leipzig, 4. 3. 1982, Bl. 59.

2.3. Polnisches Studentenleben in Leipzig   155

Provokationen und Spitzen gegen die Autoritäten oder mit – manchmal auch pubertären – Verweigerungshaltungen reagierten. Polnische Studenten fühl­ ten sich durch die DDR-Funktionäre gegängelt, an einer Wohnheimtür wünschten sie ihrem Wohnheimleiter viel Erfolg bei der „Durchsuchung un­ seres Zimmers“.250 Wie streng die DDR durchgriff, belegt die Exmatrikulation eines polnischen Studenten der Handelshochschule, der in Oberwiesenthal mit der CDU-Losung: „Mit Optimismus gegen den Sozialismus“ auf seinem Ski unterwegs war. Urlauber hatten die Volkspolizei informiert.251

DDR-Studenten in Volkspolen In einer transnationalen Spiegelung der Erfahrungen polnischer Studenten in der DDR mit denen von in Volkspolen studierenden DDR-Studenten ergibt sich ein Bild beinahe gegensätzlicher Prägung. Der Kontakt zu Polen aber auch zu anderen in Volkspolen studierenden Ausländern war eine zentrale Erfahrung des Auslandsaufenthaltes. DDR-Studenten bewunderten den Un­ terschied zwischen polnischen und deutschen Wissenschaftlern, weil sich die polnischen unabhängiger vom politischen System bewegen konnten und – zumindest in manchen Fächern – in einer vorkommunistischen Tradition standen.252 Polnische Studenten gingen Schilderungen zufolge mit Neugier und Hilfsbereitschaft auf Deutsche zu. Einladungen zu Essen, Kino und Thea­ ter sowie die Weiterempfehlung an weitere Bekannte erschlossen die polni­ sche Alltagswelt. Gerade die Teilnahme an polnischer Kultur und der Blick über den Tellerrand der DDR hinaus prägten den Aufenthalt. Die Integration in polnische Alltagswelten für ausländische Studenten ging sehr viel weiter, als dies in der DDR der Fall war.253 Neugier, Wissensdurst und Zugang zu westli­ cher Kultur waren neben dem Studium Grund genug, die DDR-Erfahrung zu erweitern.254 Dies konnte durchaus politische Dimensionen – zumal aus Sicht der DDR – bekommen: Und ich bin dann zu diesen ganzen Veranstaltungen mitgegangen und ich habe also z. B. die Blechtrommel – die Verfilmung von Günter Grass – in so einem Untergrundkino gese­ hen. Ich bin zu illegalen Veranstaltungen gegangen, die irgendwo in Kirchen stattgefunden haben. […] Ich bin auch zu Demonstrationen mitgegangen, obwohl immer die Angst war: ,Mein Gott, was passiert, wenn die Dich hier erwischen? Das ist das Ende, Du wirst zurück­

250 Vgl.

ebd., Bl. 32. ebd., MfS, HA XX Nr. 3700, Provokativ-demonstratives Verhalten eines polnischen Studenten der Handelshochschule Leipzig, 23. 2. 1981, Bl. 171. 252 Vgl. Interview mit Frau B. 253 Diese Interpretation wird nicht nur durch Leipziger Erzählungen gestützt, sondern auch von den Beobachtungen Wedels. Vgl. Wedel: Polska. 254 Vgl. Interview mit Herrn P. 251 Vgl.

156   2. Akteure und Kontakträume geschickt und zu Hause beginnt dann die Tragödie.‘ Ich hab’ das eigentlich alles bewusst mitgemacht.255

Die Möglichkeiten des individuellen und politischen Ausdrucks in Volkspo­ len bestärkten DDR-Studenten, ihre Ansichten zu artikulieren und – aller­ dings nur in der Volksrepublik – in Taten umzusetzen. Ängste wurden in sol­ chen Vollzügen abgebaut, was eine befreiende Wirkung auf die Zumutungen des DDR-Alltags hatte.256 Als in Folge der Streiks in Volkspolen DDR-Studenten vom Studium in Szczeciń abkommandiert wurden, bildeten die Befürchtungen der Staatssi­ cherheit ein Zerrbild dieser neu gewonnenen studentischen Lebenserfahrun­ gen. Offiziell wurden die Studenten zurückgeführt, weil der DDR-Botschafter im November davon berichtete, dass deutsche Studenten mit Gewalt zur Teil­ nahme an Demonstrationen gezwungen worden seien.257 Die Stasi führte zu­ dem deutschfeindliche Äußerungen gegenüber DDR-Studenten ins Feld.258 Die Studenten reagierten jedoch mit Unverständnis. Sie bewerteten die Si­ cherheitslage gegensätzlich zu den Staatsorganen der DDR und schätzten die „Vorkommnisse in der VR Polen nicht als ‚sozialismusfeindliche‘ Aktivitäten“ ein.259 Dies verstand die Staatssicherheit als untrügliches Zeichen eines Zu­ standes politischer Verwirrtheit. Die Gründe lagen auf der Hand: Die Ursachen für den politisch-ideologischen Zustand der DDR-Studenten in der VR Polen liegen in – der nicht den Erfordernissen einer sozialistischen Hochschulbildung entsprechenden in­ haltlichen Ausgestaltung des Studiums, einschließlich der Studienbedingungen, […] – relativ ‚freizügigen‘ Studien, Lebens- und Freizeitbedingungen, die eine gewisse Anpas­ sung an die ‚unpolitische Lebensweise‘ in der VR Polen möglich machten.260

Mit anderen Worten: In Volkspolen herrschten keine guten sozialistischen Verhältnisse mehr. Gerade dies machte den polnischen Studienort aber ­attraktiv, weil eben nicht nur Studium, sondern auch Freizeit und Lebensge­ staltung – wie die Stasi ausnahmsweise richtig erkannte – größere Freiheiten boten. Die enge Verschränkung der Studenten mit der polnischen Umwelt wird durch die Staatssicherheitsdokumente ebenfalls bestätigt: Die gezwunge­ nermaßen Zurückgekehrten fürchteten um ihr persönliches Glück, weil „Ehe­ 255 Ebd. 256 Vgl.

ebd. BStU, MfS, ZAIG Nr. 5448, Hinweise über einige Probleme im Zusammenhang mit dem Aufenthalt polnischer Werktätiger aus beruflichen und kommerziellen Gründen in der DDR, von Werktätigen aus gleichen Gründen in der VR Polen sowie dem Austausch von Studenten beider Staaten, [undatiert], Bl. 12. 258 Vgl. ebd., Bl. 13/14. 259 Vgl. ebd., Bl. 15. 260 Ebd. 257 Vgl.

2.3. Polnisches Studentenleben in Leipzig   157

schließungen und Verlöbnisse bzw. stark ausgeprägte private Kontakte zwi­ schen Studenten aus der DDR und Studenten bzw. anderen Bürgern der VR Polen“ gefährdet waren.261 Den Eingriff des Staates empfanden die Studenten aus der DDR als einschneidend, privates Glück und Selbstbestimmung wur­ den rigoros zerstört.

Zwischenfazit Zusammengefasst heißt dies, dass für polnische Studenten in der DDR das Studium im Sinne harter Ausbildung im Mittelpunkt der Wahrnehmungen stand, während in Volkspolen das Studium um eine Reihe anderer und per­ sönlicher Erfahrungen bereichert wurde. Die Studenten lernten viel Neues und vor allem ungekannte Freiheitlichkeit kennen. Der Lebensentwurf und nicht nur der Bildungsweg konnten in Volkspolen stärker umgebogen wer­ den, als dies in der DDR der Fall war. Die hohe soziale Kontrolle griff in der DDR in viele Lebensbereiche aus und sanktionierte Verhaltensweisen oder Kommunikationsformen. Das Stu­ dium von Polen in der DDR war keine breitenwirksame deutsch-polnische Kontaktzone. Polnische Studenten eigneten sich den Alltag in der DDR durch­ aus an, was aber zu keinem Ausleben der ideologisch avisierten Völkerfreund­ schaft führte. Eigen-sinnige Praktiken im Sinne der puren Ausnutzung des Auslandsaufenthaltes – wie bei polnischen Arbeiter vermehrt der Fall – gab es anscheinend weniger, der politische Anpassungsdruck war auch dementspre­ chend höher und es gab mehr zu ‚verlieren‘. Andererseits waren Studenten – im für die DDR negativen Sinne – politisierter oder waren ‚bürgerlich‘ soziali­ siert. Im Gegenzug dazu war das Studium von DDR-Studenten in Volkspolen ein von vielfältigen Kontakten und Einflüssen geprägtes Refugium, das weit in den Alltag der Studenten hineinwirkte. Während in der DDR enge persönli­ che Kontakte administrativ mutwillig behindert wurden, waren sie in Volks­ polen unausweichlicher Bestandteil der Studentenkultur. In Volkspolen war, trotz der Aufmerksamkeit der Stasi auch im Nachbarland, gerade die Kon­ frontation mit dem Unbekannten und Freiheitlichen ein Impuls, der mit in die DDR zurückgebracht wurde. Allerdings hatten neue innere Haltungen we­ nig Einfluss auf die alltäglichen Praktiken, sondern blieben als individuelle intellektuelle Alternative präsent. Einige Beispiele zeigen auch, wie durch die vorbeugende Repression der DDR private Bande zerschlagen wurden.

261 Vgl.

ebd., Bl. 14.

158   2. Akteure und Kontakträume

2.4. Deutsch-polnisches Leben in Leipzig Polen, August 1980 Oh, wie ihr jetzt zittert, oh, wie seid ihr erbittert! Ihr Besitzer von Luxusjachten, ihr, die mit Dollars alles machten, ihr Schmarotzer in Schlössern mit Hunden, ihr Sieger in Schmiergeld- und Postenrunden, ihr Schieber und Spekulanten: Die Arbeiter sind aufgestanden! Arbeiter nahmen die Macht in ihre Hände, der Sozialismus fand nicht sein Ende! Dank euch, ihr polnischen Brüder! Ihr habt uns soviel Hoffnung gegeben, auch für uns lohnt es sich wieder zu leben!262

Dieses Gedicht war eines von fünfen, die im Februar 1981 das Leipziger Stadt­ kabinett für Kulturarbeit erreichten. Verfasser war ein Leipziger Schriftsteller und Lehrer, der mit einer Polin verheiratet war und mit ihr drei Kinder hat­ te.263 Es kann nur darüber spekuliert werden, warum er sich zu dem riskanten Schritt entschloss, die Gedichte einzureichen. Vielleicht glaubte er wirklich an die „Solidarność“. Über die Konsequenzen seines Tuns war er sich möglicher­ weise nicht völlig im Klaren. Während seiner Vernehmung durch die Staats­ sicherheit scheint er weiterhin auf seiner Kritik am ‚real existierenden Sozia­ lismus‘ festgehalten zu haben: Bei den 5 vorgelegten Gedichten handelt es sich um Machwerke, die sich inhaltlich mit den konterrevolutionären Ausschreitungen in der VR Polen identifizieren. Des weiteren diskri­ miniert er die gesellschaftlichen Verhältnisse in der DDR, indem er Pessimismus und Hoff­ nungslosigkeit verbreitet. In persönlichen Gesprächen und Dialogen bringt er seine indiffe­ rente und feindliche Einstellung zum real existierenden Sozialismus zum Ausdruck und erklärt, daß die Vorgänge in der VR Polen in ihm die Hoffnung geweckt haben, daß der Sozialismus nicht tot ist, wobei er eindeutig Partei für die Linie der konterrevolutionären Gewerkschaftsführer ergreift.264

In der Folge wurde ihm die Zulassung zum Schreiben entzogen, strafrechtlich wurde er nicht verfolgt.265 Als er 1982 einen Ausreiseantrag in die Bundes­ republik stellte, verlor er seine Stelle als Lehrer und musste sich im VEB Deli­ cata Leipzig im Produktionsbüro der Schlachtung verdingen.266 Im Einstel­ 262 Ebd.,

BV Leipzig, ZMA KD Stadt Nr. 24889, Gedicht, Bl. 47 [Hervorhebung im Original]. ebd., Sachstands-Information, Leipzig, 23. 2. 1981, Bl. 27. 264 Ebd., Bl. 28. 265 Vgl. ebd., Ergänzung zur Operativinformation 6/81, Leipzig, 14. 3. 1981, Bl. 24. 266 Vgl. ebd., Information des Betriebsdirektors im VEB Delicata Leipzig, [geschwärzt], am 26. 03. 1983, Leipzig, 28. 3. 1983, Bl. 277. 263 Vgl.

2.4. Deutsch-polnisches Leben in Leipzig   159

lungsgespräch im VEB begründete der ehemalige Lehrer seinen Antrag: „Ich bin mit einer Polin verheiratet und habe zwei [sic!] Kinder. […] Ich liebe mei­ ne Familie und meine Verwandten in der VR-Polen. Wir wollten nach dem 13. 12. 1981 in die VR-Polen übersiedeln, was uns durch die DDR-Staatsorga­ ne nicht gestattet wurde.“267 Deswegen wolle man über die Bundesrepublik nach Volkspolen gelangen. Der Direktor des VEB versicherte der Stasi, er ­wolle soweit möglich gewährleisten, dass der Abgestrafte weder zu den polni­ schen Angestellten des Betriebes Kontakt aufnehmen, noch seine Ansichten im „Arbeitskollektiv“ verbreiten könne.268 Dieses drastische Beispiel verdeutlicht zweierlei: Zum einen fanden private deutsch-polnische Kontakte in Leipzig in einem Feld statt, das in seinen Aus­ wirkungen und Implikationen von erheblicher Sprengkraft für die innere Ver­ fassung des Sozialismus in der DDR sein konnte. Alternative oder gar politi­ sche Wahrnehmungen konnten – wenn auch nicht immer so deutlich, wie in obigem Beispiel – über den Kontakt mit dem Polnischen in das Leben der Deutschen einsickern. Deren Haltung zu sich selbst und zur DDR konnte sich verändern. Ob dies auch nach außen dokumentiert wurde, steht dabei zu­ nächst auf einem anderen Blatt. Zum zweiten wird die Zäsur deutlich, die mit der „Solidarność“ aufbrach. Viele der Leipziger Geschichten um deutsch-pol­ nische Kontakte ranken sich gerade um dieses einschneidende Datum und belegen, wie die Kontakte die Alltagswahrnehmung und -bewältigung beein­ flussten. Indem anhand von Beispielen aus den Akten und Erzählungen von Leipzigern die privaten Kontakte in Zustandekommen und Funktionsweisen beschrieben werden, soll der Blick für ihre tiefere Dimension geöffnet wer­ den. Wie kamen Kontakte im Alltag zu Stande und wie wurden sie gepflegt? Welche eigen-sinnigen Deutungen erfuhren sie durch die Kontaktpartner? Welche materiellen und ideellen Funktionen erfüllten diese Kontakte? Wirk­ ten diese Funktionen stabilisierend oder destabilisierend auf den Alltag der Menschen und damit auf die Verfasstheit der DDR? Kontrastreichtum und Verflechtung soll das Folgende dadurch gewinnen, dass die Wahrnehmungen der Kontaktpersonen aus den Interviews mit den Darstellungen der Staatssicherheitsakten konfrontiert werden. Dadurch soll sowohl eine Ergänzung oder gar Brechung angestrebt werden, aber vor allem gezeigt werden, wie einflussreich beziehungsweise verdächtig in der DDR deutsch-polnische Kontakte waren und welche Praktiken tatsächlich bedeut­ sam waren oder als bedeutsam erfasst wurden.

267 Ebd. 268 Vgl.

ebd.

160   2. Akteure und Kontakträume

Deutsch-polnische Freundschaften Die häufigste Kontaktzone war ursprünglich entweder der polnische Urlaubs­ ort von DDR-Touristen oder Leipzig als polnisches Reiseziel. In einigen Fällen entstanden aus solchen Reisebekanntschaften jahrelange Freundschaften. Ge­ genseitige Besuche waren dabei einerseits eine freundschaftliche Geste, ande­ rerseits verbanden sich wie gesehen vielfach persönliche Interessen mit den Reisen. Zwei untereinander befreundete Leipziger Damen pflegten unabhängig voneinander eine enge Beziehung zu Polen. Die Bekanntschaft der Familie St. war in Leipzig entstanden, als ein polnisches Ehepaar die Privatvermietung von Zimmern in Leipzig nutzte.269 Der Grund der danach periodisch nach Leipzig stattfindenden Reisen waren die Einkaufsmöglichkeiten, wobei auch gleich polnische Waren veräußert wurden. Die Garantie einer Unterkunft und kleine Mitbringsel waren die Ausgangspunkte einer sich entspinnenden Be­ kanntschaft, die zunehmend auf anderen Säulen fußte. Folgende Gegenbesu­ che der Leipziger Familie in Volkspolen waren Zeugnis eines „sehr herzlichen Verhältnisses“. Lebhaft in Erinnerung sind aus Volkspolen aber auch Ein­ kaufstouren durch Poznań, die Besichtigung von Sehenswürdigkeiten stand eher im Hintergrund. Ihr Ende fanden die Reisen vordergründig in Krankheit und Tod der polnischen Freunde, allerdings schien die politische Situation ab 1980 eine ebenfalls relevante Rolle gespielt zu haben, da Reisen nicht mehr spontan und ohne Einladungen stattfinden konnten. Spannend ist, wie Frau St. die Diskussionen und Aushandlungsprozesse zwischen Deutschen und Polen hinsichtlich deutsch-polnischer Geschichte und philosophischer Weltbetrachtung beschreibt. Gerade solche Themen hät­ ten einen erheblichen Teil der gegenseitigen Gespräche und zwischenmensch­ lichen Annäherung ausgemacht. Sie betont, dass ausdrücklich diese geschicht­ lichen und philosophischen Themen – die polnischen Freunde waren beken­ nende Katholiken – die Gespräche belebt hätten. Auch über den Krieg, Vertreibungen „und all diese Dinge“ sei offen diskutiert worden.270 Dem steht die Formulierung von Frau T. entgegen, dass die gegenseitige Zuneigung „ohne große Politik, den großen Bahnhof drum herum“ ausge­ kommen sei. Dies umfasste zum einen die Ereignisse 1980: „Ich kann mich nur dunkel erinnern, dass das im August 1980, dass da also schon so De­ monstrationen waren und dass man sich da schon etwas unwohl fühlte.“271 Zum anderen war auch die schwierige Geschichte kein Thema. Ihre polnische 269 Vgl.

Interview mit Frau St.. ebd. 271 Interview mit Frau T. 270 Vgl.

2.4. Deutsch-polnisches Leben in Leipzig   161

Freundin war achtmal in Leipzig, Gegenbesuche fanden – wie im obigen Bei­ spiel auch – bis 1980 dreimal statt, so dass politische Gründe beim Ende des Kontaktes alles andere als ausgeschlossen sind. Auch hier war der Einkauf ein Element der Verbundenheit. Dass die polnische Freundin in Leipzig einkauf­ te, sei „gang und gäbe“ und „der Zeit geschuldet“ gewesen. Das habe die „kleine[n] Dinge des Alltags, die man da eben so hin und her gekauft, oder sich mitgebracht hat – wie auch immer“ betroffen.272 Am Anfang des Inter­ views erinnert sich Frau T. – gestützt auf eine an die Mutter gerichtete Post­ karte –, dass der erste Eindruck von der späteren Freundin nicht unbedingt positiv gewesen sei. Bei einer Urlaubsfahrt mit ihrem Mann nach Volkspolen sei diese Dolmetscherin gewesen: Obwohl ich jetzt mit Verwunderung auf der ersten Karte, die ich meiner Mutti geschrieben habe, lese: ‚Die Dolmetscherin ist ziemlich umständlich.‘ Aber das hat sich wahrscheinlich dann gegeben. Das war so der erste Eindruck, der ja nicht immer stimmen muss. […] Da­ raus ist dann eine häufige Besuchertätigkeit entstanden, also sie ist häufiger bei uns ge­ wesen, als wir dort waren.273

Hier wie auch an anderen Stellen des Interviews liest sich heraus, dass vorein­ genommene Urteile über das Wesen der Polen während des näheren Kennen­ lernens revidiert wurden und durch positive Besetzungen wie Eleganz und Erfindungsgabe ersetzt wurden.274 Die polnische Mentalität, Fremde herzlich zu empfangen und großzügig seine Gesellschaft oder Gastfreundschaft anzu­ bieten, wurde von manchen als echte – und positive – Herausforderung an die deutsche Mentalität empfunden.275

„Polenbegeisterte“276 Leipziger Etwas anders gestalteten sich die Motive zur Kontaktsuche mit Polen bei je­ nen Leipzigern, die mit der Volksrepublik Polen ideelle Werte verbanden. Mit seiner Kultur, durch sein westlicheres Gepräge und durch die Lebensart der Polen war das Nachbarland zu einem Fluchtpunkt zum DDR-Alltag gewor­ den. Für diese Leipziger wurde der Kontakt zu polnischen Bekannten ein ­wesentliches Merkmal auch der eigenen Verortung in der DDR. Die politische Krise und die veränderten Reisemöglichkeiten nach 1980 bedeuteten eine er­ hebliche Belastung. Die Reiseeinschränkungen wurden aber auch gekonnt umgangen. 272 Vgl.

273 Ebd. 274 Vgl.

ebd.

ebd. Interview mit Frau K. 276 Der Begriff „polenbegeistert“ stammt von Frau B. 275 Vgl.

162   2. Akteure und Kontakträume Die Staatssicherheit berichtete 1981 von einer „Person“, die schon vorher wegen ihrer „festgestellten engen Kontakte zu ausländischen Studenten“ und häufiger Treffen in ihrer Wohnung den Verdacht auf sich gelenkt hatte: „Seit den Ereignissen in der VR Polen sind häufige Einreisen durch polnische Bür­ ger zu dieser Person zu verzeichnen. Dabei handelt es sich vorrangig um Ju­ gendliche und jungerwachsene polnische Bürger im Alter zwischen 20–30 Jahren.“277 Die „Person“ war „Zuzügler“, konnte russisch und polnisch und war katholisch278, was heißen könnte, dass es sich um einen aus Polen stam­ menden Deutschen handelte. Die kurze Notiz belegt so, dass Kontakte nach Volkspolen auch nach den Veränderungen der Reisemodalitäten gepflegt, möglicherweise sogar intensiviert wurden. Für Herrn P. hatte sich durch den Kontakt mit Volkspolen „das ganze Welt­ bild […] geändert“. Nach den ersten Besuchen im Nachbarland war selbstver­ ständlich, dass polnische Bekannte und Freunde nach Leipzig kamen. Wiede­ rum war spezifisch, dass zusätzliche Reisemöglichkeiten, Konsum und der Wunsch nach internationalen Kontakten eine Mischung ergaben, die eine in­ nere Gewichtung erfuhr: Die DDR war für sie auch wichtig als Einkaufsland, was bestimmte Lebensmittel, Luxusar­ tikel betraf. […]. Aber das war […] nicht der Hauptgrund, warum sie mich besucht haben, sondern es ging einfach um diese privaten Kontakte. Und das ist dann auch nicht abgeris­ sen nach 1980/81, wo dann die Polen eine spezielle Einladung brauchten, um in die DDR einreisen zu dürfen. Und ich habe dann auch galant gelogen und mir irgendwas ausgedacht über Cousins und Cousinen – und das hat auch geklappt.279

Als Gegenleistung halfen die Polen „bestimmte Zeitschriften zu schmuggeln, weil ich natürlich Angst hatte, wenn ich kontrolliert werde.“ Reisen in die Volksrepublik fanden nach 1980 mittels organisierter Treffen statt: „Dann gab es die Lager, die organisiert wurden, in den Bergen – auch teilweise von der Uni oder von den Studenten – am Meer. So kam man also in Kontakt.“280 In Leipzig fanden sich Polenfreunde informell zusammen. Zum einen gab es das Polnische Informations- und Kulturzentrum (siehe dazu weiter unten) und Leipziger versuchten, zu polnischen Familien oder in Leipzig lebenden Polen Kontakt zu halten. Anlaufpunkte polnischen Lebens waren auch der polnische Salon einer Sprachlehrerin des PIKZ oder die polnisch-katholische Messe, wo man sich in vertrautem Umfeld treffen konnte – auch wenn man nicht kirchlich geprägt war. So etablierte sich im Bekanntenkreis ein deutsch277 BStU,

MfS, BV Leipzig, Abt. II Nr. 605/03, Monatliche Berichterstattung zur Lage in der VR Polen, Leipzig, 10. 11. 1981, Bl. 44. 278 Vgl. ebd. 279 Interview mit Herrn P. 280 Ebd.

2.4. Deutsch-polnisches Leben in Leipzig   163

polnischer Zirkel von Leuten, mit denen Gespräche über Polen möglich wa­ ren: „Man wusste, mit wem man sich verständigen konnte.“281 Von solchen informellen Kommunikationszusammenhängen berichtet auch Frau B., die das Ausleben ihrer Faszination vom Polnischen als wesentliches Merkmal ihres Alltags in der DDR beschreibt. Das Gefühl, durch Praxis und innere Verortung dem Polnischen nahe zu sein, stellte ein Merkmal der Dis­ tanz zum Leben in der DDR dar: Ich hatte eine gute Bekannte, diese Frau I. [Namen anonymisiert] […]. Die war auch Kunst­ historikerin und […] ich hatte [sie] im Freundeskreis kennen gelernt. [Sie] wusste um mei­ ne Polenvorliebe und […] sagte: ‚Mein Mann ist genau so.‘ Und er hat auch extra polnisch gelernt, um die polnischen politischen Schriften zu lesen. Das war schon in der „Solidarność“-Zeit. Und dann wurde ich eines Abends eingeladen zu Ihnen und da waren lauter Leute, die sich für die „Solidarność“ interessierten. Meistens […] von der evangeli­ schen Gemeinde […] in Marienbrunn. Und es war in einem großen Privathaus. Es gab Tee und Plätzchen – wie das so üblich war. Ich kam mir vor wie bei Bettina von Arnim. Und es war ungeheuer interessant, es war ein Pole da und der erzählte davon und der Doktor I. stellte also verschiedene Publikationen und Untergrundpublikationen vor.282

Über solche Treffen geriet Frau B. auch in andere kirchennahe Kreise, bei de­ nen ebenfalls im gutbürgerlichen Stil bei einem Professor der Theologie, der auch Reisekader war, über polnische Zusammenhänge diskutieren konnte: „Durch I.’s bin ich überhaupt nur ein ganz klein wenig in solche Kreise gekommen, wo man mit gutem Willen von Opposition hätte sprechen können. Aber es war alles vage, ich bin nie, also es wurde nie ein richtiger Widerstand. Es war ein latenter Widerstand, wie er eben von der Kirche gemacht wurde. Unterstützung […] von Leuten, die kreativ arbeiten wollten, die aber in der DDR nicht gern gesehen wurden und die niemals hätten bei uns veröffent­ lichen können.“

Immerhin zeigt sich in dieser Erzählung, wie durch eigen-sinnige Praktiken auch politische Meinung beeinflusst wurde: „Das kann man ganz schwer tren­ nen. Es war nicht nur das Interesse an Polen, sondern es war der kleine Un­ gehorsam, der einem den Kick gab – in der DDR.“ Wenn man jemanden ken­ nen gelernt habe, der „genauso polenbegeistert“ war, konnte man vermuten, auch er sei mit der DDR nicht in allem einverstanden gewesen. Als Erken­ nungszeichen galten da zum Beispiel polnische Accessoires oder polnische Plakate aus dem PIKZ. Dabei hatte in diesem Fall alles ziemlich klein angefangen. Nach ersten Aufenthalten in Volkspolen und der Kontaktaufnahme zu vielen Polen folgten Urlaubsfahrten, so oft dies möglich war: „In dieser ganzen Zeit bin ich fak­ tisch jedes Jahr nach Polen gefahren, habe meine Privatkontakte immer weiter 281 Ebd.

282 Interview

mit Frau B. Wie auch die folgenden Belege und Zitate.

164   2. Akteure und Kontakträume vertieft und es war natürlich immer schöner. Irgendwann haben wir angefan­ gen […] polnisch [zu sprechen]. […] Dann ging auch die Alltagssprache.“ Bei den Reisen wurde das Nachbarland per Anhalter erschlossen, über­ nachtet wurde bei neuen und alten polnischen Bekannten. Die Begeisterung schwappte auch nicht auf jeden über: „Ich habe dann oft Leute mitgenommen und hatte die Hoffnung, dass die genau dieser gleichen Faszination wie ich unterliegen – aber leider war’s nicht so.“ „Solidarność“ war der entscheidende Einschnitt: Und es ging also gut bis ‚Solidarność‘ und dann hatte ich mein Problem. Dann haben sie mich nämlich nicht mehr gelassen. […] Dann hatte die DDR ihre Probleme damit, dass ich zu gute Kontakte nach Polen hatte und dann wurde angenommen – das habe ich später alles in meiner Stasiakte gelesen –, […] ich würde den Bazillus ‚Solidarność‘ hier in die DDR übertragen.

Zwar hätten die Vorgänge sie „ungeheuer“ interessiert, allerdings hätte sie das Risiko gescheut, zum Beispiel Untergrundpublikationen in die DDR mitzu­ bringen. Insgesamt bleibt daher der Kontakt nach Volkspolen als innere wie äußere Alternative. Die eigene Identifikation mit dem polnischen Lebensstil hob einen vom so wahrgenommenen Grau-in-Grau der DDR ab: „Ich war immer angenehm angetan, wenn man mich für eine Polin hielt. […] Da hebe ich mich raus aus diesem allgemeinen Grauen […]“. Denn Polen seien im Straßenbild von Leipzig nicht nur aufgrund ihrer Sprache, sondern auch we­ gen ihrer Kleidung, die modischer war, und wegen ihres Verhaltens und ihrer Bewegungen aufgefallen. Sie hätten schicker, lauter und lustiger gewirkt.283 Herr S. bricht diese Wahrnehmung auf, wenn er das Auftreten von Vertrags­ arbeitern beschreibt. Diese seien in der Öffentlichkeit manchmal negativ auf­ gefallen, unter anderem auch aufgrund von Kleidung und der „Art zu gehen.“ Dies habe aber auch zu Konflikten geführt, zumal manches Verhalten als un­ gehobelt verstanden worden sei.284 Nur als Randnotiz sei hier ergänzt, dass oppositionelle Kreise in Leipzig durchaus Kontakt zur „Solidarność“ suchten. Die Staatssicherheit verdächtig­ te eine Gruppierung von Studenten und Akademikern, „Gruppenbildung“ und „staatsfeindliche Hetze“ zu betreiben. Die Verdächtigen seien als „Schlüs­ selpositionen eines staatsfeindlichen Leipziger Untergrundes“ einzuschät­ zen.285 Drei der Verdächtigen reisten im Oktober 1981 nach Warschau und suchten dort die „Solidarność“-Zentrale und einen oppositionellen Studen­ 283 Vgl.

Interview mit Frau B. Interview mit Herrn S. 285 Vgl. BStU, MfS, BV Leipzig, AOP Nr. 2010/86 V/1, Eröffnungsbericht zum OV „Platon“, Leipzig, 2.2.1982, Bl. 20. 284 Vgl.

2.4. Deutsch-polnisches Leben in Leipzig   165

tenclub auf.286 Sie nächtigten bei einem Mitarbeiter des polnischen Konsulats in Leipzig und auf Vermittlung eines Bekannten in einem Studenteninternat. Jener Bekannte, der sich offensichtlich einer gewissen Berühmtheit im War­ schauer Oppositionsmilieu erfreute, übernahm auch die Betreuung der Leip­ ziger.287 Wie dieses Beispiel zeigt, war das Interesse oppositioneller Kreise in der DDR an den Geschehnissen in Polen recht groß, bei geschickter Organi­ sation und über dementsprechende Kontakte war ein Informationsbesuch in Warschau auch relativ leicht möglich. Allerdings war auch die Staatssicherheit kurz darauf bestens informiert, weil es ihr gelungen war, die Gruppierung zu unterwandern.

Polen in Leipzig Das Leben von Polen in Leipzig war in vielerlei Hinsicht von dichter und zu­ gleich widersprüchlicher Vernetzung mit deutschen Alltagswelten geprägt. Meistens lagen dem dauerhaften Aufenthalt familiäre Bande zu Grunde, wenn Polinnen und Polen Leipziger geheiratet und in der DDR eine Familie gegrün­ det hatten. Birgit Glorius kategorisiert Migration von Polen, die seit DDRZeiten dauerhaft in Leipzig leben, ebenfalls als Heiratsmigration.288 Ihr Be­ fund deckt sich mit den für diese Untersuchung geführten Interviews. Polen lernten ihre Leipziger Ehepartner während des Studiums oder im Urlaub ­kennen, äußere Zwänge und praktische Erwägungen bedingten, dass sich die binationalen Ehepaare in Leipzig niederließen. In der Mehrheit sind die Heirats­migranten weiblich.289 Erzählungen von Polinnen aus Leipzig und die Akten der Staatssicherheit hinterlassen – wenn auch auf anderen kategorialen Ebenen – ein zwiespältiges Bild deutsch-polnischer Kontakte auf der Ebene des Alltags. Die persönlichen Relationen schildern häufig Schwierigkeiten des Einlebens ins deutsche Um­ feld oder verweisen auf politische Drangsalierung spätestens seit 1980. Hier überschneiden sich die Erzählungen mit den Beständen der Staatssicherheit der DDR. Viele Polen betrachten ihren Aufenthalt in Leipzig aus familiären Gründen im Grunde als glückliche Zeit, andererseits wird das Leben in Leip­ zig wegen Heimweh und Mentalitätsproblemen auch als schwierig beschrie­ ben. 286 Vgl.

ebd., Bericht zur Verbindungsaufnahme eines negativ-feindlichen Leipziger Per­ sonenkreises zu antisozialistischen Kräften in der VR-Polen sowie zur aktuellen politi­ schen Lage in der VR-Polen., Leipzig, 9. 11. 1981, Bl. 92, 93 und 96. 287 Vgl. ebd., Bl. 92/93. 288 Vgl. Glorius: Perspektiven, S. 134/35. 289 Vgl. ebd. und S. 141–144 bzw. S. 151. Die Interviews mit Frau E., Frau H. und Frau J. bestätigen diese Bündelung.

166   2. Akteure und Kontakträume Die Staatsicherheitsdokumente liefern ein indirektes Indiz für dieses wahr­ genommene Unbehagen polnischer Leipziger. Dabei ist vielleicht nicht einmal entscheidend, dass Polen meistens im Fokus der Staatssicherheit standen (und sich gerade deshalb im eigentlichen Sinne des Wortes nie wirklich sicher füh­ len konnten). Viel beträchtlicher ist der Befund aus den Akten, dass die Mit­ arbeiter der Stasi wie auch die meisten IM an den von ihnen beobachteten Polen kaum ein gutes Haar ließen. Unzählige Berichte belegen die Vorurteile, die in der DDR-Bevölkerung kursierten. Deren tatsächliche Niederschrift und Formulierung dürfte durch die Art der Berichte als Geheimdienstdokumente und die bewusste wie unbewusste Voreingenommenheit aller Berichtenden noch verstärkt worden sein: Schließlich suchte die Stasi einen Sündenbock, jeder Beschattete musste die Beschattung Wert sein. Das heißt, dass die ge­ wünschten Ergebnisse – oder das, was man als gewünschte Ergebnisse imagi­ nierte – irgendwie geliefert wurden; und sei es, dass man die bespitzelte Per­ son charakterlich oder auf andere Weise diffamierte. So heißt es zu einer Po­ lin, die einen Leipziger geheiratet hatte und die eigentlich privat wie im Arbeitsleben ein mustergültiges Leben führte: Es existieren noch nicht überprüfte Hinweise, die auf eine etwas leichte Lebensweise hin­ deuten. So fanden in der Vergangenheit in der Wohnung der Familie [geschwärzt] Partys statt mit einem noch unbekannten Personenkreis, der u. a. zu sexuellen Ausschweifungen neigen soll.290

Viel weiter konnte ein Verdacht wegen moralischer Verwerflichkeit kaum her­ geholt werden. Wie schon angedeutet werteten Polinnen ihr Leben in Leipzig zwiespältig. Sie orientierten sich mehr oder minder deutlich am polnischen Leben am Polnischen Informations- und Kulturzentrum oder am Generalkonsulat, wo gemeinsame polnische Feiern stattfanden. Gerade letzteres war ein Refugium für polnische Bürger in Leipzig: „Sie konnten trotzdem nicht mit einer großen Gruppe wohin gehen und sich nur polnisch unterhalten. Das war gar nicht so einfach. Und da waren wir dankbar, wenn wir das dort vor Ort machen konn­ ten oder wie gesagt zweimal im Jahr im Konsulat.“291 Freundschaftliche Kon­ takte blieben auf die engste deutsche Verwandtschaft auf polnische Freunde und Bekannte beschränkt.292 Polnisches Leben in Leipzig war von deutschen Milieus abgegrenzt, so hätten zum Beispiel Vertragsarbeiter in der Isolierung gelebt, man habe sich an den polnischen Orten getroffen: 290 BStU, MfS, BV Leipzig, Abt. II Nr. 145, Kaderauftrag Nr. AKE 83 „Kabinett“ [geschwärzt]

vom 7. 5. 1984, Leipzig, 18. 6. 1984, Bl. 130. mit Frau E. 292 Vgl. Interview mit Frau J. 291 Interview

2.4. Deutsch-polnisches Leben in Leipzig   167 Aber die [Vertragsarbeiter] haben dann immer wie in einer Enklave unter sich gelebt und für sich auch gefeiert […]. Aber von der Sache her lebten die auch für sich und das [Treffen in polnischem Umfeld] war eben die Möglichkeit, dass man dann sich trifft und sich ein bisschen austauscht: ‚Was macht ihr denn hier, wie seid ihr denn hergekommen? Bist Du allein oder hast Du Familie?293

Der polnische Gottesdienst war ein ebensolcher Bezugspunkt, der Pater stifte­ te nach den Messen sogar großzügig Bier, so dass die vielen männlichen Gläu­ bigen wohl umso lieber kamen. Nach den Gottesdiensten traf man sich in der Wohnung des Priesters; heute in Leipzig lebende Polen meinen, dass die ka­ tholische Kirche in DDR-Zeiten ein sozialer Raum außerhalb des staatlichen Zugriffs war. Die katholischen Polen pflegten hier ihr Zusammengehörigkeits­ gefühl und ihre Sprache.294 Den Geheimdiensten und den kommunistischen Parteien war der Hort des Katholizismus selbstverständlich ein Dorn im ­Auge.295 Der Verweis von Frau E. auf das Entstehen von Partnerschaften, aber nicht unbedingt Freundschaften, bestätigt das Bild: „Und ab 1970 entstanden auch viele Ehen. Weil viele Polen und auch Polinnen hier geheiratet haben, die hier studiert haben, gearbeitet haben.“296 Polen in Leipzig waren stetig um Aner­ kennung bemüht: Ich habe immer versucht meinen Kollegen, mit denen ich gearbeitet habe, was aus Polen mitzubringen; […] Lektüre, eine schöne Schallplatte. Und wenn ein schöner Film oder ein Konzert war, haben wir dann auch Mundpropaganda praktisch gemacht, um zu erreichen, dass man das Land vielleicht auch mal irgendwie versteht. Warum wir das oder das nicht haben oder warum es ärmlicher ist, warum die Leute schieben. Wir waren auch nicht im­ mer glücklich, […] weil Sie damit immer in die gleiche Schublade reingesteckt wurden.297

Im Fazit bleibt für Frau E., dass „ganz enger, persönlicher Kontakt […]mit den Deutschen schwierig zu bekommen“ war. „Ich habe Bekannte, aber Freun­ de kann ich nicht sagen – hier.“298 Sie habe in Leipzig nicht richtig Wurzeln geschlagen und spiele in Gedanken immer mit einer Rückkehr nach Polen. Der Freundschaftsbegriff berührt ein kompliziertes Gebiet deutsch-polnischer Verständigung. Birgit Glorius zeigt, dass Polen in Deutschland Gastfreund­ schaft, Geselligkeit und Herzlichkeit vermissen. Ein Leipziger Pole erzählte ihr, dass er Besuche von Kollegen vermisse und diese auf seine wiederholten 293 Interview

mit Frau E. Glorius: Perspektiven, S. 128/29 und S. 189/90. 295 Vgl. ebd., S. 190 und S. 251 und AIPN, IPN BU 0639/148, Doniesienie, Sprawozdanie z konferencji duszpasterskiej polskich księży pracujących w N.R.D. Konferencja odbyła się 18/19.I. 1977r. w Lipsku, Bischof-Petrus/Haus, Prinz-Eugen-Str. 28, [undatiert]. 296 Interview mit Frau E. 297 Ebd. 298 Ebd. 294 Vgl.

168   2. Akteure und Kontakträume Einladungen nicht reagierten.299 Einen weiteren Interviewpartner zitiert Glo­ rius’: „Damals waren eigentlich die Meinungen von Ausländern nicht so, ob­ wohl das auch ein so genanntes Bruderland, in Anführungsstrichen, war. Aber die Bevölkerung, so traurig das zu sagen ist, aber das muss ich sagen, dass [sic!] war nicht so freundschaftlich, wie es auf dem Papier stand.“300 Deutsches und polnisches Verständnis von Freundschaft sind offensichtlich nicht identisch. Unverkennbar konnte die Freundschaftspropaganda im priva­ ten Lebensumfeld die Vorstellungen und eingeübten Praktiken nicht ersetzen. Deutsch-polnische Annäherung konnte in ihr keine Anleihen finden, die pri­ vaten Kontakte zwischen deutschen und polnischen Leipzigern wurden durch individuelle Erfahrungen geprägt. Polen gelang es nicht immer, ihr Verständ­ nis von Freund- und Bekanntschaft auf deutsche Verhältnisse zu übertragen. Deutsche waren weit davon entfernt, die Propaganda in die Tat umzusetzen. Hinzu kamen die politischen Einflüsse, die deutsch-polnische Kontakte auf die Probe stellten. Vor allem Frau H. betonte die schwierigen Verhältnisse um 1980 und ­schilderte auch sonst – analog zu anderen –, wie gelebter Katholizismus, Kin­ der­erziehung und polnische Traditionen eine Art Außenseiterexistenz begrün­ deten. Und dann passierten nun ja verschiedene Dinge in Polen […]. Da kam das Jahr 1976, lang­ sam näherte sich ja das Jahr 1980. Ja und dann muss ich sagen: Meine Begeisterung für das, was dort war, stieß nicht immer auf Verständnis hier unter unserem Bekanntenkreis oder – ich will nicht sagen Freundeskreis, weil mittlerweile habe ich gemerkt, das, was ich als Freundschaft betrachtet habe, ging dann zu Ende. Und da hab’ ich gesagt: ‚Wenn eine Freundschaft zu Ende geht, dann hat sie nie begonnen‘. Also war’s nur eine Bekanntschaft. Ja, ich spürte, dass ich irgendwie, naja, ich will nicht sagen, beobachtet worden bin aber es kam dann so weit, dass ich im Jahr 1980, nachdem nun in Polen die politischen Ereignisse sich so darstellten, dass das mit Konterrevolution beschimpft worden ist und dergleichen mehr […]. Meine Zulassung als Dolmetscherin lief dann plötzlich am 31. 12. 1980 aus.

Dies verwundert vor dem Hintergrund der heutigen Kenntnis ihrer Stasiakten aber nicht weiter; sie galt als Polin als politisch unzuverlässig. Ihr deutscher Mann wurde versetzt, sie fand neue Arbeit am PIKZ und erst mit der Zeit wurde das Ehepaar rehabilitiert.301 Der deutsche Ehemann einer von Birgit Glorius interviewten Polin geriet wegen seines Übertritts zum katholischen Glauben und seines Austritts aus der SED mit der Staatsmacht in Konflikt. In der heute einzusehenden Stasiak­ te sei die detaillierte Beobachtung der deutsch-polnischen Familie dokumen­ Glorius: Perspektiven, S. 203/04. S. 249. 301 Vgl. Interview mit Frau H. 299 Vgl.

300 Ebd.,

2.4. Deutsch-polnisches Leben in Leipzig   169

tiert, erzählte die Polin. Ein Nachbar und Stasispitzel habe sogar ein Garten­ fest arrangiert, um die Familie und die sie besuchenden polnischen Verwand­ ten auszuhorchen.302

Deutsch-polnisches Leben im Fokus der Staatssicherheit Wie hier aus den Lebensläufen von Leipziger Polen entwickelt, erschloss sich die Staatsicherheit ein breites und zugleich sehr limitiertes Panorama deutschpolnischen Lebens in Leipzig – aus dezidiert geheimdienstlichem und polen­ feindlichem Blick. Manchmal reichte es, Pole zu sein oder als Deutscher Polen zu kennen, um Verdachtsmomente auf sich zu lenken. Allerdings verband die Staatssicherheit häufig auch weiterführende Interessen mit der Beobachtung des deutsch-polnischen Milieus. Über die ‚Aufklärung‘ polnischer Bürger und der Geschehnisse in Volkspolen hinaus, wurden bei der Staatssicherheit regis­ trierte Personen auch auf ihre Tauglichkeit als IM geprüft. Die Stasi handelte also zumeist mehrdimensional, ihre Strategien konnten sich ändern. In den Akten sind diese Schritte oft nur rudimentär nachzuvollziehen. Be­ sonders schwierig ist zu ermitteln, wie die durch die Stasi erhobenen Informa­ tionen den weiteren Lebensverlauf der Beobachteten beeinflussten. Bei der Prüfung eines IM-Vorlaufes aus dem Jahr 1985 wurde von einem Polen be­ richtet, er lebe seit 1983 mit deutscher Frau und Kind in der DDR. Politisch wurde er als zuverlässig eingeschätzt, kleinere Schleichhandelstätigkeiten sei­ en ohne strafrechtliche Relevanz.303 Noch einige Jahre zuvor hatte man ihn und seine damalige Freundin auf dem Leipziger Bahnhof beschattet und Ge­ spräche belauscht: Die Verabschiedung wurde gegen 21.15 Uhr auf der Bank, Bahnsteig 18 festgestellt. Beide Personen umarmten und küßten sich. Bei der Verabschiedung führten sie ein angeregtes Gespräch, wo folgendes mitgehört werden konnte: Die DDR Bürgerin weinte und sagte zur männlichen Person, sie wolle doch lieber in die BRD. […] Aus dem weiteren Gespräch konnte entnommen werden, daß beide Personen die Ansicht haben in die BRD überzusie­ deln. Die weibliche Person schimpfte in der Unterhaltung über die DDR, wo über Angebot in Geschäften und die Maßnahmen im Reiseverkehr zwischen der VR Polen und der DDR die Rede war [sic!].304

Als der Pole bereits in Leipzig wohnte, berichtete die Stasi davon, dass das deutsch-polnische Paar 1980/81 zehn Polen eingeladen habe.305 Die Volkspo­ lizei vermutete, dass sie ihren Lebensunterhalt aus „spekulativem Warenhan­ Glorius: Perspektiven, S. 251/52. BStU, MfS, BV Leipzig, AIM Nr. 880/91 I/1, Vorschlag zur Anlage eines IM-Vorlau­ fes, Leipzig, 11. 11. 1985, Bl. 215/16. 304 Vgl. ebd., Feststellungsbericht zur verdächtigen Person (Verabschiedung) am Dienstag, den 03. 02. 81, D 440, auf der Streckenführung Zwickau – Köln, Leipzig, 4. 2. 1981, Bl. 63. 305 Vgl. ebd., Sachstandsbericht, Leipzig, 8. 3. 1985, Bl. 90. 302 Vgl. 303 Vgl.

170   2. Akteure und Kontakträume del“ bestritten, beide Polen würden „keiner geregelten Arbeit“ nachgehen.306 Bei polizeilichen Vorladungen wurde die Ehepartnerin darüber unterrichtet, dass ihr Mann „nach erfolgter Übersiedlung ein ordentliches Arbeitsverhält­ nis“ haben müsse und „seiner Arbeit geregelt nachgehen“ solle.307 Diese Ar­ beit war dann die eines Ausstellungsmonteurs im Polnischen Informationsund Kulturzentrum, was ihn als IM wiederum interessant machte. So wandel­ te sich das Bild des unliebsamen Polen zu einem möglichen Partner der Stasi bei der Beobachtung polnischen Lebens in Leipzig. Bei der Einschaltung der Volkspolizei in die Lebensverhältnisse des Ehepaares wird die staatliche Kon­ trolle auf deutsch-polnische Ehen explizit fassbar. Wann und wo die Stasi die Geschicke mitbestimmte, ist nicht mit Genauigkeit zu bestimmen. Wie deutsch-polnisches Leben in Leipzig ‚aussah‘, erfuhr die Staatssicher­ heit auch durch die Berichte mehrerer IM über einen Programmgestalter des PIKZ, der mit einer Deutschen verheiratet war. Wann und von wem er Besuch aus der Heimat erhielt, war genauso ein Thema wie die wiederkehrenden Ehe­ krisen.308 Charakterisiert wird der Pole als „überheblich“ und „für sich ein­ genommen“. Er nutze „polnischerseits“ Vorteile. Hierzu wurde gerechnet, dass sein Sohn polnischer Staatsbürger sei, was diesem den Armeedienst erspare und Reisen ins westliche Ausland ermögliche – dass hier der Neid des DDRBürgers spricht, ist wohl keine allzu böswillige Unterstellung. Außerdem habe er „Kontakte zu atraktiven Frauen [sic!]“. Auch schätze er den Alkohol.309 Eif­ rig zeigte sich die IM „Sekretärin“, die von „ausschweifendem Lebenswandel (Alkohol, Frauen)“, Prügel für seine Verlobte und häufigen Kneipenbesuchen zu berichten wusste. Zudem beherberge er illegal Messegäste und betreibe „Schiebergeschäfte“.310 Der IM „Peter Schwarz“, der in der „sogenannten Unterwelt“ verkehrte311, schöpfte aus seinem Metier: Von jungen Frauen lasse sich der polnische Pro­ grammgestalter in einem eigens dafür angemieteten Wohnraum „sexuell befriedigen“.312 Er habe den Beobachteten auch zusammen mit einer pol­ nischen Zigeunerin getroffen, mit der er nach eigenen Angaben „im Zug 306 Vgl.

ebd., Leipzig, 23. 11. 1982, Bl. 93. ebd., Aktennotiz, Leipzig, 10. 2. 1983, Bl. 94. 308 Vgl. u. a. ebd., AP Nr. 1639/91, Information zu [geschwärzt], Programmgestalter im Pol­ nischen Informations- und Kulturzentrum, Leipzig, 27. 4. 1981, Bl. 67 und Information zu [geschwärzt], Programmgestalter im Polnischen Informations- und Kulturzentrum Leipzig, Leipzig, 27. 4. 1981, Bl. 65. 309 Vgl. ebd., Angaben zur Person [geschwärzt], [undatiert], Bl. 79. 310 Vgl. ebd. Auszug aus Treffbericht „Sekretärin“ vom 9. 9. 1981, Bl. 81/82. 311 Vgl. ebd., AP Nr. 1639/91, Aktenvermerk, Leipzig, 15. 8. 1981, Bl. 14. 312 Vgl. ebd., Betrifft: [geschwärzt], Leipzig, 11. 8. 1981, Bl. 139. 307 Vgl.

2.4. Deutsch-polnisches Leben in Leipzig   171

Sexual­verkehr ausübe“.313 Der Verdächtige unterhalte außerdem Kontakt zu „polnischen Bürgern mit Verdacht des spekulativen Warenhandels […], wo­ bei Bürger der DDR als Quartiergeber bzw. Antragsteller für Einladungen polnischer Bürger in Erscheinung treten.“314 Ein anderer IM hatte die ‚Ehre‘, mit dem Beobachteten das Fußballländer­ spiel zwischen Volkspolen und der DDR aufsuchen zu dürfen. Er blieb etwas ratlos zurück: Der IM informierte, daß [geschwärzt] in der Halbzeitpause des Fußballspieles DDR-VRP (10.10.) einen Bekannten zu sich herangewunken hat. Dieser stand in der Nähe polnischer Schlachtenbummler. Bei dieser Person handelt es sich vermutlich um einen poln. Bürger. Er ist ca. 180 groß und trägt einen großen geschwungenen Oberlippenbart, ist mittelblond und blauäugig, er trägt ein großen, auffälligen, goldenen Sigelring mit Gravur. Bei sich trug er drei Büchsen Bier die einen Intershop-aufkleber trugen. Zwei davon übergab er [ge­ schwärzt], die dann die Runde machten. Diese Person war ca. 5 Min. bei [geschwärzt]. Wo­ rüber gesprochen wurde konnte der IM nicht sagen. Der IM glaubt, ist sich jedoch nicht sicher, diese Person schon im PIKZ gesehen zu haben. Auffällig erschien dem IM weiterhin, daß [geschwärzt] während des Spiels oft auf die poln. Schlachtenbummler schaute, so als ob er etwas erwarte bzw. jemand suche. [geschwärzt] plant zur Fußball-WM nach Spanien zu fahren […] [sic!].315

Alles in allem sah sich die Staatssicherheit mit einem polnischen Leben kon­ frontiert, das in den Akten einen Beigeschmack des Verruchten bekam. Dem Verdächtigen konnten keine negativen politischen Ansichten angehängt ­werden, dafür aber jede Menge moralische Verfehlungen und eine gewisse kriminelle Energie. Der Bericht vom Länderspiel zeigt deutlich, wie der ­biedere IM und DDR-Spießer das für ihn Fremde mit dem Odem des Un­ durchsichtigen und Gefährlichen in Verbindung setzte. Die Reise in den Westen und das Intershop-Etikett wirkten wie Fanale der weiten und doch so gefährlichen Welt. Der polnische Alltag eines Leipzigers gab der Phantasie der Stasi und ihrer Spitzel genug Anhaltspunkte, um eine zwielichtige Kar­ riere zu konstruieren. Polnisches Leben in Leipzig war etwas Fremdes und Unverständliches von dem man sich als Deutscher besser fernhielt. Diese Grundeinstellung ‚inte­ grierten‘ inoffizielle Mitarbeiter in ihre Berichterstattung.

Zwischenfazit Für Leipziger, die die systematisch gewahrte Distanz zwischen Deutschen und Polen überwinden konnten und wollten und im Polnischen eine Alternative und ein Lebensgefühl sahen, bedeutete der private deutsch-polnische Kontakt 313 Vgl.

ebd., Bericht zur Person [geschwärzt], Bl. 265. ebd., [geschwärzt], Leipzig, 24. 11. 1981, Bl. 219. 315 Vgl. ebd., Auszug aus TB Wolfgang, 13. 10. 1981, Bl. 211. 314 Vgl.

172   2. Akteure und Kontakträume eine eigen-sinnige Aneignung fremder Bezugswelten. Er entstand in der Ab­ grenzung zum Alltag der DDR und erschloss sich Deutungsräume und Kom­ munikationszusammenhänge, die nur für Eingeweihte zu entschlüsseln wa­ ren. In der „Solidarność“-Zeit wurden politische Aspekte entscheidend. Zum einen erhöhte sich die Repression der DDR-Organe auf Polen wie Deutsche in Leipzig. Zudem belegten deutsche Leipziger durch Verhalten und ihre ‚sys­ temkonforme‘ Wahrnehmung des Polnischen, dass sie die Signale und die Propaganda der SED nicht nur richtig deuteten, sondern auch habituell ver­ innerlicht hatten. Deutsch-polnische Alltagswelten unterlagen so direkten und latenten Repressionen, Einschränkungen und dem Misstrauen im öffentlichen Raum. Für jene, für die sich mit der „Solidarność“ politische Hoffnungen verban­ den, fielen vormals ideelle und nonverbale Werte immer deutlicher mit politi­ schen zusammen. In der Solidarität und der Sehnsucht nach dem Polnischen manifestierten sich nun vermehrt konkrete Wünsche nach mehr Freiheit. Ausgelebt wurden solche Wünsche jedoch nur in Volkspolen selbst oder in den sogenannten ‚Nischen‘ der DDR-Gesellschaft. Handlungsmuster wurden nur selten daraus abgeleitet, wie auch der folgende Abschnitt über das Polni­ sche Informations- und Kulturzentrum zeigen kann. Selbst wenn sich der deutsch-polnische Kontakt nicht in die ideelle Sphäre verlagerte, waren seine Dimensionen doch eine Erweiterung des DDR-Alltags. Immer spielte der Austausch zumindest ökonomischer Güter eine gewisse Rolle. Manchmal entwickelte sich auch ein Gedankenaustausch, der zwar die sozialistische Deutungshoheit der DDR nicht verließ, aber doch in polnische Zusammenhänge einführte. Private Kontakte wirkten so in den individuellen Lebenswelten von Deut­ schen zumeist stabilisierend, weil sie einen Fluchtpunkt anboten. Über lang­ fristige destabilisierende Folgen kann nur spekuliert werden. Dass Leipzig ein Zentrum der DDR-Bürgerbewegung gegen die Diktatur der SED wurde, stand sicherlich nicht originär mit deutsch-polnischen Kontakten im Zusammen­ hang. Allerdings nahmen einige der Interviewpartner an den Montags­ demonstrationen teil, ihre kritische Haltung zur ‚Diktatur des Proletariats‘ hatten sie zumindest teilweise in Auseinandersetzung mit dem Polnischen ­herausgebildet. Für Polen waren private Kontakte häufig auf den engsten Familienkreis be­ schränkt. Diese familiären Bande stabilisierten den ansonsten prekären Alltag. Fremdheit, Anfeindungen und Trennung von Heimat und Familie, die in den achtziger Jahren noch durch die Politik der DDR befeuert wurden, fanden in den Partnerschaften mit Deutschen und in der Familie ein Auffangnetz.

2.5. Eine Insel in Leipzig. Das Polnische Informations- und Kulturzentrum   173

2.5. Eine Insel in Leipzig. Das Polnische Informations- und Kulturzentrum Eine der Formen der Tätigkeit unseres Polnischen Informations- und Kulturzentrum [sic!] in Leipzig ist die Vorstellung verschiedener Gebiete unseres Landes. Bisher stellten wir der Bevölkerung der DDR, vor allem den Einwohnern Leipzigs, 9 Gebiete vor. Ziel dieser Ver­ anstaltungen ist es, durch das Kennenlernen des Nachbarlandes Polen und seiner Men­ schen, die freundschaftlichen Beziehungen und die gegenseitige Zusammenarbeit zwischen unseren Ländern zu vertiefen und zu entwickeln.316

In diesen festgefahrenen Floskeln beschrieb der Direktor des Polnischen In­ formations- und Kulturzentrums in einem Schreiben an die SED-Bezirkslei­ tung Leipzig die Tätigkeiten seiner Institution. Sicherlich war das Programm in vielen Bereichen auf Information und propagandistische Vereinnahmung ostdeutsch-volkspolnischer Partnerschaft abgestimmt. Gerade landeskundli­ che Ausstellungen waren eine Voraussetzung, um DDR-Bürgern Wissen über den Nachbarn zu vermitteln. Doch bei allen geplanten Begegnungen, eigneten sich die Nutzer des Zentrums dessen Angebot auch jenseits der vorgefassten Funktionsweisen an. Die Verflechtung offizieller und privater Dimensionen, von Nutzen und Nutzung zielt in den Kernbereich deutsch-polnischer Kon­ takträume in Leipzig. Als in Leipzig im Jahr 1969 das Polnische Informations- und Kulturzent­ rum eröffnet wurde, fiel die polnische Saat auf noch ziemlich unfruchtbaren Leipziger Boden. Die Beziehungen zwischen DDR und Volkspolen waren kei­ nesfalls auf jenem Niveau angekommen, das die Propaganda verkündete, und Deutsche und Polen waren – zumindest nach dem Zweiten Weltkrieg – noch nie massenhaft miteinander in Kontakt getreten. Beide Seiten wussten des­ halb nicht, was sie voneinander erwarten konnten und die ersten Monate gin­ gen mit Unsicherheiten und Befangenheit einher. Mitarbeiter des PIKZ be­ schrieben diesen vorsichtigen Umgang der Leipziger mit den Polen so: Die offiziellen Stellen im Kreis und in der Stadt Leipzig hatten eher erwartet, dass das Zentrum eine Einrichtung mit einem Handels- und Kulturprofil sein und sich im Grund­ satz auf den Verkauf von Erzeugnissen polnischer Volkskunst und von Zeit zu Zeit der Durchführung von Veranstaltung mit kulturellem Charakter beschränken würde. Daher war ­unser relativ breites programmatisches Profil, das in erster Linie politische, wirt­ schaftliche und gesellschaftliche Problematik thematisiert, eine gewisse Überraschung für die deutschen Genossen. Häufig wurde in Leipzig – in sehr diskreter Weise – gefragt, ob das neue Zentrum z. B. plant, moderne polnische Kunst auszustellen, welche Schriftsteller Autorenabende haben werden, welche Aussage die gezeigten polnischen Filme haben wer­ den usw. 316 SächsStA,

StA-L, 21123 SED-BLL Nr. 2374, Offizielles Schreiben [ohne Titel], Leipzig, 20. 1. 1977, S. 1.

174   2. Akteure und Kontakträume Das zeugt von einer gewissen Vorsicht und von fehlender Orientierung, was die generelle Richtung der polnischen Kulturpolitik betrifft. Ein sachlicher und umfassender Kommen­ tar, konkrete Antworten über die zukünftigen Aufgaben des Zentrums und seines Pro­ gramms, erlaubten es, diese Unruhe zu zerstreuen. Sichtbar ist auch, dass die Relikte von kleinbürgerlichem Bewusstsein in Leipzig keinen geringen Umfang haben. Sie zeigen sich u. a. in der übertriebenen Aufmerksamkeit, die Faktoren von materieller und repräsentati­ ver Natur geschenkt werden. Unser vernünftiger Wille zu Bescheidenheit wurde manchmal als Ausdruck finanzieller Schwäche in der materiellen Sphäre verstanden.317

In dieser Schilderung kreisten die aus polnischer Sicht entscheidenden Fragen natürlich in erster Linie um das Programm, was aber direkt mit den gesell­ schaftlichen Entwicklungen und den Geschichtsbildern von Deutschen wie Polen verknüpft war. Die polnische Einschätzung ändert aber die Blickrich­ tung: Polen war fortschrittlich und die DDR kleinbürgerlich – in der DDR hätte man wohl gesagt, man selbst sei sozialistisch, während man auf polni­ scher Seite bourgeoise und liberale Rückstände in der Kunstauffassung fest­ stellen könne. Jedenfalls war den DDR-Funktionären bei der Vorstellung, pol­ nische Einflüsse könnten nach Leipzig geraten, nicht ganz geheuer; unproble­ matischer wäre gewesen, wenn das Zentrum nur die Konsumlandschaft etwas belebt hätte. Aufgabenbereich und Einflussmöglichkeiten des PIKZ konnten nicht eingeordnet werden, es wurde zunächst als fremdartig oder gar bedroh­ lich wahrgenommen. Während der folgenden zwanzig Jahre seines Bestehens bediente das PIKZ in kultureller, ökonomischer und politischer Hinsicht ein breites Spektrum. Es war aus offizieller Sicht ein wichtiger Repräsentant polnischer Kultur im Sü­ den der DDR.318 Deutsche wie polnische Leipziger nutzten sein Kultur- und Informationsangebot und in noch größerem Maße den dem Zentrum ange­ schlossenen Handelssalon. Das PIKZ in Leipzig war eine Kontaktzone zwi­ schen Polnischem und Deutschem, es erfüllte unterschiedliche Erwartungen und Wünsche. Das Gemenge verschiedener Interessen, die an das PIKZ her­ angetragen wurden, reichte von offizieller Kulturpolitik, alltäglicher Nutzung in gesellschaftlichem oder persönlichem Interesse bis zu inoffizieller Überwa­ chung durch die Staatssicherheit.

317 AMSZ,

DWKN Nr. 21/75 w-24, Heft 528, Sprawozdanie z  działalności Ośrodka Infor­ macji i Kultury Polskiej w Berlinie za rok 1968, Berlin, 12. 2. 1969, S. 17/18. 318 Die DDR und die Volksrepublik Polen hatten sich bereits 1964 grundsätzlich darüber verständigt, wie ihre kulturelle Zusammenarbeit ausgestaltet werden sollte. Einen Bau­ stein darin bildete die in § 11 geregelte Entwicklung und Erweiterung von Kultur- und Informationszentren. Vgl. http://www.msz.gov.pl/bpt/documents/10583.pdf, 7. 8. 2007, Umowa o  współpracy kulturalnej między Rządem Polskiej Rzeczypospolitej Ludowej a Rządem Niemieckiej Republiki Demokratycznej.

2.5. Eine Insel in Leipzig. Das Polnische Informations- und Kulturzentrum   175

Die Untersuchung des PIKZ hinsichtlich der Fragestellung, wie durch deutsch-polnische Kontakte Freiräume entstanden, ist besonders ergiebig. Die Möglichkeiten und Dimensionen solcher Freiräume können erfasst und be­ schrieben werden, indem untersucht wird, wie Deutsche und Polen dem ­Programm des PIKZ individuelle Bereicherung und eigen-sinnige Selbst­ verortung abgewannen. Das PIKZ war in dieser Lesart eine durch die offiziel­ le Kulturpolitik der DDR und der Volksrepublik Polen etablierte Institution, die Raum für Handlungspotentiale in verschiedene Richtungen ermöglichte. Es gab gleichzeitig staatliche, gesellschaftliche und individuelle Akteure, die das PIKZ in sinn-gebender und sinn-gewinnender Weise nutzten. Von einiger Bedeutung ist im Hinblick auf das PIKZ zudem, dass das Ausgestalten von Optionen durch eine transnationale Dimension zwischen DDR und Volkspo­ len erweitert wurde. Verständigungsprozesse und Handlungen verliefen nicht in einer ideal gedachten ‚einheitlichen‘ nationalen Gesellschaft, sondern funk­ tionierten in der Verflechtung zweier Gesellschaften mit unterschiedlichen Handlungs- und Kommunikationsräumen. Damit einhergehend kann gezeigt werden, wie die Staatsmächte und der Sicherheitsapparat der DDR daran scheiterten, die in der DDR lebenden Men­ schen nicht nur zu lenken, sondern abweichende Alltagspraktiken zu verhin­ dern. Staatliche Kulturpolitik und individuelle Ziele verschränkten sich in der Wahrnehmung des PIKZ so sehr, dass eine wie auch immer geartete Tren­ nung nicht mehr möglich war. Freiräume entstanden unter den Fittichen der sozialistischen Kulturpolitik und gerade dort, wo die Absicherung und Be­ schattung außerordentlich dicht waren. Denn gerade das PIKZ stand spätes­ tens seit dem Aufkommen der „Solidarność“ 1980 im Fokus der Beobachtun­ gen der Staatssicherheit. Mitarbeiter, Tätigkeit und die Besucher des Zentrums wurden mit bürokratischer Gründlichkeit durchleuchtet.319 Zu fragen ist insbesondere, inwiefern der unmittelbare Kontakt zum und am PIKZ für die deutschen und polnischen Kontaktpartner ein besonderes Angebot jenseits des DDR-Kulturbetriebs darstellte und individuelle Bedürf­ nisse decken konnte: Konnten sich unter den Schwingen des offiziellen Kul­ turaustausches zwischen den sozialistischen Blockstaaten DDR und Volks­ polen auch Interessen Einzelner ausprägen? Wie konnten in der Grauzone zwischen sozialistischer Kulturpolitik und eigennützigem Interesse am Nach­ barland Polen innerhalb des PIKZ Freiräume auf individueller Ebene ent­ 319 Vgl.

z. B. BStU, MfS, BV Leipzig, Abt. II Nr. 552, Sicherungs- und Bearbeitungskonzep­ tion zum Polnischen Informations- und Kulturzentrum (PIKZ) und Polnischen Gene­ ralkonsulat (GK) in Leipzig für den Zeitraum von 1982 bis 1985, Leipzig, 5. 5. 1982, Bl. 23–27.

176   2. Akteure und Kontakträume stehen? Wie und vom wem wurde das PIKZ als Forum genutzt, Interessen und Wünsche zu befriedigen, die im Kulturbetrieb der DDR nicht bedient wurden?

2.5.1. Tätigkeit und ‚Öffentlichkeitsarbeit‘ Ausrichtung und Programm

Das PIKZ wurde am 6. Februar 1969 in unmittelbarer Bahnhofsnähe am Stadtring von Leipzig eröffnet. Es verfügte über eine Fläche von 900 m² und umfasste einen Saal für 110 Zuschauer, einen Ausstellungsraum, einen Lese­ saal, einen Handelssalon und Büroräume.320 Die Mitarbeiterzahl ist aus den internen Dokumenten nicht zu bestimmen, 1982 lag sie nach Informationen der Staatssicherheit der DDR bei fünf Diplomaten und 35 weiteren Angestell­ ten.321 Der Aufgabenbereich und das Spektrum der Angebote des Zentrums waren breit gefächert. Auch die Zielgruppe war dementsprechend groß. Das PIKZ richtete sich an offizielle Instanzen wie an Privatleute, es bediente Deut­ sche und in Leipzig lebende und arbeitende Polen. Eine Rekonstruktion der Tätigkeit ist heute in erster Linie durch die zumeist jährlichen Berichte des Direktors des PIKZ an das Außenministerium der Volksrepublik Polen, dem das PIKZ unterstellt war, möglich. Anhand dieser Dokumente sind Qualität und eigentliche Wirkung des Angebots nicht zu ermessen, was eine Bewer­ tung nur unter Vorbehalten bei Berücksichtigung auch anderer Quellen er­ möglicht.322 Im PIKZ selbst zählte neben der Verbreitung polnischer Kultur und Kunst ein propagandistisches Informationsprogramm, das wirtschaftliche und poli­ tische Aspekte der sozialistischen Entwicklung der Volksrepublik Polen in der DDR bekannt machen sollte, zu den grundsätzlichen Aufgaben.323 Eine Schlüsselrolle spielten auch die immer wiederkehrenden (sozialistischen) Ju­ biläen. Im PIKZ bemühte man sich, das vorherrschende Bild von Volkspolen zu korrigieren und sie als ein Land im Aufbruch darzustellen: 320 AMSZ,

DWKN Nr. 21/75 w-24, Heft  528, Sprawozdanie z działalności Ośrodka Infor­ macji i Kultury Polskiej w Berlinie za rok 1968, Berlin, 12. 2. 1969, S. 17. 321 Vgl. BStU, MfS, BV Leipzig, Abt. II Nr. 552, Sicherungs- und Bearbeitungskonzeption zum Polnischen Informations- und Kulturzentrum (PIKZ) und Polnischen Generalkon­ sulat (GK) in Leipzig für den Zeitraum von 1982 bis 1985, Leipzig, 5. 5. 1982, Bl. 24. 322 Es versteht sich von selbst, dass die Direktoren kritische Töne bei der Bewertung der eige­ nen Arbeit vermieden. Als kontrastierende Quellen helfen daher die ebenfalls problema­ tische Überlieferung der Staatssicherheit zum PIKZ und mündliche Auskünfte weiter. 323 Vgl. u. a. AMSZ, DWKN Nr. 11/77 w-19, Heft 528, Sprawozdanie z działalności w roku 1972, Lipsk, 20. 1. 1973, S. 2.

2.5. Eine Insel in Leipzig. Das Polnische Informations- und Kulturzentrum   177 Wir haben nämlich ein anderes Polen gezeigt, ein Polen einer sich dynamisch entwickeln­ den modernen Industrie, interessante Errungenschaften der polnischen Wissenschaft, die allseitige Entwicklung der acht Wojewodschaften, wir haben unser Land als würdigen Part­ ner bilateraler und multilateraler Beziehungen gezeigt, wir haben die riesigen Möglichkei­ ten Polens bei der weiteren Entwicklung dieser Beziehungen gezeigt.324

Gerade die Errungenschaften der nord- und westpolnischen Gebiete werden an dieser Stelle besonders herausgestrichen, von ihnen ist als „früher rück­ ständigen“ Gebieten die Rede.325 Diese Einlassung ist eine gezielte Legitimie­ rung der Westverschiebung der Volksrepublik nach dem Zweiten Weltkrieg und ein interessantes Element intersozialistischer Kommunikation. Für ein probates Mittel, diese Ziele zu erreichen, wurden vor allem Vorle­ sungen in Parteischulen und im Umfeld der SED oder vor ähnlichen gesell­ schaftlichen und wirtschaftlichen Milieus gehalten.326 Dies deckte sich mit der Vorgabe aus dem Außenministerium, besonders meinungsbildende Milieus mit den Informationen zu erreichen.327 Der sogenannte „freie Hörer“, der kei­ ner Organisation angehörte, wurde sogar gemieden. Dies geschah wohl auch vor dem Hintergrund der teilweise recht bescheidenen Mittel und Möglich­ keiten des PIKZ in Leipzig, wurde aber auch mit der Funktion der repräsenta­ tiven, meinungsbildenden, und organisierten Hörer als Transmissionsriemen zur den „breiten Schichten der Gesellschaft“ erklärt.328 Diese ‚Taktik‘ beschrieb ein Direktor des PIKZ für den Zeitraum vom November 1969 bis zum Novem­ ber 1973. Er stellte heraus, dass vor allem zu eng mit der SED verflochtenen Institutionen gute Kontakte aufgenommen wurden.329 Daraus resultierte, dass „eine Reihe leitender Genossen des Bezirkes enge Beziehungen zu den Leitern des KIZ bzw. anderen Mitarbeitern unterhalten.“330 Es ist mit Hinblick auf ­diese Vernetzung unter Systemträgern durchaus zu unterstellen, dass die Offi­ ziellen des PIKZ sich den Kontakt mit der Gesellschaft bewusst ersparten und lieber auf die organisierbare Routine des sozialistischen Trotts vertrauten. 324 Ebd.,

Sprawozdanie, Łódź, 16. 11. 1973, S. 4. ebd. S. 5. 326 Vgl. u. a. ebd. Nr. 27/87 w-18, Heft 528, Sprawozdanie z działalności za rok 1973, Lipsk, 23. 1. 1974, S. 5. 327 Vgl. ebd. Nr. 54/75 w-25, Heft 528, Notatka dla Towarzysza Dyrektora [anonymisiert], Warszawa, 2. 1. 1970, S. 1. 328 Vgl. ebd. Nr. 11/77 w-19, Heft  528, Sprawozdanie z  działalności w  roku 1972, Lipsk, 20. 1. 1973, S. 2. 329 Vgl. ebd., Sprawozdanie, Łódź, 16. 11. 1973, S. 1/2. Als Zielgruppen wurden die Aktiva der Partei und Gesellschaft, Partei-, Gewerkschafts- und Jugendschulen, das akademi­ sche Milieu bzw. Lehrer, wirtschaftliche und technische Milieus, kulturelle Institutionen und Künstler, Presse, Funk und Fernsehen sowie Polizei und Armee ausgegeben. 330 Vgl. BStU, MfS, BV Leipzig, Abt. II Nr. 744/01, Überblick und Lageeinschätzung zum polnischen Kultur- und Informationszentrum in Leipzig, Leipzig, 21. 3. 1981, Bl. 96. 325 Vgl.

178   2. Akteure und Kontakträume Die vorgegebenen Faktoren zeigen recht anschaulich, dass die Kulturkon­ takte zwischen sozialistischen Staaten gewissen Spielregeln unterlagen und die Arbeit des PIKZ an die politischen Vorstellungen angepasst wurde. Politische und gesellschaftliche Kategorien beeinflussten den Kontakt zwischen Deut­ schen und Polen am PIKZ in erheblichem Maße. Der kulturelle Zweig der Außendarstellung kam aufgrund dieses Vorgehens wohl mitunter zu kurz, wie zum einen der Vergleich der Anzahl der anbe­ raumten Veranstaltungen zeigt331, aber auch die kritische Rückmeldung hin­ sichtlich der Vernetzung des PIKZ in der künstlerischen Szene von Leipzig. So kommt ein Bericht zu dem Befund, dass auf die kulturelle Zusammenar­ beit kein großer Nachdruck gelegt und sowohl künstlerische Veranstaltungen und Filmvorführungen, wie auch der Kontakt zur Künstlerszene in Leipzig, nicht genügend gepflegt werde.332 Ausstellungen präsentierten polnische Kunst, Kultur, landeskundliche The­ men sowie polnische Städte und Regionen und stellten spezifische polnische Produkte und Themen vor.333 Den Berichten lässt sich entnehmen, dass zu­ mindest einige der Ausstellungen gut besucht wurden. Für das Jahr 1975 geht der Direktor des PIKZ von fast 380 000 Besuchern der Ausstellungen aus, ca. 213 500 Menschen besuchten demnach Ausstellungen in Leipzig, der Rest auf dem gesamten Gebiet der südlichen DDR.334 Eine Ausstellung fand sogar Ein­ gang in die Literatur der DDR. Kein geringerer als Erich Loest kommentierte eine Ausstellung zur Wojewodschaft Krosno amüsiert: 331 Im

Jahr 1971 waren von 122 Vorlesungen nur 32 einem kulturellen oder anderen The­ ma gewidmet. 33 betrafen politische und 57 ökonomische Themen. Der weitaus größte Teil wurde auch einem organisierten Publikum vorgetragen. Vgl. AMSZ, DWKN Nr. 15/76 w-25, Heft 528, Sprawozdanie Ośrodka Informacji i Kultury Polskiej w Lipsku za rok 1970 [undatiert], S. 2. 332 Vgl. ebd., NRD Nr. 14/80 w-2, Heft 528, Sprawozdania z podróży służbowej do Berlina i Lipska, Warszawa, 24. 5. 1976, S. 9 und DWKN Nr. 27/78 w-18, Heft 528, Sprawozdanie z podróży służbowej do OIKP Berlin i OIKP Lipsk w dniach od 22.IV./30.IV1974, War­ szawa, 30. 5. 1974, S. 4. 333 Vgl. u. a. ebd., Sprawozdanie z  działalności za rok 1973, Lipsk, 23. 1. 1974, S. 16 und S. 20–24. 334 Vgl. ebd. Nr. 30/80 w-14, Heft 528, Sprawozdanie z  działalności Ośrodka Informacji i Kultury Polskiej w Lipsku za rok 1975, 9. 11. 1976, S. 24. Einen brauchbaren Vergleich ermöglichende Zahlen werden nur in seltenen Fällen mitgeliefert. Eine Ausstellung zu Warschau als modernem und industriellem Zentrum sollen demnach ca. 30 000 Interes­ sierte besucht haben. Vgl. AMSZ, DWKN 54/75 w-25, Heft 528, Sprawozdanie z dzia­ łalności Ośrodka Informacji i  Kultury Polskiej w  Lipsku za okres drugiego kwartału 1970 roku, Lipsk 1. 7. 1970, S. 3/4. An anderer Stelle werden die Zahlen für weitere Aus­ stellungen mit 10–15 000 Besuchern geringer geschätzt. Vgl. ebd. Sprawozdanie z dzia­ łalności Ośrodka Informacji i Kultury w Lipsku w roku 1969, Lipsk, 15. 2. 1970, S. 1.

2.5. Eine Insel in Leipzig. Das Polnische Informations- und Kulturzentrum   179 Łukasiewicz ist wichtig für das polnische Selbstgefühl, sein Name steht in den Schulbü­ chern, überall sind Straßen nach ihm benannt. Als im Polnischen Kulturzentrum in Leipzig eine Ausstellung der Wojewodschaft Krosno gezeigt wurde, prangte das Konterfei des alten Herrn natürlich gleich neben der Tür. […] Die Ausstellungsmacher in Leipzig wußten auch ein haargenaues Datum: Am 31. Juli 1853 entzündete Łukasiewicz die erste Petroleumlampe der Welt. Es bedürfte eines Spezialstudiums, um mit dieser Angabe zu rechten.335

Das kulturelle Angebot des PIKZ umfasste weiterhin Lesungen, Konzerte und Filme, wobei letztere sich zwar einer großen Beliebtheit erfreuten, aber auch wegen finanzieller Unterversorgung eine Mangelware waren.336 Zumindest an­ fangs wurden die Filme ebenfalls nur einem organisierten Publikum präsen­ tiert.337 Welche Filme gezeigt wurden, lässt sich aus den Akten des PIKZ nicht mehr ermitteln. Gesprächspartner erwähnen für die achtziger Jahre Aufenthalte bekannter polnischer Autoren wie Dobraczyński, Różewicz, Szczypiorski oder Kapuściński an exponierter Stelle.338 Auch Konzerte polnischer Musikgruppen – wie Czerwone Gitary, Czesław Niemen, Marek Grechuta oder Rodowicz – er­ regten erhebliches Interesse.339 Fest zum Programm gehörten auch Konzertrei­ hen zu Chopin.340 Kulturveranstaltungen dieser Art zogen nach Staatssicher­ heitsberichten vor allem ein Stammpublikum an, das sich zu 70 Prozent aus DDR-Bürgern zusammensetzte, von denen wiederum 75–80 Prozent unter 30 Jahre alt waren – also vorwiegend Angehörige der Nachkriegsgeneration.341 Für 1987 gab der Direktor des PIKZ erstaunliche Gesamtzahlen an, die unge­ fähr umreißen, wie breit das Programm und die Wirkung des Zentrums waren: Demnach fanden in Leipzig und in den Südbezirken der DDR 826 Veranstal­ tungen statt, das Zentrum empfing im selben Jahr 819 000 Besucher.342 335 Loest, Erich: Lektion über 336 1973 besaß das PIKZ z. B.

Petroleumlampen, in: Große/Loest: Rendezvous, S. 90. nur 19 Spielfilme, von denen der neueste von 1966 war: Vgl. AMSZ, DWKN Nr. 27/78 w-18, Heft  528, Sprawozdanie z  działalności za rok 1973, Lipsk, 23. 1. 1974, S. 17. 337 Vgl. Ebd. Nr. 11/77 w-19, Heft  528, Sprawozdanie z  działalności w  roku 1972, Lipsk, 20. 1. 1973, S. 10. 338 Vgl. Interview mit Frau H. und mit Herrn S., die beide im PIKZ arbeiteten. Zur Rezep­ tion polnischer Literatur in der DDR siehe auch: Henryk Bereska: Polnische Literatur in der DDR und die Zensur, in: Kerski/Kotula/Wóycicki (Hrsg.): Freundschaft, S. 297–300 und Heinrich Olschowsky: Unwägbarkeiten und Asymmetrien – Polnische Literatur im geistigen Leben der DDR, in: ebd., S. 285–295. 339 Vgl. Interview mit Herrn S. Zur Rezeption polnischer Musik in der DDR siehe auch: Hermann Schmidtendorf: Einigendes Band oder trennendes Minenfeld? – Massenkultur in der DDR und Polen – eine Annäherung, in: Kerski/Kotula/Wóycicki (Hrsg.): Freund­ schaft, S. 301–317. 340 Vgl. AMSZ, DWKN Nr. 35/76 w-19, Heft 528, Sprawozdanie z działalności Ośrodka In­ formacji i Kultury Polskiej w Lipsku w roku 1971, [undatiert], S. 3/4. 341 Vgl. BStU, MfS, BV Leipzig, Abt. II Nr. 744/01, Überblick und Lageeinschätzung zum polnischen Kultur- und Informationszentrum in Leipzig, Leipzig, 21. 3. 1981, Bl. 97. 342 Vgl. ebd., AKG Nr. 254, Information 5/88, Leipzig, 8. 1. 1988, Bl. 4.

180   2. Akteure und Kontakträume

Sprachkurse, Bibliothek und Handelssalon Wichtig waren das Sprachkursangebot und die Bibliothek mit polnischen ­Büchern, Zeitschriften und Zeitungen.343 Bibliothek wie Sprachkurse ermög­ lichten den Nutzern einen weniger verstellten Kontakt mit dem Nachbarland, seiner Kultur, Sprache und Menschen. Beide Einrichtungen nahmen bei der Herstellung informeller Kontakte – wie sich noch zeigen wird – eine Schlüssel­ rolle ein. 1970 wurden drei Sprachkurse angeboten, an denen ca. 50 Personen – vor­ rangig aus beruflichen Gründen – teilnahmen.344 1976 wurden intern und extern vom PIKZ jeweils vier Kurse organisiert, die eine Gesamtzahl von 150 Schülern umfassten. Die Kursteilnehmer waren Beschäftigte des Kulturbe­ reichs, Wissenschaftler, Ingenieure usw. Besonderer Wert sollte bei der Sprach­ vermittlung auf ein touristisches Programm gelegt werden, was auch ein Indiz für das wachsende private Interesse an Reisen ins Nachbarland ist.345 Die Bibliothek umfasste 1973 4115 Bände, innerhalb eines Jahres wurden ca. 8000 Ausleihen gezählt.346 1976 wird eingeschätzt, die Bibliothek habe 250 ständige Nutzer, davon aber allein 150 in Leipzig lebende Polen.347 Diese aus der Sicht des PIKZ eher ernüchternde Bilanz wird durch die Einschätzungen der Staatssicherheit noch unterstrichen: Danach war die Bibliothek wenig be­ sucht, die Leser benutzten zumeist polnisches Infomaterial zu Touristik und Fachliteratur.348 Das Interesse an polnischer Literatur war also nicht beson­ ders ausgeprägt, die Hürde der polnischen Sprache war zu hoch. Bei der Bewertung des Auftritts des PIKZ in Leipzig darf der ihm ange­ schlossene Handelssalon nicht vergessen werden. Er erreichte nicht nur mit Sicherheit die größte Aufmerksamkeit, ihm kam bei der Finanzierung des Kulturprogramms sowie des materiellen Unterhalts eine zentrale Stellung 343 Vgl.

u. a. AMSZ, DWKN Nr. 27/87 w-18, Heft 528, Sprawozdanie z działalności za rok 1973, Lipsk, 23. 1. 1974, S. 30–32. 344 Vgl. ebd. Nr. 15/76 w-25, Heft 528, Sprawozdanie Ośrodka Informacji i Kultury Polskiej w Lipsku za rok 1970, Załącznik Nr. 3 [undatiert], S. 2. In den folgenden Jahren schei­ nen die Zahlen ungefähr gleich zu bleiben. Zwar wird im Bericht von 1973 von einem deutlichen Anstieg der Sprachkursteilnehmer gesprochen, doch sind es weiterhin 3 Kur­ se mit knapp 60 Teilnehmern. Vgl. AMSZ, DWKN 27/87 w-18, Heft 528, Sprawozdanie z działalności za rok 1973, Lipsk, 23. 1. 1974, S. 30. 345 Vgl. ebd. Nr. 30/80 w-14, Heft 528, Sprawozdanie z  działalności Ośrodka Informacji i Kultury Polskiej w Lipsku za okres 8m-cz 1976 roku, Lipsk, 6. 9. 1976, S. 5. 346 Vgl. ebd. Nr. 27/87 w-18, Heft 528, Sprawozdanie z działalności za rok 1973, Lipsk, 23. 1. 1974, S. 31. 347 Vgl. ebd. Nr. 30/80 w-14, Heft 528, Sprawozdanie z  działalności Ośrodka Informacji i Kultury Polskiej w Lipsku za rok 1975, Lipsk, 26. 1. 1976, S. 20. 348 Vgl. BStU, MfS, BV Leipzig, Abt. II Nr. 744/01, Überblick und Lageeinschätzung zum polnischen Kultur- und Informationszentrum in Leipzig, Leipzig, 21. 3. 1981, Bl. 97.

2.5. Eine Insel in Leipzig. Das Polnische Informations- und Kulturzentrum   181

zu.349 Die Jahresberichte widmeten dem Erfolg der Handelsabteilung regel­ mäßig gesonderte Kapitel.350 Im Handelssalon wurden polnische Volkskunst, Plakate und Postkarten verkauft, daneben Bücher, Zeitschriften und Schall­ platten polnischer Musikgruppen und Lizenzpressungen westlicher Her­ kunft.351 Besonders zu Messezeiten erfreute sich der Salon eines riesigen ­Ansturms mehrerer zehntausend Menschen, für das Jahr 1973 wird die Gesamt­besucherzahl auf ca. eine halbe Million geschätzt.352 Mit Sicherheit war der Verkauf polnischer Produkte das reizvollste Angebot des PIKZ überhaupt, die Nachfrage war immer hoch und der Handel wurde sogar auf andere Bezirke der südlichen DDR ausgedehnt.353 Im Zusammen­ hang mit der hiesigen Fragestellung nach den Kunden des Handelssalons ist die Feststellung der Staatssicherheit, dass 60–70 Prozent der Käufer unter 30 Jahre alt waren und gerade von Jugendlichen Schallplatten nachgefragt wur­ den, von einiger Bedeutung.354 Das Musikangebot des PIKZ öffnete nicht nur einen Spalt zu polnischer Musik, die als alternativ zum DDR-Mainstream und deshalb als attraktiv wahrgenommen wurde, sondern auch zu westlicher, was in Leipzig einen wahren Sturm auf das Geschäft auslösen konnte. Zur Zeit der Frühjahrsmesse 1975 warteten vor allem junge Leute schon ein bis zwei Stun­ den vor der Öffnung des Geschäftes wegen des „westlichen“ Warenangebots am Handelssalon. Diese Tatsache stieß in Leipzig auf Beunruhigung. Zwei ­Sekretäre der SED prüften die Vorkommnisse und rügten laut nachfolgendem Bericht die Politik des PIKZ: „Nach der Feststellung, dass die Hauptursache der Verkauf lizensierter Schallplatten war, gaben sie uns [dem PIKZ] – auf sehr vorsichtige Weise – zu verstehen, dass diese Propaganda westlicher Musik nicht im Inte­resse ihrer Kulturpolitik gegenüber der Jugend liegt.“355 Eine anschauliche Anekdote liefert auch der Befund eines IM der Staats­ sicherheit aus dem Jahre 1982. Er stellte fest, dass „verstärkt Schallplatten von 349 Frau

H., eine langjährige Mitarbeiterin des PIKZ, beschreibt den Handelssalon als den „Nährboden“ des PIKZ und seines Programms. Vgl. Interview mit Frau H. 350 Vgl. u. a. AMSZ, DWKN Nr. 27/87 w-18, Heft 528, Sprawozdanie z działalności za rok 1973, Lipsk, 23. 1. 1974, S. 25–29. 351 Vgl. ebd. S. 25. 352 Vgl. ebd. S. 28 und S. 29. 353 Vgl. ebd. S. 29 und Interview mit Frau H. 354 Vgl. BStU, MfS, BV Leipzig, Abt. II Nr. 744/01, Überblick und Lageeinschätzung zum polnischen Kultur- und Informationszentrum in Leipzig, Leipzig, 21. 3. 1981, Bl. 96. Die Beobachtung, dass Schallplatten am häufigsten und besonders von Jugendlichen nach­ gefragt wurden machte das PIKZ schon Anfang der Siebziger Jahre: Vgl. AMSZ, DWKN Nr. 35/76 w-19, Heft  528, Sprawozdanie z  działalności Ośrodka Informacji i  Kultury w Lipsku w roku 1971, [undatiert], S. 11. 355 Ebd. Nr. 10/79 w-19, Heft 528, Notatka o  działalności propagandowej i  handlowej w okresie Targów Lipskich 75, Lipsk, 25. 3. 1975, S. 1/2.

182   2. Akteure und Kontakträume den polnischen Pianisten Marek und Vacek verkauft und angeboten wurden. Käufer waren meist Jugendliche (trotz, daß es sich um klassische Musik handelte“.356 Was der Berichtende nicht wusste: Das Klavierduo trat auch in der Öffentlichkeit der DDR als Sympathisant der „Solidarność“ auf, was ein Auftrittsverbot und eine Ausweisung nach sich zog.357 Zudem könnte dieses Verhalten durch erhöhte Aufmerksamkeit als Anreiz zum Kauf der Musik des Duos gedient haben. So zeigt sich, wie das Angebot des PIKZ auf der Seite der Politik wie sicherlich auch der Jugend der DDR als ‚Einfallstor‘ polnischer und westlicher Einflüsse verstanden wurde. Aber auch das sonstige Sortiment des Geschäfts erweiterte die Produktpalette von Leipzig um originelle Ein­ richtungsgegenstände und Geschenkideen.358 Es erscheint müßig, alle Bilanzen des Handelssalons nach zu verfolgen, doch sein außergewöhnlicher geschäftlicher Erfolg wurde immer wieder her­ ausgestrichen. Die Zahlen von 1973 ergeben z. B., dass der Gesamtumsatz im Vergleich zum Jahr 1969 um 452 Prozent von 861 410 Mark auf 3 897 570 Mark gestiegen ist. Der Gewinn konnte gar um 610 Prozent von 160 532 Mark auf 975 979 Mark erhöht werden. Allein der Umsatz mit Schallplatten stieg in diesem Zeitraum um 1393 Prozent auf ca. 1 300 000 Mark.359 Im Jahr 1975 betrug der Gesamtumsatz bereits 5 300 000 Mark, was 111 Prozent des Planes bedeutete.360 Eine solche Übererfüllung des Planes konnte sogar gewisse Pro­ bleme mit sich bringen, weil die Beschaffung neuer Ware am Rubelmangel als der Leitdevise des Ostblockes scheitern konnte.361

Schwächen staatssozialistischer Kulturpolitik Die Mehrheit dieser technischen Eckdaten lässt den Eindruck entstehen, es habe sich beim PIKZ in Leipzig um ein Erfolgsprojekt gehandelt. Bevor seine Wirkung auf die deutsch-polnischen Kontakte und das Entstehen alltäglicher Begegnung und informeller Alternativen beleuchtet wird, sollen jedoch auch augenfällige Schwachpunkte in Struktur wie Tätigkeit des PIKZ beschrieben werden. Schon im einführenden Zitat war davon die Rede, dass bei Leipziger Bürgern der Eindruck entstand, die Ausstattung des Zentrums sei ärmlich. 356 Vgl.

BStU, MfS, BV Leipzig, AIM Nr. 7400/92 II/1, Bericht über Besuche PIKZ am 19. 5.; 21. 5. und 26. 5. 82, Leipzig, 28. 5. 1982, Bl. 398. 357 Vgl. ebd., MfS, ZAIG Nr. 4503, Wochenübersicht 40/81, Berlin, 12. 10. 1981, Bl. 65–67. 358 Vgl. Interview mit Herrn P. 359 Vgl. u. a. AMSZ, DWKN Nr. 27/78 w-18, Heft 528, Sprawozdanie z działalności za rok 1973, Lipsk, 23. 1. 1974, S. 25. 360 Vgl. ebd. Nr. 30/80 w-14, Heft 528, Sprawozdanie z  działalności Ośrodka Informacji i Kultury Polskiej w Lipsku za rok 1975, 9. 11. 1976, S. 22. 361 Vgl. ebd. Nr. 15/ 76 w-25, Heft 528, Brief des Handelsdirektors und Direktors des PIKZ an „Ruch“ [ohne Titel], 7. 1. 1972.

2.5. Eine Insel in Leipzig. Das Polnische Informations- und Kulturzentrum   183

Dies – wie geschehen – mit kleinbürgerlicher Mentalität zu erklären, greift vermutlich zu kurz. Denn Zeugnisse von schlechter Instandhaltung und der Sorge, die Volksrepublik Polen nicht angemessen in der DDR zu repräsentie­ ren, finden sich in den Akten durchaus. So benannte eine Evaluation des PIKZ aus den Jahren 1973 und 1974 ekla­ tante Mängel in der Ausstattung und Pflege. Demnach mussten die Neon­ beschriftungen erneuert werden und weite Bereiche der Fassade sowie der Innenräume bedurften bereits einer Übermalung. Außerdem mussten die Sitzmöbel für den Lesesaal erneuert werden.362 1974 umfasste die Mängel­ liste ganze 18 Punkte und reichte unter anderem von Unordnung, über zu­ rückgehende und schlechte Kontakte zu verschiedenen Zielgruppen wie Ju­ gend, Künstlern oder hervorragenden Gästen bis hin zu Unregelmäßigkeiten in der Abrechnung oder zum Fakt, dass der Direktor kein Deutsch ­beherrsche. Es wurde in der Konsequenz sogar die Absetzung des Direktors vorgeschla­ gen.363 Illustriert wird der Auftritt des PIKZ auch in dem Brief eines Polen, der sich aus beruflichen Gründen in Leipzig aufhielt, an einen Sekretär der Polni­ schen Vereinigten Arbeiterpartei. Er bemängelte, dass die meisten Ausstel­ lungsfenster leer blieben und zudem die vorhandenen Informationen ein schlechtes Licht auf Polen würfen. Die Kritik im Wortlaut: In einem der Fenster hängt eine unvollkommene Karte Polens. Gdańsk liegt auf dieser Kar­ te tief im Land, Warschau hingegen an der Grenze zur UdSSR, Wrocław – stark nach Osten verschoben – liegt in gerader Linie nördlich von Zakopane. Die Entfernung von Wrocław nach Jelenia Góra beträgt fast soviel wie von Warschau nach Krakau. Welches Ziel und wel­ cher Zweck hat das Zeigen eines derartigen Werkes im Ausland. Man kann das mit Verein­ fachung und auch anderen Faktoren erklären, aber das wäre empörend, es zeugt von Nach­ lässigkeit, schlimmer – das ist wohl Schlampigkeit. Die Karte eines Landes ist ein delikates Instrument und vielleicht ist es besser, sie nicht zu zeigen als in einer solchen Form, beson­ ders unter Ausländern, unter denen nicht alle uns zugeneigt sind.364

Als Reaktion auf diesen Brief wurden die beanstandeten Probleme überprüft und einige der Missstände bestätigt, die Karte wurde entfernt.365 Bemerkens­ wert an der Darstellung des Briefschreibers ist aber über seine Empörung hi­ naus, dass er die mögliche Reaktion der DDR-Bürger gegenüber dem PIKZ 362 Vgl.

ebd. Nr. 11/77 w-19, Heft 528, Protokoł z lustracji OIKP w Lipsku przeprawadzonej przez st. Eksperta DIWK-MSZ., Lipsk, 4. 5. 1973, S. 1/2. 363 Vgl. ebd. Nr. 27/78 w-18, Heft 528, Sprawozdanie z podróży służbowej do OIKP Berlin i OIKP Lipsk w dniach od 22.IV./30.IV 1974, Warszawa, 30. 5. 1974, S. 3–9. 364 Ebd. Nr. 21/75 w 24, Heft 528, Do Sekretarza K.C. Polskiej Zjednoczonej Partii Robot­ niczej tow. [anonymisiert], Warszawa, 6. 10. 1969, S. 1. 365 Vgl. ebd., Brief der Botschaft/ des Botschafters an das Außenministerium, Abteilung Presse und Information, Berlin, 17. 10. 1969.

184   2. Akteure und Kontakträume mit in seine Argumentation einflocht. Dies zeigt, dass die Aufgabe des PIKZ auch in der Repräsentation der Volksrepublik Polen gesehen wurde. Zudem klingt erneut eine gewisse Skepsis an, wie es um das Verhältnis zwischen den Staaten DDR und Volkspolen sowie seinen Bewohnern wirklich bestellt sei. Mögliche Vorbehalte wurden ganz offen thematisiert. Bei der Lektüre der Dokumente des Außenministeriums zum PIKZ fällt ge­ rade in dieser Hinsicht auf, dass sich die Mitarbeiter des Zentrums darüber im Klaren waren, in Leipzig Erwartungen auf offizieller und persönlicher Ebene entsprechen zu müssen oder auch mit Einstellungen und Vorannah­ men konfrontiert zu werden, auf die reagiert werden musste. Es lohnt sich die Akten in dieser Perspektive zu interpretieren und zu fragen, wo und wie eine Vermittlerrolle des PIKZ zwischen DDR und Volkspolen bzw. Deutschen und Polen reflektiert wurde und welche Probleme in diesem Zusammenhang ge­ schildert wurden. Auch wenn eine solche Fragestellung informelle Kontakte nicht berührt, macht sie doch deutlich, wo und wie Unterschiede zwischen der DDR und der Volksrepublik thematisiert und wie sie möglicherweise überwunden wurden. Sie reflektieren somit das komplizierte Beziehungsge­ flecht, in dem einige Nutzer Freiräume entdecken konnten.

Deutsch-polnische Wahrnehmungsmuster In den internen Akten des Außenministeriums der Volksrepublik Polen wur­ den die Schwierigkeiten in den Beziehungen zwischen der DDR und Volkspo­ len unverhohlen ausgesprochen. Es war allseitig bekannt, dass das Verhältnis zwischen Ulbricht und Gomułka schlecht war und erst mit den Machtwech­ seln auf Honecker und Gierek eine Annäherung zwischen DDR und Volks­ polen erreicht werden konnte. Genauso klar war, dass sich zwischen beiden Bevölkerungen ein ganzer Wust von Vorurteilen und historischen Altlasten auftürmte. Ein unvoreingenommener Kontakt ohne offene Fragen, Leerstellen und nur mühsam gekittete Konfliktfelder war auch in Leipzig nicht immer möglich. Immer wieder spielten historische Ereignisse und Geschichtsbilder und zudem in eklatanter Weise der Aufbau des Sozialismus in Volkspolen eine Rolle. DDR-Bürger beschäftigten sich häufig mit dem durch DDR-Me­ dien vermittelten Wissen über das Nachbarland und verglichen die DDR mit ­diesem. Der ‚polnische‘ Weg zum Sozialismus war ein Thema, das in der DDR mit Vorurteilen, Unverständnis und Besorgnis verfolgt wurde. Das Eigenbild spielte in der Bewertung natürlich eine wesentliche Rolle. Im PIKZ wurde auf solche Phänomene mittels gezielter Tätigkeiten, aber manchmal bestimmt auch eher unbewusst reagiert. Eine wichtige Aufgabe wurde in der Aufklärungsleistung gegenüber der DDR und ihrer Bürger ge­ sehen. Bezeichnend ist deshalb, wie über die Tätigkeit des Zentrums und die

2.5. Eine Insel in Leipzig. Das Polnische Informations- und Kulturzentrum   185

Begegnung von Deutschen und Polen berichtet wurde. Die Direktoren des PIKZ machten sich seit dessen Gründung ein möglichst genaues Bild von den Verhältnissen im Einzugsgebiet Leipzig und reflektierten die Einstellung der Bevölkerung und ihre Reaktionen bei Gesprächen der Bürger der DDR mit dem PIKZ. Darüber erstatteten sie detailliert Bericht nach Warschau. In ­diesen Texten schwang immer mit, dass sich das PIKZ in einer – positiven wie negativen – Auseinandersetzung mit den Bürgern der DDR befand. Eine zen­ trale Stellung nahmen in den meisten Berichte die Fragen ein, die von den Bewohnern der DDR – seien es nun Offizielle jeglicher Couleur wie auch „Privatpersonen“ an die Vertreter der „polnischen Seite“ – gestellt wurden. An ihnen meinte man ablesen zu können, welchen Grad der Ernsthaftigkeit und welchen Informationsstand die Auseinandersetzung der DDR mit Volkspolen gewonnen hatte. Diese Reaktionen auf den Auftritt des PIKZ wurden seismo­ grafisch aufgezeichnet. Mit der stetigeren Präsenz des PIKZ in Leipzig konsta­ tierte man eine Entwicklung hin zu echtem Interesse und größerer Aufklä­ rung – was aber vor dem Hintergrund der offiziellen Lesart des stetigen Fort­ schritts sozialistischer Gesellschaften nicht überraschen darf.366 Diese immer wiederkehrenden Fragenkataloge bieten, obwohl sie durch den Filter des PIKZ gesickert sind, einen viel versprechenden Einblick in die Wahrnehmung des Nachbarlandes und spiegeln Einstellungen und Meinun­ gen zum Polnischen in Leipzig und Umgebung wider. Es kann also zum einen gefragt werden, wie sich in den Dokumenten des PIKZ die Haltungen der DDR-Institutionen und DDR-Bürger Volkspolen gegenüber niederschlugen. Zweitens geben die Akten darüber Aufschluss, welchen Inhalts diese Haltun­ gen waren, wie sich dort Meinungsunterschiede oder Konflikte entluden und welche Erwartungen in Richtung der Volksrepublik gehegt wurden. Das Inte­ resse liegt also auf der Interaktion zwischen Deutschen und Polen und be­ sonders darauf, wie sich in den Fragen das Bewusstsein von anderen Möglich­ keiten des Seins in Volkspolen offenbarten – sei es beim Bau des Sozialismus, in der Produktion, im Alltag usw. Bezeichnend ist – soweit nachvollziehbar – auch die Reaktion im PIKZ, also mögliche Verwunderung, Bewertungen der Fragen und ähnliches. Allgemein wurde betont, dass Antworten so gewissen­ haft wie nur möglich erfolgten und die Fragenden zumeist befriedigen könn­ ten; aggressive und heikle Fragen würden zurückgehen.367 366 Zum

Zeitverständnis der DDR und dem damit verbundenen Fortschrittsglauben siehe u. a.: Lüdtke, Alf: Die DDR als Geschichte. Zur Geschichtsschreibung über die DDR, in: Aus Politik und Zeitgeschichte 36 (1998), S. 7/8. 367 Vgl. AMSZ, DWKN Nr. 54/75 w-25, Heft 528, Sprawozdanie z działalności Ośrodka In­ formacji i  Kultury Polskiej w  Lipsku za okres drugiego kwartału 1970 roku, Lipsk, 1. 7. 1970, S. 2.

186   2. Akteure und Kontakträume Mit Blick auf die Zielgruppe und -setzungen des PIKZ überrascht es nicht, wenn sich ein Großteil der DDR-Bürger für den Aufbau des Sozialismus im Nachbarland in politischer und ökonomischer Hinsicht interessierte. Eck­ punkte waren für die siebziger Jahre die Vorkommnisse vom Dezember 1970 in Volkspolen und die Annäherung der Bundesrepublik Deutschland an den Ostblock im Zuge der Ostpolitik der sozialliberalen Regierung unter Willy Brandt. Während viele Fragen die Struktur und Art der polnischen politischen Propaganda thematisieren, griff ein bedeutender Teil auch vermeintliche De­ fizite des Sozialismus in der Volksrepublik auf. So wurde die Rolle der katho­ lischen Kirche, die unvollendete Kollektivierung der Landwirtschaft, die wirt­ schaftliche Zusammenarbeit Volkspolens mit dem westlichen Block und die Vielzahl westlicher Importe usw. hinterfragt.368 Politische Sorge äußerte sich wohl besonders dann, wenn die Beziehungen der Bundesrepublik Deutschland zur Volksrepublik oder auch die Entwick­ lungen vom Dezember 1970 mit den Ereignissen des Prager Frühlings 1968 in Bezug gesetzt wurden.369 Die Fähigkeit des polnischen Partners zu Zusam­ menarbeit innerhalb der sozialistischen Gemeinschaft wurde auch in Repli­ ken auf den Katholizismus und die Religiosität vieler Polen bezweifelt: Diese durch die Massenmedien aufgedrängte Denkweise wirkt zweischneidig auf die DDR – […] das reife Parteiaktiv der SED beginnt, den Stand der ideell-erzieherischen Arbeit in Polen anzuzweifeln und eine gewisse Schwäche der PVAP anzunehmen – beim durch­ schnittlichen DDR-Bürger steigt der Zweifel (oder auch die Hoffnung bei oppositionell ein­ gestellten Elementen) was die Art des Denkens und der Weltanschauung der Polen angeht, es wird eine weitgehende Dualität im ideell-politischen Leben in unserem Land sugge­ riert.370

Es entwickelte sich in der DDR also ein Gefühl für die Staatsferne bestimmter – besonders katholischer – Milieus in Volkspolen. Zudem wurde thematisiert, warum dort die Geschichte eine so große Rolle spiele, ob nationalistische Ten­ denzen aufträten und wie die internationalistische Erziehung gewährleistet werde.371 An solche Meinungen war die Vorstellung geknüpft, dass die SED an Stelle der PVAP bessere Lösungen für polnische Probleme geboten hätte. Den pol­ 368 Vgl.

u. a. ebd. Nr. 54/75 w-25, Heft 528, Sprawozdanie z działalności Ośrodka Informa­ cji i Kultury Polskiej w Lipsku za okres drugiego kwartału 1970 roku, Lipsk, 1. 7. 1970, S. 2 oder ebd. Nr. 15/76 w-25, Heft 528, Sprawozdanie z działalności Ośrodka Informacji i Kultury Polskiej w Lipsku w roku 1971 [undatiert], S. 7. 369 Vgl. ebd. 370 Ebd. Nr. 54/75 w-25, Heft 528, Problemy i  spotrzeżenia z  działalności na placówce w Niem. Rep. Demokratycznej, Warszawa, 10. 12. 1969, S. 2. 371 Vgl. ebd. Nr. 11/77 w-19, Heft 528, Sprawozdanie z wyjazdu do NRD w dniach 19/22 XI 1973r., Warszawa, 24. 11. 1973, S. 2.

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nischen Vortragenden wurde zum Beispiel in der Kirchenfrage nahe gelegt, dass die Politik der DDR besser sei und man gut daran täte, ihrem Beispiel zu folgen. Ein mit solchen Vorwürfen und Vorschlägen konfrontierter Mit­ arbeiter des PIKZ trug den Eindruck davon, hier würde aus der Position des „Größenwahns“ argumentiert.372 Ganz allgemein kann durchaus die Tendenz ausgemacht werden, dass von den Fragenden eine gewisse Beeinflussung Volkspolens und ihrer Bürger durch die Kontakte mit der DDR angenom­ men wurde – ob diese nun gut oder schlecht war. So wurde etwa nach dem Einfluss auf das ideologische und politische Bewusstsein in der polnischen Gesellschaft durch die Besuche von DDR-Bürgern ins Nachbarland ge­ fragt.373 Feindselige Stimmungen oder zumindest doppeldeutige Aussagen wurden in verschiedenen Kontexten laut. Anknüpfend an die obigen Feststellungen wurde die Volksrepublik zu den unloyalen Partnern im Warschauer Pakt ge­ zählt und dem polnischen Volk Hass auf die UdSSR unterstellt.374 Hier klan­ gen nicht das einzige Mal historische Probleme an, die mit dem Zweiten Welt­ krieg verbunden waren. So tauchte zum Beispiel die Erkundigung zur Situa­ tion und Perspektive der west- und nordpolnischen Gebiete auf, ohne dass jedoch ein direkter Bezug zum Zweiten Weltkrieg und dem Verlust der deut­ schen Ostgebiete hergestellt wurde.375 Allerdings wurde die geografische Lage Polens von den Fragenden als störend bei der Integration in den Staatenbund des RGW [Rat für gegenseitige Wirtschaftshilfe] und Volkspolen als mögli­ cher Konkurrent der DDR empfunden.376 Unter die Rubrik von Attacken auf die polnische (Innen-)Politik wurde vom PIKZ gezählt, dass „bourgeoise Ten­ denzen“ in der polnischen Literatur und Kunst ausgemacht würden und die polnische Jugend bourgeoiser Ideologie ausgesetzt sei.377 Möglicherweise ­waren gerade in der Anfangsphase des PIKZ vermehrt aggressive Untertöne spürbar. 1970 wurde eine regelrechte Häufung konstatiert: Dem gesamten polnischen Volk wurde eine negative Einstellung zur Sowjetunion nachgesagt, Volkspolen würde zunehmend mit dem Westen kooperieren, in der Wirt­ 372 Vgl.

ebd. Nr. 27/78 w-18, Heft 528, Sprawozdanie z wyjazdu lektorskiego do Polskiego Ośrodka Informacji i Kultury w Lipsku/ NRD/, w dniach 19–23 lutego 1974r., 24. 2. 1974, S. 3. 373 Vgl. ebd. Nr. 11/77 w-19, Heft 528, Sprawozdanie z  działalności w  roku 1972, Lipsk, 20. 1. 1973, S. 5. 374 Vgl. ebd., Sprawozdanie, Łódź, 16. 11. 1973, S. 3. 375 Vgl. ebd. Nr. 54/75 w-25, Heft 528, Problemy i spostrzeżenia z działalności na placówce w Niem. Rep. Demokratycznej, Warszawa, 10. 12. 1969, S. 2. 376 Vgl. ebd., S. 3. 377 Vgl. ebd. Nr. 15/76 w-25, Heft 528, Sprawozdanie Ośrodka Informacji i Kultury Polskiej w Lipsku za rok 1970, [undatiert], S. 7.

188   2. Akteure und Kontakträume schaft sei der Anteil des privaten Besitzes zu hoch und in der polnischen Ju­ gend grassiere Hooliganismus.378 An anderer Stelle wurde gegen die Polen der Vorwurf des Antisemitismus laut.379 Einige Fragen beweisen aber durchaus ein Gespür für gewisse Freizügigkei­ ten und Besonderheiten, die in der Volksrepublik im Gegensatz zur DDR selbstverständlich geworden waren. Die Erkundigung danach, „ob der Ver­ kauf kapitalistischer Presse in Polen nicht die Möglichkeit schaffe, dass die polnische Gesellschaft einem zusätzlichen Einfluss imperialistischer Ideolo­ gie“ ausgesetzt sei, wurde laut Bericht nicht nur vorsichtig verneint, sondern mit der Beobachtung verbunden, in der DDR herrsche eine gewisse Unzu­ friedenheit mit den eingeschränkten Informationen durch die Medien der DDR.380 Es kann angenommen werden, dass ein Bewusstsein von größeren kulturellen Freiheiten in Volkspolen unter den Fragenden vorhanden war, wenn das PIKZ z. B. den Einfluss westlicher Propaganda, Literatur, Kunst und von Filmen auf die polnische Gesellschaft sowie Kunstschaffende einschätzen sollte.381 In der Summe offenbaren die Berichte von Treffen des PIKZ mit wohl zu­ meist organisierten Gruppen der DDR-Bevölkerung ein breites Spektrum möglicher Haltungen und Reaktionen. Eine Vielzahl der Fragen kreiste um politische Informationen, sie waren aber auch oft mit einer zumindest indi­ rekten Kritik an polnischen Verhältnissen verbunden. Vorbehalte gegenüber dem polnischen System stellten keine Seltenheit dar. Die als mustergültige er­ achtete eigene Erfahrungsmatrix der DDR galt wohl vielen als Ausgangspunkt dieses Abgleichs des Eigenen mit dem Fremden. Gleichwohl war das Interesse am Nachbarn zumindest unter den anwesenden DDR-Bürgern sicherlich ge­ geben, was durchaus eine gewisse Attraktivität des Nachbarlandes und Neu­ gier an Volkspolen erkennen lässt. Auch wenn man mit heutiger zeitlicher Distanz die Atmosphäre und Ernsthaftigkeit der Begegnungen in und um das PIKZ nicht mehr recht nachspüren kann, mögen einige Fragen durchaus auch dem Bedürfnis entsprungen sein, Impulse und Überlegungen außerhalb der gewohnten Lebenswelt der DDR zu gewinnen. Eigentlich zeigte sich das er­ 378 Vgl.

ebd. Nr. 54/75 w-25, Heft 528, Sprawozdanie z działalności OIKP w Lipsku za okres IV-go kwartalu 1969r., Lipsk, 2. 1. 1970, S. 2. 379 Vgl. ebd. Nr. 27/78 w-18, Heft 528, Sprawozdanie z działalności za rok 1973, Lipsk, 23. 1. 1974, S. 10. 380 Vgl. ebd. Nr. 54/75 w-25, Heft 528, Notatka w sprawie spostrzeżeń dokonanych w trak­ cie rozmów, spotkań i  dyskusji z  miejscowymi obywatelami, Lipsk, 25. 10. 1970, S. 3/4. Zitat in freier Übersetzung von S. 4. 381 Vgl. u. a. ebd., Sprawozdanie z działalności Ośrodka Informacji i Kultury Polskiej w Lip­ sku za okres drugiego kwartału 1970 roku, Lipsk, 1. 7. 1970, S. 2.

2.5. Eine Insel in Leipzig. Das Polnische Informations- und Kulturzentrum   189

weiterte Umfeld der SED zwar vordergründig interessiert an der Volksrepu­ blik, konnte jedoch dem Aufbau des Sozialismus dort ziemlich wenig abge­ winnen.

2.5.2. Alltägliches und Informelles – das PIKZ als ­Vermittler des Polnischen Das PIKZ in Leipzig stellte wie gesehen ein offizielles Stück Kulturpolitik und -arbeit der Volksrepublik Polen dar. Deren Ziele waren auf offizieller Ebene angesiedelt und die sicht- und präsentierbaren Ergebnisse sollten den Ansprü­ chen einer sozialistischen Gesellschaftsordnung genügen. Danach waren so­ wohl das Programm als auch die Berichterstattung und damit die heute noch vorhandene Überlieferung ausgerichtet. Aber schon die Konfrontation des PIKZ mit einer ausgewählten Öffentlichkeit im Rahmen von Vorträgen zeigt, dass die Interaktionen zwischen Deutschen und Polen nicht immer kalkulier­ bar blieben. Informationsdefizite, ‚gelungene Aufklärung‘ und Überraschungs­ momente resultierten sicherlich auch daraus, dass der Informationsfluss in einer regulierten Öffentlichkeit stattfand.382 Zum anderen muss berücksich­ tigt werden, dass in der weitgehend abgeschotteten DDR Impulse von außen auf einen ganz anderen Resonanzboden treffen konnten als in einer pluralisti­ schen Gesellschaft. Exemplarisch und zugespitzt fasst Ludwig Mehlhorn die Attraktivität pol­ nischer Kultur vor diesem Hintergrund so zusammen: Für die Menschen aus der DDR war der Kontrast im kulturellen Klima besonders auffällig. Der polnischen Kultur dieser Zeit […] war ein subversiver Ton zu eigen, eine zu Aufrichtig­ keit und Wahrheit anhaltende Geisteshaltung, verbunden mit der Fähigkeit zu Ironie und Selbstironie. Dies alles hat in der DDR weithin gefehlt, was auch die Auseinandersetzung mit der Realität des Kommunismus weithin erschwert hat.383

Das PIKZ kann zu Recht als ein Treff- und Kulminationspunkt alternativer Lebensweisen bestimmter Akteure verstanden werden. Die Faszination von DDR-Bürgern hinsichtlich des ‚Polnischen‘ konnte dort ausgelebt werden, weil es Einzelnen oder Gruppen den im Kontakt mit polnischer Kultur und Sprache bot. Doch wer genau nutzte das Angebot des PIKZ auf solche Weise und wie erschlossen sich die Freiräume? Für einen Leipziger Journalisten hatte das Kulturzentrum eine „ungeheure Suggestion“, es sei ein Teil von Leipzig gewesen, die Ausstrahlung des heutigen 382 Ralph

Jessen hat auf die besonderen gesellschaftlichen Bedingungen des öffentlichen Austauschs unter der dominierenden und steuernden Rolle der Partei hingewiesen. Vgl. Jessen: Gesellschaft. 383 Mehlhorn: Freundschaft, in: Kerski/Kotula/Wóycicki (Hrsg.): Freundschaft, S. 38.

190   2. Akteure und Kontakträume Polnischen Instituts der Nachwendezeit sei bei weitem nicht so groß.384 Eine Leipziger Polin verwies ebenfalls auf die Rolle des PIKZ im Staatssozialismus der DDR und insistierte: „Ich bin heute noch der Meinung, dass dieses Kultur­zentrum viel mehr getan hat, als […] in der Presse stand. Und mehr als das jetzige Institut, denn jetzt ist der Markt übersättigt.“385 Die Aussage ist durchaus so zu verstehen, dass die Wirkung eben nicht öffentlich und ­explizit, sondern unterhalb der sichtbaren Oberfläche spürbar wurde. Informelle Kontakte prägten sich am PIKZ eher außerhalb der politischen Veranstaltungen und auch außerhalb der oben erwähnten Vorlesungen aus. Der alltägliche Nutzen und der sich daraus entwickelnde lang andauernde und den Alltag befruchtende Kontakt zwischen Deutschen und Polen in und um das PIKZ gingen nicht in erster Linie von der Institution aus. Die Nutzer selbst initiierten und pflegten ihn. In Leipzig zählten neben Deutschen, die sich stetig für das Nachbarland interessierten und regelmäßig das Angebot des PIKZ nutzten, besonders pol­ nische Vertragsarbeiter oder andere in Leipzig lebende Polen zu den regel­ mäßigen Gästen. Für letztere wurden auf ihren Wunsch Konzerte und Filme organisiert386 und sie nahmen gern an den Veranstaltungen im PIKZ, um den recht eintönigen Vertragsarbeiteralltag aufzulockern.387 Weitere polnische Gäste waren in Leipzig wohnende polnische Staatsbürger, die nicht nur am PIKZ, sondern auch am Polnischen Generalkonsulat in Leipzig ein polnisches Zusammenleben prägten.388 Eine polnische Gesprächspartnerin von Birgit Glorius brachte zum Ausdruck, dass sie und andere Polen das PIKZ als eine Art „kleines Zuhause“ verstanden hätten. Zu DDR-Zeiten habe man die dort arbeitenden Polen gekannt und sei im Zentrum selbstverständlich ein- und ausgegangen.389 Für Polen etablierte sich am PIKZ gar ein „Stückchen Hei­ mat“, dort konnte man polnisch sprechen und sich austauschen, während die DDR-Gesellschaft mitunter einen abweisenden Eindruck hinterlassen konnte: Wir hatten alle den Eindruck, dass das nicht so erwünscht ist, wenn man in der Gruppe nur polnisch spricht. Da wurde man ein bisschen angeschaut. Obwohl das waren solche – ich will nicht sagen – nicht Kontraste oder Zwiespältigkeiten, weil auf einer Seite hat man den polnischen Arbeiter gelobt, der hier gebaut hat.390 384 Vgl.

Interview mit Herrn T. mit Frau E. 386 Vgl. AMSZ, DWKN Nr. 27/78 w-18, Heft 528, Sprawozdanie z działalności za rok 1973, Lipsk, 23. 1. 1974, S. 33. 387 Vgl. Interviews mit Herrn S. und mit Frau E. 388 Die Konzentration polnischen Lebens am PIKZ in Leipzig wird auch durch ähnliche Aussagen zum PIKZ in Berlin gestützt. Vgl. Miera: Polski, S. 109. 389 Vgl. Glorius: Perspektiven, S. 200/01. 390 Interview mit Frau E. 385 Interview

2.5. Eine Insel in Leipzig. Das Polnische Informations- und Kulturzentrum   191

Diesem Milieu schlossen sich auch deutsche Verwandte, Freunde und Be­ kannte an. In den Erinnerungen wird eine polnische Diaspora beschrieben, die sich unter anderem um das PIKZ gruppierte und auf vereinzelte Deutsche eine ungeheure Strahlkraft hatte. Es entstand – vorsichtig formuliert – eine gewisse deutsch-polnische Internationalität, „eine Oase der Freiheit“.391 Herr S. meint in der Rückschau, dass das Interesse der DDR und ihrer Be­ wohner an Volkspolen keineswegs besonders groß gewesen sei, wenn auch größer als nach der ‚Wende‘ von 1989. Trotzdem kommt er zu dem Schluss, es habe in kleinen Kreisen eine Art „polnischer Bazillus“ grassiert, der dazu führte, dass von „Polonophilen“ ein stetiger und enger Kontakt zum PIKZ ge­ sucht wurde. Einigen unterstellt er sogar „polnische Verrücktheit“.392 Solche Aussagen stehen in direktem Bezug zu dem Phänomen, Polnisches als Fluchtpunkt aus dem DDR-Alltag und der DDR-Kultur wahrzunehmen. Menschen, die durch private und berufliche Kontakte eine große Affinität zu Volkspolen und zu ihren Bewohnern entwickelt hatten, fanden im PIKZ eine willkommene Alternative und konnten über dessen Institutionen mit der pol­ nischen Kultur und Sprache in Kontakt bleiben. Noch größere Bedeutung hat­ te dieser Kontakt mit dem PIKZ nach der Schließung der Grenze zum Nach­ barn und der Ausrufung des Kriegszustandes. Der Kontakt mit polnischen Freunden war danach abgerissen oder zumindest erschwert, aber auch die ­politische Dimension des Kontaktes wurde bedeutsamer. Sympathisanten der „Solidarność“ und der DDR gegenüber kritisch eingestellte Menschen konn­ ten im PIKZ regelmäßig – z. B. im Lesesaal, aber auch in vielfältigen Kultur­ veranstaltungen – Informationen beziehen, die von den DDR-Bürgern an­ sonsten bewusst ferngehalten wurden. Außerdem wähnte man sich im PIKZ unter Gleichgesinnten, so dass bestimmte Meinungen geäußert und Aussagen getroffen werden konnten, die in der DDR als unaussprechlich galten. Das PIKZ wurde eine „wichtige Insel“: Ich bin in der Zeit [nach der Ausrufung des Kriegszustandes, D.L.] sehr, sehr oft dahinge­ gangen. Es war auch eine Demonstration der Verbundenheit mit Polen. Aber auch […], um zu lesen und sich Filme anzusehen usw. Und in jener Zeit war für mich Polen noch wichti­ ger geworden als – sagen wir – in den 70er Jahren. Da ja jetzt das Politische ganz offensicht­ lich geworden war.393

Und weiter: Dann gab es […] im Polnischen Kulturzentrum auch Veranstaltungen und Diskussionen, die sich deutlich von der diesbezüglichen DDR-Routine unterschieden, wo plötzlich Mei­ nungen geäußert wurden, die man woanders nicht so gesagt hätte. Beispielsweise über poli­ 391 Vgl.

Interviews mit Herrn S. und Frau E. Interviews mit Herrn S. 393 Interview mit Herrn P. 392 Vgl.

192   2. Akteure und Kontakträume tische Angelegenheiten, wenn man z. B. gesagt hat: ,Was ihr da mit der ‚Solidarność‘ in Po­ len macht ist ok, oder auch wir brauchen mehr Demokratie usw.‘ Solche Dinge wurden also schon damals ausgesprochen […]. Ich weiß nicht, ob das andere Besucher des Zentrums auch so empfunden haben, aber das Polnische Kulturzentrum war eine Art zweites Zuhause – ein polnisches Zuhause.394

Das PIKZ vermittelte einen polnischen ‚Way of Life‘, so konnte auch scheinbar Belangloses wie polnische Plakate aus dem Handelssalon zu einem internen Zeichen werden, nicht mit dem Strom zu schwimmen.395 Auch ‚neutralen‘ Begleitern des Programms im PIKZ boten Ausstellungen und Schaufensterdekorationen einen Einblick in polnische Kunstströmungen und versorgte so wohl nicht nur Künstler mit neuen Impulsen.396 Rolf Schnei­ der erinnert sich in seinen Essays an ein polnisches Plakat, das er im Polni­ schen Kulturzentrum in Berlin erstand: Ich erwarb die inzwischen schon klassische Affiche zu einem Wajda-Film, und sie hing an meiner heimischen Wand, bis die Farben ausblichen und das Papier müde Falten zog. Noch heute wiegen für mich drei, vier polnische Plakate den Gesamtinhalt der schicken Posterlä­ den in München-Schwabing auf.397

Aufschlussreiche Aspekte zu den Nutzern des PIKZ lassen sich auch in den Akten der Staatssicherheit aufdecken. Während viele der Beobachtungen durch die Stasi in politischen Schemata verhaftet blieben und die informelle Dimension, an die hier gedacht ist, nicht erfassten, wurden einige bemerkens­ werte Informationen zu den Sprachkursen am PIKZ „erarbeitet“. Einem als Sprachkursteilnehmer getarnten IM der Staatssicherheit fiel schnell auf, dass mehrere Sprachkursteilnehmer kirchlich gebunden sind und offen das Ab­ zeichen der „Jungen Gemeinde“ am Kragen trugen.398 Nach einem gemein­ samen Filmabend und Bigos-Essen [polnisches Nationalgericht, D.L.] der Kursteilnehmer berichtete er, dass fast alle Mitglieder des Sprachkurses eine kirchliche Bindung und zudem Beziehungen und Verbindungen nach Polen hätten. Er betonte auch, dass sie DDR-kritische Töne anschlügen und teilweise Verbindungen ins westliche Ausland unterhalten würden. Einige der Sprach­ kursteilnehmer waren auch außerhalb des Kurses eng an das PIKZ gebun­ den.399 Diese Informationen wurden von der Staatssicherheit zum „Bestehen 394 Ebd. 395 Vgl.

Interview mit Frau B. Interview mit Herrn K. 397 Arno Fischer/Rolf Schneider: Polens Hauptstädte. Poznań – Kraków – Warszawa. 2. Aufl. Berlin 1975, S. 81. 398 Vgl. BStU, MfS, BV Leipzig, Abt. II Nr. 744/03, Bericht über Besuch PIKZ am 14. 10. 1981 (Sprachkurs), Leipzig, 22. 10. 1981, Bl. 39. 399 Vgl. ebd., Operativinformation über eine Veranstaltung von Teilnehmern des Sprach­ kurses Polnisch im PIKZ am 17. 3. 1982, Leipzig, 27. 3. 1982, Bl. 69–71. 396 Vgl.

2.5. Eine Insel in Leipzig. Das Polnische Informations- und Kulturzentrum   193

einer kirchlichen/ negativen Gruppierung“ weitergedeutet.400 In Gesprächen mit Angestellten des PIKZ ermittelte der IM, dass die Nachfrage nach Sprach­ kursen ansteige und dies besonders bei Jugendlichen und Kindern.401 Diese Einschätzungen legen die Vermutung nahe, ein spezieller Personen­ kreis habe die Sprachkurse des PIKZ besucht. Zumindest einige Teilnehmer hatten ein gesteigertes, persönliches Interesse an Polen und pflegten stabile Kontakte. Zudem scheint es, dass die Lernenden in der einen oder anderen Weise – gekennzeichnet hier durch Kirchennähe oder Kritik an der DDR – auf Distanz zum System gingen und in der Annäherung ans Polnische eine Alternative entweder schon entdeckt hatten oder noch suchten. In der Summe der Aussagen und Notizen ergibt sich ein lebendiges Bild, wie Aufmerksame und Eingeweihte dem PIKZ als Kontaktraum bei ihrer ei­ genen Verortung in der DDR eine gewisse Bedeutung zumaßen. Das Zentrum wurde zu einem wichtigen Treffpunkt unterschiedlicher Milieus, die sich in der DDR nicht so geborgen fühlten, wie es die offizielle Politik und Propagan­ da wollten. Das Polnische wurde als eine Alternative entdeckt, der man sich nahe fühlte, und dank des PIKZ auch alltäglich nähern konnte.

2.5.3. Das PIKZ in den Augen der Staatssicherheit Das PIKZ wurde von der Staatssicherheit genau unter die Lupe genommen. Gerade das Entstehen eines polnischen Umfeldes am PIKZ erhöhte das Miss­ trauen auf Seiten des MfS noch, weil so ein Raum entstanden war, der in sei­ nen Prinzipien – zumindest angeblich – nicht immer mit denen der DDR ver­ einbar war. Es ist vor dem Hintergrund der Rolle des MfS bei der Stabilisie­ rung von Herrschaft in der DDR erneut zu überlegen, inwiefern der Blick der Staatssicherheit die Arbeit des PIKZ zu durchdringen vermochte. Zur Vorbereitung ihres Einsatzes am PIKZ entwarf die Staatssicherheit ge­ naue Pläne, in denen Ziele und Mittel der Beobachtungen aufgeschlüsselt ­waren. Zunächst fand sich in der Zielstellung immer die Formel, für die Sicher­heit und den Schutz der Personen und Objekte sorgen zu wollen. Das eigentliche Anliegen war aber natürlich ein anderes, nämlich die „vorbeugen­ de Verhinderung und rechtzeitiges Aufdecken von Feindaktivitäten, ein­ schließlich Erscheinungen des ‚Abfärbens‘ der Ereignisse in der VR Polen.“402 400 Vgl.

ebd., Einsatz des IM „Felix“, Leipzig, 30. 4. 1982, Bl. 83. ebd., Bericht über das PIKZ, Leipzig, 16. 11. 1983, Bl. 131. 402 Vgl. ebd. Nr. 552, Sicherungs- und Bearbeitungskonzeption zum Polnischen Informa­ tions- und Kulturzentrum (PIKZ) und Polnischen Generalkonsulat (GK) in Leipzig für den Zeitraum von 1982 bis 1985, Leipzig, 5. 5. 1982, Bl. 23. 401 Vgl.

194   2. Akteure und Kontakträume Zu diesen Zwecken wurden die Mitarbeiter und die Besucher des PIKZ soweit wie möglich durchleuchtet. Dazu waren nicht weniger als sechs IM, drei GMS [Gesellschaftlicher Mitarbeiter für Staatssicherheit] und eine weitere Kontakt­ person im Einsatz; drei von ihnen waren Angestellte des PIKZ, ein GMS wur­ de dem Direktor des PIKZ in seinem Wohngebiet ‚zur Seite‘ gestellt.403 Die Interessen der Staatssicherheit fokussierten sich darauf, wie das Angebot des PIKZ aussah und wer es wahrnahm. Der Schwerpunkt lag darauf, sich ein Bild darüber zu verschaffen, in welcher Weise antisozialistische Meinungen am PIKZ verbreitet oder wirksam wurden.404 Zum Repertoire der Staatssi­ cherheit gehörte auch ein routinemäßiges Abhören von Telefonen, wie in den Akten aus dem Jahr 1982 am Beispiel des Direktors des PIKZ nachweisbar.405 Die geringe Aufschlusskraft dieser Gesprächsprotokolle legt nahe, dass diese Methoden auch im PIKZ selbst bekannt waren. Es kann somit gleich vorweggenommen werden, dass die politischen Er­ kenntnisse der Staatssicherheit zum PIKZ gegen Null tendierten. „Im Be­ richtszeitraum gab es keine Vorkommnisse oder Hinweise auf feindlich-nega­ tive Aktivitäten durch Mitarbeiter oder Besucher. Zur Arbeitsweise und Öf­ fentlichwirksamkeit des PIKZ gibt es keine grundsätzlich neuen Erkenntnisse“ lautete die kaum variierte und immer wiederkehrende Floskel, die den Be­ richten über das PIKZ vorangestellt war.406 Darüber hinaus wurden jedoch jede Menge kleine und größere, sachdienliche oder eher banale Hinweise zu­ sammengetragen. Zu den Erkenntnissen gehörte dann letztendlich, wer im PIKZ beschäftigt war, welche Kontakte die Mitarbeiter pflegten oder wie die Gewerkschaftswahlen und die Gewerkschaftsarbeit verliefen. Geliefert wur­ den ebenso allgemeine Hinweise zu den Messen, dass der Direktor des PIKZ privat Westfernsehen empfing, dass es Anzeichen von Gegenspionage gab usw.407 Allerdings griff die Staatssicherheit auch in mindestens einem Falle gravierend in das PIKZ, aber noch tiefer in das Leben eines polnischen Ange­ stellten, ein. Es wurde eine OPK angeordnet, die letzteren als unzuverlässig 403 Vgl.

ebd., Bl. 23 und Bl. 24. ebd., Informationskomplex polnisches Kultur- und Informationszentrum für die Lageeinschätzung, Leipzig 22. 1. 1981, Bl. 1/2. 405 Vgl. z. B. BStU, MfS, BV Leipzig, Abt. II ZMA PIKZ 11, Bl. 26–29. 406 Ebd., Abt. II Nr. 744/01, Quartalsbericht zum Polnischen Informations- und Kulturzen­ trum in Leipzig, Leipzig, 4. 4. 1986, Bl. 15. 407 Vgl. ebd., Quartalsbericht zum Polnischen Informations- und Kulturzentrum in Leip­ zig, Leipzig, 20. 1. 1987, Bl. 9/10; Quartalsbericht zum Polnischen Informations- und Kulturzentrum in Leipzig, Leipzig, 4. 4. 1986, Bl. 15; Quartalsbericht zum Polnischen In­ formations- und Kulturzentrum in Leipzig, Leipzig, 29. 12. 1983, Bl. 32; Quartalsein­ schätzung 1/83 zum polnischen Informations- und Kulturzentrum in Leipzig, Leipzig, 24. 3. 1983, Bl. 38. 404 Vgl.

2.5. Eine Insel in Leipzig. Das Polnische Informations- und Kulturzentrum   195

und verdächtig brandmarkte. Als vorbeugende Maßnahme wurde seine Ent­ lassung im PIKZ durchgesetzt.408 Der Umgang des PIKZ mit den Ereignissen in Volkspolen war hingegen Informationen der Staatssicherheit zu Folge recht rigoros. So durfte 1981 die deutschsprachige Zeitung „Życie Warszawy“ nicht im Lesesaal ausliegen, wenn sie Informationen zur „Solidarność“ enthielt.409 Die Staatsicherheit ­notierte andererseits, dass Materialien für Vertretungen der Volksrepublik im westlichen Ausland – und nach ihrer Logik mit dementsprechend feindlichen Auffassungen und Ideologie gespickt – im PIKZ auf Nachfrage ausgehändigt würden.410 Gerade an solchen Fragen zur Zugänglichkeit polnischer Presse wird deutlich, mit welchem Misstrauen die Staatssicherheit polnischen Me­ dienberichten begegnete. Das Personal im PIKZ wurde verdächtigt, weil es sich „zu politisch-ideologischen Fragen westlich orientiert bzw. polnische Presseerzeugnisse“ lese.411 Hier schwang die begründete Vorstellung davon mit, prowestliche Haltungen würden – wenn schon nicht über Kontakte in den Westen – so doch über solche mit Volkspolen generiert. Die Staatssicher­ heit fürchtete die Gefahr, am PIKZ könne man mit DDR-feindlichen Positio­ nen und konterrevolutionärem Gedankengut ‚infiziert‘ werden. Im November 1980 wird seismografisch – aber eben nicht verallgemeinerbar – ein erhöhtes Interesse von DDR-Bürgern an polnischer Presse verzeichnet.412 Die auslie­ genden Zeitungen entsprachen jedoch dem parteipolitischen Programm der PVAP (Polityka, Trybuna Ludu, Życie Warszawy, Sztandar Młodych) oder wa­ ren themenbezogen (Sport, Kobieta i Życie) bzw. kulturorientiert (Film, Jazz Forum).413 Für die Besucher des PIKZ wurde insgesamt keine erheblich ­größere ‚Gefährdung‘ in der Ära nach „Solidarność“ angenommen. Offen und verdeckt würde – so die Einschätzungen im März 1981 – keine Propaganda zur „Solidarność“ verbreitet.414 Es bleibt aber festzuhalten, dass Leser im PIKZ durch polnische Pressorgane einen anderen Informationsstand hatten, als die DDR-Medien verbreiteten.

408 Vgl.

ebd., AIM Nr. 1182/83 I/1, Sachstandsbericht zur OPK „Jacob“, Leipzig, 7. 6. 1982, Bl. 261. 409 Vgl. ebd., Abt. II Nr. 744/01, Lageeinschätzung zum polnischen Informations- und Kul­ turzentrum (PIKZ) – September, Leipzig, 26. 10. 1981, Bl. 68. 410 Vgl. ebd., Lageeinschätzung zum polnischen Informations- und Kulturzentrum (PIKZ), Leipzig, 28. 5. 1981, Bl. 82. 411 Vgl. ebd., Bl. 79. 412 Vgl. ebd., AIM Nr. 1968/89 II/1, Treffbericht, Leipzig, 22. 11. 1980, Bl. 224. 413 Ebd., Abt. II Nr. 744/02, Treffbericht „Sekretärin“ – Kontaktperson, Leipzig, 31. 3. 1981, Bl. 70. 414 Vgl. ebd., Bl. 98.

196   2. Akteure und Kontakträume Frappierend oft wurden dahingegen die polnischen Mitarbeiter des PIKZ mit alkoholischen oder sexuellen Exzessen in Verbindung gebracht, was mit den Schlagwörtern „intimes Verhältnis“ und dem „Alkohol zusprechen“ um­ rissen wurde.415 Ein IM lieferte zudem intime Informationen aus dem Leben des oben angesprochenen entlassenen Mitarbeiters des PIKZ. Dessen „unmo­ ralische Lebensweise“ wird mit Beobachtungen und manchmal nur Indizien von „Sexorgien“ und Alkoholexzessen belegt.416 Die Verwertbarkeit der IM-Berichterstattung bleibt insgesamt zweifelhaft. Der IM „Feliks“ hatte vorgegeben, sich für das polnische Verkehrswesen zu interessieren und besuchte in der Folge über mehrere Semester einen Sprach­ kurs am PIKZ. Er nutzte diese Vorwände, um im Zentrum zu spionieren, er erschloss sich soweit möglich, welche Bücher und Zeitschriften in der Biblio­ thek und welche Waren im Handelssalon vorhanden waren, wer die Biblio­ thek und unter Umständen auch die Ausstellungen oder den Verkaufsraum besuchte und lieferte detaillierte Beschreibungen dieser Personen sowie der Mitarbeiter des PIKZ.417 Angaben, die darauf hindeuten, dass das PIKZ zu­ mindest von polnischsprachigen Besuchern in informeller Hinsicht genutzt werden könnte, lieferte er nur selten. Das lag auch daran, dass er selber des Polnischen nicht hinreichend mächtig war und daher den Bestand an Litera­ tur nicht einschätzen konnte. So stellte er fest, dass es zwei Bücher von Czesław Miłosz gab, konnte aber selbst deren Titel nicht benennen. Er vermerkte auch, ob und welche polnischen Tageszeitungen auslagen und wann Artikel über die „Solidarność“ erschienen418 – letzteres muss aber vor dem Hintergrund der obigen Gesamteinschätzungen eine Ausnahme gewesen sein. Hinsichtlich dieser Ergebnisse stellt sich die Frage, inwieweit das MfS über­ haupt in der Lage war, wirklich stichhaltige Analysen anzufertigen oder sich seine Ohnmacht bei der „Aufklärung“ des PIKZ teils nicht eingestehen wollte. Zum einen scheint es, dass die Staatssicherheit in Leipzig nicht in der Lage war, das PIKZ wirklich bis zum Kern zu durchleuchten, weil keine Informan­ ten aus den Schaltzentralen gewonnen wurden. Diese Tatsache dürfte auch damit zusammenhängen, dass das PIKZ als ‚polnisches Territorium‘ galt, was eine Beschattung als umso dringlicher erscheinen ließ, eine Durchdringung 415 Vgl.

ebd., Quartalsbericht zum Polnischen Informations- und Kulturzentrum in Leip­ zig, Leipzig, 20. 1. 1987, Bl. 9. 416 Vgl. ebd., AIM 507/89 II/2, Auszug aus Treffbericht „Wolfgang“ vom 2. 9. 81, Leipzig, 4. 9. 1981, Bl. 95/96. 417 Unzählige Berichte des IM finden sich in folgender Akte: BStU, MfS, BV Leipzig, Abt. II Nr. 744/03. 418 Vgl. ebd., Bericht über Besuche des PIKZ am 9. und 10. 10. 1981, Leipzig, 14. 10. 1981, Bl. 34.

2.5. Eine Insel in Leipzig. Das Polnische Informations- und Kulturzentrum   197

aber zumindest erschwerte, wenn nicht unmöglich machte. Wie oben be­ schrieben, argumentierten die Maßnahmepläne immer zuerst mit dem passi­ ven Argument, polnische Einrichtungen schützen zu müssen. Ein aggressives Vorgehen war unter solchen Vorzeichen kaum möglich. Somit waren die ­Beobachtungen zumeist auf Indizien gestützt und wirklich wegweisende ­Erkenntnisse politischer Art gab es keine. Vieles spricht für eine Strategie von fehlgesteuertem bürokratischen Aktionismus, ohne dass kontrollierende Ins­ tanzen den Sinn dieser Aktionen überprüft hätten. Die Relation von Aufwand und Ergebnis ist aus heutiger Sicht keineswegs angemessen. Informelle Kontaktsphären und Kommunikationsräume der deutsch-pol­ nischen Besucher konnte sie nur ansatzweise nachweisen. Das Gefühl, sie habe den Arbeitsabläufen im PIKZ und auch den Erwartungshaltungen der Besucher ziemlich ahnungslos gegenübergestanden, sollte demnach auch die Staatsicherheit in so mancher Situation beschlichen haben.

Zwischenfazit Eines der zentralen Ergebnisse der letzten Seiten ist, dass Freiräume in der DDR – hier bezogen auf den regionalen Fall Leipzig – nicht nur in privaten, sondern auch in öffentlichen Räumen entstanden. Und dies trotz der Über­ wachung durch die Staatssicherheit. Dies hat seine Ursache in der besonderen Konstellation des PIKZ als einem polnischen Refugium in Leipzig und den damit einhergehenden Besonderheiten. Der staatliche Zugriff war limitiert, und die Akten der Staatssicherheit zeigen zudem, dass auch ein absoluter An­ spruch noch keine gelungene Umsetzung bedeutete. Bedeutsam ist in diesem Zusammenhang auch, dass die Staatssicherheit zwar illegalen und informellen Machenschaften auf der Spur war, aber jene Freiräume, nach denen hier ge­ fragt wird, nicht konsequent in das Zentrum ihres Interesses rückte. Freiräume, die sich auf der individuellen Ebene ausprägten, folgten beson­ deren Regeln. Dabei spielte das Angebot des PIKZ in Leipzig eine zentrale Rolle. Seine Attraktivität und die Wahrnehmung des Polnischen als Ausnah­ me und Bereicherung setzten bei den Rezipienten und Besuchern einen Pro­ zess der Bewusstwerdung voraus. Um das Programm eigen-sinnig zu nutzen, musste man es als abweichend von den übrigen Angeboten des DDR-Kultur­ betriebes begreifen und sich Möglichkeiten der Rezeption aneignen – sei es, indem man die polnische Sprache lernte oder das polnische Angebot als ge­ genkulturell deutete. Ein entscheidender Faktor beim Entstehen von Freiräu­ men war demnach die transnationale Dimension des PIKZ, die es erlaubte mitten in Leipzig einen polnischen kulturellen und sprachlichen Zusammen­ hang zu etablieren.

198   2. Akteure und Kontakträume Wenn also der Besuch und die Nutzung des PIKZ wirklich als Freiraum begriffen wurden, so war damit keinesfalls ein Akt der Informalität im her­ kömmlichen Sinne verknüpft. Die Nutzung des Angebots des PIKZ spielte sich ja in aller Öffentlichkeit und zudem häufig in offiziellen Zusammen­ hängen ab. Informelle Kontaktzonen gerieten in dieser Untersuchung dann in den Blick, wenn das PIKZ mit Zielen genutzt wurde, die im Programm ur­ sprünglich nicht angelegt waren – so zum Beispiel bei der Gewinnung von politischen Informationen oder im Erlernen der Sprache zur individuelleren Auseinandersetzung mit dem Nachbarland Polen (und nicht so sehr der Volksrepublik). Bei den Besuchern des PIKZ formten sich zudem Kommuni­ kationszusammenhänge aus, die aus der polnisch-deutschen Konstellation he­ raus die Alltagsverständigung der DDR sprengten.

2.6. Ergebnisse und Thesen: Deutsch-polnisches ­Leben in Leipzig und polnische Erfahrungen von Leipzigern Wenn man die alltäglichen Kontaktzonen von Deutschen und Polen in Leip­ zig nicht abstrakt, sondern als Aneignung politischer Maßnahmen im priva­ ten Umfeld und mitunter auch als eigen-sinnige Ausnutzung der stark vorge­ gebenen Strukturen begreift, so relativiert sich in gewissem Maße die Frage nach der Stabilisierung beziehungsweise Destabilisierung staatsozialistischer Diktatur. Der alltägliche Kontakt zwischen Deutschen und Polen war einer­ seits ein ideologisches Postulat der Propaganda von sozialistischem Interna­ tionalismus und Völkerfreundschaft, andererseits war jede nicht vom Staat kontrollierbare Initiative ein Dorn im Auge der Organe und ihres allum­ fassenden Herrschaftsanspruchs. Schon allein deswegen bewegte sich der All­ tagskontakt gleichzeitig in einer Grauzone zwischen Gewolltem und Verdäch­ tigem. Wenn die vorgegebenen Strukturen und die offiziell offerierten und angebahnten Möglichkeiten durch Polen und Deutsche in eigen-sinniger Aus­ legung jenseits der intendierten Ziele genutzt wurden, so wurde das Gerüst der staatssozialistischen Planung fast zwangsläufig destabil. Allerdings waren es gerade diese Aneignungen, die Lebensläufe und Lebenssituationen der Menschen stabilisierten. Diese Gegenüberstellung verschiedener Wahrneh­ mungen und Praktiken ist nicht schlüssig aufzulösen. Deutlich werden ­deshalb an den alltäglichen deutsch-polnischen Kontakten in Leipzig die Dysfunktio­ nalitäten der staatlichen Systeme, die zwischen ideologischen Vorgaben und alltäglichen Vollzügen ihre Ausprägung fanden.

2.6. Ergebnisse und Thesen   199

Deutsch-polnische Kontakträume und -situationen konnten zu Freiräumen umfunktionalisiert werden, obwohl sie in ein sensibles politisches Kräftefeld fielen. Diese anscheinend paradoxe Situation erklärt sich daraus, dass gerade innerhalb streng vorgegebener Strukturen jede noch so kleine Alternative ­Attraktivität erlangte. Dies zeigt sich in praktisch allen hier untersuchten ­Be­reichen – wenn auch auf ganz anderen Ebenen. Mal waren es materielle ­Gewinne und Dienstleistungen, wie bei informellen Kontakten zwischen Funktionsträgern. Mal waren es immaterielle Gewinne, wie in den privaten Kontakträumen und am Polnischen Informations- und Kulturzentrum. Selbst Vertragsarbeiter und Studenten profitierten von grenzübergreifenden Kontak­ ten – dies aber nicht immer in einer deutsch-polnischen Dimension. Die weitreichende soziale und politische Kontrolle sollte allerdings nicht außer Acht gelassen werden. Sie überschattete weite Bereiche des Alltags und war im Bewusstsein der Kontaktpartner mit großer Wahrscheinlichkeit stän­ dig präsent. Ihr latenter Einfluss blieb, auch wenn sich gezeigt hat, dass nicht alle Bereiche deutsch-polnischen Lebens kontrolliert werden konnten. Doch der deutsch-polnische Alltag in Leipzig war nicht nur in erheblichem Maße vorreguliert oder unterlag indirekten und direkten Repressionen. An vielen Stellen zeigt sich auch, wie Isolation und Barrieren durch mentale und gesellschaftliche Einstellungen und Praktiken aufrechterhalten wurden.

3. Reisen ins Nachbarland. Volkspolen ­zwischen Sehnsuchtsziel und sozialistischer Urlaubsidylle Wenn die Urlaubszeit naht, belebt sich der ödeste Autobahnabschnitt der DDR von Bernau nach Norden: Moskwitsch und Wartburg, Skoda und Polski-Fiat und natürlich das muntere Herdentier, der vollgestopfte Trabant, eilen in Scharen zur Grenze. Die ersten Tramper heben die Hand: Polen lockt. Polen wirbt mit bunten Städten und einsamen Stränden, mit Historizitäten von Rang, wo sich Menschenmassen quetschen, mit Seen sonder Zahl, mit Anglerparadiesen und Nationalparks, mit Festivals und Galerien, Bigos und Beat, Jazz und Jux. Jeder DDR-Bürger kann auf der Bank Złoty eintauschen, so viel er möchte, und bei manchen flinken Polen unter der Hand zu noch einem günstigeren Kurs; kein ander Land, an dessen Grenze der DDR-Bürger weltmännisch den Personalausweis aus dem Fenster hält und sonst gar nichts. Polen ist nahe. Die DDR ist eng, also auf nach nächstöstlichen Weiten!1

Hätte Erich Loest diesen letzten Satz der zitierten Passage nicht geschrieben, könnte man glauben, Volkspolen sei das ideale Reiseland gewesen. Lesen sich die ersten Zeilen wie ein Werbeprospekt für ein Traumziel, das mit Natur, Kultur, Geschichte und Freiheit gleichsam mindestens Italien, Skandinavien und die Südsee miteinander vereinigte, so war doch nur das östliche Nachbarland der DDR gemeint – die Volksrepublik Polen. Damit soll natürlich nicht gesagt sein, dass man dort keinen gelungenen Urlaub verbringen konnte. Andererseits erschien der Urlaub im Nachbarland nur so verlockend, weil er in den siebziger Jahren ein außerordentliches Angebot in einer Welt von Begrenzungen war. Die Reise nach Volkspolen bot Trampern und Gruppenreisenden aus der DDR Naturerfahrung und Stadtbesichtigungen, Badeurlaub wie Kulturgenuss. Vormals fast unerreichbares Ausland, verlockend Neues, ein Hauch von Abenteuer – all dies wurde nur mit dem „weltmännischen“ Zücken des Personalausweises möglich. Die Enge der DDR – Loest greift den von vielen DDR-Reisenden wahrgenommenen Kontrast zwischen Volkspolen und der DDR bezeichnenderweise auf – konnte mit einem Mal problemlos überwunden werden. Zu den Praktiken eines geschickten Urlaubers gehörte selbstverständlich dazu, dass er viel Proviant mitnahm und auf dem Schwarzmarkt Geld tauschte. Urlaubserfahrungen bringen in allen politischen Systemen den Hauch der Freiheit und des Abenteuers mit sich. Theorien zu den Motiven von Reisen verschieben zwar die Akzente, stimmen aber im Wesentlichen darin überein, dass Urlaubsreisen eine Alternative zum Alltag seien. Christoph Hennig ver1

Große/Loest: Rendezvous, S. 1.

202   3. Reisen ins Nachbarland ortet die Reiselust in anthropologischen Grundkonstanten, die Faszination des Reisens speise sich aus seiner Nähe zu Ritualen und Festen, dem Spiel und dem Mythos. Reisen gehe von dem Impuls aus, die Ordnungsstruktur des Alltags zu verlassen und in andere Wirklichkeiten einzutreten.2 Für Andreas Pott ist Tourismus eine Reaktion auf die modernen und alltäglichen Anforderungen und Problemstellungen an das Individuum. In seiner strukturtheoretischen Bestimmung des Tourismus formuliert er die These, „dass es im Tourismus primär um Alltagsdistanz bzw. um Strukturlockerung, Strukturvarianz und körperlich-sinnliche Welt- und Identitätserfahrungen geht.“3 Diese Parameter unterschieden den Urlaub eines DDR-Bürgers in Volkspolen und eines Polen in der DDR nicht wesentlich von den Erfahrungen zum Beispiel eines Bürgers der Bundesrepublik oder eines Italieners. In der besonderen Konstellation großer Isolation bis in die siebziger Jahre und der dann erfolgten plötzlichen Grenzöffnung war die Auslandserfahrung für DDR-Bürger jedoch zunächst etwas Besonderes.4 Die politischen Weichenstellungen, die Reisebedingungen und damit die Begegnungen zwischen den Reisenden blieben in den darauf folgenden Jahren in Art und Konsequenz relativ systemspezifisch. Der Tourismus zwischen der DDR und Volkspolen war schon allein aufgrund seiner Größenordnung vor allem in den siebziger Jahren der wichtigste Faktor zwischenmenschlicher Begegnungen. Über ihn lernte man das Nachbarland und seine Bewohner kennen, die Erfahrung aus Urlauben bedingte in hohem Maße das Bild vom Deutschen aus der DDR und vom Polen. Die Urlaubsfahrten in den siebziger und achtziger Jahren müssen grundsätzlich unterschieden werden. Reisende wie Reisebedingungen änderten sich fundamental. Was sich veränderte und welche Auswirkungen dies auf die ­Reisen hatte, ist eine Frage dieses Kapitels. In erster Linie sollen jedoch die Urlaubserfahrungen von Leipzigern im Vordergrund stehen und ihre Wahrnehmung des Polnischen. Ebenso sollen polnische Touristen in Leipzig berücksichtigt werden: Wie sahen die Reisen von Leipzigern nach Volkspolen aus? Welche Reisepraktiken gab es? Wie nahmen Leipziger Touristen das Vgl. Christoph Hennig: Reiselust. Touristen, Tourismus und Urlaubskultur. Frankfurt am Main 1999, S. 73. 3 Vgl. Andreas Pott: Orte des Tourismus. Eine raum- und gesellschaftstheoretische Untersuchung. Bielefeld 2007, S. 94/95 und S. 290/91 [Zitat S. 291, Hervorhebung im Original]. Desweiteren ist ein Essay von Hans Magnus Enzensberger lesenswert, in dem er die ­Dialektik zwischen der Fluchtbewegung und der Suche nach Freiheit im Tourismus und der ebenfalls im Tourismus angelegten Pervertierung herausarbeitet. Vgl. Hans Magnus Enzensberger: Vergebliche Brandung der Ferne. Eine Theorie des Tourismus, in: Merkur 12 (1958), S. 701–720. 4 Rüdiger Hachtmann prägt für den DDR-Tourismus die Formel von der „Lust an der Fremde“. Vgl. Rüdiger Hachtmann: Tourismus-Geschichte. Göttingen 2007, S. 148. 2

3.1. Der Tourismus zwischen der DDR und Volkspolen   203

Nachbarland wahr? Wie weit reichten Sympathien, wo entstanden Konflikte? Welche Erfahrungen wurden gemacht und welche Bereicherungen und Freiräume boten die Reisen? Wie unterschied sich der Tourismus der siebziger von dem der achtziger Jahre? Was zog polnische Touristen in Leipzig an? Da gerade Tourismus und Reisen der strengen Kontrolle des Staatssozialismus oblagen, ist die Sicht und die Einflussnahme der Staatsorgane auf das Phänomen ein wesentliches Moment des Tourismus zwischen der DDR und Volkspolen. Es stellen sich Fragen danach, wie ostdeutsch-volkspolnischer Tourismus legitimiert und wann er als gefährdend wahrgenommen wurde. Wie versuchten die Staaten die Kontrolle über einen wesentlichen Freizeit­ bereich der Bürger zu etablieren und zu erhalten? Als nächstes folgt ein kurzer Überblick über die grundsätzlichen Parameter des nachbarlichen Tourismus. Dann werden die Urlaubsbedingungen in den siebziger und achtziger Jahren umrissen. Ein weiterer Abschnitt widmet sich dem Kinder-, Jugend- und Studentenaustausch.

3.1. Der Tourismus zwischen der DDR und ­Volkspolen Für eine Reise nach Volkspolen kam ein ganzes Bündel an Motiven in Frage: Auslandsreisen zwischen DDR und Volkspolen hatten ihre Ursachen nicht nur in der organisierten oder individuellen touristischen Reise. Zwischen den Nachbarländern gab es offizielle Vereinbarungen und Partnerschaften, historisch gewachsene Verflechtungen und neu entstandene Bindungen. Städtepartnerschaften, Arbeitskontakte, Betriebsferienfahrten und Studentenaustausch lieferten den Hintergrund einer Reise unter der Hoheit einer übergeordneten Organisation. Einkaufsreisen und der kleine Grenzverkehr sowie der private Besuch entsprangen der Initiative ‚von unten‘. Hinzu kamen zahlreiche familiäre wie verwandtschaftliche Bindungen wie Flucht- und Vertriebenenhintergründe oder gemischte Ehen. Solche Motivlagen ergänzten den ostdeutsch-volkspolnischen Tourismus oder lagen sogar quer zu dessen staatssozialistischen Grundmustern. Einige der Verflechtungen können im weiteren Text stellenweise deutlich gemacht werden, der Akzent liegt jedoch auf dem Reisetourismus als solchem.

Reiseliteratur Zeitgenössische DDR-Reiseführer richteten sich traditionell mit Informationen zu Geschichte und Landeskunde, zu Land und Leuten und zu den ­touristischen Attraktionen an Touristen und Bildungsreisende. In einem ex-

204   3. Reisen ins Nachbarland emplarisch herausgegriffenen Polenreiseführer von 1980 wird die rhetorische Frage, warum Polen ein attraktives Reiseland sei, mit der landschaftlichen Schönheit und kulturellen Höhepunkten zwischen Ostsee und Hoher Tatra begründet: Mannigfaltige Sehenswürdigkeiten und Erholungsstätten, Kulturdenkmäler, Stätten der gehobenen Kultur, der leichten Muse, der Hobbypflege und des Sports machen die VR Polen zu einem Reiseland, das so nahezu allen Interessen gerecht wird und vielfältige Wünsche zu erfüllen vermag.5

Die belletristische Reiseliteratur in den siebziger Jahren bediente in erster ­Linie den Bildungsbürger, der im Urlaub intellektuelle Erlebnisse suchte und sich kulturell bilden wollte. Ein klassisches Beispiel dieses Genres ist der Bildband mit Fotos von Gerald Große und einem Text von Erich Loest. Beide besuchten die bekanntesten Städte Polens und die südpolnischen Gebirgsregionen. Große fotografierte historische Bauten, Landschaften, neu entstandene Industrie und folkloristische Motive. Loest steuerte einen historisch reflektierten Text bei, der individuelle Eindrücke mit Informationen zu Volkspolen verflocht. Andere Autoren nehmen eine ideologisierte Position ein. Evelyn Kromer beschrieb die Volksrepublik Polen als erfolgreiches Beispiel sozialistischen Aufbaus. Land und Leute waren der Autorin unheimlich sympathisch, polnische Lebensart übte eine südländische Faszination aus, die Geschichte folgte den Gesetzmäßigkeiten des historischen Materialismus und der Wohlfühlfaktor bündelte sich im Ausruf: „Polen ist ein schönes Land.“6 Im Unterschied zu dieser geschichtspolitisch getragenen Position schrieb Rolf Schneider über seine Reiseerfahrungen ohne sozialistisches Pathos. Seine tiefsinnige Auseinandersetzung mit dem Nachbarland basierte auf einer eingehenden Beschäftigung mit der polnischen wie gemeinsamen Geschichte sowie auf einem ehrlichen Interesse an Land und Leuten. Zwar waren seine Schilderungen nicht weniger schwelgerisch, speisten sich jedoch sowohl aus größerer emotionaler Nähe wie intellektueller Distanz. Rolf Schneider schreibt mit Alfred Döblin über Polen: „Es gibt dieses Land. Ich weiß es herzlich.“ Und er fährt fort: Ebendarum geht es nämlich: um Kenntnis, um Herzlichkeit. Ich kann versichern, daß im folgenden die Herzlichkeit allumfassend, die Kenntnis notwendigerweise lückenhaft sein wird und dementsprechend das Zeugnis. Beispielsweise bin ich der polnischen Sprache, jener mit den vielen Zischlauten und merkwürdigen Nasalen, nicht mächtig. Ich beherrsche ein Dutzend Wörter, wie man sie auf Reisen erwirbt: proszę, tak und pan, was bitte, ja und 5 6

Polte: Reiseratgeber, S. 8. Evelyn Kromer: Ferien in Südpolen. Über Kraków in die Bieszczaden. Leipzig 1975, hier besonders S. 93.

3.1. Der Tourismus zwischen der DDR und Volkspolen   205 mein Herr bedeutet. Ich vermag auch noch, zum schmerzlichen Entzücken einheimischer Kellner, jedną herbatę zu bestellen, einen Tee. Viel ist das nicht, und Sachverstand wächst einem von daher nicht zu. Ich lese polnische Literatur in deutschen Übersetzungen. Ich reise auf Jedermannspfaden.7

Schneider räumt ein, dass er in den polnischen Alltag und die Provinz kaum Einblick habe und sich nicht sonderlich gut über die Wirtschaft orientiere. Trotzdem schließt er eine Liebeserklärung an: „Ich liebe Polen. Mit seinem Geist, seiner Würde, seiner Größe, seinen Fehlern, seiner Armut.“8 Rolf Schneider ist als Schriftsteller ein besonderer Polenreisender, seine Erinnerungen und Essays dürften aber dennoch den einen oder anderen Nerv seiner Leser getroffen haben. DDR-Bürger und Polen konnten sich in den siebziger Jahren erstmals auf eigene Faust kennen und schätzen lernen. Wie schon das Eingangszitat von Loest zeigt, suchte und fand der DDR-Tourist im Nachbarland in großem Maße das Außergewöhnliche und die Chance neuer Erfahrung.

Zugriffe der Forschung Der Lesart, die Reise nach Volkspolen habe ein Bedürfnis nach Ausland erfüllt und Ostdeutsche wie Polen seien in eine freundschaftliche Interaktion getreten, wird in der Forschung um einige wichtige Einschätzungen ergänzt. Die Sekundärliteratur zum Tourismus in der DDR hebt solche Ansinnen und Folgen mehrfach hervor, setzt aber auch andere Akzente. Gerlinde Irmscher schildert den Kontakt ins sozialistische Ausland als Umweg in den Westen.9 Hasso Spode formuliert allgemeiner, ohne die Spezifik einer ostdeutschen Erfahrung aus den Augen zu verlieren, dass es die Ostdeutschen trotz der beschwerlichen, ja demütigenden Umstände in großer Zahl ins ‚befreundete Ausland‘ zog, zeigt den hohen Stellenwert der kleinen Freiheiten, der Freuden und Verheißungen der Fremde. Dies hatten sie im Prinzip mit den Touristen aller Länder, und natürlich auch mit den Westdeutschen, gemein. Hinzu kamen DDR-typische Motive, nämlich der Wunsch, eine auch im politischen Sinne etwas freiere Luft zu atmen und in Prag oder Budapest ein wenig westlich-modernes Flair zu genießen.10

In den siebziger Jahren galt vieles auch noch für Volkspolen, was später nur noch die Tschechoslowakei oder Ungarn betraf.

und vorheriges: Fischer/Schneider: Hauptstädte, S. 8. S. 9.   9 Vgl. Gerlinde Irmscher: Alltägliche Fremde. Auslandsreisen in der DDR, in: Hasso Spode (Hrsg.): Goldstrand und Teutonengrill. Kultur- und Sozialgeschichte des Tourismus in Deutschland 1945 bis 1989. Berlin 1996, S. 52. 10 Hasso Spode: Tourismus in der Gesellschaft der DDR. Eine vergleichende Einführung, in: Ders. (Hrsg.): Goldstrand, S. 23.   7 Dies

  8 Ebd.,

206   3. Reisen ins Nachbarland Die besondere Konstellation der Reiseerfahrungen im Ostblock hatte ­jedoch auch eine Kehrseite. Miroslav Kusý stellt die These auf, dass eine mögliche Annäherung von Touristen verschiedener Länder und von Einheimischen unter den Bedingungen eines permanenten Mangeltourismus und einer damit einhergehenden Konkurrenzsituation grundsätzlich ausgeschlossen war. Vielmehr habe diese Konstellation Feindseligkeit und Fremdsein nur noch befördert.11 Gerade die Verknüpfung des Urlaubs mit alltäglichen Praktiken wie Einkauf bis hin zu persönlichen Freiräumen mit eigen-sinnigen Auslegungen der Möglichkeiten sollten ja nicht nur zu einer Abkühlung der Begeisterung schon in den siebziger Jahren führen, sondern auch bei der Entscheidung zur Grenzschließung eine gewisse Rolle spielen. Prinzipiell entwickelte sich der Tourismus in der DDR und in Volkspolen entlang der gleichen Parameter wie in anderen Industrieländern. Höherer Lebensstandard, also steigende Löhne, längere Urlaubszeiten und das zunehmende Bewusstsein für den Wert der Erholung im Urlaub waren die Antriebskräfte eines sich ziemlich dynamisch entwickelnden Tourismus. Für Volkspolen beschreibt Paweł Sowiński den Tourismus als ein Phänomen, das zwischen den aufoktroyierten Urlaubsmustern der sozialistischen Diktatur und den ­Urlaubswünschen der Menschen oszillierte. Durch die schlechten wirtschaftlichen Bedingungen sei der Tourismus in Volkspolen im Vergleich zum westlichem eine nachholende Entwicklung gewesen. Der Grundstein sei in den fünfziger Jahren gelegt worden, als Vorkriegsentwicklungen und -traditionen durch staatliche Organisation abgelöst wurden. Einerseits habe so der ideologische Anspruch erfüllt werden sollen, den Arbeitern gesellschaftlichen Aufstieg zu ermöglichen. Andererseits hätten die staatlich und betrieblich geförderten Gruppenreisen die Kontrolle über einen großen Sektor der Freizeitgestaltung gewährleistet. Erst ab 1956 sei dieser staatliche Anspruch aufgeweicht worden, die siebziger Jahre könne man als ‚goldenes Jahrzehnt‘ des polnischen Tourismus bezeichnen. Mit der wirtschaftlichen Krise der achtziger Jahre sei das System aber zusammengebrochen, gerade das Modell der zumindest zu großen Teilen staatlich finanzierten Urlaubsreisen für Arbeiter sei nur – wenn überhaupt – mit großer Mühe über die Zeit gerettet worden.12 Der touristische Aufbruch in die siebziger Jahre verband sich mit der veränderten politischen Lage innerhalb des Ostblocks, indem ein Umschwenken von forcierter Industrialisierung auf die Konsumwünsche der Menschen er11 Kusý:

Wir, S. 192. Paweł Sowiński: Wakacje w Polsce Ludowej. Polityka władz i ruch turystyczny (1945– 1989) [Ferien in Volkspolen. Die Politik der Machthaber und der Tourismus (1945– 1989)]. Warszawa 2005, S. 281/82.

12 Vgl.

3.1. Der Tourismus zwischen der DDR und Volkspolen   207

folgte. Gerade in Volkspolen musste die sogenannte Gierek-Equipe nach der Dezemberkrise 1970 mit mehr Konsummöglichkeiten auch auf dem Gebiet des Tourismus die Gesellschaft stabilisieren.13 Besonders die Grenzöffnungen zu den Nachbarländern symbolisierten den neuen Weg, Individualtourismus und damit verbundene Konsummöglichkeiten zuzulassen. Denn die Urlaubsreise diente in vielen Fällen nicht allein der Erholung, sondern wurde eine willkommene Möglichkeit des Konsums und stellenweise des Verdienstes durch Handel am Urlaubsort. Gerade der Einkaufstourismus polnischer Reisender wurde zwar offiziell getadelt, aber intern war er als Entlastung des Binnenmarktes und als Möglichkeit, Mangelwaren zu erstehen, in einem gewissen Rahmen durchaus geduldet.14 Die Überschneidung polnischen Tourismus’ mit Einkauf- und Handelstätigkeiten war ein Phänomen, das auch in der DDR zu beobachten war.15 Der DDR-Tourismus war dem polnischen in Struktur und Anliegen sehr ähnlich. Die Freizeit- und Urlaubsgestaltung sollte zu einer Domäne des Staates werden. Der Sektor der Erholung war eng mit dem der Arbeit verzahnt, indem vor allem Gewerkschaften und Betriebe die Urlaubsplätze vergaben und die Planung übernahmen.16 Das Recht auf Urlaub war in der DDR-Verfassung verankert, im Reisesektor wurde trotz schichtspezifischer Präferenzen und Unterschiede ein hohes Maß an sozialer Egalität erreicht.17 Ein ideologisch aufgeladener Sektor waren vor allem Jugendreisen, die eine Bindung an das System verstärken sollten.18 Gerade für Reisen nach Volkspolen wurden Jugend-, Schüler- und Studentenaustausch sowie sommerliche Arbeitslager eine Stütze des organisierten Tourismus.19 Darüber hinaus vermittelte vor 13 Vgl. 14 Vgl.

ebd., S. 173. ebd., S. 242/43. Zu den Einflüssen des Auslandstourismus auf den Schwarzmarkt in Volkspolen hat Paweł Sowiński zudem einen Aufsatz vorgelegt. Vgl. Paweł Sowiński: ­Turystyka zagraniczna a czarny rynek w Polsce (1956–1989) [Auslandstourismus und der Schwarzmarkt in Polen (1956–1989)], in: Kott/Kula/Lindenberger (Hrsg.): Socjalizm, S. 189–195. 15 Vgl. ebd., S. 250/51. Vgl. auch: Jerzy Kochanowski: Groźba nad NRD [Verhängnis über der DDR], in: KARTA 28 (1999), S. 132–135. 16 Vgl. u. a.: Hachtmann: Tourismus-Geschichte, S. 143/44; Gerlinde Irmscher: Freizeitleben. Muße, Feierabend, Freizeit, in: Evemarie Badstübner (Hrsg.): Befremdlich anders. Leben in der DDR. Mit Nachbetrachtungen von Dietrich Mühlberg. 3. Aufl. Berlin 2004, S. 355 und Spode: Tourismus, S. 26. Stellvertretend für eine Vielzahl von Dokumenten vgl. SAPMO-BArch, DY 34 Nr. 10562, Vereinbarung über den Urlauberaustausch zwischen der Hauptdirektion des Feriendienstes des Zentralrates der Gewerkschaften der VR Polen und dem Feriendienst des Bundesvorstandes des FDGB für die Jahre 1974 und 1975, [undatiert]. 17 Vgl. Hachtmann: Tourismus-Geschichte, S. 141–143. 18 Vgl. ebd., S. 145. 19 Zu diesem Phänomen vgl. Irmscher: Fremde, S. 63.

208   3. Reisen ins Nachbarland a­ llem das Reisebüro der DDR Auslandsreisen.20 Mit den erleichterten Reisemöglichkeiten ging die Planung des Auslandsurlaubs aber zu einem großen Teil in die Hände der Reisenden selbst über.21 Der ursprünglich planwirtschaftliche Tourismus wurde wie auch in Volkspolen zusehends von privatwirtschaftlichen Elementen durchsetzt.22 Allerdings verteidigte die Politik der DDR lange Zeit ihren Einfluss auf den Tourismus, weil ihr der „Urlaub als Raum der Frei-Zeit […] potentiell unheimlich“ war.23 Politisch gewollt waren weiterhin gesellschaftlich organisierte Reisen, private touristische Infrastruktur wurde bekämpft und Individualtourismus ins Ausland wurde nur widerstrebend geduldet.24 Dass sich die Tourismuspolitik der DDR auf einem recht schmalen Grat von Begrenzung und Bewilligung von Urlaubswünschen bewegte, hatte in erster Linie mit der Konkurrenzsituation zur Bundesrepublik zu tun. Der Tourismus wurde immer mehr zu einem „Objekt der Wünsche und Sehnsüchte“25 und Reisefreiheit zu einem Symbol der Freiheit überhaupt.26 Solche Faktoren bedingten laut Irmscher, dass die Auswahl des Reiseziels und -landes der Abgrenzung, kulturellen Selbstvergewisserung und Distinktion diente.27 Strukturelle Unterschiede zwischen dem Tourismus in Volkspolen und in der DDR bestanden dahingehend, dass sich jener in der DDR auch wegen der besseren wirtschaftlichen Situation zu einem noch breiteren gesellschaftlichen Phänomen entwickelte.28 Die Bedingungen des Reisens zwischen DDR und Volkspolens waren während der offenen Grenze in den siebziger Jahren und der geschlossenen in den achtziger Jahren völlig andere. Die Grenzöffnung hatte die Dimensionen eines Dammbruchs, in dessen Folge Millionen von Touristen die Infrastruktur ­beider Länder hoffnungslos überlasteten. Die Öffnung war der politischen Annäherung zwischen den neuen Führungsriegen um Gierek und Honecker und der konsumpolitischen Ausrichtung dieses Politikwechsels zu verdanken. Beide Länder förderten den Tourismus und verständigten sich in gegenseiti-

Hachtmann: Tourismus-Geschichte, S. 151. 1966 war nicht vom Staat und seinen Organen organisierter Auslandstourismus dreimal so hoch wie der vom Staat organisierte. Vgl. Irmscher: Freizeitleben, S. 367/68. 22 Vgl. Hachtmann: Tourismus-Geschichte, S. 148. 23 Vgl. Spode: Tourismus, S. 26. 24 Vgl. ebd. 25 Vgl. Irmscher: Freizeitleben, S. 364/65. 26 Vgl. Hachtmann: Tourismus-Geschichte, S. 151. 27 Vgl. Irmscher: Freizeitleben, S. 368. 28 Die DDR war im Ostblock auf dem Sektor des Massentourismus führend. Vgl. Irmscher: Freizeitleben, S. 365. 20 Vgl.

21 Schon

3.1. Der Tourismus zwischen der DDR und Volkspolen   209

gen Abkommen über dessen binationale Formen.29 Einen Vertrag über die Zusammenarbeit im Bereich des Tourismus schlossen beide Staaten 1973 ab; er ist auch als Reaktion auf Probleme nach der Grenzöffnung zu verstehen.30 In der DDR waren steigende Löhne und – vor allem vor der Folie der Reisemöglichkeiten der Westdeutschen – gestiegene Erwartungen an die Urlaubsreise genauso wie die empfundene internationale Isolation die Gründe, Auslandsfahrten innerhalb des Ostblocks zu ermöglichen. Der DDR-Tourismus entwickelte sich dementsprechend auch deutlich als touristische Urlaubsfahrt in Erholungsgebiete und an historische Stätten, das Motiv war die sprichwörtliche Reiselust.31 Die polnischen Erwartungen an die Grenzöffnung waren anders gelagert. Die Verbesserung des Lebensstandards führte auch hier zu anderen Reisegewohnheiten, im Fokus stand aber daneben die Entlastung des polnischen Binnenmarktes durch die Konsummöglichkeiten im Ausland. Polnische Touristen fuhren dementsprechend häufig als Einkaufstouristen und vor allem in grenznahe DDR-Städte.32 Logische Folge dieser Entwicklung war, dass sich nicht nur der offizielle Sektor des Touristenaustausches dynamisch vergrößerte.33 Die Anzahl der organisierten Reisen bzw. der Gruppenreisen zwischen DDR und Volkspolen nahm in den siebziger Jahren zu. Allerdings stiegen auch die Individualreisen in einem Maße, dass dies bei den Staatsorganen auf erhöhtes Misstrauen stoßen sollte. Ausdruck dieser auch inoffiziellen Tourismuswelle sind nicht nur die schon zitierte Reiseliteratur, sondern auch belletristische Reiseberichte bzw. Auseinandersetzungen mit Volkspolen.34 Mit der Grenzschließung wurde allen individuellen Unternehmungen ein jähes Ende gesetzt. Der Tourismus geriet verstärkt unter die Kontrolle des Staates, weil Reisen nur noch in (re-)institutionalisierten Gruppen möglich waren. Der organisierte Urlauberaustausch zwischen Betrieben oder über ­Gewerkschaften und die massenhaften Verschickungen von Schülern, Jugendlichen und Studenten wurden zu dominanten Formen des deutsch-polnischen Urlaubskontaktes. Die ideologische ‚Einstimmung‘ und Erziehung sollte ­wieder erhöht, die Kontrolle über die Kontakte zurückgewonnen werden.35 Das politische System verankerte Urlaub wieder strikter innerhalb des ideo­ logischen Apparats. Urlaub in Volkspolen und von Polen in der DDR war in Koćwin: Polityczne determinanty, S. 142. Osękowski: Personenverkehr, S. 126. 31 Vgl. Wasiak: Wpływ, S. 61 und S. 79. 32 Vgl. ebd. 33 Vgl. Koćwin: Polityczne determinanty, S. 151. 34 Vgl. u. a. Schneider: Reise oder Christa Wolf: Kindheitsmuster. Darmstadt/Neuwied 1979. 35 Vgl. u. a. Koćwin: Polityczne determinanty, S. 160 und S. 170. 29 Vgl. 30 Vgl.

210   3. Reisen ins Nachbarland den achtziger Jahren eine durch Berichte der Reisenden und durch zahlreiche Institutionen bis hin zur Staatssicherheit bis ins Detail dokumentierte Sphäre. Welche Folgen die Grenzöffnung und der massenhafte Anstieg des Tourismus und wiederum dessen Reinstitutionalisierung für die privaten Urlaubserfahrungen von Leipzigern in Volkspolen und von Polen in Leipzig ­hatten, steht im Mittelpunkt des folgenden Abschnittes.

3.1.1. Reisen zur Zeit der offenen Grenzen Die dieser Arbeit zu Grunde liegenden Quellen lassen es zu, den privaten und den staatlichen Diskurs vom Urlaub in Volkspolen und der DDR miteinander in Bezug zu setzen. Eine gesonderte Rolle hat auch hier wieder das Geschichtsbild der Staaten und die individuelle Verortung in Geschichte und Anpassung an die Strukturen geschichtspolitischer Deutungen. Beide Diskurse konnten ineinander übergehen und widersprachen sich an anderen Stellen. DDR-­ Reisende setzten auf ihrem Urlaub in Volkspolen jedenfalls keineswegs die offi­ziellen Vorstellungen um. Ihre Praktiken entfernten sich bewusst und ­unbewusst von den Schemata der Propaganda – zumal wenn eine Auseinandersetzung mit dem besuchten Orten und Menschen stattfand, die eine persönliche Lesart und Aneignung auslöste.

Urlaubspropaganda und Reiserealität Der imaginierte staatssozialistische Urlauber sollte ein „Werktätiger“ sein, der sich durch die Leistung für das System die Erholung verdient hatte. 1971 war im VEB Polygraph Leipzig eine Notiz verfasst worden, die aufzeigt, wie sozialistische Lebensweise und gesellschaftliche Privilegierung bei Urlaubsreisen zusammenfielen. Ein stellvertretender Bereichsleiter befand, dass die Tochter einer Kollegin „würdig“ sei, „die Ferien in der VR Polen zu verbringen.“36 Er begründete seine Empfehlung mit dem gesellschaftlichen Engagement und der Leistungsbereitschaft der Kollegin. Diese sei Mitglied der Deutsch-Sowjetischen-Freundschaft und des FDGB. Sie sei sehr fleißig und jederzeit einsatzbereit. Im Wohngebiet arbeite sie schon mehrere Jahre im Elternaktiv der Schule mit. Die Tochter zeige in der Schule gute Leistungen.37 Dieses Leipziger Beispiel wird von der ostdeutsch-volkspolnischen Propaganda umrahmt. In der Präambel des Generalvertrages zwischen dem Reisebüro der DDR und seiner polnischen Entsprechung „ORBIS“ wurden die 36 Vgl.

SächsStA, StA-L, 20812 VEB KombinatPolygraph. Leipzig Nr. 56, Mitteilung, 18. 2.  1971. 37 Vgl. ebd.

3.1. Der Tourismus zwischen der DDR und Volkspolen   211

grundlegenden Parameter des sozialistischen Tourismus aufgezählt: Der Touristenaustausch zwischen beiden Reisebüros trage „zur Festigung der Freundschaft und Verständigung zwischen beiden Völkern“ bei. Er erfülle „eine wichtige politische und ökonomische Aufgabe“ und sei „ein Mittel zur so­ zialistischen Erziehung und zur sozialistischen Bewußtseinsbildung“. Die „Bürger der Partnerländer [würden] mit dem kulturellen Erbe und den Errungenschaften der sozialistischen Entwicklung des anderen Landes“ bekannt gemacht und der sozialistische Tourismus sichere „den Werktätigen einen inhaltsreicheren, erholsamen Urlaub.“38 Die Urlaubsreise sollte im Staatssozialismus also ein Allzweckmittel sein: Sie war der soziale Kitt zwischen Gesellschaften, vereinigte Bildung mit Erholung und war gerade dadurch eng mit den Arbeitsprozessen verwoben. Sie entfaltete zudem eine Sogwirkung auf dem Weg zum Sozialismus und erfüllte nebenbei volkswirtschaftliche Pläne. Solche hohen Erwartungen und Vorgaben ließen sich in der inneren Logik des Systems nur dann erfüllen, wenn die führende Rolle der Staaten bei der Gestaltung und Planung des Tourismus gewährleistet war. Wie schnell dieser Kontrollzwang an seine natürlichen Grenzen stieß, war schon im Jahr 1972 abzusehen. Die offene Grenze beförderte Eigeninitiative. Eine Quelle belegt, wie empfindlich die DDR darauf reagierte: Es wurde angemahnt, dass Fahrradreisen polnischer Jugendlicher mit Jugendorganisationen abgestimmt werden sollten, um Betreuung und Unterbringung in der DDR zu ermöglichen.39 Diese Bestrebungen verweisen nicht nur auf das infrastrukturelle Problem mit so nicht erwarteten Touristenströmen, sondern machen deutlich, wie unbehaglich den Behörden bei der Vorstellung in der DDR herumziehender (polnischer) Jugendlicher war. Die zahlreichen Versuche, über ostdeutsch-volkspolnische Abkommen den Touristenverkehr zu planen, waren daher zum einen damit motiviert, die staatlichen Ansprüche von sozialistischer Erholung geltend zu machen, und zum anderen dem gefühlten Chaos die scheinbare Systematik sozialistischer Planbarkeit entgegenzusetzen. Verträge zwischen den Regierungen beider 38 Vgl.

AAN, Zjednoczenie Przedsiębiorstw Turystycznych „ORBIS“ Nr. 5/1, Generalvertrag zwischen dem Reisebüro der Deutschen Demokratischen Republik, Generaldirektion, / nachstehend Reisebüro genannt/, 102 Berlin, Alexanderplatz 5 und der Vereinigung der Touristischen Unternehmen „ORBIS“, Warszawa, Bracka Nr. 16 /nachstehend Vereinigung genannt/, die im Namen und Interesse der Polnischen Reisebüros /im folgenden nur Büros genannt/ auftritt, Berlin, 21. 10. 1971, S. 1. 39 Vgl. ebd., Główny Komitet Turystyki w Warszawie Nr. 10/74, Protokoll der I. Tagung der Gemischten Kommission für Fremdenverkehr zwischen der Deutschen Demokratischen Republik und der Volksrepublik Polen, die am 13. Juni 1972 in Berlin stattfand, Berlin, 16. 6. 1972, Bl. 16.

212   3. Reisen ins Nachbarland Länder, die bessere touristische Angebote im Dienste der „Völkerfreundschaft“ und des „proletarischen Internationalismus“ zum Ziel ausgaben, oder die Verständigung zwischen staatlichen Institutionen, waren beredter Beleg dieses Phänomens.40 So wollte man 1973 zwar die dezentrale Jugendtouristik und damit die Freundschaft fördern, die Treffen sollten aber auf „breiter Basis“ „differenzierter“ fortgesetzt werden. Das hieß nichts anderes, als dass der „Durchführung von Treffen, Begegnungen und Erfahrungsaustauschen“ auf allen Ebenen mehr Aufmerksamkeit geschenkt werden sollte.41 Aus Gründen der Vorsorge und Kontrolle dürfte dementsprechend ein Großteil der Berichte und Informationen zu Problemen wie zu erfreulichen Folgen des Tourismus entstanden sein. Neben der Behandlung offensicht­ licher Probleme mit dem Massentourismus und seinen Nebenwirkungen wie illegalem Geldtausch und dem Handel der Touristen wurde versucht, die ­Bilanz positiv aufzuhellen. Die ideologische Lesart der neu entstehenden Kontakte ist unübersehbar. Die Tourismusplaner stellten sich selbst gute Zeugnisse aus: Die freundschaftlichen Beziehungen und persönlichen Kontakte seien gestärkt und vertieft worden, wobei besonders unmittelbare Beziehungen ­zwischen Betrieben, Genossenschaften, staatlichen und gesellschaftlichen Institutionen und ganz besonders Arbeiterklasse und Jugend profitiert hätten. Auch Treffen von Fachmännern, offizielle gemeinsame Feiertage und die ­Besuche der Leipziger Messen wurden stolz zu den verbindenden Elementen hinzugerechnet.42 Wie sehr man jedoch der Dynamik deutsch-polnischer Kontakte miss- und den Mechanismen einer flächendeckenden Überwachung vertraute, belegt auch hier wiederum die Überlieferung der Staatssicherheit. Wahrscheinlich 40 Vgl.

ebd. Nr. 10/78, Umowa między Rządem Polskiej Rzeczypospolitej Ludowej a  Rządem Niemieckeiej Republiki Demokratycznej o współpracy w dziedzinie turystyki, [undatiert], Bl. 56–60 und Porozumienie między Ministerstwem Komunikacji Niemieckiej Republiki Demokratycznej i Głównym Komitetem Kultury Fizycznej i Turystyki Polskiej Rzeczpospolitej Ludowej w sprawie rozwoju stosunków turystycznych między Niemiecką Republiką Demokratyczną i Polską Rzeczpospolitą Ludową w latach 1976 do 1980., Warszawa, 19. 2. 1976, Bl. 292–299. Zahlreiche Einzelvereinbarungen für Reisen auch zur Leipziger Messe enthält z. B.: ebd., Centrala Turystyczna „ORBIS“ Nr. 8/2. 41 Vgl. SAPMO-BArch, DY 30 vorläufige SED Nr. 21423, Information über die bisherigen Ergebnisse der Abstimmung zum Entwurf der Vorlage für das Sekretariat des ZK der SED „zur Weiterführung der Jugendtouristik der DDR“, Berlin, 7. 12. 1973, Anlage 1, Aufgaben zur Weiterentwicklung der Jugendtouristik in der DDR in den Jahren 1974/75, S. 4. 42 Vgl. AAN, Główny Komitet Turystyki w Warszawie Nr. 10/77, Notatka o aktualnych problemach turystyki PRL – NRD. Warszawa, 24. 9. 1977, Bl. 202–204. Wie die offene Grenze besonders das Leben in den geteilten Grenzstädten beeinflusste ist in verschiedenen Publikationen schon herausgestellt worden. Vgl. u. a. Jajeśniak-Quast/Stokłosa: Städte; Kochanowski: Socjologiczny zwiad und Stokłosa: Grenzstädte.

3.1. Der Tourismus zwischen der DDR und Volkspolen   213

war es bei der großen Fülle der praktisch unüberwachbaren touristischen Kontakte für das MfS die logische Konsequenz, wenigstens institutionalisierte Reisen zu unterwandern. Das Prinzip der Unterwanderung durch „human intelligence“ versprach den größten Erfolg. Eine Leipziger Reiseführerin überwachte den Reiseverkehr nach Volkspolen und in die Tschechoslowakei. Sie sollte feindliche Kontaktpersonen und Kontakttätigkeit genauso anzeigen wie Hinweise auf Straftaten. Im – letztlich erfolgreichen – Werbungsgespräch sollte die Kandidatin überzeugt werden, daß sie in ihrer Tätigkeit als Reiseleiterin bei Auslandskurzfahrten und der Betreuung von Reisegruppen bzw. Einzeltouristen in der Lage ist, unser Organ wirksam zu unterstützen und mit zu helfen, feindliche Aktivitäten, die sich gegen den Reise- und Touristenverkehr richten und die unter Ausnutzung des Reise- und Touristenverkehrs möglich sind, aufzuklären und zu unterbinden.43

In den von ihr verfassten Berichten zeigt sich erneut, wie bereitwillig manche inoffizielle Mitarbeiter der Stasi zuarbeiteten. Die gewonnene inoffizielle Mitarbeiterin war sich über die schlechten Absichten ihrer Mitmenschen mit der Staatssicherheit einig.

Individual- und Massentourismus Die Floskeln von Erholung und Völkerfreundschaft füllten die Touristen in den siebziger Jahren mit eigenen Vorstellungen. Sie erlebten bestimmt erholsame Urlaubstage und schlossen neue Reisefreundschaften, ihre Wahrnehmung und ihr Verständnis waren jedoch im Gegensatz zum Konzept des staatsozialistischen Urlaubes eigen-sinnig. Die propagandistische Völkerfreundschaft, die sich in der Zugehörigkeit zum sozialistischen Lager und in Beteuerungen erschöpfte, musste in Urlaubskontakten beiseite geschoben und durch individuelles Verständnis von Freundschaft ersetzt werden. In den siebziger Jahren waren es individuelle Reiseerlebnisse, die für DDRBürger den Reiz an einem Urlaub in Volkspolen ausmachten. Wie Erich Loest im Eingangszitat herausstellte, fungierte das direkte Nachbarland als ein ‚Sehnsuchtsziel‘ mit ganz unterschiedlichen Merkmalen. Mit der Grenzöffnung war auf einmal Abenteuerurlaub möglich geworden: Insbesondere junge Leute nutzten diese Möglichkeit sofort. Sie konnten sich nun einfach in den Zug oder ins Auto setzten und losfahren. Die Grenzposten stempelten lediglich die Personalausweise ab. Schwierigkeiten gab es nur wegen der geringen Tagessätze an entsprechenden Valuta. Aber man wußte sich zu helfen, stopfte den Rucksack voll Lebensmittel und übernachtete bei Freunden oder in Jugendherbergen.44 43 BStU,

MfS, BV Leipzig, AIM Nr. 2588/84 I/1, Vorschlag zur Verpflichtung IM-Vorlauf „Ruth“-Reg. Nr. XIII 1003/75, Leipzig, 5. 11. 1975, Bl. 111. 44 Wolle: Welt, S. 93.

214   3. Reisen ins Nachbarland Der Kontakt mit Polen, sei es in der intimen Öffentlichkeit von Klubs, Cafes und Buchläden oder durch sich entwickelnde Bekanntschaften und Freundschaften erschlossen den Reisenden polnischen Alltag und polnische Traditionen. Mit polnischen und deutschen Freunden in Volkspolen herumzureisen, irgendwo im Freien oder bei alten wie neuen Bekannten zu übernachten, wurde eine Passion, von der Leipziger berichten.45 Gerade die spezifischen poli­ tischen Bedingungen der Isolation und der neuen Möglichkeiten der Reisen zwischen DDR und Volkspolen halfen wohl, unkomplizierten – manchmal festeren, manchmal unverbindlicheren – Kontakt aufzubauen. Wenn man jemanden kennen lernte, so folgten gegenseitige Hilfe, das Anbieten von Übernachtungsmöglichkeiten und Gegenbesuche. Reisen gerade von Jugendlichen waren wegen der begrenzten Möglichkeiten und Ressourcen auf spontane ­Aktionen, ad hoc Organisation und Hilfe sowie auf informell vermittelte Netzwerke angewiesen. Rolf Schneider hat dem faszinierten sich Treiben lassen und Entdecken in seinem Initiationsroman „Reise nach Jarosław“ ein literarisches Denkmal gesetzt. Die achtzehnjährige Erzählerin Gittie macht sich aus Trotz ihren Eltern gegenüber auf die Reise an den Geburtsort ihrer Großmutter – nach Jarosław, in Galizien zwischen Krakau und Przemyśl gelegen. Sie trifft den polnischen Studenten Jan, und mit Zug und per Anhalter versuchen beide, ihr Ziel zu erreichen. Als das Geld aus ist, nehmen sie Arbeit in einer Fabrik an, sie übernachten bei Fremden, das Mädchen und der Student kommen sich erotisch näher, zerstreiten und trennen sich. Auf ihrer Reise an den Herkunftsort ihrer Großmutter – den sie nicht zu Gesicht bekommen wird – lernt Gittie außergewöhnliche Menschen und Volkspolen als ein Land der Gegensätzlichkeit und Schönheit kennen. Wieder in den DDR-Alltag zurückgekehrt nimmt sie sich fest vor, Polnisch zu erlernen.46 Dieses Vorhaben teilte die Heldin des Romans mit vielen ihrer realen Altersgenossen, die sich mit mehr oder weniger Erfolg an das Erlernen der polnischen Sprache machten. Gerade die Leipziger Partnerstadt Krakau faszinierte die meisten Besucher, der historische Stadtkern und kunsthistorische Schätze beflügelten die Be­ sucher genauso wie Krakauer Lebensart.47 Diese Eigenschaften gewannen vor dem Hintergrund von DDR-Erfahrungen aus zerbombten und sozialistisch aufgebauten Innenstädten und eher wenig Straßenleben südländischer Prägung sicher noch größere Bedeutung; allerdings muss Krakau keinen Vergleich

45 Vgl.

u. a. Interview mit Frau B. und Herrn P. Reise. 47 Vgl. Kapitel 1. 46 Schneider:

3.1. Der Tourismus zwischen der DDR und Volkspolen   215

mit anderen (west-)europäischen Städten scheuen. Teilnehmer einer Studienreise protokollierten ihre Begeisterung knapp aber überschwänglich: Wir besichtigten also in dieser kurzen Zeit von einem halben Tag den Marienaltar (Veit Stoß), die Franziskaner Kirche mit sehr schönen modernen und Jugendstil-Glasfenstern, hochgotisch, viele Seitenstücke von bezaubernder Schönheit, im linken Seitenschiff zwei Monumentalgemälde, den Wawel, die Kirche […], eigenartig die Mammutzähne am Portal, die Anlage. […] Diese Stadt atmet Kunst aus ihren Poren.48

Rolf Schneider beschreibt seine Überwältigung und sein Glück: „[…] Krakau ist schön, und zwar in einem solchen Maße der Überwältigung, daß einem davon die Augen übergehen, weil der Anblick zu schmerzen beginnt. Ich kenne nichts Vergleichbares.“49 Die Reiseerfahrungen von Leipziger Interviewpartnern bestätigen solche Eindrücke. Eine Leipziger Kunsthistorikerin bezeichnete Krakau als Traumstadt50, ein Leipziger Grafiker erinnert sich an Krakau als eine „wunderbare Stadt“, einen „Edelstein“.51 Jeden Mittag sei er zum Marienaltar gegangen, und an den Krakauer Rynek mit den vielen Tauben und dem Blumenmarkt erinnert er sich als an etwas Einzigartiges. Die Beschreibungen des besonderen Flairs und der Kreativität der Stadt, von Galerien und Jazzkellern, vom tagelangen Sitzen in Cafes geben die Atmosphäre der Krakaubesuche seit den siebziger Jahren auch heute noch wieder. Der Genuss intellektueller und emotionaler Freiheit wird immer wieder anhand Begegnungen mit polnischem Jazz greifbar. Die Selbstverständlichkeit, mit der Jazz in Volkspolen gespielt und gehört wurde, ist ein wiederkehrendes Thema in den Reisebeschreibungen: Am Abend Jazz. Der Klubraum eines Studentenwohnheimes im Keller ist proppenvoll, hundertfünfzig passen hinein, zweihundertfünfzig sind drin. Studenten verwalten diesen Klub, organisieren den Kartenverkauf, das Programm, den Bierhandel und das Reinemachen am Tag danach, bärtige Burschen reißen an der Tür die Karten ab, durchs Klo schlüpfen Nichtkartenbesitzer ein. […] Wonach suche ich nur, was macht mich kribblig? Band drei: Klavier und Altsax. Der Saxophonist mag die Vierzig überschritten haben; sollte er Amateur sein, wäre das wunderbar, als Profi verdiente er immer sein Geld. Sehnsucht, Träumen, Aufbruch, Aufstand, Verzicht. Dieser Mann bläst Philosophie. Und da weiß ich: Hier ist alles normal, Jazz ist normal, ein Studentenklub ist normal, Jazz ist Jazz.52

Die verführerische Mischung eines am Angenehmen ausgerichteten ‚gutbürgerlichen‘ Tourismus und jenen Verlockungen der Boheme griff in vorsichtiger Weise auch die linientreue Reiseliteratur auf: 48 SächsStA,

StA-L, 20237 BT/RdB Nr. 8076, Bericht über die Studienreise nach Zakopane vom 5.–12. 9. 1976 (genannt Plenair „Tatra-Herbst“), Leipzig, Oktober 1976, Bl. 49. 49 Fischer/Schneider: Hauptstädte, S. 41. 50 Vgl. Interview mit Frau B. 51 Vgl. Interview mit Herrn M. 52 Große/Loest: Rendezvous, S. 74/75, Hervorhebung im Original.

216   3. Reisen ins Nachbarland In Kraków gibt es so vieles, was man gern betrachten und erleben möchte, daß bei keinem Fremden die Zeit reichen wird. Einmal ist es eine alte Zuckerbäckerei, in deren altersbrauner Gaststube man unbedingt das nach Art des Hauses gefertigte Marzipan kosten muß, das andere Mal ist es ein Kellerrestaurant, in dem junge Krakówer Künstler Grafiken ausstellen. Halb schockiert, halb interessiert betrachtet man die Galerie und bleibt dann sinnend bei einem Glas Wein hocken. Rechnet man die Stunden im Lesecafé in der ulica Jagiellońska dazu, die Stunden im Konzertcafé ‚Pod Pawiem‘, die Stunden… es kommt jedenfalls eine stattliche Anzahl heraus.53

Die grammatische Konstruktion des unpersönlichen „man“ lässt beim Leser Identifikation oder Abwehr zu, während auch die Autorin sich hinter der passiven Formulierung verstecken konnte. Auch aufgrund solcher ‚abgründiger‘ Erlebnisse waren die siebziger Jahre für den ‚normalen‘ Touristen ebenfalls voller neuer Entdeckungen. Hauptreiseziel waren die polnischen Hoch- und Mittelgebirge, die Ostseeküste oder die Masuren. Meistens reiste man in organisierten Gruppen über den Betrieb, die Gewerkschaft oder das Reisebüro der DDR. Doch selbst bei solchen Reisen changierte die Praxis zwischen systemkonformen Wahrnehmungsmustern und den neu gewonnenen Möglichkeiten. Im Gegensatz zu den achtziger Jahren, in denen sich ein sich ein systematisches Berichtswesen über Urlaubsreisen ausprägte, ist die Überlieferung zu Gruppenreisen in den siebziger Jahren dürftig. Nur vereinzelt finden sich einschlägige Verlautbarungen regimenaher Organe, die bereits davon zeugen, dass der offizielle Diskurs über Reisen nach Volkspolen von den Urlaubern verinnerlicht worden war. In der Betriebszeitung „Falzschwert“ des VEB KombinatPolygraph ist aus dem Jahr 1978 ein begeisterter Leserbrief nebst Fotos unter anderem eines abendlichen deutschpolnischen Zusammenseins aus dem polnischen Gebirgsort Ustrzyki Dolne veröffentlicht. Neben einem Foto mit wohl deutschen und polnischen Urlabern an einer Feuerstelle findet sich der Text: „Die polnischen Bürger sind sehr kontaktfreudig, und wir wurden beim ersten Lagerfeuer mit polnischen und deutschen Volksliedern in ihre Gemeinschaft aufgenommen.“54 Abseits solcher Formeln der Anpassung an den wohl offiziell erwarteten Diskurs in einer Betriebszeitung wurden sogar organisierte Reisen häufig zu individuellen Zwecken umkodiert. Erstmals konnte in den siebziger Jahren die in Folge des Zweiten Weltkrieges verlassene Heimat im damaligen Volkspolen besucht werden. Dies wurde ein alltägliches Anliegen vieler DDR-­ Bürger, obwohl Flucht wie Vertreibung ein Tabuthema waren.55 Ein Leipziger 53 Kromer:

Ferien, S. 19. StA-L, 20812 VEB KombinatPolygraph. Leipzig Nr. 1416, Artikel aus der Zeitung „Falzschwert“ Nr. 18/78, 20. 9. 1978, S. 8. 55 Czesław Osękowski geht auf den massenhaften Heimattourismus kurz ein. Er unterstreicht vor allem, dass bei vielen Deutschen der Eindruck des Verfalls der ehemaligen 54 SächsStA,

3.1. Der Tourismus zwischen der DDR und Volkspolen   217

erzählt zum Beispiel, er habe einen Urlaub ins Riesengebirge zu einem Abstecher in die schlesische Heimatstadt genutzt. Nach diesem Besuch sei „Ruhe eingekehrt“, Träume von und Sehnsucht nach der Heimat hätten ein Ende gefunden.56 Wie die erleichterten Reisemöglichkeiten auch die privaten Besuchsreisen zwischen Leipzigern und Polen in Bewegung versetzten, lässt sich den schon weiter oben erwähnten Erzählungen von Frau St. und Frau T. entnehmen. Im Mittelpunkt persönlicher Erfahrungen standen jedoch Konsumpraktiken und persönliche Freundschaften – dem (sozialistischen) Freundschaftsbegriff widerfuhr dabei ein individueller Aneignungsprozess.57 Die siebziger Jahre waren nicht nur eine Periode der massenhaften touristischen Kontakte, sondern beförderten in quantitativ nicht zu bestimmender Zahl den konkreten privaten Kontakt zwischen Deutschen und Polen. Welchen individuellen Gewinn diese Kontakte mit sich brachten und wie fest die Bindung zu den Bekannten und zum Nachbarland wirklich wurde, ist wiederum von Fall zu Fall unterschiedlich. Es kann aber durchaus festgehalten werden, dass die Inhalte und Struktur der Kontakte den Ideen der Staaten nicht entsprachen. Kontakte mit Land und Leuten dienten dazu, vormals Unartikuliertes und selbst gewisse Tabus zu überwinden. Gerade für jene Leipziger, die im Polnischen eine Alternative zum Lebensentwurf der DDR-Umwelt sahen, waren die Reisen nach Volkspolen eminent wichtig. Die Bedingungen der offenen Grenze waren in ihrer Wahrnehmung eine Art paradiesischer Zustand, der einen leichten und ständigen Kontakt gewährleistete.

Auseinandersetzungen mit Geschichte Zentral für die Reiseerfahrungen der siebziger Jahre und deren Bedeutung für die Reisenden war die Vergegenwärtigung deutsch-polnischer Geschichte am historischen Ort und im kommunikativen Gedächtnis. DDR-Reisende wussten, dass Volkspolen erst durch den deutschen Angriffskrieg im Zweiten Weltkrieg, die Teilung im Hitler-Stalin-Pakt und die Westverschiebung nach dem Zweiten Weltkrieg unter Inkorporierung ehemalig deutscher Gebiete zu dem bereisten sozialistischen Staatsgebilde geworden war – auch wenn die Benennung dieser Tatsachen an Tabus der DDR-Geschichtsschreibung stieß. Da alle Vernichtungslager des nationalsozialistischen Judenmords auf polnischem Staatsgebiet lagen und außerdem polnische Städte auf eine reiche jüdische GeHeimatdörfer entstand, was die Beziehungen erheblich belastete. Vgl. Osękowski: Personenverkehr, S. 126. 56 Vgl. Interview mit Herrn T. 57 Vgl. Interviews mit Frau St. und Frau T.

218   3. Reisen ins Nachbarland schichte zurückblicken konnten, war diese Auseinandersetzung eine Konfrontation mit deutscher Schuld.58 Besonders Reisen nach Auschwitz standen auf der politischen Agenda vieler Reisen nach Volkspolen. In der Wahrnehmung der katastrophischen polnisch-deutschen und jüdisch-deutschen Geschichte unterscheiden sich individuelle Reflexionen von den Vorgaben eines verordneten Antifaschismus und auch von denjenigen Reisezeugnissen, die unter dem Einfluss offizieller Lesarten von DDR-Geschichte standen. Grob lassen sich wieder offiziell akzeptierter und individueller Diskurs unterscheiden. Die Zwiespalte geglätteter DDR-Geschichtspolitik lassen sich am Beispiel der DDR-Reiseliteratur und persönlicher Reiseerfahrungen in Kazimierz, dem ehemals jüdischen Stadtviertel Krakaus, greifen. Evelyn Kromer konfrontiert ihre Leser nicht mit der Geschichte des Holocaust und beschreibt eine Kazimierzer Idylle ohne Juden und mit entscheidenden historischen Fehlern. Damit bildet sie die antifaschistische Legende der DDR ab: Wohnsitz der Krakówer Juden war einstmals die im 14. Jahrhundert von König Kazimierz dem Großen angelegte selbständige Stadt Kazimierz. In dem heutigen Stadtviertel Kazimierz kann man das ethnologische Museum besuchen, das jüdische Museum in der Alten Synagoge, die Kirche ‚Na Scałce‘ mit den Grabstätten berühmter Polen oder den neben der Synagoge Remu’h gelegenen alten jüdischen Friedhof, einen der wenigen in der Welt erhaltenen jüdischen Friedhöfe der Renaissancezeit. Aber Hannes und ich haben uns am Vormittag schon das Haus des Malers Matejko angesehen. Die Nachmittagssonne scheint warm, und so bleiben wir auf dem plac Wolnica, der im Zentrum des Stadtviertels Kazimierz liegt. Es ist ein schöner Nachmittag. Der Platz liegt abseits vom Verkehr, ruhig ist es hier. Sonnenstrahlen fallen schräg ein, und wir setzen uns auf eine der weißen Bänke, die unter kleinen Trauerweiden stehen. Wahrscheinlich sind in Kraków Plätze ohne Tauben undenkbar.59

Dieses Zitat erlaubt wegen seiner Vertuschungen einen Einblick ins Geschichtsbewusstsein der Autorin. Warum die meisten jüdischen Friedhöfe in Europa zerstört wurden, ist genauso wenig Thema wie die Tatsache, dass der jüdische Friedhof in Kazimierz nicht erhalten ist, sondern ebenfalls von deutschen Truppen und Einheiten geschändet wurde. Bezeichnend ist, dass die beiden Touristen keine Kraft mehr haben und lieber die Sonne genießen. Dass sie unter Trauerweiden Platz nehmen, ist wahrscheinlich nur eine unbewusste Metapher. Die Vernichtung der europäischen Juden war in der offiziellen Erinnerung der DDR kein Thema.60

zur Konfrontation mit deutscher Geschichte auch: Mehlhorn: Freundschaft, in: Kerski/Kotula/Wόycicki (Hrsg.): Freundschaft, S. 37/38. 59 Kromer: Ferien, S. 23. 60 Auch im Schüler- und Jugendaustausch wurde der Mord an den Juden trotz zahlreicher Denkmals- und Friedhofsbesuche nicht erwähnt. Vgl. Interview mit Herrn F., 7. 9. 2008. 58 Vgl.

3.1. Der Tourismus zwischen der DDR und Volkspolen   219

Für andere Reisende entfaltete der jüdische Stadtteil einen traurigen Reiz. In Kazimierz war nach dem Krieg zum einen alternatives Leben entstanden, zum anderen legte individuelle Beschäftigung mit der Geschichte des Stadtviertels die Gespenster der jüdischen Vergangenheit frei und gemahnte an die Auslöschung des Judentums durch die Nationalsozialisten. In einer versteckten Synagoge, die zu einem Großraumatelier umfunktioniert worden war, bekam Herr M. das erste Mal einen Eindruck in die Welt der modernen Plastik. Dieser Eindruck minderte aber nicht die Auseinandersetzung mit der Vergangenheit. Die Erinnerung an seine Spaziergänge durch Kazimierz als Konfrontation mit der deutschen Schuld ist lebendig. Er sei im Stadtteil und auf dem jüdischen Friedhof „im Dunkeln, im Nebel herumgeschlichen“ und ein „immer schlechtes Gewissen“ habe ihn geplagt.61 Auch Rolf Schneider hoffte, in Kazimierz Reste vergangener Zeiten aufspüren zu können und fand nur verlassene Trübnis: Ich bin in Kazimierz gewesen. Es war kein Sabbat, und es war kein Feiertag, es war ein gewöhnlicher Mittwoch, und eine blasse Sonne schien. Die Elektrische war gefüllt, hinter den Fenstern saßen Frauen mit Einkaufstaschen. Ich sah Passanten auf der Straße, manche waren dunkelhaarig und dunkeläugig, aber ich hätte nicht sagen können, ob sie Juden waren, denn sie waren nicht anders gekleidet und bewegten sich nicht anders als die Menschen in irgendeiner polnischen Stadt. Ich sah keinen Kaftan, kein Käppi, keinen Gebetsriemen, kein Pejes. Dem Rathaus war seine frühere Benutzung nicht anzumerken. Ich ging auf den Markt. Der Platz war geräumig. Ich sah die Reste von abgebauten Verkaufsständen. Es lagen Gemüseabfälle herum. Die Schilder an den Türen der Häuser trugen polnische Namen, Jedermannsnamen: Kowalski, Źieliński. Am Ende des Platzes gab es eine kurze und breite Straße, die im rechten Winkel abging, fast selbst schon wieder ein Platz. Ich entdeckte eine Synagoge. Sie sah merkwürdig verlassen aus, nicht gerade baufällig, doch auch nicht benutzt. Vor dem Eingang der Synagoge ein hohes schwarzes Metallgitter. Ich drückte die Klinke. Sie knirschte etwas. Die Tür gab nicht nach. Ich entdeckte, schräg gegenüber, ein anderes Bethaus. Es wirkte noch kleiner und unscheinbarer. Ich ging hinüber. Ich drückte auch hier eine Klinke. Die Fenster schienen mir blind. Die Tür war verschlossen. Ein struppiger Hund lief umher. Es war sehr still auf der Straße. Ich sah keinen Menschen. Im Jahre 1932 lebten in Polen, offiziellen Angaben zufolge, 2,7 Millionen Juden. Für die Gegenwart wird ihre Zahl auf höchstens zwanzigtausend geschätzt.62

Die Vernichtung der Juden durch die nationalsozialistische Maschinerie deutet der Autor nur an, in Auschwitz hat sie ihren symbolischen Ort. Herr T. besuchte Auschwitz als Programmpunkt einer offiziellen Reise. Diesen Tagesausflug schilderte er als beeindruckendes und herausragendes Ereignis der gesamten Reise. Die Gedenkstätte beschrieb er als sehr gut und 61 Vgl.

Interview mit Herrn M. Inwiefern dieses düstere Bild der Erinnerung und Phantasie entspringt, kann heute nicht mehr entschieden werden. Vielleicht ist das schlechte Gewissen hier zu einer Vorlage einer atmosphärischen Verarbeitung geworden. 62 Fischer/Schneider: Hauptstädte, S. 66.

220   3. Reisen ins Nachbarland wichtig. Interessant ist vor allem, dass es in der deutschen Reisegruppe eine Art innere Verpflichtung gegenüber den polnischen Gastgebern gab, Auschwitz zu besuchen und nicht etwa alternative Programmpunkte auszuwählen.63 DDR-Bürger empfanden die Reise ins Nachbarland also durchaus als eine Herausforderung, sich mit deutscher Vergangenheit zu beschäftigen und zogen keinesfalls einen antifaschistischen Schlussstrich. Zumal die Konfrontation mit Polen deutsche Reisende durchaus in unangenehme Situationen bringen konnte. Negative Erfahrungen mit polnischer Ablehnung oder Beschimpfung konnten durchaus vorkommen. Zum Beispiel brach ein Pole trotz vorheriger herzlicher Unterhaltung in polnischer Sprache ein Gespräch sofort ab, als er erfuhr, dass die Gesprächspartnerin Deutsche war.64 Auch Literaturbeispiele, die sich nicht an den symbolischen Parabeln der ostdeutsch-volkspolnischen Versöhnung abarbeiteten, griffen die Skepsis und die Wut der älteren Generation von Polen auch gegenüber jungen Deutschen auf. Sowohl Löpelt als auch Schneider beschreiben in ihren literarischen Werken die wortlose Ablehnung von deutschen Partnern durch polnische Eltern.65 Wie viel komfortabler war da doch die Sicht der SED-Geschichtsschreibung, mittels der man historische Schuld zwar schwerlich negieren, aber doch mit dem Verweis auf die Gegenwart weit von sich weisen konnte. Exemplarisch dafür steht ein bereits in den achtziger Jahren verfasster Urlaubsbericht aus der Betriebszeitung der VEB Elektroschaltgeräte Grimma. Der Kurort, an dem die deutschen Touristen ihren Urlaub verbrachten, war im Zweiten Weltkrieg zerstört worden, was mit der erleichterten Replik kommentiert wurde: „Wenn man mit derartigen Tatsachen aus der jüngsten Vergangenheit konfrontiert wird, empfindet man Genugtuung, in der DDR aufgewachsen zu sein und zu denen zu gehören, die mit dem polnischen Volk freundschaftlich verbunden sind.“66 Diese Aussage könnte paradigmatisch für den Umschwung des freieren Tourismus der siebziger Jahre zum kontrollierten und geregelten Touristenaustausch der achtziger Jahre stehen. Während erstere Phase von Spontaneität und individuellen Zugriffen lebte und somit die Urlaubspraxis auch eigensinnige Ausdeutungen erfahren konnte, so war die zweite Phase durch Duktus und Form staatlich dominiert. Dies schloss Aneignungsprozesse zwar keines63 Vgl.

Interview mit Herrn T. Interview mit Frau B. 65 Vgl. Löpelt: Rosen, S. 132 und Schneider: Reise, S. 109–111. 66 SächsStA, StA-L, 20741 VEB Elektroschaltgeräte Grimma Nr. 777, Urlaub in Muszyna. Kollegin Helga Richter erinnert sich gern an den vergangenen Urlaub Teil 2, in: Schalter. Organ der Betriebsparteileitung des VEB Elektroschaltgeräte Grimma – Betrieb des Kombinats VEB Keramische Werke Hermsdorf, Nr. 15, 25. September 1985, S. 7. 64 Vgl.

3.1. Der Tourismus zwischen der DDR und Volkspolen   221

wegs aus. Da der Tourismus zwischen DDR und Volkspolen aber praktisch nur noch über offizielle Kanäle geleitet wurde, ließen die Lockungen der „nächstöstlichen Weite“ allerdings in entscheidenden Punkten nach. Dies spiegelt sich auch in der hier genutzten Überlieferung zum DDR-Tourismus wider. Reiseliteratur wie Schilderungen von Individualtourismus werden keineswegs zufällig von staatlichen und geheimdienstlichen Quellen zu Planung bis Überwachung abgelöst. Erstere Überlieferung bricht schlicht in den achtziger Jahren weg, die zweite kommt den erfahrenen Wirklichkeiten wohl auch näher. Erholung und Völkerfreundschaft sollten wieder planbar werden. Die Reaktionen der Reisenden zeigen, dass dieses Paradigma auf fruchtbaren ­Boden fiel und zumindest nach außen auch kommuniziert wurde. Urlaub in Volkspolen bekam (wieder) die Aura von wachsgebohnerten Ferienheimen, lustigen Tagesausflügen im Reisebus und inszenierter Lagerfeuerromantik. Der Standard von Unterkunft und Verpflegung wurde zum Hauptthema bei der Bewertung des Erholungsfaktors.

3.1.2. Organisierte Reisen in den achtziger Jahren Einbruch und Wiederaufnahme des Tourismus

Der Einbruch im Individualtourismus war nach der Grenzschließung enorm, organisierte Urlaubsreisen nahmen unter dem Einfluss der politischen Entwicklung ebenfalls radikal ab. Mit der Stabilisierung der Lage in Volkspolen und der Neuorganisation des Tourismus durch geplanten Austausch stieg die Anzahl der Urlauber aber wieder fast auf das Niveau der siebziger Jahre. Polnische Notizen zu den Einbrüchen der Reisezahlen geben über das Ausmaß Aufschluss. Für das Jahr 1980 und das erste Quartal 1981 wurde geschätzt, dass der Tourismus um 60 bis 70 Prozent zurückgegangen sei.67 Die DDR bezifferte die Differenz beim Jugendtourismus in Volkspolen mit minus 50 Prozent gegenüber der vorher vereinbarten Kapazität und begründete dies mit nachlassendem Interesse und der Tatsache, dass Verantwortliche wie Lehrer oder Eltern die Reise nicht gestatteten.68 Der Individualtourismus war eliminiert, Eintagesreisen mussten durch Reisebüros organisiert sein, alle Reisenden mussten sich auf Teilnehmerlisten be67 Vgl.

AAN, Główny Komitet Turystyki w Warszawie Nr. 10/81, Notatka o ruchu turystycznym pomiędzy PRL i NRD w roku 1980 i I. kwartale 1981, w porównaniu do analogicznego okresu roku ubiegłego, [undatiert], Bl. 117. 68 Vgl. SAPMO-BArch, DY 30 IV/2/2.037 Nr. 7, Information zu einigen aktuellen Problemen des Jugendtourismus zwischen der Volksrepublik Polen und der DDR, [undatiert], Bl. 124.

222   3. Reisen ins Nachbarland finden und die Zollkontrolle wurde strenger. Die DDR weigerte sich zudem, zusätzlichen Bestellungen via Reisebüro stattzugeben. Diese politisch gewollte Entwicklung fiel noch mit anderen strukturellen Problemen des Tourismus zwischen DDR und Volkspolen zusammen. Im Jahr 1980 reisten ohnehin ­weniger DDR-Touristen ins Ausland, die politische und ökonomische Lage in Volkspolen war äußerst bedenklich, sogar Benzinkupons mussten verteilt werden. Auch das Wetter war wie zum Trotz kalt und feucht.69 Für das gesamte Jahr 1981 waren die Bilanzen noch katastrophaler: Reisen aus Volkspolen in die DDR fielen um 50 Prozent, in der Gegenrichtung brach der Touristenverkehr um 80 bis 90 Prozent ein.70 Dies war für die Volksrepublik wirtschaftlich eine herber Verlust, weil die Deviseneinnahmen immer geringer wurden und im Gegensatz dazu die Devisenausgaben der polnischen Touristenbüros bereits Ende Oktober 1981 auf fast 200 Prozent der vorherigen Vergleichswerte anstiegen waren.71 Die Politik der DDR befeuerte diesen Zusammenbruch des in den siebziger Jahren erreichten Niveaus zusätzlich. Auf polnischer Seite setzte sich der Eindruck fest, alle Bemühungen zu einer Verbesserung der Lage würden durch das ‘befreundete‘ Nachbarland boykottiert. In der DDR wurde Reklame für Urlaubsreisen nach Volkspolen eingestellt. Das Reisebüro der DDR annullierte schon anberaumte Reisen und Veranstaltungen, zusätzliche wurden nicht genehmigt. Auch auf den unteren Ebenen schloss man sich dieser Blockade an: DDR-Betriebe stellten zum Beispiel die Finanzierung von Schulungen und Spezialistenveranstaltungen ein. Die Zollkontrolle wurde derart verschärft, dass dies Einfluss auf die Entscheidung zur Reise in die DDR haben musste. Volkspolen mahnte deshalb eine bessere Behandlung polnischer Reisender an. Das polnische Ziel blieb die Rückkehr zur offenen Grenze oder zumindest mehr Austausch als während der Abriegelungsphase.72 In Volkspolen bemängelte man gegenüber der DDR bis spät in die achtziger Jahre hinein, dass die Einladungspflicht bei Individualreisen sowie die Tatsache, dass Reisebürotouristen einen Fragebogen ausfüllen müssten, einer Visumpflicht gleichkomme.73 69 Vgl.

AAN, Główny Komitet Turystyki w Warszawie Nr. 10/81, Notatka o ruchu turystycznym pomiędzy PRL i NRD w roku 1980 i I. kwartale 1981, w porównaniu do analogicznego okresu roku ubiegłego, [undatiert], Bl. 117. 70 Vgl. ebd., Notatka informacyjna dotycząca ruchu osobowego między PRL a  NRD w 1981r., 15. 12. 1981, Bl. 149. 71 Vgl. ebd., Informacja w sprawie wymiany turystycznej pomiędzy PRL i NRD, Warszawa, 11. 12. 1981, Bl. 129. 72 Vgl. ebd., Bl. 129–133. 73 Vgl. SAPMO-BArch, DY 30 Nr. 12419, Information über den Personenverkehr zwischen der VR Polen und der DDR in den Jahren 1987 und 1988, 31. 12. 1988, S. 4.

3.1. Der Tourismus zwischen der DDR und Volkspolen   223

Eigenmächtig und mit heuchlerischen Begründungen entfernte man in der DDR auch die polnische Tourismuswerbung.74 In offiziellen Gesprächen von Vertretern beider Länder stellten die polnischen Berichte die Verhandlungen über diese Vorkommnisse so dar, als winde sich die DDR mit fadenscheinigen Argumenten aus der Affäre. So sei behauptet worden, die Bevölkerung der DDR befinde sich hinsichtlich der Einschätzung der Situation in Volkspolen unter dem Druck westlicher Medien. Außerdem sei noch immer die Mundpropaganda die beste Reklame für das jeweilige Reiseziel. Deswegen sei es derzeit schwer, Reisen nach Volkspolen zu verkaufen. Zudem müsste der Faktor von Preis, Bedingungen und Art der Erholung und die erzieherische Rolle des Tourismus mitbedacht werden. Trotzdem sei man bereit 40 000 polnische Gruppentouristen aufzunehmen und 6000 bis 10 000 selbst zu entsenden, für Individualtourismus sehe man jedoch keine günstigen Bedingungen.75 Für die polnische Seite war somit klar: Bei diesem Stand der Dinge und angesichts der systematischen Präsentation der Situation in Polen als nicht weniger als katastrophal durch die Massenmedien, sollte man sich nicht wundern, wenn die Einreisen nach Polen durch DDR-Bürger 1981 zehn mal geringer sein werden als 1980.76

Es ist müßig auszuführen, wie die privaten Kontakte zwischen den Bürgern beider Länder unter diesen Bedingungen litten, zumal die staatlichen Stellen und Presse zu den Geschehnissen in Volkspolen und damit implizit zur sozialistischen Aufbauleistung der Polen nicht an Kritik sparten. Nach der Aufhebung des Kriegszustandes kam das Tourismusgeschäft zwischen DDR und Volkspolen wieder in Gang. Die DDR zählte zum Beispiel 1986 eine Steigerung der privaten und touristischen Einreisen aus Volkspolen gegenüber 1985 um 30,4 Prozent. Von insgesamt ca. 495 000 Einreisen im ­privaten und touristischen Reiseverkehr entfielen ca. 67 500 auf eingeladene Reisende, knapp 100 000 Polen wurden von Vertragsarbeitern in der DDR eingeladen, ca. 326 000 Touristen reisten innerhalb offizieller Programme – darunter auch der Kinder- und Jugendaustausch – ein. In die Gegenrichtung 74 Vgl.

AAN, Główny Komitet Turystyki w Warszawie Nr. 10/81, Sprawozdanie z wyjazdu służbowego do Berlina/ NRD/ w terminie 2 – 5. 12. 1980r. delegacji w składzie: [anonymisiert] – Z-ca Dyrektora Generalnego CTO – przewodniczący delegacji, Piotr Sieniawski – specjalista – członek delegacji, [anonymisiert] – kierownik Ośrodka CTO w Berlinie – członek delegacji, Warszawa, 15. 12. 1980, Bl. 90. 75 Vgl. ebd., Notatka z rozmów dwustronnych przeprowadzonych w czasie XVI Plenarnego Posiedzenia Urzędów Turystycznych Krajów Socjalistycznych w  Warszawie w  dniu 18. 10. 1982r. między Zarządem Głównym ds. Turystyki przy Ministerstwie Komunikacji NRD a Głównym Komitetem PRL, Warszawa, 28. 10. 1982, Bl. 264/65. 76 Vgl. ebd., Notatka informacyjna dotycząca ruchu osobowego między PRL a  NRD w 1981r., 15. 12. 1981, Bl. 155.

224   3. Reisen ins Nachbarland reisten knapp 320 000 DDR-Bürger privat oder als Touristen nach Volkspolen. Davon waren etwas über 225 000 Touristen – wiederum der Kinder- und Jugendaustausch eingerechnet – und fast 65 000 reisten mit privaten Einladungen.77 In diesem Prozess der erneuten Belebung mussten die anscheinend wirkungsvoll abgeschreckten Urlauber aus der DDR propagandistisch umworben werden. Offensichtlich glaubte man beim FDGB dies sei am einfachsten mit politischer Rhetorik zu bewerkstelligen: Einen Nachholbedarf gibt es bei der Gewinnung von Werktätigen der DDR für einen Urlaubsaufenthalt in der VR Polen. Dieser Teil der Aufgabenstellung wurde dort am besten gelöst, wo von Beginn an der politische Charakter dieses Austausches in den Mittelpunkt gestellt und die Betriebsgewerkschaftsleitungen in den Betrieben auf Stützpunktberatungen mit überzeugenden Argumenten ausgerüstet wurden.78

Bei solchen Werbeveranstaltungen wurde den DDR-Urlaubern versichert, eine Anreise mit eigenem Pkw sei möglich (also musste man keine strapaziöse Zugfahrt auf sich nehmen), die Bedingungen in Volkspolen seien besser als in den Jahren davor, Alkohol werde bereits wieder verkauft, allerdings solle man Waren für den persönlichen Bedarf mitnehmen und die „Aktionen“ seien für die Beziehungen der Arbeiterklasse von politischer Bedeutung.79 Die Stoßrichtung der Tourismuspolitik der achtziger Jahre ist deutlich: In den letzten Jahren des Staatssozialismus sollte der Urlaub wieder weitestgehend vom Staat und von den Massenorganisationen organisiert und geplant werden. Vereinbarungen über einen Urlauberaustausch zwischen Betriebsgewerkschaftsleitungen mussten vom Bezirksvorstand des FDGB genehmigt werden; bei der Vergabe der Reisen sollten „kaderpolitische Richtlinien“ eingehalten werden.80 Urlaubsplätze wurden über die Gewerkschaften und Betriebe vergeben, die Partnerregionen in DDR und Volkspolen wurden auf­ gewertet. Ebenso wie bei den „Leipziger-“ und „Krakauer Tagen“ wird hier ersichtlich, wie wichtig die Partnerregionen und die eingespielten Kontakte vor allem der Systemträger für das ideologische Gewebe der Völkerfreundschaft waren. Auch der Eindruck, die planungswütigen Bürokraten hätten sich im Rückbezug auf Zahlen und Festlegungen vor den undurchsichtigen Folgen von Urlaubskontakten verwahrt, dürfte kaum trügen. Über die Verständigung 77 Vgl.

SAPMO-BArch, DY 30 Nr. 12419, Zum Reiseverkehr DDR – VR Polen, [undatiert], S. 1. 78 Ebd., DY 34 Nr. 25539, Information über die Realisierung der Maßnahmen zur Entwicklung der Beziehungen des FDGB zu den Gewerkschaften der Volksrepublik Polen (Beschluß S 1/84), 21. 3. 1984, S. 3. 79 Vgl. ebd. S. 3/4. 80 Vgl. ebd., Maßnahmeplan zur Entwicklung der Beziehungen des FDGB zu den Gewerkschaften der VR Polen [undatiert], Anlage  1, Richtzahlen für den Urlauberaustausch 1984 der Bezirksvorstände des FDGB, S. 1.

3.1. Der Tourismus zwischen der DDR und Volkspolen   225

hinaus, wer den Urlaubsaustausch organisieren sollte, wurden alle Kleinigkeiten des Auslandsaufenthaltes genauestens durchgespielt. Standard von Unterkunft und Verpflegung, Fragen von Transport, Zoll und Geldtausch wurden vorkalkuliert.81 Auch die Urlauberzahlen wurden dementsprechend schon vorher festgezurrt: Leipzig sollte in der Planungsphase des Jahres 1984 zum Beispiel 2579 Plätze für polnische Regionen stellen82; 1985 waren 4300 Plätze für polnische Urlauber im Gewerkschaftsaustausch geplant.83 Die Staatsicherheit – und wahrscheinlich nicht nur sie – führte Listen, welcher Leipziger Betrieb wie viele Urlauber austauschte.84 Im Einzelfall regelten die Betriebe den Urlauberaustausch bis ins Detail: Der VEB Elektroschaltgeräte Grimma und die Fabryka Silników Elektrycznych „Tamel“ vereinbarten, dass jeweils 36 Urlauber, unter denen keine Kinder unter drei Jahren sein durften, die Urlaubsanlagen des Seebades Bansin und im polnischen Beskidenort Nowy Sącz nutzen durften. Die Anreise sollte in Reisegruppen oder individuell per Auto oder Bahn erfolgen. Um nicht den Überblick zu verlieren, sollte eine Liste der Urlauber erstellt und übermittelt werden. Der Austausch erfolgte valutalos auf der Basis gegenseitiger Leistungen wie Vollverpflegung, Unterkunft, Verpflegungsbeuteln am Abreisetag und der unentgeltlichen Teilnahme an kulturellen Veranstaltungen am Urlaubsort. Polen bekamen pro Person und Durchgang 140 Mark der DDR als Taschengeld, Deutsche erhielten einen identischen Satz in Złoty. Die Abholung der Urlauber sollte in der DDR an der Grenze, in Volkspolen am Bahnhof erfolgen.85 Tourismus unter den Bedingungen eines staatlich bezuschussten Austausches war kein ökonomisch rentabler Faktor mehr. Ein Ferienscheck für einen 81 Vgl.

AAN, Główny Komitet Turystyki w Warszawie Nr. 10/87, Informator dla organizatorów związkowej wymiany wczasowej z NRD, Załącznik nr 1 do porozumienia generalnego: II. Zasady zawierania umów o bezdewizowej międzynarodowej wymianie wczasowej między zakładami Niemieckiej Republiki Demokratycznej i  Polskiej Rzeczypospolitej ­Ludowej, Bl. 8–10. 82 Vgl. ebd., Informacja o przebiegu prac organizacyjnych związanych z wymianą wczasową związkowców PRL i NRD w 1984r., Warszawa, 20. 3. 1984, załacznik nr 1, Bl. 52. 83 Vgl. SAPMO-BArch, DY 34 Nr. 25237, Ergebnisse des internationalen Urlauberaustausches des Feriendienstes des FDGB und der Betriebe mit der Volksrepublik Polen im Jahre 1984 und Aufgaben der gewerkschaftlichen Vorstände und Leitungen zur Vorbereitung des Austausches 1985, [undatiert], Anlage 1, Richtzahlen für den Urlauberaustausch der Betriebe 1985 der Bezirksvorstände des FDGB. 84 Vgl. BStU, MfS, BV Leipzig, Abt. II Nr. 116/01, Internationaler betrieblicher Urlauberaustausch mit der VR Polen, Leipzig Stadt/ Land, Urlaub 84 und 85, Bl. 36–49. 85 Vgl. SächsStA, StA-L, 20741 VEB Elektroschaltgeräte Grimma Nr. 337, Vereinbarung über die Durchführung des Urlauberaustausches in dem Jahr 1986 und Folgejahre, Grimma/Tarnów, 25. 10. 1985, S. 1/2.

226   3. Reisen ins Nachbarland Urlaubsplatz des VEB S.M. Kirow kostete beispielsweise nur 150 DDR-Mark.86 An erster Stelle stand Freundschaftspropaganda wie das „persönliche Kennenlernen“ zum Ziele der „Stärkung der sozialistischen Staatengemeinschaft“.87 So hieß es in einer Vereinbarung des VEB S.M. Kirow Leipzig mit seinem Partnerbetrieb umständlich: Die Aufgabe beider Gewerkschaftsorganisationen unserer Länder besteht darin, die brüderlichen Beziehungen zwischen den Werktätigen beider Staaten ständig weiter zu entwickeln und zu festigen. Ein Mittel zu diesem Zweck ist der internationale Urlauberaustausch, wo die Werktätigen unserer Betriebe die Möglichkeit erhalten, ihre Erfahrungen auf dem ­Gebiet der politischen, ökonomischen und kulturellen Entwicklung unserer Länder aus­ zutauschen.88

Die sozialistische Tourismusplanung musste also den Spagat zwischen Ideologie und Bedürfnis nach Ausland, zwischen staatlicher Kontrolle und individuellen Bedürfnissen, zwischen subventioniertem Auslandstourismus und permanenten Mangelerscheinungen schaffen. Der Urlauber sollte hier eingespannt werden; die politische und wirtschaftliche Stabilität Volkspolens und die Wahrnehmung der Touristen untereinander und des Nachbarlandes blieben ein neuralgischer Punkt. Auch in Reaktion auf diese komplexe Konstellation schrieben die Touristen der DDR zahlreiche Berichte über ihre Urlaube in Volkspolen.

Das Berichtswesen In allen Reiseberichten zu Urlauben in Volkspolen schwingen mehrere Aspekte, die wiederum in engem Zusammenhang miteinander stehen, mehr oder weniger unverhohlen mit: Den Grundtenor jeder Beobachtung bildete die politische und ökonomische Situation des Nachbarlandes nach den Einschnitten am Anfang der achtziger Jahre. Noch während des Kriegszustandes standen alle Zeichen der Beobachtung auf unverhohlener Kritik. Die später gewaltsam hergestellte ‚Normalisierung‘ und Stabilität – zudem noch von größerer Armut und bemerkbarem Mangel wie auch von erstaunlichen Konsummöglich86 Vgl.

ebd., 20818 VEB Schwermaschinenbau S.M. Kirow Leipzig Nr. 1377, Einschätzung über den internationalen Urlauberaustausch zwischen VEB S.M. Kirow und stomil Debica., Leipzig, 23. 9. 1986, S. 1. 87 Vgl. SAPMO-BArch, DY 34 Nr. 25539, Maßnahmeplan zur Entwicklung der Beziehungen des FDGB zu den Gewerkschaften der VR Polen [undatiert], Anlage 1, Richtzahlen für den Urlauberaustausch 1984 der Bezirksvorstände des FDGB, S. 1. 88 SächsStA, StA-L, 20818 VEB Schwermaschinenbau S.M. Kirow Leipzig Nr. 1377, Vereinbarung über den internationalen Urlauberaustausch zwischen den Leitungen der Gewerkschaftsorganisationen und der Betriebsleitungen der Betriebe Debickie zaklady Opon Samochodowych „Stomil“ in Debica und dem VEB Schwermaschinenbau „Takraf “ VEB S.M. Kirow Leipzig [sic!], [undatiert], S. 1.

3.1. Der Tourismus zwischen der DDR und Volkspolen   227

keiten im privaten Sektor geprägt – erstaunte DDR-Urlauber. Der direkte oder indirekte Vergleich mit der DDR und die Bewertung polnischer Verhältnisse flossen maßgeblich mit in die Schilderung der Urlaubserfahrungen ein. So blieben in den achtziger Jahren Beobachtungen und Erklärungsmodelle der polnischen Krise ein stetes Moment der Reflektion von DDR-Urlaubern. Ein systemimmanenter Faktor dieser Reflektion ist, dass der Urlaubsort in Berichten immer evaluiert wurde und die Zufriedenheit bzw. Unzufriedenheit mit den vorgefundenen Bedingungen eingehend thematisiert wurden. Die Urlaubsobjekte und -orte wurden häufig überschwänglich gelobt und mindestens ebenso oft als katastrophal und ungenügend kritisiert. Als Folie des Standards von Unterkunft und Verpflegung galten die Erfahrungen mit Urlaubsanlagen in der DDR. Ein wichtiger Faktor des gelungenen Urlaubs waren die reibungslose Organisation und Ablauf desselben. Gab es Probleme, Missverständnisse oder gar Konflikte so war dies ebenfalls ein stetes Thema in Berichten. Im Mittelpunkt standen hierbei besonders oft die deutsch-polnischen Kontakte. Das Verhältnis zu polnischen Dolmetschern, Urlaubern und der polnischen Bevölkerung wurde zumindest unterschwellig mitbewertet. Diese Einschätzungen vermengten sich dabei auch mit den Gesamteindrücken der Urlaubstage. Bot der Polenurlaub nicht die gewünschte Erholung, wurden persönliche und strukturelle Elemente oftmals miteinander vermengt. Im Gegensatz dazu stand der Topos der Völkerfreundschaft und -verständigung, der in vielen Urlaubsberichten gepflegt wurde. Viele Berichtende erwarteten offensichtlich von ihrem Urlaub in Volkspolen, dass es zu einer herz­ lichen Begegnung zwischen Polen und Deutschen kommen solle. War dies der Fall, wurden diese Treffen schwärmerisch hervorgehoben, gab es keinen oder kaum Kontakte, wurde auch dies hin und wieder bemängelt. Die wohlwollende Rede und die eingespielte Geste der Völkerfreundschaft gehörten zum sozialistischen Urlaub der achtziger Jahre dazu. Gerade in solchen Be­ reichen verschwimmen ideologische Forderungen und Verlautbarungen mit dem Habitus des DDR-Urlaubers. Einerseits bedienten die Berichte sicherlich die Erwartungen der Politik und die gesellschaftlichen Gepflogenheiten. Andererseits spiegeln Schilderungen eines gelungenen Beisammenseins trotz ­aller Vorhersehbarkeit auch die Freude und langsam einsetzende Spontaneität der Begegnungen wider. Wie sehr also im Tourismus zwischen DDR und Volkspolen offizieller ­Wille und planbarer Kontakt mit eigen-sinniger Umsetzung und privaten Urlaubsbekanntschaften zusammenfielen, muss für den Einzelfall entschieden werden. Allerdings ist die geringe Quellendichte ein kaum zu lösendes Problem. Erkennbar ist, dass sich deutsche wie polnische Urlauber in vielen Fällen

228   3. Reisen ins Nachbarland freundschaftlich begegneten. Die spezifisch sozialistische Organisation des Massentourismus, also die Wahl des Urlaubsortes, Unterbringung und ähn­ liches beförderten oder verhinderten die Möglichkeit der Begegnung. So konnten sicherlich Vorurteile abgebaut und Bekanntschaften gemacht werden. Gerade bei der Beschaffung von Urlaubsplätzen oder Einladungen wurden auch informelle Kanäle nutzbar gemacht, wie insbesondere die Korrespondenz zwischen den Systemträgern gezeigt hat.89 Die generelle Situation des Mangels und die Konkurrenz um knappe Ressourcen bedingten aber auch eine voreingenommene Begegnung von Deutschen und Polen. Hinzu kam, dass die polnische Wirtschaft wie auch das politische System in den Augen der reisenden DDR-Bürger als unzuverlässig galten und die Versorgungslage und Armut in Volkspolen diese Vorannahmen vielfach auch tatsächlich bestätigten. So war die Reise nach Volkspolen oftmals eine positive Bestätigung des in der DDR erreichten Lebensstandards und der Urlaub wurde als Dienstleistung des Systems verstanden. Die deutsch-polnischen Beziehungen auf der privaten Ebene konnten unter diesen Vorzeichen erheblich leiden.

Der Urlaubsort In den achtziger Jahren war eine Reise nach Volkspolen eine gefühlte Bevorzugung. Der Faktor Ausland und die vergleichsweise günstigen Reisekosten spielten hier eine Rolle.90 Das Preis-Leistungs-Verhältnis hatte in betriebsinternen Berichten eine besondere Bedeutung. „Ein Ferienplatz in dieser Qualität und der guten Unterkunft für 150,-M muß als Auszeichnung bezeichnet werden“ hieß es zum Beispiel in einer Bewertung. Angeboten wurden demnach eine „komfortable“ Unterkunft und „sehr gute“ Verpflegung.91 Wie die Beliebtheit eines Urlaubsortes deshalb schlagartig gerade im Vergleich mit dem betriebseigenen Ferienheim in der DDR ansteigen konnte, wird im selben Dokument sichtbar: „In den Jahren 1984/1985 war die Nachfrage nach den poln. Ferienplätzen sehr zurückhaltend. Im Jahre 1986 konnten bei weitem nicht alle Nachfragen erfüllt werden und es zeichnet sich ab, daß in den folgenden Jahren die Nachfrage steigt.“ Da besonders die Verpflegung besser gewesen sei, müsse man annehmen, „daß die poln. Seite diese Frage bemängeln wird und wir müssen uns darauf einstellen.“92 Denn was für die deutsche Seite ein Vorteil war, geriet der polnischem zum Nachteil. Für 89 Siehe

Kapitel 2.1. Interview mit Herrn L. 91 Vgl. SächsStA, StA-L, 20818 VEB Schwermaschinenbau S.M. Kirow Leipzig Nr. 1377, Einschätzung über den internationalen Urlauberaustausch zwischen VEB S.M. Kirow und stomil Debica, Leipzig, 23. 9. 1986, S. 1. 92 Vgl. ebd., S. 1/2. 90 Vgl.

3.1. Der Tourismus zwischen der DDR und Volkspolen   229

die polnischen Urlauber sei im Vergleich von deutschem und polnischem Urlaubsort ein „deutscher“ Eintopf sicherlich nur wie eine „polnische“ Vorsuppe, wiegelte der Berichtende ab.93 Die Verpflegung in der Kirow-Ferienanlage war also deutlich dürftiger. Der Vertrag solle – so folgerte der Berichtende – deswegen möglichst verlängert werden. In einer anderen Einschätzung riet ein Urlauber der VEB Kirow davon ab, den Urlauberaustausch in die Masuren weiterzuführen.94 Beide Einschätzungen bewerteten den Urlaubsort vor allem anhand seiner Ausstattung; war diese gut, stieg dementsprechend die Nachfrage und eine neue Mangelsituation war die Folge. Der Urlaubsort war ein umkämpftes Privileg; in der ostdeutsch-volkspolnischen Verschränkung konnte um Pfründe geschachert werden. Die Tatsache, dass man an seinen Urlaub einen hohen Anspruch hatte und dies mit einer hohen finanziellen und organisatorischen Beteiligung der Sozialsysteme der DDR in Verbindung stand, verstärkte die systemspezifische Bindungen von Freizeit und Konsum an die Stabilität und prinzipielle Un­ hinterfragbarkeit des Status quo. Wenn einerseits die staatlichen Institutionen die Möglichkeit und die Qualität eines Urlaubs in Volkspolen erst gewährleisteten, banden sich daran andererseits Modalitäten und Kontrollierbarkeit der Reise. Nahm man die „Auszeichnung“ in Anspruch, stimmte man dem ins­ titutionalisierten Konzept einer Gruppenreise zu. Nach außen konnte der ­Urlaub also nur gelobt werden. Intern war zwar Kritik möglich, das Modell war jedoch als solches unantastbar und unreformierbar. Schon deswegen war der Ablauf einer organisierten Gruppenreise nach Volkspolen von den angebotenen Leistungen, über das Programm und die Erwartungen der Urlauber bereits vor der Reise ziemlich verlässlich festgesteckt und durchgeplant. Paradoxerweise mussten so Unregelmäßigkeiten und Probleme besonders auffallen. Abweichungen von den festgezurrten ‚Gesetzmäßigkeiten‘ auf der einen oder anderen Seite der ‚Vertragspartner‘ – beim sozialistischen Urlauber und beim kontrollierenden Staat – führten zwangsläufig zu Problemen und Gemurre. Ein gelungener Urlaub sollte reibungslos und erholsam verlaufen, ohne dass die Ziele von Staat und Urlauber miteinander in Konflikt gerieten. Nach Möglichkeit sollten auch die Beziehungen zwischen Deutschen und Polen in freundschaftlichen und herzlichen Kontakten ihre Bestätigung finden.

93 Vgl.

ebd., S. 1. ebd., Einschätzung des Urlaubes zur Urlauberaustauschvereinbarung mit Motochem Gliwice in Wegorczewo [sic!] (Masurische Seenplatte) vom 01. 08. bis 15. 08. 1988, [undatiert].

94 Vgl.

230   3. Reisen ins Nachbarland An einen ziemlich typischen Urlaub von Leipzigern in Volkspolen erinnert sich ein ehrenamtlicher Leipziger Reiseleiter: Die Leipziger Gruppe reiste unter seiner Ägide nach Krynica in den polnischen Beskiden. Er versuchte, den reibungslosen Ablauf des Urlaubs zu gewährleisten, indem er Formalitäten abwickelte, Programmpunkte verkündete und Wünsche und Probleme vor Ort verhandelte. Als Gegenleistung mussten der Reiseleiter und seine Frau nichts für diesen Urlaub bezahlen. Die angebotenen Fahrten an Ausflugsziele wie Zakopane, Wieliczka oder Krakau wurden von ihm koordiniert, bei Einzelwünschen nahm er Abmeldungen entgegen. Ferner standen Naherholung wie Wanderungen und auch gemeinsam organisierte Abendveranstaltungen wie ein als besonders gelungen erinnerter Maskenball auf dem Programm. Am Urlaubsort stand ihm eine Dolmetscherin zur Seite. Man habe sich mit­ einander ausgetauscht, die Dolmetscherin habe ihn auch privat eingeladen, worauf er sich mit einer eigenen Einladung revanchierte. Insgesamt war der Urlaub eine angenehme „Erlebnisreise“: Ja, […], ich hab’ das als sehr angenehm empfunden, das war […] auch […] sehr gut organisiert, die ganze Sache. Die haben aus dem relativ wenigen, was es so an […] Versorgung, an Essen gab, haben die also wirklich was gemacht. […] Es war […] auch von der Betreuung der Urlauber […] sehr gut. Also die haben alles möglich gemacht, was da irgendwie möglich zu machen ging, bis zum Zahnarztbesuch.95

Gerade die Beziehung zwischen Reiseleitern und Dolmetschern waren offenbar ein Quell näherer privater Kontakte, was angesichts der engen Zusammenarbeit jedoch nicht so sehr überrascht. Touristen aus der DDR lobten ­ihren Dolmetscher in aller Regel für seine Bemühungen und beschrieben ein gutes persönliches Verhältnis zu dieser Bezugsperson.96 Auf der Ebene gewisser Funktionen und damit bedingter Zusammenarbeit zwischen Deutschen und Polen war eine Annäherung nur logisch. Manchmal wurde das durchaus als gelungen dargestellte touristische Programm mit Wanderungen und Stadtbesichtigungen durch infrastrukturelle Defizite getrübt, wenn zum Beispiel die Nachtruhe gestört wurde, man in den Zimmern mit Ungeziefer kämpfte, es kein warmes Wasser gab oder die Sanitäranlagen ungepflegt waren.97 Viele Berichte verstetigen das Bild der rück95 Vgl.

Interview mit Herrn L. Auch die Freundin von Frau T. war die Dolmetscherin einer von Frau T.’s Mann geleiteten Reisegruppe. Dies allerdings bereits in den siebziger Jahren. Vgl. Interview mit Frau T. 96 Vgl. SächsStA, StA-L, 21706 FDGB-Bezirksvorstand, Finanzarchiv Nr. 1300/505 [vorläufig], Betr.: Reisebericht über eine Reise nach Karpacz vom 18. 8.–31. 8. 1986, Anlage  2, Reisebereicht der an die Heimleitung des Erholungsheims „Lesny Zamek“ in Karpacz uliza Zamkowa 1 [sic!], übergeben wurde, S. 2. 97 Vgl. ebd., Reisebericht Reisegruppe nach Szklarska Poreba, VR Polen, vom 02. 07. 86– 15. 07. 86, Markranstädt, 17. 7. 1986, S. 1.

3.1. Der Tourismus zwischen der DDR und Volkspolen   231

ständigen Volksrepublik Polen, die in einer tiefen ökonomischen Krise stecke. Positiv Auffälliges wurde durchaus hervorgehoben, allerdings sollte der Urlaub in Volkspolen den Standards der Erholung genügen und sollte nicht strapaziös oder primitiv sein. Daher nahmen einige Berichte die flexible Position von Verbesserungsvorschlägen und mehr oder weniger unverhohlener Kritik vor allem an der polnischen aber auch an der deutschen Seite ein. Beispielhaft für diese Haltung war ein Reisebericht zum einem Urlauberaustausch der Kirow-Werke. Nach einer anstrengenden 880 km langen An­reise – erwähnt wurde immerhin, dass die polnischen Straßen gut seien – fand man sich in „primitiven Bungalows, ohne Heizung, Wasser und sonstigen Komfort wieder“ wieder, zum Verstauen des Gepäcks gab es „bescheidene Regale“. Es wurde weiter notiert: „Zerrissene Bettwäsche und auch die Sauberkeit ließ zu wünschen übrig.“ Die sanitären Anlagen waren ebenfalls wenig komfortabel: Gemeinschaftsduschen, getrennt für Männer und Frauen, vom Bungalow ziemlich weit entfernt, bei Regen und schlechtem Wetter sehr kalt und naturverbunden (Frösche). Warmes Wasser nicht ausreichend, da nachts von Zeltlern und Segelbooten, welche am Steg anlegen stark besucht. Unangenehme Atmosphäre.

Während das Essen „landesüblich“ und „schmackhaft“ war, war das Abendbrot wiederum „zu wenig und zu einseitig“. Über den Verlauf des Urlaubs wird bekannt, dass er wenig Höhepunkte bot, das Verhältnis zu den polnischen Betreuern aber gut war und durch Gemeinschaftserlebnisse noch gesteigert wurde: In W. ist nichts los, auch die Einkaufsmöglichkeiten sind sehr beschränkt. Nach 18,00 Uhr wird der Speisesaal geschlossen und man hat nur die Möglichkeit sich in dem ungemütlichen Bungalow aufzuhalten. Für die deutschen Urlauber […] wurde eine Busfahrt nach der Wolfsschanze der Stadt Ketryzin und Besichtigung einer Kirche in … durchgeführt. Außerdem wurde mit uns eine Bootsfahrt auf den Masuren mit Verabreichen eines Imbißes und Getränke kostenlos durchgeführt. Von polnischer Seite wurde alles unternommen um den Urlaub für uns gut zu gestalten. Der Heimleiter war sehr nett und hat uns viele Wünsche erfüllt. Die Leipziger Delegation des Kirow Werkes hat zu einem kleinen Umtrunk eingeladen, welcher gut angekommen ist. Der Kollege [geschwärzt], stellv. BPO-Sekretär ist nach 5 Tagen zurück gefahren, da es ihm absolut nicht gefallen hat. Im Objekt befindet sich ein Kaffee – genannt auch Bar. Aber außer Kaffee und Tee ist nichts im Angebot. Wollte man Bier, Wein o.ä. trinken, so muß man diese Dinge von zu Hause mitbringen. […] Das Objekt liegt in einem Wald unmittelbar am See. Jeder Bungalow hat eine Terrasse mit Blick auf den See. Campingstühle stehen bereit. Für Campingfreunde – welche sich nur in einem Trainingsanzug bewegen möchten, ist dieses Objekt sicherlich ideal. Montochem [der Partnerbetrieb] hat einen Bootssteg, wo man mit Segelbooten, Motorbooten u. a. anlegen kann. Der Betrieb verfügt über eine große Segeljacht, ein Motorboot und Wassertreter. Motorboot und Segeljacht können nur mit Erlaubnis für das Führen von Wasserfahrzeugen benutzt werden. Gegen die Abgabe von 10  l Benzin hatten wir die Möglichkeit mit dem Motorboot eine Fahrt zu unternehmen. Es war jedoch immer der verantwortliche Kollege von Montochem an Bord.

232   3. Reisen ins Nachbarland Der Fußweg vom Ferienobjekt bis W. ist auf einer schlechten Straße (bei Regen verschlammt) in ca. 30 Minuten zu erreichen. Die Obst und Gemüseversorgung ist besser als in unserer Republik, aber die Preise sind sehr hoch. So kosten z. B. 1  kg Aprikosen ca. 20,00 M, 1 kg Weintrauben 48,00 M, 1 kg Paprika 12,00 M, 1 kg Bananen 60,00 M […] es ist aber reichlich vorhanden. Die Landschaft kann mit Mecklenburg verglichen werden, vom Tourismus spürt man noch nicht allzu viel. W. wird ausgebaut, um es als Urlaubsparadies zu geniessen, muß noch viel getan werden. Das Wasser in dem See ist nicht sauber, naturtrüb, Bademöglichkeiten sind aber vorhanden. Als Fazit schätze ich von meiner Person ein, den Urlauberaustausch für 1989 nicht abzuschließen. Die Anreise ist zu weit, um dann so primitiv wohnen zu müssen [sic!].98

Der Bericht lässt insgesamt das Bemühen erkennen, die Situation weder zu beschönigen noch schonungslos zu kritisieren. Er verfällt manchmal sogar in eine unbeholfen ironische Schilderung, wenn zum Beispiel Frösche in den Duschräumen mit „naturverbunden“ klassifiziert werden. Die Probleme einer unterentwickelten Tourismusregion werden aus der Sicht eines Urlaubers aus der DDR benannt, Vergleiche gezogen und sogar vorsichtiges Lob ausgesprochen. Besonders die polnischen Betreuer wurden gelobt und ein „kleiner ­Umtrunk“ extra hervorgehoben. Dass man sich insgesamt mehr Komfort, ein attraktiveres Programm und über Obst und Gemüse hinaus auch andere Konsum­möglichkeiten gewünscht hätte, wird jedenfalls überaus deutlich.

Einkauf im Urlaubsland Einkaufsmöglichkeiten und die von (Schwarz-)Märkten und Basaren geprägte Konsumlandschaft Volkspolens lockten und faszinierten DDR-Bürger. Kaum ein Bericht lässt die Versorgungslage aus, viele beschreiben das Konsumangebot und schildern das Schlendern über Märkte. Es fiel sehr wohl auf, dass – obwohl in Volkspolen gewisse Versorgungsprobleme herrschten – an den Touristenorten andererseits große Märkte „mit allem möglichem Krempel“ und zudem mit Westprodukten aus dem Boden schossen.99 Selbst wenn man sich in erster Linie für die touristischen Attraktionen interessierte, habe man doch das eine oder andere vom Markt in Zakopane mitgebracht und genauso gern den Polen mit Mitbringseln einen Gefallen getan. In den Touristenregionen habe es auch schon sehr viele Autos westlicher Fabrikate gegeben, was die Dolmetscherin so kommentiert habe, dass die Polen Geld hätten, der Staat jedoch arm sei, erinnert sich Herr L.100 Andere Touristen aus der DDR mach  98 Alle

Zitate vgl. ebd., 20818 VEB Schwermaschinenbau S.M. Kirow Leipzig Nr. 1377, Einschätzung des Urlaubes zur Urlauberaustauschvereinbarung mit Motochem Gliwice in Wegorczewo (Masurische Seenplatte) vom 01. 08. bis 15. 08. 1988, [undatiert], S. 1–3.   99 Vgl. Interview mit Herrn L. 100 Vgl. ebd.

3.1. Der Tourismus zwischen der DDR und Volkspolen   233

ten wenig Hehl daraus, zum Einkaufen nach Volkspolen zu fahren. Weil sie jedoch an den Gepflogenheiten des polnischen Schwarzmarktes scheiterten, ist ihr Schicksal für die Staatssicherheit von einer Reiseleiterin aufgezeichnet worden: Diese Gruppe machte einen merkwürdigen Eindruck. Interessiert waren die einzelnen Gruppenmitglieder kaum. Wenn ich organisatorische Dinge ansagte, quatschte man, danach wurde ich ständig gefragt, was nun eigentlich im Programm sei. Sie waren auch sehr auf den Einkauf bedacht. Sie schienen auch keinen Geldumtausch in der DDR getätigt zu haben. Wie ich hörte, nahmen sie an, die polnischen Bürger würden ihnen nachlaufen. Bei einem Kiosk erwischte ich einige Frauen, die mit unserem Geld zahlen wollten. Ich machte ihnen klar, daß hier nur polnische Währung Gültigkeit hat. Sie wollten im Reisebüro keinen Hinweis erhalten haben, daß sie ihr Taschengeld auf der Staatsbank vor Antritt der Reise tauschen müssen. Nur wenige hatten davon Gebrauch gemacht. In Jelena Gora, kurz vor der Abfahrt am 11. 6. nach Cieplice traf ich einige Frauen vor einem Lampengeschäft, wo sie heftig diskutierten und wo es immer um ‚nur die 120  Zt. [Złoty]‘ ging. Ich fragte, was los war, da erzählte mir einen folgenden Zwischenfall. In Karpacz, an der Sesselliftstation hatte sie einen Mann wegen Geldtausch angesprochen. Er hatte ihnen 1:12 geboten, was natürlich für diese ‚Handelsleute‘ unheimlich günstig erschien. Es waren 4 Frauen, also tauschte jede 100 Mark, d. h. insgesamt 400 Mark. Der Mann zählte ihnen das Geld vor, übernahm die 400 Mark, eine Frau übernahm das polnische Geld. Sie zählte nach und es stimmte nicht. Da nahm der Mann das Geld zurück, zählte noch einmal auf seine Art vor, daß es stimmte, gab es zurück und verschwand. Als die Frauen nun erneut zählten, stellten sie fest, daß die 4 Tausender weg waren und für jede Frau noch 120 Zt. verblieben (in kleinen Scheinen). Ich habe gefragt, ob und warum sie zuhause nichts getauscht hatten. Sie wollten es nicht gewußt haben. Ich habe sie darauf verwiesen, daß wenn sie erwischt worden wären beim illegalen Geldtausch, daß sie bestraft worden wären, und, daß wenn jemand überhaupt kein Geld hat immer noch im Hotel eine legale Tauschmöglichkeit besteht [sic!].101

Eigentlich ist kaum anzunehmen, dass die Reiseleiterin so naiv war, die technischen Kniffe und besseren Kurse des illegalen Geldtausches nicht zu kennen – zumal ja sogar die Touristen eingeweiht waren und entweder auf den Geldtausch in der DDR verzichtet hatten oder weiteres Geld vermeintlich günstiger tauschen wollten. Handelsgebaren am Urlaubsort war ein allgemeines Phänomen, im Bericht der Reiseleiterin scheint eher durch, dass sie sich durch die wenig aufmerksame Gruppe gekränkt fühlte und deren ungeschickte Vorgehensweise mit einer gewissen Schadenfreude zur Kenntnis nahm und weitertrug. In einem ebensolchen Duktus der Uneingeweihten gab sie auch ein Tischgespräch einer anderen Reisegruppe wider, die ebenfalls sehr gut in die polnischen Marktverhältnisse eingeführt war:

101 BStU,

MfS, BV Leipzig, AIM Nr. 2588/84 II/1, Betr.: Benehmen der Gruppe Hauptdirektion Spezialhandel 7022 Leipzig, Gohliser Straße 13, FahrtNr. 6/740034 vom 10.–12. 6. 79, [undatiert], Bl. 104.

234   3. Reisen ins Nachbarland Herr [geschwärzt] erzählte uns, daß vom 28.–30. 9. 80 schon eine Gruppe von diesem Institut in Karpacz war. Die Kollegen hätten erzählt, sie sollten kein Geld auf der Bank tauschen, denn hier in Polen bekäme man auch in den Läden alles auf unser Geld. Auch Herr [geschwärzt] und Herr [geschwärzt] bestätigten dies. Sie erzählten auch, daß sie nichts getauscht hätten und wollten auch wissen, daß von dieser Gruppe kaum einer Geld getauscht hätte. Die Gruppenmitglieder kauften sehr viel ein, z. B. Herr [geschwärzt] einen Schafwollpullover, Safari Hemden u. a.. Vor allem wurden Schafwolljacken an Ständen viel gekauft. Manche Fahrtteilnehmer nahmen 2 dieser Jacken mit, jede ca. 130–150,-Mark. Ferner wurden auch viel Kunstlederjacken gekauft, Preis 200,-Mark, ebenso Safari-Hemden [sic!].102

„Völkerfreundschaft“ und Konfliktpotentiale Was bei der Auswertung der Quellen immer wieder auffällt, ist die Diskrepanz zwischen den Beteuerungen, das Verhältnis zu den Polen sei ausgesprochen herzlich gewesen, und den vielen Zeugnissen, in denen Vorurteile, Voreingenommenheit und seltener offene Konflikte zum Tragen kommen. Das ideologisch ‚korrekte‘ Grundanliegen geriet mit dem Alltag in Konflikt. Die Erklärung hierfür liegt in den komplizierten und vielfach asymmetrischen ostdeutsch-volkspolnischen Beziehungen, wie sie bereits Thema dieser Arbeit waren. Die verordnete Freundschaft und die Übernahme bzw. auch glaubwürdige Aneignung dieses Diskurses prallten auf das negative Vorwissen des kommunikativen Gedächtnisses und auf die medial und gesellschaftlich aufgebauten Erfahrungen mit dem ‚unzuverlässigen‘ Blockpartner Volkspolen. Die immer wieder zur Schau gestellte Freundschaft war auch eine unbewusste Projektion des historisch befleckten Gewissens. Das negative Polenbild speiste sich zudem zu einem Gutteil aus der Enttäuschung und gleichzeitigen merkwürdigen Schadenfreude, dass die sozialistische Utopie unter den realen (polnischen) Bedingungen auf erhebliche Widersprüche stieß. Hier war die DDR einerseits eine positive Projektionsfläche, andererseits konnten so Zweifel an der Effektivität des staatssozialistischen Projektes als Gesamtes umgeleitet werden. Die Betonung, den Urlaub und die Kontakte mit Polen genossen zu haben, wurde ein immer wiederkehrendes Motiv der Reiseberichte. Dass viele dieser Kontakte, die in der lockeren Atmosphäre am Urlaubsort und größtenteils an dafür inszenierten Kontaktorten stattfanden, Ausdruck echter Sympathie waren, soll nicht in Frage gestellt werden. Auffällig ist nur, wie oft und betont sie den Weg in die Bilanzen der Berichtenden fanden. Getreu dem Motto, man habe in einer schönsten Gegenden „der mit uns befreundeten VR Polen […] das Land und [die] Menschen näher kennengelernt und es wurden viele per102 Ebd.,

Betr.; Fahrt 10/740067 vom 10.–12. 10. 80 nach Karpacz – Institut für Energetik Leipzig, 21. 10. 1980, Bl. 285.

3.1. Der Tourismus zwischen der DDR und Volkspolen   235

sönliche Kontakte geschlossen“103, lesen sich viele Berichte. Der Urlauberaustausch trug laut einem Bericht zur Vertiefung der Freundschaft beider Länder bei, weil das Verhältnis zu den polnischen Urlaubern gut gewesen sei und man in vielen Gesprächen Freundschaften geknüpft habe.104 In einer anderen Schilderung bot das vorgegebene Programm alle Möglichkeiten, Land und Leute kennen zu lernen.105 Die Kontaktorte waren gleichbleibend und voraussehbar – so waren es zum Beispiel gleich drei kostenlose Abendveranstaltungen mit Tanz, bei denen es die Möglichkeit gab, Kontakte mit polnischen ­Urlaubern zu knüpfen und zu vertiefen.106 Gerade in letzterem Bericht wird deutlich, dass ein solches Lob als obligatorische Beteuerung zum Konsens zwischen Urlaubern und DDR-Funktionären gehörte. Denn die Bedingungen des Urlaubs waren insgesamt so unkomfortabel gewesen, dass 26 Urlauber schon vorher abgereist waren.107 Die Integration von unten funktionierte hier formal aufgrund von Rahmenbedingungen nicht, was aber den gut gemeinten Impetus nicht in Frage stellen durfte. Deswegen ist es nur scheinbar verwunderlich und systemimmanent logisch, dass angeblich alle Teilnehmer einer anderen Reise bemängelten, wegen organisatorischer Fehlleistungen habe man keine polnischen Urlauber kennen gelernt.108 Eine weitere Quelle führt die Verquickung von inszenierter Authentizität und Praxis ausnehmend deutlich vor Augen: Eine gemeinsame Busfahrt und ein Lagerfeuer brachten uns [deutsche wie polnische Urlauber und Betreuer] einander näher. Beim gemeinsamen Lagerfeuer wurde Wurst am Spieß gebraten und gesungen. Natürlich zierten wir Deutschen uns zunächst, aber nach entsprechender Erwärmung durch das Lagerfeuer und ein paar Schnäpschen (mit Alkohol muß sich jeder selbst versorgen) sangen wir laut und lange sogar die polnischen Lieder und lustigen Tanzlieder (besonders die werden uns noch lange in Erinnerung bleiben) mit.109

103 Vgl.

SächsStA, StA-L, 21706 FDGB-Bezirksvorstand, Finanzarchiv Nr. 1300/505 [vorläufig], Betr.: Reisebericht über den Ferienaufenthalt im EH „Lesny Zamek“ in Karpacz – Ortsteil Bierutowicz-Pegas – vom 17. 06.–30. 06. 86, Grimma, 7. 7. 1986, S. 2. 104 Vgl. ebd., Reisebericht Reisegruppe II Bezirk Leipzig, Lubnowice, 29. 9. 86. 105 Vgl. ebd., Betr.: Reisebericht über eine Reise nach Karpacz vom 18. 8.–31. 8. 1986, Anlage 2, Reisebereicht der an die Heimleitung des Erholungsheims „Lesny Zamek“ in Karpacz uliza [sic!] Zamkowa 1, übergeben wurde, S. 2. 106 Vgl. ebd., S. 2. 107 Vgl. ebd., Anlage 3, Ergänzung zum Reisebericht über eine Reise nach Karpacz vom 18. 8.–31. 8. 1986, S. 1. 108 Vgl. ebd., Reisebericht des Bezirkes Leipzig – 16. 10.–29. 10. 1986 nach Zakopane (FWP Postep), Wurzen, 4. 11. 1986. 109 Ebd., 20741 VEB Elektroschaltgeräte Grimma Nr. 777, Urlaub in Muszyna. Kollegin Helga Richter erinnert sich gern an den vergangenen Urlaub Teil 1, in: Schalter. Organ der Betriebsparteileitung des VEB Elektroschaltgeräte Grimma – Betrieb des Kombinats VEB Keramische Werke Hermsdorf, Nr. 14, 11. September 1985, S. 7.

236   3. Reisen ins Nachbarland Urlaubserfahrungen in Volkspolen wurden zu einem kollektiv abrufbaren ­Erlebnis gelungener deutsch-polnischer Verständigung. Sie waren glaubhaft und doch speisten sie sich zu einem gewissen Grade aus einer am Urlaubsort zu überwindenden Distanz. Negative Urlaubserfahrungen und Konfliktpotentiale sind häufig Inhalt der Akten der Staatssicherheit, was sicher mit der Logik ihrer Entstehung im Zusammenhang steht. Die für die Staatssicherheit Berichtenden entwickelten ein gutes Gespür dafür, dass sie vor allem Probleme und Konflikte kolportieren sollten. Dies allein ist aber noch kein Grund, der Berichterstattung grundsätzlich zu misstrauen, so dass sie als Quelle zur Rekonstruktion von Urlaubs­ reisen durchaus geeignet ist. Das Thema einer schwierigen Verständigung zwischen Deutschen und Polen schwingt in den meisten Quellen – wenn man die den Berichten zu Grunde liegenden Dispositionen ausleuchtet – mit: Eine ideologisch einwandfreie, systemkonforme Haltung mischte sich mit unterschwelligen und deshalb der eigenen Einstellung widersprechenden Vorurteilen gegenüber Polen, mit Feindbildern gegen die „Solidarność“ und mit der Verklärung der eigenen Position. Die als IM angeworbene Reiseleiterin beschrieb das Verhalten einer Gruppe als „sehr überheblich und arrogant“. Sie erläuterte: So fuhren wir am 18. 10. von Karpacz nach Szklarska Poreba. Kurz hinter Karpacz fuhren wir durch ein Dorf. Die Gromada-Reiseleiterin erzählte, daß hier ein großes Gestüt sei und hier besonders Reitpferde gehalten werden, die man gegen West-Währung ausleihen könnte. Herr [geschwärzt], der vorn hinter dem Fahrer saß, bemerkte sofort, daß die Polen ja nur von uns die Pferde hätten. Ein Stück weiter ging an der Straßenseite ein Bauer, der ein Schwein an einem Strick führte. Gleich rief Herr [geschwärzt] zu seinen Kollegen, daß wir hier auf dem Schwein für ‚25 Ostmark‘ reiten könnten! In dieser Richtung gingen die Provokationen.110

Hier lassen sich wohl zum einen gewisse Neidgefühle gegenüber Westdeutschen belegen, die auf dem Rücken der finanziell noch schlechter ausgestatteten Polen ausgetragen werden konnten. Zum anderen gemahnt die Replik des DDR-Touristen an die Tradition sowjetischer Witze, die die Absurdität der Lage aufgreifen und über die eigene Ohnmacht lachen. An anderer Stelle urteilte dieselbe inoffizielle Mitarbeiterin, dass eine Stadtführerin in Wrocław wegen ihrer Provokationen gegenüber der DDR nicht zu empfehlen sei: So bedauerte sie gleich anfangs vor unserer Gruppe, daß so wenig DDR-Gruppen nach ­Polen kämen, man würde ‚uns wohl nicht rauslassen!‘ Ich mußte erst klarstellen, daß die Reisen, die angeboten werden, auch verkauft werden müssen, um stattzufinden, und, daß es 110 BStU,

MfS, BV Leipzig, AIM Nr. 2588/84 II/1, Betr.; Fahrt 10/740067 vom 10.–12. 10. 80 nach Karpacz – Institut für Energetik Leipzig, 21. 10. 1980, Bl. 285.

3.1. Der Tourismus zwischen der DDR und Volkspolen   237 lange dauerte, bis auch diese Fahrt ausgebucht war! Dies führte sie ‚auf schlechte Berichte in unseren Zeitungen‘ zurück!!!’111

In der Zeit der größten politischen Isolation war die Einschätzung der pol­ nischen Stadtführerin in den Grundzügen ja durchaus richtig, aber in den Augen der DDR-Reiseleiterin (und der Stasi) natürlich als Herausforderung des guten Willens der DDR zu verstehen. Auf einer FDGB-Reise in die Masuren 1984 wurde das Weltbild eines weiteren inoffiziellen Mitarbeiters und seiner Ehefrau gehörig auf die Probe gestellt: Unserer Meinung nach müßte bei der Auswahl der Teilnehmer besser darauf geachtet werden, wer solche Plätze erhält. Wir stellten zum Beispiel fest, daß ca. 70% unseres Durchganges entweder in diesem Gebiet geboren waren und wegen der Kriegsfolgen dort ausgesiedelt wurden oder im Verlauf der letzten Jahre in die DDR übergesiedelt sind. Es war deshalb so, daß viele Urlauber dort ihre Verwandten und Bekannten besucht haben und sich teilweise 2 Tage bei ihnen aufgehalten haben. Dabei fuhren sie Strecken bis zu 100  km mit Bus und Bahn. Ich konnte feststellen, daß in diesem Gebiet zahlreiche Druckschriften unter der Bevölkerung vorhanden sind und auch teilweise in den Straßen verteilt werden. Stöße bis zu 50 cm Höhe waren keine Seltenheit. Der Inhalt wurde mir aufgrund der polnischen Sprache nicht bekannt. Ich habe gesehen, daß auch Urlauber unseres Durchganges diese Schriften erhielten (ehem. Polen) und nehme an, daß sie auch mit in die DDR genommen wurden. Als ich mir auch einmal so ein Schriftstück geben lassen wollte von einem Polen, sagte dieser zu mir, ich sei ein deutscher Faschist und würde das nicht bekommen. Besonders negativ in politischer Hinsicht äußerte sich ein Urlauber aus dem Kreis Wurzen. Er erhoffte sich ein erneutes Erstarken der Solidarnocz [sic!] durch die Entlassung bzw. Amnestie von mehreren Tausend Polen aus der Haft. Nähere Angaben zu den Urlaubern kann ich nicht machen, da wir durch unser konsequentes politisches Auftreten ziemlich isoliert wurden. Der Aufenthalt erfolgte in einem Heim der polnischen Arbeiter. Gemessen an der Entwicklung der VR Polen in der letzten Zeit wurden wir gut betreut und versorgt. Das Essen war einfach und wenig nahrhaft, wodurch die meisten Urlauber erheblich abgenommen haben. Obwohl das den meisten körperlich durchaus zugute kam, wurde ständig gemeckert. Wir sprachen mit einigen und sagten, sie sollten doch aufgrund der Lage Verständnis haben. Dies brachte uns jedoch nur spitze Bemerkungen und Isolation ein. Wir sind der Meinung, daß zukünftig darauf geachtet werden müßte, daß politisch zuverlässige DDR-Bürger zu diesem Urlauberaustausch genommen werden.112

Die schlimme politische und wirtschaftliche Lage Volkspolens akzeptierte der IM als gegeben; er ist in seinem Selbstbild als politisch zuverlässiger DDRBürger gewillt, der Situation Verständnis entgegenzubringen. Damit bestätigt er das Vorurteil der „polnischen Wirtschaft“ indirekt, indem er eine Verbesserung der Lage nicht mehr in Erwägung zieht. Alle anderen Urlauber und gerade die Polen hatten sich aber trotz seiner Gutwilligkeit gegen ihn und seine 111 Vgl.

ebd., Betr.: Fahrt nach Wroclaw vom 10.–12. 7. 81, 20. 7. 1981, Bl. 435. Abt. II Nr. 421/01, Operative Information 41/84, Altenburg, 31. 8. 1984, Bl. 56/57.

112 Ebd.,

238   3. Reisen ins Nachbarland Frau verschworen, eine Tatsache, die bei der Aussagekraft der Quelle sicherlich zu berücksichtigen ist. Die Miturlauber waren damit aus der Sicht des IM unzuverlässige Geschöpfe, bei der Stasi verschaffte er sich Genugtuung für erfahrenes Unrecht. Trotzdem zeigen sich in obigem Zitat wesentliche Lesarten deutsch-polnischer Reiseerfahrungen: Der aufdringliche und besserwisserische DDR-Tourist konnte als Deutscher oder noch schlimmer als „Faschist“ wahrgenommen werden, obwohl er doch nur das angeblich Gute wollte. Die teils schlechte Versorgungslage führte zur Kritik am Urlaubsland, denn natürlich reiste kaum jemand aus Gründen der Diät – verlangt wurde deftige Küche. Die Wahrnehmung Volkspolens war von politischer Unzuverlässigkeit und schädlichen Einflüssen überprägt. Der IM ersann sogar eine gesonderte Verschwörungstheorie, weil aus seiner Perspektive der „Durchgang“ durch unsichere Elemente und ‚Kryptopolen‘ unterwandert war. Den Heimattourismus der Vertriebenen in Motiven und Praxis zu durchschauen, stellte den IM vor unlösbare Probleme. Das Problem war jedoch eigentlich der selbstverständliche und geräuschlos vollzogene Tabubruch. An der heiklen Frage von Flucht und Vertreibung brach auch das schwelende Problem unbewältigter Vergangenheit wieder auf. Der IM wollte offensichtlich mit dieser Seite der deutsch-polnischen Geschichte lieber nicht konfrontiert werden. Auch deswegen verurteilte er die Besuche bei Verwandten und Bekannten wie einen Bruch am Verhaltenskodex. In das systemtreue Motto eines Gewerkschaftsurlaubers wollte sich das eigenmächtige Entfernen von der Reisegruppe und somit die Umkodierung der sozialistischen Reise nicht einfügen. Die Vertriebenenproblematik passte grundsätzlich nicht in das Reisekonzept der achtziger Jahre. Angesichts der geschlossenen Grenze war die Ausnutzung der offiziellen Reisemöglichkeiten in die alte Heimat jedoch gängige Praxis, die Abschottung zu überwinden. Heimattourismus war ja kein neues Phänomen, wurde aber von den offiziellen Organen bedingt durch die dichtere Kontrolle häufiger registriert. In den meisten Fällen wurde Heimattourismus wohl klaglos oder als gutes und privates Recht des Einzelnen akzeptiert113,  in der politisierten Berichterstattung insbesondere für die Staatssicherheit bedeutete er eine nicht systemkonforme Handlung. Wie auch in obigem Beispiel ersichtlich, erhielt das nicht auf Anhieb zu durchschauende, sich womöglich noch der polnischen Sprache bedienende Fremde den Odem des Verrats und der Untreue. Besonders bei Reisen in vor dem Zweiten Weltkrieg mehrheit113 Auch

in der von Herrn L. geleiteten Reisegruppe fuhren Urlauber mit, die sich für die Besuche der alten Heimat problemlos abmeldeten: Vgl. Interview mit Herrn L.

3.1. Der Tourismus zwischen der DDR und Volkspolen   239

lich von Deutschen bewohnte Gebiete buchten Heimattouristen wohl ziemlich regelmäßig die Reiseplätze. Die schon bekannte Reiseleiterin und inoffizielle Mitarbeiterin der Stasi protokollierte: Teilnehmer an der Fahrt, welche das Programm nicht voll einhielten: Frau [geschwärzt], Frau [geschwärzt] und Frau [geschwärzt] nahmen an der Stadtbesichtigung am 11. 7. in Wroclaw nicht teil. Sie meldeten sich bei mir ab und wollten nach Brzeg mit dem Linienbus. Frau [geschwärzt] war dort früher zuhause. Frau [geschwärzt] war überredet worden, an diesem ‚Ausflug‘ teilzunehmen. […] Die Herren [geschwärzt] und [geschwärzt] meldeten sich mehrmals zu den Mahlzeiten ab, weil sie in Wroclaw Freunde besuchten. Wie ich merkte sprach Herr [geschwärzt] auch polnisch. Die meisten Fahrtteilnehmer, die älteren stammten alle aus Wroclaw und Umgebung. Viele suchten ihre Straßen auf, wo sie früher wohnten, viele Straßen gab es nicht mehr, weil sie während der Zeit, als Wroclaw Festung war, zerstört wurden. Herr [geschwärzt] aus Parchim hatte die Reise gebucht, weil es, wie er sagte, in Schwerin z. Zt. keine Reise nach Polen gibt. Auch er war aus Wroclaw und hatte sich die Reise bei einem Verwandtenbesuch in Leipzig gekauft [sic!].114

Es geht aus dem Auszug nicht hervor, ob die IM wusste, was sich hinter der Zeit, als „Wroclaw Festung war“, verbarg. Ihre geschichtliche Andeutung zum ‚totalen Krieg‘ des Nationalsozialismus mit der Strategie, einige Städte – da­ runter Breslau – bis zum Schluss zu verteidigen, setzt entweder bei den Lesern Vorwissen voraus oder verschleiert – bewusst oder unbewusst – die Hintergründe. Auch eine weitere von ihr festgehaltene Episode bleibt ohne Wertung. Die Reiseleiterin beschrieb nur, was ihr Touristen erzählt hatten. Der Besuch eines Heimatortes während einer Reise in die Masuren habe für ein Ehepaar mit einer herben Enttäuschung geendet, weil das Heimatdorf „ganz verkommen“ sei. Häuser seien eingestürzt, Zäune lägen herum, die Vorgärten seien verwildert und es seien nur wenige Einwohner übrig geblieben.115 Dem ‚proletarischen Internationalismus‘ stand in den achtziger Jahren die ‚politische Diversion‘ in Volkspolen entgegen. Reisende schilderten in ihren schriftlich verfassten Berichten häufig ihre Erfahrungen mit der öffentlichkeitswirksamen Opposition in Volkspolen oder vermerkten im Gegensatz dazu, solche Erscheinungen nicht beobachtet zu haben – ganz als hätten sie dies eigentlich erwartet. Auch die mündlichen Relationen greifen das Thema „Solidarność“ auf und beschreiben, ob es zum Beispiel „Solidarność“-Plakate und -Aufschriften gab und was auf Reisen und bei Kontakten aufgefallen war. Manchmal legen die Quellen eine regelrechte ostdeutsch-volkspolnische Frontstellung zur Zeit der legalen „Solidarność“ nahe. So war nach einem Studienaufenthalt in Warschau die Liste der fatalen Eindrücke lang:

114 BStU,

MfS, BV Leipzig, AIM Nr. 2588/84 II/1, Betr.: Fahrt nach Wroclaw vom 10.– 12. 7. 81, 20. 7. 1981, Bl. 437. 115 Vgl. ebd., Betr.: Familie [geschwärzt], 7261 [unleserlich/geschwärzt], 20. 8. 1980, Bl. 241.

240   3. Reisen ins Nachbarland unzählige antisozialistische und antisowjetische Provokationen (Aufführung eines Films über die Ereignisse in Gdansk an Institutionen, Ausstellung von bis 1980 verbotenen Büchern an der Technischen Hochschule, Ausstellung von Bilddokumenten zu Provokationen der letzten 10–15 Jahre in der Warschauer Altstadt, Studentendemonstrationen für die Freilassung politischer Gefangener, häufig die Behauptung, daß hinter dem Attentat auf den Papbst [sic!] die Sowjetunion stecken würde u. v. a. m.). Bei Verständigungsversuchen wurde Feindseligkeit spürbar, die mehrfach auch bei der Verwendung der deutschen Sprache auftrat.116

Im Zimmer einer DDR-Delegierten wurde ein Artikel aus dem westdeutschen Nachrichtenmagazin „Der Spiegel“ über sowjetischen Terror hinterlegt, was an der DDR-Botschaft angezeigt wurde.117 Die Leipziger fühlten sich alles in allem nicht wohl, was aber augenscheinlich auf manche Polen in Hinsicht auf ihren Besuch auch zutraf. In den achtziger Jahren blieben Beobachtungen und Erklärungsmodelle der polnischen Krise ein stetes Moment der Reflektion von DDR-Urlaubern. So war der polnische Katholizismus ein Quell der Irritation. Die Religiosität und der Kirchenbesuch mit Kindern lieferten einleuchtende Erklärungsmodelle für die polnische Krise: „[Ich sagte] damals schon: Na, da brauchen wir uns also nicht zu wundern, wenn das dann alles so […] ist. Dann kam der polnische Papst, […] was dann da eben alles im Hintergrund noch war. Das war mir alles sehr aufgefallen.“118 Schon deshalb erfüllten Berichte von offen auf der Straße verteiltem Schriftgut einen Teil der Erwartungshaltung. Typisch war auch die übersteigerte Vorsicht und Reaktion der Berichtenden, obwohl nicht einmal der Inhalt bestimmter Schriften verstanden wurde. Als unter einigen DDR-Urlaubern eine deutschsprachige polnische Tageszeitung kursierte, bemühte sich die schon bekannte Reiseleiterin in Stasidiensten darum, das Exemplar zu sichern. Dies gelang ihr nicht, weil eine Reisende die Zeitung für sich in Beschlag genommen hatte.119 Der Hunger nach Informationen und das Bewusstsein für eine Gefährdung durch ‚kontaminiertes‘ Gedankengut werden an diesem Beispiel gleichermaßen greifbar. Gerade das Geheimnis und die Gefahr der sogenannten Konterrevolution waren ein zwiespältiger Anreiz, in Volkspolen nach deren Spuren zu suchen. Noch deutlicher wird dieses Wechselspiel von Paranoia und Neugier an einer weiteren Episode, die die Grenzen der Komik überschreitet. Die Reiseleiterin präsentierte der Staatssicherheit eine echte Geheimagentengeschichte. Art und Weise der Erzählung lassen keine echten 116 SächsStA,

StA-L, 21138 SED-SBLL-Mit IV/D/5/2/277, Information über einen Studienaufenthalt (Hauptschule für Planung und Statistik WWA) in der VR Polen vom 11. 5.– 5. 6. 81, 12. 6. 1981, Bl. 181. 117 Vgl. ebd. 118 Interview mit Herrn L. 119 Vgl. BStU, MfS, BV Leipzig, AIM Nr. 2588/84 II/1, Bericht – 5/740016 v. 29.–31. 5. 81 nach Cieplice Zdroj (VR Polen)., 1. 6. 1981, Bl. 409.

3.1. Der Tourismus zwischen der DDR und Volkspolen   241

Rückschlüsse auf deren Wahrheitsgehalt zu. Fest steht nur, dass sich die Reiseleiterin ins beste Licht rückte: Ich stand vor der Tür zur Toilette, gegenüber öffnete sich eine Tür zur Küche, ein mittelgroßer Mann mit dunklen Haaren und einem dunklen längeren Schnurrbart zeigte sich und rief die beiden Frauen, die ihm am nächsten standen, heran, flüsterte ganz geheimnisvoll in polnisch und drückte ihnen ein zusammengefaltetes Stück Papier in die Hand. Die erste Frau gab das schnell der 2., die sagte ‚wo soll ich damit hin?‘ […], ich stand vor der Frau und nahm das Papier sofort an mich, ehe es die Frauen aufgefaltet hatten, und ließ es in meiner Manteltasche verschwinden. Die Frau in der Persianerjacke sagte noch: ‚das habe ich gekriegt, das will ich wiederhaben!‘ […] Nach dem Mittagessen traf ich beide Frauen allein vor der Gaststätte ‚Orlinek‘ als wir zum Bus gingen. Ich sagte ihnen, daß es ein kleines Plakat in poln. Sprache war. Sagte ihnen, daß wir uns hier ‚auf nichts einlassen’, wir wollen keinen Ärger und keine Komplikationen und ich habe das Ding, so, wie ich es von Ihnen bekam in der Toilette ‚runtergespült’! Damit waren beide Frauen einverstanden und ich hörte auch von niemandem darüber, daß sie von dem Vorfall erzählt hätten.120

Die Nutzbarkeit solcher Informationen ist zweifelhaft; ob der Staatssicherheit solche Kolportagen nützten, kann bezweifelt werden. Die Qualität der Berichte war offenbar manchmal nur zweitrangig. Aus geheimdienstlicher Sicht hatte es Priorität, Volkspolen gegenüber wachsam zu bleiben.

Polnische Touristen in Leipzig Ähnliches galt hinsichtlich des Aufenthaltes polnischer Touristen in Leipzig. Da Leipzig und Umgebung bis auf einige bedeutende historische Sehenswürdigkeiten kaum touristische Anziehungspunkte boten, war der Messetourismus das Leipziger Zugpferd. Ein Gesprächspartner erinnerte sich daran, dass sich Ferienheime der Kirow-Werke, die in unmittelbarer Nähe zu Leipzigs Stadtmitte lagen, bei polnischen Urlaubern wegen der sich so bietenden Einkaufsmöglichkeiten großer Beliebtheit erfreuten.121 Dass die Messe Ziel polnischer Einkaufstouren war, ist nicht nur aus mündlichen Relationen verbürgt, sondern schlug sich bereits 1972 in den Akten der Volkspolizei nieder, die in erhöhte Bereitschaft versetzt wurde: Der visafreie Reiseverkehr zwischen der DDR und der VR Polen sowie der DDR-CSSR wird unter der Losung ‚Freunde kommen zu Freunden‘ für die Maßnahmen der Ordnung und Sicherheit von Bedeutung sein. Dazu muß gesagt werden, daß es weder bei der Deutschen Volkspolizei noch bei den anderen Organen Erfahrungen über die Anzahl solcher Gäste gibt.122 120 Vgl.

ebd., Ergänzung zur Anlage zum Reisebericht Cieplice Zdroj v. 14.–16. 2. 81, 18. 2.  1981, Bl. 337. 121 Vgl. Interview mit Herrn L. 122 SächsStA, StA-L, 20250 BDVP 24.1. Nr. 271, Auskunftsbericht für den Stellvertreter des Ministers und Leiters der Hauptinspektion, Gen. [geschwärzt], zu den Vorbereitungen des polizeilichen Ordnungseinsatzes zur Sicherung der Leipziger Frühjahrsmesse 1972, Leipzig, 9. 3. 1972, Bl. 26.

242   3. Reisen ins Nachbarland Auch wenn die Losung „Freunde kommen zu Freunden“ hieß, verlief die ­Begegnung Deutscher und Polen auf einem Markt des Mangels keineswegs problemlos. Kurztrips in die DDR nutzten polnische Ausflügler zumeist oder sogar fast ausschließlich zum Einkauf. Ihre Unternehmungen hatten in vielen Fällen durch geschickten Ein- und Verkauf in der DDR und in Volkspolen den Charakter geplanter Handelstätigkeit.123 Unter dem Gesichtspunkt des Einkaufs war der sozialistische Tourismus von Deutschen und Polen sicherlich spezifisch für planwirtschaftliche Systeme. Berichte zu nach Leipzig reisenden Polen finden sich vor allem in den ­Akten der Staatssicherheit. Schon deswegen finden sich kaum Notizen zum ­Alltag des Tourismus bzw. werden sie en passant mitgeliefert. So besuchten ­polnische Reisegruppen auf Stadtrundfahrten durch Leipzig zum Beispiel das Poniatowski-Denkmal.124 Dies allein ist nicht sonderlich bemerkenswert, wenn nicht die am Denkmal niedergelegten Blumen immer kurz darauf gestohlen worden wären.125 Die anwohnenden Leipziger sahen in der Ehrerbietung gegenüber einem polnischen Nationalhelden wohl nur eine günstige Gelegenheit, frische Schnittblumen zu ergattern. Skurrile Probleme brachte auch die Grenzschließung mit sich, weil von da an auf erfinderische Weise die Einreise in die DDR erkauft werden musste. In Volkspolen befanden sich viele Plätze für Reisen in die DDR im mehr oder weniger offenen Verkauf, so dass das Vorhaben eines kontrollierten und zweckgebundenen Tourismus unterminiert wurde. Reisegruppen waren nach den Gesetzen des Schwarzmarktes zusammengesetzt und brachten absurde Probleme mit sich: Vom 28. 6. bis 9. 7. weilte z. B. in der Jugendherberge Windischleuba die Reisegruppe 6315529-3 aus der VR Polen. Ein Drittel dieser Teilnehmer der Reisegruppe war 52 bis 61 Jahre alt. Bedingt durch das Alter traten mit diesen Reisenden Probleme auf, da die Unterbringung im Dachgeschoß und Doppelstockbetten nicht altersgemäß war. Die älteren Bürger reisten weiterhin mit viel Gepäck an, für dessen Unterbringung entsprechend der Gegebenheiten einer Jugendherberge nicht der erforderliche Raum zur Verfügung stand. Das Gepäck bestand überwiegend aus Waren, die zum spekulativen Verkauf in der DDR bestimmt waren.126

Zum Messetourismus von Polen sind die überlieferten Angaben ebenfalls rar. Eine Notiz aus dem Jahr 1985 macht zumindest elementare GrößenordnunSekulski: Przebitka, S. 143–149. auch ebd., S. 26/27. 125 Vgl. BStU, MfS, BV Leipzig, AIM Nr. 2588/84 II/1, Betr. Poniatowski Denkmal in der Elsterstrasse., 14. 3. 1980, Bl. 177. 126 Ebd., Abt. II Nr. 114, Polnische Jugendreisegruppen in der DDR, Altenburg, 17. 7. 1986, Bl. 86. 123 Vgl. 124 Vgl.

3.1. Der Tourismus zwischen der DDR und Volkspolen   243

gen deutlich und belegt, wie polnischer Tourismus in Leipzig aufgefasst wurde.127 Insgesamt reisten auf Vermittlung großer polnischer Reisebüros und -organisationen in 70 Bussen und einem Sonderzug 3354 Polen zur Frühjahrsmesse an. Nur vereinzelt kamen die Messebesucher als Individualtouristen, der Großteil gehörte der technischen Intelligenz an und reiste so auf offiziellem Wege. Das bedeutete zum Beispiel, dass nur wenige Touristen sich für Besuche zu Verwandten und Bekannten abmeldeten, nur ein Tourist verfügte über ein Aufenthaltsvisum für 14 Tage. Diese Angaben zeigen, wie genau man versuchte, sich über die Bewegungen der Polen in Leipzig Aufschluss zu verschaffen. Die geringe Anzahl der Abmeldungen belegt aber andererseits nicht eindeutig, dass keine Treffen zwischen Deutschen und Polen ohne Absprache mit den Organisatoren stattfinden konnten. Ein weiterer Bericht dokumentiert nicht nur den Stolz der Leipziger auf ‚ihre‘ Messe – in der Annahme, Ähnliches werde in Volkspolen nicht geboten: „Das Fluidum, die Anziehungskraft und die Internationalität der Leipziger Messe wirkte auf die polnischen Touristen sehr beeindruckend [sic!].“128 Als wichtiger Punkt wurde weiter betont, dass die polnischen Touristen diesmal nicht über die Maßen eingekauft und gehandelt hätten. Ob dieser Eindruck stimmte oder trog, ist nicht zu erhellen. Klar ist, durch welche Brille polnische Touristen gesehen wurden: Das Einkaufsverhalten war in allen Gruppen normal. Bis auf eine Ausnahme wurde nicht bekannt, daß Geldmittel über die Höhe des gesetzlichen Taschengeldes illegal eingeführt wurden. Auch die Händler, wie sie vor allem bei vergangenen Messen in den Sonderzuggruppen auftraten, blieben zu dieser Messe aus. Nur vereinzelt versuchten Touristen bestimmte Einzelstücke zu verkaufen, aber auch hier mit wenig Erfolg.129

1983 kolportierte ein Offizier der Staatssicherheit in besonderem Einsatz – er betreute für das Reisebüro der DDR zwei Reisebusgruppen auf der Leipziger Herbstmesse – ein völlig anderes Bild polnischer Messetouristen.130 Die polnischen Reisenden hätten die Messegebäude nicht aufgesucht, genauso wenig seien sie an Besichtigungen interessiert gewesen. Stattdessen sei die „Anreise nur Vorwand [gewesen], um einen ausgedehnten Einkaufstrip realisieren zu können.“ Die Touristen führten daher mehr DDR-Geld mit, als gesetzlich vorgesehen war und kauften solche Gegenstände ein, die in Volkspolen als Mangelware galten.131 Insgesamt zeichnete der ‚Reiseleiter‘ ein negatives Bild 127 Vgl.

ebd. Nr. 421/02, Abschlußbericht der ifo-Gruppe zur Durchführung des Messegruppenverkehrs aus der VR Polen – LFM 1985 –, Leipzig, 17. 3. 1985, Bl. 127/28. 128 Ebd., Bl. 127. 129 Ebd. 130 Vgl. BStU, MfS, AOibE Nr. 12017/89, Information – Messetourismus VR Polen, Leipzig, 14. 9. 1983, Bl. 28–33. 131 Vgl. ebd., Bl. 28/29.

244   3. Reisen ins Nachbarland von den Polen, die er als streitsüchtig und politisch unzuverlässig betrachtete. Diese Sicht schlug bis in die Beobachtungen des Alltags durch: „Im Bus der Reisegruppe angebracht war ein gerahmtes Bild des Papstes. Es wurden jedoch keine gezielten Besuche von Kirchen verlangt.“132 Andere Stasiberichte sind ganz ähnlich gestrickt. Aus ihnen geht immer wieder hervor, dass die polnischen Touristen Querulanten gewesen seien und es zwischen ihnen und ihrem deutschen Begleitpersonal oder mit der deutschen Bevölkerung zu Konflikten und Komplikationen gekommen sei. Solche Zusammenstöße basierten auf historischen und mit Tabu belegten Geschehnissen und auf dem angespannten Verhältnis nach der „Solidarność“. Häufig war auch sozialer Neid die Ursache. Bei einer Stadtführung stieß der Bericht der Stadtführerin, die für die Stasi arbeitete, auf Widerspruch. Auf ihren Hinweis, in Leipzig seien im Zweiten Weltkrieg 45 Prozent der Gebäude zerstört worden, protestierten die polnischen Touristen in Hinblick auf die Zerstörung Warschaus. Die Stadtführerin fand dies „anmaßend“ und legte ihren „deutlichen“ Standpunkt dar, worauf „einigermaßen Ruhe“ herrschte. In einem Gespräch mit einer weiteren Stadtführerin fand sie ihre Einschätzung zu polnischen Gruppen bestätigt. Die zweite Frau wusste zu berichten, dass eine Gruppe zu spät zum Essen gekommen sei und deshalb nichts mehr erhalten und daraufhin den Gaststättenleiter als Nazischwein, SS-Henker usw. beschimpft habe. Eine andere – und ständig betrunkene – Gruppe habe einen Karton leerer Flaschen in die Küche geworfen, weil sie keinen weiteren Alkohol mehr erhielt.133 Sozialismuskritische Meinungsäußerungen von Polen verstanden die für die Stasi eingespannten DDR-Bürger als Provokationen. Auf die Benachrichtigung eines parteilosen Arbeiters, dass sich während der Ferien in der DDR arbeitende polnische Studenten despektierlich über die polnische kommunistische Partei geäußert hätten, schritt ein Genosse der SED ein und stellte die „verantwortlichen“ Polen zu Rede: „Der Gen. [geschwärzt] argumentierte gegenüber diesem polnischen Leiter, daß sich die polnischen Studenten als Gäste in unserer Republik aufhalten, sich dementsprechend zu führen haben und ihre politischen Diskussionen zu unterlassen haben.“134 Der polnische Leiter war einsichtig, das Gespräch brachte aber noch eine Ungerechtigkeit ans Licht: Während dieses Gesprächs wurde noch bekannt, daß diese polnischen Studenten für den 3-wöchigen Einsatz 1000 Mark bar als Lohn erhalten und es diesbezüglich zu Stimmungen 132 Vgl.

ebd., Bl. 30. ebd., BV Leipzig, Abt. II Nr. 421/02, Information, 7. 10. 1985, Bl. 105. 134 Ebd., Nr. 421/01, Information, Borna, 13. 10. 1982, Bl. 162. 133 Vgl.

3.2. Kinder-, Jugend- und Studentenaustausch   245 bzw. Diskussionen unter den Gleisarbeitern der DR kommt, die trotz vierwöchiger Arbeitszeit kein so hohes Gehalt empfangen.135

Dieses Missverhältnis war genauso diskutabel wie die Tatsache, daß es im Wohngebiet in Grotzsch [unleserlich] Diskussionen darüber gibt, daß dort junge polnische Bürger mit einem Jeep auftauchen und dort in den Kaufhallen Genußmittel (Schokolade) in großen Mengen kaufen. In der Kaufhalle fallen Argumente wie: Den Polen verkauft ihr 12 und mehr Tafeln Schokolade, aber für unsere eigenen Kinder ist keine da.136

3.2. Kinder-, Jugend- und Studentenaustausch Ich habe mich außerdem bemüht, verschiedene internationale Verträge zu unterschreiben, damit die Jugend ohne Probleme ihre Ferien außerhalb des Landes verbringen konnte. Einer der Verträge, der größte, der DDR-polnische, umfasste 300 000 Personen in beide Richtungen. Ich bin im übrigen überzeugt, dass die polnische Jugend eine wesentliche Rolle bei der Auflösung der DDR gespielt hat, denn so oft ich an diesen Ferienlagern teilgenommen habe, so oft gab es erzieherische Probleme und Beschwerden der DDR-Seite hinsichtlich unserer ideologischen Zersetzung.137

Diese selbstgerechte und in einen eitlen Stolz hineinspielende Einschätzung Aleksander Kwaśniewskis, des langjährigen Präsidenten des demokratischen polnischen Staates nach 1989 und Jugendministers in der Volksrepublik Polen von 1985 bis 1987, kann ohne großen Aufwand als grobe Übertreibung charakterisiert werden. Die Ereignisse des Herbstes 1989 in der DDR hatten gewiss andere und wesentlichere Ursachen als den Schüler- und Jugendaustausch zwischen der DDR und Volkspolen. Trotzdem verweist Kwaśniewskis Statement auf wesentliche Elemente dieses Austauschs, auf seine ideologischen Scheinversprechungen und inneren Brüche. Es war zunächst einmal eine beeindruckende Zahl, deren Wirksamkeit in der Außendarstellung nicht geleugnet werden kann: Jahr für Jahr verbrachten mehrere hunderttausend Jugendliche ihre Ferien im jeweiligen Nachbarland. Diesen Ferienaustausch zu planen und zu organisieren war eine gewisse Herausforderung an die sozialistischen Planer – zumal er die Früchte glücklicher Ferientage und gelebter Völkerfreundschaft einbringen sollte. Ein solches Unternehmen stand angesichts der Belastungsproben von politischer und wirtschaftlicher Instabilität der achtziger Jahre auf ziemlich tönernen 135 Ebd.,

Bl. 162. Bl. 163. 137 Aleksander Kwaśniewski: „nie lubię tracić czasu!“. Wywiad-rzeka z liderem SLD [„ich möchte keine Zeit verschwenden!“ Interview mit dem Leader der SLD]. Łódź 1995, S. 181. 136 Ebd.,

246   3. Reisen ins Nachbarland ­ üßen. Die staatssozialistischen Systeme benötigten zur Umsetzung solcher F Großprojekte verlässliche Infrastruktur und vertrauenswürdige Partner bzw. Helfer; all dies war in den achtziger Jahren angesichts dauernder Knappheit und deutsch-polnischen Misstrauens keine Selbstverständlichkeit. Es sind Symptome dieses Spagats zwischen Anspruch und Wirklichkeit, dass ehrenamtliche Helfer des internationalen Kinderferienaustausches in Torgau – einer Kleinstadt im Bezirk Leipzig – für eine Auszeichnung vorgeschlagen ­wurden.138 Auf der anderen Seite wurden polnische Reiseteilnehmer und Dolmetscher beschuldigt, den Austausch für private Treffen in der DDR zu missbrauchen.139 Jedenfalls kam es laut der Überlieferung zu zahlreichen Zwischenfällen, Missverständnissen und Konflikten, weil sich Konzept und Umsetzung bei beiden Partnern nicht in Einklang bringen ließen. Dass insbesondere die kontrollbesessene DDR solche Vorkommnisse immer wieder thematisierte und der polnischen Seite vorwarf, ist Kwaśniewski durchaus abzunehmen. Die Quellen zeigen jedoch weniger die fast sprichwörtliche ‚ideologische Diversion‘, sondern ganz normale Probleme des Alltags. Während Vorgaben nicht eingehalten und Regeln des Austausches eigen-sinnig umgangen wurden, um daraus persönlichen Vorteil zu schöpfen, wurden Kinder und Jugendliche ­stetig für das gute ideologische Gewissen vereinnahmt. An dieser Stelle werden Kinder-, Jugend- und Studentenaustausch zusammengefasst und sowohl reine Ferienfreizeiten wie auch Arbeitsaufenthalte in so genannten Lagern der Erholung und Arbeit für ältere Schüler und Studenten gleichermaßen behandelt, um den Kontakten auf der alltäglichen Ebene auf die Spur zu kommen.

Ideologische Vorbereitung und Überwachung Wie in anderen Bereichen auch, sollten die staatlichen Ziele im tatsächlichen Verlauf der Feriengestaltung umgesetzt werden. In zwischenstaatlichen Vereinbarungen wurden die ideologischen Vorgaben, technischen wie wirtschaftlichen Fragen und die Eckpfeiler des Programms beschlossen.140 Der Kinder138 Vgl.

SAPMO-BArch, DY 34 Nr. 12570, Vorschlag zur Auszeichnung des Kollektivs „Kinderferienlager“ im VEB Flachglaskombinat – Stammbetrieb – , Torgau, 31. 7. 1986, S. 1. 139 Vgl. ebd., DY 30 IV 2/2.037 Nr. 7, Information zu einigen aktuellen Problemen des Jugendtourismus zwischen der Volksrepublik Polen und der DDR, [undatiert], Bl. 123/24. 140 Vgl. z. B. BStU, MfS, BV Leipzig, Abt. XX Nr. 509, Protokoll zwischen dem Staatsekretariat für Arbeit und Löhne der Deutschen Demokratischen Republik und dem Ministerium für Arbeit und Sozialwesen der Volksrepublik Polen über die Grundsätze der Beschäftigung beim organisierten Kinder- und Jugendaustausch im Jahre 1989, [undatiert], Bl. 41–48.

3.2. Kinder-, Jugend- und Studentenaustausch   247

und Jugendaustausch sei so zu organisieren, „daß sich alle Teilnehmer gut erholen können, viele interessante Erlebnisse und Begegnungen haben und die Möglichkeit erhalten, ihre Ferien- bzw. Urlaubstage gemeinsam zu gestalten.“ Er diene „der weiteren Vertiefung der Freundschaft zwischen den Völkern, insbesondere der Jugend beider Länder“, „der engeren Gestaltung des gegenseitigen Zusammenwirkens und der allseitigen Zusammenarbeit beider Staaten und ihrer sozialistischen Jugendverbände“ und „der Erziehung der jungen Generation beider Länder im Geiste des Friedens, des sozialistischen Patriotismus und proletarischen Internationalismus.“141 Das Programm umfasste politische und historische Bildung, wobei immer wieder staatliche Feiertage und Jubiläen im Vordergrund standen, und griff dabei auf das virtuelle Repertoire antifaschistischen Kampfes und gemeinsamer sozialistischer Aufbauarbeit zurück.142 So sollte polnischen Kindern und Jugendlichen als nur eines von vielen beredten Beispielen „auf lebendige Weise der Aufbau des Sozialismus in der DDR vertraut“ gemacht werden.143 Ob dies mit dem Vorhaben, „über den Kampf der Werktätigen, insbesondere über den Beitrag der Jugend zur Durchführung der Politik der Hauptaufgabe in Vorbereitung bzw. in Auswertung des IX. Parteitages der SED [sic!]“ zu informieren, gelang, darf bezweifelt werden. Zur Umsetzung wurde jedenfalls vorgeschlagen, Besuche in Betrieben und Genossenschaften […] zu nutzen, um die polnischen Teilnehmer mit der Bewegung der Messe der Meister von morgen vertraut zu machen und ihnen den Beitrag der Jugend im Kampf um wissenschaftlich-technische Spitzenleistungen zu verdeutlichen.144

Ein Teilnehmer am Austausch erinnert sich wahrscheinlich aufgrund solcher Initiativen, dass der Anteil an bedeutsamen und ideologisch aufgeladenen Besuchen im Ferienaustausch jedenfalls viel höher war, als man dies aus den DDR-internen Betriebsferienlagern kannte. Die Bedeutung all dieser Treffen habe man allerdings nicht nachvollziehen können, als bleibender Eindruck blieb nur langweiliges Herumstehen übrig.145 Fragwürdig waren viele der DDR-Vorgaben deswegen, weil sie eine Vorreiterrolle der DDR gerade gegenüber dem angeblich schwächeren Partner Volkspolen stillschweigend voraussetzten. In den achtziger Jahren lässt sich 141 Ebd.

Nr. 1401, Hinweise zur Vorbereitung und Durchführung des organisierten Kinderund Jugendaustausches zwischen der Deutschen Demokratischen Republik und der Volksrepublik Polen im Jahre 1986, [undatiert], Bl. 3. 142 Vgl. ebd., Bl. 3–5. 143 Ebd., Bl. 9. 144 Ebd., Bl. 10. 145 Vgl. Interview mit Herrn F.

248   3. Reisen ins Nachbarland schon an offiziellen Quellen feststellen, dass man die polnische Seite als ­lernende begriff, der gegenüber man Nachsicht üben müsse. Die obigen ­Programme sollten aus Sicht der DDR den polnischen Teilnehmern die Errungenschaften und Nachahmungswürdigkeit der DDR vor Augen führen. Auch das Verhalten der deutschen Teilnehmer in Volkspolen wurde akribisch vorbereitet und auf die „Besonderheiten“ der (bemitleidenswerten) Lage der Polen überdeutlich hingewiesen: Alle Teilnehmer sind so vorzubereiten, daß sie höflich, kontaktfreudig und bescheiden auftreten. Sie sollten Erfolge der polnischen Gastgeber beim sozialistischen Aufbau würdigen, Verständnis für Probleme zeigen sowie Besonderheiten im Verhalten und Auftreten der polnischen Bevölkerung mit der notwendigen Achtung begegnen. In den Gesprächen ist offensiv und zugleich kameradschaftlich unser Standpunkt zu vertreten. Ohne Überheblichkeit sollten wir von unseren Erfahrungen berichten.146

Einerseits ist dies als Warnung zu verstehen, wohl schon vorprogrammierte Reaktionen und Unstimmigkeiten nicht erst entstehen zu lassen, andererseits wird klar, dass der Blick der DDR von oben herab auf die Polen gerichtet wurde. Deren ‚Fehler‘ wurden als fast selbstverständlich betrachtet und sollten mit großer Nachsicht korrigiert werden. Es wurde unverhohlen darüber aufgeklärt, dass der Sozialismus in Volkspolen in einer tiefen Krise stecke und ein Gefahrenszenario über die Aufstandsjahre 1956 und 1970, die „Solidar­ ność“-Zeit bis hin zum „runden Tisch“ entworfen. Die Volksrepublik Polen sei „seit ihrem Bestehen ein bevorzugtes Objekt der antikommunistischen Diversionstätigkeit imperialistischer Geheimdienste“ gewesen: „Immer wieder wurden Angriffe auf die sozialistische Entwicklung in unserem Nachbarland unternommen. […] Mitte 1980 sah die innere und äußere Konterrevolution eine besondere Chance, die sozialistische Entwicklung der VR Polen offen anzugreifen.“147 Auch deswegen wurde nachdrücklich empfohlen, noch mal das Programm der SED sowie weitere Dokumente unserer Partei zur Hand zu nehmen, findet man doch in diesen Dokumenten in sehr konzentrierter Form dargelegt, wie unsere Partei allgemeine Gesetzmäßigkeiten der gesellschaftlichen Entwicklung schöpferisch unter den konkreten historischen Bedingungen der DDR angewandt hat und anwendet, welches die Konzeption unserer Partei zur Gestaltung der entwickelten sozialistischen Gesellschaft ist.148

Fest steht, dass die Organe der DDR zutiefst davon überzeugt waren, dass überall der Feind lauere. Dass man den gesamten Austausch geheimdienstlich 146 BStU,

MfS, BV Leipzig, Abt. XX Nr. 509, Lektion zur Vorbereitung des Kinder- und Jugendaustausches zwischen der DDR und der VR Polen 1989, [undatiert], Bl. 79/80. 147 Ebd., Bl. 64/65 [Hervorhebung im Original]. 148 Ebd., Bl. 75.

3.2. Kinder-, Jugend- und Studentenaustausch   249

überwachen ließ, gehörte zur Herrschaftslogik der DDR. Die Strategie der Hauptabteilung XX des Ministeriums für Staatssicherheit war aber nicht nur ‚Aufklärung‘, sondern operative Mitarbeiter sollten ganz konkret auf den Austausch einwirken. Mit großer Klarheit legen Staatssicherheitspläne dar, dass Konflikte erwartet wurden und diese wenn möglich verhindert und jedenfalls geschlichtet werden sollten. Dies dokumentiert nicht nur erneut den Kontrollanspruch der Stasi, sondern legt nahe, dass der gezwungen harmonische Ferienalltag immer wieder von unliebsamen Zwischenfällen gestört wurde. Die Konzentration der operativen Mitarbeiter galt unter anderem folgenden Aufgaben: Sie sollten vor Ort Probleme klären und solchen vorbeugen, die zu Konfrontationen mit polnischen Partnern führen konnten: Das Augenmerk ist auf feindlich-negative und provokative Handlungen von Polen gegenüber unseren DDR-Delegationen zu richten. Angriffe sind zu erwarten von Personen der Solidarnosc [sic!], der Kirche, Jugendorganisationen der Kirche, Studentenverband, Pädagogen und Hochschulkadern. Erkennen verdeckter Feinde z. B. unter den polnischen Dolmetschern und Betreuern. Aufdeckung von Anfängen und Handlungen der Kriminalität und deren Verhinderung/ Einschränkung.149

Der Koordinator der Staatssicherheit berichtete für das Jahr 1986 allerdings, dass „feindliche Angriffe auf unsere DDR-Personen“ nicht bekannt geworden seien. Er schließt aber damit, dass „die Anzahl der zur Verfügung gestellten IM/GMS zur inoffiziellen Nutzung auf dem Gebiet der VR Polen“ nicht ausreichend gewesen sei.150 Diese skeptische bis manchmal feindliche Grundhaltung war nicht nur Ausdruck geheimdienstlicher Prädisposition, sondern war mit den Einstellungen der Bevölkerung und des vermeintlichen Vorwissens über Volkspolen verflochten. Die Staatssicherheit übernahm in ihren Berichten die allgemeine Voreingenommenheit, blieb gerade deswegen in vorgefertigten Wahrnehmungsmustern verhaftet und verstetigte sie. Noch im Sommer 1989 las man in Stasiberichten, dass die Deutschen von der „Hoffnungslosigkeit“ und der „Sorge um das tägliche Überleben“ angesichts der Teuerungsraten in Volkspolen tief beeindruckt gewesen seien. Dies mochte ja sogar noch stimmen, die Botschaft wird aber noch zum Guten gewendet – wenn auch nur für die DDR: „Übereinstimmend wurde von allen befragten Jugendlichen und Erziehern aus der DDR zum Abschluß ihres Aufenthaltes in der VR Po-

149 Vgl.

ebd. Nr. 1401, Bericht über die am 30. 5. 86 bei der HA XX/ 2 stattgefundene Einweisung zur operativen Sicherung des Austausches von Schülern, Lehrlingen und Studenten zwischen der DDR und der VR Polen, Leipzig, 3. 6. 1986, Bl. 51. 150 Vgl. ebd., Bericht über den Einsatz als Koordinator zur operativen Sicherung des Ferienaustausches mit der VR Polen in der Zeit vom 3. 7. bis 4. 8. 1986, Bl. 92 und Bl. 99.

250   3. Reisen ins Nachbarland len zum Ausdruck gebracht, daß sie froh und stolz sind, in der DDR in materieller Sicherheit zu leben.“151 In geradezu widersinniger Kombination mit der Freundschaftspropaganda verstetigten sich Aktion und Reaktion. Die Einforderung, die Aufnahme polnischer Kinder in Ferieneinrichtungen sei so zu gestalten, „daß von Anbeginn eine herzliche und kameradschaftliche Atmosphäre geschaffen wird und persönliche Freundschaften entstehen“152, biss sich mit den Vorannahmen und der Realität. Als die polnische Seite 1983 eine Vergrößerung des Austausches vorschlug, lehnte die DDR mit der Begründung ab, das Interesse sei nicht so groß und die Eltern hätten Bedenken, ihre Kinder nach Volkspolen fahren zu lassen.153 Dies korrespondiert mit der polnischen Beobachtung, der Austausch sei auf Seiten der DDR zuerst als eine Art Solidaritätsaktion für den Nachbarn dargestellt worden und erst in der Regierungsverständigung sei von einem „gemeinsamen Austausch“ die Rede gewesen.154 Diese Einstellung korrespondierte mit den Zahlen des Kinder- und Jugendaustausches insgesamt und im Bezirk Leipzig. Von dort wurden stetig mehrere tausend deutsche Teilnehmer nach Volkspolen gesandt, im Gegenzug kamen jedoch immer einige tausend polnische Kinder mehr in die DDR. Die Zahlen schwankten von Jahr zu Jahr, geringe Diskrepanzen gab es zwischen den geplanten und den tatsächlich genutzten Urlaubsplätzen. 1984 sollte der Bezirk Leipzig 10 200 Kinder und Jugendliche aufnehmen und 7100 in die Wojewodschaft Krakau entsenden.155 Die genauesten realen Zahlen sind für das Jahr 1985 bekannt, als Leipzig 7010 polnische Teilnehmer aufnahm und 5501 deutsche versandte. Unter den Polen waren 3076 Schüler zwischen zehn und fünfzehn Jahren alt. 1309 Schüler bis achtzehn Jahre waren in Lagern für Arbeit und Erholung untergebracht. Weitere 664 Studenten weilten ebenfalls in solchen Lager. 1961 dieser Teilnehmer nahmen am direkten Austausch des 151 Vgl.

ebd. Nr. 202/04, Bericht über den operativen Einsatz als Koordinator des Bezirksarbeitsstabes Leipzig für den Kinder- und Jugendaustausch zwischen der DDR und der VR Polen im Zeitraum vom 29. 07. 89 bis 02. 09. 1989, Leipzig, 5. 9. 1989, Bl. 62. 152 Vgl. ebd. Nr. 509, Lektion zur Vorbereitung des Kinder- und Jugendaustausches zwischen der DDR und der VR Polen 1989, [undatiert], Bl. 84. 153 Vgl. AAN, Główny Komitet Turystyki w Warszawie Nr. 10/85, Materiał dodatkowy: Wymiana turystyczna polskich młodzieżowych biur podróży z NRD w 1983r., Bl. 13. 154 Vgl. ebd., Ocena realizacji rządowego porozumienia między PRL i NRD w sprawie wakacyjnej wymiany dzieci i  młodzieży w  1983 roku, Warszawa, Paździenik 1983r., Bl. 256. 155 Vgl. SächsStA, StA-L, 20237 BT/RdB Nr. 18642, Maßnahmen des Rates des Bezirkes zur Aufnahme von Kindern und Jugendlichen aus der Volksrepublik Polen sowie zur Entsendung von Kindern und Jugendlichen in die Volksrepublik Polen im Rahmen der Ferien- und Urlaubsgestaltung im Jahre 1984, Leipzig, 22. 3. 1984, Bl. 159.

3.2. Kinder-, Jugend- und Studentenaustausch   251

FDGB teil. Die Leipziger Seite entsandte 2158 Schüler zwischen zehn und fünfzehn Jahren und 684 Schüler bis achtzehn Jahre. 958 Studenten kamen in Lagern der Erholung und Arbeit unter und wiederum 1701 Teilnehmer befanden sich im Austausch des FDGB. Weiter zusammengefasst waren dies 194 Delegationen aus Volkspolen (134 auf der Grundlage des zentralen Austausches, 58 im betrieblichen Austausch und zwei im Austausch der Volksbildung) und 102 aus der DDR (50 im zentralen Austausch, 50 betrieblich und zwei in der Volksbildung).156 Ab 1988 war die Anzahl der geplanten polnischen Teilnehmer weiter auf knapp über 10 000 gewachsen, die Leipziger wollten aber mit 4350 Teilnehmern nicht einmal mehr die Hälfte dieser avisierten polnischen Teilnehmerzahl fahren lassen.157 Allerdings stellte Volkspolen dann doch 6383 Plätze zur Verfügung, die von 6129 Jugendlichen ausgenutzt wurden. Aufgenommen wurden tatsächlich 10 017 Jugendliche.158

Ferienalltag und die Verlockung des Fremden Der Ferienalltag für polnische und deutsche Kinder war eine Mischung aus organisierter Freizeit, Arbeit und dem Ausleben jugendlichen Tatendrangs. Ein Teilnehmer am Schüleraustausch in den Jahren 1987 und 1989 aus dem Bezirk Gera erinnert sich sehr wohl an die gesellschaftliche und politische Vereinnahmung durch die Welt der Erwachsenen. Dies habe das Gesamterlebnis jedoch kaum mindern können, weil die Jugendlichen während ihres Aufenthaltes immer wieder eigene Vorstellungen umsetzen konnten und ein hoher Grad der Eigenorganisation in der Freizeit vorhanden blieb.159 Jenseits aller ideologischen Aufladung war die Auslandsreise für Jugendliche aus der DDR in erster Linie ein großes Abenteuer. Sie waren neugierig auf das, was sie erwarten würde und verbrachten ihre Zeit gern mit den polnischen Altersgenossen. Weil ein Ferienplatz im ostdeutsch-volkspolnischen Austausch zudem sehr günstig war und gegenüber den Teilnehmern von den Betreuern oder Lehrern als Auszeichnung verkauft wurde, verstand man die Reise auch als solche.160 156 Vgl.

ebd., 21706 FDGB-Bezirksvorstand Leipzig Nr. 2385, Abschlußbericht des Ferienaustausches mit der VR Polen im Rahmen der SFG im Bezirk Leipzig, [undatiert], S. 1/2. 157 Vgl. ebd., 20237 BT/RdB Nr. 18685, Konzeption der Ferien- und Urlaubsgestaltung in den Jahren 1988–1990, einschließlich der Maßnahmen zur Führung des Ferienaustausches zwischen der DDR und der VR Polen im Jahr 1988, Leipzig, 29. 1. 1989, Bl. 205. 158 Vgl. ebd., 21123 SED-BLL Nr. 1723, Vorlage an das Sekretariat der FDJ-Bezirksleitung (Vorlage betrifft: Jahresbericht „Jugendtourist“ Bezirksorganisation Leipzig), Leipzig, 20. 1. 1988, S. 2 und S. 5. 159 Vgl. Interview mit Herrn F. 160 Vgl. ebd.

252   3. Reisen ins Nachbarland Sogar in den schriftlichen Quellen gerieten politische Zielstellung und das krampfhafte Klammern an sozialistisches Wunschdenken in Konflikt mit der Wirklichkeit oder wurden beschönigend in die Meistererzählung eingeflochten. Die Indienstnahme eines riesigen und geplanten Jugendaustausches zur Förderung der sozialistischen Zukunft oder auch nur zahlreicher Freundschaften zwischen den Jugendlichen beider Länder musste scheitern. Die Praktiken des Alltags produzierten aber sehr wohl schöne Erinnerungen und persönlichen Gewinn für die Teilnehmer. Das Dilemma sozialistischer Er­ ziehung legt der Bericht eines politischen Betreuers dar, der in Leipzig eine Bilanz eines Kinderferienlagers zog und seine eigene Aufgabe gleich mit evaluierte. Er wertete die Ferientage als vollen Erfolg und brachte auch die all­ gemeine Zufriedenheit mit dem politisch Erreichten zum Ausdruck. Dass er als politischer Betreuer gebraucht werde, verstand sich für ihn von selbst. Wie sehr aber seine eigene Aufgabe zu der immergleichen Produktion von Floskeln und eigentlich zur Verkrampfung der Beziehungen beitragen musste, war aus der Innensicht der DDR nicht aufzudecken: Die aufgeführten Veranstaltungen wurden zu einem Bekenntnis, offner und herzlicher Art des gemeinsamen Lagerlebens, ein Bekenntnis zur deutsch-polnischen Freundschaft. Für die polnischen und deutschen Kinder sowie die Betreuer und Helfer wurden es erlebnisreiche und frohe Ferientage. Die polnischen Gäste waren für unsere Kinder eine Bereicherung ihres Aufenthalts im Ferienlager. Freundschaften wurden geschlossen und persönliche Geschenke ausgetauscht. Zum Abschlussfest wurde eingeschätzt, daß das durch uns gestaltete Ferienlager für alle der Erholung und Entspannung diente und ein voller Erfolg geworden ist. Diese Ferienwochen werden in Erinnerung bleiben sowie dem Austausch von Adressen und persönlichen Kontakten dienen. Der Einsatz eines politischen Betreuers hat sich wieder bewährt, der Lagerleiterin konnten wertvolle Impulse und Unterstützung gegeben werden. Er hat wesentlich zu erfolgreichen Ablauf beigetragen.161

Die Zweischneidigkeit sozialistischen Lobes und der Wunsch nach größtmöglicher Aufrichtigkeit lassen sich hier besonders gut vermessen. Vor dieser Aufgabe einer Zusammenführung staatlicher mit jugendlichen Interessen standen die meisten Berichtenden. Mal gelingt ihnen die Einfühlung, mal vertrauen sie auf die vertrauten Formeln, mal werden Diskrepanzen des Alltags sichtbar. Eine Korrespondentin der Leipziger Volkszeitung begleitete 1989 den Austausch von Leipzigern in Krakau und berichtete von deren Ferien. Ihr fielen die Unterschiede zwischen gewollten und tatsächlichen Kontaktmöglichkeiten

161 SächsStA,

StA-L, 20237 BT/RdB Nr. 19349, Abschrift Abschlußbericht und Einschätzung der Gestaltung „Frohe Ferientage für polnische Kinder und Jugendliche“ im Kinderferienlager des VEB Bezirksdirektion des Straßenwesens Leipzig in Ochsensaal für die Gruppe 124 aus Rzeszow, Leipzig, 5. 9. 84, S. 2.

3.2. Kinder-, Jugend- und Studentenaustausch   253

auf, was sie aber geschickt mit einem Zitat eines Krakauer Funktionärs in die Herrschaftsdeutung integriert: Auch wenn es nach meinem Eindruck nicht allzu viele organisierte Begegnungen zwischen deutschen und polnischen Jugendlichen gibt – internationale Bekanntschaften werden in Krakow dennoch viele geschlossen. Tina und Ines, beide 15 Jahre alt, aus Eilenburg, schwärmten von der Videodiskothek am Abend zuvor und natürlich davon, daß die polnischen Jungs phantastisch tanzen können. Sich über das Leben, die Kultur und die Tradition beider Völker zu informieren – das sei Anliege dieses Ferienaustausches, so Jan Nowak, Vizepräsident der Wojewodschaft Krakow. Dabei appellieren die Krakower vor allem an die Initiative und Intelligenz der Jugendlichen, über persönliche Kontakte Zugang zum anderen Volk zu finden.162

Anders gewendet kam den sozialistischen Funktionären der Eigen-Sinn der Jugendlichen entgegen. Die Anziehungskraft eines Discoabends und jugend­ liche Erfahrungen mit dem jeweils anderen Geschlecht schufen natürlich eine Atmosphäre der Annäherung, waren aber kein Beleg für die Strahlkraft des sozialistischen Projektes. Ein interner offizieller Bericht führt unbewusst ebenfalls die zwei Ebenen der staatlichen Verständigung einerseits und die der Kinder andererseits vor Augen. So habe man mit den polnischen Kindern anlässlich des 40. Jahrestages der Befreiung vom Faschismus in der Volksrepublik Polen eine gemeinsame Feierstunde durchgeführt. Damit war die eingeforderte politische Verbrüderung gelungen. Etwas weiter heißt es: „Verständigungsschwierigkeiten zwischen den Kindern gab es keine. Sie verstanden es, sich mit Handzeichen, Zeichnungen und Symbolen zu verständigen. Zum Abschied gab es viele ­Tränen und es wurde der Hoffnung Ausdruck gegeben, sich einmal wieder­ zusehen.“163 Die Kommunikation der Kinder im Alltag steht zu derjenigen der Erwachsenen in Manifestationen merkwürdig quer. Herr F. musste erst eine Weile nachdenken, um die gemeinsame Sprache der Kinder u. a. auch mit russisch anzugeben, dann wurde ihm klar, dass bei offiziellen Anlässen immer ein Dolmetscher anwesend war. Die nonverbale und unmittelbare Kommunikation der Kinder gelang ohne große Mühen, die offizielle Verständigung gelang nur mit größerem technischen Aufwand und überbrückte die intergenerationelle Differenz nicht. Die Absichten der Betreuer und Lehrer blieb den Jugendlichen eher fremd.164

162 BStU,

MfS, BV Leipzig, Abt. XX Nr. 1403, Sächsischer Dialekt in Krakow keine Seltenheit, LVZ vom 20. 7. 1989, Bl. 149. 163 SächsStA, StA-L, 20237 BT/RdB Nr. 19349, Abschlußbericht über die Durchführung der Sommerferiengestaltung 1984 (VEB Kombinat Verkehrsbetriebe der Stadt Leipzig (LVB)), 6. 9. 1984, S. 2. 164 Vgl. Interview mit Herrn F.

254   3. Reisen ins Nachbarland Das Gros der Berichte zum Ferienaustausch von Kindern, Jugendlichen und Studenten zog ein positives Fazit; eigentlich stand dieses Gesamturteil wie auch oben schon gesehen immer schon vorher fest. Dass etwaige Probleme gesondert hervorgehoben wurden, liegt sicherlich in der Natur vor allem des Berichtswesens – besonders unter der Ägide der Staatssicherheit. Die generellen Linien der Berichterstattung lassen sich jedoch in die langlebigen Tendenzen ostdeutsch-volkspolnischer Kontakte einordnen oder korrespondieren mit Problemen aus anderen Kontaktfeldern und -orten. Die Konfrontation mit anderen Quellen ist lohnenswert. Der Rat des Bezirkes in Leipzig vermeldete 1987 dementsprechend an den Ministerrat der DDR, „daß das politische Anliegen des Austausches erfüllt wurde.“165 In diese Einschätzungen flossen die Beteuerungen ein, die Jugendlichen hätten sich miteinander angefreundet, und das gesamte Urlaubsprogramm wurde als gelungen eingestuft. Zu diesem zählten „Stadtrundfahrten, Betriebsbesichtigungen, Freundschaftstreffen bzw. Klubabende und Diskotheken […], Museumsbesuche, sportliche Betätigung und Tagesexkursionen.“166 Exkursionen fanden vor allem nach Krakau, in die Gedenkstätte Auschwitz, nach Zakopane oder in die Salzmine in Wieliczka nahe Krakau statt.167 In schönstem Beamtendeutsch begründet heißt es zum Aufenthalt polnischer ­Jugendlicher: „Auf Grund des schönen Wetters in den ersten Tagen ist das Baden im Mittelpunkt der Freizeitaktivitäten […].“168 Hervorgehoben wurden immer wieder staatliche Feiertage, die als „Höhepunkt im Lagerleben“ begangen wurden.169 Ebenso wie bei anderen Berichten zum Tourismus galt es als besonders erstrebenswert, dass Deutsche und Polen zusammen arbeiteten oder lebten. Wenn dies nicht der Fall war, wurde dies häufiger als Verbesserungsmöglichkeit angeregt.170 Zusammenhanglos ineinander verschränkt thematisierte ein weiterer Bericht Mängel der Ferien in 165 Vgl.

BStU, MfS, BV Leipzig, Abt. XX Nr. 188/01, Fernschreiben, Leipzig, 21. 7. 1987, Bl. 18. 166 Vgl. ebd. 167 Vgl. ebd. Nr. 1401, Bericht zum Aufenthalt von Kindern und Jugendlichen des Bezirkes Leipzig in den Wojewodschaften Krakow, Tarnow, Rzeszow, Przemysl, Nowy Sacz im Zeitraum vom 3. 7. bis zum 4. 8. 1986, Leipzig, 5. 8. 1986, Bl. 82. 168 Vgl. ebd. Nr. 188/01, Kurzinformation über den Ferienaustausch mit der VR Polen, 14. 7. 1987, Bl. 16. 169 Vgl. ebd. Nr. 202/04, Bericht über den Kinder- und Jugendaustausch zwischen dem Bezirk Leipzig und den Wojewodschaften Krakow, Tarnow, Rzeszow, Przemysl und Nowy Sacz für den Zeitraum vom 2. 7. bis 30. 7. 89, 4. 8. 1989, Bl. 45. 170 Vgl. ebd. Nr. 309/05, Abschlußbericht über den Einsatz in der VR Polen als Koordinator im Rahmen des Austausches von Kindern und Jugendlichen des Bezirkes Leipzig vom 5. 7. bis 30. 8. 85, Leipzig, 6. 9. 1985, Bl. 9.

3.2. Kinder-, Jugend- und Studentenaustausch   255

­ olen: „Von zurückgekehrten Delegationen werden in Lagern der VR Polen P hygienische Mängel sowie ungenügende Kontaktmöglichkeiten zu polnischen Kindern und Jugendlichen angesprochen.“171 Als wie wichtig der Kontakt von den Jugendlichen selbst bewertet wurde, kann anhand der Schilderungen von Herrn F. zumindest hinterfragt werden. Es spricht vieles dafür, dass die Kontakte zwischen den Jugendlichen staatlich vereinnahmt wurden, während die Kinder diese als selbstverständlich betrachteten, aber deren Fehlen nicht sonderlich bedauerten. Sie genossen die Freizeit in der deutsch-polnischen Gruppe, der Kontakt war interessant und manche Sympathien und Freundschaften entstanden sicherlich. Der Alltag auf Ausflügen und in der Unterkunft kreiste aber eher um private Unternehmungen und banale Fragen danach, wie man den Hoheitsgebieten der Erwachsenen entkommen könne. Zugewiesene polnische Partner waren zwar eine Bezugsperson. Die geforderten Gastgeschenke oder der Aufenthalt in polnischen Gastfamilien wurden aber eher als skurril und exotisch empfunden, weil die Botschaft dahinter zwar durchschaut, aber nicht immer mitgetragen wurde. Erzwungene Teilnahme am polnischen Alltag galt manchen als überflüssig, unangenehm oder gar Zumutung.172 Die Formulierungen der Funktionäre waren also in gewisser Weise eine euphemistische Annäherung an die Wirklichkeit. So heißt es: diese Ferienaktion [hat] vielen Jugendlichen des Bezirkes Leipzig Gelegenheit gegeben, sich neben den Sehenswürdigkeiten der VR Polen sich mit dem Leben, den Traditionen aber auch Problemen unseres Nachbarlandes vertraut zu machen. Viele persönliche Kontakte unserer Jugendlichen haben ihnen eine neue Sicht für die Schönheit, Gastfreundschaft unserer Partnerwojewodschaft und den anderen Wojewodschaften gegeben [sic!].173

Diese Einschätzung war dichter an der Realität als es der Schreibende wahrhaben wollte. Mit dem eigentlichen Alltag in Volkspolen wurden die Jugendlichen unmittelbar konfrontiert und sie reagierten auf sie in schneller Antizipation. In Volkspolen fielen zum Beispiel einerseits eine größere Armut und andererseits wiederum größerer Reichtum Einzelner ins Auge. Die spezifische Marktsituation und die riesigen Basare, auf denen es praktisch alles zu kaufen gab, trafen die Jugendlichen aus der DDR wie aus heiterem Himmel. Sie bewun171 Vgl.

ebd., 4. Informationsbericht zum Ferienaustausch zwischen der DDR und der VR Polen, Leipzig, 16. 8. 1985, Bl. 11. 172 Vgl. Interview mit Herrn F. 173 BStU, MfS, BV Leipzig, Abt. XX Nr. 1401, Bericht zum Aufenthalt von Kindern und Jugendlichen des Bezirkes Leipzig in den Wojewodschaften Krakow, Tarnow, Rzeszow, Przemysl, Nowy Sacz im Zeitraum vom 3. 7. bis zum 4. 8. 1986, Leipzig, 5. 8. 1986, Bl. 78.

256   3. Reisen ins Nachbarland derten das große Angebot und kauften ein. Beliebt waren zum Beispiel Kassetten und andere Artikel für Jugendliche. Freizeit und Taschengeld wurden auch dafür genutzt, die teils dürftige Ernährung in den Unterkünften zu kompensieren. Das Geld wurde in Eis, Wurst und polnische Spezialitäten gesteckt.174 Die Prioritäten waren jedenfalls schnell klar, was auch die Korrespondentin der Leipziger Volkszeitung feststellte. Sie fragte rhetorisch, was die Jugendlichen nach ihrem Arbeitstag in den Lagern für Erholung und Arbeit tun würden: Und dann? ‚…bummeln wir durch die Stadt. Krakow muß man gesehen haben!‘ schwärmt Claudia. Ich konnte die Gruppe zuvor bei einem Stadtbummel beobachten. Großes Erstaunen bei den 15-, 16jährigen, als sie die Tuchhallen auf dem Krakower Markt betraten. Die weiten hohen Gewölbe, das rege Geschäftstreiben, die vielen Stände mit Schnitzereien, Andenken und ‚Spittel‘, wie die Jugendlichen es nennen, ließen die Gespräche verstummen. Doch die erste Befangenheit wich schnell, das Tuscheln wurde lauter, Zurufe über Einkäufe, gemeinsame Diskussion über die Wahl von Geschenken. ‚Der Reiz des Unbekannten ist es, der die Jugend auf die Märkte, ins Geschäftsleben treibt,‘ erzählt Martina Leipnitz, Lehrerin und Gruppenleiterin der Eilenburger. Aber groß ist auch das Interesse an den vielen Sehenswürdigkeiten.175

Einkauf Größer war jedoch das Interesse am polnischen Markt. Jugendliche aus der DDR wussten sehr genau, dass sich Schleichhandelsaktivitäten lohnten, um an polnische Złoty zu gelangen. Sie verkauften Schokolade, Kaffee und Pfeffer, der zum Beispiel den 16-fachen Preis der DDR erzielte, an polnisches Küchenpersonal usw. Dieser Handel machte großen Spaß und abends prahlte man mit seinen Verdiensten und kürte den besten Handelsmann. Im Gegenzug wurden in Volkspolen begehrte Gegenstände gekauft – zum Beispiel ein modischer Motorradhelm, der die Fabrikate der DDR deutlich ausstach.176 Schleichhandelspraktiken und Einkaufstourismus waren somit wohl ein offenes Geheimnis. Ein Stasibericht spricht davon, dass „nach wie vor“ ältere Schüler und Studenten „bedeutend mehr Geld in polnischer Währung“ nach Volkspolen einführten, als dies in der Vorbereitung der Reise vorgeschrieben worden war. Zudem wurde einfach in Polen getauscht und Lebens- und Genussmittel wurden verkauft.177 Selbst mancher Spitzel der Staatssicherheit ließ sich angesichts des polnischen Angebots zu vorsichtiger Begeisterung hinreißen: 174 Vgl.

ebd.

175 Ebd. Nr. 1403, Krakow erlebt – und ins Schwärmen gekommen, LVZ vom 22./23. 7. 1989,

Bl. 151. Interview mit Herrn F. 177 Vgl. BStU, MfS, BV Leipzig, Abt. XX Nr. 202/04, Zwischenbericht zum Kinder- und Jugendaustausch 1988, Leipzig, [auf Kopie unleserlich], Bl. 24. 176 Vgl.

3.2. Kinder-, Jugend- und Studentenaustausch   257 Von den Reiseteilnehmern wurde insgesamt mit Erstaunen das relativ große Angebot (außer bei Nahrungsmitteln) in den Geschäften, aber auch die hohen Preise registriert (Freude war besonders unter den Schülern über das aktuelle Modebild in Kleidung bis hin zu modischen Kleinkram westlicher Prägung anzutreffen).178

Von der Faszination des polnischen Angebots waren auch die erwachsenen DDR-Bürger nicht ausgenommen. Ein Bericht hält fest, „daß in der Regel auch von der gesamten Lagerleitung der DDR weitere Geldbeträge illegal getauscht wurden, um zusätzliche Einkäufe (speziell Blusen, Jeans, Gürtel, Modeschmuck, Kosmetik) zu tätigen.“179 Während der Einkaufstourismus auf DDR-Seite sicherlich nicht gutgeheißen, aber insgeheim als vereinzelte Abweichung von der Norm kolportiert wurde, nahm man denjenigen durch Polen in Leipzig als Bedrohung wahr. Polnische Austauschpartner bemühten sich, Kapital aus ihrem Aufenthalt in der DDR zu schlagen. Es galt als vorteilhaft, möglichst im Zentrum Leipzigs unterzukommen – die Einkaufsmöglichkeiten lagen so direkt vor der Tür. Polnische Touristen verkauften auch ganz selbstverständlich Waren. So konnte der Urlaub manchmal erst finanziert werden, weil die vorgegebenen Quoten des offiziellen Geldtausches ziemlich niedrig waren.180 Gerade polnische Betreuer, Dolmetscher und ältere Teilnehmer des Austausches konnten einen finanziellen Gewinn in den Mittelpunkt ihrer Reisen stellen. Vereinzelt wurden Exkursionsprogramme mit persönlichen Einkaufsinteressen kombiniert.181 Polnische Studenten verkauften zum Beispiel Gläser, Körbe, Heizlüfter oder Sonnenbrillen, um im Gegenzug Schuhe, Textilien und verschiedene andere Konsumgüter zu erstehen.182 1985 versuchten sie auch 14 Mopeds auszuführen, was von der Zollverwaltung Leipzig vereitelt wurde.183 In der DDR hegte man den Verdacht, polnische Studenten seien ausschließlich aus „kommerziellen Gründen“ in der DDR, weil sie kulturellen Veranstaltungen fern blieben und stattdessen die ganze Freizeit dem Handel widmeten. In ihrem Einsatzbe178 Vgl.

ebd., Abt. II Nr. 421/02, Bericht über Reise mit Jugendtourist vom 9.–16. 5. 1985 nach Szcecin und Miedzyzdroje [sic!] (VR Polen), Leipzig, 25. 6. 1985, Bl. 117. 179 Vgl. ebd., Abt. XX Nr. 188/01, Information zum Kinderferienlageraustausch zwischen der DDR und der VRP, Leipzig, 29. 7. 1987, Bl. 91. 180 Vgl. ebd., Abschlußbericht polnischer Jugendaustausch, 5. 8. 1987, Bl. 114/15. Paweł Sowiński weist auf die Finanzierung des Urlaubs durch Schleichhandel hin. Vgl. Sowiński: Turystyka, in: Kott/Kula/Lindenberger (Hrsg.): Socjalizm, S. 189. 181 Vgl. BStU, MfS, BV Leipzig, Abt. XX Nr. 188/01, Brief, 5. 8. 1987, Bl. 27 und ebd. Nr. 309/05, 5. Informationsbericht zum Ferienaustausch zwischen der DDR und der VR Polen, Leipzig, 30. 8. 1985, Bl. 10. 182 Vgl. ebd. Nr. 309/05, 3. Informationsbericht zum Ferienaustausch zwischen der DDR und der VR Polen, Leipzig, 2. 8. 1985, Bl. 13. 183 Vgl. ebd., 4. Informationsbericht zum Ferienaustausch zwischen der DDR und der VR Polen, Leipzig, 16. 8. 1985, Bl. 12.

258   3. Reisen ins Nachbarland trieb wurde das Handeln vorsorglich sogar untersagt. Sechs Personen wurden gar wegen Straßenhandels von der Volkspolizei aufgegriffen.184 Diese Phänomene von Einkaufstourismus und Schleichhandel blieben genauso wie in den obigen Fällen des Messetourismus oder der ‚unterwanderten‘ Jugendreise formal mit der organisierten touristischen Reise verknüpft. Damit unterschieden sie sich von einem Schleichhandel, der den grenzüberschreitenden Verkehr einzig zum Zwecke des Verdienstes ausnutzte. Dieser Schleichhandel folgte häufig festen Regeln und bediente sich stabiler deutschpolnischer Netzwerke. Bei ihm ist in wenigen Fällen von Einkaufstourismus und Handel, die auf touristischen Fahrten fußten, auszugehen.185

Deutsch-polnische Kontakte und ihre Tücken Die Überlegung der sozialistischen Planer, dass Kontakte zwischen Deutschen und Polen bei Erholung und Arbeit zwangsläufig zu Stande kämen, ist sicherlich nicht irrig. Es entsteht aber in den Quellen immer wieder der Eindruck, dass die offiziellen Kontakte und ihre Folgen rhetorisch zu erfolgreichen aufgebauscht wurden, während tatsächliche Bindungen und Kontakte spontan und außerhalb der rituellen ostdeutsch-volkspolnischen Vereinnahmungen stattfanden. Dadurch, dass Deutsche wie Polen in Gruppen reisten, gelang es kaum, echte Nähe und Privatheit entstehen zu lassen. Individuelle Erfahrungen konnten deswegen kaum gemacht werden, was die Quellen nicht unbedingt verschweigen, aber sehr wohl ideologisch überspielen. In Leipzig war man sehr zufrieden, dass deutsche und polnische Jugendliche zusammen auf LPG zum Einsatz kamen. Denn so entstünden „besonders hier gute und enge Kontakte zwischen den Jugendlichen unserer beiden Länder“ und die Lager seien „besonders effektiv für die Verwirklichung der mit diesem Ferienaustausch verbundenen Zielstellung.“186 Aus der heutigen Perspektive ist es paradox, dass diese Befunde ausgerechnet in Gesprächen mit hohen Funktionären der SED und PVAP formuliert wurden – die Qualitätskontrolle war also schlichtweg miserabel, weil sie den Bock zum Gärtner machte. Der Alltag des Austauschs stellte einen Stasimitarbeiter, als er im sogenannten Studentensommer 1984 in der Leninhütte in Nowa Huta bei Krakau arbeitete, denn auch vor innere Konflikte und konfrontierte sein festgefahrenes 184 Vgl.

ebd. Nr. 188/02, Information über Studenteneinsätze 1989 im K-OGS-Leipzig, Leipzig, 28. 7. 1989, Bl. 52/53. 185 Vgl. insbesondere Kapitel 4 dieser Arbeit zum deutsch-polnischen Schleichhandel in Leipzig. 186 Vgl. SächsStA, StA-L, 21706 FDGB-Bezirksvorstand Leipzig Nr. 2385, Abschlußbericht des Ferienaustausches mit der VR Polen im Rahmen der SFG im Bezirk Leipzig, [undatiert], S. 3.

3.2. Kinder-, Jugend- und Studentenaustausch   259

Weltbild mit den Auswüchsen einer sozialistischen Wirtschaft im Niedergang. Er musste „bestürzt“ feststellen, dass viele Arbeiter stolz auf ihre Mitgliedschaft in der Gewerkschaft „Solidarność“ waren und den Sozialismus und die Freundschaft zur Sowjetunion kritisierten, was seine „schlimmsten Erwartungen“ übertraf.187 Einigermaßen konsterniert musste er auch einsehen, dass es um die „polnische Zukunft trübe“ aussähe, selbst der „oft zitierte Nationalstolz der Polen“, den er offensichtlich mit revolutionärem Impetus gleichsetzte, würde daran nichts ändern.188 Die Reaktion des Studenten des MarxismusLeninismus war jene des engagierten Sozialisten aus der DDR: In Diskussionen habe ich oft versucht, deutlich zu machen, das [sic!] eine fehlende Arbeitseinstellung und ewiges Herummeckern auch keine Lösung darstellen. Mir tat es im Innern weh, wie ein Land wie Polen vor derartigen Problemen stehen kann. […] Vor allem müßte in Polen die konsequente Parteiarbeit, besonders ihr Herzstück, die ideologische Arbeit, neu angefaßt bzw. in hohem Maße intensiviert werden.189

Den polnischen Arbeitern kam der deutsche Genosse reichlich verschroben vor, sie scheinen ihm aber dennoch vertraut zu haben: Selbst ich bekam das negative ideologische Bewußtsein zu spüren, als ich meine Studienrichtung nannte, da reagierten die polnischen Arbeiter abwertend und vorsichtig und bezeichneten mich spaßhaft als russisches Element, aber ansonsten hatte ich ein gutes Verhältnis mit den Werktätigen. Zum Schluß fiel der Abschied sogar ein bißchen schwer, weil ich mich Verlauf der 3 Wochen mit den polnischen Arbeitern über fast alles unterhalten konnte. (Arbeit, Politik, Familie) [sic!]190

Aus dem Bericht geht eindeutig hervor, dass der Studentensommer den Deutschen doch ziemlich tief in polnische Verhältnisse eintauchen ließ. Er wurde am Arbeitsplatz gut aufgenommen und man kam ins Gespräch, allerdings scheint man weitestgehend aneinander vorbeigeredet zu haben. So ist das Zeugnis des Studenten ein guter Beleg dafür, dass die Begegnungen von Deutschen und Polen nicht die ideologische Integration, sondern eher die Konfrontation sehr verschiedener politischer Kulturen stattfand. Auf der menschlichen Ebene gab es sicherlich die Möglichkeit, sich besser kennen zu lernen, dies hatte jedoch kaum mit der großen Politik zu tun. Versuche der Vereinnahmung solcher Kontakte durch das Berichtswesen der Organe sind daher skeptisch zu beurteilen. Der Bericht desselben Studenten aus dem Sommer 1985 fügt dieser Deutung noch weitere Komponenten bei. Er arbeitete für die Krakauer Universität 187 Vgl.

BStU, MfS, BV Leipzig, Abt. XV Nr. 3125, Bericht über den Studentensommer in der VRP, 10. 10. 1984, Bl. 6. 188 Vgl. ebd., Bl. 7. 189 Ebd., Bl. 8/9. 190 Ebd., Bl. 7.

260   3. Reisen ins Nachbarland im Botanischen Garten und auf einer Baustelle. Dabei kam er nicht mit Polen in Kontakt und konnte keine Gespräche führen. Dafür berichtet er über Kontakte seiner Kommilitonen. Zwei wurden von Polen eingeladen und „waren äußerst verwundert über den ideologischen Zustand der neuen polnischen Intelligenz.“191 „Nähere Kontakte“ zu einem polnischen Mädchen habe auch ein anderer Student gehabt, andere „politisch-relevante Kontakte“ konnte er nicht beobachten.192 Dies ist für eine sicher nicht ganz kleine Gruppe und bei der Annahme, dass er im Auftrag der Staatssicherheit besonders aufmerksam war, keine hohe Quote deutsch-polnischer Kontakte in seinem Blickfeld. Dieser Bericht ist also erneut ein recht guter Beleg dafür, dass – selbst im organisierten Austausch und trotz der Postulate – Kontakte nicht sonderlich zahlreich entstanden. Es lässt sich aufgrund der Einsatzorte sogar erahnen, dass es den Organisatoren nicht einmal durchweg angelegen war, solche Kontakte zu ermöglichen. Sie entstanden – wenn überhaupt – auf der privaten Ebene jenseits der Einflusssphären der Systeme. Die sozialistischen Planer mussten sich mit ihren Zahlenkolonnen begnügen, die sie als Erfolg der ostdeutsch-volkspolnischen Freundschaft heranzitierten. Einige unbeabsichtigte Elemente der deutsch-polnischen Kontakte, die bei anderen Akteuren und in anderen Kontakträumen ebenfalls Schwierigkeiten bereiteten, blieben auch im Kinder- und Jugendaustausch existent. Zu ihnen zählten geschichtlich begründete Vorurteile. Herr F. wies darauf hin, dass die Jugendlichen aus der DDR mit einer „Färbung“ und einem eher negativen Polenbild ihre Ferienreise antraten.193 In einem Stasibericht hieß es: Generell, wie oben bereits genannt, war die allgemeine Verständigung mit den polnischen Kindern ohne Probleme. Bei zwei Fußballspielen gab es aber Vorfälle, indem von DDRKindern gegenüber den polnischen Kindern Beschimpfungen aufgetreten sind, in Form von solchen Ausdrücken, wie ‚dummen Polenschwein‘.194

In einer Kompilation verschiedener Berichte beschwerte sich die DDR-Seite: „In einem geplanten Geländespiel sollte das Hakenkreuzzeichen für ‚Gefahr‘ stehen, unsere Delegation hat sich gegen die Benutzung des Zeichens ausgesprochen und es fand kein Geländespiel statt.“195 In dieser Darstellung geht diese Beschwerde einher mit der Anklage gegen die primitive Unterbringung 191 Vgl.

ebd., Bericht über den Studentensommer von Studenten der KMU in der VR Polen, 2. Durchgang 24. 8.–15. 9. 1985, Bl. 10/11. 192 Vgl. ebd., Bl. 11. 193 Vgl. Interview mit Herrn F. 194 BStU, MfS, BV Leipzig, Abt. XX Nr. 188/01, Information zum Kinderferienlageraustausch zwischen der DDR und der VRP, Leipzig, 29. 7. 1987, Bl. 90. 195 Ebd. Nr. 1402, Auszüge aus Berichten von Delegationsleitern über besondere Vorkommnisse während des Kinder- und Jugendaustausches in der VR Polen, 1. 8. 1988, Bl. 50.

3.2. Kinder-, Jugend- und Studentenaustausch   261

vor Ort, so dass sich möglicherweise der ganze Groll schon während des Austauschs und danach noch einmal im Bericht entlud. Schlechte Bedingungen und die gegenseitige Beschuldigung bzw. Konfrontation waren nicht immer voneinander zu trennen. Historische Vorbelastungen und aufgestaute Stereotypen brachen wahrscheinlich gerade in solchen angespannten Situationen auf. Ein weiterer problematischer Bereich war Sexualität. Auch der Student registrierte ja „nähere Kontakte“ zwischen Mann und Frau und lud sie operativ auf. Solche verschämten Andeutungen oder direkten Anschuldigungen sind in den Berichten jedenfalls kein Einzelfall. Einer deutschen Dolmetscherin, die ihrer Aufgabe ohnehin nicht sehr verantwortungsbewusst nachgekommen sei, wurde unterstellt, „vermutlich intime Beziehungen zu unterhalten“, da sie „ständig Kontakte zu männlichen Polen“ suche und unterhalte.196 Anrüchig waren besonders Kontakte größerer Mädchengruppen mit ihrem Umfeld – in Parallele zu den Berichten über polnische Vertragsarbeiterinnen in Leipzig. In Döbeln fielen Soldaten in Zivil auf, „die offensichtlich Kontakt zu weiblichen Jugendlichen suchten“.197 Manchmal lag die Sache noch ärger: Belästigung durch polnische Männer im Internat. Die Sicherheit der Reisegruppe war nicht gewährleistet. Fast ständig trieben sich Unbefugte, zum Teil im angetrunkenen Zustand, im Internat herum. Sie öffneten die Zimmer der Mädchen, so daß diese sich einschließen mußten. Der polnischen Seite war dieser Zustand bekannt. Warum keine Maßnahmen ergriffen wurden, ist uns nicht bekannt. Es muß aber auch gesagt werden, daß einige Mädchen diese Vorgänge unterstützten bzw. duldeten.198

Wie so oft ist nicht klar, wie viel Wahrheit in diesen Quellen steckt. Zunächst sind die Fakten als solche nicht generell zu bezweifeln. Zweitens ist die Empörung der Berichtenden grundsätzlich glaubwürdig, allerdings ist nicht auszumachen, inwiefern sie die Vorkommnisse zuspitzten. Die Rolle der Frauen ist in beiden Fällen nicht geklärt. Während sie im ersten Fall gar nicht auftauchen, wird im zweiten immerhin eingeräumt, einige Mädchen würden bestimmte Vorgänge begünstigen. Es ist durchaus denkbar, dass die sozialistische Sexualmoral – wie an anderen Zusammenhängen auch – die Auswüchse eines Jugendaustausches aufbauschte. Auch hier gerät das Bild des idealtypischen Austausches ins Wanken und es wird klar, wie viele Facetten des All196 Vgl. ebd. Nr. 1403, Information Ferienaustausch DDR–VR Polen 1989, Leipzig, 8. 8. 1989,

Bl. 153. ebd., KD Döbeln Nr. 419/02, Berichterstattung zum Verlauf des Kinder- und Jugendaustausches zwischen der DDR und der VR Polen, [undatiert], Bl. 20. 198 Ebd., Abt. XX Nr. 1402, Auszüge aus Berichten von Delegationsleitern über besondere Vorkommnisse während des Kinder- und Jugendaustausches in der VR Polen, 1. 8. 1988, Bl. 51. 197 Vgl.

262   3. Reisen ins Nachbarland tagslebens nicht geplant werden konnten und in letzter Konsequenz über die Funktionäre hineinbrachen. Plastisch wird diese Entwicklung besonders für das Jahr 1989, als in Polen schon die Weichen auf Demokratisierung standen und die Ausreisewelle die DDR destabilisierte und delegitimierte. Fast krampfhaft klammerte man sich an die ‚alten Wahrheiten‘ und war hilfloser Zeuge, wie in Volkspolen eine Verständigung der kommunistischen Partei mit der Opposition stattfand.199 Polnische Urlauber provozierten bewusst oder unbewusst die Bürger der DDR: Bei der Nennung des Namens von W. Jaruzelski in der Grußadresse brachen die anwesenden Polen in schallendes Gelächter aus und bezeichneten ihn als Marionette. Im Verlauf der Gespräche gaben die polnischen Betreuer u. a. an, daß ihre eigenen Kinder nicht Mitglied des Jugendverbandes werden, weil dieser der Partei untersteht und die Partei nicht die Wahrheit sagt. Die polnischen Betreuer berichteten über Veröffentlichungen in der polnischen Presse, nach denen 10% der DDR-Bürger nach der BRD wollen. Nach Meinung der polnischen Bürger müssen doch für eine derartige Entwicklung Gründe vorliegen.200

Das Ansprechen wunder Punkte traf einen Nerv, der Bericht macht den Eindruck, als suchten die Betroffenen DDR-Bürger händeringend nach Halt und nach Bestätigung – zur Not auf einem Blatt Papier für die Stasi. Das Interview mit Herrn F. demonstriert, wie die alten Gewissheiten durch neue Impulse ins Wanken gerieten und vor allem wie sehr die junge Generation der DDR die Autoritäten herausforderte. Auf der Reise 1989 war schon klar, dass eine Veränderung in der Luft lag und die Dynamik in Volkspolen befeuerte die Phantasie. Zusammen mit einem Klassenkameraden suchte Herr F. das Büro der „Solidarność“ auf und deckte sich mit Materialien wie Plakaten oder Ansteckern ein, die er unter seinen Kollegen herumzeigte und in der DDR mit erheblichem Stolz präsentierte. Dabei war ihm das politische Anliegen der polnischen Opposition undeutlich, er verstand sie als Symbol einer Bewegung gegen das „Verstaubte“ und es ging um eine Positionierung gegen den als miefig wahrgenommen Trott der DDR. Die pubertierenden Jugendlichen hatten das Gefühl, endlich etwas erleben zu können. Die Gelegenheit, in Volkspolen mit diesem Echten, mit einem Gegenentwurf, in Kontakt zu ­kommen, reizte sie. Für die letzten Reisenden der DDR vermengten sich die politische Alternative und die im Lebensstil und in Städtebildern präsente

diesen Weichenstellungen in Volkspolen 1989 vgl. u. a. Edmund Wnuk-Lipiński: Der große Wandel. Polen auf dem Weg zum „Runden Tisch“, in: Osteuropa 59 (2009), H. 2–3, S. 173–182. 200 BStU, MfS, BV Leipzig, Abt. XX Nr. 188/02, Information zum Urlauberaustausch mit Bürgern der VR Polen, Leipzig, 1. 8. 1989, Bl. 48. 199 Zu

3.3. Ergebnisse und Thesen   263

­ ockerheit zu einem Ventil für sich selbst und zu „Sprengstoff “ gegen den als L bevormundet wahrgenommenen Alltag.201 An solchen Stellen wird noch mal deutlich, was an Volkspolen so verlockend sein konnte und was die Autoritäten und Organe der DDR so abschrecken musste. Im Sommer 1989 war die DDR selbst schon auf dem Weg in die Geschichtsbücher, der polnische Einfluss war dabei sicher marginal. Ein letztes Mal jedoch lockte Volkspolen in der kaum in Worte zu fassenden alten Weise mit freierer Luft, mit Jazz, mit Süßigkeiten, schönen Frauen und historischen Innenstädten.

3.3. Ergebnisse und Thesen: Reisen ins Nachbarland. Volkspolen zwischen Sehnsuchtsziel und ­sozialistischer Urlaubsidylle Der Bruch zwischen dem Tourismus der siebziger und der achtziger Jahre ist unübersehbar. Tatsächlich repräsentiert bereits die Überlieferung zu einem Gutteil diese Unterscheidung: Während sich für die siebziger Jahre Reiseerzählungen finden, werden die achtziger Jahre von institutionalisierten Berichten über Reisen dominiert. Dem ordnet sich der Diskurs von sozialistischem Tourismus und Völkerfreundschaft zu. Beides konnte im ‚Dialog‘ der Systeme mit den sozialistischen Touristen nur gemeinsam funktionieren. Dementsprechend fielen die ideologischen Erwartungshaltungen der Urlaubsplaner in der DDR mit den Berichten der sozialistischen Gruppenreisenden in den achtziger Jahren zusammen. Die Berichtenden passten sich dem erwünschten Diskurs an und deuteten die Kontakte am Urlaubsort im Sinne der Annäherung zwischen sozialistischen „Brudervölkern“. Dabei ergänzten sich Inszenierung und authentische Begegnung. Negative Aspekte und eigensinnige Umdeutungen und Aneignungen polnischer wie deutscher Touristen wurden als unsozialistisch und der deutsch-polnischen Freundschaft undienlich charakterisiert oder in den negativen Diskurs über die ‚unzuverlässige‘ Volksrepublik eingeflochten. Hierzu gehörten Versorgungsengpässe wie Erscheinungen des Schwarzmarktes, historische Tabuthemen und gesellschaft­ liche und politische Besonderheiten wie Religion und eine unabhängige ­Öffentlichkeit in Volkspolen. Die Dokumente zeigen aber auch, wie DDRTouristen die Reisen nach Volkspolen in erheblichem Maße für Heimatbesuche und für Handel und Einkauf nutzten. Polnische Touristen reisten ohnehin häufig als Einkaufstouristen nach Leipzig. Alltägliche Praktiken untergruben 201 Vgl.

Interview mit Herrn F.

264   3. Reisen ins Nachbarland die Planung und machten sie teilweise wirkungslos. Abweichungen wurden aber sowohl oft bemerkt und kolportiert, wie auch aus dem Kanon der sozialistischen Urlaubspraxis ausgegrenzt. Ähnliches galt für den Jugend-, Schüler- und Studentenaustausch. Er war eigentlich eine Inszenierung der Erwachsenen, in der die Jungendlichen die ihnen zugedachte Rolle zu spielen hatten. Die Jugendlichen hatten zwar ein gewisses Gespür für die ideologische Botschaft, verstanden sie jedoch nicht vollständig oder taten sie als uninteressant ab. Für sie waren die Fahrten ins Ausland in erster Linie ein Abenteuer und – je nach Alter – eine Gelegenheit, sich der Welt der Erwachsenen zu entziehen. Die Berichterstattung der Erwachsenen bildete jedoch, genauso wie beim Urlauberaustausch, die vielfältigen ostdeutsch-volkspolnischen ideologischen Prämissen wie Konfliktpotentiale ab. Die vergleichsweise liberalen Verhältnisse der siebziger Jahre liefen den Entwicklungen des letzten Jahrzehnts staatssozialistischer Herrschaft gewissermaßen entgegen. Eigen-sinnige Praktiken konnten abseits der ‚Deckelung‘ durch organisierten Tourismus kaum kontrolliert werden. Die Grenzöffnung war in ihren Anliegen und in der offiziellen Propaganda natürlich ein Schritt zur Annäherung von Deutschen und Polen im Sinne der Freundschaftspropaganda gewesen. Die neuen Reisemöglichkeiten wurden aber in einem solchem Ausmaße und vor allem individuell und spontan genutzt, dass die Auswirkungen weit über die Rhetorik und die Grenzen der Flexibilität der staatssozialistischen Systeme hinausschossen. Praktiken und Annäherung deutscher wie polnischer Touristen deckten sich nicht mit dem staatlicherseits Akzeptablen. Sie vollzogen sich auf individueller Ebene und nicht auf jener der vergemeinschaftlichten sozialistischen Ideologie. Die Diskurse der Touristen und der Tourismusplaner strebten auseinander. Gerade deswegen sind die siebziger Jahre in den Erzählungen ein ‚goldenes Jahrzehnt‘ und voller persönlicher Erfahrungen.

4. Deutsch-polnischer Schleichhandel in Leipzig.1 „Hamsterkäufe“ und Konsum­ kultur ‚von unten‘ Bei der Stadtbesichtigung kamen wir im Stadtteil Praga [östlicher Stadtteil Warschaus] an einem Markt vorbei, für den wir uns interessierten. Der polnische Kraftfahrer gab uns zu verstehen, das sei ein Markt, auf dem jeder [sic!] Waren verkaufen könne, wie er will. Auf dem Markt stellten wir fest, daß ein großer Teil Erzeugnisse aus der DDR waren, insbesondere Schuhe, Damenoberbekleidung, Damenunter- und Nachtwäsche, Kosmetika, Erzeugnisse der Fotoindustrie (Filme, Fotopapier), technische Konsumgüter (Uhren, Luftduschen, Bügeleisen). Bei Schuhen war besonders auffällig, daß neben denen aus der DDR-Produktion, insbesondere vom Schuhkombinat ‚Paul Schäfer‘ (Lederschuhe mit angeschäumter Polyurethansohle) auch Schuhe angeboten wurden, die die DDR aus Westdeutschland und anderen kapitalistischen Ländern importiert hat. Daß es sich dabei um in der DDR gekaufte Ware handelte, ging daraus hervor, daß der EVP [Einzelhandelsverkaufspreis] der DDR noch auf den Sohlen stand. Wir sahen z. B. ein Paar Lederschuhe ‚Salamander‘, die in der DDR für 60,-M gekauft waren und für das Dreifache zum Verkauf angeboten wurden. Wir konnten feststellen, daß die in der DDR gekauften Erzeugnisse zum doppelten bis zum ­dreifachen Preis auf diesem Markt gehandelt wurden. Da auf dem Markt vorwiegend ältere Personen die Waren zum Verkauf angeboten haben, vermuten wir, daß der Einkauf dieser Erzeugnisse durch andere Personen, die als Zwischenhändler dienen, erfolgt ist.2

Die Faszination vieler DDR-Touristen angesichts polnischer Märkte ist unbestritten. Sie mischte sich mit Ungläubigkeit und Neid. Staatstreue DDR-Bürger packte angesichts des halb- oder illegalen Angebots offenbar Entrüstung. Die empörende Beobachtung, dass auf einem Warschauer Markt mit DDR-Waren ein erheblicher Gewinn erzielt wurde, entlud sich in obigem Bericht. Die Auslassungen über genau ein Paar Salamanderschuhe und die technischen Details um die Beschaffenheit einer Schuhsohle wetteifern mit den Aussagen über mögliche Zwischenhändler um den größtmöglichen Grad von kleinbürger­ licher Gründlichkeit. Den Berichtenden beunruhigte und ärgerte, dass durch Schleichhandelsware in Warschau ein angeblicher Mangel in der DDR entstünde. Reflexartig machte er die Schuldigen unter polnischen Händlern aus. Dabei zeigt das Beispiel eigentlich, wie fragil der Konsumsektor in den Staaten des Warschauer Paktes war und wie findige Geschäftsleute mit dem Angebot des DDR-Handels in Volkspolen erheblichen Profit erwirtschafteten. In

1

Schleichhandel wird hier zusammenfassend für alle Formen des illegalen schwarzen Marktes benutzt. Der Begriff versteht sich als Anlehnung an „Schleichwege“ – den Oberbegriff des Projektes, in dessen Rahmen diese Arbeit entstand. 2 SAPMO-BArch, DC 20 Nr. 16828, Information, Berlin, 24. 11. 1972, Bl. 207.

266   4. Deutsch-polnischer Schleichhandel in Leipzig der Hauptstadt Volkspolens überkreuzten sich die Märkte des Mangels und die Praktiken eines transnationalen Schleichhandels. Angesichts der Grenzöffnung 1972 wurden polnische Konsumenten plötzlich zu einem Konkurrenten um begehrte Güter, die sie – so die Unterstellung – zum Zwecke der persönlichen Bereicherung den DDR-Bürgern wegkauften. Da dieser Einkaufstourismus in der Tat massenhaft vorkam, wurde ihm auf Seiten der DDR schnell ein stabilitätsgefährdendes Potential attestiert. Konflikte zwischen polnischen (Einkaufs-)Touristen und DDR-Bürgern als Konkurrenten um Waren entstanden. Jonathan Zatlin hat eindrücklich belegt, wie der Mangel auf dem Konsumgütermarkt Ressentiments zwischen Deutschen und Polen aufleben ließ, verstetigte und teils auch rassistische Ausbrüche gegenüber Polen provozierte.3 Seine These, die Ausländerfeindlichkeit in der DDR sei auf dem vom Mangel gekennzeichneten Konsumgütermarkt entbrannt, begründet Zatlin mit der spezifischen Reaktion der DDR, die Schuld nicht in der ineffektiven Planwirtschaft, sondern beim kaufenden Fremden zu suchen.4 Das entscheidende Merkmal der sozialistischen Wirtschaft war jedoch gerade deren Charakteristik als permanente Mangelwirtschaft.5 Jerzy Kochanowski forciert sogar die Deutung, dass der schwarze Markt in Volkspolen und im staatssozialistischen System allgemein deshalb zwangsläufig entstehen musste und der Staat bei der Behebung von Mangelerscheinungen auf die Gesellschaft angewiesen war.6 Im grenzübergreifenden ostdeutsch-volkspolnischen Fall war die jeweils nationalstaatlich austarierte (und immer gefährdete) Balance zwischen Staat und Gesellschaft jedoch nicht zu erhalten. Der illegale und transnationale Ausgleich von Mangel wurde zur ostdeutsch-volkspolnischen Problemzone. Denn bei aller Theoriebildung zu den Ausprägungen des Mangels in der Wirtschaftswelt des Sozialismus, sind für die deutsch-polnischen Beziehungen zwei ganz allgemeine Feststellungen von besonderer Relevanz: Erstens war eben die Nachfrage auf beiden Seiten der Oder immer relativ hoch und konnte nie gedeckt werden und zweitens betraf Mangel in letzter Konsequenz immer menschliche Beziehungen auf der Alltagsebene.7 Mit der Grenzöffnung 3

4 5

6 7

Vgl. Jonathan R. Zatlin: Scarcity and Resentment: Economic Sources of Xenophobia in the GDR, 1971–1989, in: Central European History  40 (2007), S. 683–720, besonders S. 684–686. Vgl. ebd., S. 695–702. Vgl. János Kornai: Das sozialistische System. Die politische Ökonomie des Kommunismus. Baden-Baden 1995, S. 263. In seiner wirtschaftswissenschaftlichen Einführung in das „sozialistische System“ charakterisiert Kornai die Mangelwirtschaft als allgemein, intensiv, chronisch und häufig. Vgl. Kochanowski: Tylnymi drzwiami, S. 338–342. Vgl. Ders.: Economics of Shortage. Amsterdam/New York/Oxford 1980, S. 2 und S. 5.

4. Deutsch-polnischer Schleichhandel in Leipzig   267

zwischen der DDR und Volkspolen entstand ein kaum zu lösendes Problem grenzübergreifender Nachfrage, das auf der Ebene interethnischer Konkurrenz ausgetragen wurde. Dass der Frage der Versorgung mit Konsumgütern eine entscheidende Rolle bei der Bewertung der Lebensqualität in der DDR zukam, hatte seine Ursache unter anderem in der konsumpolitischen Wende unter Honecker in den siebziger Jahren. Honecker hatte als Marschroute ausgegeben, Konsumangebot und Sozialleistungen zu steigern. Dies stellte sich nicht nur als ausgesprochen unwirtschaftliches Bemühen heraus, sondern ließ die DDR immer weiter in die wirtschaftliche Krise und die Verschuldung rutschen.8 Die politisch gelenkte Planwirtschaft war nicht in der Lage, chronische Mangelerscheinungen zu beseitigen, was sich nicht zuletzt auf dem Verbrauchermarkt niederschlug. Spätestens in den achtziger Jahren war in der DDR ein Kaufkraftüberhang zu verzeichnen.9 Die Politik der SED war trotzdem bis zuletzt darauf bedacht, sich durch die stetige Verbesserung des Lebensstandards politische Legitimität zu erkaufen.10 Die Erscheinungen der Mangelwirtschaft auf dem Konsumgütermarkt konnten aber nie abgestellt werden und verschärften sich in den achtziger Jahren zusehends. Die DDR-Bevölkerung verfügte an­ gesichts der Verschuldungskrise und der Subventionspolitik der DDR über immer mehr Geld, während das Warenangebot stetig sank.11 All dies gilt in der Forschung als gewichtiger Grund, warum die DDR-Bevölkerung ihrer ­Regierung den Gehorsam kündigte.12 In der Historiografie zur DDR wird der Misserfolg der DDR an den Erfolgen der Bundesrepublik gespiegelt, die alltagsgeschichtlichen Verschränkungen mit den Nachbarstaaten geraten selten ins Blickfeld. Selbst Konsumgeschichten der DDR beschreiben kaum die konsumpolitischen Relationen der DDR mit den anderen Staaten des Ostblocks. Auch wenn sie sich mit der Allu. a. Steiner: Plan, S. 165–169 und 187/88; Fulbrook: Leben, S. 56–58. u. a. André Steiner: Zwischen Konsumversprechen und Innovationszwang. Zum wirtschaftlichen Niedergang der DDR, in: Konrad H. Jarausch/Martin Sabrow (Hrsg.): Weg in den Untergang. Der innere Zerfall der DDR. Göttingen 1999, S. 166. 10 Vgl. Annette Kaminsky: Wohlstand, Schönheit, Glück. Kleine Konsumgeschichte der DDR. München 2001. 11 Vgl. Steiner: Plan, S. 197–226, hier besonders S. 217. 12 Vgl. u. a.: Stephan Merl: Staat und Konsum in der Zentralverwaltungswirtschaft. Rußland und die ostmitteleuropäischen Länder, in: Hartmut Kaelble/Jürgen Kocka/Hannes Siegrist (Hrsg.): Europäische Konsumgeschichte. Zur Gesellschafts- und Kulturgeschichte des Konsums (18.–20. Jahrhundert). Frankfurt am Main/New York 1997, S. 205–241; Harry Nick: Gemeinwesen DDR. Erinnerungen und Überlegungen eines Politökonomen. Hamburg 2003 und Gernot Schneider: Lebensstandard und Versorgungslage, in: Eberhard Kuhrt u. a. (Hrsg.): Die wirtschaftliche und ökologische Situation der DDR in den 80er Jahren. Opladen 1996, S. 111–136.   8 Vgl.   9 Vgl.

268   4. Deutsch-polnischer Schleichhandel in Leipzig tagswelt der DDR befassen und eine eigenständige Konsumkultur der DDR postulieren bzw. keineswegs auf einen Vergleich der DDR mit der Bundes­ republik abzielen, ist der wesentliche Bezugspunkt solcher Untersuchungen – genauso wie für die Politiker und Bürger der DDR – der deutsche Nachbarstaat.13 Die blockinternen Auswirkungen des Mangels auf dem Konsumgütermarkt sind zum einen am Rande einiger Lokalstudien untersucht worden.14 Einen globaleren Zugriff liefern zum anderen Studien zum Phänomen des Ausgleichs von Mangelwirtschaft in Volkpolen.15 Auf der privaten Ebene spielten nämlich Konsumorientierungen und der Ausgleich der Mangelwirtschaft im grenzüberschreitenden Verkehr eine nicht zu unterschätzende ­Rolle. Denn die Kontakte zwischen Deutschen und Polen als Käufer und Verkäufer – und dies beiderseits der Grenze – waren im Vergleich zu den hier schon thematisierten (privaten) Kontakten in anderen Lebensbereichen massenhaft und ohne historische Präzedenz. Da sie millionenfach auftraten und zentrale Lebensbereiche betrafen, ist die mit ihnen verbundene negative Aufladung für die Beziehungen zwischen Staaten und Menschen von entscheidender Bedeutung. Die Begegnung von Deutschen und Polen auf den transnational verschränkten Märkten des Mangels hatte tief greifende politische und zwischenmenschliche Folgen. In diesen Auseinandersetzungen wurde nochmals überdeutlich, wie die Freundschaftspropaganda an den immanenten Schwächen und Fehlern der Systeme scheitern musste. Die Utopien und propagandistischen Wunschvorstellungen brachen sich an den Realitäten der Versorgung und den fremdenfeindlichen Praktiken des Alltags.16 Die Beziehungen zwischen der DDR und der Volksrepublik Polen wurden wegen des zunehmendem Einkaufstourismus und der unterschiedlichen Auffassungen zu Grenzkontrollen erheblich belastet. Eine DDR-Delegation, die Merkel: Utopie. z. B. Stokłosa: Grenzstädte. 15 Herausragend beschreibt Jerzy Kochanowski die Ursachen, Folgen und Praktiken des Schwarzmarktes in Volkspolen. Vgl. Kochanowski: Tylnymi drzwiami. Małgorzata Mazurek macht ebenfalls auf solchen Praktiken aufmerksam. Vgl. Małgorzata Mazurek: Społeczeństwo kolejki. O doświedczeniach niedoboru 1945–1989 [Die Schlangengesellschaft. Von der Erfahrung des Mangels 1945–1989]. Warszawa 2010. 16 Rainer Gries hat darauf aufmerksam gemacht, dass die Auseinandersetzungen um den Konsum die Autorität der SED in Frage stellten, weil sich ihre Utopien und ihre scheinheilige Propaganda nicht mit den Realitäten deckten. Statt zu reagieren, verzettelte sich die Partei in widersprüchlichen Haltungen und wurde in den Augen der aufgebrachten DDR-Bürger zum „Papiertiger“: Vgl. Rainer Gries: Konfrontationen im „Konsum“. Einkaufserfahrungen in der Mangelwirtschaft des real existierenden Sozialismus, in: Historische Anthropologie 14 (2006), S. 390. 13 Vgl. 14 Vgl.

4. Deutsch-polnischer Schleichhandel in Leipzig   269

1977 mit dem Zentralkomitee der PVAP über Reiseverkehr und Zollkontrollen beriet, berichtete in ungeschminkten Wendungen von einem Gespräch mit Gierek: Zum Reiseverkehr zwischen der DDR und der VRP sagte Genosse Gierek, dazu habe bereits Genosse Lukaszewicz in der Delegationsberatung gesprochen. (Genosse Lukaszewicz hatte dort das Echo auf die Zollmaßnahmen vom Dezember als ‚fatal‘ bezeichnet und dafür Beispiele genannt. Die PVAP könne nur durch eine Interpretation dieser Maßnahmen ­großen politischen Schaden verhindern, sonst falle ein Schatten auf die ganze Zusammenarbeit, auf die internationalistische Erziehung und die Entwicklung der Freundschaft.) Genosse Gierek erklärte, es sei hier ‚zu einigen Kleinigkeiten gekommen, die sich störend ­auswirken‘. Gewisse Dinge solle man ‚nicht den Beamten überlassen‘. Man müsse selbstverständlich die Spekulanten bekämpfen. Aber gegenwärtig entstehe ein falsches Bild. Wenn polnische Bürger nicht alles kaufen können, nur weil sie Polen sind, dann werden sie entsprechende Schritte gegenüber den DDR-Bürgern in der VRP fordern. Das alles habe doch wenig Sinn. Er betrachte diese Frage jedoch nicht als Gegenstand von Gesprächen auf höchster Ebene und ‚werde auch nicht weiter darauf eingehen‘.17

Es waren gerade die angedeuteten Animositäten und in noch größerem Maße der steigende Einkaufstourismus, der in der DDR die Idee reifen ließ, die Grenze zu Volkspolen zu schließen. 1980 waren „ökonomische und politische Bedingungen entstanden“, die es aus der Sicht der DDR erforderten, das Abkommen auszusetzen.18 Da die polnische Volkswirtschaft in einer Krise stecke, werde der „paß- und visafreie Reiseverkehr in erheblich größerem Maße zu Einkäufen in der DDR genutzt“ als zuvor. Deshalb hätten „massenhafte Käufe und Schiebergeschäfte ein nicht mehr vertretbares Ausmaß erreicht.“19 In den achtziger Jahren lieferten sich die DDR und Volkspolen regelrechte Polemiken, ob die Grenze einseitig von der DDR oder im gegenseitigen Einvernehmen geschlossen worden sei und ob man die Grenze wieder öffnen ­solle bzw. warum gewichtige Gründe dagegen sprächen.20 Die polnische Seite war überzeugt, dass die DDR die Erscheinungen von Schleichhandel über­ treibe und die Zollvorschriften der DDR „in hohem Maße repressiv“ seien. 17 SAPMO-BArch,

DY 30 IV/B/2/20 Nr. 145, Vorlage für das Politbüro des ZK der SED, Betr.: Ergebnisse der Reise einer Delegation des ZK der SED zum Erfahrungs- und ­Meinungsaustausch auf dem Gebiet der Agitation und Propaganda mit dem ZK der Polnischen Vereinigten Arbeiterpartei, Berlin, 13. 1. 1977, Anlage 1, Bericht über die Reise einer Delegation des ZK der SED zum Erfahrungs- und Meinungsaustausch auf dem ­Gebiet der Agitation und Propaganda mit dem ZK der Polnischen Vereinigten Arbeiterpartei, S. 4. 18 Vgl. ebd., DY 30 Nr. 3205, Information über die zeitweilige Aussetzung des Abkommens über den paß- und visafreien Reiseverkehr zwischen der DDR und der VR Polen vom 25. November 1971, [undatiert], Bl. 434. 19 Ebd., Bl. 434/35. 20 Vgl. ebd. Nr. 12419, Information über den Personenverkehr zwischen der VR Polen und der DDR in den Jahren 1987 und 1988, [Inoffizielle Übersetzung aus dem Polnischen], 31. 12. 1988 und Argumentation zum Reiseverkehr DDR – Polen, [undatiert].

270   4. Deutsch-polnischer Schleichhandel in Leipzig Schließlich seien 1988 in der DDR nur 27 gerichtliche Verfahren gegen Schleichhändler eingeleitet worden, so dass die Behauptung einer Zunahme der Zollvergehen keinesfalls bestehen bleiben könne.21 Die DDR hielt dagegen: Aufgrund der „gegebenen ökonomischen Bedingungen und Möglichkeiten, insbesondere der bestehenden gravierenden Unterschiede im Marktangebot und im Lohn-Preis-Gefüge“ sei eine Änderung im privaten Reiseverkehr nicht möglich, „nicht wiedergutzumachender Schaden“ sei zu verhindern.22 In der DDR war man sicher, dass die unerlaubte Ausfuhr von Waren weiter ansteige, man sprach von 68 Verfahren.23 Man erklärte der polnischen Seite die Nöte der Planwirtschaft und Subventionspolitik: Eine Betrachtung der rechtswidrig in die DDR eingeführten Artikel ergibt […], daß sie sicher attraktiv und gut verkäuflich sind, also bestimmte Bedürfnisse befriedigen – daß es sich überwiegend aber um relativ versorgungsunwichtige Artikel handelt. Zur Ausfuhr aus der DDR werden – wiederum in der Regel – Gegenstände gebracht, die von erheblichem Gewicht für die Versorgung der Bevölkerung sind. Häufig handelt es sich um Exporte und/ oder Gegenstände, die entsprechend der DDR-Preispolitik staatlich subventioniert sind […]. Daraus resultiert, daß tatsächlich mehr Nationaleinkommen abfließt, als es im Einzelhandelspreis der DDR zum Ausdruck kommt; außerdem werden die Importbilanzen nicht unerheblich belastet. Dies ist kein Vorwurf gegen Bürger der VRP oder Bürger anderer Staaten. […] Insgesamt existiert real eine Situation, bei der es weder im Interesse der DDR noch der VRP liegen dürfte, wenn die von ihr ausgehenden negativen politischen wie ökonomischen Wirkungen geringgeschätzt werden.24

Deswegen reagierte die DDR-Obrigkeit mit Vehemenz auf Schleichhandelstätigkeiten. Sie und insbesondere die Staatssicherheit verstanden sich als Garant des staatsozialistischen Systems und der Planwirtschaft: Die weitere erfolgreiche Gestaltung der entwickelten sozialistischen Gesellschaft in der DDR erfordert den allseitigen und zuverlässigen Schutz der Arbeiter-und-Bauern-Macht, die zuverlässige Gewährleistung einer ständigen hohen Sicherheit und Ordnung sowie die kompromißlose Durchsetzung der sozialistischen Gesetzlichkeit, eingeordnet darin den Kampf gegen operativ bedeutsame Straftaten und andere Handlungen, die im Zusammenhang mit Schmuggel und Spekulation stehen.25 21 Vgl.

ebd., Information über den Personenverkehr zwischen der VR Polen und der DDR in den Jahren 1987 und 1988, [Inoffizielle Übersetzung aus dem Polnischen], 31. 12. 1988, S. 5/6. 22 Vgl. ebd., Argumentation zum Reiseverkehr DDR – Polen, [undatiert], S. 2. 23 Vgl. ebd., S. 7/8. 24 Ebd., S. 8/9. Dass gerade subventionierte Waren und Importe nach Volkspolen transferiert wurden, stellte auch die Zollverwaltung der DDR fest. Vgl. BStU, MfS, BV Leipzig, Abt. VII Nr. 53, Bericht zum Stand der Bekämpfung von Schmuggel und Spekulation im Bezirk Leipzig, Leipzig, 10. 8. 1988, Bl. 60. 25 BStU, MfS, BV Leipzig, Abt. XVIII Nr. 469/02, Dienstanweisung Nr. 1/89 zur vorbeugenden Verhinderung, Aufklärung und Bekämpfung der im Zusammenhang mit Schmuggel und Spekulation stehenden operativ bedeutsamen Straftaten und anderen Handlungen, Berlin, 4. 1. 1989, Bl. 28.

4. Deutsch-polnischer Schleichhandel in Leipzig   271

Weil man den Schleichhandel als Bedrohung der „Arbeiter-und-BauernMacht“ verstand, wurde gegen ihn die geballte Staatsmacht in Stellung gebracht. Die Staatssicherheit war hier nicht mehr Einflussfaktor im Privatleben der Menschen, sondern das zentrale Organ zum Schutz der sozialistischen Ordnung. Private deutsch-polnische Kontakte, die auf informellem Wege Mangelerscheinungen umgingen, waren per definitionem unsozialistisch. Die Staatsorgane der DDR befanden sich daher in stetiger Auseinandersetzung mit Schleichhändlern. Dieser ‚Kampf ‘ hatte erheblichen Einfluss auf deutschpolnische Alltagswelten in Leipzig. Doch trotz aller staatlichen Diskurse und Eingriffe blieb Eigen-Sinn ein beständiges Element des Schleichhandels. Denn eines ist unbestreitbar: Einkaufstourismus, Schmuggel und Schleichhandel als Folgen der Mangelwirtschaft waren ohne die massenhafte Initiative, Mithilfe und gegenseitige Unterstützung von Deutschen wie Polen nicht denkbar. Die unüberschaubaren Verflechtungen von privaten und staatlichen Akteuren in einem ausgeklügelten System des Warentransfers machten diese Methode erst praktikabel und dauerhaft erfolgreich. Es entstand ein ökonomisches Subsystem, das sich auf Regelhaftigkeit und verlässliche Preise stützen konnte.26 Nicht weil sich Interessen grundsätzlich gegenüberstanden, sondern weil sie sich vielfach ergänzten und voneinander profitierten, funktionierte die private Konsumwirtschaft. Im privaten Kern der Initiativen standen sich die Interessen der Deutschen und Polen eben keineswegs so eindeutig gegenüber, wie es die schriftliche Überlieferung der DDR-Organe immer wieder suggeriert. Leipziger verstanden Schleichhandel als ein Geben und Nehmen, als einen legitimen und von äußeren Bedingungen erzwungenen Austausch von Mangelgut. Gerade vor diesem Hintergrund ist es auffällig, wie eindeutig ‚polnischer‘ Schleichhandel mit fremdenfeindlichen Zuschreibungen verdammt wurde und diese Fremdzuweisungen in der Propaganda der DDR zur Entlastung eigener Verfehlungen benutzt wurden. Die Frage danach, inwiefern die Situation der siebziger und achtziger Jahre in der DDR und Volkspolen bestimmte Verhaltens- und Denkmuster bedingte, mittels derer auf die gegebenen Umstände einer permanenten Mangelwirtschaft reagiert wurde, zielt vor diesem Hintergrund in einen weiteren Kern­ bereich deutsch-polnischer Beziehungen in Leipzig. Im Folgenden sollen die Qualität und die inneren Strukturen und Logiken der informellen ökonomi26 Jerzy

Kochanowski betont dementsprechend verschiedene Faktoren, die im Schleichhandel zusammentreffen: Planung, Ausführung und Beurteilung des Gewinns seien ebenso wie das Bewusstsein, Recht zu brechen, essentielle Bestandteile der inoffiziellen Wirtschaft des Staatssozialismus. Vgl. Kochanowski: Tylnymi drzwiami, S. 25.

272   4. Deutsch-polnischer Schleichhandel in Leipzig schen Kontakte und ihrer Folgen untersucht werden. Es soll hinterfragt werden, welche kulturellen Einstellungen und Praktiken die Bevölkerungen, Einzelne und die Staatsorgane ausprägten, um den Spezifika einer Mangelwirtschaft im Staatssozialismus zu begegnen. Wie sahen die Praktiken des Schleichhandels in Leipzig im Alltag aus? Wer betrieb Schleichhandel und mit welchen Mitteln und Motiven? Welche Einstellungen sowohl der Menschen wie auch der Machthaber ihm gegenüber manifestierten sich? Wie wirkte sich deutsch-polnischer Schleichhandel auf die Beziehungen zwischen Deutschen und Polen in Leipzig aus? Wie wurde Schleichhandel beschrieben und wie wurde er bekämpft? Wie entstanden die Erkenntnisse der Staatsorgane über den Schleichhandel? ­Welche Strategien, Pläne, Methoden und Vorgehensweisen staatlicher Organe ­gegenüber Schleichhändlern kamen zur Anwendung? Was sagt dies über den Kontrollanspruch der Staatssicherheit und über die Herrschaftspraxis in der DDR aus?

4.1. Einstellungen zum deutsch-polnischen ­Schleichhandel Was heißt Schwarzhandel? Wir haben alle auch gehandelt in unseren privaten Sphären […]. Also meine Bekannten [aus Polen, D.L.] haben eigentlich immer Dinge [in die DDR, D.L.] mitgebracht, wo sie mich gebeten haben, das hier zu verkaufen. Oder ich hab’s ihnen abgekauft und hab es dann als Geschenk benutzt, aber sie wollten ja Geld haben hier. Genauso wie ich Geld haben wollte in Polen. Das betrachte ich nicht als Schwarzhandel, wenn ein Staat nicht im Stande ist, die Bedürfnisse der Bevölkerung wirklich zu befriedigen. Und wenn das in einem anderen Land zu kaufen ist, dass dann die Bevölkerung einspringt und sich ein bisschen Gewinn davon verspricht, dann finde ich das überhaupt legitim. Ich finde das ist kein Schwarzhandel.27

Leipziger, die lebhaft am polnisch-deutschen Austausch teilgenommen haben, erzählen sämtlich vom Phänomen grenzüberschreitenden Schleichhandels. Nur wird er nicht in erster Linie als kriminell empfunden, sondern als ein Akt gegenseitiger Hilfe und Selbsthilfe. In einer Situation, in der Valutatausch streng limitiert war und jeweils andere Güter auf dem DDR- bzw. dem polnischen Markt stark nachgefragt waren, waren Tauschgeschäfte und Gewinne in der fremden Währung ein alltägliches Phänomen. In Leipzig zeigen Erinnerungen und Quellen, wie deutsche und polnische Konsumwünsche und -praktiken ineinander übergingen. Handel und Einkauf waren geplante Aktionen und liefen in deutsch-polnischem Einverständnis über Zweck und Mittel ab. 27 Interview

mit Frau B.

4.1. Einstellungen zum deutsch-polnischen ­Schleichhandel   273

Leipzig lag nicht in der unmittelbaren Einkaufszone nahe der Grenze. Deswegen wurde die Stadt gezielt angesteuert und es bildete sich nach Erkenntnissen der Zollverwaltung der DDR ein „territorialer Schwerpunkt“ für „Schmuggel- und Spekulationshandlungen“ heraus.28 Ohne die illegalen Dimensionen von Schmuggel und Schleichhandel in Frage zu stellen, müssen jedenfalls deren Ursprünge im – oftmals auch profitablen – Ausgleich von Mangel gesucht werden. Dieser Befund widerspricht vollkommen den Analysen der Staatsorgane und der gesamten schriftlichen Überlieferung der DDR zum Problem des Schleichhandels. Die DDR-Organe verleugneten sich jeglicher Analyse von Ursachen und verwiesen stetig auf die Symptome; eigene Fehler wurden auf Fremde – wie die polnischen Einkäufer – verlagert.29 Selbst oder besonders die Staatssicherheit verstetigte das Bild fremder Schmugglerbanden und Schieberringe. Sie ignorierte nicht nur weitgehend die Funktion deutscher Konsumenten beim Kauf von Schmuggelware, sondern leugnete weitestgehend auch die Beteiligung Deutscher am Phänomen eines ‚Schwarzen Marktes‘. Ein solches Eingeständnis hätte nicht nur bedeutet, dass ein System profitorientierter Märkte auch in der DDR existierte; auch die Machtlosigkeit des sozialistischen Apparates und letztendlich des Sozialismus selbst im Systeminneren hätte dann thematisiert werden müssen.30 So lässt sich nicht nur zeigen, wie in der Wahrnehmung des Angebots im Nachbarland Konsummöglichkeiten entdeckt wurden und wie die Einstellungen von Deutschen und Polen Schleichhandel begünstigten. Im Gegenzug wird deutlich, wie negativ polnische Käufer und Schleichhändler in der DDR wahrgenommen wurden. Gerade die Staatssicherheit fokussierte darauf, Schleichhandel zu kriminalisieren; das heißt, ihn vor allem in kriminellen ­Milieus zu verorten und damit aus der sozialistischen Gesellschaft zu externalisieren. Der Diskurs der sich Erinnernden zeigt, wie weit verbreitet und geduldet Phänomene des Schleichhandels waren. Die Diskurse der schriftlichen Quellen geben die angebliche Stimme des Volkes, die Einschätzung der Machthaber und letztendlich die Verdammung des vermeintlich polnischen Schleichhandels wider. Die alltagsgeschichtliche Perspektive zeigt jedoch, wie sich Deutsche und Polen gegenseitig halfen und ihre gemeinsamen Erfahrungen mit Mangel und Knappheit Schleichhandel und Warentransfer zur gängigen Praxis werden ließen. 28 Vgl.

BStU, MfS, BV Leipzig, Abt. VII Nr. 53, Bericht zum Stand der Bekämpfung von Schmuggel und Spekulation im Bezirk Leipzig, Leipzig, 10. 8. 1988, Bl. 57. 29 Vgl. Zatlin: Scarcity, S. 699 und S. 701. 30 Vgl. ebd., S. 701.

274   4. Deutsch-polnischer Schleichhandel in Leipzig

Die Wahrnehmung ‚von unten‘ Aus allen Interviews geht hervor, dass bei Reisen Warenangebote gegeneinander abgewogen wurden: „Was ja für uns als DDR-Bürger immer interessant war und für die Polen ja genauso – zu sehen, was es im anderen Land gibt, was man im eigenen nicht bekommt.“31 Leipziger erfassten Unterschiede in der Versorgung sehr schnell und griffen Vor- und Nachteile heraus. Selbst ­Berichte von Aufenthalten in polnischen Krankenhäusern gehen auf solche Details ein. Mal war es der Mangel an Spritzen, so dass ein Schmerzmittel geschluckt werden musste32, mal fiel der Mangel an Verbandsstoffen auf oder wie die Ernährung im Krankenhaus mittels krankenhauseigener Viehzucht ­sichergestellt wurde.33 Polnische Hausfrauen erregten Aufmerksamkeit, weil sie immer und überall lange Schnüre mitführten, um gegebenenfalls Toiletten­ papier zu ergattern und es dann auf dieser Schnur zu transportieren. Eine heftige Überraschung war mit der Entdeckung verbunden, dass polnische Bürger ins westliche Ausland reisen konnten, wenn sie im Besitz eines Devisenkontos waren: „Oder in Polanica Zdrój, wo ich das erste mal durch den Ort gegangen bin, da gab es ein Reisebüro. Ich hab’ davor gestanden – ich denke, das gibt’s nicht. Die können nach Rom fahren, die können nach Wien fahren, die können nach Barcelona fahren.“34 Von diesem Wissen um das Angebot und dessen Ausnutzung zum eigenen Vorteil war es nur ein kleiner Schritt. Auf persönlicher Ebene wurden Einkaufsreisen, Mitbringsel, Tausch- und Kaufgeschäfte überall praktiziert und stießen auf keinerlei Ablehnung.35 In solchen Fällen spielte die Konkurrenz um Güter keine Rolle, deutsche wie polnische Bekannte arbeiteten angesichts der Versorgungslage vielmehr zusammen. Als 1981 die (Versorgungs-)Lage in Volkspolen bedrohlich geworden war, schickten Leipziger während des ganzen Jahres Lebensmittelpakete ins Nachbarland. Zwar sind die Absender nicht mehr zu bestimmen und somit die Motive und die Struktur solcher Aktionen nicht mehr zu rekonstruieren, bei der Staatsmacht stießen sie jedenfalls auf latente Ablehnung. Vom Januar bis September 1981 wurden von der Postzollfahndung 120 Pakete geröntgt. Am häufigsten wurden Bonbons (72 mal), dann in absteigender Reihenfolge Reis, Pudding, Schokolade bzw. Pralinen, Suppen, Nudeln bzw. andere Teigwaren, 31 Interview

mit Frau T. Interview mit Herrn L. 33 Vgl. Interview mit Frau K. 34 Vgl. ebd. 35 Diese Haltung manifestiert sich besonders in jenen Erinnerungen, bei denen die Gesprächspartner im Grunde nur zufälligen Kontakt nach Polen pflegten. Vgl. Interview mit Frau St. und Frau T. 32 Vgl.

4.1. Einstellungen zum deutsch-polnischen ­Schleichhandel   275

Gebäck, Gries, Kosmetik und Toilettenartikel, Fleisch- bzw. Wurstwaren, Waschmittel, Mehl, Bohnenkaffee, Kartoffelstärke, Kakao, Zucker, Tee, Kloßmehl, Graupen, Speiseöl, Tortenmehl, Backzutaten, Erbsen, Linsen, Weizinin, Haferflocken, Maisan, Gewürze, Milchpulver, Bohnen, Brühpastete, Fischkonserven, Zigaretten oder Zigarren, Traubenzucker, Getränkepulver, Kondensmilch, Kuchenmehl, Nüsse und Sultaninen usw. gefunden. Alkohol war eines der Produkte, die nur in geringer Menge verschickt wurden. Durchschnittlich wurden z. B. 125–250  gr. Kaffee, 100–600  gr. Schokolade, 200– 1500 gr. Bonbons, 500–1500 gr. Fleisch bzw. Wurst, 1000–3000 gr. Zucker, 1–3 Pakete Waschmittel, 20–100 Zigaretten und 250–2500  gr. Gries, Graupen, Mehl, Erbsen, Linsen, Pudding, Reis und Haferflocken entdeckt. Auch Texti­ lien – wie Kinderkleidung oder Geschirrhandtücher – wurden 14-mal gefunden.36 Schon die Detailfreude der Aufzeichnung zeigt, wie sehr man diesen privaten Initiativen misstraute. Der Staatssicherheit blieben deutsch-polnische Verbindungen während der offiziellen politischen Eiszeit suspekt. Doch die ‚Paketaktion‘ belegt die Einstellungen der schenkenden Leipziger: Persönliche Bekanntschaften und Verbindungen zwischen Deutschen und Polen in Leipzig waren weder grundsätzlich von Neid gekennzeichnet, noch gab es eine ständige Konkurrenz um Güter. Vielmehr waren die Praktiken des Einkaufs und Austauschs von Mangelwaren allgegenwärtig und akzeptiert. Dies spiegelt sich auch in der einleitenden Äußerung von Frau B. anschaulich wider. Es galt als verhältnismäßig selbstverständlich, sich in der angespannten Konsumgüterfrage selbst zu helfen. Die Gesprächspartner und auch andere Leipziger waren sogar bereit, ein gewisses Risiko auf sich zu nehmen, um Polen zu unterstützen.37 Der eigene Gewinn stand dabei nicht im Vordergrund, auch wenn man auf gewisse Gegenleistungen polnischer Bekannter und Freunde durchaus hoffen konnte. Die ‚polnische Perspektive‘ auf Schleichhandel berührt die Zweischneidigkeit der Blickwinkel von ‚oben‘ und ‚unten‘ sowie die Verflechtung von Motiven und Praktiken. Denn erst ein erfolgreicher Verkauf polnischer Waren, die in der DDR stark nachgefragt waren, ermöglichte es, wiederum selbst begehrtes Mangelgut einzukaufen. In seiner literarischen Verarbeitung deutsch-polnischen Lebens in Leipzig lässt Henryk Sekulski einige seiner Protagonisten nur zu Verkaufs- und Einkaufszwecken nach Leipzig fahren. Aus jeder der importierten und exportierten Waren soll maximaler Gewinn geschlagen 36 Vgl.

BStU, MfS, BV Leipzig, Abt. II Nr. 145, Information über Paketausfuhr nach der VRPolen, Leipzig, 12. 10. 1981, Bl. 19–22. 37 Vgl. Interview mit Frau B. und Herrn P. Auch die Verschickung von Paketen barg offenbar das Risiko, die Aufmerksamkeit der Staatsmacht zu wecken.

276   4. Deutsch-polnischer Schleichhandel in Leipzig ­ erden, ganze Tage verrinnen so beim Sichten des Angebots, beim Feilschen, w beim Umverteilen und beim Verkaufen.38 Obwohl Sekulski solche Transaktionen mit ironischem Unterton beschreibt, können die Handelsunternehmungen von Polen unter Umgehung der gesetzlichen Grenzen als kulturelle Praxis weiter Gesellschaftskreise aufgefasst werden. Der sogenannte Schwarzmarkt existierte parallel zur offiziellen Wirtschaft.39 Das für Volkspolen typische dichotomische Verhältnis zwischen Gesellschaft und Staat, das als Erklärung für politische Frontstellungen herangezogen wird40, kann vereinfachend auch auf ökonomische Bereiche ausgeweitet werden. Das würde auch erklären, warum in Volkspolen wirtschaftliches Auskommen viel schneller und umfassender als in der DDR außerhalb der staatlich gelenkten und verordneten Bahnen gesucht wurde und in parallele, inoffizielle Strukturen abwanderte. Selbst wenn der Schleichhandel professionellere und vor allem organisierte Formen annahm, waren viele der oben angedeuteten Motive präsent. Leipziger Familien, deren Mitglieder zum Teil aus dem Gebiet der Volksrepublik stammten und polnisch sprachen, funktionierten als Mittelsmänner zwischen polnischen Verkäuferinnen und vietnamesischen Einzelhandelsgeschäften. Als solche Machenschaften aufflogen, gaben die Leipziger in Polizeiverhören zu Protokoll, sie hätten aus Mitleid gehandelt oder hätten den Polinnen helfen wollen.41 Dabei spielte sicherlich eine Rolle, dass die Beteiligten die schlechte Versorgungslage und Alltagsnöte in der Volksrepublik einigermaßen einschätzen konnten.42 Aus diesem Wissen speiste sich die Einsicht, dass die polnischen Frauen ihre Verkaufs- und Einkaufsreisen nach Leipzig aus finanziellen Gründen unternahmen. Der – aus Sicht des Staates – kriminelle Charakter des Handels wurde unterschlagen. Wie eine beschuldigte Deutsche im Verhör versicherte, willigte sie in das Geschäft ein, um den polnischen Frauen das nötige Geld für Einkäufe in der DDR zu beschaffen: Der Hauptgrund meiner Bereitschaft, den polnischen Bürgern beim Absatz ihrer Waren zu helfen, war aber doch aus meinem Mitleid heraus. Sie erzählten immer, wie schlecht es ihnen in Polen geht und daß sie für das durch uns erhaltene DDR-Geld letztendlich Nahrungsmittel und Bekleidung kaufen wollen.43

Auch die anderen Verhörten erweckten den Eindruck, dem Schleichhandel nicht aus Gründen der persönlichen Bereicherung, sondern wirklich aus Hilfsbereitschaft und Naivität zugestimmt zu haben. Auch wenn man dieser Sekulski: Przebitka, S. 142–149. auch Wedel: Polska, S. 81–93. 40 Zum Verhältnis von Staat und Gesellschaft in Polen vgl.: Hahn: Gesellschaft. 41 Vgl. BStU, MfS, BV Leipzig, Abt. IX Nr. 368. 42 Vgl. ebd., Bl. 52 und Bl. 146. 43 Ebd., Bl. 147. 38 Vgl. 39 Vgl.

4.1. Einstellungen zum deutsch-polnischen ­Schleichhandel   277

Argumentation angesichts einer geschickten Verteidigungsstrategie nicht uneingeschränkt Glauben schenken sollte, deutet die Häufung solcher Argumente bei unterschiedlichen Beschuldigten auf eine gewisse Plausibilität dieser Äußerungen hin. Die bereitwillige Zusammenarbeit der Leipziger Schleichhändler mit den Behörden wurde im Schlussbericht zur Akte bestätigt und die Beamten der Volkspolizei glaubten den Angaben. Im Gegensatz zu den oftmals üblichen moralischen Abwertungen von (vermeintlichen) Straftätern, verzichtete man in dieser Akte auf assoziative Anklagen, was ebenfalls für die Glaubwürdigkeit der Aussagen spricht.44 Weitere Quellen belegen nicht zwangsläufig Empathie zwischen Polen und Deutschen beim wechselseitigen Schleichhandel. Sie machen aber trotzdem greifbar, wie wenig bestimmend das Bewusstsein, Zollbestimmungen zu brechen, bei der Beschaffung begehrter Mangelwaren war. So entschied sich ein stellvertretender Vorsitzender einer LPG illegal und wider besseres Wissen, mit polnischer Vermittlung Tischrechner aus Volkspolen zu bestellen. Ihren Anfang nahmen diese Geschäfte, als ein in der DDR lebender polnischer Elektriker von einem seiner Vorgesetzten gebeten wurde, eine solche Maschine in Volkspolen zu erstehen. Nachdem er 1978 ein gebrauchtes Gerät mitgebracht und für 2500 DDR-Mark an die LPG verkauft hatte, nutzte er seine Sprachkenntnisse, um mit polnischen Schleichhändlern Absprachen hinsichtlich der Lieferung von weiteren Rechnern zu treffen. Dafür erhielten die polnischen Schmuggler in der Folge die begehrten DDR-Devisen, der Schleichhändler profitierte vom Weiterverkauf. Buchungen liefen unter anderem über Konten von Bekannten des Elektrikers und die LPGs des Umlandes rüsteten wissentlich mit Schmuggelware auf. Insgesamt wurden so 24 Tischrechner und sieben Taschenrechner im Wert von 158 452,07 DDR-Mark eingeschmuggelt, ungefähr 50 000 DDR-Mark von dieser Summe wurden an die polnischen Bürger „weitervermittelt“.45 Der Leiter der LPG beschrieb sein Dilemma während eines Verhöres dahingehend, dass die LPG die Rechner nötig gebraucht habe, sie aber über legale Quellen in der DDR nicht beziehen konnte. Deshalb habe er der illegalen Beschaffung zugestimmt und handelte somit – zumindest stellte er dies im Protokoll so dar – im Interesse der LPG. Bei den Abrechnungen der Summen, die für illegale Rechner geflossen waren, vertuschte der stellvertretende Vorsitzende der LPG dieses Vorgehen.46 Der polnische Mittelsmann gab in Ver44 Vgl.

ebd., Schlußbericht, Leipzig, 30. 4. 1981, Bl. 231. ebd., ZMA Abt. II Nr. 438, Bl. 107–118. Die gesamte Akte widmet sich dem Schleichhandel mit den Tischrechnern, sie umfasst Verhöre und Berichte. 46 Vgl. ebd., Abt. II Nr. 613, Befragungsprotokoll des Beschuldigten, Leipzig, 2. 2. 1982, Bl. 501. 45 Vgl.

278   4. Deutsch-polnischer Schleichhandel in Leipzig hören an, er habe sowohl seinen deutschen Vorgesetzten wie auch den polnischen Schleichhändlern einen Gefallen tun wollen.47 Auch dieser Fall zeigt – wiederum unter dem Vorbehalt der besonderen Situation des Verhörs –, wie Mangel in der DDR umgangen wurde. Aus der Schlussfolgerung, bestimmte Waren auf legalem Wege nicht beziehen zu können, entwickelte sich Denk- und Handelsmuster, die der Situation angepasst waren. Moralische Bedenken wurden dabei relativ schnell überwunden, auch wenn die Unrechtmäßigkeit des Schleichhandels den Beteiligten durchaus bewusst war.

Die offizielle Sicht Verlässt man die ‚Binnenperspektive‘ der Einkäufer und Schleichhändler und analysiert die administrativen Sichtweisen auf Schleichhandel so verschieben sich die Parameter in entscheidender Weise. In den staatlichen Dokumenten wurde die stetige deutsche Nachfrage nach polnischen Waren als Grund deutsch-polnischen Schleichhandels nur selten benannt. Generell wurde in der SED nicht geleugnet, dass das Angebot im jeweiligen Nachbarland attraktiv war und zu Einkäufen führen musste: Selbstverständlich kaufen Touristen auch das, was im besuchten Land attraktiver und billiger ist. Das ist völlig normal. Es ist kein Geheimnis, daß in einigen sozialistischen Ländern bestimmte Waren nicht ausreichend im Angebot sind und in unterschiedlicher Qualität angeboten werden.48

Diese Lesart blendete zum einen jedoch die tieferen ökonomischen Ursachen aus. Zudem griff die Politik der DDR das Problem wirklich konsequent nur dann auf, wenn es um polnische Einkäufer in der DDR ging. Dass deutsche Nachfrage diesen Einkauf bedingte und ermöglichte, wurde registriert, aber möglichst an den Rand gedrängt. Das Problem des (polnischen) Einkaufstourismus stand gleich nach der Grenzöffnung oben auf der Liste politischer Beratungen zwischen Volkspolen und der DDR. Das Politbüro des ZK der SED war sich auf der Linie der Propaganda über die erfreulichen Auswirkungen einig, erachtete es aber als „besonders vordringlich […], die organisierten Einkaufsreisen, die zu unserer Vereinbarung über den paß- und visafreien Reiseverkehr im direkten Widerspruch stehen, sofort zu unterbinden.“49 Zwischen SED und PVAP kam es zu Meinungsver47 Vgl.

ebd., Bl. 192. Abt. XV Nr. 665, Informationen 1989/3 Nr. 257, Zum Schutze des Binnenmarktes im Interesse der Bürger der DDR, Bl. 86/87. 49 SAPMO-BArch, DC 20 Nr. 16828, Mitteilung des Vorsitzenden des Ministerrates der DDR, Genossen Stoph, an den Vorsitzenden des Ministerrates der VRP, Genossen Jaroszewicz, [undatiert], Bl. 101. 48 Ebd.,

4.1. Einstellungen zum deutsch-polnischen ­Schleichhandel   279

schiedenheiten darüber, wie der Einkaufslust der Polen entgegengetreten werden solle. Die PVAP wollte zwar „Spekulanten“ nicht dulden, befürwortete aber den Einkauf in der DDR. Die DDR-Seite konterte mit der Gefährdung der Versorgung in der DDR, so dass die Bälle immer wieder zurückgespielt wurden.50 Selbst Honecker schrieb an Gierek, dass Einkaufsreisen unterbunden werden müssten, und begründete damit zollrechtliche Maßnahmen der DDR. Sein Ton blieb aber vorsichtig, eine echte Anklage richtete er nicht an die polnischen Partner: „Ich bin, wie Du mich kennst, weit davon entfernt, die Ursachen für diese Entwicklung nur auf einer Seite zu suchen, für mich ist entscheidend, daß wir unsere brüderlichen Beziehungen in dem Geist, wie wir sie begonnen haben, weiter entwickeln.“51 Die Dossiers und Berichte, die die DDR-Organe hinsichtlich des Abkaufs und des Schleichhandels mit Mangelwaren erstellten, bedienten sich jedoch einer anderen Sprache. Man verdächtigte die polnische Seite, den Einkauf in der DDR geradezu öffentlich zu propagieren. 1972 habe das Pressorgan der PVAP, die „Trybuna Ludu“, in Berichten über polnischen Einkaufstourismus eine „bewußte Orientierung auf die Einkaufsmöglichkeiten in der DDR gegeben.“52 Dieser Argwohn war zum Teil sogar begründet. Noch im Jahr 1983 informierte die polnische Zeitung „Rzeczpospolita“ genau über die Einfuhrzölle Volkspolens. Bezeichnend war schon ein Teil des Titels „Mangelwaren in geringen Mengen zollfrei“, der die Zielstellung des Einkaufs in der DDR verdeutlichte. Es folgte eine detaillierte Liste, welche Warenmengen zollfrei nach Volkspolen eingeführt werden dürften und ab welcher Menge verzollt werden müsse. Die Auflistung reichte von Zahnpasta über Fernsehgeräte, Pfeffer, Rasierklingen, Fotoausrüstungen, Batterien zu Motorrädern und vielem mehr.53 Gern wurde in Dokumenten wie im allgemeinen Wissensbestand der DDRBevölkerung polnischen Käufern und sogenannten Spekulanten die Schuld am Mangel in der DDR zugeschoben. Man nahm an, den Erscheinungen po50 Vgl.

ebd., DY 30 Nr. IV/B/2/20 Nr. 145, Vorlage für das Politbüro des ZK der SED, Betr.: Ergebnisse der Reise einer Delegation des ZK der SED zum Erfahrungs- und Meinungsaustausch auf dem Gebiet der Agitation und Propaganda mit dem ZK der Polnischen Vereinigten Arbeiterpartei, Berlin, 13. 1. 1977, Anlage 1, Bericht über die Reise einer Delegation des ZK der SED zum Erfahrungs- und Meinungsaustausch auf dem Gebiet der Agitation und Propaganda mit dem ZK der Polnischen Vereinigten Arbeiterpartei, S. 4/5. 51 Vgl. ebd. Nr. 12419, Brief von Honecker an Gierek, 23. 11. 1972, S. 1. 52 Vgl. ebd. Nr. 3201, Information zu Problemen des grenzüberschreitenden Verkehrs mit der VRP und der CSSR, Berlin, 9. 2. 1972, Bl. 3 [Hervorhebung im Original]. 53 Vgl. BStU, MfS, HA VI Nr. 15192, Übersetzung aus „Rzeczpospolita“ vom 05. 04. 1983, Seite 4, Frankfurt/Oder, 5. 4. 1983, Bl. 2–7, Zitat Bl. 2.

280   4. Deutsch-polnischer Schleichhandel in Leipzig litisch entgegentreten zu können. Zwischen den Zentralkomitees der Parteien zirkulierten Vorlagen mit bedachten Sprachregelungen: Selbstverständlich geht die Partei- und Staatsführung der DDR bei der Behandlung dieser Fragen davon aus, daß in erster Linie wir durch eigene effektivere politische, ökonomische und administrative Maßnahmen diesen illegalen Handel einschränken und schließlich liquidieren müssen. In diesem Sinne werden wir vom Sekretariat des Zentralkomitees der SED konkrete Maßnahmen zur quantitativen und qualitativen Erhöhung des Warensortiments, zur weitern Entwicklung des Handels, zur Verbesserung der politischen Erziehung unserer Bürger sowie zur Verstärkung der Tätigkeit unserer Polizei- und Justizorgane getroffen.54

Der Schwerpunkt lag somit eher auf Repression und Bekämpfung und nicht auf effektiver Prävention. Bei der Staatssicherheit eignete man sich angebliche Argumente der Bevölkerung an, um Schleichhandel weitestgehend auf ‚polnische‘ Verfehlungen und Verhaltensweisen abzuwälzen. Argumente für Schleichhandel ließ man nicht gelten. Eigenes Versagen sah man vor allem darin, die Merkmale des Schleichhandels nicht entschlossen genug zu bekämpfen: Trotz der im allgemeinen überwiegenden Abneigung und Verurteilung derartiger Praktiken polnischer Bürger in öffentlichkeitswirksamen Schwerpunkten werden solche illegalen Handelsgeschäfte vielfach durch ein bestehendes Kaufinteresse bestimmter Käuferschichten aus der DDR begünstigt und toleriert. Angeblich würden auf diese Weise die polnischen Straßenhändler mit ihrem ‚Warenangebot‘ in der DDR vorhandene ‚Marktlücken‘ schließen. Die Ablehnung und Verurteilung dieser Art von ‚Handelsgeschäften‘ durch die Mehrheit der DDR-Bevölkerung entstand zunächst in erster Linie infolge des als belästigend empfundenen Auftretens polnischer Straßenhändler und der oftmals unverhältnismäßig hohen Preisforderungen. Zugleich werden die Mißfallensäußerungen auch mit einigen Zweifeln an der Richtigkeit der Wirtschaftspolitik der VR Polen verbunden. Es wird immer wieder betont, daß der polnische Staat dafür sorgen solle, damit die betreffenden, meist jüngeren polnischen Bürger in ihrem Heimatland einer ordentlichen nutzbringenden Tätigkeit zugeführt werden, anstatt die freundschaftlichen Beziehungen zwischen unseren Staaten durch ihr Verhalten zu belasten. In den immer häufiger werdenden Meinungsäußerungen und Diskussionen kommt des weiteren Unverständnis darüber zum Ausdruck, daß die staatlichen Organe bisher diese Erscheinungsformen illegaler Handelstätigkeit nicht konsequent unterbinden, da es doch ‚ungesetzlich sei‘ und ‚polnische Bürger keine Sonderrechte bei uns genießen könnten‘.55

Die Ursachenanalyse endete so an der Oberfläche. Nicht die Änderung der Wirtschaftspolitik, sondern eine Einflussnahme auf die Meinungen und Stimmungen der Bürger sollte die Lösung bringen. In einem Dokument von 1989 54 Ebd.,

ZAIG Nr. 23073, Mitteilung von Hermann Axen an den Botschafter der DDR in Warschau, Günther Sieber, zur Vorlage im ZK der PVAP, 11. 8. 1977, Bl. 11. 55 Ebd., Information über den von Bürgern der VR Polen betriebenen illegalen Straßenhandel in verschiedenen Bezirken der DDR, Berlin, 1. 8. 1977, Bl. 18/19.

4.1. Einstellungen zum deutsch-polnischen ­Schleichhandel   281

gestanden die Verantwortlichen in der DDR den Zusammenhang zwischen Mangel und dem Einkauf von illegal eingeführten Waren ein, verbanden damit aber einen Appell: Tatsache ist aber, daß spekulative Warenverkäufe durch ausländische Bürger nur realisierbar sind, wenn dafür DDR-Bürger als Käufer auftreten. Schmuggel und Spekulation müssen deshalb bei jedem Bürger auf eine entschiedene gesellschaftliche Ablehnung stoßen.56

Diese Forderung an den mündigen Bürger der DDR wurde in den Berichten über Stimmungen und Meinungen zum Schleichhandel generell verstetigt und fortgeschrieben. Die Staatsorgane lieferten sich selbst bestätigende Informationen darüber, dass ‚polnischer‘ Handel auf eben jene „entschiedene Ablehnung“ stoße. Allerdings konnten die Berichte aus Leipzig nicht verbergen, dass die DDR-Bevölkerung unzufrieden mit der Versorgung in der DDR war und Schleichhandel selbst in der Öffentlichkeit eine normale Erscheinung war. So hieß es aus der Leipziger Innenstadt: Massierte Kritiken treten nach wie vor zum ambulanten Straßenhandel polnischer Bürger auf. Insbesondere zu den damit verbundenen Ansammlungen von Bürgern in der Hainstraße und am Centrum-Warenhaus gibt es bei Genossen aber auch vielen Bürgern kein Verständnis.57

Auch wurden immer wieder Klagen an die DDR-Organe gerichtet, dass sie diesen Erscheinungen nicht Herr würden.58 So wurde z. B. hinterfragt, warum der Staat die Existenz von ‚Schieberringen‘ überhaupt dulde und warum die von Polen verkauften Waren nicht in der DDR produziert werden könnten: „Warum gelingt es der DDR nicht, hochmodische Kleidung, Schmuck u. a. aus Polen zu importieren, warum wird das ‚Schiebern‘ überlassen?“59 Einige Stimmen betonten gar, die Argumentation, man müsse und solle das durch polnische Schleichhändler geschaffene Angebot nicht nutzen, gehe ins Leere.60

Einstellungen in der Leipziger Bevölkerung In der Bevölkerung Leipzigs blieben antipolnische Stimmungen zumindest keine Randerscheinung. Sie reichten von Verärgerung gegenüber dem polni56 Ebd.,

BV Leipzig, Abt. XV Nr. 665, Informationen 1989/3 Nr. 257, Zum Schutze des Binnenmarktes im Interesse der Bürger der DDR, Bl. 89. 57 SächsStA, StA-L, 21138 SED-SBLL-Mit Nr. IV/D/5/2/247, Argumente Meinungen und Hinweise aus den Grundorganisationen zu aktuell politischen Ereignissen des Monats April 1977, Leipzig, den 16. 5. 1977, S. 6. 58 Vgl. ebd., Argumente Meinungen und Hinweise aus den Grundorganisationen zu aktuell politischen Ereignissen des Monats Juni 1977, Leipzig, den 7. 7. 1977, S. 7. 59 Ebd., 21123 SED-BLL Nr. 866, Information über Stimmung und Meinungen zu den ­neuen Zollbestimmungen der DDR, Leipzig, den 21. 11. 1988, S. 3. 60 Vgl. ebd.

282   4. Deutsch-polnischer Schleichhandel in Leipzig schen Einkaufstourismus bis zu politischen Urteilen und fremdenfeindlichen Äußerungen. Ihr Ventil fand die antipolnische Stimmung auch in Witzen, was zumindest 1972 noch auf Ablehnung durch die Staatssicherheit stieß: „Im Zusammenhang mit den Einkäufen durch polnische Touristen kursieren eine Reihe ,Witze‘ [sic!], die z. T. diffamierenden Charakter tragen und der deutschpolnischen Freundschaft abträglich sind.“61 Die meisten aufgezeichneten Äußerungen zum ‚polnischen‘ Schleichhandel blieben jedoch unkommentiert und Zitate in den Dokumenten sowie die ­Meinungen der Verfasser dieser Dokumente scheinen deckungsgleich zu sein. Negative Äußerungen zum ‚polnischen‘ Schleichhandel in den Quellen entsprangen vielfach wohl der Voreinstellung von deren Autoren und deuten auf die selektive Auswahl bei der Erfassung von Meinungen in der Bevölkerung hin. Zu bedenken ist zudem, dass Leipziger, die sich öffentlich äußerten, dies höchstwahrscheinlich systemkonform taten, um keine politischen Schwierigkeiten zu provozieren. Dennoch spiegeln auch die staatsnahen und stereo­ typen Wahrnehmungen einen wichtigen Aspekt von Einstellungen gegenüber dem Schleichhandel in Leipzig wider. Der Widerhall polnischer Einkäufe in Leipzig zieht sich bereits durch die Berichterstattung der SED aus dem Jahr 1972. Die auffälligste Form polnischer Anwesenheit in Leipzig war für viele der angebliche polnische Kaufrausch, der gleich nach der Grenzöffnung einsetzte. Schnell wurden auch Verdachtsmomente krimineller Machenschaften der Käufer wach: Die Parteileitung des Centrum Warenhauses Leipzig schätzt ein, daß es eine sehr verbreitete Auffassung gibt, die Touristen würden uns auskaufen und am Ende bliebe nichts für die eigene Versorgung. Dabei tritt Unverständnis auf, daß die Touristen, vorrangig aus der VR Polen, sich oft nicht belehren lassen, wenn ihnen verständlich gemacht wird, daß sie bestimmte Artikel nur für den persönlichen Bedarf erhalten können. Es wird die Meinung vertreten, daß mit den hier gekauften Waren Schiebergeschäfte durchgeführt werden.62

Die Bevölkerung fürchtete polnische „Hamsterkäufe“, die Polen würden „alles wegkaufen“ lautete eine gängige Formel.63 Es entstand sehr schnell die Sorge, der Markt der DDR könnte die polnische Kaufkraft nicht auffangen und die „bestehenden Disproportionen und Mängel in der Versorgung [würden] durch den visafreien Verkehr negativ beeinflusst“.64 Den Bürgern in Leipzig 61 BStU,

MfS, BV Leipzig, Leitung Nr. 640, Ihr Schreiben vom 22. 9. 1972, Tgb. Nr. 333/72, Leipzig, 30. 9. 1972, Bl. 82. 62 SächsStA, StA-L, 21123 SED-BLL Nr. IV/C/2/5/415, Argumente und Fragen aus Berichten der Stadtleitung Leipzig, der Kreis- und Stadtbezirksleitungen sowie den Grundorganisationen, die an die Bezirksleitungen berichtspflichtig sind, 6. 11. 72, S. 6/7. 63 Vgl. ebd., S. 7–10. 64 Ebd., Argumente und Fragen zu aktuellen Problemen und Ereignissen, 28. 8. 1972, S. 3.

4.1. Einstellungen zum deutsch-polnischen ­Schleichhandel   283

war offensichtlich sonnenklar, dass die Wirtschaft der DDR nur bedingt belastbar war; alle Kritik an Polen war also auch eine Reaktion auf die wirtschaftlichen Probleme in Leipzig. Diese Besorgnis wurde in polenfeindliche Reflexe umgewandelt. In den Akten finden sich vermehrt Anzeichen, dass polnischen Touristen der Einkauf verwehrt werden sollte. Es kam zu Beschimpfungen von Polen und Forderungen nach Konsequenzen gegen die polnischen Einkäufer wurden laut.65 Schon Ende 1972 wurde so die Schließung der Grenze als Lösung des Pro­ blems gesehen.66 Mehrmals wurde auch die Ansicht geäußert, die polnischen Bürger nutzten die gekauften Waren nicht für persönliche Zwecke, sondern würden sie weiterverkaufen.67 Diese Meinungen hielten sich bemerkenswert konstant und nahmen in den achtziger Jahren an Radikalität eher noch zu: Ich halte diese Maßnahmen [Zollbestimmungen, D.L.] für dringend erforderlich, damit wir uns in den Geschäften das kaufen können, was wir durch unsere Arbeit selbst geschaffen haben. Es ist doch unser erwirtschaftetes Nationaleinkommen. […] Für polnische Bürger ist Leipzig wieder zum Handelsplatz geworden und sie führen für das erworbene Geld hochwertige Waren des Bevölkerungsbedarfs aus. Auch hier wird ein Riegel vorgeschoben. Statt bei uns Geschäfte zu machen, sollten sie lieber zu Hause ehrlich arbeiten und ihrem Volk helfen, aus der bestehenden Krise herauszukommen. Brüderbund und Freundschaft mit den sozialistischen Ländern darf nicht spekulativ genutzt werden.68

Ein sich durchziehendes Muster aller Meinungsäußerungen von Leipzigern ist deren Ruf nach einer Ordnungsmacht, die dem Treiben polnischer Touristen und Schleichhändler Grenzen setzt. So lautet eine Botschaft von 1977: „Nach wie vor werden zum Straßenhandel die meisten Diskussionen gemeldet. Grundtenor ist: ‚Unverständnis, daß dem zunehmenden Warenverkauf durch polnische Bürger nicht konsequent Einhalt geboten wird.‘“69 Interessant ist zudem, wie die Sorge geäußert wurde, die öffentliche Meinung werde durch 65 Vgl.

ebd., Argumente und Fragen aus Berichten der Stadtleitung Leipzig, der Kreis- und Stadtbezirksleitungen sowie den Grundorganisationen, die an die Bezirksleitungen berichtspflichtig sind, 16. 11. 1972, S. 10. 66 Vgl. ebd., Argumente und Fragen aus Berichten der Stadtleitung Leipzig, der Kreis- und Stadtbezirksleitungen sowie den Grundorganisationen, die an die Bezirksleitungen berichtspflichtig sind, 14. 12. 1972, S. 7. 67 Vgl. ebd., Argumente und Fragen aus Berichten der Stadtleitung Leipzig, der Kreis- und Stadtbezirksleitungen sowie den Grundorganisationen, die an die Bezirksleitungen berichtspflichtig sind, 6. 11. 72, S. 7 und Argumente und Fragen aus Berichten der Stadtleitung Leipzig, der Kreis- und Stadtbezirksleitungen sowie den Grundorganisationen, die an die Bezirksleitungen berichtspflichtig sind, 16. 11. 72, S. 9. 68 Ebd. Nr. 866, Information über Stimmung und Meinungen zu den neuen Zollbestimmungen der DDR, Leipzig, 21. 11. 1988, S. 2. 69 Ebd., 21138 SED-SBLL-Mit IV/D/5/2/247, Argumente Meinungen und Hinweise aus den Grundorganisationen zu aktuell politischen Ereignissen des Monats Juni 1977, Leipzig, 7. 7. 1977, S. 7.

284   4. Deutsch-polnischer Schleichhandel in Leipzig die polnischen Straßenhändler negativ beeinflusst und die „deutsch-polnische Freundschaft“ gefährdet.70 Der Handel würde von Leipzigern als störend empfunden: Die illegalen Märkte, die von polnischen Touristen in der Leipziger Innenstadt abgehalten werden, wirken abwertend auf die Wertschätzung polnischer Bürger, wirken einer deutschpolnischen Freundschaft entgegen und fördern ein überhebliches Verhalten unserer Bürger gegenüber polnischen Touristen.71

Somit trugen die ‚schwarzen Schafe‘ unter den Polen also die Schuld an der nicht unbedingt guten Behandlung anderer Polen in Leipzig. Das negative Polenbild verschränkte sich mit politischen Meinungen und hob auf die schlechte wirtschaftliche Situation in Volkspolen ab. Die Aufhebung des pass- und visafreien Reiseverkehrs 1980 wurde unverhohlen auch unter wirtschaftlichen Gesichtspunkten begrüßt: Der „Schwarzhandel“ habe der DDR, wie der Volksrepublik geschadet.72 Den Polen wurde vorgeworfen, die wirtschaftliche Situation selbst verschuldet zu haben, da sie „arbeitsfaul“ seien.73 Gleichzeitig herrschte die Angst, dass die Versorgung in der DDR ­unter Hilfeleistungen für Volkspolen leiden könnte. Der Sinn von Solidaritätsaktionen wurde hinterfragt und besonders der Mangel an Fleisch in Leipzig mit der Großzügigkeit gegenüber Volkspolen begründet.74 Auch hier erscheint das Muster, dass Versorgungsprobleme durchaus als solche wahrgenommen, aber ausgelagert und mit Fremdverschulden plausibel gemacht wurden. Solche Erklärungsstrategien waren keineswegs auf die Meinung der Bürger allein zurückzuführen, sondern stammten mitunter aus dem Repertoire der staat­ lichen Propaganda.75 Die Kehrseite dieser Auslagerung von Schuld war das Reinwaschen des Eigenbildes, denn auf diese Weise konnten sich Leipziger von eigenen Schleichhandelspraktiken distanzieren.76 Mit der Verschärfung der Gegensätze in der politischen Landschaft ging offensichtlich auch eine Verschärfung des Tons gegenüber Polen einher. Wäh70 Ebd.,

S. 8. Argumente Meinungen und Hinweise aus den Grundorganisationen zu aktuell ­politischen Ereignissen des Monats Juni 1977, Leipzig, den 7. 7. 1977, S. 8. 72 Vgl. ebd. Nr. IV/D/5/2/248, Kurzinformation zur Stimmung und über Meinungen zu ­aktuellen-politischen Ereignissen, Leipzig 4. 12. 80, S. 2. 73 Vgl. ebd., Kurzinformation zur Absicherung der Solidaritätsaktion für die Kinder der VR Polen, 19. 12. 1981, S. 2–4. 74 Vgl. ebd., Kurzinformation zu Stimmungen und Meinungen der Bürger zu aktuellen innen- und außenpolitischen Problemen sowie Fragen, die in den Diskussionen eine Rolle spielen, 13. 8. 1981, S. 2. 75 Vgl. Kaminsky: Wohlstand, S. 153/54. 76 Auf diese Doppelfunktion der Anklage und Entschuldung verweist Małgorzata Mazurek. Vgl. Mazurek: Społeczeństwo, S. 138. 71 Ebd.,

4.1. Einstellungen zum deutsch-polnischen ­Schleichhandel   285

rend die DDR-Bevölkerung – immer wieder in den Statements deutlich als ‚Wir-Gruppe‘ identifiziert, die sich von ‚den Polen‘ abhebt – in Freundschaft mit den „Bruderländern“ leben möchte, würde sie von den ausländischen Touristen ausgenommen.77 Deswegen wurde ein härteres Durchgreifen mit markigen Worten begrüßt: Eigentlich verändert sich nicht sehr viel, die meisten Waren, wie z. B. Schusswaffen, Muni­ tion, Sprengstoff, Kinderbekleidung und Erzeugnisse die importiert werden, waren schon immer von der Ausfuhr ausgeschlossen. Aber jetzt scheint die Kontrolle wieder straffer organisiert zu werden.78

Falls die staatlichen Kontrollen nicht ausreichen sollten, solle man die Grenzen zu Volkspolen ganz schließen oder man könne Verkäuferinnen die Kompetenz verleihen, polnische „Hamsterkäufe“ zu verhindern.79 Dass es regula­ tive Eingriffe in das Kaufverhalten polnischer Bürger in Leipziger Geschäften trotz mangelnder Kompetenzen gegeben hat, schildern auch Gesprächspartner in Interviews. Sobald man als Pole identifizierbar war, konnte es passieren, dass man bestimmte Produkte nur in begrenzten Mengen kaufen durfte und durch Bedienstete in den Geschäften aufgefordert wurde, Waren wieder zurückzulegen.80

Die Sicht der Staatssicherheit Solche Eingriffe und Angriffe setzten voraus, in polnischen Käufern eine ernsthafte Gefahr zu erblicken und deren Handlungen im Grenzbereich der Kriminalität zu verorten. Solche Wahrnehmungsmuster waren in der DDRBevölkerung durchaus verbreitet. Von besonderer Qualität sind jedoch die Zeugnisse und Aussagen der Staatssicherheit, die in polnischen Schleichhändlern Feinde der sozialistischen Ordnung sah und in der Radikalität ihrer negativen Bewertungen und Zuschreibungen die Vorurteile aus der Bevölkerung aufnahm und zuspitzte. In den Akten der Staatssicherheit finden sich außerordentlich viele direkte und indirekte moralische Bewertungen über (polnische) Schleichhändler. Ihre Qualität und Semantik lässt tief in das Wesen des DDR-Geheimdienstes ­blicken. Moralische Bewertungen ziehen sich durch alle Textgattungen der untersuchten Dokumente: Sie finden sich in klassischen Denunziationen, IMBerichten, Beobachtungsprotokollen, Maßnahmekatalogen und kriminalisti77 Vgl.

SächsStA, StA-L, 21123 SED-BLL Nr. 866, Information über Stimmung und Meinungen zu den neuen Zollbestimmungen der DDR, Leipzig, 21. 11. 1988, S. 3. 78 Ebd. 79 Vgl. ebd., Information über Stimmungen und Meinungen der Bürger zu aktuellen innenund außenpolitischen Fragen, Leipzig, 21. 10. 1988, S. 3. 80 Vgl. Interviews mit Herrn P. und Frau H.

286   4. Deutsch-polnischer Schleichhandel in Leipzig schen Untersuchungen. Gemeinsam ist diesen Zeugnissen erneut, dass sie keine Ursachen für Schleichhandel benennen und sich einer Analyse der den Schleichhandel bedingenden Umstände verschließen. Gesellschaftliche und wirtschaftliche Probleme waren schlicht nicht existent. Es muss ebenso überraschen, dass in keinerlei Weise Korruption – geschweige denn eigenes Fehlverhalten – zum Thema wurden. Die Schuldigen wurden immer außerhalb des Systems von Staat und Gesellschaft gesucht und auf diese Weise wurde Verantwortung verwischt und ausgelagert. Alles Verwerfliche und Antisozialistische war somit nicht mehr DDR-immanent, sondern kam von außen – aus der politisch wie wirtschaftlich unzuverlässigen Volksrepublik Polen. Wie solche Beschuldigungen sich äußerten und wie sie funktionierten, soll hier genauer analysiert werden. Ausgangs- und Endpunkt jeder Argumentation war im Grunde, dass die sozialistische Ordnung durch Schmuggel und Schleichhandel empfindlich gestört werde. Derjenige, der sich eines solchen Vergehens schuldig mache, sei kein vollwertiges Mitlied der „entwickelten sozialistischen Gesellschaft“: „Durch die durch Spekulation erzielten Erlöse wird eine parasitäre Lebensweise, Bereicherungssucht und ein Lebensstil ermöglicht, der nicht auf gesellschaftlich nützlicher Arbeit beruht.“81 In einem Dokument wurden Schmuggel und Schleichhandel in die unmittelbare Nähe zu Staatsverbrechen gerückt, ohne allerdings eine vollkommene Deckungsgleichheit beider Vergehen herzustellen. Außerdem wurden Schleichhändler als Verbündete des westlichen Klassenfeinds abgestempelt und somit eines der traditionellen Feindbilder der DDR bedient.82 Weniger drastisch – aber immerhin mit dem Pfund der sozialistischen Gesellschaft wuchernd – wird Schmuggel an anderer Stelle mit „Gesellschaftsgefährlichkeit“ identifiziert.83 Damit ist keineswegs gesagt, dass Schmuggel und Schleichhandel von der Stasi hinsichtlich ihrer kriminellen Energie über- oder unterschätzt wurden, vielmehr soll gezeigt werden, mit welchen Begriffen sie beschrieben und wie Schleichhändler kategorisiert wurden.

81 BStU,

MfS, BV Leipzig, Abt. VII Nr. 53, Bericht zum Stand der Bekämpfung von Schmuggel und Spekulation im Bezirk Leipzig, Leipzig, 10. 8. 1988, Bl. 60. 82 Ebd., MfS, ZKG Nr. 1906, Maßnahmen zur Bekämpfung und Zurückdrängung von Straftaten u. a. Rechtsverletzungen unter Mißbrauch des paß- und visafreien Reiseverkehrs zwischen der DDR und der Volksrepublik Polen, Berlin, 29. 11. 1977, Bl. 3. 83 Vgl. ebd., HA IX Nr. 5365, Zuarbeit zur Lage und Situation bei der Bekämpfung von Schmuggel und Spekulation im paß- und visafreien Reiseverkehr mit der VR Polen, Berlin, 2. 11. 1979, Bl. 4.

4.1. Einstellungen zum deutsch-polnischen ­Schleichhandel   287

Die Lebensweise von Schleichhändlern war dem sozialistischen Staat gegenüber „parasitär“.84 Das abschließende moralische Urteil über einen polnischen Schleichhändler lautete dementsprechend: „Bei dem [geschwärzt] handelt es sich um einen asozialen Menschen.“85 Genauso wird über DDR-Bürger geurteilt, die polnischen Schleichhändlern Unterschlupf boten.86 Menschen aus der DDR, die sich mit in den Schleichhandel einbinden ließen, waren per se charakterlich verdorben oder ließen sich von Polen auf die falsche Seite ziehen: Mitglieder solcher Banden wie auch polnische Bürger mit ständigem Wohnsitz in der VR Polen bzw. Bürger der VR Polen, die sich bislang ungesetzlich in der DDR aufhalten, sind bestrebt ,zuverlässige‘ Quartiere bzw. schriftliche Bestätigungen […] über einen rechtmäßigen Aufenthalt in der DDR zu erhalten. Dazu wird, politisch-operativen Erkenntnissen zufolge, durch solche Personenkreise in Erwägung gezogen, mit Bürgerinnen der DDR Intimverhältnisse einzugehen bzw. andere DDR-Bürger zu korrumpieren mit dem Ziel, sich bei diesen Personen vorübergehend oder längerfristig aufzuhalten und zu erreichen, daß sie durch diese DDR-Bürger zu besuchsweisen Aufenthalten eingeladen werden, um ihre Spekulationsgeschäfte fortsetzen zu können.87

Über den Begriff der Korrumpierung gehen einige Analysen sogar noch hinaus, indem sie behaupten, DDR-Bürger seien durch Erpressung in „Abhängigkeitsverhältnisse zu [polnischen, D.L.] Tätergruppen“ geraten.88 Auffällig oft bedienen sich die Analysen der Staatssicherheit sexueller Anspielungen, „Intimverhältnisse“ zwischen den beobachteten Personen waren keine Seltenheit und lieferten ein weiteres Argument für die moralische Verwerflichkeit der Verdächtigen.89 So überrascht es nicht unbedingt, wenn auch 84 Vgl.

ebd., HA VII Nr. 790, Jahresarbeitsplan 1989 des Leiters der Abteilung 13 der Hauptabteilung VII, Berlin, 3. 1. 1989, Bl. 40. 85 Ebd., BV Leipzig, AOPK Nr. 2247/82, Sachstandsbericht zur OPK „Makarow“, Leipzig, 14. 6. 1982, Bl. 349. 86 Vgl. ebd., MfS, HA IX Nr. 5365, Zuarbeit zur Lage und Situation bei der Bekämpfung von Schmuggel und Spekulation im paß- und visafreien Reiseverkehr mit der VR Polen, Berlin, 2. 11. 1979, Bl. 6. 87 Ebd. Nr. 13553, Hinweise über Entwicklungstendenzen des Einreise-, Ausreise- und Transitverkehrs sowie Erkenntnisse über die Bekämpfung und Zurückdrängung von Straftaten und anderen Reiseverletzungen unter Missbrauch der am 30. Oktober 1980 in Kraft getretenen veränderten Modalitäten im paß- und visafreien Grenzverkehr zwischen der DDR und der Volksrepublik Polen für den Zeitraum vom 30. Oktober bis 31. Dezember 1980, Februar 1981, Bl. 9. 88 Vgl. ebd., BdL Nr. 6612, Information über einige politisch-operativ bedeutsame Ergebnisse und Erkenntnisse bei der Durchsetzung der Maßnahmen zur Bekämpfung von Schmuggel und anderen Rechtsverletzungen unter Mißbrauch des paß- und visafreien Reiseverkehrs zwischen der DDR und der Volksrepublik Polen, Berlin, 10. 7. 1979, Bl. 4. 89 Auf die häufigen sexuellen Phantasien von Mitarbeitern der Staatssicherheit geht auch Jens Gieseke ein. Vgl. Gieseke: Mielke-Konzern, S. 195. Auch bei den Recherchen für diese Arbeit wurden in IM-Berichten und in Berichten über IM gezielte Informationen zum

288   4. Deutsch-polnischer Schleichhandel in Leipzig bei der Beobachtung der Treffpunkte von Schleichhändlern in Leipzig Anzeichen für Prostitution und Drogenmissbrauch registriert wurden.90 Solche Einschätzungen gingen nicht zwangsläufig fehl, aber sie wurden zudem durch Spekulationen und ungesicherte Fakten weiter unterfüttert: Gegen 14.30 Uhr wurde festgestellt, daß ein polnischer Bürger […] mit mehreren jüngeren weiblichen Personen, scheinbares Alter 13–16 Jahre, Kontakt aufnahm. Er hielt in der Bar mehrere Plätze frei, wo er noch andere Mädchen, die die Bar betraten, platzierte. Zu diesen Mädchen hatte er engeren Kontakt und gab für sie Getränke aus. Mit einigen dieser Mädchen tauschte er Zärtlichkeiten aus.91

Aus den Schilderungen geht das Alter der Mädchen nicht genau hervor, es wird nur geschätzt. Der tatsächliche „Austausch von Zärtlichkeiten“ muss keineswegs mit den Minderjährigen stattgefunden haben, weil zu den neu eingetretenen Mädchen Altersangaben fehlen. Zwar sind die hier angeführten Beispiele selektiv und drastisch, sie erfassen aber trotzdem die moralische Abwertung polnischer Schleichhändler in den Akten der Staatssicherheit. Die Schleichhändler hatten demnach mit der Gesellschaft der DDR – sofern sie es nicht geschafft hatten, diese zu unterwandern – nichts gemein. Letztere Zitate stammen allerdings aus Kriminalakten. Es handelte sich also erwiesenermaßen um Kriminelle, deren Verhalten nicht mehr beschönigt wurde. Eine wie auch immer geartete Unschuldsvermutung wendete die Stasi jedoch genauso gegenüber polnischen Einkaufstouristen wie Schleichhändlern nie an. Damit zeigen diese Passagen, wie negativ die Einstellung der Staatssicherheit gegenüber polnischen Schmugglern und Schleichhändlern, aber teilweise auch einfach polnischen Bürgern war. Sicherlich kann man aus diesen Schilderungen nicht direkt auf die Meinung der Gesellschaft der DDR über Polen schließen. Aber zum einen ist auch in die Akten der Staatssicherheit ein Teil der vorgeblichen öffentlichen Meinung eingeschrieben, zum anderen ist besser abzuschätzen, wie stark antipolnische Stimmungen auch im staatlichen Diskurs eingeschrieben waren. Und natürlich mag ein Rückschluss auf die Einstellungen der DDR-Bürger vorschnell erscheinen, dennoch spricht vieles dafür, auch hier die Unschuldsvermutung für viele Leipziger erst einmal nicht gelten zu lassen.

Sexualleben verdächtiger Personen oder sogar zu den verschiedenen IM selbst immer wieder zum Gegenstand und zur abfälligen moralischen Bewertung genutzt. 90 Vgl. BStU, MfS, BV Leipzig, AOG Nr. 1804/85, Information zu einem Schwerpunkt der allgemeinen und Zollkriminalität in der „Milch-Mocca-Eisbar“ in Leipzig, Leipzig, 4. 5. 1981, Bl. 15. 91 Ebd., Beobachtungsbericht, Bl. 39.

4.2. Praktiken und Bekämpfung des Schleichhandels   289

4.2. Praktiken und Bekämpfung des Schleichhandels In diesem Partisanenkampf des Handels konnte sich zu dieser Zeit kein anderes Volk mit unserem messen, wir wurden auf diesem Gebiet die unangezweifelten Weltmeister. Zöllner und Grenzbeamte wussten genau, dass sich im Gepäck unserer Landsleute ungeahnte Geheimnisse von Erfindungsgeist des Schmuggels verbergen. In Bussen, Zügen, auf Schiffen und in Flugzeugen wurden sie auseinander genommen, gefilzt, kontrolliert und auf raffinierte Weise getriezt, aber es gab keine Kraft, die diesen Strom aufhalten konnte. Der Schmuggel wurde in den achtziger Jahren eine nationale Beschäftigung, die Polen warfen sich in seinen Strudel wie in einen Aufstand; es lauerten Verbote, Durchsuchungen, Verfolgungen, lange und unbequeme Reisen, doch nichts konnte sie davon abhalten. Am Ende dieser ganzen Hindernisse wartete nämlich, wie ein Licht im Tunnel, der Triumph.92

Henryk Sekulski skizziert amüsant, welche Mühen und Gefahren seine Landsleute angeblich auf sich nahmen, um der Planwirtschaft ein Schnippchen zu schlagen. Mit hohem persönlichem Einsatz und unter einigem Risiko hätten Polen die abgeriegelten Grenzen des Ostblocks überwunden und auf Schwarzmärkten wirtschaftliche Gewinne erzielt. Sicherlich waren Schmuggel und Schleichhandel keine „nationale Beschäftigung“, eine reale Grundierung der Schilderungen Sekulskis ist aber keineswegs von der Hand zu weisen. Jerzy Kochanowski arbeitet heraus, dass Schleichandelspraktiken in ganz Volkspolen verbreitet waren und Touristen zu Profis des Warentransfers wurden und praktisch zu Gewerbszwecken reisten.93 In der DDR wurden diese Praktiken verfolgt und bekämpft, die Akten der DDR-Organe quellen von Berichten über ‚polnischen‘ Schleichhandel über. Einschätzungen über illegale Handelsgeschäfte wanderten bis in höchste ­Gremien und Dienststellen, die wirtschaftlichen Schattenseiten deutsch-polnischer Beziehungen waren von hoher Brisanz und hielten unzählige Beamte auf Trab. Beispiele für die Mobilisierung gegen Schleichhandel und das Berichtswesen über ihn muss man nicht lange suchen: Zentrale Stellen einer Akte des Sekretariats Neiber, einem der Stellvertreter Erich Mielkes, widmen sich den Strategien der Vorbeugung und Bekämpfung von Schmuggel und Schleichhandel. In der Analyse des Schmuggels zwischen der DDR und Volkspolen wurden hier für die Jahre 1984 und 1985 folgende Zahlen verglichen: 1984 gab es ca. 1 950 000 Grenzübertritte, bei denen 5 900 Zoll- und Devisenverfahren gegen Personen eingeleitet und 3200 Fälle von Schmuggel festgestellt wurden, ohne dass konkrete Personen belastet werden konnten. Insgesamt zogen die Grenzbeamten 9100 Gegenstände und Zahlungsmittel ein, wiederum 5750 Polen waren hiervon betroffen. Dies führte zu 143 Ermitt92 Sekulski: 93 Vgl.

Przebitka, S. 142. Kochanowski: Tylnymi drzwiami, S. 27 und 315.

290   4. Deutsch-polnischer Schleichhandel in Leipzig lungsverfahren. Im Jahr 1985 wurden nur 53 Ermittlungsverfahren eingeleitet, davon 32 gegen Polen und 20 gegen DDR-Bürger. Insgesamt waren die Ausmaße des Schmuggels jedoch steigend. Es wurden 2 338 000 Reisende gezählt, bei denen 8530 Zoll- und Devisenverfahren registriert wurden. 12 930 Gegenstände bzw. Geldbeträge wurden eingezogen, hiervon waren 8400 polnische Bürger betroffen. Zehn Ermittlungsverfahren führten zu Haft. 1985 wurde durch Schleichhandel ein Schaden von 12,2 Millionen DDR-Mark nachgewiesen, Zahlungsmittel wurden in Höhe von 5,8 Millionen DDR-Mark einge­ zogen sowie 36,4 Tonnen Süßigkeiten und 4,1 Tonnen Pfeffer. 90 Prozent der Straftaten seien „arbeitsteilig“ oder „bandenmäßig“ erfolgt, gegenüber 245 Polen wurden Einreisesperren verhängt, 155 polnischen Werktätigen wurde das Arbeitsverhältnis in der DDR gekündigt. Aus der Akte geht neben der Beteiligung von polnischen Vertragsarbeitern auch diejenige von „bevorrechteten“ Personen – z. B. Diplomaten – am Schmuggel hervor.94 Festgehalten werden auch „raffinierte Begehensweisen und Methoden“, indem „schwerkontrollierbare Verstecke“ in Reisezügen und Kraftfahrzeugen genutzt würden. Von den 8400 Polen waren demnach ca. 5000 polnische Arbeiter, die in der DDR beschäftigt waren, 2500 Touristen und 900 Angehörige der in der DDR Beschäftigten bzw. offiziell eingeladene Personen. Besonders rege sei der Schmuggel mit Gegenständen aus Silber gewesen.95 Für 1987 wartete die Leipziger Bezirksverwaltung des Zolls der DDR mit gigantischen Gesamtsummen – also nicht nur für den ostdeutsch-volkspolnischen Fall – des Gesamtschadens durch „Schmuggel und Spekulation“ für die DDR auf: Bei der Ausfuhr aus der DDR wurden 50 Millionen DDR-Mark nachgewiesen, der „strafrechtlich relevante Gesamtumfang“ betrug 200 Millionen Mark, in einer Hochrechung nahm man an, dass „jährlich Waren im Werte von mindestens 300–400 Millionen Mark (nicht mitgerechnet die Ausfuhr von Waren, die von polnischen Werktätigen legal mit ihrem in der DDR erzielten Einkommen gekauft wurden) in die VR Polen ausgeführt werden“.96 Die Zollverwaltung erhob, dass „jährlich etwa 40 Millionen Stück Süßtafeln, 2000  t sonstige Süßwaren, 4000  t Fleisch- und Wurstwaren, 1000  t Mehl, ­Zucker, Pudding 1000 x Backzutaten und 500 t Kaffee“ nach Polen ausgeführt 94 Vgl.

BStU, MfS, Sekr. Neiber Nr. 652, Vermerk zur Jahresinformation der Zollverwaltung der DDR über Ergebnisse der Zollkontrolle an der Staatsgrenze der DDR zur VR Polen und zur CSSR 1985, Berlin, 18. 2. 1986, Bl. 46–49, Zitate Bl. 47. 95 Vgl. ebd., Information über Ergebnisse der Zollkontrolle und Feststellungsbearbeitung im Reiseverkehr über die Staatsgrenze zur VR Polen im Jahre 1985, Berlin, 29. 1. 1986, Bl. 55. 96 Vgl. ebd., BV Leipzig, Abt. VII Nr. 53, Bericht zum Stand der Bekämpfung von Schmuggel und Spekulation im Bezirk Leipzig, Leipzig, 10. 8. 1988, Bl. 55.

4.2. Praktiken und Bekämpfung des Schleichhandels   291

wurden.97 Auch wenn es sich hier um Dunkelziffern handelt, gibt der Vergleich mit den ‚realen‘ Zahlen von 1985 doch Rätsel über die Richtigkeit der Schätzungen auf. Die Phänomene und Akteure des Schleichhandels waren vielfältig. Der Versuch, ein einigermaßen umfassendes und lückenloses Bild vom Schleichhandel in Leipzig zu entwerfen, muss deshalb wie in einem Mosaik aus unterschiedlichen und andersartigen Quellen schöpfen und unterschiedlichen Fragesträngen folgen: Wie sahen die Praktiken des Schleichhandels aus? Wer handelte und warum? Welche Waren und Warenmengen wurden gehandelt? Wie wurde Schleichhandel bekämpft und was sagt diese Bekämpfung über die Staatsmacht im Leipziger Alltag aus?

4.2.1. Waren und Warenmenge Da in Volkspolen wie in der DDR jeweils andere Waren zu Mangelgütern zählten, war der Einkauf und Handel von Waren und Währungen über die Grenze hinweg ein lukratives (Tausch-)Geschäft. Die Palette der transferierten Waren war außerordentlich groß und sie schwankte angesichts akuter Mängel und Nachfrage. Zu unterscheiden ist auch zwischen deutschen und polnischen Konsumwünschen und jenen Gegenständen, die man via Tourismus mitbrachte oder von polnischen Händlern in Leipzig erstehen konnte. Auch hier gab es vielfältige Überschneidungen, allerdings sei nochmals betont, wie eng polnischer Handel mit einem dadurch finanziertem Einkauf in Leipzig verflochten war. DDR-Bürger verstanden den eigenen Einkauf in Volkspolen und den Schleichhandel von Polen in der DDR vor allem als Möglichkeit, Produkte außerhalb des unmittelbaren, alltäglichen Bedarfs zu er­ stehen. Polnische Käufer in der DDR wie in Volkspolen waren dagegen immer stärker – aber besonders in der schwierigen wirtschaftlichen Situation der achtziger Jahre – auch an Waren des alltäglichen Bedarfs, wie Lebensmitteln und Alltagskleidung, interessiert. Begehrt waren bei DDR-Bürgern polnische Erzeugnisse aus kunstgewerblicher Produktion. Glas- und Porzellanerzeugnisse sowie Holzschnitzereien, Plakate und ähnliches wurden auf Urlaubs- und Besuchsreisen eingekauft98, fanden aber auch auf illegalen Wegen in die DDR und in den Verkauf. Einen weiteren Verkaufsschlager bildete modische Kleidung wie Lederjacken, Kunstlederjacken, Mäntel oder Jeanshosen. Polnische Mode galt schlicht als farbenfroher, individueller, besser geschnitten – kurz: ‚westlicher‘. ‚Westliche Werte‘ 97 Vgl. 98 Vgl.

ebd., Bl. 55/56. Interviews mit Frau K. und Frau T.

292   4. Deutsch-polnischer Schleichhandel in Leipzig konnten in Volkspolen auch mit polnischen wie westeuropäischen und amerikanischen Schallplatten sowie westlicher Literatur auf Englisch, Deutsch oder Französisch erstanden werden. Beliebt auf den Straßen Leipzigs waren Schmuck, Kosmetikartikel und Armbanduhren. Genau wie Bekleidung gelangten sie über den illegalen Verkauf in die Hände Leipziger Bürger.99 Großer Nachfrage erfreuten sich „Thermoventilatoren“, also Heizlüfter, die in der DDR nicht zu kaufen und wegen ihre hohen Energiebedarfs nicht besonders gelitten waren. Auch westeuropäische Elektroartikel wie Tonbandgeräte, Stereoanlagen, Tischrechner oder Taschenrechner weckten die Begehrlichkeiten vieler DDR-Käufer.100 Polnische Bürger nutzten Aufenthalte in der DDR noch stärker als umgekehrt zum Einkaufen, um der Mangelwirtschaft ihres Heimatlandes zu begegnen – was aber nicht heißt, dass nicht auch hochwertige Konsumgüter eingekauft wurden. Die Einkäufe gingen häufig über den persönlichen Bedarf hinaus und erregten – wie auch schon oben gezeigt – somit die Gemüter der DDR-Bürger, die einen Ausverkauf befürchteten.101 Lebensmittel und Gegenstände des täglichen Bedarfs, Bekleidung und Schuhe wurden stark nach­ gefragt. Genussmittel wie Schokolade, Kaffee oder Gewürze und qualitativ hochwertige Lebensmittel wie Fleischwaren und Fleisch standen ganz oben auf der Wunschliste. Bei Bekleidung wurden Männer- und Damenunterwäsche, Kinderbekleidung und Schuhe eingekauft. Auch scheinbar unbedeutende Artikel konnten sich großer Beliebtheit erfreuen: so zum Beispiel Pfeffer, Butter, Kaugummi oder Speisegelatine. Noch verwunderlicher muss heute ­erscheinen, dass auch große Haushaltsgeräte, Fahrräder und Mopeds unter anderem per Zug aus der DDR ausgeführt wurden.102 Eine durchaus charakteristische Auflistung stellte die Transportpolizei z. B. am 7. September 1984 zusammen. Dort wurden in internationalen Zügen folgen­de Waren registriert: „Hochwertige Konsumgüter“ (Tiefkühlschränke,   99 Vgl.

u. a. SächsStA, StA-L, 20250 BDVP Nr. 1425 und Nr. 1427. Beleg für den (eher seltenen) Schleichhandel mit westlichen Tischrechnern erbringt folgende Akte: BStU, MfS, BV Leipzig, ZMA Abt. II Nr. 438, hier z. B. Bl. 107–119. Tonbandgeräte und Heizlüfter wurden dagegen häufig geschmuggelt. Vgl. BStU, MfS, HA IX Nr. 5365, Zuarbeit zur Lage und Situation bei der Bekämpfung von Schmuggel und Spekulation im paß- und visafreien Reiseverkehr mit der VR Polen, Berlin, 2. 11.  1979, Bl. 5 und Interview mit Frau B. 101 Vgl. Zatlin: „Polnische Wirtschaft“, S. 307–314. 102 So berichtet Frau H. davon, wie die Leibwächter eines bekannten polnischen Schriftstellers, der zwecks einer Lesung im PIKZ per Sonderzug nach Leipzig gekommen war, den Aufenthalt für den Kauf von Mopeds nutzten. Der Waggon des Schriftstellers war bei der Rückfahrt demzufolge schwer beladen und die Bewegungsfreiheit erheblich eingeschränkt. Vgl. Interview mit Frau H. 100 Einen

4.2. Praktiken und Bekämpfung des Schleichhandels   293

Trockenschleudern, Staubsauger, Kaffeemaschinen, elektrische Haushalts- und Küchengeräte, Strickmaschinen), Musikinstrumente (u. a. 22 ­Akkordeons), ein Moped, Klappfahrräder plus Zubehör, Teppiche, Kinder- und Sportwagen, ein Kaffeeservice, eine große Anzahl an Wolldecken, Textilien (Kinder- und Babybekleidung), „Damenuntertrikotagen“, Strumpfhosen, Angelruten, Glaswaren, Haushaltsgegenständen, Schuhe (Damenschuhe, Sandaletten), Wurstwaren, Tapeten, Pfeffer, „Schokoladenwaren“, „Gummitiere in originalverpackten Kartons“, Spirituosen, Bier, Fruchtsäfte, Limonade, Wasserkessel, „Zigarettenstangen westlicher Produktion“, Mark der DDR und der Bundes­republik.103 Definitive oder gar lückenlose Mengenangaben der eingeführten Waren können nicht mehr gemacht werden. Einigermaßen aussagekräftige Daten liegen zudem nur für die Schmuggeltätigkeit an der Grenze vor, aber nicht für die Warenmengen in Leipzig. Erschwert werden objektivierbare Aussagen dadurch, dass die Angaben schwer vergleichbar sind, weil die Abschnitte der Berichtszeiträume unterschiedlich ausfallen und über die Intensität der je­ weiligen Zollkontrollen wenig Aufschlussreiches ausgesagt werden kann. Der Vergleich der Bedingungen der offenen mit der geschlossenen Grenze kann deshalb nur bedingt anhand einiger Schlaglichter angestrengt werden. Vom 1. Januar 1978 bis zum 31. März 1979 wurden in der gesamten DDR Zoll- und Devisenstraftaten zwischen Volkspolen und der DDR in Höhe von ca. 48 Millionen DDR-Mark festgestellt. 66,8 Prozent der Straftäter waren polnische Staatsbürger, 29,4 Prozent kamen aus der DDR.104 An anderer Stelle wird deutlich, dass im Laufe des Jahres 1979 immer mehr Waren aus der DDR ausgeführt wurden. An der Grenze wurden demnach von Januar bis Oktober 1979 17 600-mal Waren eingezogen, im gleichen Zeitraum des Vorjahres waren es noch 8300-mal gewesen. Von den Einziehungen waren zu 76 Prozent Polen betroffen. Vor allem die Ausfuhr von Gegenständen hatte sich – gemessen an dem gefundenen Schmuggelgut – erhöht. Die eigens erstellten Daten verdeutlichen die Vervielfachung der eingezogenen Waren von August bis Oktober 1979. Dies korrelierte einerseits mit den abgeschwächten Einfuhrzöllen der Volksrepublik und der Preispolitik hinsichtlich „Reisezahlungsmitteln“ 103 Vgl.

BStU, MfS, HA XIX Nr. 2014, Bericht über die Ergebnisse der operativen Beobachtungsmaßnahmen am 10. 08. 1984 in den internationalen Reisezügen D 487 und D 1487 von Leipzig nach Warschau bzw. Katowice, Berlin, 12. 8. 1984, Bl. 114. Die Liste wurde sinngemäß zitiert, nur die Begriffe in Anführungsstrichen wurden nach dem Original wiedergegeben. 104 Vgl. ebd., BdL Nr. 6612, Information über einige politisch-operativ bedeutsame Ergebnisse und Erkenntnisse bei der Durchsetzung der Maßnahmen zur Bekämpfung von Schmuggel und anderen Rechtsverletzungen unter Mißbrauch des paß- und visafreien Reiseverkehrs zwischen der DDR und der Volksrepublik Polen, Berlin, 10. 7. 1979, Bl. 4.

294   4. Deutsch-polnischer Schleichhandel in Leipzig und angezogenen Preisen auf dem polnischen Binnenmarkt und andererseits mit der – wie es hieß – „weiteren Differenzierung der Entscheidungspraxis“ in der DDR-Zollverwaltung. Die Zahlen sprechen jedenfalls für sich: Im August wurden zum Beispiel 1000 Paar Schuhen eingezogen, im September 5100, im Oktober 7000. Für Kindertextilien galt in denselben Monaten, dass anfangs 1700 dann 7900 und 8100 beschlagnahmt wurden. Bei Tapetenrollen stieg die Zahl von 60 auf 1300, um im Oktober wieder auf 900 zu sinken.105 Bei 95 Prozent der entdeckten Fälle hatten die schmuggelnden Personen nur Einzelstücke beziehungsweise drei bis fünf verschiedene Positionen bei sich. Die Grenzschließung war zwar eine Reaktion auf solche für die DDR-Verantwortlichen eindeutigen und alarmierenden Zahlen, sie löste aber das Pro­ blem keineswegs. Im Zeitraum 30. Oktober 1980 bis zum 31. Dezember 1980 wurden durch die Zollorgane in der gesamten DDR 1408 Zoll- und Devisenverfahren eingeleitet und Werte im Umfang von 520 000 DDR-Mark von der DDR eingezogen; die Volkspolizei beschlagnahmte im selben Zeitraum Gegenstände und Geld im Umfang von ungefähr 32 000 Mark. Bei der Ausfuhr nach Volkspolen wurden in jenen zwei Monaten 2800 Stück Kindertextilien, 2200 Paar Schuhe, 1000 kg Fleisch, 1000 Stück Unterwäsche, 700 Paar Strümpfe und 500 Rollen Tapete entdeckt.106 Für das Jahr 1985 kann anhand der erfolgten Beschlagnahmungen eine leise Ahnung entstehen, welche Mengen in die DDR und nach Volkspolen eingeschmuggelt wurden. DDR-weit waren es laut gerundeten Zahlen bei der illegalen Einfuhr 128 000 Modeartikel, wie Schmuck, Gürtel, Sonnenbrillen und Tücher, 9800 Stück Glas-, Porzellanoder Keramikerzeugnisse, 5300 Anoraks und Jacken und 1350 Heizlüfter. In die andere Richtung sollten 13 100 Stück Unterwäsche und Kindertextilien, 5100 Paar Schuhe, 4100 Paar Strumpfwaren, 4,1 Tonnen Gewürze – v. a. Pfeffer und 36,4 Tonnen Süßigkeiten oder ähnliche Nahrungsmittel illegal die DDR verlassen.107 Ähnlich ging es weiter: Von Januar bis September 1987 wurden am Zoll der DDR Gegenstände und Währung im Wert von 10,3 Millionen DDR-Mark 105 Vgl.

ebd., HA VI Nr. 4845 Teil  1, 1. Zur Entwicklung des Reiseverkehrs und der Entscheidungen an der Staatsgrenze gegenüber der VRP, [undatiert], Bl. 115–118. 106 Vgl. ebd., HA IX Nr. 13553, Hinweise über Entwicklungstendenzen des Einreise-, Ausreise- und Transitverkehrs sowie Erkenntnisse über die Bekämpfung und Zurückdrängung von Straftaten und anderen Reiseverletzungen unter Missbrauch der am 30. Oktober 1980 in Kraft getretenen veränderten Modalitäten im paß- und visafreien Grenzverkehr zwischen der DDR und der Volksrepublik Polen für den Zeitraum vom 30. Oktober bis 31. Dezember 1980, Februar 1981, Bl. 7. 107 Vgl. ebd., Sekr. Neiber Nr. 652, Information über Ergebnisse der Zollkontrolle und Feststellungsbearbeitung im Reiseverkehr über die Staatsgrenze zur VR Polen im Jahre 1985, Berlin, 29. 1. 1986, Bl. 57/58.

4.2. Praktiken und Bekämpfung des Schleichhandels   295

eingezogen. Unter den Waren, die in die DDR eingeschmuggelt werden sollten, befanden sich 31 600 Blousons, 330 000 Stück Modeschmuck bzw. -gürtel, Glaswaren, Uhren, Sonnenbrillen usw. Die Ausfuhr aus der DDR betreffend gibt es keine absoluten Zahlen, die Warenarten sind von oben bereits im Wesentlichen bekannt. Bei manchen Reisenden wurden aber zum Beispiel 100 Paar Kinderschuhe, 80  kg Pfeffer, 200  kg Knoblauch oder 130  kg Süßwaren festgestellt, was die Dimensionen anhand von Einzelfällen greifbar macht, jedoch keine Vergleich ermöglicht.108 Angesichts dieser teilweise enormen Ziffern versuchten beide Staaten die Ein- und Ausfuhr auch mittels Zollgesetzen zu regulieren. Insgesamt waren die Ausfuhrverbote der DDR sehr restriktiv. Die polnische Politik lockerte hingegen die Einfuhrbeschränkungen mit der Grenzöffnung von 1972. Die Einfuhr von Mangelwaren nach Volkspolen wurde trotz der Ausfuhrverbote der DDR gefördert; der Widerspruch zwischen den Strategien beider Staaten ist offensichtlich. Ein Widerspruch übrigens, der auch in den bilateralen Gesprächen zwischen der DDR und der Volksrepublik Polen zur Sprache kam. So fasste ein Bericht über ein Treffen der Zollverwaltung der DDR und Volkspolen zusammen, dass die polnische Zollpolitik recht freizügig sei, man sich aber „darüber klar sei, daß daraus Widersprüche zu den Ausfuhrbestimmungen anderer sozialistischer Staaten“ erwüchsen.109 Sonderregelungen galten allerdings für Vertragsarbeiter, wenn sie ihren persönlichen oder familiären Bedarf innerhalb der vorgeschriebenen Grenzen in der DDR deckten.110 Sie durften in folgendem Rahmen Waren aus der DDR ausführen: Leicht tragbare Gegenstände und Handgepäck waren unentgeltlich, wenn sie problemlos im Zug verstaut werden konnten. Gegenstände über 35 kg mussten als Reisegepäck angemeldet werden. Auf einer Fahrkarte durften bis zu 100 kg Gepäck mitgenommen werden, ein Gepäckstück durfte dabei nicht unter fünf oder über 75 kg schwer sein. Gegenstände über 100 kg mussten aufgegeben werden.111

108 Vgl.

ebd., Abt. X Nr. 12, Probleme des Schmuggels im grenzüberschreitenden Reiseverkehr zwischen der DDR und der VR Polen, Berlin, November 1987, Bl. 304/05. 109 Ebd., Sekr. Neiber Nr. 653, Bericht über die Ergebnisse des 5. Treffens zwischen Vertretern der Zollverwaltung der DDR und des Hauptamtes für Zoll der VRP, Berlin, 27. 3. 1989, Bl. 234. 110 Vgl. ebd., BV Leipzig, Abteilung XV Nr. 665, Information 1989/3 Nr. 257, Zum Schutze des Binnenmarktes im Interesse der Bürger der DDR, Bl. 89/90. 111 Vgl. ebd., MfS, HA XIX Nr. 2014, Information über die Einhaltung der Ordnung und Sicherheit sowie der Gewährleistung der ordnungsgemäßen Zollkontrolle in den Schwerpunktzügen, die zur Beförderung von polnischen Staatsbürgern, die in der DDR arbeiten, genutzt werden. Berlin, [undatiert], Bl. 3.

296   4. Deutsch-polnischer Schleichhandel in Leipzig

4.2.2. Die Praktiken des Schleichhandels Die konkreten Praktiken und die Akteure des Schleichhandels können aus Dokumenten und anderen Relationen in vielen anschaulichen und auch verallgemeinerbaren Beispielen nachverfolgt werden. Eine grundsätzliche Schwierigkeit besteht darin, dass die Beobachtungen und Urteile der Staatsorgane gegenüber Schleichhändlern wenig Objektivität walten ließen und Schleichhandel immer aus der Warte des geschädigten ‚sozialistischen‘ Gemeinwesens betrachteten. Dahingehend verharmlosen Erinnerungen und Erzählungen teils sicherlich oder stellen zumindest allgemeine Praktiken nicht als kriminell dar. Schwierig wird so schon die Unterscheidung zwischen Einkaufstourismus für den persönlichen Bedarf oder die nächsten Bekannten und Verwandten und Schleichhandel, der ganz bewusst von Angebots­ lücken und verschiedenen Preisniveaus im offiziellen Handel und auf Schwarzmärkten profitierte. So ist aus der vorliegenden Quellenlage nicht einwandfrei zu entscheiden, ob in Leipzig gekaufte und nach Polen gebrachte Waren zum Weiterverkauf in Polen gedacht waren. Die Existenz von Schwarz­ märkten in Volkspolen, die Breite des Schmuggels zum Beispiel bei Vertragsarbeitern und die Menge der Waren lassen aber eigentlich keinen Zweifel an einem solchen Rückschluss. Mit Bestimmtheit ist Schleichhandel durch polnische Bürger in Leipzig und dessen Zusammenhang zum Schmuggel aus Volkspolen bis nach Leipzig ­auszumachen. Welcher Grad an krimineller Organisation und Energie hinter solchen Verkäufen stand, ist wiederum nicht in allen Fällen eindeutig zu bestimmen. Gerade in den siebziger Jahren konnten sich hinter Schleichhändlern Privatpersonen jenseits organisierter Gruppen verbergen, während dies unter den Bedingungen der achtziger Jahre nicht ausgeschlossen, aber erschwert wurde. Dennoch ist eine differenzierte Verwendung der Begriffe Einkaufstourismus und Schleichhandel in vielen Fällen möglich. Einkaufstourismus gewährte die Deckung eines persönlichen Bedarfs von Einzelnen und kleinerer Personenkreise, war aber nicht in erster Linie zur Bereicherung durch Weiter­ verkauf gedacht. Der Begriff Schleichhandel wird hier für alle Formen des gewinnbringenden Weiterverkaufs von Waren an Dritte verwendet. Er war im staatssozialistischen System der stetigen Grenzen von Konsums, Valutatauschs und Reisemöglichkeiten eine systemimmanente Strategie des Überlebens. In vielen Fällen überschritt Schmuggel und Schleichhandel die Grenzen zur ­Kriminalität und wurde in organisierten Banden durchgeführt. Krimineller Schleichhandel nutzte das Geschäft mit Mangelwaren aus, professionalisierte es und gewährleistete organisierten Schleichhändlern ihr Einkommen. Sol-

4.2. Praktiken und Bekämpfung des Schleichhandels   297

cher Bandenschmuggel und -schleichhandel kann deshalb deutlich von dem Reisender und Vertragsarbeiter unterschieden werden.

Zirkulation unter deutschen- und polnischen Bekannten Die wohl sicherste Form von Schmuggel und Schleichhandel war, wenn er den Kreis von Bekannten Freunden und Verwandten nicht verließ. Alle Gesprächspartner berichten von dem einen oder anderen Gegenstand, der mit über die Grenze gebracht wurde. In dem einen Fall war es eine Udo-JürgensSchallplatte, in anderen ein Pelzmantel oder westliche Literatur.112 Zu den üblichen Praktiken zählte auch, polnischen und deutschen Bekannten, Verwandten oder Freunden den einen oder anderen Gefallen zu tun, wenn man zum Beispiel bei der Ausfuhr verbotene Salami und Kinderkleidung nach Volks­ polen mitnahm und dafür Bücher und Schallplatten von Polen in die DDR gebracht wurden.113 Deutsche und polnische Bekannte verabredeten konkrete Geschäfte mit Mangelwaren: Und dann gab’s eben auch handfeste Interessen. So auf dieser Basis des kleinen Tauschhandels: ‚Hör mal, kannst Du mir nicht Schuhe aus der DDR mitbringen, ich hab’ die und die Größe und ich besorg’ Dir dafür dies oder jenes.’ Eine meiner größten Handelsunternehmungen war damals, dass ich eine Schreibmaschine nach Polen geschmuggelt habe.114

Solche Strukturen erreichten manchmal schon den Grad organisatorischer Vorgehensweise, blieben aber genauso oft auf der Ebene von spontanen Gefälligkeiten. Eine Gesprächspartnerin beschreibt die Mechanismen von Warenumsatz im Bekanntenkreis: Aber diese Thermoventilatoren habe ich direkt bestellt. Die Leute sind an mich herangetreten, die haben […] gehört, […] dass ich Beziehungen nach Polen hatte und ich habe dann jedes Mal, wenn ich Besuch kriegte aus Polen gesagt: ‚Ich brauche fünf Thermoventilatoren oder ich brauche drei Thermoventilatoren.‘ Und die haben dann ein bisschen draufgeschlagen, denn es war gefährlich und sie haben dann versucht, wenigstens einen Teil der Reisekosten rauszukriegen. Sie haben’s ja auch tragen müssen, sie haben’s über die Grenze schmuggeln müssen.115

Befreundeten polnischen Bürgern wurden so Anlaufstellen und Übernachtungsmöglichkeiten geboten, was deren Risiko, beim Verkaufen erwischt zu werden, verringerte. Wenn polnische Freunde mit großen Vorräten zu verkaufender polnischer Waren eintrafen und ihre Zeit beim Einkaufen verbrachten, wurde dies toleriert und natürlich auch genutzt.116 Manche Leipziger 112 Vgl. 113 Vgl.

114 Ebd.

Interviews mit Frau T., Frau B. und Herrn P. Interview mit Herrn P.

115 Interview 116 Vgl.

mit Frau B. Interview mit Frau St.

298   4. Deutsch-polnischer Schleichhandel in Leipzig machten sich auch eigens die Mühe, für polnische Bekannte begehrte Waren in Leipzig zu suchen und zu kaufen.117 Wie polnische Händler als Touristen ‚getarnt‘ Leipzig aufsuchten und von privaten Quartieren aus Schleichhandel initiierten, musste eine empörte in­ offizielle Mitarbeiterin der Stasi miterleben. In einem von ihr vermieteten Zimmer lagerten Polen ihren Angaben zur Folge dutzende Pullover und 20 Raumlüfter und unterbreiteten ihr zudem das ‚unmoralische‘ Angebot, einen Raumlüfter für 200 Mark zu erstehen.118

Straßenverkauf und „Hausieren“ Deutsch-polnische Schleichhandelspraktiken des Straßenverkaufs breiteten ein dichtes Netz über den Konsumalltag der DDR aus: Der Verkauf von rechtswidrig eingeführten Waren erfolgt – auch unter Einbeziehung von DDR-Bürgern – zunehmend auf Märkten, besonders sogenannten Trödelmärkten, im ambulanten Straßenhandel auf Fußgängerboulevards, in Fußgängertunneln, auf Bahnhofs­ vorplätzen und ähnlichen stark frequentierten Stellen, in Betrieben, in denen polnische Werktätige beschäftigt sind sowie in Einrichtungen des Gebrauchtwarenhandels. […] Die aus dem Verkauf der illegal eingeführten Waren erzielten Erlöse werden überwiegend zum Erwerb und zur ungesetzlichen Ausfuhr von Waren mit Handelscharakter benutzt, die ­wiederum mit hohen Gewinnspannen in der VRP veräußert werden.119

Aus stichprobenartigen Einblicken in die Rapporte der Deutschen Volkspolizei in Leipzig lässt sich Straßenhandel bereits für 1978 nachweisen. Besonders gehäuft trat er jedoch 1979 und 1980 zu Tage. Die Volkspolizei stellte bei ihren Kontrollen Armbanduhren, Leder- bzw. Kunstlederjacken, Kosmetik und Modeschmuck sicher.120 Da jede Beschlagnahmung aufgezeichnet wurde, können vorsichtig Größenordnungen nachvollzogen werden. Den Verkaufsschlager bildeten demnach Kunstlederjacken, von denen mindestens 399 gefunden wurden. Ansonsten wurden mehrere hundert Ohrringe, Halsketten, dutzende Cognac-, Wein- und Likörgläser, echte Lederjacken, mehrere dutzend Strickjacken, Blusen, Pullover sowie Heizlüfter, Kaugummi, Niveacreme, Zigaretten und Schallplatten beschlagnahmt. Dazu kamen ungefähr 85 000 Mark der DDR und hin und wieder geringere Summen D-Mark und US-Dollar.121 An anderer Stelle werden Damenpullover als Haupthandelsware heraus­ 117 Vgl.

Interview mit Frau B.

118 Vgl. BStU, MfS, BV Leipzig, AIM Nr. 964/91 II/3, Ihre F 10-Überprüfung vom 20. 1. 1978,

[geschwärzt], Zimmervermieterin an polnische Bürger, Leipzig, 6. 2. 1978, Bl. 436–438. Abt. X Nr. 12, Probleme des Schmuggels im grenzüberschreitenden Reiseverkehr zwischen der DDR und der VR Polen, Berlin, November 1987, Bl. 305. 120 Vgl. u. a. SächsStA, StA-L, 20250 BDVP Leipzig Nr. 1425; Nr. 1427; Nr. 1429 und Nr. 1431. 121 Vgl. ebd., Nr. 1427. 119 Ebd.,

4.2. Praktiken und Bekämpfung des Schleichhandels   299

gestellt. In Quartieren der Polen wurden teilweise 400 bis 450 Pullover gefunden, manchen Händlern gelang es, 250 Pullover pro Woche zu verkaufen (aber wohl nicht nur im Straßenverkauf).122 Grundsätzlich nachgelassen haben dürften diese Straßenverkäufe auch in den achtziger Jahren nicht mehr. Noch in den Rapporten der Volkspolizei von 1989 finden sich Hinweise für Straßenhandel polnischer Bürger – wenn auch in geringerem Maße als Ende der siebziger bzw. Anfang der achtziger Jahre.123 Straßenhandel war aber nur die Spitze des Eisbergs. „Hausieren“ gehörte zu den üblichen Methoden. Mit Taschen voller Waren zog man von Straße zu Straße und von Haus zu Haus.124 Sobald Polen einigermaßen feste Abnehmer ihrer Waren hatten, suchten sie ihre Kunden im Wohngebiet auf125 oder die Waren wurde in Betrieben verkauft.126 Oftmals wurden Waren auch über Mittelsmänner in der DDR weiterverkauft, so dass die Aufenthaltsdauer in Leipzig genauso wie das Risiko, beim Verkauf aufgegriffen zu werden, klein gehalten wurden.127 Über das vernetzte deutsch-polnische Vorgehen zur ­effektiven Ausbeute waren die Staatsorgane durchaus im Bilde. Selbst auf ­Politüro-Ebene wurde von einer selbstverständlichen Beteiligung von Bürgern der DDR, „die oft organisiert mit polnischen ‚Kollegen‘ zusammenarbeiten“ ausgegangen.128 In DDR-internen Analysen waren Deutsche eher die Käufer, allerdings müssen viele von ihnen nicht nur eingeweiht gewesen sein, sondern beförderten den Schleichhandel: Außerdem werden zielgerichtet Wohngebiete aufgesucht, um bei den Einwohnern persönlich Waren zu verkaufen. In diesem Zusammenhang hat sich teilweise ein regelrechtes ‚Be-

122 Vgl.

BStU, MfS, BV Leipzig, KD Leipzig-Stadt Nr. 1861, Information über den spekulativen Handel mit Waren durch polnische Bürger in Leipzig und den Stand der operativen Bearbeitung durch das Komm. I des VPKA Leipzig, Leipzig, 14. 7. 1977, Bl. 113. 123 Vgl. ebd., Abt. IX Nr. 103/04. 124 Vgl. ebd., KD Leipzig-Stadt Nr. 1861, Information über den spekulativen Handel mit Waren durch polnische Bürger in Leipzig und den Stand der operativen Bearbeitung durch das Komm. I des VPKA Leipzig, Leipzig, 14. 7. 1977, Bl. 114. 125 Vgl. ebd., MfS, ZAIG Nr. 23073, Information über den von Bürgern der VR Polen betriebenen illegalen Straßenhandel in verschiedenen Bezirken der DDR, Berlin, 1. 8. 1977, Bl. 16. 126 Vgl. ebd., BV Leipzig, ZMA Abt. II Nr. 438. 127 So im Fall der oben schon angesprochenen Zusammenarbeit polnischer Schmugglerinnen und zweier Leipziger Familien. Vgl. BStU, MfS, BV Leipzig, Abt. IX Nr. 368. Einen Hinweis auf ein solches Vorgehen liefert auch die Akte BStU, MfS, Sekr. Neiber Nr. 652, Information über Ergebnisse der Zollkontrolle und Feststellungsbearbeitung im Reiseverkehr über die Staatsgrenze zur VR Polen im Jahre 1985, Berlin, 29. 1. 1986, Bl. 60. 128 Vgl. ebd., ZAIG Nr. 23073, Mitteilung von Hermann Axen an den Botschafter der DDR in Warschau, Günther Sieber, zur Vorlage im ZK der PVAP, 11. 8. 1977, Bl. 11.

300   4. Deutsch-polnischer Schleichhandel in Leipzig stellsystem‘ mit einem festen Abnehmerkreis entwickelt, der nach Abnahme größerer ‚Posten‘ wiederum selbst weiterverkauft.129

Die Stasi stellte sich das Vertriebssystem so vor: Neben sogenannten Einzelgängern im illegalen Straßenhandel haben sich in zunehmendem Maße bestimmte Gruppen gebildet, die arbeitsteilig vorgehen, indem Angehörige dieser Gruppen z. B. als Sicherungsposten, Verkäufer, Warenzubringer, Kassierer, Geldboten usw. tätig werden. Auf diese Weise soll offensichtlich gesichert werden, daß das Eingreifen der Organe der Deutschen Volkspolizei bzw. der Zollverwaltung rechtzeitig erkannt wird und die Beschlagnahme der Waren sowie der Bargeldeinnahmen verhindert bzw. auf ein Minimum beschränkt werden kann. Das erklärt z. T. auch die Tatsache, daß es sich bei 80% der durch die zuständigen Organe zugeführten polnischen Bürger um sogenannte Einzelgänger handelt. In letzter Zeit reisen größere Gruppen polnischer Bürger in bestimmte Bezirke […] ein, die offensichtlich unter der Leitung einer im illegalen Straßenhandel ‚erfahrenen‘ Person stehen. Diese Person führt an den Reisezielen regelrechte ‚Einweisungen‘ über die für den illegalen Straßenhandel günstigen Örtlichkeiten durch und übergibt zugleich den anderen Gruppenmitgliedern bestimmte Mengen des für den Verkauf vorgesehenen Warensortiments. […] Verschiedentlich übertragen polnische Bürger den Verkauf illegal eingeführter Waren auch an DDR-Bürger, zu denen freundschaftliche Beziehungen hergestellt werden und die wiederum einen größeren Bekanntenkreis haben (z. B. Mitarbeiter des Einzelhandels, Friseusen usw.)130

Polnische Gruppen hatten der Kriminalpolizei zufolge eine regelrechten „Chef “, der den Schleichhandel koordinierte. Er organisierte Quartiere, verteilte die Ware und rechnete ab. Den Grad der Tarnung des „Chefs“ sowie des Schleichhandels bewertete die Kripo als konspirativ.131 Der Leipziger Hauptbahnhof wird in den Dokumenten zu einem Basar polnischen Warenumschlags: Beim Einfahren der polnischen Züge aus Warschau, Krakow und anderen polnischen Städten werden diese von einer ganzen Anzahl sich in Leipzig zeitweise aufhaltenden polnischen Bürgern erwartet, Die einreisenden polnischen Bürger führen große Reisetaschen, Einkaufsbeutel und Kartons mit sich, die mit Handelwaren gefüllt sind. Ein Teil der ein­ reisenden polnischen Bürger verkaufen ihre gesamte mitgebrachte Ware an die auf dem Hauptbahnhof Wartenden. […] Bei den Personen, die die Ware aus der VR Polen nach Leipzig bringen handelt es sich überwiegend um Frauen. Von den auf dem Bahnhof wartenden polnischen Bürgern werden diese wahllos angesprochen und zum Verkauf ihrer mitgeführten Waren aufgefordert.132

Das kleine Wort „wahllos“ signalisiert, dass Schleichhandel in den siebziger eine eingeübte Praxis war und nach bestimmten Regeln funktionierte. Man 129 Ebd.,

Information über den von Bürgern der VR Polen betriebenen illegalen Straßenhandel in verschiedenen Bezirken der DDR, Berlin, 1. 8. 1977, Bl. 16. 130 Ebd., Bl. 16/17. 131 Vgl. ebd., BV Leipzig, KD Leipzig-Stadt Nr. 1861, Information über den spekulativen Handel mit Waren durch polnische Bürger in Leipzig und den Stand der operativen Bearbeitung durch das Komm. I des VPKA Leipzig, Leipzig, 14. 7. 1977, Bl. 114/15. 132 Ebd., Bl. 115.

4.2. Praktiken und Bekämpfung des Schleichhandels   301

konnte sich auf einen Ertrag durch Schleichhandel verlassen, ohne in festen Gruppen zusammengeschlossen zu sein. Die Einreise konnte regelmäßig oder sporadisch erfolgen, in Leipzig konnte man für relativ hohe Preise primitive Unterkünfte bei Privatpersonen mieten.133 Die Mechanismen griffen unkompliziert ineinander. Die Grenzschließung führte sehr wahrscheinlich zu einer nochmaligen ‚Professionalisierung‘ der Strukturen.

Organisierte Schleichhändler Die Dokumente entfalten ein geradezu ‚idealisiertes‘ Bild krimineller Strukturen, denen man mit Repressionen beizukommen gedachte. Für Leipzig finden sich in der Hinterlassenschaft der Staatssicherheit Fallbeispiele von Schleichhandel, die mit obigen Annahmen und Analysen korrelieren. Nicht immer lassen die Dokumente eine umfassende Beschreibung des Schleichhandels zu. Dies liegt zum einen an der Quellendichte, zum anderen können die Einschätzungen im Besonderen der Staatssicherheit nicht unhinterfragt übernommen werden. In ihnen manifestiert sich die Sicht der Sicherheitsorgane auf einen Alltag, den es offiziell nicht geben durfte. Das macht den Umgang mit ihnen reizvoll und kompliziert. Doch immerhin existieren neben wertenden Berichten auch Dokumente, die konkrete Schleichhandelstätigkeiten aufdecken. An der Oberfläche scheinen sich die Phänomene und Praktiken des organisierten Schleichhandels in den siebziger und achtziger Jahren nicht grundsätzlich voneinander unterschieden zu haben; allerdings zeigen sich an bestimmten Stellen durchaus signifikant andere Wesensmerkmale. So wurde vielen Einzelprofiteuren des grenzübergreifenden Handels mit der Grenzschließung jede Möglichkeit der Reise und damit des Warentransfers genommen. Damit änderten sich natürlich Strategien und Milieus. Was vorher einer Regelhaftigkeit folgte und mit verhältnismäßig geringem Aufwand betrieben werden konnte, verlangte nun eine professionelle Struktur. Es entsteht der Eindruck, dass sich das Milieu kriminalisierte und weibliche Schleichhändler von männlichen abgelöst wurden. Der Anteil polnischer Bürger an den Schmuggel- und Schleichhandelstätigkeiten in der DDR und in Leipzig war während des gesamten hier untersuchten Zeitraums erheblich.134 Von den Staatsorganen wird den Zoll- und Devi133 Vgl.

ebd., Bl. 116. u. a. ebd., MfS, HA IX Nr. 5365, Zuarbeit zur Lage und Situation bei der Bekämpfung von Schmuggel und Spekulation im paß- und visafreien Reiseverkehr mit der VR Polen, Berlin 2. 11. 1979, Bl. 4 und BStU, MfS, Sekr. Neiber Nr. 652, Vermerk zur Jahresinformation der Zollverwaltung der DDR über Ergebnisse der Zollkontrolle an der Staatsgrenze der DDR zur VR Polen und zur CSSR 1985, Berlin, 18. 2. 1986, Bl. 46. Auch für Leipzig lässt sich eine solche These aufrecht erhalten: Polen waren an Schwer-

134 Vgl.

302   4. Deutsch-polnischer Schleichhandel in Leipzig senstraftätern ein hoher Grad an Organisation und kriminellem Potential vorgeworfen. So hätten 1979 46% der aufgedeckten Vergehen „kriminelle Begehungsmethoden“ aufgewiesen. Einzeltäter und Tätergruppen scheinen sich relativ die Waage gehalten zu haben.135 Die Schmuggler waren in der Mehrzahl jung (zwischen 17 und 30 Jahre alt) und in den siebziger Jahren weib­ lichen Geschlechts – vermutlich, weil Frauen weniger oft einer beruflichen Tätigkeit nachgingen.136 Die Transitwege durch die DDR waren beliebte Schmugglertrassen, um „Westwaren“ nach Volkspolen zu bringen.137 Stützpunkte für Schleichhändler und Schleichhandelswaren wurden Wohnungen und Bahnhöfe, was mehrere Einkaufsrunden ermöglichte und sogar zu Blockaden von Gepäckaufbewahrungen in Bahnhöfen führen konnte.138 Der Warenhandel fand praktisch überall statt: auf Straßen und Plätzen genauso wie in Dienstleistungseinrichtungen, Verkehrsmitteln, Naherholungseinrichtungen, in Wohnungen, Betrieben und Gaststätten, am Rande der Städte oder in ländlichen Gebieten. Handelnde traten auch in Gruppen auf, was die Sicherheit beim Handeln erhöhte, weil man sich gegenseitig absichern konnte.139 Einzelbeispiele stützen dieses Bild: Im bereits oben erwähnten Fall verkaufte eine Gruppe von wohl fünf bis sechs polnischen Hausfrauen über zwei Leipziger Familien Waren im Gesamtwert von über 150 000 Mark der DDR punktorten des Schleichhandels recht deutlich vertreten. Vgl. BStU, MfS, BV Leipzig, AOG Nr. 1804/85, Information zu einem Schwerpunkt der allgemeinen und Zollkriminalität in der „Milch-Mocca-Eisbar“ in Leipzig, Leipzig, 4. 5. 1981, Bl. 16. Aus Rapporten der Volkspolizei von 1989 geht ebenso hervor, dass von allen in Städten der DDR aufgegriffenen Schleichhändlern der Anteil polnischer Bürger am höchsten war: Vgl. BStU, MfS, Sekr. Neiber Nr. 653, Rapport Nr. 212/89, Bl. 3/4, Rapport Nr. 181/89, Bl. 33/34, Rapport Nr. 152/89, Bl. 36/37, Rapport Nr. 122/89, Bl. 38/39 und Rapport Nr. 90/89, Bl. 59/60. 135 Vgl. BStU, MfS, HA IX Nr. 5365, Zuarbeit zur Lage und Situation bei der Bekämpfung von Schmuggel und Spekulation im paß- und visafreien Reiseverkehr mit der VR Polen, Berlin, 2. 11. 1979, Bl. 5. 136 Vgl. ebd., ZAIG Nr. 2803, Nr. 177/78: Information über die bisherigen Ergebnisse der Durchsetzung der Maßnahmen zur Bekämpfung und Zurückdrängung von Straftaten und anderen Rechtsverletzungen unter Missbrauch des paß- und visafreien Reiseverkehrs zwischen der DDR und der Volksrepublik Polen, Berlin, [undatiert], Bl. 8. 137 Vgl. ebd., HA IX Nr. 5365, Zuarbeit zur Lage und Situation bei der Bekämpfung von Schmuggel und Spekulation im paß- und visafreien Reiseverkehr mit der VR Polen, Berlin, 2. 11. 1979, Bl. 6. 138 Vgl. ebd., ZAIG Nr. 4682, Weitere Hinweise zu Problemen des visafreien Reiseverkehrs mit der VR Polen, Berlin, 10. 11. 1972, Bl. 136. 139 Vgl. ebd. Nr. 2803, Nr. 177/ 78: Information über die bisherigen Ergebnisse der Durchsetzung der Maßnahmen zur Bekämpfung und Zurückdrängung von Straftaten und anderen Rechtsverletzungen unter Missbrauch des paß- und visafreien Reiseverkehrs zwischen der DDR und der Volksrepublik Polen, Berlin, [undatiert], Bl. 7.

4.2. Praktiken und Bekämpfung des Schleichhandels   303

an asiatische Einzelhändler weiter.140 Mit dem erwirtschafteten Geld kauften sie wiederum in Leipzig ein. Das Vorgehen war dabei denkbar einfach und nicht zeitaufwendig, weil der Verkauf der Waren nicht durch die Schmuggler­ innen selbst vorgenommen wurde. Das zu tragende Risiko bestand in der ­unverzollten Einfuhr und Ausfuhr der Waren. Da die Transaktionen sich über ungefähr drei Jahre hinzogen, kann das Risiko an den Grenzen nicht sehr hoch oder muss zumindest kalkulierbar gewesen sein. Anhand der Akte ist das Profil der Schmugglerinnen – bis auf einige wenige Informationen zu ­Geschlecht und Alter der Täter – nicht rekonstruierbar. Da es sich um eine Akte der Zollverwaltung handelt, die die Verhöre und Untersuchungsberichte zu den deutschen Mittelsmännern enthält, können aber über die Wege des Schleichhandels in Leipzig systematisiert werden. Die Kontaktpersonen zu den polnischen Schmugglerinnen waren auf deutscher Seite in Polen geborene Deutsche, die erst in den sechziger Jahren aus ihren Geburtsregionen in die DDR übergesiedelt waren. Dabei handelte es sich um zwei Schwestern, deren Ehemänner, Töchter und Schwiegersöhne im Laufe der Zeit in die Geschäfte einbezogen wurden. Da die Untersuchungen zu den Schwestern getrennt liefen und auch die jeweiligen polnischen Kontaktpersonen andere waren, kann nicht nachvollzogen werden, inwiefern die Schwestern in gegenseitigem Einvernehmen gehandelt haben. Die Geschäfte liefen getrennt voneinander ab, aber das Muster war identisch. Die ersten Kontakte wurden jeweils von Polinnen beim Verkauf von Schmuggelwaren auf der Straße in Leipzig hergestellt. Nachdem man auf Polnisch ins Gespräch gekommen war, fragten die Straßenhändlerinnen, ob sie demnächst die Waren an die deutschen Frauen liefern könnten. Diese sollten wiederum an asiatische Händler weiterverkaufen. Dieser Umweg war nötig, weil bei solchen Transaktionen der Verkäufer einen DDR-Personalausweis vorlegen musste. Die asiatischen Händler kauften das Schmuggelgut über mehrere Jahre hinweg als Gebrauchtware ab. Zwischen 1976 und 1980 suchten die Polinnen Leipzig etwa alle vier bis sechs Wochen mit neuen Waren, die auf Kommission an die asiatischen Händler weitergereicht wurden, auf. Zwischengelagert wurde in den Wohnungen der Leipziger. Weil zum einen die Warenmengen beträchtlich, zum anderen nicht immer die gleichen Personen als Verkäufer fungieren sollten, verteilten die Schwestern den Verkauf auch auf Familienangehörige. Wenn neue Lieferungen aus Polen eintrafen, verständigte man sich nur noch auf Treffpunkte. Dabei wechselten Geld und Waren den Besitzer. Zudem erhielten die Deutschen für diese Gefälligkeiten von den polnischen Frauen Geschenke, 140 Vgl.

ebd., BV Leipzig, Abt. IX Nr. 368.

304   4. Deutsch-polnischer Schleichhandel in Leipzig wie Kleidung und Kosmetik; verständlicherweise ist in den Verhören nicht von Geldzahlungen die Rede. Die Zollverwaltung kam diesen Schleichhändlern offensichtlich nur durch eine Kontrolle der Buchführung der asiatischen Geschäfte auf die Spur. Deshalb konnten auch nur die deutschen, nicht aber die polnischen Schleichhändler zur Verantwortung gezogen werden. Die Geschäfte waren im einen Fall schon vor der Schließung der Grenze eingestellt, im anderen durch deren Schließung unterbunden worden. Die Untersuchung wurde jeweils erst 1981 eingeleitet. In den Schlussberichten werden die gehandelten Waren unter den Posten Glaswaren, PKW-Zubehörteile, kunstgewerbliche Artikel und Textilien ­subsumiert.141 Aus den beschlagnahmten Geschäftsbüchern der asiatischen ­Geschäfte geht die Vielfalt der geschmuggelten Waren deutlich hervor. Auf den Listen befanden sich z. B. Strickjacken, Röcke, Blusen, Kleider, Lampen, Vasen, Zuckerdosen, Likörgläser, Uhrenarmbänder, Samoware, Aschenbecher, Schalthebel, Teeservices, Wandteller, Brieföffner und vieles mehr. Eine der Schwestern setzte mit Hilfe ihrer Tochter und der jeweiligen Ehemänner ungefähr 70 000, die andere ungefähr 83 000 Mark der DDR um. Beide Beträge umfassen die tatsächlich erwirtschafteten Preise. Da die Posten als Gebrauchtware gehandelt wurden, lag der Originalwert noch höher. Unter den Bedingungen der geschlossenen Grenze wuchs der Aufwand polnischer Schleichhändler. Sie mussten versuchen, eine Einladung in die DDR zu erlangen oder gar zu kaufen.142 Aufenthalte wurden eigenmächtig über den beantragten Besuchszeitraum hinaus verlängert; aufgegriffene Polen behaupteten nicht selten, ihre Papiere verloren zu haben.143 Die Helfer der polnischen Schleichhändler waren den Dokumenten zufolge häufig Frauen, die die eingeführten Waren entweder selbst verkauften oder per Inserat weitervermittelten. Sie stellten auch Wohnungen als Anlaufstellen und für die Lagerung von Waren und sollen die Polen beherbergt haben.144 Vor allem – sei es deswegen, weil sich die Aufmerksamkeit gegenüber Schleichhändlern und die Kontrollen verschärft hatten oder weil die hier eingesehenen Akten keinen optimalen Querschnitt vermitteln – wurden aber seit 141 Vgl.

BStU, MfS, BV Leipzig, Abt. IX Nr. 368, Schlussberichte, Bl. 223 und Bl. 327. ebd., MfS, HA IX Nr. 13553, Hinweise über Entwicklungstendenzen des Einreise-, Ausreise- und Transitverkehrs sowie Erkenntnisse über die Bekämpfung und Zurückdrängung von Straftaten und anderen Reiseverletzungen unter Missbrauch der am 30. Oktober 1980 in Kraft getretenen veränderten Modalitäten im paß- und visafreien Grenzverkehr zwischen der DDR und der Volksrepublik Polen für den Zeitraum vom 30. Oktober bis 31. Dezember 1980, Februar 1981, Bl. 10. 143 Vgl. ebd., Bl. 7/8. 144 Vgl. ebd., Bl. 6. 142 Vgl.

4.2. Praktiken und Bekämpfung des Schleichhandels   305

der Schließung der Grenzen vermehrt Schieberringe und organisierte Schmugglerkriminalität aufgedeckt und bekämpft. Deren Vorgehen wird wie folgt beschrieben: „Gewerbsmäßige Schmugglerbanden“ waren demnach stark in Westberlin etabliert und dehnten ihre Geschäftsbereiche auch in die DDR aus. Mitglieder solcher Banden und polnische Bürger versuchten, Einladungen zu erreichen und in der DDR Quartiere zu etablieren, um ihren Geschäften weiter nachgehen zu können. Von Vertragsarbeitern wurden zu diesem Zweck Arbeitsbescheinigungen gekauft, um bei Kontrollen einen legalen Aufenthalt beweisen zu können. Mit der Schließung der Grenzen sei der Schleichhandel von Berlin aus dezentral auf die gesamte DDR verteilt worden und vor allem jugoslawische Bürger seien stärker eingebunden worden. Die Staatssicherheit strich heraus, dass Westberlin zu einer Art Drehscheibe geworden sei, von der Polen aus Einladungen in die DDR organisierten.145 In Leipzig wurden organisierte Schmugglerstrukturen an verschiedenen Treffpunkten beobachtet. In mehreren Zusammenhängen mit Schleichhandel taucht in den Akten die „Milch-Mocca-Eisbar“ auf, in der sich Schleichhändler und angeblich auch andere Kriminelle unterschiedlicher Nationalitäten trafen. Das Publikum in dieser Bar wurde allgemein gesetzeswidriger Handlungen, zum Beispiel der Prostitution und Drogenkriminalität, verdächtigt. Im Mittelpunkt des illegalen Handels standen Währungsgeschäfte und Schleichhandel mit Quarzuhren, die in der Bar ihre Besitzer wechselten – zum Teil für Beträge über 100 000 Mark der DDR. Eine Uhr soll dabei den Schwarzmarktpreis von 250 bis 300 DDR-Mark erreicht haben, bei einem Einkaufspreis von 30 DM in der Bundesrepublik. Täter dieser Aktivitäten seien Ausländer mit zeitweiligem Wohnsitz in der DDR, „Touristen“ – also wohl mit Einladungen getarnte Schleichhändler – und sich illegal in der DDR aufhaltende ehemalige Studenten und Arbeiter gewesen. Unter ihnen befanden sich den Beobachtungen nach auch polnische Bürger.146 Eine wesentliche Rolle spielten auch Jugoslawen und „Zigeuner“ mit osteuropäischen Staatsbürgerschaften. In den Augen der Staatssicherheit hatten die Schleichhändler einen hohen organisatorischen Grad erreicht, indem sie arbeitsteilig, möglichst unauffällig und konspirativ vorgingen. So wurden Autos von nicht mehr in der DDR anwesenden Personen benutzt und oft gewechselt und die Unterkunft bei DDR145 Dies und vorhergehendes vgl. ebd., Bl. 9/10. 146 Vgl. BStU, MfS, BV Leipzig, AOG Nr. 1804/85,

Information zu einem Schwerpunkt der allgemeinen und Zollkriminalität in der „Milch-Mocca-Eisbar“ in Leipzig, Leipzig, 4. 5. 1981, Bl. 15–16 und ebd., Bericht über die Entwicklung des spekulativen Warenhandels und der Währungsmanipulation in der Stadt Leipzig, Leipzig, 23. 6. 1981, Bl. 20–23.

306   4. Deutsch-polnischer Schleichhandel in Leipzig Bürgerinnen, die teilweise auch eine Heirat eingingen, organisiert. Nicht alle Aufenthaltsorte – gerade der „Zigeuner“ – waren der Stasi bekannt.147 Hinzu kam, dass die Orte des Schleichhandels – wie z. B. Parkplätze – gewechselt, ständig von Spähern abgesichert und bei Anzeichen einer Überwachung durch die Polizei oder die Staatssicherheit sofort Konsequenzen zur erneuten Absicherung getroffen wurden.148 Besonders die eigentlichen Organisatoren des Schleichhandels hielten sich im Hintergrund. So fiel ein Pole, der ohne Aufenthaltsgenehmigung und polizeiliche Anmeldung eine Leipziger Wohnung gemietet hatte, in seinem Wohngebiet als höflicher und hilfsbereiter Mann auf, aber nicht als Schleichhändler.149 Selbst nach flächendeckenden Beobachtungen des Schleichhändlermilieus konnte nur „ein Teil der am Handel und Warenumschlag beteiligten polnischen Bürger […] namentlich und teilweise mit Geburtsdaten und Anschrift festgestellt werden.“ Immerhin waren das schon 245 Personen.150 Ziemlich lückenlos recherchierbar ist der Fall „Makarow“: Demnach hatte ein junger Pole, der mit einer DDR-Bürgerin verheiratet war, seinen Lebensunterhalt mit dem illegalen Verkauf von Armbanduhren bestritten. Zum Zeitpunkt seiner Festnahme hielt er sich illegal in der DDR auf, weil er nach einer legalen Einreise zur Messe die Rückreise nicht angetreten hatte. Die Untersuchungsorgane nahmen an, dass der Verdächtige Quarzuhren im Wert von 120 000 Mark der DDR verschoben hatte.151 In den Verhören gab der Verdächtige zu verstehen, dass er die Uhren von einem jugoslawischen Bürger erhalten und sie dann an „Zigeuner“ weiterverkauft habe. Insgesamt habe er weit über 1000 Uhren abgenommen, die er auf offener Straße weiterverkauft habe. Eine Uhr habe zwischen 90 und 120 DDR-Mark eingebracht. Der Weiterverkauf bahnte sich demnach in der „Milchbar“ in Leipzig an, in der er offen angesprochen worden sei, ob er Uhren verkaufe. Der Verdächtige nahm auch an, dass die Uhren von Diplomaten in die DDR geschmuggelt worden

147 Vgl.

ebd., Information zum gegenwärtigen Erscheinungsbild der Währungsspekulation sowie des spekulativen Handels mit Quarzuhren, Leipzig, 19. 6. 1981, Bl. 17–19. 148 Vgl. ebd., AOG Nr. 1884/83 Bd. 1, Information zum gegenwärtigen Erscheinungsbild des spekulativen Waren- und Devisenhandels durch ausländische Staatsbürger im Stadtgebiet von Leipzig, Leipzig, 23. 9. 1981, Bl. 159. 149 Vgl. ebd., Bl. 160. 150 Vgl. ebd., KD Leipzig-Stadt Nr. 1861, Information über den spekulativen Handel mit Waren durch polnische Bürger in Leipzig und den Stand der operativen Bearbeitung durch das Komm. I des VPKA Leipzig, Leipzig, 14. 7. 1977, Bl. 113. 151 Vgl. ebd., AOPK Nr. 2247/82, Abschlußbericht zur OPK „Makarow“, Leipzig, 16. 12. 1982, Bl. 357–359.

4.2. Praktiken und Bekämpfung des Schleichhandels   307

seien. Er hatte seinen jugoslawischen Verkäufer bei der Kontaktaufnahme mit einem elegant gekleideten Herrn beobachtet.152 Aussagekräftig sind solche Zeugnisse insofern, als sie zumindest die Beobachtungen und Theorien der DDR-Organe stützen. Jedenfalls kann man dem Verhör entnehmen, dass internationale Strukturen bestanden, auch wenn der Verhörte nur als Zwischenhändler fungierte und manche seiner Aussagen nur auf Vermutungen stützen konnte. Trotzdem bleiben solche Aussagen eine Art Glücksfall, weil viele Quellen über die Hintergründe von Schleichhandel kaum oder wenig Auskünfte zu geben vermögen. So gibt es eine Vielzahl von Polizeiakten, die mit der schlichten Bestandsaufnahme der Schleichhandelsaktivitäten enden: Eine Bande von circa zehn Polen trieb mindestens ab 1985 ihr Unwesen beim Verkauf von Edelmetallen in Leipzig. Sie schmuggelten die Schleichhandelsware per Zug in die DDR ein, der Weiterverkauf wurde von DDR-Bürgern und in der DDR wohnenden ­polnischen Bürgern übernommen. Den Kontakt zu den endgültigen Käufern stellten die Schleichhändler in einem Café in Leipzig her.153 Aktenkundig wurde ein polnischer Staatsbürger der noch zu Zeiten der ‚offenen Grenze‘ Edelmetalle im Wert von 50 000 DDR-Mark aus Polen in die DDR illegal einführte und zudem Schmuck und Edelmetalle im Wert von 90 000 Mark aufkaufte, um sie durch DDR-Bürger weiterverkaufen zu lassen.154 Größere Gewinne erwirtschaftete ein Pole, der laut ersten Berichten seit 1982 führend bei der Organisation des Schleichhandels mit Silber aus Volkspolen beteiligt war. Einwandfrei nachgewiesen werden konnte ihm der Weiterverkauf von Silbergegenständen im Wert von 60 000 DDR-Mark, angenommen wurde aber, dass er durch Mittelsmänner durchaus Silbergegenstände im Wert von 400–600 000 DDR-Mark verkauft hatte.155 Beim Schmuggeln von Silberbesteck, -soßenkellen und Ähnlichem per Zug von Warschau nach Leipzig in Toilettenräumen wurden zwei Männer gestellt. Sie hatten in Absprache miteinander die Waren auf Flohmärkten in Polen aufgekauft und wollten sie mit erheblichem Gewinn in Leipzig weiterverkaufen.156 Aufgegriffen wurden auch etliche Polen, die vornehmlich mit Quarz152 Vgl. ebd., Vernehmungsprotokolle des Beschuldigten, Berlin, vom 14. 4. 1982, 16. 4. 1982,

23. 4. 1982 und 28. 4. 1982, Bl. 294–333. ebd., Abt. II Nr. 114, Verstoß gegen das Zollgesetz gem. §§  12, 14, Leipzig, April 1986, Bl. 237. 154 Vgl. ebd., Abt. IX Nr. 143/01, Erstmeldung (VP), Leipzig. 26. 8. 1981, Bl. 207/208. 155 Vgl. ebd., Abt. IX Nr. 143/02, Erstmeldung/ EV der Zollverwaltung gegen Ausländer, Leipzig, 12. 3. 1985, Bl. 117–121. 156 Vgl. ebd., Erstmeldung/ EV der Zollverwaltung gegen Ausländer, Leipzig, 30. 1. 1986, Bl. 342–346. 153 Vgl.

308   4. Deutsch-polnischer Schleichhandel in Leipzig uhren, die sie zuvor eingeschmuggelt hatten, handelten. Die Werte schwankten zwischen 15 000 DDR-Mark bei 50 Uhren, über 50 000 für 150 bis hin zu ca. 107 000 DDR-Mark für 439.157 Spuren in den Akten hinterließ auch ein polnischer Busfahrer, der in der DDR verheiratet war. Er nutzte demnach Fahrten nach Westberlin, um Tonbandkassetten, Taschenromane und PKWReifen in die DDR einzuführen. Zuvor war er schon als Zwischenhändler für Quarzuhren aufgefallen.158 Inwiefern die oben genannten Beispiele ein Gerichtsverfahren oder sogar eine Verurteilung nach sich zogen, ist nicht mit Sicherheit zu sagen. Nur aus den Akten der Deutschen Volkspolizei, die sich individuellen Straftätern ­widmen, sind die Klarnamen der Täter zu ermitteln. Berichte über Vertragsarbeiter in den Zügen oder Beobachtungen von Schwerpunkten des Schleichhandels in Leipzig liefern zumeist keine persönlichen Angaben. Der Versuch, über die Klarnamen auch die Gerichtsakten zu erlangen, ist für diese Arbeit nicht konsequent verfolgt worden, so dass nur in wenigen Fällen eine Angabe zu Verurteilungen gemacht werden kann. Der polnische Hauptverdächtige aus dem Fall „Makarow“ wurde aufgrund des Verstoßes gegen das Zoll- und Devisengesetz zu vier Jahren Freiheitsstrafe verurteilt, außerdem musste er noch 45 250 DDR-Mark bezahlen und sein Fiat wurde eingezogen.159

Vertragsarbeiter als Schleichhändler Ohne jegliche Übertreibung kann behauptet werden, dass polnische Vertragsarbeiter in Leipzig zu den Hauptakteuren eines systematischen Warenumschlags zählten. Das hatte seine Ursache darin, dass sie Verdienste – wie es hieß – „fast ausschließlich“ schon in der DDR ausgaben und erleichterte Zollbestimmungen zur Ausfuhr der Einkäufe nach Volkspolen nutzten.160 Zum Verkauf in der DDR wurden wiederum Waren eingeschmuggelt. Nach der Grenzschließung und angesichts der angespannten Versorgungslage in Volkspolen konzentrierten und verschoben sich solche Nebenverdienste und Versorgungsstrategien noch stärker als zuvor auf polnische Vertragsarbeiter.161 157 Vgl.

ebd., Erstmeldungen, Leipzig, 1. 10. 1981, Bl. 332–334 und 2. 12. 1981, Bl. 295–297 sowie ebd., ZMA Abt. II Polen 1364, Übergabeverfügung, Leipzig, 10. 10. 1985, Bl. 4–7. 158 Vgl. ebd., ZMA Abt. XIX Nr. 4249, Information, Leipzig, 30. 10. 1981, Bl. 3, Erfaßte ­polnische Bürger Ihrer Diensteinheit, op.-relev. Verbindungen, Leipzig, 12. 1. 1982, Bl. 4 sowie Information Nr. (unleserlich), Berlin, 4. 7. 1981, Bl. 10–13. 159 Vgl. ebd., AP Nr. 1104/86, [Brief ohne Titel], Berlin, 4. 2. 1983, Bl. 6. 160 Vgl. ebd., MfS, Abt. X Nr. 94, Information über den Einsatz polnischer Werktätiger in der DDR, Berlin, 28. 1. 1987, Bl. 53. 161 Hinweise hierauf vgl. ebd., HA IX Nr. 3612, Zuarbeit für den Kriminalitätsbericht 1983 des Generalstaatsanwalts der DDR zu den Straftaten gegen das Zoll-, Devisen- und Suchtmittelgesetz, Berlin, November 1983, Bl. 32.

4.2. Praktiken und Bekämpfung des Schleichhandels   309

Grundsätzlich durften sie alle Waren ausführen, sofern sie für den Eigenbedarf und dem ihrer Familienangehörigen bestimmt waren.162 Diese Grenzen wurden jedoch regelmäßig überschritten. Ein kursorischer Blick auf die Gewinnspannen beim Weiterverkauf deutscher Waren in Volkspolen beleuchtet die Lukrativität dieser Praktiken: Schon wenn man die offiziellen Wechselkurse von DDR-Mark in polnische Złoty zugrunde legt, waren sie enorm. So konnten z. B. mit Hausschuhen und Herrenunterwäsche 100 Prozent Gewinn erzielt werden, mit Pfeffer 520 Prozent, mit Mandeln 310 Prozent und mit Rosinen 300 Prozent. Die Spitzenplätze belegten Süßtafeln mit 900 Prozent und Gelatine mit 1370 Prozent Gewinn.163 Lohnend war außerdem, Handelswaren nach Leipzig mitzubringen. Die Staatssicherheit nahm zu Recht an, dass diese Praxis weit verbreitet war. Aus Verhören überführter Vertragsarbeiter folgerte sie, indem sie die Aussagen paraphrasierte, dass ein nicht schmuggelnder Arbeiter von seinen Kollegen nicht für „voll genommen“ werde.164 Die Beispiele für Schmuggel in beide Richtungen sind zahlreich. Im Januar 1986 wurde ein polnischer Arbeiter des VEB Glasseidenwerks Oschatz dabei erwischt, wie er zwölf Kilogramm Zitronen, 70 Süßtafeln und 15 Thermosflaschen am Zoll vorbei in die Volksrepublik ausführen wollte; ein Dreher der VEB S.M. Kirow versuchte es mit 58 Süßtafeln, sechs Kilogramm Pfeffer und 750g Paprikapulver.165 Ein Gleisarbeiter hatte neben den am Zoll angegebenen zwei Kartons Tapete ein Kilogramm Pfeffer und Paprikapulver, jeweils 12,5 Kilogramm Mandeln und Sultaninen, acht Kilogramm „Kleine Bären“, 120 Süßtafeln, 29 Büchsen Wurst und 12 Büchsen Lackfarbe bei sich.166 Im Dezember 1985 versuchte ein Monteur der 162 Vgl.

ebd., HA VI Nr. 4845 Teil 2, Zu einigen Fragen der Zollabfertigung von polnischen Werktätigen, die auf der Grundlage des Regierungsabkommens über die zeitweilige Beschäftigung polnischer Werktätiger in Betrieben der DDR tätig sind, [1979], Bl. 165. 163 Vgl. ebd., Sekr. Neiber Nr. 652, Gewinnspannen zu Gegenständen, die in der Ausreise zugleich den Schwerpunkt des Schmuggels und der Spekulation bilden, Bl. 63. Laut der gesamten Auflistung konnte man mit Damenstiefeln 150 Prozent, mit Kinderstiefeln 470 Prozent, mit Hausschuhen 100 Prozent, mit Damenstrumpfhosen 230 Prozent, mit Herrenunterwäsche 100 Prozent, mit Süßtafeln 900 Prozent, mit Erdnüssen 450 Prozent, mit Gummitieren 470 Prozent, mit Knabberspaß 150 Prozent, mit Pfeffi 400 Prozent, mit Kaugummi 150 Prozent, mit Gelatine 1370 Prozent, mit Pfeffer 520 Prozent, mit Piment 320 Prozent, mit Paprika 170 Prozent, mit Zimt 150 Prozent, mit Salami 400 Prozent, mit Rosinen 300 Prozent und mit Mandeln 310 Prozent Gewinn erzielen. 164 Vgl. ebd., BV Leipzig, Abt. VII Nr. 53, Vorlage für die Bezirkseinsatzleitung Leipzig, 6. 9. 1989, Bl. 5. 165 Vgl. ebd., ZMA Abt. II Polen Nr. 1371, [ohne Titel, undatiert], Bl. 2 und Anlage, [undatiert], Bl. 7. 166 Vgl. ebd., Anlage, [undatiert], Bl. 13.

310   4. Deutsch-polnischer Schleichhandel in Leipzig VEB Verlade- und Transportanlagen Leipzig 50 „Plasttragetaschen“ im Kotflügel seines Autos in die DDR einzuschmuggeln.167 Ein Schweißer im VEB Braunkohlewerk Borna transportierte ein Likörservice.168 Dass eingeführte Ware natürlich in den meisten Fällen für den Verkauf in Leipzig bestimmt war, belegen die Angaben eines Vertragsarbeiters, die von ihm geschmuggelten Waren wolle er an Arbeitskollegen weiterverkaufen.169 Polnische Vertragsarbeiter waren darüber hinaus in einen eingespielten Handel involviert, in dessen Rahmen eingeschmuggelte Waren auf (teils sogar staatliche) Geschäfte in Leipzig umverteilt wurden. Dabei griffen Kreise von Vertragsarbeitern aus Volkspolen und Vietnam, mit deutschen Kollegen dieser Vertragsarbeiter und mit anderen ausländischen Besuchern der DDR ineinander. In allgemeinen Schätzungen meinte die Stasi den Schaden durch den Schmuggel und Schleichhandel ganzer Belegschaften von VEB belegen zu können. Eine Konzentration verortete sie unter anderem in den Druckmaschinenwerken Leipzig, wo polnische Vertragsarbeiter vom November 1984 bis zum Mai 1985 Waren im Wert von 51 518 DDR-Mark in den Verkauf einschleusten.170 Höhere Summen waren aber auch keine Seltenheit: Die polnische Belegschaft des Braunkohlekraftwerkes Borna schmuggele zu 90 Prozent, 30 Personen konnten Verkäufe in der Höhe von 360 000 DDR-Mark nachgewiesen werden, 160 Vertragsarbeiter des VEB Kirow-Werk waren für eine „Gesamtschadenssumme“ von drei Millionen Mark in eineinhalb Jahren verantwortlich.171 In ihrer Geschichte der polnischen Vertragsarbeit in der DDR belegt Rita Röhr anhand eines Dokumentes, dass die gesamte polnische Belegschaft des VEB Poligraph Leipzig unter dem Verdacht des Silberschmuggels und illegalen Warenhandels stand.172

167 Vgl.

ebd., Anlage, [undatiert], Bl. 6. ebd., Anlage, [undatiert], Bl. 18. 169 Vgl. ebd., MfS, Abt. X Nr. 94, Anlage zu einem Brief an den Staatssekretär für Arbeit und Löhne, Berlin, [undatiert], Bl. 81. 170 Vgl. ebd., HA II Nr. 28709, Information Nr. 286, Lageeinschätzung über sich abzeichnende Entwicklungstendenzen zum An- und Verkauf gebrauchter Konsumgüter durch die Handelseinrichtungen der HO, des Konsum sowie Kommissions- und privater Einrichtungen in den Bezirken Leipzig und Halle, Leipzig, 4. 7. 1985, Bl. 44–46. 171 Vgl. ebd., BV Leipzig, Abt. VII Nr. 53, Vorlage für die Bezirkseinsatzleitung Leipzig, 6. 9. 1989, Bl. 5/6. Einzelfälle zum Schmuggel und Schleichhandel von polnischen Vertragsarbeitern des VEB-Kirow Werk liefert ein Dokument der KD Stadt Leipzig: Vgl. BStU, MfS, KD Leipzig-Stadt Nr. 2879, Sachstandsbericht, Leipzig, 13. 2. 1989, Bl. 1–6. 172 Vgl. Röhr: Hoffnung, S. 176. 168 Vgl.

4.2. Praktiken und Bekämpfung des Schleichhandels   311

4.2.3. Bekämpfung des Schleichhandels durch die ­Staatsorgane Der Zugriff der DDR-Organe in Leipzig auf deutsch-polnischen Schleichhandel wirft ein Licht auf die inneren Logiken des Staatssozialismus und auf die Alltäglichkeit von Kontrolle und Repression. Neben der Exekutive aus Volkspolizei und Grenzkontrolle verstand sich die Staatssicherheit als übergreifendes Kontrollorgan. Sie sammelte Informationen aus allen offiziellen Bereichen, beobachtete Schleichhandel und verfasste selbst Einschätzungen und Expertisen. Außerdem hatte die Stasi gleichfalls exekutive Kompetenzen und übernahm die Aufgaben von Polizei und Zoll. Sie vertrat bei der Bekämpfung von Schleichhandel einen globalen Anspruch: Kontrolle und Problemlösung lagen in einer Hand. Im Folgenden werden die Beobachtungen und Strategien der DDR gegenüber Schleichhandel umrissen; im Mittelpunkt steht aufgrund der Quellenlage die Staatssicherheit. Ihre Vorgaben, Maßnahmepläne und Dienstvorschriften sind die Folie zum Umgang der DDR mit ‚polnischem‘ Schleichhandel. Von Interesse sind neben ‚handfesten‘ Ermittlungsergebnissen, Fahndungserfolgen und Vorgehensweisen von Staatssicherheit und Volkspolizei besonders Duktus und Machart der Dokumente. Problematisch ist im Besonderen, dass die Wirksamkeit aller Unternehmungen der DDR dem Schleichhandel gegenüber nicht eingeschätzt werden kann. Zu belegen sind zwar die festgestellten Dimensionen, aber eben nicht die Dunkelziffern. Zudem reflektierte die Staatssicherheit in keinem der vorliegenden Dokumente ihre eigene Effektivität. Die Beobachtungsberichte der Staatssicherheit sind Zeugnisse ihrer tagtäglichen Arbeit. Die voyeuristische Freude ihrer offiziellen und inoffiziellen Mitarbeiter, ihr detektivisches Gefallen am Skandal sind beredter Beleg, wie die Durchdringung des Alltags in Leipzig funktionierte. In Beobachtungsberichten von Staatssicherheitsspitzeln aber auch der Kriminalpolizei zeigen sich eine Mischung aus Übereifer, politischer Überzeugung und Denunziantentum. Die Art dieser Beobachtungen war deshalb folgenschwer, weil sich mit ihr auch der Umgang mit Schleichhandel in der DDR entschied.

Die Staatssicherheit Dienstanweisungen des Ministers für Staatssicherheit Erich Mielke sorgten für den organisatorischen Überbau, in dessen Rahmen die verschiedenen Abteilungen der Staatssicherheit in Abstimmung mit Zoll und Volkspolizei Schmuggel und Schleichhandel bekämpfen sollten. Die DDR-Organe nahmen einerseits den realen und gewinnbaren Kampf mit deutsch-polnischem Schleichhandel auf. Andererseits brachten sie ihre Mittel vielfach gegen selbst

312   4. Deutsch-polnischer Schleichhandel in Leipzig konstruierte Gegner in Stellung und erbrachten in Praxis und vor allem dem internen Berichtswesen den bürokratischen Beweis der eigenen Unentbehrlichkeit. Ein Grund dafür war sicherlich die Ranghöhe und der Aufgabenbereich der Staatssicherheit im Apparat der DDR. Die Tätigkeit der Staatssicherheit begann an den Grenzen mit der Aufdeckung von Straftaten durch die Hauptabteilung IV.173 Alle „operativen Diensteinheiten des MfS“ sollten ihre Kompetenzen zur Aufklärung des „Mißbrauchs des paß- und visafreien Reiseverkehrs zu Straftaten“ bündeln, um die Vergehen aufzudecken. Zu den einzelnen Aufgaben gehörten unter anderem: Aufdeckung und Unterbindung von Währungsspekulation und Warenverkäufen, Aufdeckung von Organisationszentren des Schleichhandels, Verhinderung von größeren Aufkäufen von Waren durch Polen in der DDR und der Aufgriff von sich illegal in der DDR aufhaltenden Polen.174 Die Staatssicherheit sollte zudem dahingehend wirken, dass die Deutsche Volkspolizei und die Zollverwaltung ihre Aufgaben wahrnahmen. Die dementsprechenden Dokumente forderten von der Staatssicherheit die Überwachungstätigkeit gegenüber diesen Organen und wiesen dem Ministerium für Staatssicherheit die Führungsrolle zu. Die eigentliche Bekämpfung von Vergehen oblag aber der Zollverwaltung und der Deutschen Volkspolizei. Bei aller erwünschten Härte in der Bekämpfung von Schleichhändlern durfte das Prinzip der Freundschaft zwischen sozialistischen Bruderländern nicht angetastet werden, eine Forderung, die nicht immer problemlos zu erfüllen gewesen sein dürfte: Die Durchführung aller erforderlichen Maßnahmen zur Bekämpfung und Zurückdrängung des Mißbrauchs des paß- und visafreien Reiseverkehrs zu rechtswidrigen Handlungen einschließlich strafprozessualer Maßnahmen hat differenziert und politisch klug zu erfolgen und darf den Prozeß der Vertiefung der brüderlichen Beziehungen zwischen der DDR und der VR Polen in keiner Weise belasten, sondern muss diesen fördern.175

Berichte von den Orten des Schleichhandels oder die Observation von Schleichhändlern erwecken den Eindruck des Unmittelbaren. Die Spitzel waren direkt vor Ort und führten eine Art Verlaufsprotokoll. Sie beschrieben die 173 Vgl.

BStU, MfS, ZKG Nr. 1906, Maßnahmen zur Bekämpfung und Zurückdrängung von Straftaten u. a. Rechtsverletzungen unter Mißbrauch des paß- und visafreien Reiseverkehrs zwischen der DDR und der Volksrepublik Polen, Berlin, 29. 11. 1977, Bl. 3. Über die Tätigkeit der Hauptabteilung IV bei der Absicherung der Grenzen und des Reiseverkehrs hat Monika Tantzscher eine Studie vorgelegt: Monika Tantzscher: Hauptabteilung  VI: Grenzkontrollen, Reise- und Touristenverkehr. MfS-Handbuch, Teil  III/14. Berlin 2005. 174 Vgl. BStU, MfS, ZKG Nr. 1906, Maßnahmen zur Bekämpfung und Zurückdrängung von Straftaten u. a. Rechtsverletzungen unter Mißbrauch des paß- und visafreien Reiseverkehrs zwischen der DDR und der Volksrepublik Polen, Berlin, 29. 11. 1977, Bl. 4. 175 Ebd., Bl. 6.

4.2. Praktiken und Bekämpfung des Schleichhandels   313

Beobachteten, dokumentierten ihre Gespräche, Gesprächsfetzen und Handlungen. Ein gutes Beispiel für die Beschattung von Milieus, die mit Schleichhandel in Verbindung gebracht wurden, sind die Beobachtungen von Polen in und um die „Milch-Mocca-Eisbar“ in Leipzig. So fertigte die Kriminalpolizei einen Beobachtungsbericht an, in dem sie die Bewegungsradien einiger Polen, die mit Decknamen belegt wurden, über mehrere Tage nachzeichnete.176 Getrennt nach Tagen und Uhrzeiten wurden Treffen von Polen mit Bürgern anderer Staaten in der „Milch-Mocca-Eisbar“ beschrieben, ihre Aufenthalte an verschiedenen Tischen und auf der Toilette wie folgt vermerkt: Bei einem polnischen Bürger wurde gesehen, daß er in ca. einer Stunde vier- bis fünfmal die Toilette allein und mit anderen männlichen Personen zusammen aufsuchte und kurze Zeit später wieder verließ. Bei einer Kontrolle auf der Toilette konnte festgestellt werden, daß sich zwei andere polnische Bürger dort aufhielten. Dabei konnte gesehen werden, wie einer dieser Bürger dem anderen 450,00 Mark übergab und anschließend die Bar in Richtung Hauptbahnhof verließ. Diese Person hatte noch etwa 1500,00 Mark bei sich.177

In diesem Stil wurden zwei volle Nachmittage protokolliert. Aufgezeichnet wurde, wer mit wem sprach, von wem bestimmte Personen begleitet wurden, wer mit welchen Frauen in der Bar verkehrte und welche Gegenstände und Geldbeträge die Besitzer wechselten. Ortswechsel waren von besonderer Brisanz: Die andere Person verließ kurz nach ihm die Kaufhalle. Er hatte einen gefüllten Faltbeutel bei sich und ging zum Hauptbahnhof, Bahnsteig 26, wo er sich mit mehreren männlichen Personen unterhielt. Einige dieser Personen bestiegen danach den Zug in Richtung Warschau. Danach ging er zu den Bushaltestellen an der Ostseite des Bahnhofes. Bis 18.45 Uhr hielt er sich an verschiedenen bereitgestellten Bussen auf und sah nach den dort wartenden Personen. Es hatte den Anschein, daß er auf jemanden wartete.178

Das Ergebnis solcher Anstrengungen war dürftig. Fest stand am Ende nur, dass sich eine Gruppe von Polen während einer gewissen Zeit in verschiedenen Leipziger Lokalen aufgehalten hatte. Manchmal konnte auch eine „ope­ rativ relevante“ Adresse ermittelt werden.179 Den Abschluss der Beobachtungen bildeten manchmal noch eine Personenbeschreibung der mit Decknamen belegten Beschatteten und die persönlichen Daten jener, die z. B. durch Autokennzeichen identifiziert werden konnten.180 Ebenso hilflos wie ambitioniert wirkt ein Bericht, der sich zwar spannend liest, zur Aufklärung von Schleichhandel jedoch nur wenig mehr beitragen 176 Vgl.

ebd., BV Leipzig, AOG Nr. 1804/85, Beobachtungsbericht, Bl. 38–47. Bl. 38. 178 Ebd., Bl. 42. 179 Vgl. ebd., Bl. 44. 180 Vgl. ebd., Bl. 45–47. 177 Ebd.,

314   4. Deutsch-polnischer Schleichhandel in Leipzig konnte als allgemeine Verdächtigungen.181 Der Beobachtende beschattete Polen, die sich auf einem Parkplatz mit teils auch „dunkelhäutigen“ Personen trafen, sich unterhielten und Gegenstände austauschten. Der Treffpunkt wurde von Personen in Autos abgesichert, außerdem vermutete der Spitzel, dass unter den vermeintlichen Schleichhändlern eine Absprache stattgefunden habe, zu welchen Uhrzeiten man sich treffen solle. Da in einer nahen Bar Sekt konsumiert wurde, lag für den Spitzel nahe, dass die Beobachteten über ein hohes Einkommen verfügten. Alles in allem schloss er aus diesen Indizien, dass auf dem Parkplatz illegale Geschäfte abgewickelt würden. Nun waren solche Vermutungen insgesamt wohl nicht unbegründet, doch der Berichtende wirkt trotzdem nicht immer zuverlässig in seinen Deutungen oder zumindest übertrieben engagiert in seinen Vermutungen. Er erbrachte aus der Ferne ‚Beweise‘, über die er im Grunde nur spekulieren konnte. Die Beobachtungen der Staatssicherheit ergänzten und unterfütterten durch inoffizielle Informationen das Vorgehen von Zoll und Polizei, konnten aber ebenso im Einschreiten exekutiver Einheiten der Staatssicherheit selbst münden. Die Staatssicherheit begleitete oder führte selbst Verfahren gegen Verdächtige, erstellte Porträts und abschließende Berichte. Ihr Hineinwirken in die Arbeitsbereiche von Polizei und Zoll wird exemplarisch am Fall „Makarow“ deutlich.182 Es gelang in diesem Fall, jugoslawische und polnische Schleichhändler zu verhaften. Weil man bestimmte Personen schon länger im Visier gehabt hatte, konnte man ihnen die Delikte durch den Zugriff während einer Geld- und Uhrenübergabe nachweisen. Ansonsten endeten Ermittlungen im ‚Schleichhandelsmilieu‘ wohl selten mit Verfahren. Vom Juni 1976 bis zum Juni 1977 bearbeitete die Kriminalpolizei eine „größere Anzahl“ von Polen und Deutschen, die in Schleichhandel verwickelt waren. In diesem Zeitraum kam es zu keinem strafrechtlichen Abschluss.183

Die Volkspolizei Die tatsächliche Bekämpfung des Schleichhandels in Leipzig schlägt sich ­unter anderem in den Akten der Kriminalpolizei nieder. Verhaftungen von Schleichhändlern in Leipzig wurden in den täglichen Rapporten der Polizei festgehalten, geben aber keine Hintergründe zur Organisiertheit der Vergehen 181 Vgl.

ebd., Abt. II Nr. 124/02, Operativ-Information Nr. 132, Über operativ-interessantes Verhalten poln. Bürger 7010 Leipzig, Wintergartenstraße – Parkplatz, Leipzig, 25. 5. 1981, Bl. 180–182. 182 Vgl. ebd., AOPK Nr. 2247/82. 183 Vgl. ebd., KD Leipzig-Stadt Nr. 1861, Information über den spekulativen Handel mit Waren durch polnische Bürger in Leipzig und den Stand der operativen Bearbeitung durch das Komm. I des VPKA Leipzig, Leipzig, 14. 7. 1977, Bl. 113.

4.2. Praktiken und Bekämpfung des Schleichhandels   315

preis.184 Die Polizei war vor allem damit beschäftigt, keinen Straßenhandel in der Öffentlichkeit zuzulassen. Polizeistreifen und Zivilaufklärer überwachten die Schwerpunkte solcher Handelstätigkeiten, nahmen die Händler mit aufs Revier und belehrten sie bzw. leiteten ein Verfahren gegen sie ein. Vom 8. Dezember 1988 bis zum 22. August 1989 sprach die Polizei 256 Ordnungsstrafverfahren aus und beschlagnahmte Fundsachen im Wert von 37 000 DDRMark.185 Bei konzentrierten Aktionen wurden nicht nur Polen aufgegriffen, sondern ebenso Deutsche und Ausländer anderer Nationalitäten. Im Dezember 1988 waren unter 84 „zugeführten“ Schleichhändlern 60 Polen und 15 Deutsche.186 Über den geplanten und politisch gesteuerten Charakter von Polizeiaktionen gibt der Bericht aus einer Akte der Kripo Aufschluss. Am 5. März 1987 verhaftete die Volkspolizei am „Konsument am Brühl“ 19 Polen und sieben Deutsche: Die Maßnahme trug bewußt öffentlichkeitswirksamen Charakter. […] Zur weiteren Unterbindung des spekulativen Warenhandels, insbesondere durch polnische Bürger, wurde von seiten des VPKA Leipzig festgelegt, daß vor den Warenhäusern ,Konsument am Brühl‘, ,Centrum‘ – Petersstraße und ,Centrum‘ – Demmeringstraße ab sofort Streifenposten der VP präsent sind, die demonstrativ die Verkaufshandlungen unterbinden sollen.187

In der Leipziger Innenstadt war demzufolge – auch gewaltsames – Eingreifen gegenüber Handel treibenden Polen ein sichtbares Element.188 Die Präsenz der Polizei war gewollt und den Bürgern Leipzigs sollte ein entschiedenes Eingreifen der Behörden vorgeführt werden. In seinen ansonsten zumeist als intellektuelle Reflexion angelegten Tagebuchaufzeichnungen spielt der Leipziger Autor Gert Neumann mit diesen nach außen zielenden und die politische Integrität des Systems erhöhenden Maßnahmen der Volkspolizei. Er kommentiert ironisch, dass DDR-Bürgern der Anblick einer zweiten Realitätsebene neben der offiziellen DDR-Öffentlichkeit nicht zugemutet werden könne: In der Stadt, auf den Bordsteinen der ‚Haynstraße‘ [sic!, eigentlich Hainstraße] fehlen die Polen, die einen schönen Schwarzmarkt in die Stadt gebracht hatten. Im Schatten der auf dieser Straße wie ein Volk promenierenden Menschen, gedeckt von den freien Busen, die 184 Vgl.

ebd., Abt. IX Nr. 103/04. Hier finden sich Rapporte der Volkspolizei mit Angaben zu polnischen Schmugglern zum Juni 1989. Vgl. u. a. Bl. 6, 12, 27, 51, 70 oder SächsStA, StA-L, 20250 BDVP Nr. 1425, Nr. 1427, Nr. 1429 und Nr. 1431. 185 Vgl. BStU, MfS, BV Leipzig, Abt. VII Nr. 53, Vorlage für die Bezirkseinsatzleitung Leipzig, 6. 9. 1989, Bl. 9/10. 186 Vgl. ebd., Bericht über den Stand und die Wirksamkeit der Maßnahmen zur Zurückdrängung des ungenehmigten Straßenhandels durch ausländische Bürger in der Stadt Leipzig, Leipzig, 22. 12. 1988, Bl. 51. 187 Vgl. ebd., Abt. II Nr. 114, Operativinformation, Leipzig, 11. 3. 1987, Bl. 27. 188 Vgl. Interview mit Frau H.

316   4. Deutsch-polnischer Schleichhandel in Leipzig unter der waschmaschinenreinen Kleidung, im Frauenrhythmus treiben, fahren parallel zur Promenadengeschwindigkeit Polizeiwagen, die ihr Blaulicht nicht eingeschaltet haben. Sie sollen das sich Aufstellen der, im Promenadenfluß verborgenen, Polen auf dem Bordstein verhindern. Und, hieß es im Keller des Kaufhauses, es seien unter uns einige Männer bestimmt, die schwarzen Händler bei ihrem Erscheinen telephonisch unter einer bestimmten Rufnummer zu melden. In einigen Tagen ist in dieser Stadt ein Sportfest, und anscheinend will der Staat in dieser Stadt die Konfrontation verschiedener Lebensweisen vermeiden. Das Denken junger Menschen aus den Provinzen, die hier zu Gast sein werden, befände sich tatsächlich in verschiedenen Bedrängnissen; zu viele chauvinistische Urteile sind zum Beispiel schon über die als Händler in dieser Stadt erscheinenden Polen gesprochen worden; die sich freilich die Exotik, die sie in dieses dürre Deutschland bringen: bezahlen lassen.189

Die doppeldeutige Oberfläche und die „Exotik“ wurden aus dem sozialistischen Straßenbild getilgt, die Mechanismen des Schleichhandels aber nicht unterbunden.

4.3. Der „Schmugglerzug“. Ein Beispiel der ­Verflechtung von Einstellungen und Praktiken Ein nicht unerheblicher Teil der Schleichhandelsware wurde in den täglichen Zügen zwischen Volkspolen und Leipzig transportiert – am Anfang eines Wochenendes Richtung Osten, an dessen Ende Richtung Westen.190 Die meisten Fahrgäste waren polnische Vertragsarbeiter. Da diese Situation in den Zügen nicht nur offensichtlich, sondern aus den Augen der DDR-Organe unzumutbar war, gerieten die Fernzüge in den Fokus der Staatssicherheit. Am Beispiel der internationalen Reisezüge kreuzen sich Praktiken des Schmuggels und Schleichhandels mit den Einstellungen der Staatsorgane und der Bevölkerung. Die Reaktion auf Einkaufs- oder gar Schleichhandelspraktiken ist rückgekoppelt mit Wahrnehmungsmustern, deren Deutungshoheit durch Konfrontation unterschiedlicher Quellen aufgebrochen werden kann. Während für die DDROrgane Schmuggel und Chaos im Mittelpunkt standen, relativieren Leipziger in Interviews diesen Zustand und geben über eine international angehauchte Stimmung im Zug Auskunft. Auch Henryk Sekulski findet in seinem Roman durchaus amüsante Worte zur Situation auf dem Leipziger Bahnhof bei der Abfahrt des Zuges nach Warschau: Der Zug nach Polen fährt am Bahnsteig 26 ab, aber das muss man nicht wissen, das erkennt man sofort. Dieser Bahnsteig ist der letzte auf der rechten Seite vom Eingang. Es reicht hinzuschauen und alles ist klar. […] auf dem Bahnsteig 26 geht kein Mensch normal. Auf dem 189 Gert 190 Vgl.

Neumann: Elf Uhr. Köln 1999, S. 146/47. BStU, MfS, HA XIX Nr. 2014, Bericht, [ohne Ort], 3. 6. 1985. Bl. 22.

4.3. Der „Schmugglerzug“   317 Bahnsteig 26 rennen, eilen, sausen, galoppieren alle. Verschwitzt, müde, außer Atem. […] Auf dem Bahnsteig  26 schieben sich Pakete, Passagiere sind nur eine Zutat, eine Zugabe. Packen auf Packen, Paket auf Paket, Wagen auf Wagen, Taschen, Taschenberge, Riesentaschen.191

Glaubt man dem, was die Staatssicherheit über die Situation auf dem Bahnsteig und im Zug zusammengetragen hat, scheint die Schilderung Sekulskis nicht einmal übertrieben. Zu den Stoßzeiten der Heimfahrten der Vertragsarbeiter – besonders freitags – wurden die internationalen Züge im Jargon von Staatssicherheit, Polizei und Zoll zu „Schmugglerzügen“: Mit der Bereitstellung des Zuges beginne die Bepackung mit unzähligen Gepäckstücken, zum Teil unter recht tumulthaften Bedingungen. Sitzplatzreservierungen würden ignoriert, die Abteile mit Gepäck überladen.192 Verstecke für Schmuggelware befänden sich in Dachhohlräumen, Rückenlehnen, Fenster- und Türblenden, Luftschächten, Wasserbehältern, Sitzkästen und -bänken, Verkleidungen, in den Toiletten der Züge und im Unterbau der Waggons.193 Die Züge seien zu 120–150 Prozent überbelegt und schon von Anfang an sei die Zuordnung der Gepäckstücke zu ihren Eigentümern nicht mehr möglich. Die chaotischen Zustände im Zug würden eine effektive Grenzkontrolle verhindern; zum einen wegen der Masse der transportierten Waren, zum anderen, weil die Be­ sitzer der Gepäckstücke nicht zugeordnet und damit nicht dingfest gemacht werden konnten.194 Dabei muss nach allem Wissen über Grenzabwicklungen verwundern, dass sich bei der Stasi keine Informationen zu bestechlichen Schaffnern oder Grenzbeamten finden. Dies nur mit der Naivität der Staats­ sicherheitsspitzel zu erklären, griffe wahrscheinlich auch zu kurz. Hier liegt eines der – zumindest laut Quellenlage – ungeklärten Rätsel der deutsch-­ polnischen Warentransfers. Es passt jedoch zu dieser Ausblendungstaktik, dass die Staatssicherheit die „Schmugglerzüge“ erst dann umfassend auf ihre Agenda setzte, nachdem polnische und westdeutsche Zeitungsartikel das Problem publik gemacht hatten. 191 Sekulski:

Przebitka, S. 92. BStU, MfS, HA XIX Nr. 2014, Information über die Einhaltung der Ordnung und Sicherheit sowie der Gewährleistung der ordnungsgemäßen Zollkontrolle in den Schwerpunktzügen, die zur Beförderung von polnischen Staatsbürgern, die in der DDR arbeiten, genutzt werden, Bl. 2–5 und Bericht über die Ergebnisse der operativen Beobachtungsmaßnahmen am 10. 08. 1984 in den internationalen Reisezügen D  487 und D 1487 von Leipzig nach Warschau bzw. Katowice, Berlin, 12. 8. 1984, Bl. 104–114. 193 Vgl. ebd., HA VI Nr. 15192, Information über Ergebnisse der Zollkontrolle und Feststellungsarbeiten im Reiseverkehr über die Staatsgrenze zur VRP im Jahre 1982, Bl. 15. 194 Vgl. ebd., HA XIX Nr. 2014, Bericht über die Ergebnisse der operativen Beobachtungsmaßnahmen am 10. 08. 1984 in den internationalen Reisezügen D 487 und D 1487 von Leipzig nach Warschau bzw. Katowice, Berlin, 12. 8. 1984, Bl. 104–114. 192 Vgl.

318   4. Deutsch-polnischer Schleichhandel in Leipzig So brachte die polnische Wochenzeitung „Tygodnik Demokratyczny“ bereits am 24. Juli 1984 einen Artikel unter dem Titel „Horrorzug“, auf den die bundesrepublikanische „Welt am Sonntag“ am 29. Juli 1984 Bezug nahm.195 Der erste Beobachtungsbericht der Staatssicherheit zum „Schmugglerzug“ stammt erst vom 12. August 1984.196 Es ist also durchaus möglich, dass internationale Aufmerksamkeit die Organe der DDR bewegte, sich den Problemen zu ‚stellen‘. Die Staatssicherheit ging gezielt dazu über, die Reisezüge durch Spitzel begleiten zu lassen: Zur Gewährleistung einer zielgerichteten Durchführung der Personen-, Gepäck- und Transportmittelkontrolle am Grenzzollamt Görlitz sind freitags in den genannten Zügen [die Züge von Leipzig nach Warschau bzw. Katowice, D.L.] zwischen Leipzig und Görlitz (Schwerpunkt D  487) Observationsgruppen in geeigneter Stärke und unter Einbeziehung von Sprachkundigen einzusetzen. Durch diese Genossen sind dem Kontrollgruppenverantwortlichen am Grenzzollamt Görlitz konkrete Hinweise zu Personen und Sektionen der Reisezugwagen zu geben, die einer gezielten Kontrolle zu unterziehen sind.197

Die Spuren solcher Maßnahmen sind heute nur noch in Berichten und Do­ ssiers der Staatssicherheit zu den Zügen nachzuvollziehen. Die Stasi war keineswegs in der Lage, die Phänomene differenzierter zu bewerten. Ihre Be­ richte bestätigten ein vorgefertigtes negatives Polenbild. Die Situation im Zug wurde nicht hinterfragt, obwohl sie nicht zwangsläufig zur Skandalisierung taugte. Die Beobachter stellten fest, auf dem Bahnsteig in Leipzig befände sich zu viel Gepäck für in Relation zu wenige Reisende. Die Beladung des Zuges sei in organisierter Manier durch die Fenster erfolgt, das Gepäck würde im ganzen Zug verteilt, so dass keine Zuordnung zu einzelnen Personen möglich sei. Auf der Zugfahrt hätten einige Polen gehandelt und getauscht und Gepäckstücke seien versteckt worden. Abseits dieser Vergehen und der gezielten Verweigerung der Polen mit der Zollkontrolle zusammenzuarbeiten, wurde ein ungünstiges Bild von den Polen im Zug gezeichnet: Charakteristisch für einen hohen Prozentsatz der Reisenden war der Genuß von alkoholischen Getränken. Dieser Alkoholgenuß nahm insbesondere nach Abschluß der rechtswidrigen Handlungen ab Bautzen verstärkt zu, so daß vor Grenzübertritt eine Vielzahl von Reisenden stark angetrunken war. Bei diesen Reisenden war die Durchführung einer ordnungsgemäßen und reibungslosen Zollkontrolle nicht mehr gegeben. Es ist zu vermuten, daß sich aus diesem Grunde ein Teil der Reisenden ganz bewusst unter Alkoholeinfluß setzte. 195 Vgl.

ebd., BV Leipzig, Leitung Nr. 1422, Anlage 1, Bl. 31–35. ebd., MfS, HA XIX Nr. 2014, Bericht über die Ergebnisse der operativen Beobachtungsmaßnahmen am 10. 08. 1984 in den internationalen Reisezügen D 487 und D 1487 von Leipzig nach Warschau bzw. Katowice, Berlin, 12. 8. 1984, Bl. 104–114. 197 Ebd., Maßnahmen zur Gewährleistung einer ordnungsgemäßen Kontrolldurchführung sowie zur Erhöhung der Wirksamkeit der Zollkontrolle der Züge D 487/ D 1487 an der Freitagen am Grenzkontrollamt Görlitz, Berlin, 20.0 [unleserlich], Bl. 120.

196 Vgl.

4.3. Der „Schmugglerzug“   319 In vielen Fällen wurden die Beförderungsbestimmungen der Deutschen Reichsbahn verletzt. So waren einzelne Personen nicht im Besitz eines gültigen Fahrausweises. Sie mußten nachlösen bzw. entzogen sich der Fahrkartenkontrolle durch Einschließen in den Toiletten. In Nichtraucherabteilen wurde generell geraucht. Leere Alkoholflaschen und das Verpackungsmaterial von aufgeteilten und versteckten Gegenständen wurden grundsätzlich aus den Fenstern der Abteile geworfen. Das erfolgte offensichtlich auch mit dem Ziel, keine Hinweise und Anhaltspunkte für eine zielgerichtete Zollkontrolle zu schaffen.198

Vor allem kennzeichnet die Dossiers der Staatssicherheit die Beschuldigung, die Polen in den Zügen benähmen sich undiszipliniert. Ihnen wurde vorgeworfen, keine Fahrkarten zu besitzen, auf fahrende Züge aufzuspringen und diese nicht vom Bahnsteig aus zu betreten. Desweiteren würden Polen den Zug durch die Fenster beladen, reservierte Sitzplätze besetzen, große Mengen Alkohol konsumieren und den Bahnsteig blockieren. Beschrieben wurde, dass sich Reisende gegenseitig kennen würden, was implizit einen gewissen Grad der Organisation unterstellt.199 Trotz dieser Befunde ist anhand der Dokumente nicht zu zeigen, ob die polnischen Vertragsarbeiter bei ihren Wochenendfahrten nach Volkspolen tatsächlich organisiert vorgingen. Die Staatssicherheit kommt hierbei zu unterschiedlichen Ergebnissen. In einigen Berichten erscheinen die Fakten jedenfalls stark überinterpretiert: „Organisiertheit, Intensität, Raffiniertheit der Tatmethoden, die Tatschwere und der Schaden nehmen zu; mehr als 80 Prozent der Täter handelten in kriminellen Grup­ pierungen.“200 Bei gezielten Kontrollen in den Zügen und am Zoll kam die Staatssicherheit schließlich an anderer Stelle jedoch zu dem Schluss, dass die Schmuggel- und Schleichhandelstätigkeiten nicht organisiert betrieben würden, auch wenn große Mengen zum Zweck des Weiterverkaufs mitgeführt würden.201 Es scheint also, als hätten verschiedene Berichte der Staatssicherheit den Grad der Organisation von Schmuggel in den Reisezügen wissentlich oder unwissentlich höher bewertet, als es die Fakten hergaben. Zur Stützung und Ergänzung ihrer Eindrücke archivierte die Staatssicherheit stasiexternes Material. So findet sich ein Reisebericht zu den Ereignissen im Zug zwischen Warschau und Dresden-Neustadt. Er ist nicht unterzeichnet und blieb unkommentiert. Da IM-Berichte gewöhnlich als solche gezeichnet 198 BStU,

MfS, HA XIX Nr. 2014, Bericht über die Ergebnisse der operativen Beobachtungsmaßnahmen am 10. 08. 1984 in den internationalen Reisezügen D 487 und D 1487 von Leipzig nach Warschau bzw. Katowice, Berlin, 12. 8. 1984, Bl. 109. 199 Vgl. ebd. 200 Vgl. ebd., BV Leipzig, Leitung Nr. 1422, Information zum Artikel „Schwarzmarkt im ‚Horrorzug‘ Leipzig – Warschau“, „Welt am Sonntag“, 29. Juli 1984, 4. 8. 1984, Bl. 8. 201 Vgl. ebd., MfS, HA XIX Nr. 2014, Abschlußbericht zum Maßnahmeplan des Leiters der Hauptabteilung VI und des Leiters der Hauptabteilung XIX zur Erhöhung von Ordnung und Sicherheit sowie Gewährleistung einer ordnungsgemäßen Grenzkontrolle in Schwerpunktzügen (freitags) an der Grenzübergangsstelle Görlitz, Berlin, 30. 1. 1985, Bl. 35.

320   4. Deutsch-polnischer Schleichhandel in Leipzig sind, könnte es sich also um einen Ausbruch spontaner Entrüstung handeln. Der Reisende aus der DDR war mit einer Handballmannschaft in einem Nachtzug gefahren und schilderte, was er und seine Mitspieler erlebt hatten. Er unterstrich dabei, dass die Geschehnisse für „uns als DDR-Bürger […] ein nichtalltägliches Erlebnis bleiben“ werden.202 Alles negativ Bemerkens- und Berichtenswerte identifizierte er mit den mitreisenden Polen, während er die eigene Gruppe eindeutig von diesen abgrenzte. Er schilderte detailliert, wie nach der Zollkontrolle Schmuggelware aus den Verstecken im Zug geholt und in eigens dafür mitgebrachte Taschen verstaut wurde. Durch Gespräche erfuhr der Schreiber, dass diese Waren für den Verkauf in Leipzig bestimmt waren, die von ihm alarmierte Zugbegleitung tat alle Vorkommnisse als bekannt, aber nicht zu verhindern ab. So blieb also nur das Fazit: „Für unsere Delega­ tion war die Art und Weise des Vorgehens und das Ausmaß absolut neu, jedoch die Frechheit und Unverfrorenheit unbegreiflich und schockierend.“203 Diese Entrüstung entlud sich dann im Verfassen des Berichtes. Unter die empörten Stimmen von DDR-Bürgern mischten sich auch polnische. So berichtete – wie oben schon angerissen – ein polnischer Journalist im „Tygodnik Demokratyczny“ vom 24. Juli 1984 von seinen Erlebnissen im Zug von Leipzig nach Warschau.204 Durchaus humorvoll – aber mit dem Vorwurf, dass schmuggelnde, sich schlecht benehmende und alkoholisierte polnische Vertragsarbeiter den Ruf auch anderer Polen im Ausland ruinierten: „Kann man sich in dieser Situation darüber wundern, daß man im Ausland genug von uns hat?! Schlägereien, Krawall, Saufereien und Handel im großen Maßstab – das ist es, wovon wir dort berührt werden.“205 Unverkennbar ist aber dennoch, dass der Autor Verständnis für die Handelstätigkeit der polnischen Vertragsarbeiter äußerte. Er charakterisierte sie nicht als minderwertige Geschöpfe, sondern als Menschen, die unlauter handelten und anderen damit schadeten. Die Erzählungen der Interviewpartner zeichnen ein anderes Bild als die Sichtweise der DDR-Organe; die Situation in den Zügen war demnach bei weitem nicht so katastrophal. Vielmehr bezeugen die Erzählungen ein fröhliches Miteinander der Zuggäste und eine gewisse Spontaneität beim Knüpfen neuer Bekanntschaften und bei gegenseitiger Hilfe. Schmuggel war durchaus wahrnehmbar und wer häufiger Gast im Zug war, gewann ein realistisches Bild von polnischem Scheichhandel. Die Atmosphäre im Zug ist aber den202 Ebd.,

Bericht, [ohne Ort], 3. 6. 1985. Bl. 21. Hervorhebung D.L. Bl. 22. Hervorhebung D.L. 204 Vgl. ebd., BV Leipzig, Leitung Nr. 1422, Anlage 1, Bl. 31–35. 205 Ebd., Bl. 34. 203 Ebd.,

4.3. Der „Schmugglerzug“   321

noch angenehm in Erinnerung.206 Es kann mit einigem Recht sogar eher von einer deutsch-polnischen Schicksalsgemeinschaft gegenüber den Zöllnern vor allem der DDR gesprochen werden: Ich habe eigentlich nicht sehr viel geschmuggelt, aber ich habe den Polen immer geholfen, wenn irgendwas war habe ich gesagt: ‚OK, gebt mir von mir aus 50 Tafeln Schokolade […]‘. Man kam immer in Kontakt, man hat zusammen gegessen, man hat zusammen getrunken, man hat sich unterhalten. Und sobald der DDR-Zoll kam, setzte eine Grabesstille ein und alle saßen wie die Maus vor der Schlange.207

Genauso konnte die Fahrt mit dem Zug eher als Abenteuer verstanden werden, denn als Qual: Und das war natürlich auch interessant. Nach Warschau zu fahren mit dem Zug. Wo von Leipzig aus sehr viele Gastarbeiter gefahren sind. […] Und auf jeder Bahnhofstation wurde gehandelt, aus dem Wagen raus. Das war für mich phänomenal, dass das funktioniert hat.208

Zusammenfassend ließe sich zur Berichterstattung folgern, dass die deutschen Beobachter polnischen Reisenden neben kriminellen Machenschaften offensichtlich systematisch schlechtes Benehmen unterstellten – ein Motiv, das sich als roter Faden durch viele Berichte zieht. Die geringe intellektuelle Distanz der Beobachter zu ihrem Objekt ist staatssicherheitstypisch, ihre Erkenntnisse sind dabei alles andere als neu. Beobachtung galt trotzdem als legitimer erster Schritt bei der Lösung von Problemen, wobei der Zweck die Mittel heiligte. Am eindeutigsten lässt sich die Zuverlässigkeit der Angaben durch die Staatssicherheit heute an Geheimdienstfotos aus den achtziger Jahren relativieren – oder besser – widerlegen. Die Staatssicherheit vertraute seit den siebziger Jahren immer stärker der Beweiskraft von Fotos, die zur Identifikation, zur Beweisführung oder schlicht zur Einschüchterung der offen fotografierten ‚Gegner‘ dienten. Sie sollten Beobachtungsberichte zunächst eher ergänzen, traten aber mit größerer Perfektion der Technik immer stärker an deren Stelle. Fotos hielten aus Sicht der Staatssicherheit Situationen und damit Beweise für immer fest. Die Anfertigung von Bildmaterialien wurde in Schulungen und in Vorschriften zunehmend bürokratisiert, die Fotos konnten vervielfältigt, beschriftet und archiviert werden. Durch die beschreibende Beschriftung der Abbildungen konnten Fotos auch in Ermittlungsverfahren verwendet werden. Die Fotografie wurde in der Staatssicherheit zu einer flächendeckend angewandten Methode, in den Beständen der BStU wurden bisher über 1,3 Millionen Fotos, Negative und Dias gefunden.209 206 Vgl.

Interviews mit Herrn P. und Frau H. mit Herrn P. 208 Interview mit Frau K. 209 Vgl. Karin Hartewig: Das Auge der Partei. Fotografie und Staatssicherheit. Berlin 2004, S. 9–38. 207 Interview

322   4. Deutsch-polnischer Schleichhandel in Leipzig Eine solche Fotodokumentation über die Verhältnisse auf Bahnsteig 26 im Leipziger Hauptbahnhof hat ihren Weg in das Dossier der Staatssicherheit gefunden.210 Die Fotoserie wurde am 7. September 1984 bei der Bereitstellung des Zuges D  487 von Leipzig nach Warschau aufgenommen. Ihre Funktion war wohl die Stützung der schriftlichen Berichte über das ‚polnische‘ Chaos auf dem Bahnhof und im Zug. In Wirklichkeit widerlegt sie diesen Eindruck und wirft ein Schlaglicht auf die Arbeitsweise der Stasi und deren voreingenommene Urteilsfindung. Die Dokumentation umfasst 19 beschriftete Fotografien. Die Beschriftungen erklären und erläutern das auf den Bildern dargestellte Geschehen. Abgelichtet wurden auf dem Bahnsteig wartende Personen und deren Gepäck, Autos mit polnischen Kennzeichen, herumstehendes Gepäck und mehrmals auch der Zug beim Beladen und kurz vor der Abfahrt. Es handelt sich offensichtlich um Aufnahmen, die die Staatssicherheit unter „konspirativer Fotografie“ führte. Dies ist zum einen daraus ersichtlich, dass keiner der Fotografierten die Kamera bemerkte und dementsprechend niemand in die Linse blickte. Zum zweiten ist der Horizont auf den Fotografien auf Knie- oder Hüfthöhe. Dies legt nahe, dass die Kamera getarnt in einer Tasche installiert war, die auf dem Bahnsteig herumgetragen wurde. Dass die Kamera mobil war, zeigt sich durch ihre verschiedenen Standpunkte und außerdem dadurch, dass einige Bilder schief aufgenommen sind.211 Trotz der Schwierigkeiten, die solche Aufnahmen mit sich brachten, sind die Fotografien allesamt klar, und die fotografierten Objekte und Personen sind deutlich erkennbar. Die Bildausschnitte sind ebenfalls nicht dem Zufall überlassen, sondern zeigen das aus Perspektive der Beweisaufnahme relevante Geschehen zumeist zentral im Bild. Der Fotograf hatte also entweder genug Zeit und die Sicherheit, nicht entdeckt zu werden, um sich Motiv und Position auszusuchen oder nur gelungene Bilder wurden in die Fotoserie aufgenommen. Diese indirekten Rückschlüsse werden leider durch keine weiteren technischen Daten auf den Blättern der Dokumentation unterstützt. Weder sind die Urheber, noch technisches Gerät oder Hinweise auf die Negative genannt. Trotz dieser technischen Perfektion ist der tatsächliche Nutzen der Fotografien für die Beweisaufnahme der Staatssicherheit zu hinterfragen. Es handelte sich bei der Dokumentation sicher nicht um geheimes Material höchster Priorität. Die fotografierten Motive waren im Grunde bereits bekannt; die Foto210 Vgl.

BStU, MfS, HA XIX Nr. 2014, Anlagenkarte zum D  487 Leipzig-Warschau Hbf. Leipzig/ Bahnsteig 26 am 7. 9. 1984, Bl. 9–18. 211 Über den technischen Stand der Staatssicherheitsfotografie und den Erfindungsreichtum beim Verstecken der Kameras vgl. Hartewig: Auge, S. 39–49.

4.3. Der „Schmugglerzug“   323

grafien sollten den Befund nochmals belegen. Für den Betrachter sollte zunächst einmal der Eindruck entstehen, auf den Fotos handele es sich um Verdächtige und es würden Beweise für Schmuggel und Schleichhandel geliefert.212 Das mag durchaus auch dem Anliegen der Staatssicherheit entsprochen haben. Die Fotos bestätigen dies allerdings nicht. Die Manipulierbarkeit der Aufnahmen begann mit der Beschreibung aller fotografierten Personen als Polen, was nicht durch die Fotos, sondern nur durch die Bildunterschriften bestimmt werden konnte.

212 Auf

den Zusammenhang, jeden auf Fotografien der Staatssicherheit Abgebildeten als Kriminellen oder zumindest gesellschaftlichen Außenseiter zu stigmatisieren, verweist ebenfalls Karin Hartewig. Vgl. Hartewig: Auge, S. 10.

324   4. Deutsch-polnischer Schleichhandel in Leipzig

Polnische Staatsbürger vor Bereitstellung des D  487 am Bahnsteig  26 mit sichtbaren [sic!] Reise­gepäck [Originalbeschriftung], Bl. 13/14.

4.3. Der „Schmugglerzug“   325

Es musste also darauf vertraut werden, dass entweder der Fotograf oder der spätere Beschrifter der Fotos sich dieser Tatsache sicher waren; die Bilder selbst geben diese Information nicht mehr her. Durch die Ablichtung von Autos waren deren Halter relativ leicht zu ermitteln, über deren Verwicklung in den Warentransport nach Polen wurde aber damit noch nichts ausgesagt. Beim Vergleich der Bilder fällt auf, dass einige PKW doppelt abgelichtet wurden und die Ermittlung der Nummernschilder im Mittelpunkt des Interesses stand. Die wahre Zahl der PKW erschien also beim ersten Blick überhöht, und das Verdachtsmoment wurde auf die Fahrzeughalter konzentriert. Die Foto-

326   4. Deutsch-polnischer Schleichhandel in Leipzig

4.3. Der „Schmugglerzug“   327

Mit nachfolgenden PKW’s wurden die polnischen Staatsbürger zum D  487 gebracht. PKW’s stehen Ladestr./Zufahrt zum Bahnsteig 26 [Originalbeschriftung], Bl. 10–12.

grafien des Bahnsteigs vor der Bereitstellung des Zuges konzentrierten sich darauf, die angeblichen Gepäckmassen zu belegen. Teilweise wurden nur Gepäckstücke ohne offensichtliche Besitzer fotografiert. So sollte wohl belegt werden, dass der ‚Kaufrausch‘ der Polen sich im Warentransfer niederschlage. Impliziert wird durch die Anzahl der Taschen die Menge der ausgeführten Waren und der damit einhergehende ‚Schmuggel‘ verdeutlicht. Dabei war der umfang der Waren, die von Vertragsarbeitern ausgeführt werden durften ja durchaus erweitert worden und einigermaßen beträchtlich (vgl. oben unter Waren und Warenmengen).

328   4. Deutsch-polnischer Schleichhandel in Leipzig

Abgestelltes Reisegepäck polnischer Staatsbürger am Bahnsteig  26 [Originalbeschriftung], Bl. 15.

Immerhin sechs Fotos sind der Beladung und Abfahrt des Zuges gewidmet.

4.3. Der „Schmugglerzug“   329

Nach Bereitstellung des D 487 am Bahnsteig 26. Polnische Staatsbürger beladen den Zug [Originalbeschriftung], Bl. 16.

330   4. Deutsch-polnischer Schleichhandel in Leipzig

Nach der Bereitstellung des D 487 am Bahnsteig 26. Polnische Staatsbürger reichen ihr Reisegepäck teilweise durch das geöffnete Fenster [Originalbeschriftung], Bl. 17.

Kurz vor Ausfahrt des D 487 am Bahnsteig 26. [Originalbeschriftung], Bl. 18.

4.3. Der „Schmugglerzug“   331

Kurz vor der Ausfahrt des D  487 am Bahnsteig  26. Leere Koffertransportkarren stehen auf dem Bahnsteig [Originalbeschriftung], Bl. 18.

Die Aussagekraft im Sinne der vermeintlichen Anklage ist auf den Fotos eindeutig beschränkt. Klar wird lediglich, dass das Gepäck in den Zügen verstaut wurde, weil der Bahnsteig sich bis zur Abfahrt des Zuges sichtbar lehrte. Belegt sollte wohl auch werden, dass das Gepäck durch die Fenster in den Zug gereicht wurde. Über die Art der Waren geben die Fotos jedoch keinerlei Aufschluss. Auch die zurückgelassenen Gepäckkarren können nicht als stichhaltige Anschuldigung gegen Polen bestehen, Unordnung hinterlassen zu haben. Die Methoden der Fotografie zur Beobachtung und zum Beweis von Schmuggel und Schleichhandel konnten keinen eigentlichen Beweis erbringen, waren aber ein relativ effektiver Weg, die Verhältnisse auf dem Bahnsteig plastisch aufzubereiten. Allerdings ist das Dargestellte harmlos und unterstreicht keinesfalls die entrüsteten Aussagen über Chaos und Durcheinander in den schriftlichen Dokumenten. Alle fotografierten Geschehnisse waren im Prinzip bekannt, durch die Fotos bekommen polnische Reisende aber ein Gesicht und werden im gleichen Atemzug kriminalisiert. Hierin decken sich die Fotos mit den schriftlichen Berichten aus dem Zug und vom Bahnsteig. Schuldige haben die Verfasser der Akten schon vorher ausgemacht. In welchem Maße die Berichte und Beobachtungen zu der Lösung der Probleme beitragen konnten, ist nicht nur äußerst fragwürdig, sondern auch die Art der Darstellung konnte kein objektives Bild erbringen, auf das sinnvoll reagiert werden konnte. Das Fotomaterial ist ein gutes Beispiel für die Arbeit des sich selbst erhaltenden Geheimdienstes, der eigene (Vor-)Urteile reproduzierte und die Absurdität seines eigenen Vorgehens nicht mehr reflektierte.

332   4. Deutsch-polnischer Schleichhandel in Leipzig

4.4. Ergebnisse und Thesen: Deutsch-polnischer Schleichhandel in Leipzig Als der Zoll der DDR Mitte 1973 zu dem Ergebnis kam, „daß die im Jahr 1972 aufgetretenen Probleme der konzentrierten Durchführung von ,Einkaufsfahrten‘ mit häufig spekulativem Charakter im Wesentlichen überwunden wurden“213, befand er sich im Irrtum. In den ganzen Jahren nach der Grenzöffnung bis 1989 konnte nicht davon die Rede sein, dass Einkaufstourismus, Schmuggel und Schleichhandel bedeutungslos geworden seien. Vielmehr erfreuten sie sich einer regelrechten Blütephase. Wie konnte es also von Seiten der DDR-Organe zu einer solchen Fehleinschätzung kommen? Mehrere Gründe sind denkbar. Vielleicht war man tatsächlich der Meinung, dass 1973 eine merkliche Besserung gegenüber 1972 – dem ersten Jahr der offenen Grenze – eingetreten war. So ist es durchaus nicht unwahrscheinlich, dass der erste große Reiz des Einkaufens im Nachbarland im zweiten Jahr etwas abgeklungen war und die Maßnahmen zur Verhinderung besser griffen. Möglicherweise gelang es dem Zoll 1973 auch einfach nicht mehr, Einkaufstourismus, Schmuggel und Schleichhandel nachzuweisen. Dafür spräche, dass die Methoden der Schleichhändler durch Erfahrungswerte verfeinert wurden. Somit wäre obige Prognose subjektiv richtig, träfe sich aber nicht mit den objektiven Praktiken. Zum Dritten ist vorstellbar, dass die Analyse der Staatssicherheit die Probleme um Einkaufstourismus, Schmuggel und Schleichhandel bewusst herunterspielte, um das Projekt der offenen Grenze nicht zu diskreditieren oder die Strategien der Organe der DDR in einem besseren Licht erscheinen zu lassen. Es ist zudem nicht völlig abwegig, dass auch die DDR einige positive Elemente des (illegalen) Warenaustausches zwischen DDR und Volkspolens stillschweigend hinnahm und die Staatssicherheit auf diese Linie einschwenkte, indem sie zwar ihre Verdienste herausstrich, aber gleichzeitig Tatsachen beschönigte. Gerade letztere Möglichkeit gewinnt an Wahrscheinlichkeit, wenn man die Mechanismen von Schleichhandel und seiner Bekämpfung als komplexe Verflechtung auffasst. Nicht nur die Arbeit der Staatssicherheit, sondern auch das sozialistische System der DDR konnten nur dann als Erfolgsgeschichte vorgeführt werden, wenn Schleichhandel in den Analysen keinen Platz fand. So lässt sich zusammenfassend die These formulieren, dass Einkaufstourismus, Schmuggel und Schleichhandel in der DDR und in Leipzig zwar formal 213 Vgl.

BStU, MfS, ZAIG Nr. 2159, Information über die Entwicklung des paß- und visafreien Reiseverkehrs zwischen der DDR und der Volksrepublik Polen, Berlin, 15. 6. 1973, Bl. 10.

4.4. Ergebnisse und Thesen   333

verfolgt wurden, seine inneren Logiken und Strukturen jedoch immer stärker blieben, als alle Bemühungen um Eindämmung und Bekämpfung. Vielmehr gehorchte der inoffizielle Markt den ungeschriebenen Gesetzen einer Mangelwirtschaft und fußte auf weitreichenden Verbindungen und Vernetzungen zwischen Staaten, Gesellschaften und Privatpersonen. Der Praxis von Deutschen und Polen, innerhalb des sozialistischen Systems eine eigen-sinnige und illegale Konsumkultur zu etablieren, konnte die Staatsmacht nichts entgegensetzen. Die Ergänzung des Binnenmarktes durch Schleichhandel sowohl in der DDR, als auch in Volkspolen war eine weit verbreitete und breit genutzte Alternative zur Erweiterung des Angebots. Dies galt natürlich in erster Linie für die privaten Konsumenten, kann aber mit einiger Sicherheit auch als eine Überlegung der Konsumpolitik Volkspolens angenommen werden. Die Erwägungen in der Volksrepublik, die Grenze 1972 zu öffnen, speisten sich nicht zuletzt aus konsumwirtschaftlichen Gesichtspunkten. Für die DDR liegen keine eindeutigen Belege für eine solche Pragmatik vor. Das Problem war hier auch eher, dass der Nutzen für den Binnenmarkt durch Konsumgüter aus Volkspolen beschränkt blieb, während der Abverkauf in Richtung Nachbarland deutlich spürbar war. So war die DDR sowohl darauf konzentriert, den Schmuggel Richtung Volkspolen zu verhindern, als auch den Schleichhandel von polnischen Bürgern in der DDR möglichst gering zu halten. Denn jede so erwirtschaftete DDR-Mark konnte wieder zu Konsum von Polen auf dem ­Gebiet der DDR führen und so den Mangel eklatanter machen. Ein Blick auf die Quellen zeigt, dass viele Bemühungen der Staatsorgane der DDR, den Schleichhandel durch Polen und Deutsche in Leipzig einzudämmen oder gar ganz zu verhindern, erfolglos versandeten. Kriminelle Strukturen von Schleichhandel wurden durchaus erfasst und die Schleichhändler dingfest gemacht. Sobald der Schleichhandel aber auf privater und zwischenmenschlicher Ebene stattfand und nicht in organisierte und kriminelle Bereiche abwanderte, versagten die Strategien der Staatsorgane. Private Kontakte zwischen Bürgern der DDR und Volkspolens hatten einen erheblichen Einfluss auf die ‚Kanäle‘ des Warentransfers. Durch die Annäherung der Menschen beider Länder wurden nicht nur Verbindungen geknüpft, entlang derer Waren transferiert wurden: Weit bedeutsamer war, dass der Kontakt mit dem Nachbarland überhaupt erst einen Ausweg aus verschiedenen Versorgungsproblemen bot. Mit der Öffnung der Grenze wurden vorher nicht vorstellbare Möglichkeiten eröffnet, die im Alltag der Menschen eine wesentliche Rolle einnehmen sollten. Diese Praktiken konnten in ihrer gesellschaftlichen Breite nicht effektiv bekämpft werden. Hinzu kam, dass Schmuggel und Schleichhandel kleineren Maßstabs vielfach nicht strafrechtlich verfolgt, sondern an seiner Oberfläche durch öffentlichkeitswirksame Demonstrationen

334   4. Deutsch-polnischer Schleichhandel in Leipzig der Macht von Polizei und Staatssicherheit bekämpft wurden. In solchen Fällen wurde eine Politik der Abschreckung, nicht aber der Ursachenanalyse und -beseitigung betrieben. Mit der Strategie von Kriminalisierung des Schleichhandels und dessen Verdrängung aus der sozialistischen Werteordnung ging die die Handhabe gegenüber alltäglichem Schleichhandel verloren. Wenn man der Logik von Schleichhandel in Mangelwirtschaften auf den Grund gegangen wäre, wäre dies einer Fehleranalyse gleichgekommen, die man in der DDR tunlichst vermied. Die Problematik wurde politisiert und damit in der Überhöhung wiederum banalisiert. Diese auch öffentlich demonstrierte Abwehrhaltung gegenüber polnischen Einkaufstouristen und Schleichhändlern barg integrative Angebote an die Gesellschaft der DDR. In den Dokumenten wird die negative Einstellung gegenüber Polen so deutlich, dass nicht nur Voreingenommenheit ihrer Verfasser die Ursache sein kann. Die Sprache der Dokumente speiste sich gleichermaßen aus den in der DDR-Gesellschaft vorhandenen Vorurteilen und Fremdenfeindlichkeit. Ablehnung insbesondere von ‚polnischem‘ Schleichhandel war ein weit verbreitetes gesellschaftliches Phänomen. Das Vorurteil vom ‚polnischen Schieber‘ wie auch die Angst vor polnischen Käufern prägte sich – in Wechselwirkung mit einem positiven Eigenbild – dauerhaft in das Bewusstsein vieler Leipziger ein. Da die wirtschaftlichen, politischen und gesellschaftlichen Ursachen nicht behoben werden konnten, wurden vereinfachende Gründe in der politischen und ökonomischen Krise Volkspolens und im Charakter polnischer Bürger gesucht. Über die Etablierung eines Feindbildes sollte offenbar Abhilfe geschaffen werden. Auf polnischer Seite stand vielfach nur der Wunsch, Versorgungslücken durch Einkauf im Nachbarland zu lindern. So verhärteten sich die Fronten als Folge von Aktion und Reaktion: zwischen der DDR und Volkspolen, zwischen Deutschen und Polen, zwischen den Staatsorganen und den Einkaufstouristen oder Schleichhändlern. Dieses Schwarz-Weiß-Bild wurde zumindest von Seiten der DDR zur Marschroute erhoben und beantwortete die Fragen der Gesellschaft und des Apparates in eindeutiger und zufriedenstellender Weise. Die Phänomene von Einkaufstourismus und Schleichhandel erreichten in Leipzig jedoch eine Breite und Tiefe, denen man mit einfachen und eindimensionalen Wahrheiten nicht gerecht werden konnte. Erst wer ihre Alltäglichkeit, Transnationalität und Verflechtung erfasst, begreift inoffizielle ökonomische Kontakte zwischen Deutschen und Polen als eine Konsumkultur ‚von unten‘.

Zusammenfassung Diese Alltagsgeschichte deutsch-polnischer Kontakte in Leipzig und ‚polnischer‘ Erfahrungen von Leipzigern verfeinert den Blick auf die letzten beiden Jahrzehnte staatssozialistischer Herrschaft in der DDR und in der Volksrepublik Polen. Die alltagsgeschichtliche Perspektive erschließt die transnationalen Praktiken und Einstellungen der Menschen. Sie liefert Aufschluss über deutsch-polnische Verflechtungen, die den Lebensalltag in den bisher zumeist ‚national‘ gedachten und historisierten Gesellschaften erheblich veränderten. Dies gilt sowohl für immaterielle wie materielle Bereiche: Das Verständnis und die Umdeutung der „Völkerfreundschaft“ auf der Ebene privater Begegnungen, die Etablierung individueller Freiräume in der Auseinandersetzung mit dem ‚Polnischen‘, die Erfüllung der Sehnsucht nach dem ‚Fremden‘ oder die grenzüberschreitende Überwindung des Mangels auf dem Konsumgütermarkt sind einige der wichtigen Merkmale deutsch-polnischer Verflechtung. Diese Arbeit problematisiert zentrale Lebensbereiche des Alltags und ­wesentliche Abschnitte menschlicher Biografien im öffentlichen wie privaten ­Leben. Mit Ausbildung, Studium und Arbeitsalltag, Familie und Freundschaft, Freizeit, Reisen und Urlaub sowie Konsumverhalten berücksichtigt sie in ­einer deutsch-polnischen Perspektive elementare Alltagswelten, die auch in der alltagsgeschichtlichen Forschung zur DDR und Volkspolen im Mittelpunkt stehen. Sie umfasst zudem Bereiche der Ideologie und der sozialistischen Erziehung von Partei und Massenorganisationen und untersucht deren Anspruch und Wirklichkeit hinsichtlich deutsch-polnischer Kontakte. Anhand der Alltagserfahrungen und -praktiken der Menschen innerhalb stark regulierter und kontrollierter Kontakträume lassen sich übergreifende und verallgemeinerbare Ergebnisse und Anstöße zu weiteren Diskussionen formulieren. Im Zentrum der Überlegungen stand Leipzig. Hier, in der bedeutendsten Industrie- und Handelsstadt im Süden der DDR, bündelte sich hier ein erhebliches Maß polnischen Lebens. Über Hochschulen und Betrieben mit polnischen Studenten und Arbeitern hinaus gab es polnische Institutionen wie das Generalkonsulat und das Polnische Informations- und Kulturzentrum. Obwohl Leipzig nicht mehr in der unmittelbaren ostdeutsch-volkspolnischen Grenzregion lag, zog es besonders zu Messezeiten polnische (Einkaufs-)Touristen an. Eine partnerschaftliche Verbindung existierte zwischen Bezirk und Stadt Leipzig und der polnischen Partnerwojewodschaft Krakau. Dies bedingte eine Vielzahl ostdeutsch-volkspolnischer Partnerschaften und strukturierte in erheblichem Maße auch den Urlauber- und Jugendaustausch in die DDR

336   Zusammenfassung und nach Volkspolen. Die Leipziger Mikroebene steht insgesamt für Vielfältigkeit und Verflochtenheit von deutsch-polnischen Akteuren und ihren Praktiken. In vielerlei Hinsicht machten systemspezifische Praktiken die deutsch-polnischen Kontakte aus und strukturierten deren Verlauf. Natürlich entstanden Kontakte zwischen Deutschen und Polen auch in der DDR und Volkspolen entlang soziologischer Faktoren und historischer Entwicklungen: diese Arbeit hat dementsprechend gezeigt, dass gesellschaftliche und politische Konstellationen, Alter und zum Teil Geschlecht, Adoleszenz oder Freundschaft und Liebe das Substrat von Begegnungen bildeten. Der Blick auf die Mikroebene und den Alltag macht jedoch deutlich, dass in fast allen Situationen und Kontakträumen Aneignungsprozesse stattfanden, die in nicht unwesentlichem Maße auf politisch und staatlich geschaffene und kontrollierte Rahmenbedingungen reagierten. Ein grobes Grundmuster ließe sich folgendermaßen skizzieren: Der Kontakt zwischen Deutschen und Polen in Leipzig entwickelte sich in den meisten Fällen aus einem offiziellen Impuls heraus. Staatliche Pläne bestimmten den Austausch. Private Kontakte und besonders das Ausprägen deutsch-polnischer ‚Schleichwege‘ folgten in aller Regel den vorgegebenen Spielregeln bzw. blieben sich die in Kontakt tretenden Menschen dieser bewusst. Man kannte die Diskurse und reagierte auf diese mit Aneignungsprozessen, die aber wiederum den Grundtenor staatlicher und gesellschaftlicher Diskurse keinesfalls ignorieren, sondern – wenn überhaupt – nur umschiffen konnten. Um das Individuum innerhalb dieser Freiräume zu verorten, eignet sich das Konzept von Eigen-Sinn wegen seines Versuchs, „Praktiken und (Selbst-) Deutungen“ vielschichtig und situativ zu begreifen und keine umfassende Logik und Er­ klärung vorauszusetzen.1 Die Menschen selbst gaben ihren Kontakten Sinn und nutzten sie in eigen-sinniger Weise. Die hier untersuchten Lebensbereiche und Akteure in Leipzig machen immer wieder deutlich, wie verschieden die Zugriffe auf deutsch-polnischen Alltag waren und wie sich staatliche Vorgaben und private Praktiken ergänzten, überschnitten oder in Konflikt gerieten. Am weitesten verbreitet waren eigen-sinnige Verhaltensweisen im deutschpolnischen Einkaufstourismus und Schleichhandel. Das jeweilige Nachbarland wurde als Markt für heimische Mangelwaren und beliebte Konsumartikel genutzt. Fahrten nach Leipzig wurden genauso wie Reisen nach Volkspolen 1

Vgl. Alf Lüdtke: Geschichte und Eigensinn, in: Berliner Geschichtswerkstatt (Hrsg.): Alltagskultur, Subjektivität und Geschichte. Zur Theorie und Praxis der Alltagsgeschichte. Münster 1994, S. 146.

Zusammenfassung   337

zu Shoppingtouren. Deutsch-polnische Kontakte bis hin zu privaten Freundschaften entstanden durchaus über Konsuminteressen und erleichterten in ihrem weiteren Verlauf den Austausch von Waren. Gegenseitiges Geben und Nehmen gehörte zu Besuchen und Grenzübertritten selbstverständlich dazu. Es entstanden regelrechte deutsch-polnische Netzwerke, bei denen Lieferung und Abnahme von Waren abgesprochen wurden. Gerade wenn der Schleichhandel den Kreis von Eingeweihten nicht verließ und über Bekannte abge­ wickelt wurde, war sein Gelingen ziemlich sicher. Der Ausgleich von Mangelwaren und der Erwerb von seltenen Konsumgütern führten keineswegs zu einem schlechten Gewissen. Vielmehr galten solche Praktiken als nützlich und in gewisser Weise legitim, was auf ein nur oberflächlich etabliertes ‚sozialistisches Rechtsbewusstsein‘ schließen lässt. Deutsch-polnischer Schleichhandel erreichte in seiner Selbstverständlichkeit und Eingespieltheit einen Grad von Regelhaftigkeit. Die Konsumkultur ‚von unten‘ umfasste ein öko­ nomisches Subsystem; viele Akteure professionalisierten Schmuggel und Schleichhandel sogar zu einem einträglichen Geschäft. Wie verbreitet gegenseitige Gefälligkeiten und die Verteilung von ­Privilegien jenseits von Konsumgütern waren, zeigen besonders die Kontakte zwischen deutschen und polnischen Funktionären und Systemträgern. An vielen Beispielen der Kommunikation zwischen den Parteien und Massenorganisationen lassen sich Gepflogenheiten gegenseitigen Kontaktes nachvollziehen. Zum einen ging es dabei um die Erweiterung und die Pflege von Netzwerken, die – obwohl in allen Gesellschaften und politischen Systemen verbreitet – in sozialistischen Gesellschaften besonders nützlich waren. Zum anderen wurden die Kontakte über die Grenze hinweg zur Erlangung von Qualitätsprodukten, Reisemöglichkeiten und Urlaubsplätzen genutzt. Die informellen Kontakte von Polen und Deutschen machten Privilegierungen und kurze Wege möglich. Diese Praktiken waren dabei keinesfalls inoffiziell, sondern gehörten zu den Beziehungen dazu. Die Art und Weise, wie zwischen den Funktionären verhandelt wurde, und vor allem welche Güter und Dienstleistungen sie verhandelten, zeigt, dass sowohl bestimmte Anliegen wie deren Erledigung systemspezifisch für Gesellschaften der permanenten Knappheit waren. Gerade Polen gerieten angesichts der zunehmend schweren wirtschaftlichen wie politischen Lage in die Position von Bittstellern. Sie nutzten noch erkennbarer den deutsch-polnischen Kontakt beim Ausgleich struktureller Defizite. Profitabel für die deutsche wie polnische Seite waren auch Vertragsarbeit und Studium von Polen in Leipzig. Sowohl auf staatlicher wie auch auf ­persönlicher Ebene standen finanzieller Gewinn und praktische Erwägungen im Vordergrund. Die Ansprüche von ‚oben‘ und ‚unten‘ deckten sich jedoch nicht. Deswegen entstanden vielfältige Probleme und Konflikte. Sie entzünde-

338   Zusammenfassung ten sich an den Brüchen zwischen propagandistischem Leitbildern und den tatsächlichen Kosten-Nutzen-Rechnungen. Die Konfliktlinien trennten immer wieder anders zusammengesetzte Fraktionen: zwischen polnischen Arbeitern und ihren Kollegen oder dem Leipziger Betrieb, zwischen polnischen Studenten oder Arbeitern und deutschen wie polnischen Institutionen, ­zwischen polnischen Akteuren und ihrem deutschem Lebensumfeld. Privater Kontakt war bei Vertragsarbeitern wie Studenten streng reglementiert und in verhältnismäßig isolierte Rahmenbedingungen eingebettet. Ständige Bindungen zwischen Leipzigern und polnischen Vertragsarbeitern bzw. Studenten ergaben sich zumeist durch Heirat und anschließende Migration eines der Ehepartner. Ansonsten blieben Kontakte inszeniert. Die zeitliche Begrenzung des Aufenthaltes in Leipzig, die unterschiedlichen Einstellungen und Praktiken und die erhöhte Kontrolle durch staatliche Organe, die Be­ triebe und die Hochschulen engten Kontaktfelder ein. Deutsche und Polen studierten und arbeiteten zwar zusammen, in der Freizeit erfolgte aber keine Integration. Nur gemeinsame politische Feierlichkeiten und sonstige Veranstaltungen erhielten den Anschein des „proletarischen Internationalismus“. Generell wurden in Leipzig lebende Polen an Arbeitsplatz, Hochschule und im öffentlichen Raum beobachtet und mitunter diszipliniert und drangsaliert. Selbst dauerhaft in Leipzig wohnhafte Polen erzählen fast ausnahmslos von ihrem kontrollierten Alltag und von Beobachtung bis hin zur Staatssicherheit. Eine freundschaftliche Integration außerhalb der engsten familiären Bindungen fand nur selten statt. Privates Zusammensein und Freundschaft verstanden die polnischen Migranten und ihre Leipziger Mitmenschen häufig gänzlich unterschiedlich. Hinzu kam eine wachsende Distanz nach den politischen Ereignissen in Volkspolen 1980, so dass die ideologische Verheißung der Völkerfreundschaft nie eingelöst wurde. Prägend wirkten sich deutsch-polnische Milieus auf jene Leipziger aus, die sich in besonderem Maße für das Nachbarland interessierten und „polen­ begeistert“ waren. Für sie erschlossen sich im Kontakt mit dem Polnischen individuelle Freiräume. Sie empfanden Volkspolen freiheitlicher als die DDR; das Nachbarland war ein ‚Fenster‘ zum Westen, das politisch wie persönlich eine große Bedeutung erlangte. Polnische Kultur mit Theater, Film, Literatur und Bildenden Künsten, der polnische öffentliche Raum mit Studentenklubs, Jazzkellern und Cafés und westliche Filme oder Bücher funktionierten als Schlüssel zu einer faszinierenden Welt. Viele Menschen aus der DDR entdeckten eine Alternative. Manche erlernten Polnisch, manchmal verlief die Kommunikation nonverbal. Für interviewte Leipziger wurden „informelle Kommunikationszusammenhänge“, also die

Zusammenfassung   339

Verständigung über das Polnische und die daran geknüpfte Faszination ein Teil ihrer Identität. In ihrem Selbstverständnis grenzten sie sich positiv von der Umwelt in der DDR ab und stilisierten das Nachbarland zu einem Fluchtpunkt. Eine solche Selbstvergewisserung erfolgte unter anderem durch deutsch-polnische Bekanntschaften und Freundschaften, durch wiederkehrende Reisen und gegenseitige Besuche oder die Nutzung des Polnischen Informations- und Kulturzentrums. Letzteres wurde sowohl für „polenbegeisterte“ Deutsche wie für in Leipzig lebende Polen zu einem festen Bezugspunkt, der mehrfach als „zu Hause“ und als „Insel“ oder „Oase der Freiheit“ beschrieben wurde. In den Biografien der „Polonophilen“ sticht die politische Wende der Jahre 1980/81 als einschneidendes Datum heraus. Während die siebziger eine Art „goldenes Zeitalter“ darstellten, werden die achtziger Jahre als lähmende und belastende Jahre der Einschränkung empfunden. Gerade angesichts dieser ideellen ‚Schleichwege‘ wird jedoch greifbar, dass andere Leipziger ihre Kontakte nach Volkspolen keinesfalls mit sinnstiftenden Deutungen aufluden. Nicht jeder Kontakt wurde automatisch ein Freiraum. Manchmal wurden die Wendungen der Politik und der staatlichen Propaganda als selbstverständlich hingenommen oder im Nachhinein nicht als bedeutende Einschnitte reflektiert. Wenn man vor diesem Hintergrund nach der Annäherung und der Integration der ostdeutschen wie polnischen Gesellschaften anhand der entstandenen Bindungen und privaten Kontakte fragt, ist die Antwort zumindest zweigeteilt. Die offiziellen Kontakte und die Annäherungspolitik der DDR und Volkspolens hoben die Isolation der Gesellschaften stellenweise auf und schufen eine weit verzweigte institutionelle Partnerschaft. Die Bewohner beider Länder lernten sich besser kennen; in vielen Fällen führten die Kontakte zu Bekanntschaften, die sich auch auf der privaten Ebene fortsetzten. Deutschpolnische Ehen waren die Spitze dieser Entwicklung. Mit der Grenzschließung 1980 und der erhöhten Kontrolle auf allen gesellschaftlichen Ebenen und durch die Staatsorgane wurden aber viele Kontakte wieder gekappt. Auch in Leipzig rissen zu diesem Zeitpunkt die Verbindungen zu polnischen Bekannten ab, wenn die Kontaktpartner nicht eigen-sinnig handelten oder Risiken eingingen. Die achtziger Jahre standen damit für eine zunehmende Entfremdung und aus staatlicher Sicht ein Zurückdrängen weitreichender Kontakte in den siebziger Jahren. Dies zeigt sich auch am Tourismus. Er gilt als einleuchtendes Beispiel massenhafter Kontakte zwischen Gesellschaften im Ostblock. Trotz Millionen Reisender war eine Annäherung der Gesellschaften jedoch keineswegs eine logische Folge. Zum einen ist ein Urlaubskontakt – egal unter welchen Bedin-

340   Zusammenfassung gungen – zumeist flüchtig. Staatssozialistische Spezifika verursachten, dass der ostdeutsch-volkspolnische Tourismus die Menschen nicht so sehr einander annäherte, als vielmehr deutliche Trennlinien aufriss und verstetigte. Sozialistischer Tourismus folgte ideologisch sehr engen Zielen, die Arbeit und Erholung miteinander verquickten. Zwar wurde auch ein Kennenlernen der bereisten Länder postuliert, allerdings blieben die Formeln der sozialistischen Planer oberflächlich und vieldeutig. Mit dem Ansturm und der Selbständigkeit ostdeutscher wie polnischer Touristen nach der Grenzöffnung 1972 hatte niemand gerechnet. Hier spielte eine Rolle, dass in beiden Ländern – aber besonders in der DDR – die internationale Isolation aufgebrochen wurde und ein bisher ungestilltes Bedürfnis nach Ausland ausgelebt werden konnte. Ein institutionell ungebundener Tourismus setzte ein, der sozialistische Praktiken ignorierte oder durchaus lange verschwiegene historische Themen berührte. Dies lag zum einen am einsetzenden Heimattourismus, zum anderen setzten sich DDR-Touristen bei Reisen nach Volkspolen mit der deutsch-polnischen Geschichte und der Ermordung der Juden während des Nationalsozialismus auseinander. Die achtziger Jahre wiederum unterbanden jede selbständige Reisetätigkeit. Der Tourismus zwischen DDR und Volkspolen wurde wieder in Gruppen­ reisen unter Anleitung von Massenorganisationen und Institutionen zurückgeführt. Zur Neuauflage kamen in den achtziger Jahren Kinder-, Jugend- und Studentenaustausch. In diesem Bereich berauschten sich die sozialistischen Planer an ihren – an Zahlen gemessenen – Erfolgen. In der Realität war der Austausch streng reguliert und überwacht. Eine Begegnung deutscher und polnischer Jugendlicher, die sich aber meistens nach dem Urlaub wieder aus den Augen verloren, wurde jedoch erreicht. Alles in allem unterlag der Tourismus einer weitgehenden Kontrolle. Die Reisenden akzeptierten die neuen Bedingungen, nur manchmal wurden sie eigen-sinnig umgangen. Die Dokumente zeigen zudem, dass der offizielle Diskurs über sozialistischen Tourismus und über das Nachbarland reproduziert wurde. Touristen schilderten den erlebten Geist der ‚Völkerfreundschaft‘, reflektierten aber vor allem die politische und wirtschaftliche Situation in Volkspolen. Zur erneuten Begrenzung der Touristenströme ab 1980 trug das Problem des Einkaufstourismus‘ entscheidend bei. In Leipzig führte er sofort nach der Öffnung der Grenze 1972 zu Konflikten um Mangelwaren, die sich durch wirtschaftliche und politische Krisen des Systems bis 1989/90 hinein verstetigten. Die Konkurrenz auf dem Markt des Mangels war auch am deutlichsten für antipolnische Stimmungen in Leipzig verantwortlich. Um begrenzte Güter entstanden interethnische Spannungen, die genauso auf lang gehegten Stereo-

Zusammenfassung   341

typen wie auf der neu entstandenen Konkurrenz basierten. Die Wahrnehmung von Deutschen und Polen orientierte sich grundsätzlich an seit Jahrhunderten existierenden Eigen- und Fremdbildern. Für polnische Skepsis und relativ leicht entflammbare Konflikte waren die Wahrnehmung der DDR in preußischer Tradition, der Zweite Weltkrieg und deutsche Überlegenheits­ gefühle dem östlichen Nachbarn gegenüber die Ursachen. Die Stilisierung der DDR als antifaschistischer Staat und der gleichzeitige Rückbezug Volkspolens auf nationalpolnische Geschichtsbilder passten nicht zusammen. Die propagandistische, aber voraussetzungslose, ‚Völkerfreundschaft‘ hatte keine Entsprechung im kollektiven Gedächtnis. Die proklamierte gemeinsame sozialistische Vergangenheit und Zukunft war in den Gesellschaften nicht glaub­ würdig aktualisierbar. Viel zur Aufladung dieser Spannungen trugen SED und PVAP selbst bei. Spätestens seit den Streiks 1980 und der katastrophalen wirtschaftlichen Lage in Volkspolen verallgemeinerten sich antipolnische Stereotype in Propaganda und Volksmund. Polnisches wurde per se verdächtig, polnischer Alltag in Leipzig auf eine harte Probe gestellt. Allerdings bestimmten nicht nur die gegenseitigen Wahrnehmungen, sondern daran anschließende und sich mit ihr wechselseitig verschränkende Kontrollmechanismen den deutsch-polnischen Alltag in erheblichem Maße mit. An deutsch-polnischen Kontakten zeigt sich fortwährend, wie und wa­ rum praktisch alle Lebensbereiche in der DDR unter den Herrschaftsanspruch der Staatspartei fielen und dementsprechender Überwachung unterlagen. Der hier mit Hilfe von Interviews entwickelte Zugriff und die Sichtbarmachung einer Alltagsperspektive in den Dokumenten der Staatssicherheit belegen, dass eine Alltagsgeschichte der DDR den totalitarisierenden Charakter des Staatssozialismus mit umfasst. Diese Perspektive zeigt die Konsequenzen der ‚Durchherrschung‘ der Gesellschaft konkret im Alltag und in allen Lebensbereichen der Menschen. Der umfassende Zugriff durch Kontrolle und Repression ist ein Zeichen für die Angst auf Seiten der Mächtigen, die Gesellschaft nicht mehr in ihrer Macht zu haben. Die Paranoia der Staatssicherheit verstärkte ihren Kontrollanspruch und damit die bürokratische Verselbständigung von Feindbildern. Die Kontrolle deutsch-polnischen Lebens begann bereits mit vereinnahmender Propaganda und der umfassenden Planung aller Kontakte. Beim Grenzregime mit Öffnung und Schließung, bei den Bedingungen von Vertragsarbeit und Studium, bei Reisen ins Nachbarland – überall wurde eher auf Abstand und Isolation denn auf Annäherung von Deutschen und Polen gesetzt. Für abweichendes Verhalten sollte kein Platz gelassen werden. Mit zunehmend eigen-sinnigen Praktiken konfrontiert, reagierten die Staatsorgane mit verstärkter Kontrolle, die in den Jahren der politischen Krise 1980 und

342   Zusammenfassung danach zu einem entscheidenden Bestandteil deutsch-polnischen Alltags wurde. Die Dokumente aus Partei- und Massenorganisationen zeigen, dass sich DDR-Bürger in gewissem Maße von der ‚polnischen‘ Gefahr überzeugen ließen. In Kombination der Wiederbelebung von alten Stereotypen und neuen politischen Befürchtungen trug auch die Gesellschaft der DDR zur Abgrenzung von Volkspolen bei. Polenfeindliches Verhalten im Alltag ist in den schriftlichen Quellen zu finden, und kann auch aus den Erzählungen polnischer und deutscher Leipziger belegt werden. Zum Teil wurde polnisches Leben gar in vorauseilendem Gehorsam kontrolliert und Polen isoliert. Die Staatssicherheit machte ihren allumfassenden Anspruch als Kontroll­ organ und Regulativ geltend. Sie überwachte angefangen mit politischen Handlungen, über Schleichhandel, Tourismus und polnische Institutionen in Leipzig unzählige Lebensbereiche. In ihrer Fixierung auf human intelligence machte sie vor Privatem gezielt nicht Halt. Vielmehr wurden Polen und Deutsche in Leipzig nicht nur überwacht, sondern als inoffizielle Mitarbeiter für den Zweck der Staatssicherheit instrumentalisiert. Die Aufdeckung der Verflechtung von flächendeckender Überwachung und menschlichen Biografien macht deutlich, wie stark sich Repression und Zumutungen mit Alltag und Privatem überschnitten. Eine Alltagsgeschichte deutsch-polnischer Kontakte schärft jedoch die Sicht auf solche Zumutungen und Repressionen. Letztlich gestalteten die Praktiken der Kontaktpartner die deutsch-polnischen Kontakte. Polnische wie deutsche Leipziger eigneten sich die Bedingungen an und erschufen sich ‚Schleichwege‘: Diese waren materiell, wenn es um den Ausgleich von Mangelwaren ging. Informell wurden auf allen Ebenen Güter und Gefälligkeiten über die Grenze hinweg zugänglich gemacht. ‚Informelle Kommunikationszusammenhänge‘ und die Verortung im Polnischen ermöglichten es, sich mittels ideeller ‚Schleichwege‘ im Alltag der DDR zu positionieren und Identitäten auszuprägen. In bestimmten Konstellationen entstanden Freiräume selbst oder sogar gerade dann, wenn die Beobachtung und der äußere Druck der Staates und ihrer Organe besonders hoch waren. Das Polnische hatte aber vor allem in der immateriellen Welt große Bedeutung, während in der DDR von Polen häufig ein besseres Auskommen und materielle Güter gesucht wurden. Allerdings konnte – angesichts permanenten Mangels an Gütern und Alternativen – auch der Weg in die DDR zu einer Möglichkeit werden, dem polnischen Alltag zu entkommen. Hier liegen die individuellen Gründe für Vertragsarbeit in der DDR. ‚Schleichwege‘ waren einerseits immer auf dem schmalen Grad der Stabilisierung individueller Lebenssituationen angesiedelt. Andererseits untergrub jede Praxis jenseits der offiziell gewollten und akzeptierten das Monopol der Macht im Staatssozialismus. Die Unterschiedlichkeit der hier untersuchten

Zusammenfassung   343

Jahrzehnte ist hierfür emblematisch. Auf die Freisetzung gesellschaftlicher Energien ‚von unten‘ in den siebziger Jahren reagierten die Systeme mit re­ integrativen Maßnahmen. Spätestens mit der Grenzschließung gewann der staatssozialistische Reflex des Misstrauens gegenüber den eigenen Bürgern wieder die Oberhand. Die Dynamik deutsch-polnischer Kontakte, ihre Folgen für das Leben von Einzelnen und ihr Einfluss auf den Alltag führten zu deren erneuten Einverleibung in die staatssozialistischen Pläne und Kontrollmechanismen. Dies wirft nicht zuletzt ein Licht auf die Verfasstheit staatssozialistischer Herrschaft in ihrer Endphase. Die DDR und in die Volksrepublik Polen standen in der zunehmenden wirtschaftlichen und politischen Krise nicht zusammen, sondern setzten auf Abgrenzung. Der Zusammenhalt im Ostblock bröckelte an der „Friedensgrenze“ latent. Vertrauen setzte insbesondere die DDR nur noch in ihre Staats- und Machtorgane und immer weniger in die Gesellschaften, die über Jahrzehnte zum ‚Internationalismus‘ und zur ‚Völkerfreundschaft‘ angehalten worden waren. Der Erhalt des Systems geriet zu einem ‚Einzelkampf ‘. Dabei speisten sich die Reaktionen der Herrschaft keineswegs aus neuen Impulsen und Gedanken; vielmehr setzten sie weiterhin auf Herrschaftsmechanismen, die keine Besserung der ostdeutsch-volkspolnischen Situation mehr herbeiführen konnten. Durch die lange gehegten antipolnischen und antideutschen Einstellungen, durch andauernde Krisensymptome und durch eine Politik der Isolation waren die Beziehungen der Nachbarn zer­ rüttet. Sie standen bis 1989 auch vor keinem echten Neuanfang mehr. Der Gedanke einer solidarischen Staatengemeinschaft im Ostblock hatte abgewirtschaftet. Über den Herrschaftsapparat hinaus hatte diese Einstellung, die man sich natürlich offiziell nicht eingestehen konnte, auch Teile der Bevölkerung erfasst. Und dennoch: Ohne die konkreten Erfahrungen und Praktiken der Menschen wäre die Geschichte der Beziehungen zwischen DDR und Volkspolen ein noch unerfreulicheres Kapitel. Wenn man also die transnationale Verflechtung der ostdeutschen wie polnischen Gesellschaften als ‚gelungenes Projekt‘ beschreiben will, ist dies nur aus der alltagsgeschichtlichen Perspektive und über die Kontakte der Menschen möglich.

  

Danksagung Das vorliegende Buch ist die überarbeitete Version meiner Doktorarbeit, die im Sommersemester 2009 an der Philosophischen Fakultät der FriedrichSchiller-Universität Jena angenommen wurde. Das Schreiben dieser Doktorarbeit war ein intellektueller und oft emotionaler Prozess, der ohne den Beistand vieler Personen an unzähligen Stationen während vieler Jahre nicht möglich gewesen wäre. In erster Linie gilt mein Dank Prof. Dr. Joachim von Puttkamer, der nicht nur diese Arbeit vorbildlich betreut hat, sondern mein studentisches und akademisches Leben mit seiner Begeisterung für die Geschichtswissenschaft, seinem fachlichen Urteil und persönlicher Anteil­nahme maßgeblich geformt hat. Die Gespräche mit Prof. Dr. Joachim von Puttkamer und seine Kritik haben diese Arbeit und mein ganzes Denken so wegweisend geprägt, dass dies an der einen oder anderen Stelle des vorliegenden Textes hoffentlich zu sehen ist. Prof. Dr. Rainer Gries, dem Zweitgutachter der Arbeit, danke ich neben seiner souveränen Begleitung des Abgabeprozesses vor allem für seine Ruhe vor und während meines Rigorosums. Prof. Dr. Włodzimierz Borodziej bin ich nicht nur deswegen viel Dank schuldig, weil er diese Arbeit stets gefördert hat und einer der Urheber des transnationalen Projektes ist, in dessen Rahmen sie entstand, sondern mich in das Wissenschaftsleben in Polen eigentlich erst eingeführt hat. Finanziert wurde diese Arbeit von der Volkswagenstiftung innerhalb eines internationalen Projektes mit dem Titel „Schleichwege. Inoffizielle Kontakte zwischen Bürgern sozialistischer Staaten 1956–1989“. Für mein Stipendium und die Ermöglichung regelmäßiger Arbeitstreffen mit den polnischen, tschechischen und ungarischen Kollegen bin ich auch der Volkswagenstiftung zu Dank verpflichtet. Innerhalb dieses Projektes waren es die Kollegen, die in Diskussionen und Gesprächen diese Arbeit mitgeprägt haben. Hervorzuheben sind hier vor allem Prof. Dr. Jerzy Kochanowski, PD Dr. Jörg Ganzenmüller oder Prof. Dr. Tatjana Tönsmeyer, die als Ideengeber und kritische Berater viele Denkanstöße geliefert haben. Dies trifft auch für PD Dr. Manuel Schramm, das Herderinstitut in Marburg, das Deutsche Poleninstitut in Darmstadt und die Organisatoren des Jenaer Zeitgeschichtlichen Kolloquiums zu, die mir die Gelegenheit gegeben haben, meine Forschungsergebnisse vorzustellen. Viel zu verdanken habe ich meinen deutschen und polnischen Gesprächspartnerinnen und Gesprächspartnern. Sie haben viel zu meinem Verständnis einer Zeit beigetragen, die – obwohl kaum vergangen – für mich eine fremde

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Welt darstellte. Ihre Gastfreundschaft, ihre Herzlichkeit und ihr aufrichtiges Interesse an meinem Thema haben mich davon überzeugt, dass Gespräche mit Zeitzeugen auch über die Wissenschaft hinaus viel Freude mit sich bringen können. Danken möchte ich den Mitarbeitern in den polnischen und deutschen Archiven, in denen ich gearbeitet habe. Besonders im Sächsischen Staatsarchiv Leipzig und bei Frau Renate Kranz im Archiv des Bundesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik habe ich mich besonders gut betreut gefühlt. Mikołaj Markowski-Morzycki (damals Archiv des Polnischen Außenministeriums) danke ich für seine Findigkeit beim Bereitstellen von Dokumenten. Auf meinen Archivreisen haben mich zudem deutsche und polnische Freunde bewirtet und mir Unterkunft geboten. Gerd Kühling, der mir auch Berlin nähergebracht hat und Sebastian Schlegel (damals noch Leipzig) haben mich stets gastfreundlich aufgenommen. In Polen ist Dr. Zosia Wóycicka und Katarzyna Chimiak mit Familie zu danken, die wiederum jeweils auch viel zu lebendigen deutsch-polnischen Kontakten beigetragen haben. Dziękuję Wam bardzo za wspaniałą gościnność i ciekawe rozmowy. Gelesen haben meinen Text Michel Abeßer, Małgorzata Cebulska, Jakob Frasch und Martin Jung jeweils in einzelnen Abschnitten. Ihnen danke ich für ihre Geduld, ihre Kritik und dafür, dass sie mich vor einigen Irrtümern bewahrt haben. Den ganzen Text hat Prof. Dr. Jörg Fischer gelesen. Ihm gebührt an dieser Stelle besondere Anerkennung – auch dafür, dass er bei aller Ernsthaftigkeit des Gegenstands immer für einen Scherz zu haben war und ist und mich weiterhin in Freundschaft begleitet. Ein großer Dank gilt auch Dr. Julia Schreiner, die dieses Buch im Oldenbourg-Verlag bei der Drucklegung begleitet hat. Diese Arbeit ist an verschiedenen Schreibtischen in Jena entstanden. Aber Jena war darüber hinaus über Jahre hinweg mein Lebensmittelpunkt, so dass es für mich völlig undenkbar ist, den Entstehungsprozess dieser Arbeit von den vielen Menschen zu trennen, die ich in Jena getroffen und schätzen gelernt habe. Einige von Ihnen habe ich bereits oben in anderem Zusammenhang erwähnt. Alle meine Jenaer Freunde hier aufzuzählen, würde zu weit führen. Ich hoffe, dass alle, die sich angesprochen fühlen können, sich hiermit angesprochen fühlen, wenn ich ihnen für eine intensive und lebenswerte ­Jenaer Zeit danke. In besonderem Maße intensiv und lebenswert hat die letzten Jenaer Jahre aber Małgosia gemacht. Sie ist ohne Zweifel aus dieser Arbeit nicht wegzu­ denken, sie hat geduldig auf ihren Abschluss gewartet und danach mit mir zusammen ein neues polnisches Kapitel aufgeblättert. Bardzo Tobie za to

346   Danksagung wszystko dziękuję. Das vieles von dem oben Gesagten und von meinen ­Wünschen und Plänen möglich geworden ist, verdanke ich zweifellos meiner ­Familie, meinen Eltern, Brigitta und Jürgen Logemann, und meinem Bruder, Robert. Ihnen müsste dieses Buch zweifellos gewidmet sein. Trotzdem möchte ich es eigen-sinnig allen meinen deutschen und polnischen Freunden widmen!

Abkürzungsverzeichnis AAN Abt. Abteilung K AG AIM AIPN AKG AMSZ AOibE AOP AOPK AP APuZ BArch Bd. BdL BDVP Bl. BPO BStU BT BV ČSSR DA DR DVP DWKN EEK EVP

Archiwum Akt Nowych [Archiv der neuen Akten] Abteilung Abteilung Kriminalpolizei Arbeitsgruppe archivierter IM-Vorgang bzw. archivierter IM-Vorlauf Archiwum Instytutu Pamięci Narodowej [Archiv des Instituts des nationalen Gedenkens] Auswertungs- und Kontrollgruppe – Stabsorgan des Leiters einer Bezirksverwaltung, einer Hauptabteilung oder einer selbstständigen Abteilung im MfS Archiwum Ministerstwa Spraw Zagranicznych [Archiv des Außenministeriums] archivierte Arbeitsakte eines Offiziers im besonderen Einsatz archivierter Operativer Vorgang bzw. Feindobjektvorgang – einschließlich älterer anderer Vorgangsarten archivierte OPK-Akte, siehe OPK Allgemeine Personenablage – archivierte Personendossiers Aus Politik und Zeitgeschichte Bundesarchiv Band Büro der Leitung/des Leiters – Diensteinheit, die den Innendienst organisierte Bezirksbehörde der Deutschen Volkspolizei Blatt Betriebsparteiorganisation (SED) Bundesbeauftragte für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik Bezirkstag Bezirksverwaltung für Staatssicherheit Tschechoslowakische Sozialistische Republik Deutschland Archiv Deutsche Reichsbahn Deutsche Volkspolizei Departament Współpracy Kultury i Nauki [Abteilung für Zusammenarbeit in Kultur und Wissenschaft] Einsatz- und Entwicklungskonzeption Einzelhandelsverkaufspreis bzw. Endverbraucherpreis

348   Abkürzungsverzeichnis FDGB FDJ GMS GuG H. HA HO IM IMB

Freier Deutscher Gewerkschaftsbund Freie Deutsche Jugend Gesellschaftlicher Mitarbeiter für Sicherheit Geschichte und Gesellschaft Heft Hauptabteilung Handelsorganisation Inoffizieller Mitarbeiter Inoffizieller Mitarbeiter der Abwehr mit Feindverbindung bzw. zur unmittelbaren Bearbeitung im Verdacht der Feindtätigkeit stehender Personen IMK/DA Inoffizieller Mitarbeiter zur Sicherung der Konspiration und des Verbindungswesens/Deckadresse – inoffizieller Mitarbeiter, der seine offizielle Anschrift benutzte, um für das MfS Post entgegenzunehmen und weiterzuleiten IMS Inoffizieller Mitarbeiter zur Sicherung – und Durchdringung eines Verantwortungsbereiches KC Komitet Centralny [Zentralkomitee] KD Kreisdienststelle für Staatssicherheit KMU Karl-Marx-Universität LPG Landwirtschaftliche Produktionsgenossenschaft LVZ Leipziger Volkszeitung MfS Ministerium für Staatssicherheit ND Neues Deutschland OPK Operative Personenkontrolle PIKZ Polnisches Informations- und Kulturzentrum PRL Polska Rzeczpospolita Ludowa [Volksrepublik Polen] PVAP Polnische Vereinigte Arbeiterpartei PZPR Polska Zjednoczona Partia Robotnicza [Polnische Vereinigte Arbeiterpartei] RdB Rat des Bezirkes RGW Rat für gegenseitige Wirtschaftshilfe S. Seite SächsStA Sächsisches Staatsarchiv SAPMO Stiftung Archiv der Parteien und Massenorganisationen SAPMO-DDR Stiftung Archiv der Parteien und Massenorganisationen der DDR im Bundesarchiv SBLL-Mit Stadtbezirksleitung Leipzig-Mitte SED Sozialistische Einheitspartei Deutschlands SED-BLL SED-Bezirksleitung Leipzig

Abkürzungsverzeichnis   349

Sekr. SLD StA-L SU SZSP TB TL VEB VP VR VRP VTA VVS ZAIG ZK ZKG ZMA

Sekretariat Sojusz Lewicy Demokratycznej [Bund der Demokratischen Linken] Staatsarchiv Leipzig Sowjetunion Socjalistyczny Związek Studentów Polskich [Sozialistische Vereinigung der polnischen Studenten] Treffbericht Trybuna Ludu [Tribüne des Volkes] Volkseigener Betrieb Volkspolizei Volksrepublik Volksrepublik Polen Verlade- und Transportanlagenbau Verschlüsselte Verschlusssache Zentrale Auswertungs- und Informationsgruppe Zentralkomitee Zentrale Koordinierungsgruppe Zentrale Materialablage (MfS) – Informationsspeicher der Diensteinheiten

Quellen und Literatur Quellen Interviews: Frau B., 3. 5. 2006. Frau E., 23. 6. 2006. Herr F., 7. 9. 2008. Frau H., 7. 7. 2006. Frau I., 19. 12. 2007. Frau J., 30. 10. 2007. Herr K., 17. 1. 2008. Frau K., 22. 5. 2006. Herr L., 13. 12. 2007. Herr M., 6. 3. 2008. Herr P., 21. 7. 2006. Herr S., 9. 2. 2007. Frau St., 27. 6. 2006. Frau T., 7. 6. 2006. Herr T., 23. 5. 2008.

Archive: AAN: Centrala Turystyczna „ORBIS“: 8/2 Główny Komitet Turystyki w Warszawie: 10/74; 10/77; 10/78; 10/81; 10/85; 10/87 KC PZPR (alle Signaturen vorläufig): Wydział Kultury: 646 (908/26); 790 (909/7); 815 (909/32) Wydział Nauki i Oświaty: LVIII/529; LVIII/546 Wydział Nauki, Oświaty i Postępu technicznego: LIX/96 (513, 980/84) Wydział Sekretariat Komisji Międzynarodowej: LXXVII-55 Wydział Zagraniczny: 138 (973/ 136); 752 (709/15); 796 (735/10); 883 (837/7); 905 (788/8); 931 (811/8); 951 (943/9); 960 (893/6); 980 (850/17); 1013 (870/18) Zjednoczenie Przedsiębiorstw Turystycznych „ORBIS“: 5/1 Związek Zawodowy Energetyków: 36/95 AIPN MSW II BP:7740 IPN Wr: 0290/387 IPN BU: 0639/148 AMSZ: DWKN: 10/79 w-19, Heft 528; 11/77 w-19, Heft 528; 15/76 w-25, Heft 528; 21/75 w-24, Heft 528; 27/78 w-18, Heft 528; 27/87 w-18, Heft 528; 30/80 w-14, Heft 528; 35/76 w-19, Heft 528; 54/75 w-25, Heft 528 NRD: 14/80 w-2, Heft 528

352   Quellen und Literatur Archiwum Państwowe w Białymstoku: Urząd Wojewódzki w Białymstoku, Wydział zatrudnienia i spraw socjalnych: 333 Archiwum Państwowe w Kielcach Komitet Wojewódzki PZPR w Kielcach, Wydział Ekonomiczny: 2923 BStU: BV Leipzig: Leitung: 640; 1319; 1422 Abteilung II: 114; 116/01 und 07; 124/02; 145; 247/01; 251/02; 277; 290/01; 421/01 und 02; 552; 569; 605/02 und 03; 613; 712; 737/02; 744/01, 02 und 03; 1059/02 Abteilung II ZMA: 307; 438; PIKZ 11; PIKZ 13; Polen 588; Polen 1364; Polen 1371 Abt. VII: 53 Abteilung IX: 103/04; 143/01 und 02; 368 Abteilung XV: 192; 665; 1738; 3125 Abteilung XVIII: 469/02 Abteilung XIX ZMA: 4249 Abteilung XX: 188/01 und 02; 202/04; 278/03; 309/05; 509; 750; 1401; 1402; 1403 Abteilung XX ZMA: 5594 AIM: 236/91 Bd. I/1; 333/91 I/1 und II/1; 506/91 I/2; 507/89 I/1, II/1 und II/2; 553/89 I/1; 880/91 I/1; 906/87 I/1; 964/91 II/3; 988/86 II/2; 994/87 I/1 und II/1; 1160/87 I; 1182/83 I/1; 1188/83 I/1; 1270/88 I/1; 1968/89 II/1; 2772/92 I und II/2; 2588/84 I/1, II/1 und II/3; 7400/92 I/1 und II/1 AKG: 246/02; 254; 259 AOG: 1804/85; 1884/83 Bd. 1 AOP: 2010/86 V/1 AOPK: 2012/84 I; 2187/82; 2247/82 AP: 1104/86; 1253/91; 1639/91 KD Leipzig-Stadt: 25/06; 1075; 1861; 2879 KD Stadt ZMA: 24889 KD Döbeln: 419/02 MfS: HA II: 27440; 28709; 29508; 29931 HA VI: 4529; 4845 Teil 1 und 2; 15191; 15192 HA VII: 790 HA IX: 3612; 5365; 5367; 13553 Abteilung X: 12; 94 HA XIX: 2014 HA XX: 3699; 3700; 16203 HA XX/4: 129 HA XXII: 1733/20 ZAIG: 2159; 2803; 4503; 4682; 4683; 5448; 13096; 13779; 23073 ZKG: 1906 Sekretariat Neiber: 322; 652; 653 AIM: 7586/91 I/1; 10645 II/1 AOibE: 12017/89 BdL: 6612

Literatur   353 SächsStA, StA-L: 20237 BT/ RdB: 8076; 8078; 18642; 18685; 19349; 22770; 28572; 29612 20250 BDVP: 1425; 1427; 1429; 1431; 2009 20250 BDVP 24. 1.: 271 20741 VEB Elektroschaltgeräte Grimma: 337; 472; 777 20812 VEB KombinatPolygraph. Leipzig: 56; 1323; 1416 20818 VEB Schwermaschinenbau S.M. Kirow Leipzig: 1377; 1654 20875 VEB Metalleichtbaukombinat, Kombinatsleitung: 7486 (Karton 2/257); 7487a (Karton 2/528); 7487b (Karton 2/528), 7488 (Karton 2/ 528) 20937 VEB Buntgarnwerke Leipzig: 86; 87; 88; 89; 90 21123 SED-BLL: 866; 1115; 1627; 1630; 1637; 1640; 2374; 1723; IV/B/2/6/453; IV/C/2/5/415; IV/C/2/18/168; IV/C/2/18/770; IV/D/2/5/330; IV/D/2/8/2/486; IV/D/2/17/555; IV/D/2/17/557; IV/E/2/6/357; IV/E/2/16/473; IV/E/2/18/501; IV/E/2/18/504 Abteilung Grundstoffindustrie: IV/C/2/6/508 Abteilung Parteiorgane: IV/C/2/18/762 21132 SED-Kreisleitung Karl-Marx Universität Leipzig: IV/D/4/14/144 21138 SED-Stadtbezirksleitung Leipzig Mitte: IV/D/5/2/247; IV/D/5/2/248; IV/D/5/2/277 21706 FDGB-Bezirksvorstand Leipzig: Finanzarchiv 1300/ 505 [vorläufig]; 2385; 6013 21740 FDGB-Stadtvorstand Leipzig: 7108 21759 Nationale Front Bezirk Leipzig: 674 21760 Verband der bildenden Künstler der DDR, Bezirksvorstand Leipzig: 169; 200 SAPMO im Bundesarchiv DY 13 (Liga für Völkerfreundschaft): 2304; 2802a; 3105 DC 20 (Ministerrat der DDR): 16828 DY 30 (SED): 3201; 3205; 12419; 12424 DY 30 IV B 2/20 (SED): 145 DY 30 IV 2/2.037 (SED): 7 DY 30 vorläufige SED: 21423 DY 34 (FDGB): 10562; 10983; 12570; 25237; 25539 Internet: http://www.msz.gov.pl/bpt/documents/10583.pdf, 7. 8. 2007. http://www.leipzig.de/de/business/wistandort/international/partnerst/krakow/, 1. 6. 2009.

Literatur Belletristik, Erinnerungen und Reiseliteratur:

Bisky, Jens: Geboren am 13. August. Der Sozialismus und ich, Berlin 2004. Dieckmann, Christoph: My Generation. Cocker, Dylan, Honecker und die bleibende Zeit, 2. veränderte Aufl. Berlin 1999. Ders.: Rückwärts immer. Erinnerungen an den Frieden, in: Ders.: Rückwärts immer. Deutsches Erinnern, Bonn 2005, S. 71–40.

354   Quellen und Literatur „Die Haltung war wichtig…“. Anna Hadrysiewicz und Britta Wuttke sprechen mit Ludwig Mehlhorn, in: NRD-PRL literatura niezależna – DDR-VRP unabhängige Literatur, Hrsg. von WIR, Berlin 1996. Fischer, Arno/Schneider, Rolf: Polens Hauptstädte. Poznań – Kraków – Warszawa, 2. Aufl. Berlin 1975. Große, Gerald/Loest, Erich: Rendezvous mit Syrena. Erich Loest und Gerald Große unterwegs in Polen, Halle/Leipzig 1978. Jendryschik, Manfred: Ein Sommer mit Wanda. Legenden von der Liebe, 2. Aufl. Halle 1976. Kant, Hermann: Der Aufenthalt, 7. Aufl. Berlin 1982. Kromer, Evelyn: Ferien in Südpolen. Über Kraków in die Bieszczaden, Leipzig 1975. Lange, Bernd-Lutz: Mauer, Jeans und Prager Frühling, Berlin 2006. Löpelt, Peter: Die Rosen heb für später auf, Berlin 1979. Müller, Armin: Der goldene Vogel, in: Theater der Zeit 30 (1975), H. 6, S. 53–64. Neumann, Gert: Elf Uhr, Köln 1999. Polte, Wolfgang: Reiseratgeber Volksrepublik Polen, Berlin/Leipzig 1980. Richter, Helmut: Über sieben Brücken mußt du gehn. Literarische Landschaften, Halle/ Leipzig 1983. Ders.: Scheidungsprozeß, Halle/Leipzig 1971. Ders.: Schnee auf dem Schornstein. Erinnerungen an eine Reportage, in: Brücken, S. 250– 260. Schmidt, Jochen: Zloty kaputt, in: SZ Nr. 269 (2007), S. 41. Schneider, Rolf: Die Reise nach Jarosław, 2. Aufl. Darmstadt 1979. Ders.: Dein aschenes Haar, Sulamith, in: Ders.: Annäherungen und Ankunft, Rostock 1982, S. 44–55. Ders.: Polonaise, in: Ders.: Annäherungen, S. 28–43. Sekulski, Henryk: Przebitka [Triumph], Olsztyn 2001. Stasiuk, Andrzej: Dojczland, Wołowiec 2007 Wolf, Christa: Kindheitsmuster, Darmstadt/Neuwied 1979.

Sekundärliteratur:

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Register Akteure  4, 11, 14, 19, 22, 69, 87, 91, 93, 175, 189, 260, 271, 291, 296, 308, 336–338 Alltagsgeschichte  3, 9/10, 14/15, 19/20, 27/28, 70, 87, 91, 118, 335, 341/342 Aneignung  4, 17, 19, 22, 29, 36, 56, 93, 101, 172, 198, 210, 217, 220, 234, 263, 336 Annäherung  4, 15, 41, 46–48, 51, 53/54, 56, 92, 100/101, 116, 145, 160, 168, 184, 186, 193, 206, 208, 230, 253, 255, 263/264, 333, 339, 341 Arbeitsaufenthalt  8, 107, 109, 246 Arbeitsgemeinschaft 4 (AG 4)  73, 78 Arbeitsplatz  104, 113, 116, 120, 123, 127, 136–139, 142, 144, 259, 338 Betreuer/ in  38, 42, 79, 113, 120/121, 124, 127/128, 130/131, 137, 142, 149, 231/232, 235, 249, 251–253, 257, 262 Beziehungen, deutsch-polnische  2, 4, 6/7, 10/11, 13–19, 22, 35–39, 42, 44–47, 49, 51–55, 57/58, 63/64, 67–69, 71, 73, 75, 78, 82, 85, 91/92, 94/95, 98–101, 104, 141– 144, 147, 149, 173, 177, 184, 186, 192, 212, 224, 226, 228/229, 234, 252, 261, 266, 268, 271/272, 279/280, 289, 297, 300, 312, 337, 343 Beziehungsgeschichte  4 binational  6, 165, 209 Brudervolk  54, 120, 263 DDR-Betrieb  104, 108, 119, 222 DDR-Hochschule  146, 149, 151/152 Delegation  7, 21, 26, 35, 52, 56, 58, 61, 92, 95, 97, 231, 249, 251, 255, 260, 268/269, 320 Deutsche Volkspolizei (DVP)  118, 312, 134 Eigen-Sinn, eigen-sinnig  10, 14, 19, 34, 91–93, 109/110, 117, 157, 163, 172, 175, 197/198, 206, 213, 227, 246, 253, 264, 271, 333, 336, 339–341, 346 Einkaufsreise  203, 274, 276, 278/279 Einkaufstourismus  23, 56/57, 207, 256– 258, 266, 268/269, 271, 278/279, 282, 296, 332, 334, 336, 340

Einkaufstouristen  7, 56, 209, 263, 266, 288, 334/335 Erfahrung, („polnische“)  1, 21, 23, 26–29, 31/32, 35, 42, 52, 55, 70/71, 80, 90, 92/93, 96, 100, 117/118, 139, 155–157, 168, 188, 198, 201–206, 214/215, 217/218, 220, 226/227, 234, 236, 238/239, 241, 248, 253, 258, 264, 273, 332, 336, 343 Faszination  22, 25, 28, 33/34, 163/164, 189, 202, 204, 257, 265, 339 FDGB  58, 64, 97, 103, 111, 210, 224, 237, 251 Freiraum  4/5, 11, 22/23, 25, 92–94, 175, 184, 189, 197–199, 203, 206, 335/336, 338/339, 342 Freizeit  21, 48, 85, 104, 110, 117, 122–125, 131, 135, 145, 147, 149, 156, 203, 206/207, 229, 246, 251, 254–257, 335, 338 Friedensgrenze  38, 47, 343 Geheimdienst  76, 78, 87, 111, 166/167, 248, 285, 321, 331 Geschichtsbild  37, 42, 44, 174, 184, 210, 341 Gewerkschaft  1/2, 19, 51, 58, 60, 63/64, 69, 85, 97/98, 111/112, 119/120, 127, 133, 138, 142, 152, 158, 194, 207, 209, 216, 224–226, 238, 259 Gierek, Edward  5, 46/47, 184, 207/208, 269, 279 Gomułka, Władysław  47, 184 Görlitzer Vertrag  38, 47, 139 Grenze, geschlossene  23, 57, 87, 238, 293, 304 Grenze, offene  6, 15, 23, 47, 49/50, 63, 208, 210/211, 217, 222, 293, 307, 332 Grenzöffnung  16, 48–50, 54–56, 202, 207– 210, 213, 264, 266, 278, 282, 295, 332, 340 Grenzschließung  32, 57/58, 60–62, 206, 209, 221, 242, 294, 301, 308, 339, 343 Gruppenreise  202, 206, 209, 216, 229, 263, 340 Handelshochschule  7, 149, 153–155

370   Register Handelssalon  174, 176, 180–182, 192, 196 Heimattourismus  238, 340 Herderinstitut Leipzig  7 Hochschule für Grafik und Buchkunst  7, 153 Holocaust  218 Honecker, Erich  5, 47, 58, 64, 184, 208, 267, 279 Individualreisen  63, 209, 222 Individualtourismus  207/208, 221, 223 Individualtouristen  29, 243 Informalität  11, 91, 198 informelle (Beziehungen/ Praktiken)  2/3, 11–13, 19, 22/23, 69, 71, 91/92, 96, 98, 101, 162/163, 180, 182, 184, 189/190, 192, 196–199, 214, 228, 271, 337, 339, 342 Inoffizieller Mitarbeiter (IM)  33, 58, 70– 84, 86/87, 113/114, 137, 154, 166, 169– 171, 181, 192–194, 196, 213, 236–239, 249, 286, 298, 311, 319, 342 Integration  4, 16, 48, 55/56, 103, 119, 123, 125, 134, 139, 145, 155, 187, 235, 259, 338/339 Internationalismus  54, 103, 128, 144, 198, 212, 239, 247, 338, 343 Jaruzelski, Wojciech  63/64, 262 Jazz  27/28, 195, 201, 215, 263, 338 Jugendaustausch  7, 20, 23, 62/63, 68, 203, 207, 223/224, 245–247, 250–254, 260/261, 264, 335, 340 Karl-Marx-Universität Leipzig  7, 85, 153 Kinderaustausch siehe Jugendaustausch Konsum  13, 162, 207, 229, 296, 333 Konsument  266, 273, 315, 333 Konsumgeschichte, konsumgeschichtlich  13, 267 Konsumgut/ Konsumgütermarkt  23, 60, 97, 257, 266–268, 292, 333, 335, 337 Konsumkultur  13, 265, 268, 333/334, 337 Konsumpolitik, konsumpolitisch  49, 208, 267, 333 Kontakte, private  2–5, 13, 25, 34, 36, 50, 52, 57, 67, 69, 71, 80, 82, 91–93, 101, 103, 117, 141–144, 152, 157, 159, 162/163, 168, 171/172, 217, 223, 230, 268, 271, 336, 338/339

Krakau/ Krakow/ Kraków  7, 19, 22, 26, 28, 30, 32, 34, 50–55, 57, 64–66, 69, 77/78, 84, 96–98, 100, 150/151, 183, 214–216, 218, 230, 250, 252–254, 256, 258/259, 300, 335 Krakower Tage/ Krakauer Tage  53, 96, 224 Kriegsrecht/ Kriegszustand  2, 40, 59, 62– 65, 89/90, 107, 113, 153/154, 191, 223, 226 Kriminalität  249, 285, 296, 305 Kulturgeschichte  70 Leipziger Tage  53, 64/65, 100, 224 Mangelwirtschaft  12/13, 57, 71, 92, 266– 268, 271/272, 292, 333, 334 Massenorganisationen  7, 19, 51/52, 64, 94, 98, 224, 335, 337, 340, 342 Massentourismus  212/213, 228 Messe 6–8, 28, 33, 124, 170, 181, 194, 212, 241, 243, 247, 306, 335 Ministerium für Staatssicherheit (MfS)/ Stasi  19/20, 22, 58/59, 62, 66, 69–87, 89, 91, 97, 103, 111–114, 118/119, 126, 136/137, 152, 154, 156–159, 162, 164–166, 169–171, 174–176, 180/181, 192–197, 210, 212/213, 233, 236–244, 249, 254, 256, 260, 262, 270–273, 275, 280, 282, 285–288, 298, 300/301, 305/306, 309–312, 314, 316–319, 321–323, 332, 334, 338, 341/342 Normalisierung  63/64, 226 operative Personenkontrolle (OPK)  75, 86, 194 Opposition  15, 72/73, 145, 163, 239, 262 Ostblock  16/17, 47, 182, 186, 206, 209, 267, 289, 339, 343 Partnerregion  19, 50, 52, 75, 94, 224, 255, 336 Partnerstadt  7, 54, 65, 69, 94, 214 Partnerwojewodschaft siehe Partnerregion pass- und visafreier Reiseverkehr  6, 47/48, 57, 61, 241, 269, 278, 282, 284, 312 Planwirtschaft 12, 76, 104, 109, 266/267, 270, 289 Polnische Vereinigte Arbeiterpartei (PVAP)  19, 35/36, 40, 43, 55, 58/59, 63–66, 68, 80,

Register   371 89, 95–97, 103, 108–110, 115, 125, 133, 140, 147/148, 183, 186, 195, 258, 269, 278/279, 341 Polnisches Generalkonsulat  7, 63, 69, 73/74, 93, 127, 166, 190, 335 Polnisches Informations- und Kulturzentrum (PIKZ)  7, 19/20, 22, 34, 37, 47, 54, 69, 73/74, 76/77, 82, 85/86, 93, 125, 148, 162/163, 166, 168, 170–199, 335, 339 Propaganda  4, 17, 35–37, 40, 42, 46, 56/57, 60, 66–68, 90, 95, 120–122, 125, 139, 144, 167/168, 172/173, 181, 186, 188, 193, 195, 198, 210, 223, 226, 250, 264, 268, 271, 278, 284, 339, 341 Rat für gegenseitige Wirtschaftshilfe (RGW)  119, 187 Referat  8 73, 75, 79, 84, 113 Reiseleiter/ in  79, 213, 230, 233, 236/237, 239–241, 243 Ressentiment  17, 41, 57, 266 Schattenwirtschaft  12 Schleichhandel  19, 23, 114/115, 148, 169, 256, 258, 265/266, 269–273, 275–282, 284, 286/287, 289–291, 296–303, 305–308, 310–314, 316, 319, 323, 331–334, 336/337, 342 Schleichhändler  23, 71, 270–273, 277/278, 281, 283, 285–288, 296, 301/302, 304–308, 312, 314/315, 332, 334 Schleichweg  5, 23, 336, 339, 342, 344 Schmuggel  115/116, 270/271, 273, 277, 281, 286, 289/290, 293, 296/297, 301, 303, 307, 309–311, 317, 319–320, 323, 327, 331–333, 337 Schmuggler  67, 273, 277, 288, 302/303, 305, 316–318 SED  1, 9, 29, 35, 37, 44, 46/47, 50–52, 58, 60, 63–68, 90, 96, 103, 111, 149, 168, 172/173, 177, 181, 186, 189, 220, 244, 247/248, 258, 267, 278, 280, 282, 341 Solidarność  2, 6, 16, 35, 57/58, 60, 64–66, 69, 71–75, 78–81, 83, 85/86, 95, 97, 101, 108–110, 112–114, 117, 122, 145, 151–154, 158/159, 163/164, 172, 175, 182, 191/192, 195/196, 236, 239, 244, 248/249, 259, 262 Sprachkurs  149, 180, 192/193, 196 Staatssozialismus  3, 6, 12, 21, 34, 90, 92, 190, 203, 211, 224, 272, 311, 341, 343

Stereotyp  13/14, 18, 21, 27, 37, 56, 116, 137, 150, 261, 341/342 Student  8, 28, 32, 41, 43, 84, 92, 123, 145– 157, 162, 164, 199, 209, 214/215, 244, 246, 250/251, 254, 256/257, 259–261, 305, 335, 338 Studentenaustausch  63, 203, 207, 245/246, 264, 340 Studentenwohnheim siehe Wohnheim Studium  8, 22, 64, 108, 145/146, 149/150, 154–157, 165, 179, 335, 337, 341 Tourismus  2, 6, 23, 56, 62, 202/203, 205– 212, 215, 220–223, 225, 227, 232, 242/243, 254, 263/264, 291, 339/340, 342 transnational  6, 14, 155, 175, 197, 266, 268, 334/335, 343 Ulbricht, Walter  47, 184 Urlaub  2, 48, 79, 97/98, 147, 165, 201/202, 204, 206–211, 213, 217, 220/221, 224, 226–231, 234/235, 257, 291, 335, 340 Urlauber  7, 23, 28, 155, 201, 210, 216, 221, 224–227, 229–232, 235, 237, 240, 262, 335 Urlauberaustausch  63, 75, 209, 224–226, 229, 231/232, 235, 237, 264 VEB Braunkohlewerk Borna  310 VEB Buntgarnwerke  105, 111, 115, 119, 121, 123/124, 126, 128/129, 131, 137, 142/143 VEB Delicata Leipzig  137, 158 VEB Druckmaschinenwerk  310 VEB Elektroschaltgeräte Grimma  139, 220, 225 VEB Fleischkombinat  125 VEB Glasseidenwerk Oschatz  309 VEB Metalleichtbaukombinat  124, 133– 135 VEB Polygraph Leipzig/ VEB Poligraph Leipzig  210, 216, 310 VEB S.M. Kirow  112, 226, 229, 231, 241, 309/310 VEB Verlade- und Transportanlagen  310 VEB VTA „Paul Fröhlich“  126/127, 140 Verflechtung  3–5, 20, 23, 44, 93, 159, 173, 175, 203, 271, 275, 316, 332, 334/335, 342/343 Vertragsarbeit  22, 102, 104, 109, 114, 122, 144, 337, 341/342

372   Register Vertragsarbeiter  8, 18/19, 21, 41, 43, 92, 101–111, 113–119, 121–132, 135–137, 139, 141–145, 151, 164, 166/167, 190, 199, 223, 261, 290, 295–297, 305, 308–310, 316/317, 319/320, 327, 338 Völkerfreundschaft  2, 34, 94, 103, 120, 122, 141, 144, 157, 198, 212/213, 221, 224, 227, 234, 245, 263, 335, 338, 340/341, 343 Wahrnehmung, deutsch-polnische  1, 4/5, 18, 26/27, 34, 36/37, 42, 44–46, 68, 92–95, 116–118, 135/136, 138/139, 144/145, 150,

153, 157, 159, 164, 172, 175, 184/185, 197/198, 202, 213, 216–218, 226, 238, 249, 273/274, 282, 285, 316, 341 Warschauer Pakt  36, 58, 187, 265 Wohnheim  27, 32, 101, 111, 118, 121, 124–127, 129, 130–133, 135/136, 142, 148/149, 153, 155, 215 Zollvergehen  114, 270 Zweiter Weltkrieg  15, 18, 33, 35, 38–41, 43, 83, 119, 173, 177, 187, 216/217, 220, 238, 244, 341