Das Politische und der Mensch: Band 1 Soziale Beziehung, Verstehen, Rationalität [Reprint 2014 ed.] 9783050073699, 9783050031132

Der deutsch-griechische Privatgelehrte Panajotis Kondylis hat bis zu seinem überraschenden Tod 1998 große Standardwerke

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German Pages 722 [728] Year 1999

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Table of contents :
Vorbemerkung
I. Sozialtheorie und Massendemokratische Ideologie
1. Allgemeine Bemerkung
2. Werden und Formen zeitgenössischer massendemokratischer Sozialtheorie
3. Differenzierung, Komplexität und Evolution: Der Rückfall in die Geschichtsphilosophie
4. Gemeinschaft und Gesellschaft: eine folgenreiche Legende
5. Massendemokratische Sozialtheorie und Anthroplogie
6. Das Politische in der massendemokratischen Sozialtheorie und in der Konstitution des Sozialen
7. Ausblick
II. Sozialwissenschaft und Sozialontologie
1. Stolpern und Höhenflug der Philosophen im Bereich des Sozialen
2. Sozialwissenschaftliche Methodenfrage in sozialontologischer Perspektive
A. Zwei Grundlegungen der Soziologie
B. Soziologie und Geschichte
C. Die lehrreichen Irrtümer des methodologischen Individualismus
a. Methodologischer Individualismus als militanter Liberalismus
b. Die unbeabsichtigten Folgen des Handelns
c. Die sozialtheoretischen Folgen der unbeabsichtigten Folgen des Handelns
d. Gesetze und Kausalitäten
e. Mikrostrukturen und Makrostrukturen
3. Sozialontologie als sozialtheoretische Tiefendimension
A. Die spezifische Optik der Sozialontologie
B. Das Sein der Gesellschaft als Gegenstand der Sozialontologie
C. Die drei ontischen Aspekte des Sozialen und das theoretische Triptychon der Sozialontologie
III. Soziale Beziehung: Das Spektrum
1. Der Ansatz der formalen Soziologie
A. Funktionalistischer Hintergrund und Ambivalenzen des Formalismus
B. Das formale Kriterium von Nähe und Distanz
2. Die Polarität im Spektrum der sozialen Beziehung
A. Anthropologische Parameter: die Sterblichkeit des Menschen
B. Die Neutralität des psychologischen und ethischen Faktors
3. Die Kontinuität im Spektrum der sozialen Beziehung
A. Sinn und Ätiologie der Kontinuität
B. „Normalität“ und „Ausnahme“
C. Phänomenologie der Kontinuität. Eine Skizze
4. Exkurs: Das Spektrum der sozialen Beziehung im Spektrum der Sozialtheorie und der Sozialwissenschaft
IV. Soziale Beziehung: Der Mechanismus
1. Der innere Mechanismus
A. Ausblick
B. Der Andere und seine Subjektivität
a. Die Offenheit der sozialen Beziehung und die Unberechenbarkeit des Anderen
b. Fremdheit und Vertrauen
C. Perspektivenübernahme
a. Soziologische und phänomenologische Vorarbeiten
b. Die Reflexivität der Perspektivenübernahme, deren zwei Ebenen und das Spektrum der sozialen Beziehungen
c. Meads Feststellungen, Ziele und Widersprüche
D. Sozialontische Grundlagen sozialwissenschaftlichen Verstehens
E. Kommunikation
a. Vorbemerkung: Hochkonjunktur und Mehrdeutigkeit des Begriffes
b. Der Andere als Subjekt und als Objekt oder als Zweck und als Mittel
c. Die Kommunikationsgemeinschaft der ehrlichen Subjekte
F. Exkurs: Mitleid und Sympathie. Zur Vorgeschichte der Theorie von der Perspektivenübernahme
2. Der äußere Mechanismus
A. Handeln: inneres und äußeres
a. Handeln und soziales Handeln
b. Gründe und Ursachen, Absichten und Motive des Handelns
c. Handeln und die Dimensionen seines Sinnes
B. Situation und Zeit
C. Dyas und Trias
D. Gegenseitigkeit und Tausch
a. Der sozialontologische Stellenwert und das Janusgesicht der Gegenseitigkeit
b. Tausch: die diffuse Ökonomisierung der Sozialtheorie und die soziale Beziehung als Parameter ökonomischen Nutzenkalküls
c. Die Fiktion des verallgemeinerten Tausches und das Inzesttabu
d. Gabe und Kula
V. Rationalität, Symbol und Sprache im Spannungsfeld der sozialen Beziehung
1. Ebenen, Gestalten und Grade der Rationalität
A. Vorbemerkung
B. Die anthropologischen und sozialontologischen Parameter der Rationalität
a. Allgemeines
b. Die Rationalität der Mittel und die Rationalität der Zwecke
c. Rationalität als weltanschauliche Rationalisierung
d. Rationalität als Disposition und Selbstkontrolle und Rationalität als psychologische Rationalisierung und Logik der Identität
C. Der irreführende Begriff der „Zweckrationalität“ und M. Webers problematische Typisierung sozialen Handelns
D. „Rational choice“ und Takt des Urteils
2. Universelle Rationalität und universelles Verstehen: in welchem Sinne?
3. Die konstitutive Vieldeutigkeit des Symbols und die Rationalität des Rituals
4. Die formalen Parameter der Sprache und ihre inhaltliche Konkretisierung durch die soziale Beziehung
Anhang
Literaturverzeichnis
Register
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Das Politische und der Mensch: Band 1 Soziale Beziehung, Verstehen, Rationalität [Reprint 2014 ed.]
 9783050073699, 9783050031132

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Panajotis Kondylis

DAS POLITISCHE UND DER MENSCH Grundzüge der Sozialontologie

Panajotis Kondylis

DAS POLITISCHE UND DER MENSCH Grundzüge der Sozialontologie

BAND I SOZIALE BEZIEHUNG, VERSTEHEN, RATIONALITÄT BAND II GESELLSCHAFT ALS POLITISCHES KOLLEKTIV BAND III IDENTITÄT, MACHT, KULTUR

Panajotis Kondylis

SOZIALE BEZIEHUNG VERSTEHEN RATIONALITÄT Aus dem Nachlaß herausgegeben von Falk Horst

Akademie Verlag

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Kondylis, Panajotis: Das Politische und der Mensch : Grundzüge der Sozialontologie / Panajotis Kondylis. Aus dem Nachlaß hrsg. von Falk Horst. - Berlin : Akad. Verl. Bd. 1. Soziale Beziehung, Verstehen, Rationalität. - 1999 ISBN 3-05-003113-1

© Akademie Verlag GmbH, Berlin 1999 Der Akademie Verlag ist ein Unternehmen der R. Oldenbourg-Gruppe. Gedruckt auf chlorfrei gebleichtem Papier. nach DIN/ISO 9706. Das eingesetzte Papier ist alterungsbeständig Alle Rechte, insbesondere die der Übersetzung in fremde Sprachen, vorbehalten. Kein Teil dieses Buches darf ohne schriftliche Genehmigung des Verlages in irgendeiner Form durch Photokopie, Mikroverfilmung oder irgendein anderes Verfahren - reproduziert oder in eine von Maschinen, insbesondere von Datenverarbeitungsmaschinen, verwendbare Sprache übertragen oder übersetzt werden. Satz: Druckhaus „Thomas Müntzer", Bad Langensalza Druck: WB-Druck, Rieden Bindung: Klotz, Jettingen-Scheppach Einbandgestaltung: Ingo Ostermaier, Berlin Printed in the Federal Republic of Germany

Inhaltsverzeichnis

Vorbemerkung

IX

I. Sozialtheorie und Massendemokratische Ideologie

1

1. Allgemeine Bemerkung 2. Werden und Formen zeitgenössischer massendemokratischer Sozialtheorie... 3. Differenzierung, Komplexität und Evolution: Der Rückfall in die Geschichtsphilosophie 4. Gemeinschaft und Gesellschaft: eine folgenreiche Legende 5. Massendemokratische Sozialtheorie und Anthroplogie 6. Das Politische in der massendemokratischen Sozialtheorie und in der Konstitution des Sozialen 7. Ausblick

3 8 36 50 57

II. Sozialwissenschaft und Sozialontologie

91

1. Stolpern und Höhenflug der Philosophen im Bereich des Sozialen 2. Sozialwissenschaftliche Methodenfrage in sozialontologischer Perspektive.... A. Zwei Grundlegungen der Soziologie B. Soziologie und Geschichte C. Die lehrreichen Irrtümer des methodologischen Individualismus a. Methodologischer Individualismus als militanter Liberalismus b. Die unbeabsichtigten Folgen des Handelns c. Die sozial theoretischen Folgen der unbeabsichtigten Folgen des Handelns d. Gesetze und Kausalitäten e. Mikrostrukturen und Makrostrukturen 3. Sozialontologie als sozialtheoretische Tiefendimension A. Die spezifische Optik der Sozialontologie B. Das Sein der Gesellschaft als Gegenstand der Sozialontologie C. Die drei ontischen Aspekte des Sozialen und das theoretische Triptychon der Sozialontologie

76 86

93 108 108 123 139 139 144 151 163 178 184 184 196 206

VI

Inhaltsverzeichnis

III. Soziale Beziehung: Das Spektrum

221

1. Der Ansatz der formalen Soziologie A. Funktionalistischer Hintergrund und Ambivalenzen des Formalismus.... B. Das formale Kriterium von Nähe und Distanz 2. Die Polarität im Spektrum der sozialen Beziehung A. Anthropologische Parameter: die Sterblichkeit des Menschen B. Die Neutralität des psychologischen und ethischen Faktors 3. Die Kontinuität im Spektrum der sozialen Beziehung A. Sinn und Ätiologie der Kontinuität B. „Normalität" und „Ausnahme" C. Phänomenologie der Kontinuität. Eine Skizze 4. Exkurs: Das Spektrum der sozialen Beziehung im Spektrum der Sozialtheorie und der Sozialwissenschaft

223 223 233 239 239 248 263 263 272 276

IV. Soziale Beziehung: Der Mechanismus

305

1. Der innere Mechanismus A. Ausblick B. Der Andere und seine Subjektivität a. Die Offenheit der sozialen Beziehung und die Unberechenbarkeit des Anderen b. Fremdheit und Vertrauen C. Perspektivenübernahme a. Soziologische und phänomenologische Vorarbeiten b. Die Reflexivität der Perspektivenübernahme, deren zwei Ebenen und das Spektrum der sozialen Beziehungen c. Meads Feststellungen, Ziele und Widersprüche D. Soziaiontische Grundlagen sozialwissenschaftlichen Verstehens E. Kommunikation a. Vorbemerkung: Hochkonjunktur und Mehrdeutigkeit des Begriffes . . . b. Der Andere als Subjekt und als Objekt oder als Zweck und als Mittel c. Die Kommunikationsgemeinschaft der ehrlichen Subjekte F. Exkurs: Mitleid und Sympathie. Zur Vorgeschichte der Theorie von der Perspektivenübernahme 2. Der äußere Mechanismus A. Handeln: inneres und äußeres a. Handeln und soziales Handeln b. Gründe und Ursachen, Absichten und Motive des Handelns c. Handeln und die Dimensionen seines Sinnes B. Situation und Zeit C. Dyas und Trias D. Gegenseitigkeit und Tausch a. Der sozialontologische Stellenwert und das Janusgesicht der Gegenseitigkeit

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Inhaltsverzeichnis

VII

b. Tausch: die diffuse Ökonomisierung der Sozialtheorie und die soziale Beziehung als Parameter ökonomischen Nutzenkalküls 504 c. Die Fiktion des verallgemeinerten Tausches und das Inzesttabu 521 d. Gabe und Kula 530

V. Rationalität, Symbol und Sprache im Spannungsfeld der sozialen Beziehung

541

1. Ebenen, Gestalten und Grade der Rationalität A. Vorbemerkung B. Die anthropologischen und sozialontologischen Parameter der Rationalität a. Allgemeines b. Die Rationalität der Mittel und die Rationalität der Zwecke c. Rationalität als weltanschauliche Rationalisierung d. Rationalität als Disposition und Selbstkontrolle und Rationalität als psychologische Rationalisierung und Logik der Identität C. Der irreführende Begriff der „Zweckrationalität" und M. Webers problematische Typisierung sozialen Handelns D. „Rational choice" und Takt des Urteils 2. Universelle Rationalität und universelles Verstehen: in welchem Sinne? 3. Die konstitutive Vieldeutigkeit des Symbols und die Rationalität des Rituals.. 4. Die formalen Parameter der Sprache und ihre inhaltliche Konkretisierung durch die soziale Beziehung

543 543 545 545 553 561

Anhang

653

Literaturverzeichnis

655

Register

693

569 589 604 618 638 652

Vorbemerkung

Panajotis Kondylis kam am 11. 7. 1998 durch einen Unglücksfall ums Leben und ließ somit die auf drei Bände konzipierte Sozialontologie als Fragment zurück, denn nur für den ersten Band liegt eine Textfassung vor. Von den etwa 900 handgeschriebenen Seiten fehlen für das letzte Unterkapitel „Die formalen Parameter der Sprache und ihre inhaltliche Konkretisierung durch die soziale Beziehung" etwa zehn Seiten, dessen Material (Gedankenstützen, Literaturauswertungen) genügend Hinweise auf den Inhalt geben können; die Veröffentlichung muß aber wegen unübersehbarer zeitlicher Verzögerung separat erfolgen. Der Autor begann mit der Niederschrift eines Textes dann, wenn er „alles im Kopfe fertig" hatte, er nur noch „aus dem Kopfe abschreiben" mußte; aus seinen mündlichen Hinweisen und begeisterten Berichten wird deutlich, daß er bis ins einzelne gehende Vorstellungen auch für die Bände 2 und 3 hatte. Wie weit sich diese aus den schriftlichen Vorarbeiten erschließen lassen, welchen Umfang sie haben, konnte bisher nicht festgestellt werden. Den ersten Band der Sozialontologie, die als ganze das bisher von ihm Geschaffene in einer großen Uberschau einbezogen hätte, wollte er in jedem Fall 1999 veröffentlichen; für die nachfolgenden Bände hatte er sich nicht auf einen Terminplan festgelegt, da er durch die breit angelegten Studien bereits wieder auf Fragestellungen gestoßen war, die ihn über das Konzept des für die Sozialontologie Gedachten hinausführten, doch ein wichtiger Teil der speziellen Forschung war offenbar bereits abgeschlossen, so daß er die Bände in ein- oder zweijährigem Abstand voneinander hätte fertigstellen können. Der vorliegende Text ist gegenüber der Handschrift unter dem Gesichtspunkt der besseren Verständlichkeit dort geändert worden, wo dies die Zustimmung von Panajotis Kondylis gefunden hätte, der zur Korrektur noch nicht gekommen war.. Der Dank für unermüdliche Mithilfe bei den notwendigen Arbeiten gilt Dr. Markus Käfer, Jochen Benkö und dem Verleger Dr. Gerd Giesler. Falk Horst

I. Sozialtheorie und massendemokratische Ideologie

1. Allgemeine Bemerkung

Die massendemokratische Revolution, in deren Zeichen das 20. Jahrhundert auf planetarischer Ebene stand, ist nun abgeschlossen. Ihr Sieg fegte nicht nur die traditionellen Patriarchalismen im außereuropäischen Raum hinweg, sondern er löste auch den europäischen oligarchischen Liberalismus und die mit ihm verwachsene neuzeitliche europäische Kultur auf, obwohl tief verwurzelte Denkgewohnheiten die Einsicht in Umfang und Radikalität dieser Wende noch immer versperren. Die einheimischen Bedingungen und die Notwendigkeiten der weltweiten wirtschaftlichen oder politischen Konkurrenz werden freilich die Herausbildung mehrerer Typen von Massendemokratie bewirken; doch ist andererseits in universalgeschichtlicher Perspektive festzuhalten, daß die Massendemokratie die erste buchstäblich globale Gesellschaftsformation seit der Entstehung der Hochkulturen darstellt und daß die Fragen, die mit ihrem Funktionieren so oder so zusammenhängen - von der Frage der Grenzen des Konsums und des Wachstums in ihrer Verschränkung mit der ökologischen und demographischen Entwicklung bis zur Frage der Neugestaltung der politischen Einheiten angesichts der gleichzeitigen Atomisierung und Globalisierung - , den Horizont des kommenden Jahrhunderts beherrschen werden. Dies berechtigt uns indes keineswegs, vom Ende der Geschichte zu reden, auch nicht in dem sehr allgemeinen bzw. minimalen Sinne, daß die Massendemokratie die endgültige politisch-ökonomische Form des sozialen Zusammenlebens der Menschen sein wird. Es sind Verhältnisse denkbar, unter denen sich ganz andere Hierarchien und Ideologien als die massendemokratischen entwickeln und durchsetzen würden 1 . Es wäre merkwürdig, hätte eine Revolution solchen Ausmaßes nicht ihren ideologischen Niederschlag in der Sozialtheorie gefunden - und es wäre noch merkwürdiger, hätte sich die Sozialtheorie, zumal in ihren populärsten Richtungen, als immun gegen Ideologie erwiesen. Die westliche Massendemokratie pflegt sich zwar des angeblich von ihr herbeigeführten Endes der Ideologien zu rühmen, doch dies ist nur ein Aspekt ihres eigenen ideologischen Selbstverständnisses. Ihre Funktionsweise erfordert bzw. zeitigt tatsächlich den Pluralismus oder gar den Relativismus auf ideellem Gebiet, das heißt aber keineswegs, daß die Bestandteile des im Gesamtbild unideologisch anmutenden Pluralismus nicht selber ideologischen Charakters sind. Die Rede vom Ende der Ideologien kann also eigentlich nur den Fortfall der monolithischen und alleinherrschenden Ideologie meinen (wenn es je solche in der geschichtlichen Wirklichkeit gegeben haben sollte); dennoch trifft nicht einmal dies ganz zu. Denn wo Pluralismus und Relativismus den Rahmen dessen, was als massendemo1 Zum Inhalt dieses Absatzes s. Kondylis, Niedergang und Planetarische Politik.

4

I. Sozialtheorie

und massendemokratische

Ideologie

kratische Normalität definiert oder empfunden wird, zu sprengen drohen, da werden höchste und unangreifbare Grundsätze aufgeboten, die ihrerseits auf anthropologische oder aus der „Vernunft" abgeleitete, jedenfalls universale Axiome zurückgehen. Universalismus und Relativismus bilden somit die beiden komplementären Aspekte massendemokratischer Ideologie. Anders gewendet: Die unterschiedlichen weltanschaulichen und praktischen Einstellungen werden toleriert unter dem Vorbehalt der ausschließlichen Geltung des Toleranzprinzips, welches wiederum durch die erwähnten unanfechtbaren Grundsätze begründet wird 2 . So betrachtet ist man durchaus zur banalen, aber folgenreichen Feststellung berechtigt, die massendemokratische Gesellschaftsformation könne ebensowenig wie jede andere moderne oder vergangene einer herrschenden Ideologie entbehren. Einen Ausweg aus dem trüben Reich der Ideologie scheint die Orientierung sozialtheoretischen Denkens an Sachfragen und -zwängen zu bieten, die ihrerseits unter dem großen, als Gesellschaftssystem auffaßbaren Sachzwang stehen. Nun, welches die „echten" oder „relevanten" Sachfragen und -zwänge sind, wird jenseits derselben entschieden, und die theoretische Entscheidung, die Gesellschaft als systemartigen Sachzwang aufzufassen, der ihre einzelnen Funktionen bedingt, gründet wiederum in überempirischen und intuitiven Vorentscheidungen. Hier interessiert uns aber eine andere Quelle ideologischer Vorstellungen. In dem Maße, wie Herkunft und Garantie ideologiefreien Denkens in der an sich neutralen Technik und in der darauf angewiesenen hochtechnisierten komplexen Gesellschaft erblickt werden, die sich im Gegensatz zu den früheren Gesellschaften mit Sachfragen und -zwängen befassen müsse, bildet sich ein kybernetischer oder technomorpher sozialteoretischer Denkstil heraus, der vom Anspruch lebt, in theoretischer Hinsicht ebenso zwingend und ideologiefrei zu sein wie die genannten Sachzwänge und -fragen es angeblich sind. Einem bestimmten Gebiet des (zeitgenössischen) Sozialen wird hier Modellcharakter zugesprochen, Modelldenken wird zugleich zum Modell des Denkens überhaupt erklärt, und auf diesen epistemologisch fragwürdigen Grundlagen wird dann eine technomorphe Konstruktion des Sozialen (im allgemeinen) unternommen. Aber das Ganze auf Grund eines Modells vom Teil zu konstruieren und dem so konstruierten Ganzen absoluten Vorrang vor jedem Teil (auch dem ursprünglich modellhaften) einzuräumen, bildete seit eh und je einen typischen Kunstgriff traditioneller Metaphysik, die übrigens ihr Weltbild nicht nur an Hand von biomorphen und soziomorphen, sondern bereits an Hand von technomorphen Mustern aufbaute 3 . An die Stelle des allumfassenden Weltbildes tritt nun das Gesamtbild der Gesellschaft, doch die Denkfigur, die als Aufbaugesetz der Theorie dient, bleibt davon unberührt, und die ausschlaggebende ideologische Komponente steckt eben in ihr. An demselben Beispiel wird ein weiteres typisches Merkmal ideologischen Denkens sichtbar, das massendemokratische Sozialtheorie in allen ihren Variationen kennzeichnet. Gemeint ist der Vorrang des ihr zugrundeliegenden allgemeinen Denkmusters gegenüber konkreten historischen, politischen, ökonomischen etc. Lageanalysen. Es macht keinen Wesensunterschied, daß dieses Denkmuster nicht mehr z. B. „Weltanschauung" sondern etwa „Modell" genannt und „methodisch" konstruiert 2 Kondylis, „Universalismus", passim, und „ J u r i s p r u d e n z " , insb. 343 £. 3 Topitsch, Vom Ursprung; L l o y d , Polarity, chap.IV; bereits G o m p e r z , „ P r o b l e m s " .

1. Allgemeine

5

Bemerkung

wird; es bleibt herrschenden weltanschaulichen Gesichtspunkten unterworfen, und die etymologische Verwandtschaft von „Modell" und „Mode" erinnert dabei ironischerweise an die fatalen Verstrickungen heutigen Modelldenkens im Modedenken 4 . Die Ideologieanfälligkeit, ja die ideologische Programmatik des Modelldenkens in der Sozialtheorie kam schon früh in den verschiedenen Konstruktionen eines Sozialvertrags zum Vorschein, und sie ist inzwischen nicht deshalb geringer geworden, weil die Kunst der Modellbildung in vielen Fällen den sogenannten exakten Wissenschaften abgeguckt und mit Hilfe unwiderstehlich anmutender mathematischer Formalisierungen ausgeübt wird. Damit soll nichts gegen die heuristische Fruchtbarkeit, ja hermeneutische und kognitive Unvermeidbarkeit von Modellen und Typen gesagt werden. Aber diese Fruchtbarkeit und diese Unvermeidlichkeit können nur durch die ständige Kontrastierung der sozialtheoretischen Denkmodelle mit konkreten Lageanalysen festgestellt werden, deren Ausbleiben vielfach dazu führt, daß sich die Produkte zeitgenössischer Modellkonstrukteure und Methodologen kaum von den intellektuellen Leistungen der Ontologen des 17. Jahrhunderts unterscheiden. Gewiß, die Bezugnahme auf soziale Tatsachen und geschichtliche Entwicklungen, so vage sie auch sein mag, läßt sich in sozialtheoretischen Gebilden nicht umgehen, viel stärker ist dennoch die Tendenz, die Realien in einem Denkrahmen aufgehen zu lassen, der das Produkt eines bestimmten Denkstils und zugleich die Verdichtung von normativen Präferenzen oder von polemischen Stellungnahmen darstellt. Erkenntnisgewinne sind dabei durchaus nicht ausgeschlossen, aber nicht darin liegt das primum movens der Denkbemühung. Die spezifisch massendemokratische Qualität solcher Konstruktionen macht sich nun daran bemerkbar, daß die Realien, worauf sie sich vornehmlich berufen, jene sind, mit denen die heutige (westliche) Massendemokratie ihr ideales Selbstverständnis verbindet, und daß der systematische Rahmen, innerhalb dessen diese Realien so oder so zusammengefügt werden, einem Denkstil entspricht, der zur Funktionsweise dieser selben Massendemokratie Parallelen erkennen läßt. Insgesamt handelt es sich hier um eine Denkfigur, die sich folgendermaßen umreißen läßt: Auf einer einzigen ebenen und homogenen Fläche, die keine Krümmungen, also keine substantiellen und daher unaufhebbaren Hierarchisierungen kennt, sind die letzten und irreduzierbaren Elemente eines funktionalen Ganzen ausgebreitet, die grundsätzlich ihre Plätze austauschen und alle denkbaren Kombinationen miteinander eingehen können; Mobilität, Austauschbarkeit und Kombinierbarkeit der Atome bürgen für die völlige Durchsetzung der funktionellen Gesichtspunkte gegen jede substantialistisch aufgefaßte Größe 5 . Auf die Sozialtheorie übertragen, deutet diese Denkfigur auf das teils reale, teils ideale Selbstverständnis einer Gesellschaft hin, deren Funktionsweise prinzipiell ungehinderte Mobilität und Beseitigung aller aus der geschichtlichen Vergangenheit benannten Hierarchien bzw. Substanzen erfordert und zugleich bewirkt. Und in der Tat: Die heute vorherrschenden massendemokratischen Sozialtheorien oder -modelle postulieren a limine das Vorhandensein von ursprünglich unabhängigen, gleichberechtigten und gleichwertigen Individuen, deren Interaktionen die Gesellschaft konstituieren - gleichviel, ob diese Individuen als „Utility maximizers" (wie in den ökonomistischen Sozialtheorien), als vernünftige Kommunikations4 Kaplan, Conduct, 258. 5 Näheres zu dieser Denkfigur bei Kondylis, Niedergang,

insb. 16 ff., 49 ff.

6

I. Sozialtheorie und massendemokratische Ideologie

partner (wie in der Theorie des kommunikativen Handelns) oder als funktionelle Einheiten eines Systems (wie in der kybernetisch inspirierten Systemtheorie) definiert werden 6 . Ging die Sozialtheorie der societas civilis vom oikos als grundlegender Einheit der Gesellschaft aus und band die bürgerliche Sozialtheorie das Individuum als solche Einheit an überindividuelle normativ verstandene Instanzen und Hypostasen (Mensch, Natur, Geschichte), so erscheint das Individuum im massendemokratischen Kontext von jeder substantiellen oder überindividuellen Bindung losgelöst, um dadurch geeignet zu sein, die letzte konstitutive Einheit einer unbegrenzt mobilen Gesellschaft zu bilden; auch in dem Falle, in dem seine eigene Rationalität noch immer für den Bestand oder jedenfalls das Gedeihen der Gesellschaft unentbehrlich erscheint, muß es diese Einheit aus sich selbst schöpfen. So oder so liegt es in der Logik des „Sozialmodells", alle Faktoren theoretisch zu eliminieren, die der Atomisierung der letzten Bestandteile der Gesellschaft im Wege stehen, da nur konsequente Atomisierung eine extreme funktionale Flexibilität gestattet. Dabei ist es irrelevant, ob die Atomisierung im Zeichen liberal-ökonomistischer, kybernetischfunktioneller oder ethisch-normativer (Autonomie, Selbstverwirklichung) Präferenzen erfolgt. Und ebenfalls irrelevant ist es, ob das Bekenntnis zum ethischen Universalismus, die Rücksicht auf den großräumigen bzw. planetarischen Charakter modernen Wirtschaftens oder etwa die systemische Vorstellung vom grundsätzlich unbegrenzten Absorptionsvermögen funktionaler Netze dazu treiben, neben die atomisierende die globalisierende Tendenz als zweites Grundmerkmal sozialtheoretischer Konstruktionen zu stellen. Atomisierung und Globalisierung gehören logisch und inhaltlich zusammen, da die Entsubstantialisierung, mit der die Atomisierung einhergeht, die globale Austausch- und Kombinierbarkeit ermöglicht. Nicht weniger gehören sie soziologisch und historisch innerhalb der Massendemokratie zusammen, die eben dadurch zur ersten echt planetarischen Gesellschaftsformation werden konnte, daß sie die einzelnen Gesellschaften atomisierte und die mit der Atomisierung einhergehenden wirtschaftlichen, politischen und ethischen Einstellungen förderte. Die globalisierende Tendenz ist freilich in den massendemokratischen sozialtheoretischen Konstruktionen nicht bloß als Tatsachenfeststellung enthalten, sondern als konstitutives Element der Theorie selbst oder als Gesichtspunkt, unter dem die Realien betrachtet und eingestuft werden sollen. Sowohl bei der Atomisierung wie auch bei der Globalisierung macht sich der idealisierte Funktionsmodus der Massendemokratie zum Konstruktionsmodus der Theorie. Das Ideologische besteht indes nicht nur in der strukturellen Anpassung der sozialtheoretischen Konstruktion an eine Denkfigur, die das ideelle Gegenstück des Funktionsmodus einer bestimmten Gesellschaftsformation darstellt. Darüber hinaus tritt es da auf den Plan, wo Berechenbarkeitsgarantien für das Verhalten der Individuen oder der Systeme gesucht und angeboten werden. Ideologien hätten einen viel geringeren sozialen Einfluß, könnten sie neben den engeren Legitimations- nicht auch allgemeinere Entlastungsaufgaben erfüllen. Angst entsteht aus der Unberechenbarkeit und Unvorhersehbarkeit von menschlichem Verhalten oder von sozialen 6 Die kybernetische Systemtheorie geht zwar von der Vorstellung des Systems als Ganzheit aus, die angestrebte vollständige Reduktion des Systems auf Funktionen wäre aber ihrerseits ohne die konsequente Atomisierung seiner Bestandteile unmöglich; denn erst diese entzieht den Bestandteilen jeden substantiellen Charakter.

1. Allgemeine

Bemerkung

7

Vorgängen, und daher soll die Reduktion von Verhalten und Vorgängen auf Berechenbares und Vorhersehbares letztlich die Angst bannen - sowie umgekehrt: Die Angst vor der Angst drängt zu derartigen Reduktionen, die im voraus massiver Sympathien sicher sein dürfen. In der massendemokratischen Sozialtheorie verschmelzen also die spezifisch massendemokratischen Anliegen mit einem uralten und festen Anliegen jeder normativistischen Theorie und jeder Weltanschauung, um nämlich geistige und psychische Entlastung durch das Angebot von möglichst weitgehenden Berechenbarkeits- und Vorhersehbarkeitsgarantien zu gewinnen. Nach dem Zusammenbruch der theologischen oder rationalistischen Metaphysiken und der bürgerlichen Vernunftanthropologien oder teleologischen Geschichtsphilosophien darf freilich solche Entlastung nur mit Vorbehalten und Einschränkungen in Aussicht gestellt werden, doch kann man andererseits nicht umhin, an traditionell bewährte Mittel zu diesem Zweck wie etwa einen umfassenden Rationalitätsbegriff anzuknüpfen. Die Debatte über Rationalität beherrschte nicht von ungefähr die sozialtheoretische Szene der letzten Jahrzehnte: „Rationalität" wurde zum großen Modewort eben bei der Suche nach neuen universalen Berechenbarkeitsgarantien unter den heiklen Umständen des massendemokratischen relativistischen Pluralismus. Vor diesem Hintergrund erscheint es als nebensächlich, ob die Rationalität primär ökonomistisch („rational choice") oder ethisch-„kommunikativ" oder als überpersönliche „Systemrationalität" aufgefaßt wird. Nebensächlich ist auch, ob der anthropologische Faktor auf die Dimension der Rationalität reduziert oder in systembedingte Funktionen aufgelöst wird. Gemeinsam bleibt die Absicht, seinen Unwägbarkeiten zumindest in der Theorie aus dem Wege zu gehen und somit die Berechenbarkeit des sozialen Verhaltens oder der sozialen Vorgänge zu steigern. Dennoch kann eine konsequente Loslösung von anthropologischen Fragestellungen bei allen Umschreibungen und Verkleidungen derselben kaum gelingen7. Die Berechenbarkeitsgarantien und die Entlastungsaussichten werden allerdings zunächst nur innerhalb von sozialtheoretischen Modellen und Konstrukten angeboten. Sie besäßen erst dann eine reale Basis, wenn sich die betreffenden Sozialtheorien nicht bloß über die eigene logische Geschlossenheit, sondern auch über die realen sozialen und geschichtlichen Voraussetzungen des eigenen Geltungsanspruchs vergewissert hätten. Ihr ideologischer Charakter zeigt sich nicht zuletzt daran, daß solche Fragen nicht in ihrem Horizont auftauchen. Sie sind sich zweifelsohne klar, daß sie sich auf differenzierte bzw. atomisierte Gesellschaften beziehen, und sie entwickeln ihre Begrifflichkeit im Hinblick darauf, so daß, wie gesagt, die ihnen zugrundeliegende DenkfigVir dem (idealen) Funktionsmodus der Massendemokratie entspricht. Differenzierung, Komplexität und Atomisierung werden aber als Tatsachen registriert, die einer unumkehrbaren Evolution entsprungen sind, und nicht primär als kontingente Realitäten, die täglich auf Grund bestimmter materieller Voraussetzungen reproduziert werden müssen und an sich keineswegs immun gegen soziale Wandlungen sind. Dementsprechend wird nicht darüber reflektiert, wie Sozialtheorie nach dem eventuellen Wegfall dieser Voraussetzungen aussehen würde - was wiederum impliziert, daß Sozialtheorie auf Gedeih und Verderb mit dem Bestand einer prosperierenden Massendemokratie verbunden bleibt. Zwischen dem sozialgeschichtlich Be7 S. Abschnitt 5 in diesem Kapitel.

8

I. Sozialtheorie und massendemokratische Ideologie

sonderen, worauf sich massendemokratische Sozialtheorie tatsächlich bezieht, und ihrem Anspruch auf Allgemeinheit gähnt eine Kluft, die keineswegs geringer ist als die entsprechende bei den Sozialtheorien der jüngeren oder ferneren Vergangenheit. Das begriffliche Spektrum ist außerstande, unterschiedliche sozialgeschichtliche Lagen und weit voneinander abweichende sozialgeschichtliche Möglichkeiten in sich zu fassen, denn es wird eben nicht mit Rücksicht auf dieses theoretische Ziel, sondern gemäß den Geboten der geschilderten massendemokratischen Denkfigur konstituiert. Im Hinblick auf unser eigenes theoretisches Programm kann an diesem Punkt folgendes vorweggenommen werden. Besteht die ideologische Komponente der Sozialtheorie nicht zuletzt in der privilegierten Behandlung bzw. strukturellen Verallgemeinerung einer besonderen sozialgeschichtlichen Lage sowie im Ausgerichtetsein der verwendeten Begrifflichkeit auf den (idealisierten) spezifischen Charakter dieser Lage, so muß umgekehrt eine wissenschaftliche Betrachtung a limine das begriffliche Spektrum derart erweitern, daß ein kontingentes, reales Besonderes in abstrakter Aufmachung nicht mehr den Platz des für jede Theorie unentbehrlichen Allgemeinen besetzen kann. Die sozialtheoretische Uberwindung des Stehenbleibens bei einer bestimmten Lage durch Schaffung der begrifflichen Voraussetzungen für die gedankliche Bewältigung jeder Lage impliziert die Annahme, jede Lage sei grundsätzlich zweidimensional, d. h. sie enthalte neben ihren spezifischen Merkmalen Faktoren, die sich in jeder Lage der menschlichen sozialen Situation so oder so aktualisieren. Sozialtheorie, deren begriffliche Achsen auf den (idealisierten) spezifischen Gegebenheiten heutiger massendemokratischer Gesellschaften beruhen, muß eine differentia specifica zum genus erheben, anstatt jene auf der Folie von diesem zu begreifen. Offenbar erfordert die Erfassung des genus eine sozialontologische Vertiefung der Sozialtheorie, während die konkrete Schilderung der differentia specifica zur sozialgeschichtlichen Erweiterung der Sozialtheorie führen sollte. Von beiden Seiten her erweist sich jedenfalls dasjenige Modelldenken, das der massendemokratischen Denkfigur verpflichtet ist, als wenig hilfreich.

2. Werden und Formen zeitgenössischer massendemokratischer Sozialtheorie Zeitgenössische und massendemokratische Sozialtheorie sind nicht deckungsgleich. Keine Gesellschaft hat bisher eine solche sozialpolitische Homogenität erreicht, daß es in ihr neben den ausschlaggebenden Erscheinungen oder Komponenten nicht Elemente gegeben hätte, die schon in früheren oder anderen Gesellschaften existierten oder gar in archaischen, unvordenklichen oder einfach animalischen Verhaltens- und Denkweisen wurzelten. Dementsprechend wurde keine Gesellschaft bis heute durch eine solche ideologische Geschlossenheit gekennzeichnet, daß die jeweils vorherrschende Weltanschauung oder Denkfigur nicht doch mit einer oder mehreren anderen offen oder latent (d. h. auf dem Wege des Kampfes um ihre „echte" Interpretation) konkurrieren müßte. Die Feststellung von der sozialontologisch und -geschichtlich notwendigen Multidimensionalität jeder Gesellschaftsformation impli-

2. Werden und Formen zeitgenössischer massendemokratischer

Sozialtheorie

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ziert freilich keineswegs die Unmöglichkeit ihrer Typisierung, zumal durch das Herausarbeiten von Unterschieden zu anderen Gesellschaftsformationen. Das Unterschiedliche erstreckt sich indes nicht auf alle Schichten und Ecken derjenigen Gesellschaftsformationen, die jeweils miteinander verglichen bzw. kontrastiert werden, sondern es bezieht sich vornehmlich auf ihre spezifischen Differenzen und auf deren Begleiterscheinungen, wie sich diese vor dem Hintergrund größerer oder kleinerer Gemeinsamkeiten abzeichnen, die teils anthropologisch, teils sozialontologisch und kulturell, teils sozialgeschichtlich bedingt sind. In der spezifischen Differenz liegt der Motor der Gesellschaftsformation, gleichviel, ob die in ihrem Zeichen stehenden sozialen Phänomene quantitativ überwiegen oder nicht8. Sozialmodelle und Idealtypen dürfen nur mit diesem Gesamtbild vor Augen konstruiert werden und sie sollen angeben, ob sie letzteres oder bloß seine spezifische Differenz meinen. Uberträgt man das Modell oder den Typ der spezifischen Differenz auf das Ganze, so wird Sozialtheorie in dem zuvor erläuterten Sinne ideologisch. Die spezifischen Merkmale bzw. die mit ihnen verwachsenen Gebiete der Massendemokratie machen also keineswegs unsere Gesellschaft in toto aus, und die massendemokratische Sozialtheorie fällt keineswegs mit der gesamten zeitgenössischen Sozialtheorie zusammen. In den Hauptgestalten, in denen massendemokratische Sozialtheorie insbesondere seit den 1960er Jahren hervorgetreten ist, verdichten und idealisieren sich um die Achsen der zuvor umrissenen allgemeinen Denkfigur die spezifischen Phänomene, die in demselben Zeitraum die Lokomotiven der sozialen Entwicklung im Westen abgegeben und durch die weitgehende Beseitigung der bis dahin starken Überbleibsel aus dem bürgerlichen Zeitalter die Reifung und Festigung massendemokratischer Sozialstruktur bewirkt haben. Ein atemberaubender technologischer Aufschwung, die Uberwindung der Knappheit der Güter als äußerst folgenreiches geschichtliches Novum und eine regelrechte Kulturrevolution, die alle Aspekte der Lebenswelt erfaßte oder erschütterte, gingen damit einher und verstärkten erheblich die Atomisierung der letzten Bestandteile des Systems, ihre Mobilität bzw. Austauschbarkeit und somit den Primat des funktionalen Gesichtspunktes - also all das, was die analytisch-kombinatorische massendemokratische Denkfigur konstituiert und trägt. Die Vorstellung von einem flüssigen Ganzen ohne hierarchische Verhärtungen, dessen Elemente abwechselnd oder komplementär sich selbst verewigende oder modifizierende Funktionen erfüllen, d. h. die Vorstellung von einer stetigen sozialen Bewegung innerhalb einer geschichtlichen Unbeweglichkeit schlug sich in der unterschiedlich variierten Theorie nieder, Massendemokratie leite die „posthistoire" oder das Ende der Geschichte ein; Gesellschaft könne also nunmehr keine radikalen Wandlungen und Brüche in der Linearität der Zeit, sondern nur die funktional bedingte Wiederkehr des Gleichen in der Kreisförmigkeit des Raums erfahren. Nicht zum ersten Mal in der Geistesgeschichte erhob hier eine Gesellschaftsformation ihren eigenen Funktionsmodus bzw. ihr eigenes Bild davon zum Schlüssel für die Lösung des Rätsels der Zukunft. Denn die angekündigte Abschaffung der Zukunft bildet auch eine Aussage über die Zukunft. Wir beginnen unsere Analyse mit einem Blick auf die Systemtheorie, deren innere Entwicklung in zentralen Punkten paradigmatischen Charakter hat, nicht zuletzt we8 Vgl. Kondylis, Niedergang, insb. 18 f., 287, sowie „Marxismus", 17f.

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gen der zunehmenden und offenen Orientierung der Theorie an kybernetisch-technomorphen Denkmodellen. Soziologische Systemtheorie hängt ursprünglich und organisch mit der soziologischen Betrachtungsweise und Disziplin als solcher insofern zusammen, als sich letztere durch die Abgrenzung gegen Geschichtsphilosophie und historische Wissenschaft gestaltete, sich also von der Vorstellung eines ständigen Fließens von Ereignissen in der Zeit loslöste, um Konstanten festzuhalten, die dann innerhalb eines funktional kohärenten und räumlich konzipierten Ganzen systematisch geordnet wurden. Systemtheorie trat in diesem allgemeinen Sinne bereits in enger Verschränkung mit der älteren Staatslehre (z. B. bei Montesquieu) oder mit der Geschichtsphilosophie des Fortschritts (z. B. bei Marx) in Erscheinung; erst die epistemologische Verselbständigung der Soziologie konnte aber dem spezifisch systemtheoretischen Gedanken zum Durchbruch verhelfen. Als erstes mußte sich dabei die Frage stellen, welches das spezifische Gewicht der einzelnen Faktoren bzw. Konstanten innerhalb des Systems ist und wie sie hierarchisiert werden sollen, um Funktionieren und Wandlungen des Systems am besten zu begreifen. Denn das Vorhandensein einer bestimmten Hierarchie wurde von Anfang an angenommen, umso mehr, als ihre jeweilige Beschaffenheit ethisch-normative Präferenzen sowie polemische Rücksichten der Soziologen widerspiegelte. Die Absage an den liberalen Ökonomismus und die Überzeugung, eine dem freien Spiel der wirtschaftlichen Kräfte ganz überlassene Gesellschaft müsse zum Faustrecht zurückkehren, führten Dürkheim schließlich zur scharfen Gegenüberstellung von „services économiques" und „influence morale" und somit zur Auffassung, stabiles soziales Gleichgewicht ließe sich nur auf der Basis der moralischen Faktoren und ihrer institutionellen Absicherung herstellen 9 . Dadurch entstand ein (durch Comtes Humanitätsreligion strukturell vorweggenommenes) Schema des balancierten Sozialsystems, in dem ethisch-normative Faktoren an der Spitze der soziologischen Hierarchie standen, d. h. für den Bestand der Gesellschaft zu bürgen schienen. Als Parsons seinerseits den Vorrang der ethisch-normativen Faktoren innerhalb des Sozialsystems hervorhob, knüpfte er an Dürkheims Kritik des Ökonomismus an, der allerdings bei ihm unter die breitere und zugleich begrifflich unscharfe Rubrik des „Utilitarisms" subsumiert wurde 10 . Diesmal erfolgte aber diese Kritik mit einem Seitenblick auf einen neuen und womöglich noch schlimmeren Feind, nämlich die Basis-Uberbau-Lehre des historischen Materialismus, auf deren Umkehrung der sozialsystemische Vorrang von „values" und „norms" hinauslief. Parsons meinte, in diesem Sinne Webers Protestantismusschrift lesen zu müssen, und darüber hinaus bemühte er zur Untermauerung seiner Grundthesen eine Gesamtinterpretation Webers und Paretos. Im Hinblick auf sein eigenes Anliegen war dennoch nur seine Berufung auf Dürkheim im großen ganzen legitim. Paretos Soziologie bildet inhaltlich etwas anderes als seine politische Ökonomie, d. h. Gleichgewichte haben in ihr keinen privilegierten Stellenwert, und durch normative Bindungen lassen sich weder die Löwen noch die Füchse zähmen; und die Entscheidung, Weber im Lichte Dürkheims zu lesen, gleichzeitig aber von ihm die Definition der Soziologie als Wissen9 S. die für Dürkheims Denkentwicklung aufschlußreiche Einleitung zur 2. Auflage von La Division, insb. v,vii,xi,xii. 10 Structure, insb. 51 ff, 161 ff.; über Parsons' vagen Utilitarismusbegriff s. Barry, Sociologists, 76 ff.

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Schaft vom sozialen Handeln zu übernehmen, rief einen unheilbaren Widerspruch in Parsons' Unterfangen hervor 11 . Für Weber war es selbstverständlich, daß die Kategorie des sozialen Handelns bzw. der sozialen Interaktion Konsens und Kampf gleichermaßen und gleichberechtigt umfaßt 12 und daß daher Werte und Normen ebenso eine Verständigungsbasis wie ein Schlachtfeld abgeben können. In Anbetracht der einseitig systemerhaltenden Aufgaben, mit denen Parsons die Werte und die Normen versah, mußte er die Kategorie der sozialen Interaktion entsprechend einengen, also Werte und Normen wie Dämme errichten, um dem konfliktträchtigen Aspekt der Interaktion Einhalt zu gebieten. Der formale Rahmen der Interaktion wird dementsprechend selektiv mit jenen Inhalten gefüllt, die der Integration und der Erhaltung des Systems dienen; das, was Parsons das „voluntaristische" (also subjektive) Element seiner Theorie nennt, reicht daher kaum über die psychologischen Mechanismen zur Internalisierung von etablierten kollektiven Werten und Normen hinaus. Die letzte Garantie für das soziale Gleichgewicht liegt somit in nichts anderem als in der Art und Weise der Theoriebildung selbst. Parsons' Unternehmen, das normativ abgesicherte System und die soziale Interaktion zusammenzudenken, ist gescheitert - nicht weil das System nicht in Interaktion besteht, sondern weil der Begriff der Interaktion, wenn er in seinem vollen Umfang genommen wird, nicht ein System in Parsons' Sinne zeitigen muß. Wenn man etwas streng und trotzdem nicht ungerecht urteilen will, so darf man sagen, Parsons habe unsere Kenntnisse von der systemerhaltenden Rolle ideologischer Gebilde nicht wesentlich über das hinaus bereichert, was etwa die marxistische Ideologielehre (einschließlich ihrer wissenssoziologischen Weiterbildungen) schon geleistet hatte; statt dessen handelte er sich aber eine beträchtliche theoretische Schwierigkeit ein, indem er durch die Verkürzung des Interaktionsbegriffes um seine Kampfdimension eine gründliche Erklärung der „Dysfunktionalitäten" sozialer Systeme a limine blockierte. Die einzelnen Schwächen von Parsons' Systemkonzept sind längst und oft beanstandet worden 13 und müssen uns nicht weiter beschäftigen. Für uns ist wichtig, daß die Weiterbildung der Systemtheorie in den 1950er und 1960er Jahren, wie sie unter dem doppelten und heterogenen Einfluß des technologischen Aufschwungs bzw. der vordringenden technomorphen Denkmodelle und der Kulturrevolution erfolgte, wichtige Topoi der Kritik an Parsons in sich aufgenommen und sich schließlich gegen das gewandt hat, was für sehr viele die beiden Grundsäulen von Parsons' Sozialsystem ausmachte: Die Vorstellung vom inneren Gleichgewicht eines fest umrissenen Ganzen und die Uberzeugung von der vorrangigen Rolle der Werte und der Normen bei der Aufrechterhaltung dieses Gleichgewichts. Waren die Soziologie bzw. der mit ihrem Ansatz verwachsene Gedanke des sozialen Systems von Anfang an der massendemokratischen Denkfigur dadurch verpflichtet, daß sie an die Stelle der geschichtlichen Zeit den funktionalen Raum als Grundkategorie sozialer Wahrnehmung setzten, so wurde nun ein zweiter Schritt in dieselbe Richtung getan: Innerhalb dieses Raums, auf dem sich das gleichsam zeitlose System erstreckte, wurden I I S . Kap. II, Abschn. 2A in diesem Band. 12 Dazu Kap. III, Abschn. 4 in diesem Band. 13 S. u. a. Dahrendorf, „Struktur und Funktion"; Lockwood, „Some Remarks"; C. W. Mills, Kritik; Gouldner, Coming Crisis; Barry, Sociologists, 83ff; J. Hall, „The Problem". Vgl. Kap. II, Anm. 56-59.

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die Hierarchien und die Grenzen abgeschafft, so daß die Offenheit des Systems nach allen Seiten hin seine Stützung durch Werte und Normen überflüssig, ja unmöglich machte. Durch diese expansionistische Theoriestrategie sollte der alte Vorwurf gegen die Systemtheorie entkräftet werden, sie sei vom Wesen her eine Theorie der sozialen Statik, die über Wandel und Konflikt keine Rechenschaft ablegen könne; der Begriff des Gleichgewichts wurde entsprechend uminterpretiert bzw. funktionalisiert, und die neue Beweglichkeit des Systems mündete schließlich in dessen Einordnung in eine evolutionistische Gesamtperspektive, deren Grundbegriffe „Differenzierung", „Reintegration" und „Adaption" hießen 14 . Die soziologische Herabsetzung der Normen und der Werte verhalf ihrerseits der verjüngten Systemtheorie dazu, den Ruf des altmodischen Sittenwächters abzustreifen, der Parsons anhaftete und der in jenem kulturrevolutionären Jahrzehnt keine gute Empfehlung mehr war. Die Forderung nach Öffnung und Dynamisierung des Systems durch die verstärkte Einbeziehung funktionaler Gesichtspunkte wurde früh von Soziologen erhoben, so z. B. von Merton, der sein Anliegen dahin zusammenfaßte, er wolle gegen Parsons' „Monismus" Struktur und Wandel oder Konflikt zusammendenken und somit Dürkheim und Marx miteinander versöhnen 15 . Auf Merton als Initianten einer funktionalistisch aufgeweichten Systemtheorie beriefen sich jüngere Soziologen, die in der strukturellen Ausdifferenzierung des Systems bzw. in der funktionalen Autonomie seiner Teile nicht so sehr eine Gefahr für seinen Bestand, sondern vielmehr einen flexiblen Anpassungsmechanismus und daher eine Existenzgarantie erblicken wollten; ohne jene Autonomie müßte das System beim Auftreten von Dysfunktionalitäten ganz zugrundegehen oder von Grund aus reorganisiert werden 16 . Für den Charakter der Entwicklung, die wir hier studieren, bleibt dennoch die Tatsache aufschlußreich, daß trotz dieser und ähnlicher soziologischer Ansätze der entscheidende Schritt zur Umgestaltung der Systemtheorie durch die pauschale Übernahme eines Denkmodells erfolgte, das außerhalb der soziologischen Disziplin entstand. Das „offene System" ist das Konstrukt einer Kybernetik gewesen, die sich als die Methode par excellence für die Analyse von höchst komplexen Systemen verstand 17 . Die Kontingenz und Austauschbarkeit der Bestandteile des Systems als Bedingungen seines rein funktionalen Charakters werden dadurch gewährleistet, daß Kybernetik grundsätzlich eine Totalität von Möglichkeiten oder Potenzialitäten, nicht Aktualitäten im Auge behält. Differenz (zwischen zwei Dingen oder zwei Zuständen desselben Dinges) und Vielfalt heißen ihre Grundkonzepte, die sich ihrerseits vom Konzept der Information nicht trennen lassen. In dieses zunächst unübersichtliche Ensemble von Möglichkeiten und Differenzen bringt der Zwang zur Reduktion der Komplexität Ordnung oder „System"; ständig muß eine Selektion stattfinden, die auf 14 A. D. Smith, von dem der Ausdruck „expansionist strategy" stammt, schildert anschaulich das amerikanische geistige Klima der 1950er und frühen 1960er Jahre, das zu dieser Wandlung der Systemtheorie führte, s. Concept, insb. 8ff., 14ff. Vgl. Blalock-Blalock, „Clarification", insb. 8 8 91. Parsons' Anstrengungen, der neuen Entwicklung Rechnung zu tragen und das eigene System entsprechend zu flexibilisieren, interessieren hier nicht, vgl. u. Anm. 34. 15 „Structural Analysis", insb. 4 0 - 4 2 , 35f., 32. 16 S. z. B. Gouldner, „Reciprocity and Autonomy in Functional Theory" (1959) = For Sociology, insb. 2 1 5 - 2 1 7 . 17 Ashby, Introduction, 5 f.

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der Reduzierbarkeit der Welt beruht, und so gesehen bedeutet Informationstheorie ebensoviel wie eine Theorie der Selektion 18 . Das System, das sich durch solche Selektion konstituiert, ist dann ein offenes, wenn es nicht von seiner Umwelt isoliert ist, wenn es ständig sein Verhalten im Sinne von Adaption und Selbstorganisierung ändert und wenn es mit seinem Beobachter interagiert, dieser sich also eher innerhalb als außerhalb von ihm befindet 19 . Mit bemerkenswerter Schnelligkeit ergriff dieses Denkmodell vom Bereich der sciences humaines Besitz 2 0 . Es nährte den alten teils verführerischen, teils verwegenen Traum von der Vereinheitlichung aller Wissensgebiete, so daß nun physische, biologische und soziale Interaktion auf einen gemeinsamen Nenner gebracht werden konnten, und es versprach, durch seinen konsequenten Funktionalismus den herkömmlichen Kausalitätsbegriff und jeden damit zusammengehörenden Substantialismus vollends zu beseitigen. Unter diesen Voraussetzungen schickten sich die Systemtheoretiker an, sowohl die traditionelle bzw. psychoanalytische Triebanthropologie als auch Parsons' Bindung eines noch immer substantialistisch aufgefaßten Individuums an Werte und Normen mit einem Schlag zu erledigen; nun war von „personal systems" die Rede, die sich immer neu auf der Basis einer Selektion aus allen Ebenen der Persönlichkeit zusammensetzen und als flexible funktionale Gebilde im gleichermaßen funktionalistisch gedachten, also seine Schwerpunkte und Bedürfnisse ständig verlagernden offenen System gleichsam aufgehen 21 . So schien das Denkmodell imstande zu sein, selbst die heikelste und subtilste Frage zu bewältigen, nämlich die Frage der einzelnen Subjektivität in der Beziehung zum gesellschaftlichen Ganzen. Ein Blick auf die einschlägige Literatur zeigt allerdings, daß sein größter Vorzug in den Augen von Politologen und Soziologen in seiner angenommenen Fähigkeit lag, den Tatsachen des Wandels und des Konflikts wenigstens in gewissem Umfange Rechnung zu tragen. Diese Tatsachen wurden noch in den 50er Jahren, als der spätere kulturrevolutionäre Neomarxismus oder gemäßigtere verwandte Richtungen bereits im Aufwind waren, gegen Parsons ins Feld geführt; bald stellte sich aber heraus, daß eine keineswegs revolutionäre Interpretation bzw. Um- oder Weginterpretation derselben möglich war, die sich mit der Annahme vereinbaren ließ, die westliche, also mobile und stets erneuerungsfähige Massendemokratie könnte am besten als offenes System betrachtet werden, das innere Konflikte nicht nur zu ertragen, sondern sogar als vitalen Anpassungsmechanismus zu gebrauchen vermag 22 . Als sich Easton z. B. von seinem eigenen früheren Systemkonzept distanzierte, das auf der Vorstellung vom Gleichgewicht beruhte, und sich statt dessen für das offene System aussprach, bemängelte er am ersteren vor allem seinen geschlossenen Charakter, d. h. die Unfähigkeit, sich andere Ziele als die eigene Erhaltung zu setzen; von entscheidender Bedeutung wäre aber die adaptive 18 A. a. O., 3, 9, 131, 140, 261f.; Rapoport, „Promise and Pitfalls" 19 Mesarovic, „Foundations", 9. S. bereits Hall-Fagen, „Definition", insb. 23, und Bertalanffy, „General System Theory", insb. 3 ff. 20 S. im allgemeinen David, La cybemetique; Geyer-Zouwen (eds), Sociocybernetics. Über Selektion und Kombination als grundlegende Operationen in der Sprachwissenschaft s. Jacobson-Halle, Fundamentals, 60 f. 21 S. anstatt vieler Swanson, „On explanations"; McCall-Simmons, Identities ch. 3; Inkeles-Levinson, „The Personal System", insb. 220; Watzlawick, Kommunikation, 24ff., 114ff. 22 S. dazu Kap. III, Abschn. 4 in diesem Band.

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Fähigkeit bzw. die Eignung, auf Druck angemessen zu reagieren 23 . Kybernetisch inspirierte Soziologen, die sich das Konzept des offenen Systems zu eigen machten, verbanden schon früh damit die Uberzeugung, Wandel, Innovation und Selbsttransformation seien die besten Mittel zur Selbsterhaltung 24 . Aus dieser dynamisierten Sicht der Dinge wurde gegen Parsons eingewandt, eher die Veränderung als die starre Festigkeit von Werten und Normen trage zur Kohäsion des Sozialsystems bei 25 , oder, allgemeiner noch, soziale Integration bedürfe überhaupt nicht des normativen Konsenses, sondern lasse sich durch das Zusammenwirken mehrerer Faktoren wie etwa wirtschaftliche Interdependenz, politischer Zwang etc. bewerkstelligen; ein funktionalistisches Integrationsmodell, welches das Faktum normativer Konflikte berücksichtigen wollte, müßte freilich Integration als ständige adaptive Reaktion auffassen und mit dem Vorgang wachsender Komplexität und Differenzierung bei der Anpassung an außersystemische Änderungen zusammendenken 2 6 . Symptomatisch für einen nicht unwichtigen Aspekt der geistesgeschichtlichen Lage, in der das Konzept des offenen Systems Verbreitung fand, war der Versuch dieses Autors, auf grundsätzliche Gemeinsamkeiten zwischen Funktionalismus und hegelscher-marxistischer Dialektik hinzuweisen. Darin ist ihm ein bekannterer Autor, Blau, kurz darauf gefolgt 27 , dessen Theorieentwurf indes vor allem aus einem anderen Grund Aufmerksamkeit verdient, und zwar ungeachtet der späteren Distanzierung seines Urhebers von ihm. Hier wurde nämlich klar, daß die Absage ans Parsonssche Primat der Wert- und Normorientierung zugunsten der Wendung zu den Austauschbeziehungen 28 , (zu denen auch die Machtverhältnisse gerechnet wurden,) eine Anknüpfung des Funktionalismus an individualistische - behavioristische und ökonomistische - Ansätze ermöglichte; diese bildeten sich zwar außerhalb der Systemtheorie von Parsons oder im direkten Gegensatz zu ihr (Homans) heraus, sie ließen sich aber dennoch vom Konzept eines offenen Systems und seinem Funktionalismus inspirieren oder flössen in dieses Konzept nachträglich ein, um durch die programmatische Atomisierung der letzten Bestandteile des Systems seinen funktionalen, also offenen Charakter weiterhin zu verstärken. Blau will das offene komplexe Sozialsystem von unten aufbauen, indem er die mikrosoziologisch verstandene Interaktion unter Individuen zugrundelegt und die Entwicklung sozialer Netze an Hand der Mechanismen des Austausches als Fundament des sozialen Lebens verfolgt. Es sei hier dahingestellt, ob die theoretische Konstruktion eines Systems unter den Prämissen des methodologischen Individualismus gelingen kann 29 oder ob vielmehr vom System als Ganzem ausgegangen werden muß; jedenfalls hat auch die Option für die letztere Lösung die Systemtheorie nicht davon abgehalten, die Interaktion so zu schildern, wie individualistische Theorien es schon getan hatten. Die logische und inhaltliche Heterogenität, die daraus entstand, wird uns noch beschäftigen müssen: 23 Vgl. The Political System (1953), insb. ch. XI, mit A Systems Analysis of Poltical Life (1965), insb. 17ff. 24 S. z. B. Gadwallader, „The Cybernetic Analysis" (1959). 25 vgl. Türk, „Social Cohesion". 26 Van den Berghe, „Dialectic", insb. 697, 698, 703 27 Exchange, ch. XII: „Dialectical Forces". 28 A. a. O., 13. 29 S. dazu Kap. II, Abschn. 2Ce in diesem Band.

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Sie kennzeichnet ebenfalls, wenn auch in anderem Sinne, Blaus frühe Sozialtheorie, die ihren Umfang mit dem Verzicht auf logische Geschlossenheit erkaufte 30 und eben dadurch den nonchalanten Eklektizismus der neueren Systemtheorie ermutigte. Dieser Eklektizismus konnte praktisch aus allen Richtungen schöpfen, die sich zur Zeit der Herausbildung des kybernetischen Denkmodells vom offenen System aus eigenen Gründen und Kräften gegen Parsons' Konstruktion wandten. Zu diesen gehörten außer den erwähnten behavioristischen und ökonomistischen Individualismen mikrosoziologische Analysen der Interaktion, die auf den Grundschemata des symbolischen Interaktionismus beruhten oder aber phänomenologisches Gedankengut weiterführten. So mündete Schütz' Phänomenologie des Alltags in Garfinkeis Ethnomethodologie, die ebenfalls Parsons' Lösung des Problems der sozialen Ordnung nicht gelten ließ. Weder die Internalisierung noch der ethische Status von Normen dämmen die Anarchie der Interessen ein, sondern dafür sorgt eine Normierung ganz anderen Schlages, d. h. die wahrgenommene Normalität von Handlungen als Basis der Berechenbarkeit künftiger Handlungen; die Feststellung der reflexiv Handelnden, die Normierung bzw. Normalität und daher Berechenbarkeit eigenen und fremden Verhaltens diene schließlich infolge der dadurch erzielten Vertrauensbildung dem Interesse aller Seiten, erzeugt Normen, die primär pragmatisch und nicht etwa ethisch gemeint sind, die nicht von außen kommen, sondern konstitutive Merkmale von wahrgenommenen „normalen" Lagen bilden 31 . Die logisch prekäre (s. u.), ausdrückliche oder stillschweigende, pauschale oder selektive Einbeziehung individualistischer und interaktionistischer Positionen in die soziologische Theorie vom offenen System darf dennoch nicht über deren Ursprung und Charakter täuschen. Schon aus chronologischen Gründen konnte sie übrigens erst im nachhinein stattfinden, da der Vorgang der Herausbildung der neueren Systemtheorie, wenigstens was ihr begriffliches Gerüst und ihre inhaltlichen Grundlinien betrifft, ziemlich kurz währte und bereits Mitte der 60er Jahre im großen ganzen abgeschlossen war. Davon zeugt das Buch von Buckley, das diesen Vorgang zusammenfaßt und zugleich krönt. Es läßt keinen Zweifel an der kybernetischen Inspiration des Denkmodells und zugleich daran, daß eine theoretische und ideologische Hauptsorge dabei das Auffangen von Konflikttheorien jungen Datums in einem begrifflichen Rahmen war, der sie grundsätzlich bejahen und doch neutralisieren könnte - ein Rahmen außerdem, der der Idealvorstellung von einer äußerst dynamischen und bei all dem nicht revolutionären Gesellschaft, also dem Selbstverständnis westlicher Massendemokratie entspricht. Zur Strategie des Auffangens ursprünglich antisystemischer Ansätze gehört der Hinweis auf die Gemeinsamkeiten zwischen Kybernetik und Dialektik, worin Buckley dem Beispiel van den Berghes und Blaus folgt 32 sowie die besondere Nuancierung der Kritik an Parsons. So wird gegen diesen als erstes das Argument der Konfliktheoretiker vorgebracht, er könne weder das Phänomen des abweichenden Verhaltens noch das des Wandels theoretisch bewältigen. Dementsprechend wird das wichtigste Merkmal des Systems in seiner Neigung erblickt, die eigene Struktur zu ändern: Während Systeme mit fixer Struktur der Entropie entgegengehen, sobald sie sich jenseits bestimmter Grenzen ändern, bekämpft das offene 30 Vgl. Mulkay, Functionalism, insb. 180, 211 f. 31 Garfinkel, „Trust", 198; vgl. Heritage, Garfinkel, 117. 32 Sociology, 18.

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System die Entropie durch die Schaffung neuer Strukturen. Das Systemmodell des Gleichgewichts wird somit durch ein komplexes und adaptives Systemmodell ersetzt, welches nicht mehr auf festen Normen beruht, sondern ständig Alternativen erzeugt, zwischen denen immer neu entschieden werden muß. Spannung innerhalb des Systems ist ein normaler und fruchtbarer Zustand, d. h. sie ist notwendige Begleiterscheinung einer Vielfalt, die der normativen Ambivalenz und dem Vorhandensein von Alternativen sowie dem abweichenden Verhalten, der Innovation und der Differenzierung erwächst; wahrgenommen wird sie durch selektive Prozesse, deren Vehikel kommunikative Netzwerke und Informationsflüsse sind. Der Kommunikationsprozeß bildet demnach das Hauptmerkmal eines Systems, das immer fließender wird, da die Interrelationen zwischen seinen Bestandteilen nicht mehr durch die Übertragung von Energie gewährleistet werden, wie dies im räumlich-zeitlich konzipierten Gleichgewichtsmodell der Fall war, sondern durch den ununterbrochenen Fluß von Information; in dem Maße, wie die Energie durch Information substitutiert wird, wächst die Autonomie der Bestandteile des Systems und somit wächst auch die Bedeutung ihrer Relationen zueinander gegenüber der Bedeutung ihrer substantiellen Beschaffenheit. Bezeichnenderweise ist Buckley bereit, unter diesen Voraussetzungen die Annahme von der Kontingenz des Systems sehr weit zu treiben. Er akzeptiert sogar Homans' zugespitzte Formulierung, das Bestehen eines sozialen Systems sei schon an sich ein „Wunder", ohne freilich zu merken, daß diese Formulierung nur in der Perspektive des konsequenten methodologischen Individualismus sinnvoll sein kann; wie andere Systemtheoretiker auch, macht er sich den individualistischen Standpunkt insofern zu eigen, als er die stabilen sozialen Strukturen schließlich in den Austauschprozessen gründen läßt, die dann durch symmetrische Orientierungen der sozialen Subjekte und durch die Machtverteilung gefestigt werden 33 . Der Trend zum Modell des offenen Systems war in den 60er Jahren zumindest unter den Vertretern von Systemtheorien so stark, daß Parsons selbst ihm nicht hat widerstehen können. Von seiner späten persönlichen Entwicklung können wir indes hier absehen, denn sie brachte keine neuen begrifflich-strukturellen Gesichtspunkte ans Licht 3 4 . Statt dessen wollen wir über die oben umrissene Denkfigur einige Bemerkungen machen und setzen dabei bei ihrer ideellen Wurzel, also ihrem kybernetischen Ursprung an. Ist Kybernetik in der Tat die Theorie der Funktionsmöglichkeiten informationeller Systeme unter Abstraktion von deren physikalischen, physiologischen oder psychologischen Besonderheiten 35 , so läßt sich daraus im Hinblick auf den Aufbau einer kybernetischen Sozialtheorie zweierlei schließen: Entwe33 A. a. O., insb. 29ff., 51, 159f., 47f., 39. 34 S. dazu vor allem „Some Problems" (1970) und vgl. dazu A. D. Smith, Concept, 31 ff. Auch Luhmanns Arbeiten haben recht wenig zur Bereicherung der Theorie des offenen Systems beigetragen, deren Herausbildung im Wesentlichen abgeschlossen war, als Luhmann an die Öffentlichkeit trat. Die gegen Parsons gerichtete konsquente Funktionalisierung der Systemtheorie war also keineswegs Luhmanns Werk, wie viele in Deutschland glauben. Seine leitenden Ideen und sein begriffliches Instrumentarium sind allesamt der amerikanischen Literatur der späten 1950er und frühen 1960er Jahre entnommen, deren Argumentationen und Inhalte in Luhmanns inflationärer Produktion zusammengefaßt oder variiert, expliziert oder neu kombiniert wurden. Gerade deswegen besitzen die Schriften des Deutschen einen symptomatischen Wert, und wegen dieses ihres Wertes werden sie im folgenden zitiert. 35 Frank (Hg.), Kybernetik, 14.

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der darf man dabei alle Besonderheiten außer acht lassen und am Allgemeinsten festhaltend die Schilderung geologischer und zoologischer Systeme mit jener eines Sozialsystems frei austauschen oder aber man muß in das pauschal angenommene allgemeine Denkmodell diejenigen Besonderheiten einführen, die aus ihm eine erkennbare geologische, zoologische oder soziologische Theorie machen können. Doch die spezifischen Merkmale, die die Spezifizierung des Denkmodells ermöglichen, sind in keinem Fall dem Denkmodell selbst zu entnehmen, sonst hätte dieses von Anfang an auf die entsprechenden besonderen Inhalte Bezug nehmen und sich somit einschränken, also den eigenen Universalitätsanspruch aufgeben müssen; sie müssen also in das Denkmodell von außen hereingeholt werden, nachdem sie nach Kriterien definiert werden, die ebenfalls nicht aus demselben stammen können. Konkreter: Damit das kybernetische Denkmodell eine brauchbare Sozialtheorie ergibt, muß es vorher durch eben die spezifischen Merkmale angereichert werden, die eine Gesellschaft von Menschen ausmachen - und auf diese Merkmale läßt sich eventuell das kybernetische Denkmodell im nachhinein anwenden; logisch dürfen sie aber nicht aus diesem abgeleitet werden. Kybernetisch inspirierte Soziologen verwechseln die (angebliche) Anwendbarkeit des Modells mit seiner begrifflichen und inhaltlichen Fruchtbarkeit, wobei sie, wie wir noch sehen werden, ihre logisch ungerechtfertigten (stillschweigenden) Darlehen aus anderen Disziplinen und Methoden als eigene Entdeckungen und als Beweise für die Ergiebigkeit des eigenen Ansatzes hinstellen. Angesichts der definitionsgemäßen Unfähigkeit des kybernetischen Denkmodells, bis zu den spezifischen Merkmalen der einzelnen ontologischen Schichten der Wirklichkeit hinabzusteigen, wenn es universal bleiben will, kann man mit gutem Grund sagen, sein Nachteil bestehe nicht so sehr in seiner Nichtanwendbarkeit, sondern vielmehr in seiner Eignung, überall und beliebig anwendbar zu sein36. Realitätsbezug, zumal in der Sozialtheorie, wird einfach durch den selektiven Gebrauch von illustrativen Beispielen vorgetäuscht, die ihrerseits entsprechend den Erfordernissen des zugrundeliegenden Denkmodells und seiner Begrifflichkeit präpariert werden; daher sind keine Erkenntnisfortschritte zu erwarten, es sei denn durch das Einschmuggeln von zusätzlichen Annahmen, die sich nicht aus dem Denkmodell selbst ergeben 7. Das Konzept erlangt somit quasi den Status, den Begriffe beim mittelalterlichen Realismus besaßen. Der konventionalistisch gemeinte und jederzeit revidierbare Gebrauch der Denkmittel weicht vor dem nonchalanten gleichförmigen Überdecken der phänomenalen Vielfalt durch die Konstrukte des Denklaboratoriums zurück. Die Vereinheitlichung des kognitiven Raums wird durch die Verwandlung der Phänomene in symptomatische Fälle oder Illustrationen des ideellen Konstrukts erzielt, die sich in dessen formallogisches Kontinuum einordnen lassen. Die sozialtheoretischen Fragen, die sich dann stellen, entspringen keinen Realanalysen, sondern der logischen Selbstentfaltung des Denkmodells; seine Entfaltung wird unter der Hand zur Entfaltung der Gesellschaft, deren Fragen mit denen des Denkmodells identisch sind und daher in einem Atemzug mit den inneren Aporien des Denkmodells bewältigt werden. Welcher Aspekt oder Begriff desselben welchem Aspekt oder Phänomen der Gesellschaft entspricht, bleibt dabei offen, und diese Vagheit setzt 36 A. D. Smith, Concept, 76. 37 Schütte, „Uber die Chancen", insb. 114f.; Opp, Kynemetik,

insb. 24ff.

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bereits bei der Bestimmung der Grenzen des Systems gegenüber seiner Umwelt an. Man erinnert sich an die beliebige Austauschbarkeit von These und Antithese in „dialektischen" Konstruktionen; mindestens in diesem Sinne hatten die Kybernetiker, die sich ihrer Nähe zu Hegel rühmten, gar nicht so Unrecht. Mutatis mutandis muß der kybernetische Funktionalismus in der Sozialtheorie bei derselben formalistischen Leere wie eine Linguistik enden, die die Semantik ausschließlich aus der Phonologie deduzieren möchte (die Analogie ist übrigens nicht zufällig, da beide Ansätze in derselben analytisch-kombinatorischen Denkfigur gründen). Und da diese Leere nicht aus den eigenen Ressourcen des Denkmodells gefüllt werden kann, so werden im nachhinein Darlehen bei Gebieten und Traditionen gemacht, die dem systemischen Ansatz fremd oder gar entgegengesetzt sind. Hier hatten es die systemtheoretische wie auch die ökonomistische Soziologie relativ einfach und gut. Als Spätankömmlinge konnten sie aus dem inhaltlichen Reichtum der früheren Sozialtheorie und Sozialpsychologie schöpfen, die die sozialtheoretischen Grundfragen genannt und die sozialen Grundbeziehungen geschildert hatten. Während ihre Gesamtkonzepte verworfen wurden, flössen sehr viele ihrer wichtigsten Teilergebnisse in die systemtheoretische (und ökonomistische) Soziologie ein, so daß die bloße Ubersetzung derselben in deren Vokabular den Eindruck aufkommen ließ, sie würden empirische Befunde oder logische Schlußfolgerungen der systemtheoretischen (oder ökonomistischen) Ansätze in der Sozialtheorie bilden. Dennoch verhielt es sich umgekehrt: Was in diesen Ansätzen nicht gerade trivial oder tautologisch war, entstammte nicht ihren Prämissen, sondern faktischen oder theoretischen Annahmen unterschiedlicher Herkunft, die in den durch die Prämissen definierten Denkrahmen recht oder schlecht eingeordnet wurden. Darüber wird ausführlicher und konkreter die Rede sein, wenn wir die verschwiegene, verkleidete oder halbherzige Anthropologie der genannten Ansätze behandeln. Einige Stichworte dürften hier genügen, um das Gemeinte zu verdeutlichen bzw. um anzudeuten, daß sich die Grundbegriffe der kybernetischen Theorie ebensogut oder gar besser aus einer deskriptiven Analyse von Aktion und Interaktion konkreter menschlicher Existenzen gewinnen lassen, aus der sie übrigens ursprünglich hervorgegangen sind. Um bei einem Kernpunkt anzusetzen: Die These, Reduktion von Komplexität bilde die Grundoperation zur Konstitution von Systemen und zugleich die Grundleistung derselben, wird nicht als bahnbrechende Neuheit von jemandem empfunden werden, der etwa mit Nietzsches Erkenntnistheorie oder mit der marxistischen Ideologielehre vertraut ist und daher weiß, durch welch großangelegte Vereinfachungen Weltbilder und kollektive oder persönliche Identitäten herausgebildet werden, um dem Zweck praktischer Orientierung zu dienen; die neuere Ethologie hat diese Einsichten im Hinblick auf Tier und Mensch bestätigt 38 . Von diesem allgemeinen Standpunkt aus ist es nur selbstverständlich, daß Informationen bzw. Sinn und Kommunikation über Sinn Selektionscharakter haben müssen, da sie infolge des Vereinfachungs- und Orientierungsbedürfnisses durch Abgrenzung gegen etwas entstehen bzw. bestehen und auf eine ständige Interpretationstätigkeit angewiesen sind, die einen nie aussetzenden Strom von erwarteten und unerwarteten Ereignissen be38 Uexküll-Kriszat, Streifzüge-, Lorenz, Rückseite, insb. Kap. VII. Vgl. u. Anm. 131 und den darauffolgenden Text.

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wältigen soll. Daraus folgt wiederum, daß die Widerlegung des älteren Funktionalismus (Malinowski, Parsons) keineswegs der Annahme des neueren bedarf, demzufolge Funktion eigentlich keine feste Leistung bzw. keine feste Befriedigung von festen Bedürfnissen, sondern Alternativen und Selektion bedeute 39 ; denn es reicht theoretisch aus, im Auge zu behalten, daß das, was eine soziale Leistung „wahrhaft" ist, immer ein Interpretationsproblem ausmacht, wobei Interpretationsprobleme (eben in ihrer Eigenschaft als Sinn- und Kommunikations-, also Selektionsprobleme) Machtfragen sind, die mit Entzweiung der Perspektiven, Entzweiung der interessierten Subjekte und Alternativenbildung zusammenhängen. In ähnlichem Sinne kann man daran erinnern, daß die Phänomene der Gegenseitigkeit und des Austausches als Grundlage der Herausbildung „normaler" Erwartungen und institutioneller „Normalitäten" schon in den 20er Jahren von bedeutenden Ethnologen (Thurnwald, Malinowski, Mauss) erforscht wurden oder daß die Mechanismen der Interaktion bzw. Interpénétration ebenfalls noch vor dem Zweiten Weltkrieg sowohl in der phänomenologischen Anthropologie als auch in der Schule des symbolischen Interaktionismus im Mittelpunkt der theoretischen Aufmerksamkeit gestanden haben. Und ebensowenig bedarf der Sozialtheoretiker einer Systemtheorie oder eines kybernetischen Vokabulars, um etwa die Bedeutung einer Zielsetzung gegenüber der Außenwelt für die Kohärenz eines politischen Kollektivs zu begreifen oder die Relevanz des Empfangens von Informationen und der Reaktion darauf für die Gestaltung dieser selben Zielsetzung sachgerecht zu beurteilen 40 . Dies alles gehört nicht nur zum sozialtheoretischen common sense, sondern auch zum Gedankengut der alten und neuen Politik oder Historie - von Thukydides' Schilderung des Aufstiegs und Zerfalls von Bündnissen und Hegemonien bis zu Toynbees challenge-response-Schema. Schließlich, um auf eine deutsche Debatte zu kommen 4 1 , ist es überhaupt nicht nötig, die institutionell abgesicherte Systemrationalität aufzubieten, um die schwachen Stellen der Kommunikationsutopie und die Unmöglichkeit aufzuzeigen, soziales Leben auf Diskurs zu gründen; eine dezisionistische Institutionenlehre könnte z. B. - als eine von einigen sozialtheoretischen Alternativen - zu denselben ernüchternden Ergebnissen kommen, wie sie auch in der Tat noch vor der Systemtheorie gekommen ist. Der Gebrauch von Begriffen und Gedanken nicht systemtheoretischer Herkunft im systemtheoretischen Rahmen könnte epistemologisch nur durch den Nachweis legitimiert werden, diese erhielten erst im Zusammenhang des Systems ihre volle sozialtheoretische Relevanz und Bedeutung. Ein solcher Nachweis würde aber seinerseits einen strengen sozialtheoretischen (also nicht bloß den allgemeinen kybernetischen) Systembegriff bzw. eine begründete Erklärung darüber voraussetzen, warum der Zusammenhang der Phänomene, auf die jene Begriffe und Gedanken verweisen, nicht etwa einfach „Gesellschaft", sondern ausgerechnet und spezifisch „System" genannt werden müsse. Die Beweislast wächst in dem Maße, wie die Systemtheorie individualistische (behavioristische, ökonomistische oder interaktionistische) Denkansätze positiv aufnimmt, die programmatisch mit dem Anspruch aufgetreten waren, den Sjiiewcharakter der Gesellschaft zu bestreiten. Und die Aufgabe ist längst nicht 39 So z. B. Luhmann, Soziol. Aufklärung, I, 22. 40 So z. B. K. Deutsch, Politische Kybernetik, insb. Kap. 11. 41 Habermas-Luhmann, Theorie der Gesellschaft.

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erledigt, wenn der Systemtheoretiker (übrigens zu Recht, wie ich meine) geltend macht, aufgrund individualistischer Prämissen lasse sich das Faktum des gesellschaftlichen Ganzen nicht rekonstruieren; denn es ist noch immer die Frage nicht geklärt, warum dieses Ganze „System" heißen soll - diese Frage steht also auf einem anderen Blatt als die Stellung, die man im Streit zwischen methodologischem Individualismus und Holismus bezieht42. Nun, gerade die Antwort darauf blieben bisher die Systemtheoretiker schuldig43, und ihr Ubergang zum Konzept des offenen Systems vergrößerte eher ihre (uneingestandenen) diesbezüglichen Schwierigkeiten als daß er sie verminderte. Dieses Konzept wurde ja, wie wir wissen, vornehmlich entwickelt, um den Phänomenen der Wandlung und des Konflikts gerecht zu werden, doch eben durch Konflikt und Wandlung jenseits einer bestimmten Intensität oder Grenze gehen „Systeme" zugrunde. Soll das Konzept sinnvoll und brauchbar sein, so muß es nicht bloß die Offenheit an sich und überhaupt, sondern die Offenheit von einem System bedeuten, das ohne Grenzen nicht mehr das leisten kann, was von ihm vor allem erwartet wird: die Reduktion von Komplexität und die Sinnstiftung, die sich bei voller Offenheit und Flüssigkeit einfach darin auflösen müssen. Die Offenheit des Systems sollte die Substitution des Strukturbegriffes durch den Funktionsbegriff ermöglichen; da aber Offenheit die Offenheit eines Systems bleiben muß, so stößt die unternommene Uberwindung des alten sturen Funktionalismus durch einen flexiblen neuen auf die alten Aporien, und zwar auf eben diese: Dienen alle beobachtbaren Funktionen dem System bzw. haben alle beobachtbaren funktionalen Elemente des sozialen Lebens eine systemische Funktion oder nicht? Die Theorie des offenen Systems konnte diese Frage ebensowenig beantworten wie die frühere Auffassung vom System als funktionalem Gleichgewicht, und sie hat es nicht einmal versucht; eigentlich diente sie dazu, die Systemtheorie dadurch gegen Kritik zu immunisieren, daß eben das, was gegen sie vorgetragen wurde, nun ohne viel Federlesens in das unbegrenzt geöffnete System aufgenommen wurde. Im Lichte dieser Feststellungen darf über das „System" dasselbe gesagt werden, was Boudon über die „Struktur" schrieb: Es ist eine geradezu magische Denkweise, zu meinen, die Betrachtung eines Objekts als System würde ausreichen, um eo ipso eine wissenschaftliche Mutation auslösen zu können; entweder wird der Terminus konventionell oder einfachheitshalber verwendet - und dann ist er ersetzbar - oder aber er dient als Definition eines Objekts - und dann erinnert er an eine realistische Metaphysik; er will selber Beweisführung und Methode in Einem sein, ohne sich vergegenwärtigen zu wollen, daß Methode und Beschaffenheit des Objekts zwei verschiedene Dinge sind44. Die magische Denkweise der Systemtheorie wurde von der ideologischen Absicht gespeist, das ideale Selbstverständnis einer bestimmten Gesellschaft, wie dies wenigstens in der Perspektive eines Flügels ihrer Ideologen erscheint, dieser selben Gesellschaft als Interpretationsschema überzustülpen. So gesehen ist die 42 S. Kap. II, Absch. 2 C in diesem Band. 43 Als solche Antwort kann nicht die Aussage gelten, was die Theorie mit dem Begriff „System" bezeichne, werde eo ipso als Teil der Wirklichkeit gesetzt, der Systembegriff bezeichne also etwas, was wirklich System sei (Luhmann, Soziale Systeme, 19, 30). Abgesehen davon, daß das Argument strukturell an den ontologischen Gottesbeweis erinnert, kann es beliebig zugunsten der Wirklichkeitstreue jeder Theorie angeführt werden. 44 A. quoi sert la notion, insb. ch. II-III.

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Systemtheorie Symptom, nicht Interpretation der Gesellschaft, innerhalb derer sie konstruiert wurde. Und wenn sie nicht zu erklären vermag, warum denn Gesellschaft überhaupt und heutige Gesellschaft insbesondere als System im spezifischen und strengen Sinn begriffen werden müsse, so darf man die Frage umkehren und folgendermaßen formulieren: Wie ist jene Gesellschaft beschaffen, die sich wenigstens in einigen ihrer theoretischen Produkte als System verstehen möchte? Im Hinblick auf den sozialtheoretisch unspezifischen Charakter der Rede von „System" sind zwei zusätzliche Bemerkungen angebracht. Erstens kann die durchgehende Funktionalisierung der Systemtheorie den Systembegriff schon deswegen nicht weiter präzisieren, weil Funktion und System begrifflich und geistesgeschichtlich überhaupt nicht zusammengehören. Die Begründer der formalen Soziologie hatten bereits den Funktionsgedanken zu Ende gedacht, denn sie wußten um seine konstitutive Bedeutung für die Disziplin, die sie aufbauen wollten 45 . Der ethnologische Funktionalismus, der dann über Dürkheim (und nicht nur über ihn) in Parsons' Systemkonzept überging, hat aber die Funktion auf das soziale Bedürfnis und dessen Befriedigung bezogen, was die Vorstellung vom Gleichgewicht in den Vordergrund rücken ließ; und als die Verfechter des offenen Systems gegen diese Vorstellung die antisubstanzialistische Spitze des Funktionsgedankens richteten, da kehrten sie unbewußt zum Funktionsbegriff der formalen Soziologie zurück, welcher freilich von irgendeinem „System" nichts wissen konnte und wollte. - Zweitens ruft die grundsätzliche Verbindung des Systembegriffes mit der Leistung der Komplexitätsreduktion schon im Ansatz der kybernetischen Sozialtheorie eine tödliche Zweideutigkeit hervor. Es geht um die Vermischung der Perspektive der im realen „System" handelnden Subjekte mit der Perspektive des Theoretikers, der das „System" als Theorie konstruiert und daher jene Subjekte als Objekte der Theorie behandelt. Beschreibt die Systemtheorie die Art und Weise, wie die Subjekte innerhalb der Gesellschaft Komplexität reduzieren, um sozial - individuell oder kollektiv - handeln zu können, oder spiegelt sie die Reduktion der Komplexität sozialer Vorgänge wider, wie sie der Systemtheoretiker unternehmen muß, um eine Konstruktion auf der Ebene des Abstrakt-Allgemeinen zu errichten? Die beiden Reduktionen bewegen sich offenbar auf verschiedenen Ebenen, aber darüber hinaus unterscheiden sie sich auch in ihrer Beschaffenheit. Denn der Handelnde (als Objekt der Systemtheorie) ist keineswegs verpflichtet, seiner Reduktion die Form eines „Systems" im systemtheoretischen Sinne des Wortes zu geben, sonst wären angesichts der Unentbehrlichkeit der Reduktion fürs Handeln nur die Anhänger der Systemtheorie handlungsfähig. Nur der Systemtheoretiker (der Handelnde als Urheber einer bestimmten Theorie) muß seine eigene Reduktion „System" nennen. Die in der Gesellschaft stattfindenden Reduktionen werden also in das „System" als Theorie nicht unverändert und unverkürzt aufgenommen, sondern die Systemtheorie konstruiert sich aufgrund eigener Überlegungen über die Art und Weise, wie jene Reduktionen zusammenhängen, um die Gesamtreduktion zu bilden, die „System" heißen soll. Anders gewendet: Reduktionen sind auf allen Ebenen (der des Beobachters und der des Beobachteten) unvermeidlich und unentbehrlich, es gibt mehrere brauchbare Reduktionen gleichzeitig, und die des Systemtheoretikers bildet eine unter ihnen. Daher fallen „System" im 45 S. Kap. III, Abschn. 1A in diesem Band.

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systemtheoretischen Sinne und Reduktion von Komplexität keineswegs zusammen, da letztere auch von einer Theologie z. B. oder irgendeiner anderen Ideologie geleistet werden kann. Weder kann Systemtheorie die Reduktion von Komplexität für sich monopolisieren, noch genügt das Kriterium dieser Reduktion zur Annahme der Systemtheorie. Letzteres ginge nur dann, wenn der Standpunkt des Systemtheoretikers sozial maßgeblich wäre, wenn also alle sozialen Subjekte ihre Reduktionen in Form einer Systemtheorie vornehmen würden. Betrachtet sich Systemtheorie schon deswegen als richtige Schilderung der Gesellschaft, weil in letzterer Reduktion von Komplexität stattfindet, so dürfte jede Schilderung der Gesellschaft denselben Anspruch auf Richtigkeit erheben, da jede auf der Basis von Reduktionen zustande kommt. So gesehen könnte man die paradoxe Behauptung aufstellen, die treffende Schilderung einer Gesellschaft sei die in ihr herrschende Ideologie, und die Systemtheorie beschreibe die zeitgenössische Gesellschaft in eben dem Maße zutreffend, wie sie deren Ideologie bilde bzw. wie sie die Reduktionen festlege, innerhalb derer sich Handeln bewegen müsse. Systemtheorie will zwar erklärtermaßen die Selbstbeschreibung der zeitgenössischen Gesellschaft sein, aber nicht in diesem paradoxen Sinne, sondern buchstäblich und als wissenschaftliche Theorie. Hier wird die Annahme impliziert, die Funktionsweise dieser Gesellschaft selbst gebiete, daß das Selbstverständnis derselben wissenschaftlich bzw. kybernetisch-systemtheoretisch und nicht ideologisch nach herkömmlicher Manier sein müsse; ergo fielen Selbstverständnis bzw. Selbstbeschreibung der Gesellschaft und richtige wissenschaftliche Theorie miteinander zusammen. Dem Anspruch liegt also nicht viel mehr zugrunde als die Banalität vom Ende der Ideologien. Und auch davon abgesehen, daß in ihm das zu Beweisende vorausgesetzt wird, (denn jede Theorie kann sich auf ihre Praktikabilität als Beweis ihrer wissenschaftlichen Wahrheit berufen, die Praktikabilität kann aber sehr wohl auf die oben erklärte paradoxe Art und Weise zustande kommen, also muß die Wahrheit der Theorie anders bewiesen werden), so bleibt es eher fraglich, ob die Schilderung einer Gesellschaft anhand jener Begriffe unternommen werden soll, darf oder muß, die sie zu ihrer Selbstbeschreibung verwendet46. Ist die funktionalistische Systemtheorie deswegen wissenschaftlich empfehlenswert, weil sich unsere Gesellschaft als funktionales System versteht, so wäre z. B. nur die substantialistische Metaphysik das geeignete Denkmittel zur Erfassung des christlichen Mittelalters. (Letzteres Beispiel zeigt 46 Verwendet man zur Schilderung einer Gesellschaft ihre eigenen Begriffe (und zwar nicht bloß als Indizien für ihre reale Lage, sondern als theoretisches Instrumentarium), so muß man schlußfolgern oder voraussetzen, Begriffe und Ideen seien bloße Widerspiegelungen gesellschaftlicher Vorgänge. Dieser naiven Erkenntnistheorie verfällt Luhmann, wenn er die Ebene der Selbstbeschreibung menschlichen Verhaltens mit jener der sozialen Wirklichkeit bzw. menschlichen Verhaltens überhaupt verwechselt. So bietet er Schilderungen von Handeln bzw. das Selbstverständnis von Handelnden aus dem 18. Jahrhundert auf, um zu beweisen, daß sich Handeln und System in der Moderne real anders aufeinander beziehen als in vormodernen Zeiten (Sozial. Aufklärung, III, 59ff.). Dabei wird höchst selektiv verfahren, so daß die Vielheit der Positionen und Gegenpositionen in jeder Epoche aus dem Blick gerät; vor allem wird die symbolische und polemische Relevanz der (Selbst-) Schilderung kaum wahrgenommen und so geredet, als ob letztere ideelle Kopien vom realen Handeln wären und nicht Aussagen von Menschen, die in ihrer konkreten Lage ihr Handeln so schildern bzw. rationalisierten wollten oder mußten. Im 3. Band dieses Werkes werden wir ausführen, daß und warum sich reales Handeln von Mensch zu Mensch und von Zeit zu Zeit viel w e n i g e r ändert als seine B e g r ü n d u n g oder Schilderung. Vgl. u. A n m . 85.

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übrigens deutlich, daß die Identifizierung der Selbstbeschreibung mit der theoretischen Erfassung einer Gesellschaft ideologischen Charakters sein muß.) Mehr noch: Es läßt sich schwer vorstellen, was der Ausdruck „Selbstbeschreibung der Gesellschaft" überhaupt bedeuten könnte. Die Gesellschaft als Autorin, die sich selbst beschreibt, gibt es bekanntlich nicht; die Beschreibung der Gesellschaft wird in Wirklichkeit von mehreren Seiten gleichzeitig in Angriff genommen, deren jede ein Wahrheitsmonopol für sich beansprucht und daher behaupten muß, ihre Beschreibung sei eigentlich so echt, daß sie die Selbstbeschreibung der Gesellschaft abgeben könne (vgl. die Selbsteinschätzung des Hegeischen Systems als Selbstbeschreibung der Geschichte). Gerade deswegen, weil es mehrere „Systembeschreibungen", also mehrere Reduktionen der Komplexität auf der Ebene der einzelnen Akteure gibt, steigt die Komplexität auf der Ebene des „Systems". Wird die Gesellschaft als Ganzes betrachtet, in dem verschiedene Reduktionen von Komplexität seitens verschiedener einzelner Akteure komplementär enthalten sind, so handelt es sich hier um die Reduktion eines Dritten, d. h. eines Theoretikers. Aber wir wissen, daß die Systemtheorie a limine die beiden Typen und Ebenen von Reduktion miteinander vermischt. Die Reduktion des Theoretikers wäre dann eine Selbstbeschreibung der Gesellschaft, wenn sich alle Akteure innerhalb des „Systems" mit ihr identifizieren würden. Lassen wir den außerhalb des „Systems" stehenden Theoretiker beiseite und verweilen wir im „System", so reduziert sich dessen Komplexität dadurch, daß sich eine der von mehreren Akteuren (seien sie nun Theoretiker oder nicht) vorgeschlagenen Reduktionen bzw. Selbstbeschreibungen der Gesellschaft gegen die anderen durchsetzt, also zur vorherrschenden Ideologie und Handlungsweise wird. In diesem Fall kommen wir aber auf unsere vorherige paradoxe These zurück: Systemtheorie bildet nur in dem Maße und Sinne die Selbstbeschreibung der heutigen Gesellschaft, in dem sie die in dieser vorherrschende Ideologie ist. Ob sich die Beschreibung einer bestimmten Gesellschaft als ihre Selbstbeschreibung ausgeben will oder nicht, so muß sie jedenfalls die spezifischen Merkmale derselben angeben, die sich gegen die entsprechenden Merkmale anderer historischer Gesellschaften sowie gegen jene der Gesellschaft als übergeordnetem Gattungsbegriff abheben müssen. Nun beschreibt zwar die Systemtheorie Phänomene, die für die westliche Massendemokratie charakteristisch sind (z. B. die „formalen Organisationen"), dies ist dennoch keineswegs ihr ausschließliches Privileg. Maßgeblich ist vielmehr, daß sie dabei Begriffe verwendet, die bei der Beschreibung jeder Gesellschaft bzw. der Gesellschaft überhaupt herangezogen werden können. Reduktion von Komplexität, Sinn und Kommunikation als Selektionsvorgänge etc. etc. sind in allen historisch bekannten Gesellschaften anzutreffen, gleichgültig, wie sie sich jeweils aktualisieren. Infolgedessen bleibt schließlich als einzige Angabe von realen Spezifika moderner Gesellschaft der Hinweis auf ihre enorme Komplexität übrig. Läßt sich aber diese Komplexität anhand desselben Instrumentariums erfassen wie die Funktionsweise weniger komplexer Gesellschaften auch, so bildet Komplexität eine bloß quantitative Größe, etwas, das einfach wächst, ohne daß sein Wachstum je jenen qualitativen Charakter erreicht hätte, der sich in einer wesentlich neuen Begrifflichkeit niederschlagen müßte. Gewiß, man könnte einwenden, die Komplexität hätte jetzt ein solches Ausmaß angenommen, daß ein Übergang zur funktionalistischen Betrachtungsweise zwingend erscheine. Doch abgesehen davon, daß Funktionalismus

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und Systemtheorie, wie bemerkt, keineswegs miteinander einhergehen müssen, beruht jener Einwand auf der Verwechslung von Methode und Gegenstand bzw. von theoretischem Verstehen von Handlungen und Selbstverständnis der Akteure miteinander. Wenn z. B. die Theorie des offenen Systems die programmatische Funktionalisierung der theoretischen Analyse mit der Absage an die These von der primären Bedeutung von Normen und Werten für die soziale Ordnung verbindet, so wird angenommen, dem entspreche eine tatsächliche Durchsetzung der funktionalen Denkweise bei den Handelnden in einer sich ständig differenzierenden Gesellschaft. Es ist indes nicht einzusehen, warum eine Gesellschaft, in der an Normen und Werte wie an Substanzen geglaubt wird, nicht funktionalistisch beschrieben werden kann es sei denn, man nimmt das Selbstverständnis der Akteure in seinem Nominalwert. Dies impliziert natürlich, daß man auch dann das funktionalistische Selbstverständnis einer Gesellschaft nicht akzeptieren muß, wenn man nichts gegen die funktionalistische Betrachtungsweise hat: Denn das funktionalistische Selbstverständnis wird nicht unbedingt im Sinne der funktionalistischen Betrachtungsweise sozial funktionalisiert. Die angebliche „Selbstbeschreibung" des Systems erweist sich schließlich deshalb als ideologisches Konstrukt und Produkt des Wunschdenkens, weil sie sich an einer idealen Auffassung vom System orientiert, (schon der Begriff „System" enthält eine stark idealisierende Komponente), die durch ihre Erklärung zur realen Gegebenheit herbeigeredet werden soll. Ein enger Mitarbeiter Parsons' lobte dessen Theorie, weil sie, indem sie die konsensuellen Grundlagen der Gesellschaften schildere, einen Aspekt jenes Prozesses bilde, durch den Gesellschaften „even more consensual" würden 47 . Nicht anders verhält es sich mit der neueren Systemtheorie und der „Selbstbeschreibung" des Systems, obwohl der Konsens nicht mehr im Mittelpunkt steht. Dem „System" wird dadurch zur Durchsetzung in der Gesellschaft verholfen, daß seine idealisierte Version die Selbstbeschreibung der Gesellschaft genannt wird. Da in der wissenschaftlichen Fiktion, die „Selbstbeschreibung der Gesellschaft" heißt, Ordnung herrschen muß, so wird dann aus der (logischen) Ordnung der Fiktion die reale Ordnung in der Gesellschaft abgeleitet, bzw. diese mit jener identifiziert. Und da die logische Ordnung eine Totalität ausmacht, so wird die Ordnung im System nicht als Wirkung des einen oder des anderen seiner Bestandteile (z. B. der Normen und der Werte) betrachtet, sondern mit der Totalität gleichgesetzt. Vor allem darf Ordnung nicht vom Handeln konkreter Akteure abhängen. Sowohl der Zweck- als auch der Rationalitätsbegriff werden aus der Handlungstheorie in die Systemtheorie verlegt; es gibt zwar keine absoluten Kriterien der Rationalität des Handelns von „psychischen" oder „sozialen" (Teil-)Systemen, doch ist deren Kontrollierbarkeit und Berechenbarkeit im Hinblick auf die Ordnungsfrage irrelevant, da Ordnung durch die „Systemrationalität" garantiert werde, die die Fähigkeit besitze, sogar Zufälle und Irrtümer ins Positive zu wenden 48 . Dieser Wink deutet auf eine wichtige 47 Shils, „The Calling of Sociology", insb. 1420f„ 1429f., 1432, 1440f. 48 S. z. B. Luhmann, Politische Planung, 74; Soziale Systeme, 157, 165. Luhmann wiederholt hier Buckleys Wiederholung von Homans' Diktum, angesichts der Kontingenz individuellen Handelns sei soziale Ordnung („custom") an sich unwahrscheinlich, ein wahres „miracle" (Human Group, 282; vgl. Devereux, ,,'Parsons' Sociological Theory", 33 f. Parsons' Sorge um das soziale Gleichgewicht gründete in der Überzeugung, „that society represents a veritable powder keg of conflicting forces ... That any sort of equilibrium is achieved at all ... represents for Parsons

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geistesgeschichtliche Quelle des Gesamtkonzepts hin. Wir meinen die alte liberalökonomistische Mythologie der unsichtbaren Hand, die „private vices" in „public benefits" zu verwandeln vermag. Hier, wie in der Systemtheorie, wird indes die Wirkung der Heterogonie der Zwecke einseitig auf das happy end der Ordnung fixiert und geflissentlich übersehen, daß sie in mehreren geschichtlichen Situationen nicht nur die Grenzen der vorhandenen Ordnung zugunsten einer anderen, ungewollten und unvorhergesehenen, Ordnung sprengen, sondern auch für kürzere oder längere Zeiträume die erträgliche Unordnung in eine unerträgliche verwandeln kann 49 . Es wird außerdem die Möglichkeit nicht in Erwägung gezogen, daß gerade systemkonformes Verhalten von allen Seiten äußerst schädliche Folgen für das „System" als Ganzes zeitigen könnte (dies wäre die Umkehrung der Kanalisierung von private vices in public benefits), und auch kaum über den Zusammenhang zwischen Komplexität der Gesellschaften und Unberechenbarkeit des „Systems" reflektiert. In der Tat, manches spricht für die Annahme, kybernetische Steuerungsutopien würden gerade durch diese Komplexität unrealisierbar, zumal die wachsenden Ressourcen und Optionen, über die immer mehr Individuen verfügen, die Wahrscheinlichkeit unvorhersehbarer Effekte kollektiven Handelns steigen läßt 50 . In dunkler Vorahnung solcher Unwägbarkeiten hat die Systemtheorie in ihren Korpus gewisse Berechenbarkeitsgarantien eingebaut, die über das übliche totale Schweigen vom Ausnahmezustand hinausgehen. Sie wagt es nicht, die These über die Unabhängigkeit der Systemordnung von der Berechenbarkeit und Kontrollierbarkeit ihrer Bestandteile zu Ende zu denken, und dementsprechend läßt sie die Systemrationalität nicht etwa über blinde Leidenschaften walten, mit denen die Hegelsche List der Vernunft ohne weiteres fertig werden konnte, sondern der menschliche Rohstoff, den sie der Systemrationalität zur Bearbeitung übergibt, ist bereits gezähmt und veredelt: Die „Personalsysteme" sollen zwar etwas anderes als der konformistische homo sociologicus sein, doch sie funktionieren auch über Tauschmechanismen, die Erwartungen erfüllen, Vertrauen bilden und dauerhafte Normalitäten festigen. Im Hintergrund dieses Konzepts stehen allerdings behavioristische und ökonomistische Annahmen, die die Systemtheorie faktisch mit anderen zeitgenössischen Hauptrichtungen in der Sozialtheorie teilt, obwohl sie deren individualistische Prämissen nicht akzeptieren will. Dadurch findet sie Anschluß an wichtige Aspekte des durch die ökonomistische Rationalität geprägten Zeitgeistes, ohne dabei durch den Primat des Systems seine individualistischen Neigungen ganz zu enttäuschen. Die Nivellierung der Hierarchien zwischen den Teilsystemen und die Beseitigung der normativen Instanzen im „offenen System" werten das „Personalsystem" something both of a miracle and challenge"; es sei erinnert, daß Gehlen auch die Kultur als „unwahrscheinlich" bezeichnete, Urmensch, 105). Wie bereits gesagt, ist zu einer solchen Annahme nur jemand berechtigt, der wie Homans Gesellschaft und gesellschaftliche Ordnung an Hand der Prämissen des methodologischen Individualismus konstruieren möchte. Da der Systemtheoretiker seinerseits vom Faktum des Systems und dessen Rationalität ausgeht, kann er die Ordnung als gleichursprüngliches Faktum und Unordnung nur innerhalb der Grenzen der Ordnung gelten lassen; die kontigente oder freie Mischung bzw. gegenseitige Abwechslung von Ordnung und Unordnung macht indes die Rede vom „System" sinnlos. Uber unsere sozialontologische Lösung des Problems der Ordnung bzw. Unordnung s. Kap. II, Abschn. 3B in diesem Band. 49 S. dazu Kap. II, Abschn. 2Cb in diesem Band. 50 Boudon, Unintended Consequences, 8.

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im Sinne des massendemokratischen Individualismus auf, sie eröffnen ihm eine größere Vielfalt von möglichen Beziehungen und bieten seiner Selektivität breitere Räume - und dies alles sogar als Voraussetzung für das Funktionieren des Systems, in dessen Rahmen die Eigenselektivitäten kompatibel werden 51 . Reiche Auswahl ohne normativ-ethischen Druck - dies ist nicht sehr weit vom Ideal des massendemokratischen individualistischen Hedonismus entfernt. Hinzu kommt das entlastende Gefühl, daß eigene Fehlentscheidungen oder kleine Sünden durch die Systemrationalität kompensiert werden, so daß schließlich das Böse dem Guten dient. So sieht die Theodizee des atheistischen oder pantheistischen Zeitalters aus. Unsere inhaltliche Auseinandersetzung mit der Theorie des kommunikativen Handelns und mit der ökonomistischen Sozialtheorie findet sich in anderen Partien dieses Bandes 52 . Hier wollen wir kurz auf jene strukturellen Aspekte von beiden hinweisen, die ihre gemeinsame Zugehörigkeit zur massendemokratischen Denkfigur vor Augen führen. Die Kommunikationstheorie, wie sie von Habermas entworfen wurde, mißt dem ethisch-normativen Element einen hervorragenden Platz bei und insofern scheint sie sich von ihren Gegenspielern durch eine unüberbrückbare Kluft zu trennen. Die Rehabilitierung des Ethisch-Normativen bedingte übrigens ihre Abgrenzung gegen die Theorie des offenen Systems und ihre (teilweise) Rückkehr zu jenen Soziologen, gegen die sich eben die kybernetische Systemtheorie gewandt hatte, nähmlich Parsons und Dürkheim 53 . Zweifelsohne machte sich auch die Kommunikationstheorie zentrale Losungen der Kulturrevolution zu eigen, indem sie die Autonomie mit der „Selbstverwirklichung" koppelte; andererseits beschnitt sie aber die hedonistischen und anarchischen Uberwucherungen dieser letzteren durch deren Einordnung in das übergreifende Ideal einer universalen Ethik. Wie bei Parsons, so sollte auch hier das Ethisch-Normative für den Zusammenhalt, also schließlich für die Berechenbarkeit des Sozialen sorgen oder gar bürgen. Nun wissen wir, daß auch der kybernetischen Systemtheorie, bei aller Öffnung zu Konflikt und Wandel, Berechenbarkeit nicht weniger am Herzen lag. Aber während die Kommunikationstheorie das Gespenst des Unberechenbaren oder Chaotischen durch die universale Verbindlichkeit des Ethischen und durch die quasi prästabilierte Harmonie die Geister vertreiben wollte, wie sich diese aus der Struktur „wahrer" Kommunikation selbst ergeben müßte, bot die erneuerte Systemtheorie gegen eben dieses Gespenst die „Systemrationalität" auf, die ihrerseits das Ethisch-Normative ebenso wie die es tragenden „Personalsysteme" in Funktionen auflösen und daher instrumenteil betrachten mußte, wobei das Inhaltliche auf der ganzen Linie vor dem Formal-Verfahrensmäßigen zurückgewichen ist. Gerade hier setzen indes die für unsere Fragestellung sehr wichtigen strukturellen Gemeinsamkeiten zwischen funktionalistischer Systemtheorie und Kommunikationstheorie ein. Denn letztere wollte ebensowenig wie erstere dem traditionellen Substanzialismus (in der Ontologie oder in der Anthropologie) verhaftet sein, sie schloß daher eine inhaltliche Ableitung des EthischNormativen aus substanziell vorgegebenen Größen aus. Zur Ableitung der Inhalte blieben nach Beseitigung der Substanzen nur Verfahren übrig; die Einhaltung eines 51 S. z. B. Luhmann, „Interpénétration". 52 Kap. IV, Abschn. IE, 2Db. 53 T h e o r i e des k o m m . H a n d e l n s , I,69ff., 297.

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bestimmten Verfahrens avancierte m. a. W. zum Maßstab, an dem die Plausibilität der Inhalte gemessen werden mußte. Echter Konsens wird da erzielt, wo die Regeln echter Kommunikation angewandt werden, aber zwischen so verstandenem echtem Konsens und wahren Inhalten kann keine logisch zwingende Beziehung hergestellt werden 54 ; bei voller Einhaltung des vorgesehenen kommunikativen Verfahrens kann sich z. B. eine Gemeinschaft von Menschen oder das Menschengeschlecht für den kollektiven Selbstmord entscheiden, es sei denn, mancher konsensuelle Inhalt ist von vornherein und auf immer verboten. Aber von wem und auf Grund welcher Kriterien? Von ähnlichen Aporien, den inhaltlichen Ausgang der formal-funktionalistisch aufgefaßten Systemrationalität betreffend, ist auch die Systemtheorie keineswegs frei, und sie entgeht ihnen nur dadurch, daß sie, wie gesagt, die Allüren einer Theodizee annimmt. Indem sie das tut, um unvorhersehbaren und unberechenbaren Katastrophen einen Riegel vorzuschieben, trifft sie sich mit der Kommunikationstheorie auf einer zweiten und tieferen Ebene, jener der Wünsche und der Absichten. Sie scheint zu implizieren, auch in einer höheren ethischen Hinsicht habe sie schließlich von der Kommunikationstheorie nicht viel zu lernen, denn gerade die Beseitigung der ethisch-normativen Faktoren zugunsten der Systemrationalität (frei nach Hegel: der Moralität zugunsten der Sittlichkeit), komme am Ende dem zugute, worauf es, jenseits moralistischer Rhetorik, ethisch ankommt - auf den Zusammenhalt der Gesellschaft und die „Normalität" im sozialen Leben. Gäbe es diese tiefere ethisch-normative Gemeinsamkeit zwischen den beiden Positionen nicht, so würden sie sich nicht durch eine und dieselbe strukturelle Lücke auszeichnen. Denn weder erklärt die Systemtheorie, wie und wodurch ein System zugrunde geht, noch weiß die Kommunikationstheorie über Krieg und Feindschaft Rechenschaft abzulegen. Es scheint beiderseits nicht zu stören, daß dabei elementare epistemologische Gebote verletzt werden. Denn das erste, was eine Theorie leisten muß, die wissenschaftlich sein will, ist eine Erklärung eben jener Phänomene, die ihr prima facie widersprechen. Der anfängliche Gegensatz zwischen Kommunikations- und Systemtheorie hinsichtlich der Einschätzung des ethisch-normativen Faktors wird zudem durch ihre gemeinsame Absage an die Bewußtseinsphilosophie abgeschwächt. Infolge dieser Absage versetzt sich die Kommunikationstheorie in die prekäre Lage, ethisch-normative Rationalitätsideale zu verfechten, die ursprünglich in der Bewußtseinsphilosophie beheimatet waren, während sie gleichzeitig ihren klassischen Begründungszusammenhang nicht gelten lassen will; sie nimmt die aufklärerische Moderne gegen die relativistische Postmoderne in Schutz und bekennt sich gleichzeitig zu demselben Paradigmenwechsel, der den Ubergang von der ersteren zur letzteren markiert. In seinem Eifer, den Anschluß an die gerade herrschenden Trends nicht zu verpassen, wird Habermas nicht einmal durch die vielsagende Tatsache stutzig, daß der Abschied von der Bewußtseinsphilosophie und der Anthropologie den intellektuellen Ausgangspunkt eben jener Richtungen abgegeben hat, die den ethisch-normativen Idealen der bürgerlichen Aufklärung am entschiedensten den Rücken kehrten. Die Erinnerung an die maßgeblichen Versionen des Strukturalismus stellt sich hier quasi automatisch ein, aber noch lehrreicher ist vielleicht ein Hinweis auf die Herkunft der 54 Dazu Bernsen, „Elementary Knowledge"; Ferrara, „A Critique".

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„linguistischen Wende" aus den Bemühungen des Neopositivismus, den verführenden Einfluß der Sprache und überhaupt die Unwägbarkeiten des „subjektiven" oder „menschlichen" Faktors durch die Schaffung eines luziden und kommunikativ verbindlichen sprachlichen Organs auszuräumen. Es mag paradox klingen und dennoch ist es wahr: Wenn die Theorie des kommunikativen Handelns der Bewußtseinsphilosophie und der Anthropologie ausweicht, um die Verbindlichkeit des Ethisch-Normativen mit der Verbindlichkeit sprachlich-kommunikativer Regeln zusammenzuführen und zu denken, dann versucht sie auf dem Gebiet der Sozialtheorie dasselbe, was der Neopositivismus auf dem Gebiet der Erkenntnistheorie und der Epistemologie vergeblich unternommen hat, nämlich Handlungen aus dem richtigen Sprachgebrauch herzuleiten. Der Verdrängung der Bewußtseinsphilosophie durch die der Sprache auf der Ebene der philosophischen Fragestellungen entspricht der Abwertung des Begriffs „Handeln" zugunsten des Begriffs „Kommunikation" auf der Ebene der Sozialtheorie; der Ausdruck „kommunikatives Handeln" signalisiert die neuen Prioritäten innerhalb dieser Korrelation. Die unreflektierte Anlehnung der Kommunikationstheorie an Denkansätze, von denen sie ansonsten nicht viel wissen will, kommt an diesem Knotenpunkt von neuem zum Vorschein. Denn die programmatische Definition der Gesellschaft von der Kommunikation und nicht mehr vom Handeln her ist ein Werk der Kybernetik 55 , die den Handlungsbegriff dadurch entkräftete, daß sie ihn vom subjektiv gemeinten Sinn loslöste, indem sie Zwecke ledig jeder Intention oder Motivation annahm 56 ; die Verbindung des kybernetischen Ansatzes in der Biologie mit der vorrangigen Betrachtung des Menschen als animal symbolicum57stellte den theoretischen Primat der Kommunikation auf eine noch breitere Grundlage. Und da der Zusammenhang zwischen Kommunikation und Selektion ebenfalls schon innerhalb des kybernetischen Denkmodells herausgearbeitet worden war 58 , so konnte sich die Theorie der offenen sozialen Systeme mühelos dieser Begrifflichkeit anschließen, also das Sozialsystem als Kommumkationssystem und seine „Teilsysteme" als Kommunikationsmedien auffassen. Ihr Kommumkationsbegriff war daher notgedrungen allumfassend, d. h. er enthielt gleichermaßen ethisch-normativ lobenswerte und verwerfliche Akte, Akte des Konsenses und des Konflikts. Die Folgen davon für den Zusammenhalt des Systems wurden freilich kaum thematisiert, es wurde also kaum erklärt, was es für das Systemkonzept als solches bedeutet, wenn z. B. Bürgerkriege für Kommunikationsakte gehalten werden. Die Theorie des kommunikativen Handelns ging einen Schritt weiter in Richtung Berechenbarkeit, indem sie „echte" Kommunikation dem strategischen „Handeln" gegenüberstellte und zugleich derselben als Akt zur Verwirklichung der vorschwebenden ethisch-normativen Ideale den Vorrang einräumte. Welche theoretischen Schwierigkeiten diese Verengung des Kommunikationsbegriffes mit sich bringen muß, wird an anderer Stelle untersucht 59 . Hier interessieren die gemeinsame Auffassung vom Sozialen als Kommunikationsnetz sowie die sozialen Bedingungen, unter denen diese Auffassung vielen einleuchtet. 55 56 57 58

Wiener, Human Use. S. mehr dazu in Kap. IV, Abschn. lEa. Rosenblueth-Wiener, „Purposeful and Not-Purposeful Behavior" vgl. Bertalanffy, ... aber vom Menschen Ashby, Introduction, 123 f., 260. Grundlegend dazu: Shannon-Weaver, The mathematical theory

5 9 K a p . IV, A b s c h n . I C d i e s e s B a n d e s

2. "Werden und Formen zeitgenössischer massendemokratischer Sozialtheorie

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Man geht vermutlich nicht fehl mit der Annahme, der Faktor „Kommunikation" (im weiteren Sinne) gewinne in der sozialen Wahrnehmung gegenüber dem Faktor „Handeln" (im engeren Sinne) dann die Oberhand, wenn Industrie und Landwirtschaft so produktiv würden, daß sie nur die Arbeit einer Minderheit der Bevölkerung in Anspruch nehmen müßten, während die Mehrheit ihre Arbeit vornehmlich über den Tausch von Zeichen und Symbolen abwickle (von der zunehmenden Durchdringung des Produktionsvorgangs selbst durch den kommunikativ-informativen Faktor ganz zu schweigen). Die „Kommunikation" autonomisiert sich m. a. W. ideell in demselben Sinne und Maße gegenüber der „Handlung", wie immer weniger Menschen das produzieren, was sie konsumieren, und wie infolgedessen die Güterproduktion vom symbolischen Tausch (Tausch von Informationen und Geld, aber auch von Dienstleistungen, die als symbolische Interaktion aufgefaßt werden können) großenteils überdeckt oder gar aufgesaugt wird. Es entsteht somit der Eindruck, als ob Produktion bzw. Handlung sehr wenig und Tausch bzw. Kommunikation sehr viel bedeuten würde. Aber es handelt sich dabei um eine optische Täuschung. Denn der Uberschuß an Kommunikation bzw. Tausch geht auf eine ganz besondere Beschaffenheit des Handelns bzw. der Produktion zurück, und er muß unter gegebenen Umständen erzeugt werden, damit sich Handeln bzw. Produktion entfalten können: ohne Massenkonsum z. B. keine Massenproduktion. Wie das Tauschnetz moderner technisierter Gesellschaften viel weitmaschiger werden müßte, falls die Güterproduktion schwere Rückschläge erleiden sollte, so müßte auch der harte Kern der Handlung - wenn man so sagen darf - ihren engeren kommunikativen Aspekt in den Schatten stellen, wenn die Kommunikation ins Stocken geriete. Das soll heißen, daß sich der Kommunikationsvorgang als Ganzes vor dem Hintergrund und im Zeichen jenes harten Kerns abspielt, genauso wie ohne die nahe oder ferne Präsenz von handfesten Gütern Tauschwerte schließlich fiktiv und uninteressant werden. Die Kommunikationstheoretiker des ethisch-normativen oder kybernetischen Schlages legen indes auf solche Überlegungen keinen besonderen Wert. Sie verinnerlichen die Wahrnehmungskriterien der Massendemokratie und tragen zugleich das Ihrige zur theoretischen Untermauerung von deren Harmonievorstellungen bei, indem sie die realen Gegensätze des Handelns auf Kommunikationshemmnisse reduzieren. Die Beliebtheit des Kommunikationsbegriffes, die sich in der Popularität der entsprechenden Sozialtheorien niedergeschlagen hat, wurzelt aber auch auf eine noch bewußtere Art und Weise in der massendemokratischen Wahrnehmung des Sozialen. Unabhängig davon, wie dieser Begriff im jeweiligen theoretischen Kontext begründet wird, wirkt er auf das breitere lesende Publikum deswegen als magnetisierendes Zauberwort, weil er direkt oder indirekt mit dem „intersubjektiven Austausch", der „Ich-Du-Beziehung" und den damit verbundenen Selbstverwirklichungsideologien vermischt wird. Die massendemokratische Verwischung der bürgerlichen Trennungslinie zwischen Privatem und Öffentlichem wirkte sich vielfach innerhalb der Sozialtheorie in Form einer Aufwertung der mikrosoziologischen Untersuchungen und Gesichtspunkte aus, die ihrerseits an phänomenologische und existenzialistische Analysen der „Intersubjektivität" und der intersubjektiven „Lebenswelt" anknüpfen konnten. Aus der Perspektive der geistesgeschichtlichen Hauptakteure wurde diese Verschiebung als Paradigmenwechsel verstanden, bei dem der Vorrang der Bezie-

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hung zwischen Ich und Objekt durch den Vorrang der Beziehung zwischen Ich und Du abgelöst worden sei. Wahrend das erstere Paradigma den qualitativen Unterschied zwischen Mitwelt und Umwelt vernachlässigte und sowohl den Objekten als auch den (restlichen) Subjekten ein mehr oder weniger festes Ich gegenüberstellte, steht die Mitwelt im Mittelpunkt des letzteren und gewinnt ein an sich flüssiges Ich seine (jeweiligen) Konturen in einem immer offenen intersubjektiven Kommunikationsprozeß. Dieser Prozeß wurde nun, wie vor dem Hintergrund der massendemokratischen Wendung zum Privat-Subjektiven und zum Hedonismus zu erwarten war, mit allerlei Inhalten aufgeladen, von der eilig modernisierten christlichen Nächstenliebe bis zu orientalischen Gruppenekstasen und Übungen zur Erweiterung der „Grenzen des Ich". Die vornehmliche Verbindung des Kommunikationsbegriffes mit ethisch-normativen Anliegen war nur eine unter seinen möglichen Verwendungen jedenfalls nicht jene, die ihm zur Popularität verholfen hat; hier hat es sich eher umgekehrt verhalten. Eine letzte wichtige und bezeichnende Gemeinsamkeit zwischen der Theorie des kommunikativen Handelns und den systemtheoretischen, aber auch ökonomistischen Ansätzen liegt in ihren geschichtsphilosophischen bzw. evolutionistischen Annahmen, die uns inhaltlich im nächsten Abschnitt beschäftigen werden. Der Kern dieser Annahmen - nämlich die Auffassung über die endgültige Überwindung der Vormoderne durch die zunehmende Differenzierung und Komplexität der Gesellschaft läuft auf eine nicht bloß historische, sondern geradezu ethisch gemeinte Legitimation des „Systems" hinaus, das die Kommunikationstheorie ebenso wie die Systemtheorie in der Perspektive eben dieser Annahmen schildert. Seine verfeinerte Struktur soll nämlich „Machtpolitik" im „vormodernen" Sinne weitgehend obsolet und unmöglich machen, während die technischen Zwänge sowie die wachsende Verrechtlichung pragmatisch-nüchterne kognitive Einstellungen ermutigen und somit „Rationalitätspotentiale" freisetzen sollen. Es scheint also festzustehen, daß die objektiven geschichtlichen Voraussetzungen für die Sache des Ethikers noch nie so günstig gewesen sind. Dem steht freilich die von starken kulturkritischen Reminiszenzen und kulturrevolutionären Visionen gespeiste Feststellung oder Befürchtung von der einseitigen Durchsetzung der „instrumentellen" Rationalität des Systems gegenüber. Die „Lebenswelt" tritt nun als der Hort des mit Selbstverwirklichungswünschen bereicherten Ethischen auf; sie soll die „Kolonisierung" durch das „System" abschütteln und das Ihrige zur Realisierung einer unverkürzten Rationalität beitragen. Die logisch und soziologisch äußerst unklare Beziehung zwischen System und Lebenswelt im Rahmen der Kommunikationstheorie kann hier dahingestellt bleiben 6 0 . Im Hinblick auf unsere Überlegungen zum sozialen Charakter und Ursprung zeitgenössischer Sozialtheorie ist folgendes von Interesse. Die Habermassche Lebenswelt lehnt sich gegen das vorhandene „System" nicht auf, um es durch ein solches zu ersetzen, das ähnlichen Gefahren nicht ausgesetzt wäre, also voll und ganz der Logik einer unversehrten Lebenswelt jenseits jeden Systemzwanges gehorchen würde. Beides, Lebenswelt und System, sollen im Idealbild nebeneinander existieren, sich gegenseitig ergänzen, aber auch nicht unversöhnlich einander im Wege stehen. Wessen 60 Dazu Alexander, „Review Essay", insb. 412 f.; Baxter, „System and Life-World"; Gregg, „Modernity", insb. 148f., Giddens, „Labour and Interaction"

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Träume durch diese Konstruktion verwirklicht werden, scheint mir auf der Hand zu liegen: Das Reich der Kommunikation und der Selbstverwirklichung gehört dem teils ethisch, teils kulturrevolutionär inspirierten, insgesamt gesehen gemäßigten oder angepaßten Intellektuellen, der bei aller Kulturkritik das „System" als Grundlage des materiellen Wohlstands und der damit verbundenen Freiräume doch lieber erhalten möchte. Wenn wir reine Typen zugrundelegen, können wir getrost behaupten, Kommunikations- und Systemtheorie unterschieden sich im großen ganzen so voneinander, wie sich jener Intellektuelle vom Verwaltungsbeamten unterscheidet. Letzterer kann sich offenbar in unserer Gesellschaft glücklicher oder wenigstens zuversichtlicher fühlen als jener. Ein dritter hochrepräsentativer sozialer Typ der westlichen Massendemokratie, nämlich der Unternehmer oder Wirtschaftsmanager, kommt uns in den Sinn, wenn wir uns der ökonomistisch inspirierten Sozialtheorie zuwenden; sie wurde übrigens vornehmlich von Nationalökonomen entworfen oder verfochten, die den heutigen Funktionsmodus der „freien" Wirtschaft als tragende Säule des Gesamtsystems bejahen. Es ist an sich nicht verwunderlich, daß das Bild der Gesellschaft überhaupt als Ebenbild eines oder des maßgeblichen Aspekts der gegenwärtig existierenden Gesellschaft entwickelt wird. Das gerade vorherrschende Feld in jeder Gesellschaft entwikkelt seine eigene Diskursform, die die ideologische Vorherrschaft anstrebt und in der Regel auch erlangt. Wenn in früheren Jahrhunderten das Ökonomische durch das Vokabular des Theologischen oder Ethischen („gerechter Preis") erfaßt wurde, so muß es sich unter den Verhältnissen der „Wirtschaftsgesellschaft" umgekehrt verhalten; aber der Mechanismus bleibt trotz „Rationalisierung" der Weltanschauung in beiden Fällen derselbe, und dies ist hier entscheidend. Schon unter dem Eindruck der einsetzenden industriellen Revolution, gleichsam als ideologisches Nebenprodukt des Wirtschaftsliberalismus, entstanden elementare ökonomistische Soziologien, in denen eine grundsätzliche Verbindung zwischen Wirtschaftsform und Gesellschaftsstruktur hergestellt wurde61, und der Marxismus, will man ihn ausschließlich in dieser Perspektive betrachten, bildete bloß den historisch zu Ende gedachten liberalen Ökonomismus. Die beispiellose Entfaltung von Technik und Industrie nach dem Zweiten Weltkrieg, die die Vorgänge der Massenproduktion und des Massenkonsums in den Mittelpunkt des sozialen Lebens rückte und somit die massendemokratische Revolution zum Abschluß führte, mußte der ökonomistischen Soziologie neuen Auftrieb, aber auch teilweise neue Gestalt geben. Wie Max Weber bemerkte, lag eine der Quellen wissenschaftlicher Nationalökonomie in der Aufmerksamkeit für die Erscheinung, daß die „Orientierung an der nackten eignen und fremden Interessenlage" soziale Wirkungen hervorbringt, die denen von Normierung oder eingelebter Sitte durchaus vergleichbar sind62. Der interessenorientierte und kalkulierende homo oeconomicus war gewiß ein Konstrukt bürgerlich-liberalen Ursprungs, dieses Konstrukt umspannte aber nicht das ganze Spektrum bürgerlich-liberalen Denkens, sondern es bestand und wirkte neben heterogenen oder gar entgegengesetzten ethischen und anthropologischen Motiven. Der synthetisch-harmonisierende Gesamtcharakter der bürgerlich-liberalen Denkfigur erklärt sich eben aus der sehr spannungs61 Dazu Skinner, „A. Smith", insb. 156ff. 62 Wirtschaft und Gesellschaft, 15.

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reichen Koexistenz von unterschiedlichen Elementen, die sie sich gleichzeitig aus konkreten polemischen Rücksichten hatte aneignen müssen63. Dem Autor von The Theory of Moral Sentiments wäre es nie eingefallen, den Kirchgang oder den Selbstmord vom „maximizing behavior" her begreiflich zu machen, wie die heutigen Vertreter des „economic approacb" es versuchen64. Der reine und seinem Anspruch nach allumfassende Ökonomismus meldete sich erst nach dem Niedergang der bürgerlichen Denkfigur innerhalb der massendemokratischen „Wirtschaftsgesellschaft". Nicht von ungefähr gestaltete sich also ökonomistische Sozialtheorie, wie die kybernetische Theorie des offenen Systems auch, auf der Basis einer grundsätzlichen Absage an die Parsonssche Einschätzung der sozialen Tragfähigkeit des ethisch-normativen Faktors. Normen und Werte werden indes im ökonomistischen Kontext nicht ganz oder nicht immer einfach eliminiert; vielmehr werden sie der Logik des Ökonomischen unterworfen, indem die Grenznutzenanalyse auf nichtwirtschaftliche Tauschvorgänge und Differenzierungsprozesse angewandt wird, ohne allerdings in jedem Fall klar zu sagen, ob es sich dabei um eine ökonomische Motivation und Kalkulation im engeren Sinne des Grenznutzens oder um eine Ubersetzung von Motivation überhaupt in die Sprache der ökonomischen Motivation und Kalkulation handelt65. Löste die kybernetische Systemtheorie die kompakte Anwesenheit von Normen und Werten durch die Offenheit des Systems auf, so dehnte die ökonomistische Sozialtheorie das Konzept und die Reichweite des Ökonomischen derart aus, daß seine Gegenüberstellung zur Sphäre des Ethisch-Normativen gegenstandslos wurde; diese Sphäre ging einfach im aufgeblähten und erweiterten Ökonomischen auf. Und wie das offene System die Individuen vor ständige Anpassungs- und Selektionsaufgaben stellte, so entfiel bei der neuen Offenheit des Ökonomischen der homo sociologicus, der in Übereinstimmung mit internalisierten Normen handelte und daher einem Automaten ähnelte66, um einem Menschen Platz zu machen, der „wholly free" war, also „unsocialized, entirely self-interested, not constrained by norms of a system, but only rationally calculating to further his own self-interest"6 . Sozialisierung fällt nun nicht mit der Normeninternalisierung, sondern mit dem Vorgang zusammen, bei dem man lernt, die langfristigen Folgen seiner Handlungen abzusehen und rationaler zu kalkulieren, langfristig nutzbringende Regeln zu akzeptieren oder das Spiel zu verlassen. Ausgangspunkt der Theorie ist demnach die Vorstellung einer Summe eigennütziger bzw. rationaler Akteure, deren Handlungen sich kreuzen und das kollektive Handeln konstituieren. Das Problem der Ordnung in diesem Handeln, d. h. das Problem der sozialen Ordnung oder, wie Parsons es nannte, das Problem von Hobbes soll durch A. Smith gelöst worden sein68. Dürkheims Polemik gegen Spencer bzw. gegen diese Art von Lösung - eine Polemik, die 63 Dazu Kondylis, Niedergang, 23 ff. 64 Typisch und schulebildend Becker, The Economic Approach. 65 Wegweisend in dieser Richtung war Homans' Vermählung von Behaviorismus und Ökonomismus, s. Social Behavior, ebenfalls Blau, Exchange. In diesem frühen pragmatischen Ausatz erklärte Coleman seine Absicht, Homans' „gerneral strategy" auf makroskopische Sozialstrukturen anzuwenden („Collective Decisions", 166, n. 3) 66 Coleman, Foundations, 31; „Collective Decisions", 167. 67 „Collective Decisions", 167. 68 A. a. O., 180, 169, 167f.

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Parsons' antiutilitaristischen Ansatz inspirierte - scheint nicht mehr einer Widerlegung wert zu sein. Die ökonomistische Sozialtheorie warf ebenso wie die Theorie des offenen Systems Parsons vor, er könne aufgrund seines Normativismus Phänomenen wie dem Konflikt kaum gerecht werden69. Und ebenso wie die Theorie des offenen Systems hat sie sich gleichzeitig bemüht, den Begriff des Konflikts in jenen Grenzen zu halten, die für den Erhalt der ökonomistisch eingerichteten Gesellschaftsordnung - und des ökonomistischen soziologischen Konzepts - bürgen. Ein Krieg von allen gegen alle findet zwar ständig statt, da jeder versucht, seine Macht über jene Handlungen auszudehnen, an denen er ein Interesse hat; er wird aber mit den Mitteln rationalen Kalküls und mit Rücksicht auf das „pay o f f geführt, was nach ökonomistischer Logik seine blutige Entartung ausschließt. Denn der rationale Mensch regelt durch „a special kind of economic transaction" den Austauschmechanismus der Macht derart, daß die genannten Grenzen des Konflikts nicht überschritten werden70. Gerade in ihrer wesenhaften Verbindung mit dem Eigeninteresse der Individuen bedeutet Rationalität erhöhte Kalkulierbarkeit, und diese schlägt wiederum die Brücke zwischen Individuum und Gesellschaft, so daß der individualistische Ausgangspunkt der Theorie (theoretisch) nicht den sozialen Zusammenhalt gefährden muß. Die Gesellschaft als Ganzes soll schon deswegen berechenbar werden, weil die sie ausmachendenen rational kalkulierenden Individuen berechenbar erscheinen. Zu den schon angemerkten Parallelen zwischen ökonomistischer und kybernetischer Sozialtheorie kommt also die hinzu, daß beide den Konfliktbegriff durch die Annahme eigennütziger und deshalb rational handelnder Individuen verkürzen. Wir erinnern uns ja, daß die Theorie des offenen Systems den Glauben an die „Systemrationalität" nicht so weit trieb, daß sie auf die kalkulierende Rationalität des eigennützigen Einzelnen hätte ganz verzichten wollen und können. Die Parallelen zwischen ökonomistischer und kybernetischer Sozialtheorie lassen sich mindestens teilweise durch die Feststellung erklären, der „Economic Man" sei der „Bruder" des „Administrative Man", indem er mit diesem im großen ganzen die Rationalitätsauffassung teile71. Die Wege der beiden trennen sich da, wo sich der ökonomistische Ansatz zum Prinzip des methodologischen Individualismus bekennt und Gesellschaft nicht als vorgegebenes System begreift, sondern erst auf der Basis individueller Aktionen konstruieren will. Dies ist freilich kein theoretisches oder geistesgeschichtliches Novum. Die grundsätzliche Koppelung von Ökonomismus und Individualismus zeichnete bereits den Frühliberalismus aus und mündete ihrerseits in die vertragstheoretischen Rekonstruktionen des Faktums der Gesellschaft. Dementsprechend bilden die uralten Gemeinplätze des Kontraktualismus und des Konsensualismus den Schlußstein zeitgenössischer ökonomistischer Sozialtheorie. Hier interessiert allerdings nicht ihr theoretischer, sondern ihr symptomatischer Wert. Durch die Betonung der konstitutiven Bedeutung rationalen Konsenses für den institutionellen Aufbau der Gesellschaft und für die Begründung individueller Rechte72 gerät die ökonomistische Sozialtheorie in die Nähe der Vorstellungen und Begriffe, aus denen u. a. auch die Theorie des kommunikativen Handelns 69 70 71 72

A. a. O., 167. A. a. O., 169, 170. So Simon, Models, 7. Coleman, Foundations, 949, 520ff., 334.

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im weiteren Sinne schöpft, was an sich indiziert, wie frei kombinierbar und begründbar solche Vorstellungen und Begriffe im massendemokratischen sozialpolitischen Kontext sind. Der rationale Konsens beruht zwar nun auf utilitaristischem Kalkül und nicht etwa auf moralischen Einstellungen (z. B. „Wahrhaftigkeit"), der ökonomistische Sozialtheoretiker muß aber deswegen kein schlechtes moralisches Gewissen haben. Denn wenn auch die Motivation des rationalen Kalküls nicht oder nicht unbedingt moralisch ist, so genügt doch sein Ergebnis, d. h. der Konsens und die Beilegung von Konflikten, den laufenden sozialethischen Anforderungen. Ohne Ethik am Anfang scheint eben das am Ende besser zu gelingen, was jede Ethik anstrebt. Ahnliche Implikationen stellten wir bei der kybernetischen Systemtheorie fest. Alles in allem blieb der theoretische Ertrag ökonomistischer Sozialtheorie ziemlich dürftig, und für sie gilt dasselbe wie für die Systemtheorie: Was an ihr bemerkenswert ist, stammt aus andersartigen Ansätzen, wobei seine Ubersetzung in die ökonomistische Sprache den Eindruck erwecken soll, es bilde den logischen Ausfluß oder gar den ausschließlichen Fund ökonomistischer Sozialtheorie. Deren beide Achsen, d. h. der Rationalitätsbegriff und die Legitimität des allgemeinen sozialtheoretischen Gebrauchs ökonomischer Begriffe, werden an anderen Stellen erörtert 73 . Zwei Bemerkungen müssen dennoch vorausgeschickt werden. Die ökonomistische Sozialtheorie entnimmt ihre Begriffe und Kriterien nicht dem Ökonomischen an sich und überhaupt (was immer dies auch sein könnte), sondern einer bestimmten Auffassung vom Wesen des Ökonomischen, die gleichsam dessen chemische Reinheit und zugleich dessen sozialontologische Priorität annimmt; das Ökonomische wird also nicht im Kontext geschichtlicher, sozialpolitischer und institutioneller Faktoren erfaßt, um dadurch seinen Begriff qualitativ zu bereichern und zu erweitern, sondern die Ausdehung seiner Reichweite hat bloß quantitativen Charakter, d. h. sie erfolgt durch die einfache Unterordnung der übrigen „Teilsysteme" der Gesellschaft unter seine eigenständige und angeblich absolut gebieterische Logik. Das ökonomistische Selbstverständnis der massendemokratischen „Wirtschaftsgesellschaft" wird zur theoretischen Grundprämisse erhoben, und es werden keine Überlegungen über die geschichtliche Relativität ökononomischer Gesetze angestellt oder wenigstens über die Abhängigkeit ihrer Wirkung von Zeit, Ort und Umständen 7 4 . Auf der anderen Seite stellt sich ökonomistische Sozialtheorie - stillschweigend aber unmißverständlich auf einen im Grunde geschichtsphilosophischen Standpunkt, indem sie aus dem interessengeleiteten Kalkül die Möglichkeit eines umfangreichen Konsenses ableitet. Auch in diesem Punkt liegt freilich kein Erkenntnisgewinn, sondern eine geradlinige Rückkehr zur Gedankenwelt des Frühliberalismus vor. Denn die weltgeschichtliche Perspektive einer permanenten Ablösung des Kriegs durch Handel wurde bereits im 18. Jahrhundert durch die Annahme begründet, erst interessengeleitetes Kalkül, dessen Prototyp in der wirtschaftlichen Tätigkeit liege, vermöge es, die „Leidenschaften", denen eben der Begriff des Interesses abgehe, zu disziplinieren und somit so73 Kap. IV, Abschn. 2D in diesem Band. 74 Solche Fragestellungen gehören dennoch durchaus in den Problemkreis klassischer Nationalökonomie. S. die noch immer sehr lesenswerten Ausführungen von Cairnes, Character, insb. lOOff., 118ff; vgl. Marshall, Principles, 30f. („every change in social conditions is likely to require a new development of economic doctrines"); bereits Marx, Grundrisse, 25f.

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ziales Verhalten in seiner Gesamtheit zu rationalisieren 75 . Was seit dem 18. Jahrhundert geschehen ist, wissen wir. Hoffentlich hat die vorangegangene kurze Analyse ergeben, daß die Hauptformen zeitgenössischer massendemokratischer Sozialtheorie bei allen Abweichungen vonoder Gegensätzen zueinander einen gemeinsamen Boden teilen und auch ansonsten Stellungnahmen zu denselben Fragestellungen bilden. Insgesamt gesehen geben sie ein Ensemble ab, das aus der Variation und der unterschiedlichen Behandlung gewisser Grundmotive entstand. Variationen und Unterschiede gehen ihrerseits auf reale Dilemmas und Widersprüche der westlichen Massendemokratie zurück. Die kollidierenden Meinungen über die Möglichkeit oder Notwendigkeit einer Untermauerung des sozialen Konsenses bzw. der glatten funktionellen Entfaltung des „Systems" durch ethische Normen und Motivationen können als Beispiel dafür angeführt werden. Der Pluralismus der Werte und der Lebensweisen, der sich mit der hedonistischen Ausrichtung der massenhaft, unablässig und verschiedenartig konsumierenden Massendemokratie gut verträgt, mußte in den Jahrzehnten des wachsenden Wohlstands und der Kulturrevolution die ältere soziologische Einschätzung von Normen und Werten (sowie von Ideologien überhaupt: „Ende der Ideologien") ins Wanken bringen; interessengeleitetes Kalkül oder „Systemrationalität" sprangen in die theoretische Lücke. Aber zugleich wirkten die Gründe unvermindert weiter, die das ideologische Festhalten der westlichen Massendemokratie an universalistischen ethischen und anthropologischen Grundsätzen gebieten 76 . In dieser Zwickmühle, in der sich das „System" objektiv befindet, erfüllen Sozialtheorien wie die des kommunikativen Handelns und die ökonomistische eben in ihrem (immerhin nicht totalen) Gegensatz zueinander komplementäre ideologische Funktionen, sie unterscheiden sich inhaltlich so voneinander und gehören doch so zusammen wie Kopf und Zahl einer Münze. Ahnlich ist es um den Gegensatz zwischen individualistischer (gleichviel, ob ökonomistischer oder ethisch orientierter) und kybernetischer Sozialtheorie bestellt. Die Massendemokratie zeichnet sich aus durch die parallele und in sich widersprüchliche Entfaltung des Individualismus (in den Dimensionen der „Würde des Menschen", der „Selbstverwirklichung" oder der sozialen Mobilität und der Aufstiegsmöglichkeiten) und der Verwaltungsapparate. Was an individualistischen Energien freigesetzt wird, muß dann mehr oder weniger durch diese Apparate kanalisiert und reguliert werden, die den Eindruck aufkommen lassen, sie würden aufgrund einer eigenen, gegenüber jedem einzelnen selbständigen Logik arbeiten. Die „Systemrationalität" erscheint somit als reale Größe, die sich nicht aus der bloßen Summierung autonomer und zugleich koordinierter Einzelwillen deduzieren läßt, sondern in ihrer Geschlossenheit der Geschlossenheit eines Modells entspricht und nur an Hand eines nicht personenbezogenen Modells erfaßt werden darf. Das kybernetische Modelldenken (vielsagend wurde es früh und mit besonderer Vorliebe bei der Erforschung der sogenannten „formalen Organisationen" angewandt 77 ) steht in der Sozialtheorie dem vertragstheoretischen und konsensualistischen Denken oder dem Ansatz des methodologischen Individualismus in eben dem Sinne gegenüber wie sich Individuum (als 75 S. Hirschman, The Passions and the Interests 76 S. o. Anm. 2. 77 Anstatt vieler: Thompson, Organizations in Action

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Ethiker, Konsument oder Unternehmer) und Verwaltung bzw. bürokratische Organisation jeder Art in der Wirklichkeit der Massendemokratie gegenüberstehen. Die Beziehung bleibt freilich ambivalent, da sich sowohl das Individuum nicht ganz außerhalb des „verwalteten Lebens" entfalten kann als auch die Verwaltung innerhalb einer Gesellschaft wirken muß, die sich gegen den Obrigkeitsstaat abgrenzt und zum Individualismus bekennt. In der Sprache der Theorie heißt dies: Das System bleibt zwar System, aber in seiner Offenheit nimmt es in sich Momente auf, die an sich den individualistischen Tendenzen entstammen. Auf solchen sich kreuzenden Wegen und Umwegen geht Theoriebildung vor. Im Selbstverständnis jeder einzelnen Theorie nehmen natürlich die Gegensätze zu den anderen einen wichtigeren Platz ein als die inneren, positiven oder negativen Zusammenhänge mit ihnen. Aber das Selbstverständnis von Theorien gibt über ihren Charakter ebensowenig Aufschluß wie das Selbstverständnis eines Kollektivs oder eines Individuums den zuverlässigsten Leitfaden zu dessen Beurteilung durch Dritte liefert.

3. Differenzierung, Komplexität und Evolution: Der Rückfall in die Geschichtsphilosophie Obwohl die Ideologen der Massendemokratie wiederholt ihren Abschied von jeder Metaphysik genommen und das Ende aller Ideologien verkündet haben, machen sie, wie bemerkt, nicht nur von den frühliberalen Ideologien des Sozialvertrags und der unsichtbaren Hand reichlich Gebrauch, sondern darüber hinaus eignen sie sich Kernthesen der eschatologisch geprägten Geschichtsphilosophie des Fortschritts an. Der Rückfall in die Geschichtsphilosophie läßt sich kaum umgehen, wenn die sozialtheoretische Analyse der gegenwärtigen Gesellschaft auf der Folie eines Vergleichs mit vergangenen Gesellschaften in evolutionistischer Perspektive und unter Zugrundelegung der Annahme erfolgt, jene Gesellschaft sei den übrigen nach bestimmten Kriterien überlegen. Dabei ist es nebensächlich, ob diese Kriterien ethisch-normativen Charakter haben (z. B. die Hegeische „Freiheit aller") oder ob sie sich in gewisser Hinsicht messen lassen („Komplexität"); genug, daß sie die Konstitution des Sozialen selbst in einem für zentral gehaltenen Aspekt betreffen. Dieser Aspekt wird indessen in Ubereinstimmung mit dem definiert, was als besonders auffallend und sozialgeschichtlich bahnbrechend an der gegenwärtigen Gesellschaft angesehen wird, so daß die unter einem bestimmten Gesichtspunkt zurechtgemachte soziale Gegenwart zum universalhistorischen Maßstab und gleichzeitig zur höchsten Stufe der universalhistorisch aufsteigenden Bewegung erklärt werden kann. So wurden „Differenzierung" und „Komplexität" ohne nähere Begründung nicht bloß als wichtige, aber vielleicht abgeleitete, sondern geradezu als die entscheidenden und eigenwüchsigen Merkmale der Gegenwart und darüber hinaus als die Kriterien ausgegeben, an Hand derer vergangene Gesellschaftsformationen soziologisch eingestuft werden müßten. An sich ist die Sache alt und banal: Gesellschaften (wie Einzelne auch) neigen dazu, die eigene Einmaligkeit herauszuheben und sich dadurch existentiell zu legitimieren, daß sie die früheren oder die anderen in einen Topf werfen und ihnen

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allen die eigenen spezifischen und neuartigen Eigenschaften gegenüberstellen. Sie glauben, daß diese Eigenschaften bestehende Gemeinsamkeiten mehr oder weniger in den Schatten stellen und fühlen sich regelrecht beleidigt, wenn ein Dritter bestimmten Gemeinsamkeiten einen viel höheren Stellenwert zuschreibt. Die Aufgabe, zumal in sozialontologischer Perspektive, besteht indes eben darin, das jeweils Neuartige und im gegebenen geschichtlichen Zeitpunkt Vorwärtstreibende vor dem Hintergrund der großen Konstanten zu erfassen. Diese lassen sich durch die Änderung der sozialtheoretischen Begrifflichkeit ebensowenig aus der Welt schaffen wie Menschen durch die Beseitigung der Anthropologie für unexistent erklärt werden können. Spezieller betrachtet, machte die Wendung zum konsequenten Funktionalismus, wie sie in der Abgrenzung gegen die Überbleibsel der traditionellen und bürgerlichen Substantialismen erfolgte, aus der sozialtheoretischen Voranstellung von „Differenzierung" und „Komplexität" eine geradezu methodische Notwendigkeit. Denn extreme Differenzierung kann nur innerhalb eines Ganzen stattfinden, das vollständig atomisiert, d. h. in letzte austauschbare Bestandteile zerlegt ist - und nur innerhalb eines solchen entsubstanzialisierten Ganzen stellen wiederum Funktionen die einzig mögliche Art der Kommunikation und damit der Erschaffung komplexer Systeme dar. „Differenzierung" und „Komplexität" sind m. a. W. nur vom funktionalistischen Standpunkt aus die entscheidenden und irreduzierbaren sozialtheoretischen Größen, während der Evolutionismus, der das Werden dieser Größen schildern soll, eine retrospektive Projektion des funktionalistischen Gesichtspunktes in die Vergangenheit bzw. eine Geschichtsdeutung unter dem funktionalistischen Gesichtspunkt darstellt, dessen Sieg in der Gegenwart gerade wegen der erfolgten extremen Differenzierung für unwiderruflich gilt. Methode, Geschichts- und Gegenwartsdeutung beweisen somit einander in schönster tautologischer Harmonie. Mehr noch: Sind nämlich „Differenzierung" und „Komplexität" nicht einfach feststellbare Tatsache sondern schon Postulate der Betrachtungsweise, so erscheinen sie eigenwüchsig und selbstreproduzierend, als endgültige Errungenschaften und zugleich Motoren der geschichtlichen Bewegung, explanans und nicht explanandum. So wird kaum über ihre materiellen Voraussetzungen reflektiert, über die Realitäten der Arbeitsteilung als Basis der sozialen Vielfalt und über die Folgen der Uberwindung der Knappheit der Güter für die Vielfalt auf dem Gebiet der Werte und der Weltanschauungen. Aber im Hinblick auf diese konkreten Fragen reicht die historische, soziologische und ökonomische Analyse vollkommen aus, es erübrigt sich also jede Teleologie der Differenzierung und der Komplexität 78 . Die Ablehnung der evolutionistischen Teleologie muß selbstverständlich nicht eine Infragestellung der Evolution im allgemeinen geschichtlichen Sinne nach sich ziehen. Doch die Tatsache der geschichtlichen Evolutionen bietet keine Bestätigung des Evolutionismus als eines Gesetzes, das den Lauf der Geschichte auf ewig bestimmen muß. Diese Lehre ist aus der konkreten Berücksichtigung der materiellen Voraussetzungen der Evolution moderner, also differenzierter und komplexer Gesellschaften zu ziehen. Zur Beurteilung des neueren Evolutionismus, der auf dem Theorem der wachsenden Differenzierung und Komplexität beruht, ist die Erinnerung nicht überflüssig, daß seine Prinzipien vor etwa hundertfünfzig Jahren von Herbert Spencer formuliert 78 Vgl. die guten Bemerkungen von A. D. Smith, Concept, 76ff.

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wurden. Dies geschah bezeichnenderweise in einem organizistischen Kontext, d. h. die Evolution wurde deshalb als Differenzierung verstanden, weil die Gesellschaft einem Organismus verglichen wurde. Differenzierung ist nach Spencer Anpassung, also Beziehung zu einer Umwelt; Gesellschaft schreitet ständig von der Homogenität zur Heterogenität fort, (simple, Compound, doubly Compound, trebly Compound types of societies) und die Zunahme der Heterogenität, in der eben der Fortschritt besteht, liegt daran, daß jede Ursache mehr als eine Wirkung hervorbringt79. Die organizistische Herkunft dieses Typs von Evolutionismus macht sich bereits beim zentralen Differenzierungsbegriff bemerkbar. Denn dieser bedeutet einen Vorgang, bei dem sich Funktionen, die ursprünglich auf einem und demselben Träger konzentriert waren, voneinander trennen und sich mit selbständigen Trägern verbinden; obwohl das Hervortreten von Funktionen keineswegs ausgeschlossen ist, die vorher nur latent oder überhaupt nicht vorhanden waren, bleibt doch die Linearität des Vorgangs bzw. die Vorstellung ausschlaggebend, auch die vorläufig letzte und feinste Organisation einer Pflanze oder eines Tieres sei schließlich über unzählige Vermittlungen einem und demselben Samen entsprossen. Der Vorgang selbst wird im Grunde als quantitativer aufgefaßt, wenngleich angenommen wird, daß durch ihn neue Qualitäten entstehen. Es ist daher sehr fraglich, ob das evolutionistische Denkschema befriedigende Anwendung auf den Geschichtsablauf als Ganzes finden kann. Hier stellt sich nämlich die Frage der Differenzierung in jedem geschichtlichen Zeitalter auf neuer Basis; der Gesamtcharakter einer Gesellschaftsformation entscheidet m. a. W. jeweils darüber, in welche Richtung die Differenzierung läuft, was differenziert und was zur gleichen Zeit entdifferenziert wird 80 . Der lineare Differenzierungsevolutionismus kann daher die großen Wenden nicht erklären, bei denen das Kriterium der Differenzierung selbst definiert wird. In seiner überaus geglätteten Betrachtung der Vergangenheit meldet sich allerdings die fehlende Bereitschaft, Möglichkeit und Folgen analoger Wenden in der Zukunft in Betracht zu ziehen, was wiederum mit dem erwähnten Mangel an ernsthafter Reflexion über die materiellen und sozialgeschichtlichen Voraussetzungen der Differenzierungsvorgänge in der gegenwärtigen Massendemokratie zusammenhängt. Zur Erläuterung sei ein kurzer Rückblick auf den vielbeschworenen Ubergang von der „Vormoderne" zur „Moderne" bzw. ein synoptischer Vergleich zwischen der vornehmlich agrar-feudalen und der vornehmlich industriellen Gesellschaft versucht. Differenzierung oder Differenziertheit bedeutete für die erstere eine kaum übersehbare und jahrhundertelang selbstreproduzierende Vielfalt von lokalen Lebensweisen und Sitten, von wirtschaftlichen, rechtlichen und politischen Regelungen. Diese Vielfalt war real, und sie wurde auch von sehr vielen, vielleicht sogar von den meisten Menschen als bewahrenswerte Realität empfunden. Die moderne industrielle Gesellschaft trat in ihrem immer engeren Zusammenwirken mit dem neuzeitlichen zentralistischen Staat nicht als Fortsetzung und Vertiefung solcher Differenzierung auf den Plan, sondern sie konnte im Gegenteil die eigenen, d. h. durch ihren eigenen 79 Essays, I, 2 6 5 - 3 0 7 ( „ T h e Social O r g a n i s m " , 1860); 8 - 6 2 , insb. 1 9 - 3 8 („Progress: Its L a w and C a u s e " , 1857) 80 U b e r den notwendigen Z u s a m m e n h a n g zwischen Differenzierung und Entdifferenzierung, Evolution und Devolution vgl. Tilly, „ C l i o " , insb. 455 ff.; über die Unfähigkeit des Differenzierungsbegriffes, geschichtliche „Kristallisierungen" adäquat zu erklären s. Eisenstadt, „Social C h a n g e " .

3. Differenzierung, Komplexität und Evolution: Der Rückfall in die Geschichtsphilosophie

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allgemeinen Charakter bedingten Differenzierungsvorgänge erst in Gang setzen, als sie die spezifische Vielfalt der societas civilis wegfegte, indem sie legislative, administrative, richterliche und politische Vereinheitlichung sehr oft gewaltsam durchsetzte. Was hier als Schaffung des Entfaltungsraumes für „echte", also individualistisch aufgefaßte Differenzierung auf der einen Seite angesehen wurde, hieß Entdifferenzierung („Gleichförmigkeit", „Nivellierung") auf der anderen, und mit eben diesen Schlagworten wurden lange und harte sozialpolitische Kämpfe geführt, da den Betreffenden klar war, welche Art von Differenzierung welchem Gesellschaftsmodell entsprach. Der undifferenzierte Gebrauch des Differenzierungs- oder Komplexitätsbegriffes bezeugt im Gegenteil, wie sehr inzwischen der Sinn für solche konkreten Fragen abhanden gekommen ist. Wie die Systemtheorie insbesondere an Hand ihres spezifischen, begrifflichen Instrumentariums nichts Bestimmtes oder Wesentliches über die gegenwärtige Gesellschaft aussagen kann, so ist auch der Evolutionismus im allgemeinen mit Hilfe des bloßen und unverwässerten Differenzierungskriteriums nicht imstande, die qualitativen Aspekte der Differenzierungsvorgänge zu erfassen. Der geschichtliche Ubergang zu den Hochkulturen dürfte durch ebenso zahlreiche und ebenso intensive Differenzierungen begleitet worden sein wie der Übergang von der „Vormoderne" zur „Moderne" auch - und trotzdem unterscheidet sich die soziale und geschichtliche Qualität beider Ubergänge sehr voneinander. In der doppelten Eigenschaft des Evolutionisten und des Sozialkybernetikers hat Buckley gemeint, beim Ubergang von einer einfacheren zu einer komplexeren Gesellschaftformation vollziehe sich in qualitativer Hinsicht dasselbe wie beim Ubergang von der Atomphysik zur Chemie und zur Physiologie 81 . Die Analogie - freilich ist sie für Buckley keine bloße Analogie, sondern eine reale Entsprechung wirft mehr Fragen auf als sie löst. Einerseits impliziert sie, daß auf der höchsten Komplexitätsebene die Gesetze der niedrigsten voll und ganz weiterwirken, daß also komplexe Gesellschaften jene anthropologischen und sozialen Grundfaktoren, die in den einfachen Formen sozialen Zusammenlebens obwalten, ebensowenig neutralisieren können wie das Phänomen des Organischen die Gesetze der Atomphysik aufhebt - im Gegenteil, jede höhere Ebene ist hier für ihren Bestand nicht zuletzt auf die unverkürzte Wirkung der elementaren Gesetzmäßigkeit der niedrigsten angewiesen, nicht aber umgekehrt. Der lineare Evolutionismus kann somit sehr wohl gegen die Absicht seiner Vertreter gedeutet werden, die ontologische Überlegenheit des Differenzierten und Komplexeren unter Beweis zu stellen. Anderseits wird in der Perspektive der genannten Analogie sehr unzureichend, wenn überhaupt, zwischen dem qualitativen und dem quantitativen Aspekt der Differenzierung unterschieden. Eine höhere Differenzierungsebene kann als Ganzes gegenüber einer niederen neue qualitative Merkmale aufweisen, dies muß indes keineswegs heißen, daß die spezifische neue Qualität in einem größeren qualitativen Reichtum, also in der größeren Quantität von Qualitäten besteht. Die Evolution kann qualitative Sprünge tun, ohne daß die neue Ebene, auf der sie sich fortan bewegen soll, von ihrer Konstitution her zahlreichere Qualitäten produzieren müßte als die vorherige. Das gilt auch dann, wenn die spezifische neue Qualität nichts anderes ist als ein größeres Differenzierungsbedürfnis oder -vermögen. Denn Differenzierung, die nach dem qualitativen 81 Sociology, 111.

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Übergang zur neuen Ebene vor sich geht, kann im Wesentlichen eine identische oder jedenfalls eine strukturelle Wiederholung des Gleichen bedeuten. System- und sonstige Theoretiker, die, mit welchen normativen Hintergedanken auch immer, aus dem Differenzierungsgrad der hochtechnisierten Massengesellschaft deren höheren Status innerhalb der Evolution schlußfolgern, verwechseln in sehr vielen Fällen Differenzierung und Atomisierung miteinander. Die ständige Schaffung neuer Atome macht zwar äußerlich das Ganze komplexer, innerhalb dessen diese Atome koexistieren, die wachsende Komplexität im Sinne der Vermehrung der Atome kommt aber keiner qualitativen strukturellen Bereicherung gleich. Aufgenommen in das komplexe Ganze werden ja Atome oder Einheiten, die die dazu geeignete Struktur haben, und diese darf wiederum nicht wesentlich von der abweichen, die für das Ganze bzw. das „System" typisch ist. Es trifft also im allgemeinen nicht zu, daß die Trennung der Teilsysteme voneinander und ihre (relative) funktionelle Verselbständigung zur strukturellen Differenzierung führt. Im Gegenteil: Ihre inneren Strukturen gleichen sich trotz Zunahme ihrer funktionellen Unabhängigkeit immer mehr einander an, und es entwickelt sich ein gemeinsamer Denk- und Arbeitsstil. Die Erfahrungen und die Tendenzen der hochtechnisierten Massengesellschaft bestätigen dies. Durch die Mathematisierung und Computerisierung der Lebens- und Arbeitswelt näherten sich die allgemeinen Organisationsmethoden in den unterschiedlichsten Bereichen der Produktion und der Dienstleistungen strukturell so sehr einander an wie noch nie zuvor. Man muß also den qualitativen Aspekt der Differenzierungsvorgänge ganz aus den Augen verloren haben, um etwa meinen zu dürfen, die Welt werde deshalb differenzierter, weil nicht 1.000 mehr oder weniger gleiche Wolkenkratzer, sondern 100.000 davon gebaut werden, und nicht nur in New York, sondern auch in Hong Kong oder Nairobi. Ebenso ernüchternd im Hinblick auf die evolutionistische Ableitung des höheren geschichtlichen Status der Massendemokratie aus ihrer angeblich höheren Differenziertheit oder Differenzierungsfähigkeit dürfte der Hinweis wirken, die Entfaltung und selbst das Uberleben der vielen Atome und Einheiten, die sich aus dem Differenzierungsvorgang ergeben, hänge vom Bestand und von der Leistung relativ weniger funktionaler Zentren ab. Die hochtechnisierte Massengesellschaft kann deswegen solche bzw. ihre Komplexität erreichen, weil sie sich Zentren oder Knotenpunkte schaffen kann, die direkt oder indirekt die Erzeugnisse der Differenzierungsvorgänge durch Energie, Informationen, Geld etc. etc. alimentieren. Der Eindruck von der Autonomie und der Autarkie dieser letzteren entsteht in den euphorischen Zeiten allgemeinen Wohlstands und schwindet bei jeder Erschütterung der genannten Zentren. Dies alles indiziert eine besonders hohe Verwundbarkeit moderner Gesellschaften im Vergleich zu den vergangenen (agrarischen oder frühindustriellen), in denen gerade die geringere Differenzierung der Arbeitsteilung den sozialen Einheiten materielle Unabhängigkeit abverlangte. So gesehen steht der Polyzentrismus moderner Gesellschaften auf viel labileren Grundlagen als etwa der feudale, und was hier für die Wirtschaft gilt, gilt ebenso für Mentalität und Ideologie: Der relativistische Pluralismus bildet nur die Kehrseite universalistischer Grundsätze. Wie die feudale Gesellschaft ihre innere Zerstückelung durch eine universalistische Religion und Moral kompensierte, so halten sich innerhalb der westlichen Massendemokratie Differenzierungen, die aus dem weltanschaulichen Polytheismus hervorgehen und zentrifugalen

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Komplexität und Evolution: Der Rückfall in die Geschichtsphilosophie

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Kräften Vorschub leisten, und entdifferenzierende bzw. undifferenzierte ethische und anthropologische Universalismen die Waage. Differenzierungsvorgänge und Komplexitäten stehen kurzum unter dem Damoklesschwert des Fortbestandes und der ungehemmten Reproduktion der materiellen und sozialpolitischen Voraussetzungen des „Systems", die auch Qualität und Ausmaß der ersteren bestimmen. An sich bewirken sie weder größere Stabilität noch größere Instabilität der sozialen Organisation, obwohl Instabilität da abträglicher sein kann, wo Differenzierungen und Komplexitäten Interdependenzen schaffen. Die begriffliche Unterscheidung zwischen der sozialen Organisation und ihrer Differenzierung bzw. Komplexität soll allerdings nicht heißen, daß diese jener gleichsam im nachhinein beigefügt wird. Sie impliziert aber, daß sich beide begrifflichen Größen mehr oder weniger symmetrisch zueinander verhalten müssen und daß Differenzierung oder Komplexität, an sich betrachtet und ohne das Zutun anderer Faktoren, keine systemumwälzende Eigendynamik entfalten können; sie begleiten das „System" bis zu jener Grenze, an der eben Charakter und Richtung von Differenzierung und Komplexität neu definiert werden. Und auch unabhängig davon, wie man die sozialgeschichtliche Wirkung von Differenzierung und Komplexität beurteilen mag, muß im Lichte der geschichtlichen Erfahrungen mit der industriellen Moderne ihre sozialontologische Wirkung für gleich Null gehalten werden. Es gibt keine Indizien dafür, daß Differenzierung und Komplexität, wie sie sich im Lauf der letzten 200 Jahre und insbesondere des zunehmend massendemokratischen 20. Jahrhunderts entfalteten, die fundamentalen sozialontologischen Gegebenheiten beeinflußt, z. B. Spektrum und Mechanismus der sozialen Beziehung 82 in diesem oder jenem Sinne verändert hätten. Die geschichtsphilosophisch-optimistische Implikation (und Absicht) des Differenzierungsevolutionismus kommt in der Behauptung zum Vorschein, in einer höchst differenzierten und komplexen Gesellschaft müsse im Spektrum der sozialen Beziehung die Seite des Konfliktes allmählich ihre akutesten und destruktivsten Komponenten abwerfen 83 . Erklärt wird dabei nicht, wieso ausgerechnet im 20. Jahrhundert Konflikte größter Intensität und Breite, und zwar zwischen und innerhalb hochdifferenzierter Gesellschaften, möglich gewesen sind, und auch, wieso Differenzierungsvorgänge z. T. durch eben derartige Konflikte in Gang gesetzt oder vorangetrieben wurden. Das beweist freilich nicht, daß Differenzierung solche Konfliktarten zeitigen muß, wohl aber, daß beide einander nicht ausschließen bzw. sich zueinander neutral verhalten. Die sozialontologischen Neubegründungsansprüche des Differenzierungsevolutionismus betreffen aber nicht nur das Spektrum, sondern auch den Mechanismus der sozialen Beziehung, wie sich dieser durch die vorgegebene Veranlagung und die mentalen Potentiale der Subjekte gestaltet. Ohne seriöse Kenntnis der historischen Quellen und auch ohne Berücksichtigung neuerer ethnologischer Befunde werden dabei der Wirkung moderner Differenzierungsvorgängen subjektive Eigenschaften 82 S. Kap. III u. IV in diesem Band. 83 Wir können hier beispielsweise auf Versuche verweisen, den Differenzierungsevolutionismus und die funktionalistische Betrachtung auf die Analyse der internationalen Beziehungen zu übertragen, um den Zukunftsentwurf einer entmilitarisierten Weltgesellschaft im Zeichen des ökonomistischen Universalismus zu untermauern. Wegweisend in diesem Sinne E. Haas, Beyond the Nation-State; Mitrany, A Working Peace System. Vgl. u. Anm. 193.

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oder Verhaltensweisen zugeschrieben, die in Wirklichkeit feste sozialontologische Größen, ja anthropologische Konstanten darstellen. Eine grobe Karikatur des „vormodernen" Menschen dient als Hintergrund, vor dem diese angeblich neuen Eigenschaften und Verhaltensweisen geschildert werden. So meint Lane, der vormoderne Mensch hätte sich - im Gegensatz zu der charakteristischen Reflexivität des modernen - unreflektiert sich selbst gegenüber verhalten 84 während Coleman versichert, die Unterscheidung zwischen Person und Rolle sei eine „soziale Erfindung" der Neuzeit 8 5 . Diese spezifische Reflexivität des modernen Menschen sich selbst und den anderen gegenüber soll zur Folge haben, daß er sich von vormoderner Intoleranz, Impulsivität und Autoritätsgläubigkeit befreit und seine soziale Tätigkeit zunehmend an sachlichen und durchsichtigen Maßstäben orientiere 86 . Darüber hinaus - und darin macht sich der geschichtsphilosophische Hang des Differenzierungsevolutionismus von neuem bemerkbar - soll dieses individuelle Verhalten teils den Niederschlag, teils die Grundlage einer Gesellschaft und einer Kultur bilden, die traditionelle politisch-ideologische Primitivismen hinter sich gelassen habe und die Lösung der entstehenden Fragen mit Hilfe wissenschaftlicher Erkenntnis erreiche, in der nun eins der wichtigsten Produktionsmittel bestehe; die „knowledgeable society" sei somit in greifbarer Nähe 8 7 . Diese Konstruktion enthält schwere historische und zeitdiagnostische Fehler, die kurz erwähnt werden müssen. Zunächst wird der Vorgang der Normierung und des Reflexivwerdens von Verhalten ebenso undifferenziert und geradlinig wie der Differenzierungsvorgang selbst aufgefaßt: Wie aus dem undifferenzierten Sozialen zunehmende soziale Differenziertheit und Komplexität erwächst, so soll auch aus einem ursprünglich nicht normierten und nicht reflektierten Verhalten das moderne normierte und reflektierte hervorgehen. Aber selbst wenn man den ethologisch-zoologischen Aspekt der Normierung und Ritualisierung von Verhalten ganz außer acht lassen will, muß man feststellen, daß es bisher kein menschliches Zusammenleben ohne spezifisch soziale Normierungen und Ritualisierungen gegeben hat. Diese verbinden sich wiederum automatisch sowohl mit der Reflexivität des Verhaltens - da schon das Vorhandensein von allgemein bekannten Normen zum ständigen (stillschweigenden) Vergleich des eigenen Verhaltens mit den normativen Forderungen der Gesellschaft motiviert - , als auch mit der Unterscheidung zwischen Rolle und Person, da die Vollstreckung der Norm mit der Übernahme einer sozialen Rolle 84 „Decline", 654f. 85 „Social Inventions". Luhmann macht sich diese Thesen zu eigen und versteigt sich sogar zur Behauptung, der sozialpsychologische Mechanismus des „taking the role of the other" bilde einen Aspekt der gesteigerten Reflexivität, die das Ende der societas civilis und den Anfang moderner Komplexität kennzeichne („Evolutionary Differentiation", 121). Mead hat aber die Wurzeln dieses Mechanismus bis in das Tiereich hin zurückverfolgt! Vgl. o. Anm. 46. 86 So Lane, „Decline", 654f. Ihm folgt Luhmann, s. z. B. Politische Planung, 61: der Mensch der komplexen Gesellschaft müsse „zivilisiert" sein, seine Affekte kontrollieren und unpersönlich handeln können, und dies bedeute wiederum eine „sehr weitgehende psychische Umrüstung der Persönlichkeiten" gegenüber „allen vorneuzeitlichen Gesellschaften". 87 R. Lane, „Decline", 6 5 0 - 6 5 2 , 660. Im Anschluß an solche Diagnosen stellt Luhmann auch die Durchsetzung des kognitiven Elements gegen das politisch-ideologische in Aussicht, s. etwa Sozio/. Aufklärung, II, 55 ff. Spuren technokratischer Megalomanie fehlen dabei nicht, so z. B. wenn die Möglichkeit erwogen wird, die Gesellschaft nach kybernetischen Mustern zu „modellieren" (a. a. O-, III, 292.)

3. Differenzierung, Komplexität und Evolution: Der Rückfall in die Geschicbtsphilosophie

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zusammenfällt, egal, was sich die Person dabei wünscht oder denkt. Als Brutus die eigenen Söhne hinrichten ließ, wußte er längst vor dem Einbruch „moderner Reflexivität" um die Differenz zwischen Rolle und Person, obwohl er diese Differenz mit anderen Inhalten verknüpfte als ein heutiger Bürokrat. Dieses Beispiel führt uns zu einer weiteren, nicht weniger wichtigen Feststellung. Zwischen Umfang oder Intensität der Normierung und Differenzierungs- bzw. Komplexitätsgrad der Gesellschaft besteht nämlich kein eindeutiger oder notwendiger Zusammenhang; nicht Differenzierung bedingt die Normierung, sondern der Charakter der Normierung wird ebenso wie der Charakter der Differenzierung durch den allgemeinen sozialgeschichtlichen Charakter der jeweiligen Gesellschaftsformation definiert. Sehr rigorose Normierungen und harte Disziplinierungen, deren soziale Notwendigkeit oder wenigstens Rationalisierung seitens der Betreffenden durchaus nachvollzogen werden kann, tauchen bereits in vormodernen oder gar archaischen und „primitiven" Gesellschaften auf; ihnen entsprechen jeweils spezifische Freiräume, so daß jede Normierung zwei Seiten hat. Und da in der einen Gesellschaft eben das zum Freiraum gehört, was in der anderen unter die Normierung fällt (sowie umgekehrt), da also die Normierungen von verschiedenen Gesellschaften nicht dieselben Aspekte des sozialen Lebens auf dieselbe Weise betreffen, so läßt sich keine aufsteigende Linie der Normierungen konstruieren, die im Normensystem und im normierten Verhalten der modernen komplexen Gesellschaft gipfeln soll. Diese sind nicht das Produkt einer Evolution, sondern einer konkreten sozialgeschichtlichen Konstellation. Dies wird im Lichte unserer Feststellung verständlicher, jede Normierung habe ihre zwei Seiten, d. h. ihre Zwänge und ihre Frei- oder Spielräume. Das Bild des „zivilisierten" und über alle „Primitivismen" erhabenen rational-sachlichen Menschen, der nach Auffassung der Differenzierungsevolutionisten die Normierungen der hochkomplexen „knowledgeable society" formulieren und ausführen soll, entspricht formal dem Idealtyp der hochtechnisierten und hochrationalisierten Abläufe in Industrie und Verwaltung. Solche Abläufe machen aber nur die eine Seite des sozialen Lebens in der wesdichen Massendemokratie aus. Die andere Seite, jene des Massenkonsums, verbindet sich mit psychologisch und ethisch sehr unterschiedlichen Einstellungen und Verhaltensweisen - obwohl beide genannten Seiten für den Bestand der Massendemokratie gleichermaßen unentbehrlich sind und innerhalb der Gesellschaft sowie innerhalb der individuellen Psyche gleichzeitig miteinander konkurrieren und koexistieren müssen. Erfordern industrielle Massenproduktion und Verwaltung die Betätigung einer unpersönlichen instrumentellen Rationalität, so begünstigt der Massenkonsum im Gegenteil die individualistisch-hedonistische Ethik des unmittelbaren Genusses und allgemeiner der „Selbstverwirklichung". Auf der Basis des Massenkonsums von materiellen und geistigen Gütern und vor dem Hintergrund des weltanschaulichen und ethischen Pantheismus entstehen und gedeihen allerlei „Irrationalismen", die umso mehr Menschen in ihren Bann schlagen, je stärker die gesteigerte Produktivität die Zahl der an den technisch-rationalen Vorgängen direkt Beteiligten verringert. Die Asymmetrie zwischen der „Rationalität" von Technik und Produktion und der ideologisch-weltanschaulichen „Irrationalität" bildet freilich kein Spezifikum der massenhaft produzierenden und massenhaft konsumierenden Massendemokratie, wenn sie sich hier auch mit geradezu entgegengesetzten Inhalten verbunden hat: Während in Gesellschaften, in denen die Knappheit der Güter herrschte, das „Irrationale" in der Regel

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asketische Tugenden und soziale Hierarchien legitimierte, fördert das „Irrationale" in einer Gesellschaft, die zum ersten Mal in der Geschichte die Knappheit der Güter grundsätzlich überwunden hat, hedonistische und individualistische bzw. egalitäre Vorstellungen und Haltungen. Aus der Sicht unserer Fragestellung ist indes nicht dieser spezielle Gegensatz, sondern die strukturelle Gemeinsamkeit wichtiger. Die vormodernen Gesellschaften haben auch Technik und Produktion auf der Basis der instrumentellen Rationalität von Mittel und Zweck gehandhabt (die Prozession und das Gebet für den Regen bedeuteten nicht, daß man ansonsten nicht all das getan hätte, was für einen guten Ertrag durch Anwendung der vorhandenen empirischen Erkenntnisse zweckdienlich erschien). Aber die instrumenteile Rationalität auf dieser Ebene gab keineswegs die Denkmethode ab, die die allgemeine Weltanschauung gestaltete. Es gibt keine Anhaltspunkte für die Annahme, dies werde nun wesentlich anders. Vor dem Hintergrund der gleichen Industrie und Technik sind heute wie in der Vergangenheit mehrere „Rationalismen" und „Irrationalismen" möglich; und der sozialontologische bzw. anthropologische Rahmen wird sich voraussichtlich infolge der neuen technischen Entwicklungen genauso wenig ändern wie durch die Erfindung der Buchdruckerkunst und der Ballistik an der Schwelle der Neuzeit 88 . Der den Differenzierungsevolutionisten vorschwebende rational-sachliche neue Mensch (also der ideale Wirtschaftsmanager oder Verwaltungsbeamte) ist außerdem nicht bloß durch die innere Logik der Konsumsphäre an seiner vollen sozialen Durchsetzung gehindert, sondern anscheinend auch auf seinem eigenen Terrain gefährdet. Die reale Entwicklung der fortgeschrittenen Massendemokratien von heute bietet sehr starke Indizien dafür, daß die programmatisch angestrebte Formalisierung der Regeln und des Verhaltens in Wirtschaft, Verwaltung und Politik immer mehr zur Fassade wird, hinter der Vetternwirtschaft, Korruption und auch Kriminalität blühen und gedeihen. Man darf die Vermutung aussprechen, die allmähliche Verwischung der Grenzen zwischen Staat und Wirtschaft, Öffentlichem und Privatem durch die Massendemokratie habe eine Refeudalisierung auf hochtechnisierter und hochmobiler Basis nach sich gezogen, wobei an die Stelle der festen und allgemeinen Normen vorübergehende und variierende Regelungen getreten seien, die persönlichen Beziehungen und dunklen Manipulationen erhebliche Spielräume ließen. Damit soll indes nicht der Eindruck erweckt werden, als ob strukturelle Wandlungen an sich moralische Umwälzungen bewirken, sondern es soll auf die konkreten Umstände hingewiesen werden, mit denen sich bestimmte Verhaltensweisen heute verbinden, gleichgültig, wie alt sie in ihrer Substanz sind und wie sehr sie sich in ihrer Form modifizieren mußten. Es soll m. a. W. keineswegs behauptet werden, daß sich „die Menschen" und „die Gesellschaft" im Vergleich zur Vergangenheit moralisch verschlechtert haben - solche Diagnosen sind immer kulturkritisch-polemisch inspiriert und nicht auf die Goldwaage zu legen - , sondern daß auch unter den Umständen der hochkomplexen und angeblich im Zeichen von „Sachzwängen" lebenden und operierenden Massendemokratie altbekannte Verhaltensweisen keineswegs aussterben. Es ist wahrhaft naiv, sie als „Archaismen" zu bezeichnen, die demnächst überwunden werden müssen, und zwar u. a. auch mit Hilfe der Sozialwissenschaften89. 88 Vgl. Kondylis, „Was heißt schon westlich?" 89 S o L u h m a n n , Politische

Planung,

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Nüchterne und erfahrene Beobachter, die übrigens dem „System" nicht unbedingt abgeneigt sind, kommen zu ganz anderen Feststellungen und Prognosen, wenn sie etwa den Wirkungen von Korruption etc. im Bereich der Wirtschaft nachgehen 90 . Die Auffassung, die höheren Stufen der Evolution würden sich in einem neuen Menschentyp niederschlagen, der ihren gesteigerten Rationalitätsforderungen gewachsen wäre, gehört bekanntlich zu den alten Hüten der Geschichtsphilosophie; beschränken wir uns hier auf den Hinweis, Spencer habe trotz sonstiger Meinungsverschiedenheiten mit Comte dessen Uberzeugung geteilt, die Erziehung des Individuums stimme in ihrer Art und Reihenfolge mit der historischen Erziehung des Menschengeschlechts überein 91 . Neben ihrer soeben erwähnten Version meldete sich diese Auffassung in Form einer Anwendung des Piagetschen Schemas von der stufenweisen intellektuellen Entwicklung des Menschen auf den Geschichtsablauf als Ganzes. Dabei mußten geradezu groteske und ethnologisch längst widerlegte Positionen aufgewärmt und von neuem aufgetischt werden 92 . Dies hat dennoch normativ-geschichtsphilosophisch inspirierte Evolutionisten nicht davon abhalten können, sich solche Konstrukte anzueignen 93 . Um sie in Frage zu stellen, reicht es nicht aus, gegen Piaget die Entstehung von wesentlich neuen mentalen Prinzipien im Laufe der Entwicklung zu leugnen bzw. das jeweils neue Prinzip als bloße Erweiterung oder konkretere Anwendung eines bereits vorhandenen zu betrachten. Denn Piagets Konstruktivismus beruht nicht nur auf der Annahme von Entwicklungsstufen mit qualitativ neuen Merkmalen, sondern auch auf der Überzeugung von der Kohärenz und Gleichmäßigkeit des Mentalen insgesamt. Deshalb muß er außer der Neuartigkeit der jeweils höheren mentalen Prinzipien deren Fähigkeit behaupten, sich vom Kontext ihrer Entstehung loszulösen und die übrigen mentalen Kontexte oder Bereiche dominierend zu übergreifen; sonst würde ja das Mentale eben durch seine Aufwärtsbewegung seine Kohärenz verlieren. Diese Kohärenz des Mentalen bleibt dennoch unbewiesenes Postulat. Vielmehr bringt jeder seiner Bereiche oder Kontexte die ihm eigenen Prinzipien oder Konstrukte eigenständig hervor, und der „Fortschritt" im einen bewirkt nicht automatisch einen „Fortschritt" im anderen. Das Mentale wird also nicht unbedingt nach den Maßstäben der höchsten Entwicklungsstufe vereinheitlicht oder, anders gewendet, die kognitive Entwicklung gipfelt nicht in wenigen Stufen, in denen die niederen aufgehen. Sowohl auf geschichtlicher als auch auf individueller Ebene sind auf jeder Entwicklungsstufe alle mentalen Elemente in jeweils unterschiedlichen und auch veränderlichen Dosierungen anzutreffen 94 . Empirisch wird dies durch die sehr spürbare und weitverbreitete Wirkung von geradezu magischen Denkweisen im Alltagsleben und -verhalten der Menschen in hochkomplexen und -technisierten Gesellschaften be90 S. z. B. Etzioni, Capital Corruption. 91 Essays, II, 133. Diese geschichtsphilosophische Denkfigur läßt sich allerdings bis Lessing oder Hegel zurückverfolgen. 92 So z. B. wenn Hallpike, Foundations, das „primitive" Denken mit dem Denken von europäischen Kindern im Alter von 3 - 7 Jahren auf dieselbe Entwicklungsstufe stellt. Vgl. die Kritik von Jahoda, Psychology, 224ff. 93 So z. B. Habermas, Theorie des komm. Handelns, I, 104ff. 94 So die vorzügliche Analyse von Harris-Heelas, „Cognitive Processes", insb. 2 1 8 - 2 2 1 , 232f. Zur Ungleichmäßigkeit mentaler Entwicklung vgl. Flavell, Cognitive Development, insb. 248.

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stätigt95. Fehlschlüsse in dieser Frage lassen sich kaum umgehen, wenn man das kulturell gerade vorherrschende Bekenntnis zur „Rationalität" mit den realen Denkprozessen bei den konkreten Menschen verwechselt, die sich in der einen Situation durch magische, religiöse, „irrationale" etc. Denkweisen, in einer anderen durch wissenschaftliche Begriffe und in einer dritten einfach durch den sogenannten gesunden Menschenverstand leiten lassen96. Die Erwartung von der Durchsetzung des „kognitiven" Elementes innerhalb der hochdifferenzierten Gesellschaft wird zudem durch den Hinweis auf den wachsenden und immer schnelleren Fluß von Informationen in ihr begründet, der übrigens die uns schon bekannte These zu erhärten scheint, Kommunikation bilde das Wesen des Sozialen. Dem liegt die Überzeugung zugrunde, wer sich im Besitz von mehr Informationen befinde, denke und handele auch rationaler, während „archaische" Verhaltensweisen vorzugsweise in der geistigen Umnachtung des Informationsmangels florieren. Der erste Kurzschluß in dieser Syllogistik liegt auf der Hand: Nicht der bloße Gebrauch von Information, sondern erst die Art und die Qualität des Gebrauchs macht sie zur kognitiven Grundlage rationalen Handelns; die Rationalität des Handelnden muß also als Anlage und als selbständige Größe vorausgesetzt werden. Der zweite Fehler ist ein pragmatischer. Die Herstellung einer Verbindung zwischen größerer Informationsmenge und höherem kognitiv-rationalem Potential impliziert die Annahme, man mache tatsächlich von jener Menge Gebrauch, man treffe also keine praktische Entscheidung, ehe man alle vorhandenen Informationen durchgehe. Aber der Gebrauch von Information erfolgt in konkreten Lagen, d. h. unter Zeit- und Entscheidungsdruck, der in dem Maße zunimmt, wie die „Informationsgesellschaft" „Wirtschafts-" und Konkurrenzgesellschaft ist. Je schneller die Informationsübertragung, desto größer der zeitliche Entscheidungsdruck. Die Hauptsorge des Handelnden ist demnach nicht immer und nicht notwendig die Menge der verfügbaren Informationen, sondern die verfügbare Zeitspanne zur Kenntnisnahme, Sichtung und Auswertung von Information. Angesichts der knapp bemessenen Zeit bietet die Fülle der theoretisch verfügbaren Information nur zufällige Selektionsvorteile. Das im Computer gespeicherte Informationsangebot nützt daher dem Handelnden soviel oder sowenig wie ihm seinerzeit das in Bibliotheken und Archiven gehortete Wissen zur Seite gestanden hat. Das gilt für den Politiker wie für den Börsenmakler gleichermaßen. In den immer höher schlagenden Wellen der Information kann man ertrinken. Und dagegen hilft nur die bewußte oder unbewußte Wirkung der anthropologisch bedingten, stabilen und stabilisierenden Entlastungsmechanismen, gleichviel, auf welchem Komplexitätsniveau sie sich entfalten. Die Menge der verfügbaren Informationen und die Schnelligkeit ihrer Übertragung bürgt also an sich nicht für die Durchsetzung des kognitiven Elements im modernen sozialen Leben als Ganzem. Eine weitere Überlegung zeigt, daß sich dieses Element innerhalb einer hochkomplexen Gesellschaft in einer bestimmten, doch vielleicht entscheidenden Hinsicht sogar abschwächen könnte. Wir meinen hier das Wissen um den langfristigen Gesamtausgang der sich gerade abspielenden kurz- und 95 Shweder, „Likeness and likelihood." Zu Piagets Überschätzung der „rationalen" Komponenten im Verhalten der Erwachsenen in den modernen westlichen Gesellschaften s. Sinnott, „Everyday thinking" sowie Labouvie-Vief, „Adult cognitive development". 96 Jahoda, Psychology, 182.

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mittelfristigen Teilvorgänge, d. h. nicht so sehr das Wissen um die - ebenfalls manchmal undurchsichtige - Gegenwart, sondern vor allem das Wissen um die Zukunft. Die allgemeine Richtung des Gesamtgeschehens kann und muß möglicherweise um so mehr aus den Augen geraten, wie die Kenntnis über die einzelnen Zusammenhänge vertieft wird, was die erhebliche inhaltliche Differenzierung oder die bloß occasionelle Kreuzung der Perspektiven erzeugt. Mit anderen Worten: Die Komplexität des Sozialen macht die unbeabsichtigten und ungeahnten Gesamtfolgen kollektiven Handelns wahrscheinlicher, sie intensiviert den Effekt der Heterogonie der Zwecke 97 . Dieser Effekt wurde traditionell unter dem Gesichtspunkt der unsichtbaren Hand erwogen, wonach (auch) individuelle Irrationalismen durch ihre Verflechtung einen rationalen kollektiven Ausgang zustande bringen. Das Gegenteil davon kann aber ebenfalls eintreten, d. h. die Summe der partiellen Rationalitäten kann ein irrationales Gesamtergebnis zeitigen. Die „knowledgeable society" kann sich nur dann ständig reproduzieren, wenn die subjektiven Erwartungen im großen ganzen nicht nur hinsichtlich der Verhaltensweise der jeweiligen Interaktionspartner, sondern auch hinsichtlich der Gesamtleistung des „Systems" befriedigt werden. Kommt es zu einer Situation, in der zwar gegenseitige Erwartungen erfüllt werden, das erwartete Gesamtergebnis des kollektiven Handelns aber ausbleibt, so bedeutet dies für eine hochkomplexe Gesellschaft den Zustand der absoluten Ratlosigkeit. Denn der archimedische Punkt, an dem man ansetzen könnte, um den Trend umzukehren, ist irgendwann irgendwo im Dickicht der Komplexität verschüttet worden. Entweder muß sich also die hochkomplexe Gesellschaft die materiellen und sonstigen Voraussetzungen ihrer Reproduktion auf immer sichern oder sie muß in einer geschichtlich beispiellosen Katastrophe enden. Die heiklen Implikationen der Heterogonie der Zwecke wurden von Differenzierungsevolutionisten deshalb kaum registriert, weil ihr geschichtsphilosophischer Optimismus sich im Glauben an die immanente Rationalität des hochdifferenzierten Sozialsystems als solchem niedergeschlagen hat. Dieser Glaube artikulierte sich zwar bei unseren zeitgenössischen Systemtheoretikern am lautesten, die dadurch die Beseitigung des Normativen in der Funktion des systemerhaltenden Faktors kompensieren wollten, er hängt aber mit dem evolutionistischen Konzept im weiteren Sinne zusammen und daher begegnet er uns schon bei älteren Sozialtheoretikern, die das Ethisch-Normative anders eingeschätzt haben. Dürkheims theoretische Dilemmas darf man ja als Ergebnisse seines Versuchs begreifen, die wohltuende soziale Wirkung des Ethisch-Normativen mit einer objektiven sozialen Rationalität in Verbindung zu setzen, die der wachsenden Differenzierung der Gesellschaft infolge einer unaufhaltsamen Evolution entsprechen sollte. Wie andere Evolutionisten vor und nach ihm, wünscht sich Dürkheim eine Übereinstimmung seiner sozialen Präferenzen mit dem Lauf der Geschichte und ist deshalb um den Nachweis bemüht, mit den Fortschritten der sozialen Arbeitsteilung werde eine höhere Solidarität einhergehen. Gleichzeitig lehnt er die utilitaristisch-ökonomistische Vorstellung von der Erreichung dieser Solidarität allein durch die Verflechtung materieller Interessen ab und bietet eine solidarische Sozialethik als Integrationskraft auf. Nirgendwo zeigt er aber im einzelnen, wie sich diese Ebene sozialer Integration mit der Ebene der in ihrer 97 Vgl. o. Anm. 50.

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I. Sozialtheorie und massendemokratische

Ideologie

Weise auch integrativen sozialen Arbeitsteilung verschränkt; im Gegenteil, die erstere wird von außen in das reife Modell hereingeholt, d. h. sie wird nach einem ethnologisch konzipierten Religionsbegriff konstruiert, während die Ansätze des Frühwerkes zu einer individualistisch-personalistisch ausgerichteten Sozialreligion stillschweigend aufgegeben werden 98 . Dieselbe Aporie oder Antinomie steht im Mittelpunkt der Theorie des kommunikativen Handelns, da sie Dürkheims Denkschema in seinen beiden Aspekten übernimmt und das Faktum wachsender Differenzierung (Rationalisierung, Verrechtlichung etc.) in der Moderne mit den ethisch-normativ konzipierten sozialen Integrationsmöglichkeiten im positiven Sinne zu korrelieren sucht. Dürkheims Gegenüberstellung von individualistischer wirtschaftlicher Basis und integralistisch-kollektivistischer Ideologie findet ihr Pendant im Gegensatz zwischen System und Lebenswelt, dem indes nichts prinzipiell Unüberwindliches innewohnen soll. Der Gegensatz wird zwar heftig beklagt, wie die Versöhnung begrifflich und sozial zu bewerkstelligen sei, bleibt aber ebenso unklar wie bei Dürkheim". Aus der Schwierigkeit hilft hier der indirekte, nichtsdestoweniger drastische Rückgriff auf altbewährte geschichtsphilosophische und zwar eschatologische Konstrukte. Denn, logisch gesehen, kann nichts anderes als das Ende der Zeiten gemeint sein, wenn - gleichzeitig mit der von Systemtheoretikern und Ökonomisten angekündigten Durchsetzung des kognitiven Elements und gut anderthalb Jahrhunderte nach Hegels Tod - feierlich erklärt wird, der heutige geschichtliche Augenblick biete einen „privilegierten Zugang" zur Erfassung und Lösung letzter sozialtheoretischer Fragen 100 . Dies soll wiederum deshalb der Fall sein, weil der Geschichtsablauf, insbesondere seit dem Aufstieg der europäischen Moderne, Rationalitätspotentiale freisetzte, wobei die Geistesgeschichte nicht anders vorging als die Sozialgeschichte: Sie differenzierte zuvor Undifferenziertes und löste somit das mythische Denken auf. Die mit der Differenzierung einhergehende Rationalisierung fiel freilich „ungleichgewichtig" aus und rief Konflikte zwischen der kognitiven (Wahrheit), praktischen (Erfolg), ästhetischen und ethischen (Gerechtigkeit) Sphäre hervor 101 , trotzdem bleibt es bei der Diagnose, unter modernen Umständen sei Rationalität so weit fortgeschritten, daß sie selbst eigene Defizite und Ungleichgewichte erkennen und aufheben könne; einen anderen Weg nach dem Zusammenbruch traditioneller Metaphysik gebe es ohnehin nicht 102 . Diese Konstruktion ist offenbar weit von einer umfangreichen Kenntnis der geistesgeschichtlichen Entwicklung aus erster Hand entfernt; sie bedient sich grober Stereotypen oder Kontrastierungen, und dementsprechend leidet sie unter demselben Mangel wie der evolutionistische Ansatz überhaupt, d. h. dem undifferenzierten Gebrauch des Differenzierungsbegriffs. Auch in der Geistesgeschichte geht Differenzierung nicht geradlinig und gleichförmig vor sich, sondern sie entfaltet sich jeweils anders entsprechend der konkreten Konstellation und dem jeweils zugrundliegenden weltanschaulichen Paradigma. Der Gegensatz zwischen traditioneller bzw. theologischer Metaphysik und neuzeitlichem Rationalismus warf andere Fragen auf als die Zerstückelung dieses letzteren in mehrere gegeneinander 98 99 100 101 102

S. den guten Überblick von Pizzorno, „Lecture", insb. 8-14, 18. Vgl. o. Anm. 10. S. o. Anm. 60. So Habermas, Theorie des komm. Handelns, II, 593. A. a. O., I, 259. A. a. O., II, 65.

3. Differenzierung,

Komplexität

und Evolution:

Der Rückfall in die

Geschichtsphilosophie

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kämpfende Positionen. Jener Metaphysik wurden - immer im Namen einer „Vernunft", die den polemisch gemeinten und verwendeten Inbegriff der antitheologischen Einstellung bildete - mythische Konstrukte oder Hypostasen entgegengestellt, deren wichtigste hießen: „Natur", „Mensch", „Geschichte". Diese waren zwar vom Inhalt her der theologischen Weltanschauung entgegengesetzt, strukturell stimmten sie aber mit ihr in der entscheidenden Hinsicht überein, daß sie ebenfalls auf der direkten oder indirekten Verflechtung von Sein und Sollen beruhten, also den Sieg von vorschwebenden ethischen Vorstellungen durch den Verweis auf die Beschaffenheit eines ontologischen oder anthropologischen Urgrundes absichern wollten. Im Schöße des neuzeitlichen Rationalismus verlief der Differenzierungsvorgang anders. Die polemische Notwendigkeit, den Menschen als Teil der gesetzmäßigen Natur und zugleich als Herren über diese selbe Natur aufzufassen, führte zu einem logisch unversöhnlichen Konflikt zwischen Kausalem und Normativem oder zwischen Sein und Sollen, welcher, konsequent durchdacht, in den ethischen Nihilismus münden mußte - dieses Produkt der Moderne par excellence103. Die oben genannten mythischen Konstrukte des neuzeitlichen Rationalismus wandten sich von nun an nicht nur gegen die theologische Metaphysik, sondern auch gegen jene radikale Ausmerzung des Sollens aus dem Sein, die bei der völligen Auflösung des Sollens und parallel dazu bei der schroffen Trennung von instrumenteller und ethischer Rationalität voneinander endete. Behält man diese Entwicklung vor Augen, so darf man nicht die moderne Rationalität als Möglichkeit der Trennung von Geltungsansprüchen und Weltbezügen (im Gegensatz zur Verflechtung von Sein und Sollen im primitiven Denken) definieren104 und im selben Augenblick eben unter Berufung auf d i e s e Rationalität die Harmonisierung von instrumenteller und ethischer Rationalität bzw. von technischem und kulturellem Aspekt der Moderne fordern105. Die entscheidende Differenzierung zwischen Sein und Sollen bedeutet logisch den endgültigen Verzicht auf die Vereinheitlichung der Rationalität - und umgekehrt: Die Vereinheitlichungsversuche müssen ausgerechnet diese Differenzierung zurücknehmen und zur mythischen Verschmelzung von Geltungsansprüchen und Weltbezügen zurückkehren, gleichviel, unter welchen Vorzeichen. Eben dies tut ja die Theorie des kommunikativen Handelns indem sie in ihrem Kommunikationsbegriff eine sozialontologische Größe und einen normativen Anspruch miteinander verbindet und außerdem im Inhalt der Kommunikation normative Richtigkeit und Wahrheit in eins fließen läßt. Dasselbe tut sie freilich auch, wenn sie die Indizien für die Realisierungsmöglichkeit ethisch-normativer Hoffnungen in der Geschichtsentwicklung selbst sucht und somit die sehr oft und immer vergeblich betretenen Wege der Geschichtsphilosophie von neuem einschlägt. Der Zeitgeist, der im Zeichen der massendemokratisch-funktionalistischen Auflösung der bürgerlichen Substanzen „Mensch" und „Geschichte" steht, verbietet dabei den offenen und programmatischen Rückgriff auf die geschichtsphilosophische Eschatologie, wie er übrigens die Distanzierung von „jeder 103 Diese höchst widersprüchliche Entwicklung wird bei Kondylis, Aufklärung, geschildert. Habermas (a. a. O., II, 486) zitiert allerdings das Buch als eine weitere Bestätigung des Topos von der „Vernunftutopie des Aufklärungszeitalters", d. h. ohne wahrgenommen zu haben, wovon in ihm überhaupt die Rede ist. 104 Habermas, a. a. O., I, 80. 105 A. a. O., I, 485; vgl. Phil. Diskurs, 11 f.

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I. Sozialtheorie und massendemokratische Ideologie

Metaphysik" fordert. So wird zwar beteuert, in der Geschichte gebe es keine Teleologie, sondern nur „unabgeschlossene, abgebrochene, fehlgeleitete Bildungsprozesse" 1 0 6 , nicht aber näher erläutert, woher die Maßstäbe kommen, an Hand deren Prozesse als abgebrochen oder fehlgeleitet bezeichnet werden dürfen. Nur wer eine klare Vorstellung über den gelungenen Abschluß von Geschichtsprozessen hat, darf a contrario solche Bezeichnungen wagen, diese Vorstellung muß aber letztlich in geschichtsphilosophischen Prämissen gründen. Die grundsätzliche Ambivalenz ist hier unumgänglich, und sie äußert sich nicht zuletzt in einer zweideutigen Bewertung der Moderne. Wo der eschatologisch-geschichtsphilosophische Impuls überwiegt, da wird der neuzeitliche Geschichtsablauf mit geradezu Hegelscher Zuversicht rekonstruiert, die kulturkritischen Reminiszenzen oder Hintergründe der Theorie des kommunikativen Handelns schlagen sich im Gegenteil in zurückhaltenden Aussagen nieder; entsprechend schwankt die Weber-Interpretation zwischen einer instrumentalistischen und einer ethisch-kulturell aufgeladenen Version des Rationalisierungsbegriffs 107 . Diese Ansätze existieren freilich unvermittelt und diffus nebeneinander; weder wird erläutert, in welchem Sinne und Ausmaß die gute Seite der Moderne bzw. die fortschreitende Differenzierung der normativ aufgefaßten Kommunikation zugute gekommen ist, noch wird auf die Frage eingegangen, inwiefern die bisherigen „fehlgeleiteten" Entwicklungen den Gesamtablauf gefährden könnten und was dann zu erwarten wäre. Zum konsequenten Verzicht auf die Geschichtsphilosophie fehlt der Wille, zum offenen Bekenntnis zu ihr fehlt die Kraft. Aber über fehlenden Willen und fehlende Kraft trösten anscheinend die guten Absichten hinweg.

4. Gemeinschaft und Gesellschaft: eine folgenreiche Legende Der Differenzierungsevolutionismus läßt sich nicht nur von der Geschichtsphilosophie des 18. und 19. Jahrhunderts inspirieren. Indem er eine qualitative Wende innerhalb des geschichtlichen Differenzierungsvorgangs annimmt und die Beschleunigung oder Erweiterung desselben mit dem Ubergang von der agrarischen „Vormoderne" zur industriellen „Moderne" verbindet, schöpft er aus einer Konstruktion oder Fiktion, die das soziologische Denken der letzten hundert Jahre in sehr unterschiedlichen Hinsichten und Formen beeinflußt hat. Gemeint ist das gleichsam legendäre antithetische Begriffspaar von Gemeinschaft und Gesellschaft. Seine suggestive Kraft entspringt nicht zuletzt der Möglichkeit, eine plastische und einprägsame Grunddichotomie auf mehrere Gebiete zu übertragen, wobei die entwaffnende Anschaulichkeit wie eine bestechende Interpretation anmutet. So läßt sich der Gegensatz zwischen Gemeinschaft und Gesellschaft in verschiedenen Kategorien fassen: in wirtschaftlichen (Agrikultur vs. Industrie), politischen (Herrschaft vs. Vertrag oder Konsens), soziostrukturellen (Einfaches vs. Komplexes oder Differenziertes), ge106 S. z. B. Phil. Diskurs, 69, Anm. 4. 107 Breuer, „Depotenzierung" insb. 140ff; Alexander, „Review Essay".

4. Gemeinschaft und Gesellschaft: eine folgenreiche

Legende

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schichtstheoretischen (Stationäres vs. Dynamisches), psychisch-mentalen (Affektuelles vs. Rationales) und sogar ethischen (Selbstverwirklichung vs. Selbstentfremdung) 108 . Diese reichlich vorhandenen Ubertragungs- und Polarisierungsmöglichkeiten gestatten wiederum die Herstellung einer Verbindung zwischen dieser oder jener Version des Begriffspaares mit den verschiedensten kulturphilosophischen und sozialpolitischen Präferenzen. Die „Gemeinschaft" als Inspirationsquelle für utopische Entwürfe sozialer Solidarität lebt in unseren Tagen weiter 109 , und sie speist sowohl die „linke" als auch die „rechte" Kulturkritik, die sich gegen die unübersichtliche, menschliche Initiativen lähmende Komplexität der modernen Gesellschaft wendet. Dabei wird fälschlich angenommen, größere Überschaubarkeit und kleineres Ausmaß würden an sich größere Gestaltungsmöglichkeiten für den Einzelnen oder die Gruppe bedeuten - als ob der „Primitive" oder der Grieche die eigene Gesellschaft oder auch nur den eigenen Lebenslauf beliebiger gestalten und umgestalten konnte als die Mitglieder der heutigen Massendemokratie es vermögen; wenn ein besonders und besonders stark empfundenes Bedürfnis nach solchen Gestaltungsmöglichkeiten überhaupt entsteht, so liegt der Grund dafür nicht an einer Sehnsucht nach ehemals vorhandenen und inzwischen verlorenen Freiräumen, sondern an der Tatsache, daß der moderne Fortschrittsglaube und der moderne Individualismus den Gedanken nahelegen, etwas müsse sich ständig ändern und die Änderung gehe letztlich auf individuelle Initiative zurück. Die Differenzierungsevolutionisten nehmen im Gegenteil für die „Gesellschaft" Partei, indem sie die „Gemeinschaft" für eine im Grunde historische, also „vormoderne" und daher endgültig überwundene Entwicklungsstufe halten; das Eingeständnis, „Gemeinschaft" könnte konstitutive und permanente Komponenten jeden sozialen Lebens verkörpern, würde offenbar zentrale Annahmen des Evolutionismus, so z. B. den Zusammenhang zwischen Differenzierungsfortschritten und Durchsetzung des „kognitiven" Elements, ins Wanken bringen. Schließlich gibt es Versuche, von beidem das Beste zu behalten, z. B. eine nach gemeinschaftlichen Vorstellungen konzipierte „Lebenswelt" neben dem System einer hochdifferenzierten „Gesellschaft" bestehen zu lassen. Hinter solchen prekären Kombinationen zeichnen sich indes immer die reinen Typen in ihrem Gegensatz ab. Tatsächlich hatte sich die Gegenüberstellung von Gemeinschaft und Gesellschaft unter welchem Namen auch immer - von Anfang an sowohl mit skeptischen als auch mit optimistischen Einschätzungen der neuen industriell-differenzierten Gesellschaft verbunden. Tönnies ließ sich zugegebenermaßen durch Maines fundamentale Unterscheidung zwischen status und contract beeinflussen, aber unter seinen Quellen muß man unbedingt auch einen Evolutionisten wie Spencer erwähnen, der in der Ablösung der „militärischen" (homogenen) durch die „industriellen" (differenzierten) Gesellschaften eine erfreuliche Wende der Weltgeschichte erblickte 110 . Solche Zuversicht blieb dem Kapitalismuskritiker Tönnies bekanntlich fremd, der zunächst sein Augenmerk auf das epochale Ereignis des vor sich gehenden Kulturbruchs lenkte, also den Gegensatz zwischen Gemeinschaft und Gesellschaft als ein „Theorem der Kulturphilosophie" auffaßte und ihn erst später in die begriffliche bzw. idealtypische 108 Vgl. die ausführliche Tafel bei Berreman, „Scale", 46-48; hier wird allerdings vom Gegensatz zwischen „small scale" und „large scale societies" gesprochen. 109 Busino, „Critique", 247ff. 110 König, „Begriffe", 381, 385f.

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I. Sozialtheorie und massendemokratische

Ideologie

Grundlage der reinen (formalen) Soziologie hat verwandeln wollen 111 . Die Spannungen zwischen den beiden Einstellungen und die Zweideutigkeiten konnten indes nicht mehr behoben werden: Manchmal wurde der Gemeinschafts- dem Gesellschaftsbegriff nicht nur historisch vorgeordnet, sondern auch systematisch und sozialethisch, d. h. in antikapitalistischer Absicht übergeordnet; bald handelte es sich hier um aufeinander folgende historische Strukturbegriffe, bald um zwei Möglichkeiten menschlichen Zusammenlebens, die vorgeschichtlich in gemischter Form auftreten können; gelegentlich wurde der endgültige Verfall der Gemeinschaft diagnostiziert und dann wieder ihre Erhaltung behauptet, und zwar unter zwei ganz unterschiedlichen Gesichtspunkten: als geschichtliches Überbleibsel oder aber als unentbehrliche Komponente des Sozialen überhaupt; und schließlich fungierte der Gemeinschaftsbegriff ab und zu als Modell zum Aufbau einer neuen, solidarisch-antikapitalistischen Zukunft 112 . Tönnies' Ambivalenzen sind von bleibendem systematischen Interesse. Sie entstammten der Tatsache, daß sich der formalsoziologische Ansatz a limine mit einem Begriffspaar verband, dessen geschichts- und kulturphilosophische Auffassung das eigentliche Anliegen einer formalen Soziologie beeinträchtigen mußte. Bestand dieses Anliegen von der Sache her darin, eine Begrifflichkeit aufzustellen, welche die Unterscheidungen oder Klassifizierungen der Geschichtsphilosophie des 18. und 19. Jahrhunderts mit einem Schlag umfassen und somit soziologisch neutralisieren oder gar beseitigen würde, so hat Tönnies umgekehrt das Formalsoziologische eben an die geschichtsphilosophische Uberlieferung angeschlossen; formalisiert wurden Strukturbegriffe, die innerhalb der früheren Geschichtsphilosophie die Stellung von Entwicklungsstufen innehatten und weiterhin einer Geschichtsperiodisierung zugrundegelegt werden konnten. Aber der große gemeinsame Nenner fehlte noch immer, es fehlte also eine einheitliche, „Gemeinschaft" und „Gesellschaft" gleichzeitig und gleichermaßen tragende Begrifflichkeit. Da der Gegensatz der beiden Idealtypen die Fragestellung beherrschte, so wurden entsprechende Typen der sozialen Beziehung und des sozialen Handelns herausgearbeitet oder einfach suggeriert, es wurden aber nicht die soziale Beziehung und das soziale Handeln als solche thematisiert, von anthropologischen Fragen ganz zu schweigen (denn auch diese wurden nur aus der Sicht des genannten Gegensatzes gestreift, etwa in Form der Gegenüberstellung von Wesens- und Kürwillen). Und auch als bald darauf eingesehen wurde, daß die gründliche Uberwindung der Geschichtsphilosophie oder -eschatologie einen Schritt über Tönnies' Typologien und Kategorien hinaus erforderlich machte, blieben die begrifflichen Mittel dieser Überwindung der Tönniesschen Gedankenwelt mehr oder weniger verhaftet. Dies läßt sich an Webers Klassifizierung der Handlungstypen in Verbindung mit der Rationalitätsproblematik 113 sowie an der Art und Weise erkennen, wie Simmel „Gesellschaft" und „Geld" oder „Funktion" zusammendenkt funktional stellt er sich aber auch den formalsoziologischen Ansatz überhaupt vor. Die Reduktion von Tönnies* Sozialtheorie auf den Gegensatz „Gemeinschaft vs. Gesellschaft" begünstigte jedenfalls ihr Aufgehen in einer evolutionistischen Perspekti111 A. a. O., 3 5 1 - 3 5 3 . 112 A. a. O., 382ff„ 387ff„ 399ff. 113 S. Kap. IV, Abschn. 2A; Kap. V, Abschn. IC

4. Gemeinschaft und Gesellschaft: eine folgenreiche Legende

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ve, die sich ihrerseits vornehmlich um den Nachweis der zunehmenden Differenzierung in der Geschichte, also um den Kontrast „Vormoderne-Moderne" kümmerte. Dieser Differenzierungsevolutionismus wurde in Sozialtheorien unterschiedlicher (kybernetischer, ökonomistischer, ethischer) Inspiration integriert, seine Theoreme wurden daher als Bestätigung oder als Ergebnis von allgemeineren Prämissen hingestellt. Dennoch verhielt es sich in Wirklichkeit umgekehrt: Die theoretischen Prämissen wurden im großen ganzen vom Standpunkt der Differenzierung und der „Gesellschaft" aus konzipiert und formuliert, wobei, wie schon angemerkt, anthropologische Konstanten den Differenzierungsvorgängen in der Moderne zugeschrieben oder moderne Spezifika zu sozialontologischen Konstanten erhoben wurden. Dadurch wurde der Gegensatz „Gemeinschaft vs. Gesellschaft" bei allen pflichtgemäßen rhetorischen Absagen an die Geschichtsphilosophie übernommen, und die normative Kraft des Faktischen machte sich in der frohen oder zähneknirschenden Parteinahme für die „Gesellschaft" bemerkbar. Die Kritik am historisch hypostasierten Gegensatz von „Gemeinschaft" und „Gesellschaft" bzw. „Vormoderne" und „Moderne" rührt also an fundamentale sozialtheoretische Fragen. Sie kann nur dann als obsolete Pedanterie erscheinen, wenn man an den Verkleidungen und Nachwirkungen dieses Denkschemas unreflektiert vorbeigeht, ohne die Gründe zu ahnen, warum die sich erhebenden Gegenstimmen den Trend nicht umkehren konnten. Geiger hatte ja bereits in einer frühen Schrift den wesentlichen Fehler von Tönnies folgendermaßen geschildert: Dieser betrachte Gemeinschaft und Gesellschaft als Gattungsbezeichnungen von realen Gebilden mit kulturphilosophischen und entwicklungsgeschichtlichen Konnotationen anstatt in ihnen Gestaltungsprinzipien der einzigen Gattung sozialer Gestalten, d. h. der Gruppe auszumachen1 4 . Gurvitch lehnte ebenso die Absonderung der verschiedenen Soziabilitätsformen voneinander ab wie auch ihre Hierarchisierung entweder nach entwicklungsgeschichtlichen (Tönnies, Dürkheim) oder nach letztlich ethischen Kriterien (Sorokins Bevorzugung der solidarischen vor den antagonistischen Soziabilitätsformen). Er betonte, diese koexistierten und verschränkten sich miteinander, sie würden sich keineswegs geradlinig oder einseitig in der Geschichte entfalten 1 1 5 . Offenbar machen diese Thesen, zu Ende gedacht, das Konzept des Differenzierungsevolutionismus zunichte. Denn sie schließen jene totale Durchsetzung der unverwässerten „Gesellschaft" aus, mit der dieses Konzept die Geschichte enden läßt. Wie Wiederkehr und Verbreitung des Vertragsgedankens in der zeitgenössischen Sozialtheorie indizieren, soll die genannte Durchsetzung der „Gesellschaft" deshalb total sein, weil ihre Prinzipien außer der laufenden Funktions- auch die Konstitutionsweise des Kollektivs bestimmen. Ein Kollektiv, das als „Gesellschaft" funktioniert, ist also als „Gesellschaft" konstituiert. Hier wird ein Fehler begangen, der zu Recht schon Tönnies und Dürkheim vorgeworfen wurde: Es wird die Entstehungsart der Gruppe mit ihrem sozialen Charakter verwechselt, also die Möglichkeit des Hervorgehens von „Gemeinschaft" aus ursprünglichen Zwangs- bzw. Vertragsbeziehungen sowie von „Gesellschaft" aus ursprünglich normativer Motivation (aber auch aus Zwang) übersehen; wie sich jede Art von sozialer Beziehung unterschiedlich her114 Gestalten, insb. 22 f., 115 Vocation, I, 116ff.

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I. Sozialtheorie und massendemokratische Ideologie

ausbilden kann, so kann auch derselbe Ursprung zu unterschiedlichen Beziehungsarten führen 116 . Hinsichtlich der genetischen Frage ist es freilich eine Sache, ob Individuen durch Vertrag oder Konsens das Kollektiv gründen, innerhalb dessen sie zu leben gedenken, und eine ganz andere, ob das Kollektiv, innerhalb dessen sie ohnehin leben müssen, „gesellschaftlich" organisiert ist, also die Beziehungen zwischen seinen Mitgliedern vornehmlich oder großenteils durch Verträge oder Konsens regeln läßt; der fundamentale Unterschied macht sich an der (theoretischen) Möglichkeit bemerkbar, daß der pactus societatis eine „gemeinschaftliche" Organisation des Kollektivs vorsehen könnte. Aber die Frage nach der Verflechtungsart und -intensität von „Gesellschaftlichem" und „Gemeinschaftlichem" stellt sich nicht bloß auf genetischer Ebene. Außerdem stellt sie sich, erstens, im Hinblick auf den Zusammenhalt des Kollektivs, und nicht zuletzt auf die dazu beitragenden Ideologien, gleichviel, ob diese im engeren Sinne der Normen und der Werte oder im weiteren weltanschaulichen Sinne verstanden werden; es sei beiläufig angemerkt, daß der Glaube, Verträge konstituierten die Gesellschaft und bürgten für ihren Zusammenhalt, eben eine solche Ideologie sein kann. Sie stellt sich, zweitens, auf der Ebene von sozialen Organisationen, und zwar in jeweils anderer Hinsicht: In einer Armee oder in einer Schule, die „gesellschaftlich", d. h. nach unpersönlichem bürokratischem Muster organisiert sind und vor dem (ungewollten) Beitritt von Individuen zu ihnen bestehen, zugleich aber „gemeinschaftliche" Elemente zur Erfüllung ihres Zwecks absolut benötigen, werden „Gesellschaftliches" und „Gemeinschaftliches" anders miteinander vermischt als etwa in einer Partei, die durch die freie Tat von Individuen gegründet wird, in deren Motivation bereits Interessenkalkül und gegen Dritte gerichtetes Zusammengehörigkeitsgefühl ineinandergehen, und für ihre Entfaltung sowohl rational-organisatorische als auch charismatische und emotionale Mittel einsetzt. Und drittens stellt sich die genannte Frage auf dem Gebiet der nicht institutionalisierten Interaktion bzw. der konkreten Ausübung sozialen Einflusses. Als Beispiel sei hier die Herausbildung von engeren Milieus genannt, die im Schöße von „Gesellschaften" eine Fortdauer von „gemeinschaftlichen", z. B. aus dem Dorfleben stammenden Verhaltensweisen ermöglichen 117 ; übrigens beeinträchtigt die Größe des Kollektivs oder der Übergang vom kleinen zum großen Kollektiv keineswegs die Wirkungsmöglichkeiten von (relativ) geschlossenen sozialen Kreisen, die ihre Ziele vornehmlich durch persönliche Einflußnahme erreichen 118 . Das Vorhandensein von „gemeinschaftlichen" Elementen innerhalb der „Gesellschaft" bildet nicht notwendig und nicht immer ein Überbleibsel vergangener, nur noch psychologisch weiterlebender Sozialstrukturen. Solche Elemente werden ständig auf neuer interaktioneller und symbolischer Basis innerhalb der „Gesellschaft" selbst erzeugt (erinnern wir uns z. B. an die unterschiedlichen Logiken der Massenproduktion und des Massenkonsums) und können Spannungen in ihrem Gefüge hervorrufen. Aber auch umgekehrt bilden „gesellschaftliche" Elemente innerhalb von „Gemeinschaft" kein bloß heterogenes und vorwärtstreibendes Moment, das auf die 116 Sorokin, Society, 114f. 117 Dazu Schwartz, „Size", 245

118 Jacobson, „Scale", insb. 192f.

4. Gemeinschaft und Gesellschaft: eine folgenreiche Legende

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Sprengung der Grenzen der „Gemeinschaft" hinarbeitet, sondern vielmehr ursprüngliche und funktionell unentbehrliche Bestandteile derselben 119 . Diese Feststellung widerlegt zunächst die Thesen oder vielmehr die Hypothesen des Differenzierungsevolutionismus über das Fehlen einer reflektierten Individualität in der „Vormoderne" im allgemeinen und in den „primitiven" oder „archaischen" Gesellschaften im besonderen. Geiger hatte bereits diesen Zusammenhang zwischen soziologischer und anthropologischer Fragestellung eingesehen und in seiner erwähnten Kritik an Tönnies betont, daß keine „Gemeinschaft" die Individualität aufhebt, daß die Art der Teilhabe am Kollektiv von Individuum zu Individuum variiert und daß die objektive soziologische Bedeutung der Gruppe nicht mit der subjektiven Bedeutung zusammenfallen muß, die sie für jedes ihrer Mitglieder hat 1 2 0 . Neuere Untersuchungen, die auf die inzwischen vorliegenden Ergebnisse der ethnologischen Forschung zurückblikken können, bestätigen eindeutig den Befund, daß Persönlichkeit weder plötzlich auf der Basis der Statusspezialisierung innerhalb komplexer Gesellschaften ins Dasein trete, noch die Vermehrung der vorhandenen Individuen einer Erweiterung des Spektrums der Persönlichkeitstypen gleichkomme; das differenzierte Ich löst sich nicht einmal innerhalb der scheinbar absoluten Gruppensolidarität des religiösen Kults auf, welcher im Gegenteil Gelegenheit zur Entwicklung individueller Stile bietet 1 2 1 . Individuelles rationales Kalkül sowie „free-rider"-Strategien entfalten sich innerhalb traditionalistischer „Gemeinschaften" nicht weniger und nicht anders als anderswo; dasselbe gilt für die formalsoziologischen und psychologischen Aspekte der Machtverhältnisse und -spiele, deren von alters her bezeugte Raffinesse und Intensität sich mit idyllischen Vorstellungen von der angeblich einmütig-einträchtigen „Gemeinschaft" kaum vereinbaren lassen 122 . Die dadurch bedingte innere Vielfalt der „Gemeinschaft" macht ihre Grenzen oder Unterschiede zur „Gesellschaft" ebenso flüssig wie sie Grenzen und Unterschiede zwischen den einzelnen „Gemeinschaften" schafft, so daß ein historisch und soziologisch sinnvoller Gebrauch des Terminus unmöglich erscheint. Spannt er sich über alle „vormodernen" bzw. vorindustriellen Kollektive, so muß er begrifflich und strukturell für soziale Formationen herhalten, die sich grundlegend voneinander unterscheiden - von den primitiven Stämmen und der antiken Sklavengesellschaft bis zum westeuropäischen Feudalismus und der „orientalischen Despotie" 1 2 3 . Zwischen all diesen Formationen einerseits und der „industriellen Gesellschaft" andererseits läßt sich zwar eine Trennungslinie ziehen, dies kann aber nur an Hand eines einzigen Kriteriums geschehen, welches keineswegs den Kern des Sozialen oder das Soziale an sich und überhaupt betrifft, wie die Differenzierungsevolutionisten direkt oder indirekt glauben (machen wollen). „Gemeinschaft" und „Gesellschaft" sind demnach gleichermaßen außerstande, ein objektives Modell für die sozialtheoretische Strukturierung der menschlichen Beziehungen oder einen festen Periodisierungsmaßstab der Geschichte abzugeben. Angesichts der erneuten Wirkung Durkheimscher Gedanken auf die zeitgenössische Sozialtheorie erscheint der Hinweis nicht überflüssig, das soziologische Grund119 Vgl. König, „Begriffe", 405 ff.

120 Gestalten, 24 ff. 121 Schwartz, „Size", 251, 250. 122 Badie, „Community", 102f.; Busino, „Critique", 243. 123 Badie, „Community", 99-101.

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I. Sozialtheorie

und massendemokratische

Ideologie

konzept des Franzosen stehe durch und durch im Zeichen von Tönnies' Dualismus, trotz des Versuchs die letztlich ökonomisch-arbeitsteilig bedingten Spannungen innerhalb der „Gesellschaft" durch das Überstülpen eines „gemeinschaftlichen" ethisch-religiösen Elements zu neutralisieren. Es blieb dennoch dabei, daß Dürkheim die „Gesellschaft" im Grunde optimistisch einschätzte und diese Einschätzung auf eine Gegenüberstellung derselben mit einem vollkommen unhistorischen Bild von der „Gemeinschaft" stützte. Bekanntlich erscheint der Gegensatz „Gemeinschaft-Gesellschaft" bei ihm als Kontrast von „mechanischer" und „organischer Solidarität" zueinander, wobei als zentrales Unterscheidungsmerkmal die Undifferenziertheit („Ähnlichkeit") bzw. Differenziertheit („Unähnlichkeit") dient. Der Differenzierungsbegriff wird indes auch hier undifferenziert und vieldeutig verwendet. Denn es wird nicht erläutert, ob „Ähnlichkeit" innerhalb der mechanischen Solidarität regelrechte Identität bedeutet, ob sie sich auf den Menschen als Ganzes oder bloß auf bestimmte Werte und Handlungen bezieht, ob sie durch äußeren Zwang oder spontan zustandekommt. Ebenfalls wird im Hinblick auf die organische Solidarität verkannt, daß etwa im Vertragsverhältnis sowohl Ähnlichkeit (die Vertragspartner stellen sich grundsätzlich auf dieselbe Ebene) als auch Unähnlichkeit (jeder Vertragspartner behält das eigene Interesse im Auge) nebeneinander bestehen müssen. Das Neben- oder Ineinander von Ähnlichkeit und Unähnlichkeit läßt sich an allen uns bekannten sozialen Gruppen feststellen, während die „Horde", die nach Dürkheim die mechanische Solidarität in reiner Form verkörperte, eine pure Abstraktion darstellt; hätte sie übrigens dermaßen mechanisch funktionieren können, wie Dürkheim es suggerieren will, so müßte sie eher den biologischen als den sozialen Erscheinungen zugeordnet werden, bei denen kollektives Bewußtsein sich ohne individuelles nicht denken läßt 124 . Dürkheim hat beiläufig zugegeben, daß sich die unisegmentäre Horde der direkten historischen Beobachtung entzieht und nur vermittels des Studiums polysegmentärer Sozialgruppen strukturell beschrieben werden kann 125 . Den grundsätzlichen Gegensatz zwischen den beiden Solidaritätsformen hat er dennoch nicht spürbar aufweichen wollen, und der Grund dafür wird ersichtlich, wenn wir uns sein Gesamtkonzept vergegenwärtigen. Die Annahme, mechanische und organische Solidarität wären in der bisherigen Geschichte der sozialen Gruppen immer miteinander verflochten gewesen, hätte einem Evolutionismus die Spitze abgebrochen, der sich um die Idee des Übergangs von der einen zur anderen dreht. Und mit diesem Übergang wird wiederum desto inbrünstiger gerechnet, je höhere ethisch-normative Erwartungen sich mit der organischen Solidarität verbinden, die unter der Hand aus einem sozialen Faktum in eine moralische Gerechtigkeitsforderung verwandelt wird 126 . Am Beispiel Dürkheims wird somit der bis heute wirkende Zusammenhang des antithetischen Begriffspaares „Gemeinschaft-Gesellschaft" mit einer geschichtsphilosophischen Auffassung und zugleich mit einem ethisch-normativen Anliegen besonders anschaulich.

124 Gurvitch, Vocation, I, 215ff. 125 Regles, 82f. 126 Der logische Sprung fiel früh auf, s. z. B. die von St. Lukes, Dürkheim, G. Richards.

500, zitierten Einwände

5. Massendemokratische Sozialtheorie und

Anthropologie

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5. Massendemokratische Sozialtheorie und Anthropologie Der tiefere Grund für den oft auch programmatisch erklärten Abschied massendemokratischer Sozialtheorie von den klassischen anthropologischen Fragestellungen liegt im Paradigmenwechsel, der sich im wesentlichen um 1900 vollzog und die Ablösung der synthetisch-harmonisierenden Denkfigur durch die analytischkombinatorische bewirkte 127 . Inhaltlich bedeutete dies in erster Linie die Zertrümmerung der substantiell aufgefaßten Hypostasen der bürgerlichen Weltanschauung, nämlich der Natur, der Geschichte und des Menschen; Hypostasen, die seit der Renaissance dem theologischen Weltbild entgegengestellt wurden. In dem Maße, wie das bürgerliche Menschenbild und der bürgerliche Anthropozentrismus samt ihren ethisch-normativen Konnotationen verblaßten, verkümmerte auch das Interesse für die damit verbundene anthropologische Problematik, obwohl diese keineswegs von der Bildfläche verschwand und sogar in einem nicht mehr bürgerlichen Rahmen und Sinne weitergeführt werden konnte; denn die massendemokratische Denkfigur hat, wie eingangs bemerkt, das geistesgeschichtliche Spektrum ebensowenig wie jede andere vorherrschende Ideologie der Vergangenheit für sich monopolisieren können. Zudem wurde der Anthropologiebegriff in manchen Fällen unscharf und in inhaltlichen Zusammenhängen verwendet, die geradezu auf den Antipoden der alten standen. So zielte die sogenannte Kulturanthropologie, wie sie etwa durch Ruth Benedict oder Margaret Mead popularisiert wurde, ursprünglich darauf ab, alles, was den Eindruck einer anthropologisch ererbten Konstante erweckte, in kulturelle Einflüsse aufzulösen. Dadurch wurden freilich viele Einseitigkeiten oder Grobheiten herkömmlicher Trieb-, Vernunft- und Rassenanthropologie ins rechte Licht gerückt. Doch dabei wurde weit über das Ziel hinausgeschossen und das, was sich nun Anthropologie nannte, war kaum mehr vom Vulgärsoziologismus zu unterscheiden, der übrigens auch eine echt massendemokratisch ideologische Erscheinung ist: Wie der alte soziale Hierarchiegedanke vielfach durch anthropologische Fiktionen begründet wurde, so suchte der massendemokratische Egalitarismus in der Annahme Rückhalt, Menschen würden die Resultanten ihrer sozialen Bedingungen darstellen, Gleichheit unter Menschen könnte also schon durch die Gleichheit der Bedingungen gewährleistet werden. Einen zweiten, spezielleren Grund für die Unterdrückung der klassischen anthropologischen Fragestellungen im massendemokratischen Kontext haben wir bereits angedeutet 128 . Beim Bestreben, Berechenbarkeits- und Stabilitätsgarantien in die sozialtheoretischen Konstrukte einzubauen, welche moderne komplexe Gesellschaften schildern bzw. geschichtsphilosophisch legitimieren sollen, werden nach Kräften die Störungen ausgeschaltet, die seit eh und je den dunklen und unkontrollierbaren „Trieben" und „Leidenschaften" des Menschen angelastet wurden. Und da man andererseits auf eine unverwässerte und allumfassende Vernunftanthropologie nicht 127 Kondylis, Niedergang, über die anthropologische Frage in diesem Kontext s. insb. 30ff., 80ff., 135ff., 289ff. 128 S.o. Anm. 8 und die entsprechende Stelle im Text.

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bauen kann, ohne den Realitäten dieser Welt vollends den Rücken zu kehren, so wird die Lösung in der Beseitigung der Anthropologie als solcher und überhaupt gesucht; wo anthropologische Faktoren weiterhin ins theoretische Spiel gebracht werden, handelt es sich um ökonomistische oder behavioristische Verkürzungen (s. u.). Sobald nun auf der Ebene des sozialtheoretischen Konstrukts der Ausschluß anthropologischer Fragestellungen für das Ausräumen der Unwägbarkeiten menschlichen Verhaltens gesorgt hat, bleibt zur Absicherung der Berechenbarkeit auf der Ebene der komplexen Gesellschaft ein einziger Schritt zu tun: die (direkte oder erwartete) Identifizierung des Konstrukts mit der sozialen Wirklichkeit. Wo Menschen sich etwa im Sinne der „Systemrationalität" oder entsprechend der kommunikativen Logik der Sprache verhalten, wie diese im sozialtheoretischen Konstrukt geschildert werden, da erübrigt sich in der Tat ein besonderes Wissen um den Menschen. Zu diesen beiden komplementären Gründen für den Untergang der Anthropologie im Rahmen massendemokratischer Sozialtheorie erscheinen folgende Überlegungen am Platz. Zunächst liegt es auf der Hand, daß der angesprochene Paradigmenwechsel, der dem bürgerlichen Anthropozentrismus ein Ende setzte, ideologischen Charakters ist; er darf also nicht als Ausgangspunkt einer wissenschaftlichen Argumentation dienen. Das heißt: Eine Argumentation, die unter Hinweis auf das Ende des Anthropozentrismus die Beseitigung der Anthropologie fordern würde, wäre a limine falsch. Denn Anthropozentrismus, Anthropologie und Mensch als geschichtlich-sozial handelndes Wesen stellen drei unterschiedliche Größen dar; die Eliminierung der ersteren muß nicht die Eliminierung der zweiten bedeuten, und die Eliminierung der beiden ersten (auf der Ebene der Ideologie bzw. Sozialtheorie) kann in keinem Fall heißen, daß der Mensch faktisch aufhört zu existieren. Anders formuliert: Anfang und Ende des Anthropozentrismus fallen nicht mit Anfang und Ende der Anthropologie zusammen, und das Ende der Anthropologie, d. h. der Rede vom Menschen kann nicht das Ende des Menschen sein genauso wie der Mensch nicht von der Anthropologie seinen Anfang genommen hat. Es waren und sind ja immer nur Menschen, die den Anthropozentrismus oder die Anthropologie betreiben oder abschaffen - und eine wissenschaftliche Theorie, die dieser fundamentalen Tatsache Rechnung tragen will, muß in einem umfassenden Sinne anthropologisch argumentieren, also den Menschen in seinem Handeln und seiner Motivation (auch in seiner Eigenschaft als Urheber von Theorien über Wert und Unwert des Anthropozentrismus und der Anthropologie) thematisieren. Die nötige sozialontologische Tiefe wird also dann erreicht, wenn zwischen den Auffassungen der Menschen über den Stellenwert des Menschen und ihrem objektiven Tun sauber unterschieden und festgestellt wird, daß letzteres viel stabiler und homogener ist als es jene Uberzeugungen sind; der Boden des praktischen oder theoretischen Tuns bildet dementsprechend den Boden der wissenschaftlich unentbehrlichen Rede vom Menschen, also den Boden einer Anthropologie, die auch über die jeweils vertretenen Anthropologien bzw. Negationen der Anthropologie Rechenschaft ablegen kann. Diese Position läßt sich im Hinblick auf die großen Linien oder Phasen europäischer Geistesgeschichte folgendermaßen konkretisieren. Herrscht in einer Gesellschaft eine theozentrische Ideologie vor, so heißt dies nicht, daß Gott höchstpersönlich hier regiert, sondern daß Menschen walten, die ihre Taten unter Berufung auf G o t t legitimieren; d e r A n t h r o p o z e n t r i s m u s l ö s t seinerseits d e n T h e o z e n t r i s m u s n i c h t

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deswegen ab, weil Menschen nun zum ersten Mal die Bühne der Geschichte souverän betreten (auf ihr standen immer nur Menschen und nichts anderes), sondern weil bestimmte Menschen unter Berufung auf „den" Menschen, jene verdrängen, die bis dahin Gott für sich in Anspruch nahmen; und der Untergang des Anthropozentrismus besagt nicht, daß es keine Menschen (im bisherigen Sinne) mehr gibt, sondern daß die weltanschauliche Einstellung jener Menschen, die auf ideologischem Gebiet maßgeblich handeln, nicht mehr die anthropozentrische ist, daß also die Verfechter des Anthropozentrismus die entscheidende Schlacht verloren haben. Die wissenschaftliche Anthropologie schöpft ihre Legitimität aus der Feststellung, daß unabhängig von den jeweils herrschenden Auffassungen über die Stellung des Menschen im Kosmos und über die theoretische Brauchbarkeit der Anthropologie die Beschaffenheit und das Verhalten von Urhebern und Vertretern all dieser unterschiedlichen Auffassungen bestimmte Gleichförmigkeiten aufweist, daß also die Formen ihres Denkens und Handelns viel weniger voneinander abweichen als die Inhalte und die konkreten praktischen Ziele. Es bildet daher keine Paradoxie, wenn man Sozialtheorien, die von anthropologischen Fragestellungen wenig oder nichts wissen wollen, als symptomatische Einstellungen von Menschen in einer konkreten geistesgeschichtlichen Lage betrachtet, deren ideologischer Charakter sich im performativen Widerspruch kundtut, zur Beseitigung der Anthropologie Formen des (theoretischen) Handelns aufzubieten, die in anderen Lagen sogar entgegengesetzten Zielen haben dienen können. Die Abneigung gegen die Einsicht, Menschen und ihre Handlungen lägen auf einer tieferen Ebene als ihre anthropologischen oder antianthropologischen Auffassungen, ist eigentlich viel häufiger und viel verbreiteter als der postmoderne Aufstand gegen den Anthropozentrismus und gegen die Anthropologie als Wissenschaft. Sie wurzelt im ideologisch-polemischen Bedürfnis, normative Positionen, die letztlich nur in bezug auf Menschen Sinn haben können, in höheren und umfassenderen Instanzen zu verankern, deren objektive Beschaffenheit menschlicher Unberechenbarkeit möglichst enge Grenzen setzt, während die Berechenbarkeit der Welt und der Gesellschaft entsprechend steigt. Die polemische Komponente besteht dabei darin, daß diese normativen Positionen und die sie tragenden „objektiven" Instanzen als Gegenbegriffe und oft als regelrechte begriffliche Umkehrungen von früheren entstehen. Die Zeit des Theozentrismus definierte Gott als die Instanz, vor der die Unberechenbarkeit des konkreten Menschen haltmachen müßte - entweder durch seine bewußte Unterwerfung unter die göttlichen Gebote oder durch die absolute Aussichtslosigkeit des Aufstandes dagegen. Aber auch die Epoche des bürgerlichen Anthropozentrismus hat es bezeichnenderweise tunlichst vermieden, den konkreten Menschen eigenen unkontrollierbaren Vorlieben zu überlassen; sie verlangte also von ihm, gemäß den Geboten von übermenschlichen Hypostasen, nämlich der Natur oder der Geschichte, zu leben. Der Abschied vom Anthropozentrismus und zugleich von der Anthropologie ließ innerhalb massendemokratischer Sozialtheorie neue Instanzen aufkommen. Sie fungierten gleichsam als Strombetten, die menschliches Handeln umso leichter kanalisieren konnten, als diesmal auf Gründe und Abgründe desselben nicht eingegangen werden mußte; die „Systemrationalität", die in der Struktur der Sprache angelegte reibungslose Kommunikation, das einsichtige ökonomische Kalkül oder die behavioristische Symmetrie von Stimulus und Reaktion soll-

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ten nun in ähnlichem Sinne für Berechenbarkeit sorgen wie ehemals das gottgewollte oder das naturkonforme Verhalten. Hinter der Fassade all dieser vergangenen und gegenwärtigen Konstruktionen regen sich indes die konkreten Menschen in ihrer endlosen Vielfalt, in der Unwägbarkeit ihres Handelns und der Ungewißheit von dessen Folgen. Dieser irreduzierbare Tatbestand läßt sich zwar weitgehend wegrationalisieren, aber über seine Wirkungen muß jede Sozialtheorie irgendwann stolpern, und dann stellt sich direkt oder indirekt die Frage, was denn diese Wesen sein mögen, die sich hartnäckig über die zahlreichen Harmonievorstellungen und -angebote in der bisherigen Geschichte hinweggesetzt haben. Das Anthropologisieren bleibt unumgänglich, selbst wenn die Anthropologie zum Abdanken gezwungen wird. Das Zeitalter des Anthropozentrismus, als Pope meinte, „the proper study of mankind is man" 1 2 9 , bot verständlicherweise der Anthropologie als Disziplin besondere Chancen. Allerdings hatte sich eine Anthropologie bereits im Schöße der antiken Ontologie entwickelt (erinnern wir uns etwa an die platonische Parallele zwischen den Schichten des Seins und den Schichten der Seele), während sich die spätere Theologie ebenfalls eine Anthropologie in der Absicht zulegen mußte, begreiflich zu machen, was denn die Menschen zum Verstoß gegen die Harmonie des Guten treibe. Aber auch die massendemokratische Sozialtheorie kommt trotz ihrer grundsätzlichen Absage an die Anthropologie faktisch nicht ohne (stillschweigende) anthropologische Prämissen und Annahmen aus. Zwischen der Unumgänglichkeit dieser letzteren und dem Festhalten an jene Absage findet ein interner Guerillakrieg statt, der nie zur Ruhe kommen kann. Oft glaubt man, sich der Anthropologie schon deswegen entledigt zu haben, weil auf die alte Trieb- und Vernunftanthropologie ohne größere Verluste und Komplikationen verzichtet werden kann; schon bei der kalkulierenden oder ethischen Rationalität wird indes die Sache viel schwieriger, da diese ohne ausreichende anthropologische Untermauerung in der Luft schwebt. Die kybernetische Systemtheorie bietet bereits ein gutes Beispiel für die Verwendung von Positionen anthropologischen Ursprungs an theoretischen Schlüsselstellen bei gleichzeitiger Zurückweisung anthropologischer Anliegen der Sozialtheorie. Der Widerspruch kennzeichnet freilich den kybernetischen Ansatz insgesamt, denn die angestrebte Vereinheitlichung der ontologischen und kognitiven Ebenen erfolgt hier unter Verwendung einer Begrifflichkeit, die in bezug auf die menschliche soziale Welt entstand und sich stricto sensu nur für diese Welt eignet. Schon im Zusammenhang mit „biologischen Systemen" (geschweige denn mit physischen) ruft der Gebrauch von Begriffen wie „Information", „Kommunikation" oder „Selektion" Befremden hervor und legt notgedrungen den Eindruck nahe, die gesamte Wirklichkeit werde anthropomorphisch erfaßt, obwohl dem Menschen die ontologische Vorrangstellung entzogen wurde. Das darf auch so ausgedrückt werden: Der Anthropozentrismus hat erst mit Hilfe eines umfassenden Anthropomorphismus ausgeräumt werden können. Wie wir wissen, bedient sich kybernetische Systemtheorie nachhaltig eines argumentativen Kunstgriffs: Sie eignet sich Inhalte an, die sich ursprünglich aus ande129 Essay on Man, II, v. 2. Zu den Voraussetzungen aufklärerischer Anthropologie s. Kondylis, Aufklärung,

4 2 1 ff, vgl. 1 1 9 f f .

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ren Denkansätzen ergaben, um sie dann in das eigene Vokabular zu übersetzen und als Erkenntnisgewinn hinzustellen, der dem eigenen Denkansatz zu verdanken ist. Das gilt genauso für anthropologische Inhalte und nicht zuletzt für die zentrale These, System sei Reduktion von Komplexität. In Deutschland wurde die Nähe dieser These zu Gehlens Anthropologie und Entlastungstheorie registriert 130 , doch mußte ein deutscher Systemtheoretiker in den 1960er Jahren nicht direkt auf Gehlen zurückgreifen, da er aus den amerikanischen Versionen der kybernetischen Systemtheorie schöpfen konnte. Die weitestgehende strukturelle Ähnlichkeit beider Auffassungen ist dennoch keineswegs zufällig. Denn die Begründer der Kybernetik gingen selber von einer Fragestellung aus, die ohne weiteres als erkenntnistheoretisch und anthropologisch bezeichnet werden darf - daher auch die erwähnten anthropomorphen Züge ihrer Konstruktionen. Auf der Suche nach Analogien zwischen den Information übertragenden und verarbeitenden Systemen in (menschlichen) Organismen und in Maschinen formulierten sie auf Grund von Beobachtungen über das zentrale Nervensystem den „the hypothesis of cybernetics" genannten Grundsatz. Dieser betrifft den Mechanismus des „negativen Feedback" als der Fähigkeit, „Inputs" derart zu verwenden, daß „Outputs" im Hinblick auf das Erreichen bestimmter Ziele eingegrenzt und reguliert werden 131 . Hier werden ursprüngliche Selektions- und Orientierungsleistungen von Informations- und Erkenntnisprozessen angesprochen und somit die Fäden einer erkenntnistheoretischen und anthropologischen Tradition aufgenommen, die im Hinblick auf den hier relevanten Zeitraum durch den frühen Neukantianismus (Lange) und im Anschluß daran durch Nietzsche begründet wurde, um dann teils über den Pragmatismus (Sinn als Handlungsentwurf bei James) und Bergson, teils unabhängig davon in die Anthropologien Schelers, Plessners und Gehlens zu münden. Diese Tradition hat in bald komplementären, bald voneinander abweichenden Variationen die allgemeine Theorie entwickelt, der Mensch müsse als nicht instinktgebundenes und weltoffenes Wesen die objektiv chaotische Vielfalt der Welt in subjektiv geordnete und kontrollierbare Komplexität verwandeln, um dadurch jene Orientierungsfähigkeit zu gewinnen, die er als handelndes Wesen benötige und seiner biologischen Ausrüstung nicht entnehmen könne. Der dazu erforderliche Selektions- und Sinnstiftungsvorgang soll auf mehreren Ebenen stattfinden, von der primären Sichtung des Erkennbaren (z. B. kantisch gesprochen, durch die Anschauungsformen und die Verstandeskategorien) bis zu den organisierten Weltbildern, den sozialen Institutionen, den Ethiken etc. Hier wurzeln, über welche Vermittlungen auch immer, die Kernthesen der kybernetischen Systemtheorie: Systeme seien Ausschnitte aus einer komplexen Welt und als solche zum Zwecke der eigenen Bestandserhaltung konstruiert, Sinn bilde die zur Systemkonstruktion gebotene Strategie selektiven Verhaltens (Auswahl aus der Fülle des Möglichen), Erleben und Handeln stellten bloß verschiedene Arten sinnhafter Reduktion von Komplexität dar. 130 Schelsky, „Rechtssoziologie", 41, 57ff. 131 S. die wegweisenden Aufsätze von Ashby, „Adaptiveness" (1940) und Rosenblueth-Wiener-Biegelow, „Behavior" (1943). Zur selben Zeit arbeitete Lorenz auf der Basis teils kantischer, teils pragmatistischer Voraussetzungen die ratiomorphen Selektions- und Orientierungsleistungen des Zentralnervensystems heraus, s. „Die angeborenen Formen" (1943). Vgl. o. Anm. 38.

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Die besondere Betonung der psychischen Stabilisierungs- und Entlastungsfunktionen in der deutschen Fassung der Systemtheorie erinnert freilich direkt an Gehlen und seine Institutionenlehre, so wenn z. B. postuliert wird, im Sozialsystem müsse „für den Normalfall ein fragloses, ja fast motivloses Akzeptieren bindender Entscheidungen sichergestellt werden" 1 3 2 . Aber nicht das Ausmaß der geistigen Darlehen interessiert uns hier, sondern eine grundsätzliche Aporie, die sowohl der Systemtheorie als auch Gehlens Institutionenlehre eben wegen ihres geschilderten gemeinsamen Hintergrundes anhaftet. Miteinander verwechselt bzw. voneinander nicht unterschieden werden zwei Formen und Schichten der entlastenden Stabilisierung durch Selektion und Sinnstiftung, nämlich die anthropologische und die soziologische oder geschichtliche. Die Komplexitätsreduktionen auf anthropologischer Ebene betreffen z. B. die Konstitution von Wahrnehmungsmechanismen und haben zwar sehr viel mit der Tatsache zu tun, daß der Mensch seit eh und je in Gesellschaft lebt, sie hängen aber wenig, wenn überhaupt, von der jeweiligen Gesellschaftsform ab. Dasselbe gilt für die interaktionelle Routine in den Alltagsbeziehungen, deren Substanz bei aller geschichtlich bedingten Modifikation der äußeren Form (z. B. Begrüßungs- oder Geselligkeitsformen etc.) mehr oder weniger stabil bleibt. Institutionelle, politische, wirtschaftliche, weltanschauliche etc. Komplexitätsreduktionen und entlastende Stabilisierungen sind aber einem vergleichsweise viel schnelleren Wandel unterworfen, der sich den unablässigen Verschiebungen im Spektrum der sozialen Beziehung verdankt und zudem radikale Änderungen und sogar regelrechte Umkehrungen kennt. Wahrnehmungsmechanismen und interaktionelle Routine können m. a. W. nicht in ihr Gegenteil umschlagen, aber eben dies war oft auf der letztgenannten Ebene - der Ebene der Geschichte im weitesten Sinne - der Fall. In der Geschichte gibt es also keine anthropologischen Stabilitätsgarantien. Das mangelnde Auseinanderhalten dieser Ebenen macht Gehlens anthropologisches Schema historisch oder soziologisch weitgehend unbrauchbar, und aus genau demselben Grund kann auch die kybernetische Systemtheorie nicht zu historisch-soziologischen Spezifika vorstoßen, sondern sie verwendet allgemeinste, letztlich anthropologische Kategorien, um ein bestimmtes Sozialsystem (das gegenwärtige westliche) zu beschreiben, dessen Selbstbeschreibung sie sein will 1 3 3 . Die ungewollte Nähe der Systemtheorie zu anthropologischen Fragestellungen erschöpft sich allerdings nicht im zentralen Thema der Reduktion von Komplexität und der Schaffung von Entlastungsmechanismen. Bei allem Wunsch und Bestreben, sich permanent in der Welt der informativ rückgekoppelten Steuerungsmechanismen einzurichten und das „Subjekt" auszutreiben, kommt man nicht um das indirekte Eingeständnis herum, daß sich Begriffe wie „Sinn" z. B. nur in Verbindung mit der „eigentümlich-menschlichen Fähigkeit zur Negation" und allgemeiner mit jenen „Anthropologica" („Bewußtsein oder Vernunft") prägnant verwenden lassen, die „psychischen und sozialen Systemen gemeinsam" seien1 4 . Ebenfalls zeichnet sich die anthropologische Frage im Hintergrund ab, wenn etwa die soziale Ordnung auf fol132 Luhmann, Soziol. Aufklärung, I, 170. 133 S. o. Abschn. 2. Vgl. Giddens' treffende Bemerkung: „a theory of routine is not to be equated with a theory of social stability" (Constitution, 87). Diese wichtige Frage wird uns wieder beschäftigen müssen, s. unsere Diskussion der Institutionenlehre im 3. Band dieses Werkes. 134 Luhmann, in: Habermas-Luhmann, Theorie der Gesellschaft, 35, 308, 29, 28.

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gendes Prinzip zurückgeführt wird: Ich lasse mich von Dir nicht bestimmen, wenn Du Dich nicht von mir bestimmen läßt 135 . Es bleibt an sich äußerst zweifelhaft, daß gleichgewichtete Gegenseitigkeit die soziale Ordnung stiftet und trägt, wie eine Theorie behaupten muß, die a limine gleichberechtigte Bestandteile eines offenen Systems postuliert. Aber davon abgesehen muß eine Erklärung darüber gegeben werden, welches das Wesen ist, das Gegenseitigkeit zum Prinzip erhebt: Wenn es sich dem anderen nicht bedingungslos überläßt, so hat es offenbar für sich etwas zu befürchten und zu erwarten, wobei sich im Spektrum seiner Befürchtungen und Erwartungen das Spektrum seiner Möglichkeiten im Mitsein mit den Anderen wiederfindet. Als reflektierte Selbstreferenz in der Beziehung zu den Anderen ist (die Forderung nach) Gegenseitigkeit spezifisch menschlich, also anthropologisch zu erfassen. Aus guten Gründen wurde also die Struktur der Selbstreferenz zunächst im Rahmen der „Subjektphilosophie" thematisiert und erläutert. Die Systemtheorie wandelt notgedrungen in subjektphilosophischen und anthropologischen Spuren, wenn sie vom Begriff der Selbstreferenz Gebrauch macht, sie verfällt freilich dem Anthropomorphismus, wenn sie denselben auf das soziale „System" bezieht. Wenn Gesellschaften über Selbstreferenz zu verfügen scheinen, dann nur deshalb, weil die im Hinblick auf andere handelnden konkreten Menschen ihr Handeln mit Sinn verbinden und durch Sinn begründen, der des öfteren die Form einer Schilderung, einer Kritik oder einer Legitimation „der" Gesellschaft annimmt. Daher fällt die Selbstreferenz der Gesellschaft nie einheitlich und eindeutig aus. Es gibt mehrere Selbstreferenzen gleichzeitig, und die Kräftekonstellation in der Gesellschaft entscheidet, welche von ihnen sich durchsetzen wird, wobei, wie schon betont, die Durchsetzung nie als absolutes ideologisches Monopol verstanden werden darf, selbst unter einer „totalitären Diktatur" nicht. Spricht der Sozialtheoretiker von „der" Selbstreferenz der Gesellschaft, so hat er sich eine unter mehreren solcher Selbstreferenzen ausgesucht oder selber eine entworfen. So definiert der Systemtheoretiker das als Selbstreferenz der Gesellschaft, was in sein differenzierungsevolutionistisches Denkschema paßt. Die kybernetische Systemtheorie kann sich deshalb in der Annahme wähnen, sie hätte die Anthropologie hinter sich gelassen, weil sie sich von dieser letzteren eine simplizistische Vorstellung macht. Sie reduziert nämlich Anthropologie auf längst überholte substantialistische Trieb- oder Vernunftlehren und betrachtet dann die eigene funktionalistische Einstellung als automatische Erledigung der Anthropologie als ob es keine theoretischen Alternativen und keine geistesgeschichtlichen Präzedenzien dieser Alternativen gäbe. Denn abgesehen von den Pionierleistungen und von den Implikationen der Humeschen Subjektphilosophie erfolgte die programmatische Ausmerzung des Substanzgedankens aus dem anthropologischen Bereich durch den mehrmals genannten Paradigmenwechsel um 1900; es genügt hier, nochmals an Nietzsche zu erinnern und auf die Psychologie Machs und der Pragmatisten hinzuweisen. In sachlicher Hinsicht ist es zudem nicht erwiesen, sondern bloß behauptet, daß nur eine restlose Auflösung der Subjekte in die Funktionen intersubjektiver Interaktion vom Dilemma befreien könne, zwischen dem Primat des Individuums und dem der Kultur wählen zu müssen 136 . Die angekündigte theoretische Umorientie135 Luhmann, Soziale Systeme, 167, 136 So Warriner, Emergence, 97ff. Vgl. Kap. II, Abschn. 3c in diesem Band.

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rung wurde durch keine Einzelinterpretationen konkreter Phänomene erhärtet, die über das hinausgingen, was auch eine undogmatische multidimensionale Betrachtung hätte erbringen können. Und die Vermutung, Banalitäten würden hier mit wichtigtuerischen Floskeln verbrämt, wird verstärkt, wenn z. B. die „substantialistische" Auffassung von den Handlungssubjekten (ihre Vertreter werden nicht genannt) durch die These wiederlegt werden soll, diese Subjekte gingen nicht dem System voraus, sondern bildeten sich erst in ihm heraus137. Aber niemand hat je die Theorie aufgestellt, daß die Menschen erst in der Isolierung als Individuen herausgebildet werden und dann an der sozialen Interaktion teilnehmen. Schon der antike Topos vom Menschen als sozialem Wesen implizierte die anthropologisch konstitutive Bedeutung der InterSubjektivität und der Interaktion. Die Feststellung dieser Bedeutung ist indes nicht mit der Reduktion des Menschen auf die Summe der interaktionell bedingten Funktionen identisch. Denn man stößt unweigerlich auf die biologische Beschaffenheit des Menschen und auf eine Vielfalt damit zusammenhängender psychischer und sonstiger Faktoren, die sich zwar durch Interaktion entfalten müssen, aber keineswegs Funktionen von Interaktion s i n d . Das jenseits der Interaktion liegende kann zwar selber „substantialistisch" oder „funktionalistisch" gedeutet werden, es hört deshalb nicht auf, die Grenze des Funktionalen als Interaktivem anzuzeigen. Die kybernetische Systemtheorie unternimmt diese anthropologische Verkürzung, um das Konzept zu untermauern, demzufolge das soziale System überhaupt ein funktionales Netz von Interaktionen und nichts mehr als das bilde. Eine zweite Verkürzung ist nun notwendig, um die glatte Abwicklung der Funktionen dieses Systems zu gewährleisten. Wie bemerkt 38 , mußte die Theorie des „offenen" Systems jene Freiräume, die dem Individuum die Beseitigung des Parsonsschen Normativismus schenkte, durch eine Steigerung der „Systemrationalität" und einer ihr entsprechenden individuellen Rationalität wieder einschränken, um die Offenheit des Systems nicht in Unberechenbarkeit entarten zu lassen. Theorie und Modell des Systems werden demnach durch die gemeinsame Annahme vereinheitlicht, „daß das menschliche Verhalten von seinen Möglichkeiten zur Rationalität her expliziert und verstanden werden muß, und zwar auch und gerade dann, wenn es diese Möglichkeit nicht bewußt zur eigenen Orientierung ergreift"139. Nun absorbiert und verwendet die „Systemrationalität" nicht den ganzen Menschen, sondern jenen (rationalen) Aspekt von ihm, der eine „soziale Rolle" tragen kann. Die Einheit des Systems ist also nicht das menschliche Individuum, sondern die Rolle als der „Teil" der Person, der sich in einer Organisation oder Situation betätigt140. In komplizierterer Terminologie wird diese selbe These dahin zusammengefaßt, der Mensch gehöre nicht zum System, sondern zu dessen Umwelt, d. h. er nehme am System nur partiell teil141. Dem ist tatsächlich so, wenn man ausschließlich die theoretischen Notwendigkeiten des Konstrukts „System" im Auge behält. Aber es stellt sich die Frage nach der soziologischen und historischen Ergiebigkeit oder Tragfähigkeit dieses Konstrukts, 137 138 139 140 141

So Luhmann, Soziale Systeme, 151, 155. S. o. Anm. 51 und den vorausgehenden Text. So Luhmann, Sozial. Aufklärung, I, 45. Boulding, „Gernerai Systems Theory", 205. So Luhmann, in: Habermas-Luhmann, Theorie der Gesellschaft, 385; Polit. Planung, 36.

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wenn gerade das, was am System nicht teilnimmt, dessen innere Spannungen hervorruft und dessen jeweiligen Umfang bestimmt. Der Aspekt oder Teil der Person, der im Hoheitsgebiet der Rolle nicht auftreten darf, steht zwar außerhalb des Systems als Konstrukt, er beteiligt sich aber weiterhin an der Gestaltung der sozialen Wirklichkeit, sei es, indem er von außen Druck auf die Rolle ausübt, sei es, indem er von innen her die Rolle umfunktioniert und sie zum Beauftragten nicht systemkonformer Bedürfnisse und Zwecke macht. Dies geschieht sogar sehr oft, da die außerhalb der Rolle befindliche Komponente der Person nicht weniger sozial oder sozialbezogen als die rollenbedingte ist; Rolle und Soziales miteinander zu identifizieren, um sie dann dem angeblich rein Individuellen gegenüberzustellen, ist soziologisch und psychologisch schlichtweg falsch. Akzeptiert man diesen Tatbestand, verliert die Rede vom „System" jeden prägnanten Sinn. Gewiß, man kann weiterhin systemtheoretisch argumentieren und behaupten, dabei handele es sich um nichts anderes als um eine Neubestimmung der Grenzen zwischen System und Umwelt. Aber gerade die Beliebigkeit oder die permanente Notwendigkeit dieser Neubestimmung verwandelt die theoretische Arbeit in ein Denkspiel und legt die unfruchtbare Fiktivität des Konstrukts an den Tag. Der Fehler liegt nicht in der (übrigens uralten) Unterscheidung zwischen Rolle und Person, sondern in der Unfähigkeit, die daraus entstehende Spannung in die theoretische Konstruktion ohne fatale Folgen für sie einzubeziehen. Angesichts dieser Struktur und dieses Stellenwerts des Rollenbegriffs innerhalb der Systemtheorie muß es befremden, wenn ausgerechnet ein Systemtheoretiker gegen die Theorie des kommunikativen Handelns und gegen die von ihr behauptete Möglichkeit kommunikativer Transparenz an die bei jeder Kommunikation wirkenden Mechanismen der Selbstliebe und der Leidenschaften erinnert, um daraus zu schließen, eine solche Theorie könne dem Menschen als Ganzes nicht gerecht werden, sondern nur „dem schon auf Kommunikation hin frisierten Allgemeinen im Menschen", woraus ein „Artefakt der Kommunikation" entstehe, „mit dem kein Mensch sich identifizieren" könne 1 4 2 . Der Einwand stimmt, er kommt aber von der falschen Seite. Denn Kommunikations- und Systemtheorie ähneln sich auch in diesem Punkt viel mehr als sie es wahrhaben wollen. So wie die Systemtheorie, welche die Systemrationalität dadurch absichert, daß sie den Menschen in die Umwelt des Systems verdrängt, so auch die Kommunikationstheorie: Diese verdrängt den Menschen in die Umwelt der Kommunikation, während am Kommunikationssystem nur jener Teil oder Aspekt des Menschen teilnimmt, der den mentalen und vor allem den ethisch-normativen Forderungen der Kommunikation am ehesten genügen dürfte. Beide Auffassungen nehmen also eine Zweiteilung des konkreten Menschen vor, um jenen Teil theoretisch zu privilegieren, der die Einordnung in ein glatt funktionierendes soziales Ganzes ermöglicht. Nicht anders verfuhr im Grunde die alte Vernunftanthropologie: Sie isolierte die Vernunft im Menschen als das einzige Vermögen, welches das sozial interessante Allgemeine gegen den bloß persönlichen Geschmack sicherstellen konnte. Es ist strukturell gleichgültig, ob das Vernünftig-Allgemeine, in dem der Mensch durch die dazu geeignete Reduktion aufgehen soll, das System und seine Rationalität oder jene Kommunikation ist, die sich einstellen soll, wenn die 142 So Luhmann, „Autopoiesis", 374.

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Sprache gemäß ihrem angenommenen echten Wesen zur Entfaltung kommt. Eine solche Sprache muß das einzelne Subjekt in demselben Sinne absorbieren wie die Systemrationalität es tut; denn ein Subjekt, das ideal kommuniziert, ist nichts anderes als das Sprachrohr der so definierten Sprache. Wie die Systemtheorie, so will auch die Theorie des kommunikativen Handelns die Anthropologie, von der sie sich ein bequem vereinfachtes Bild macht, hinter sich lassen, während sie zugleich uneingestanden anthropologische Postulate zugrundelegt. Genauer gesagt: Sie verzichtet auf anthropologische Konkretheit, um Ideale theoretisch zu untermauern, die nur im Zusammenhang mit einem abstrakten Bild vom Menschen Bestand haben können. Es ist ein Widerspruch in sich, für die „Selbstverwirklichung" des Menschen als sozialethisches Ideal einzutreten143, ohne eine Vorstellung von jenem Selbst zu haben, das sich verwirklichen soll, d. h. ohne zu implizieren, daß die wahre Natur von diesem Selbst gut, vernünftig etc. ist oder mindestens sein kann. Denn sonst würde die Selbstverwirklichung möglicherweise in das Verbrechen münden, und die erste sozial-ethische Sorge wäre dann nicht die Selbstverwirklichung, sondern die Disziplinierung des Individuums. Wer eine Auffassung über das vertritt, was für das Individuum und das soziale Zusammenleben „gut" ist (egal, ob als „gut" die Selbstverwirklichung oder die Disziplinierung gilt), und entsprechende Vorschläge unterbreitet, muß gleichzeitig eine bestimmte Auffassung vom Menschen vertreten, denn die Definition des „Guten" erfolgt notgedrungen im Hinblick auf die angenommene Beschaffenheit des Menschen; etwas ist nur insofern für jemanden gut, als dieser so und nicht anders beschaffen erscheint, rationalen Menschen wie der Gesellschaft tut also Selbstverwirklichung, den irrationalen aber Disziplinierung gut. Die Banalität der anthropologischen Annahmen, auf denen die Theorie des kommunikativen Handelns stillschweigend beruht, läßt sich übrigens schlecht hinter dem behaupteten Primat der Sprachstrukturen und -akte verbergen. Diese werden ja nach spezifisch menschlichen Verhaltensweisen (strategisches etc. Handeln) unterteilt und sogar ausdrücklich mit guten oder schlechten Absichten aufgeladen. Dies ist z. B. der Fall, wenn unter den Merkmalen, die die Sprechakte des kommunikativen Handelns auszeichnen sollen, die Wahrhaftigkeit genannt wird144. Wahrhaftigkeit ist aber die bewußte moralische Eigenschaft eines Subjekts, ein Sprechakt, der sich als Satz formiert hat und nun unabhängig vom Subjekt existiert, ist weder wahrhaftig noch unwahrhaftig, sondern einfach wahr oder falsch. Wie die Systemtheorie, so stützt auch die Theorie des kommunikativen Handelns ihre Absage an die Anthropologie u. a. auf eine sehr lückenhafte und verworrene Wahrnehmung der Geistesgeschichte. Es wird direkt gegen die „Subjektphilosophie" polemisiert, gleichzeitig aber der Eindruck erweckt, die Erledigung der Subjektphilosophie würde eo ipso einer Erledigung jeder Anthropologie gleichkommen. Aber gerade dann, wenn man an der Subjektphilosophie bemängelt, sie gehe vom isolierten Subjekt als Träger von fertigen (kognitiven und ethischen) Anlagen aus, das nur Objekten gegenüberstehe und sich nicht erst in der Interaktion mit Subjekten bilde - gerade dann muß man zur Kenntnis nehmen, daß die philosophische Anthropologie spätestens seit Feuerbach und Marx dieser idealistischen Auffassung 143 Habermas, Theorie des komm. Handelns, II, 150, 153, 162 f. 144 A. a. O., I, 412.

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mit allem Nachdruck entgegengetreten ist; die pragmatistische, aber auch die deutsche Anthropologie der 1920er und der darauffolgenden Jahre haben in verschiedenen Variationen und unter jeweils verschiedenen Einflüssen dieselbe geistesgeschichtliche Linie fortgesetzt. Anstatt die notwendigen Differenzierungen vorzunehmen, verschweigt die Theorie des kommunikativen Handelns diese Leistungen der Anthropologie, und entsprechend bläht sie die Fiktion der Subjektphilosophie auf, um darin die heterogensten Positionen (Kant, Hegel, Marx etc.) unterbringen und somit das doppelte Verdienst der Überwindung von Subjektphilosophie und Anthropologie hauptsächlich sich selbst zuschreiben zu können 1 4 5 . Diese abstrakte Schematisierung dessen, was als Subjektphilosophie zu gelten hat, muß indes wesentliche theoretische Fehler nach sich ziehen. Besteht die notwendige und entscheidende Annahme der Subjektphilosophie im Primat der instrumenteilen Beziehung eines einsamen Subjekts zu etwas in der objektiven Welt 1 4 6 , so scheint es, als ob zur Beseitigung der subjektphilosophischen Übel die Wendung des Subjekts vom Objekt zum (anderen) Subjekt ausreichen würde. Aber damit bleibt die Kernfrage ungeklärt: Werden sich die Subjekte als Freunde oder als Feinde begegnen, wird sich also aus der Interaktion Friede oder Konflikt ergeben? Ist wiederum der Sinn der Wendung des Subjekts zum (anderen) Subjekt eben der, daß letzteres nicht als Objekt und bloßes Mittel, sondern als Selbstzweck und Träger menschlicher Würde betrachtet wird, so kann man zu demselben Resultat mit subjektphilosophischen Mitteln gelangen, wie Kant es getan hat 1 4 7 . Auch die Hinwendung der Vernunft zu Geschichtsvorgängen, die über das subjektive Bewußtsein des Einzelnen hinausgreifen 148 , garantiert keineswegs die Überwindung ihrer Subjektivität. Denn die Subjektivität der Vernunft liegt nicht darin, daß sie im Kopf eines Einzelnen gefangen bleibt und von der (subjektiven) Außenwelt nichts wahrnimmt - diese Annahme ist schlechthin unsinnig und kann nur innerhalb der geschilderten Karikatur von der Subjektphilosophie auftauchen - , sondern darin, daß Vernunft die Welt der Objekte und der Subjekte in der Perspektive eines Subjekts und seiner konkreten Lage erfaßt. Die allgemeine geistesgeschichtliche Inkompetenz der Theorie des kommunikativen Handelns schlägt sich in ihrer Unfähigkeit nieder, den eigenen geistesgeschichtlichen Standort zu bestimmen. Vom ursprünglichen „internen Zusammenhang" zwischen der Subjektphilosophie und dem Vernunft- bzw. Rationalitätsbegriff weiß sie 1 4 9 , sie will aber nicht wissen, daß die Loslösung von der ersteren eine Verteidigung der aufklärerischen Moderne gegen den postmodernen Angriff auf Vernunft und Rationalität aussichtslos macht 1 . Die (bürgerliche) Moderne war per definitionem subjektphilosophisch und anthropologisch ausgerichtet, und wer diesen Boden 145 Habermas, Phil. Diskurs, 160ff und passim. Wo der Autor einen Schritt über den „monologischen Ansatz der Bewußtseinsphilosophie" hinaus registriert, wie etwa bei Heidegger, fügt er gleich hinzu, der Urheber des Schrittes bliebe doch der Tradition verhaftet (a. a. O., 165 f., 179). Im Hinblick auf andere Fälle meint er, die vorgeschlagene Lösung führe „nicht ernstlich" aus der Subjektphilosophie heraus (a. a. O., 94). 146 A. a. O., 342f., Theorie des komm. Handelns, I, 519, 525. 147 Uber die theoretischen Sprünge und Dilemmas der ethisch inspirierten Kommunikationstheorie im allgemeinen s. ausführlich Kap. IV, Abschn. lEbc in diesem Band. 148 Phil. Diskurs, 69 Anm. 4. 149 A. a.O., 95. 150 Vgl. Abschnitt 2 in diesem Kapitel.

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verläßt, hat sich bereits auf die Seite der (massendemokratischen) Postmoderne geschlagen, selbst wenn er meint, die Abwendung von Subjektphilosophie und Anthropologie empfehle sich eben zur wirksameren Begründung der Vernunftideale der Moderne. Die Art und Weise der Begründung wiegt geistesgeschichtlich schwerer als der Inhalt des zu Begründenden, in ihr tut sich nämlich die ideologisch vorherrschende Denkfigur kund. Die Theorie des kommunikativen Handelns liefert somit unabhängig von ihren bewußten Absichten und Zielen einen zusätzlichen objektiven Beweis für die Tatsache, daß die Kultur der europäischen Neuzeit unwiderruflich zu Ende ist. Das Lob an einen Postmodernen wie Foucault wegen seiner Bekämpfung der Subjektphilosophie151 bleibt beredter als die Kritik an ihm. Dennoch wird es umsonst erteilt. Denn Foucaults Denken beruht auf anthropologischen Prämissen, obwohl er sich dessen ebensowenig wie Habermas bewußt ist. Einige Bemerkungen darüber sind angebracht, denn hier zeigt sich besonders anschaulich die Verwechslung von Anthropozentrismus und Anthropologie, von der zu Beginn dieses Abschnitts die Rede war. Bei Foucault verbindet sich diese Verwechslung mit der Forderung nach einer epistemologischen neuen Ordnung, die durch die Verdrängung des Menschen aus der Stellung des „souverain au royaume du monde" geboten erscheint: Nach dem Ende des Anthropozentrismus könne die Anthropologie und überhaupt das, was man die sciences humaines nennt, nicht mehr die Grundlage der Erkenntnis sein, das Schicksal der Anthropologie sei also an jenes des Anthropozentrismus geknüpft152. Nun muß jeder, der sich um die Klärung der Grundlagen der Erkenntnis und der Wissenschaft bemüht, nicht zuletzt die Frage stellen, um wessen Erkenntnis und Wissenschaft es sich hier handelt. Gibt es andere Erkenntnissubjekte als Menschen und hört die Erkenntnis auf, menschliche Erkenntnis zu sein, wenn sie nach dem Untergang des Anthropozentrismus betrieben wird und wenn sie sich nicht mehr um anthropologische Fragestellungen dreht? Der methodisch und inhaltlich höchst fragwürdige Umgang Foucaults mit der Geistesgeschichte verbietet es ihm, derlei zu fragen, oder vielmehr, er gestattet ihm, derlei nicht zu fragen. In seinen geistesgeschichtlichen Analysen folgt die eine geschlossene Denkstruktur abrupt auf die andere, ohne daß die Mechanismen der Übergänge begreiflich gemacht werden. Eine nähere Beschäftigung mit ihnen muß indes zeigen, daß die Ablösung einer Denkstruktur durch eine andere immer in einer konkreten menschlichen und geschichtlichen Lage erfolgt und unabhängig von der Gültigkeit der jeweiligen Wahrheitsansprüche den polemischen Bedürfnissen und Absichten bestimmter Subjekte entspringt und entgegenkommt, die eine bereits vorherrschende Denkstruktur uminterpretieren, modifizieren oder einfach umkehren. Die Subjekte werden nicht durch die Denkstrukturen aufgesaugt, sondern sie setzen sie als geistige Waffen ein und folgen ihrer (tatsächlich vorhandenen) inneren Logik nur, solange keine unüberbrückbare Kluft zwischen der Logik der Logik und der Logik der Polemik entsteht. Die unablässige Wirkung der polemischen Komponente in ihrer wesenhaften Bindung mit konkreten Subjekten erklärt außerdem die innere Vielfalt und Spannung im geistesgeschichtlichen Bild aller Epochen. Indem Foucault letztere übersieht oder 151 Phil. Diskurs, 306ff. 152 Les Mots, 359

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unterdrückt, gewinnt er jene geistesgeschichtlichen Vereinfachungen, die er benötigt, um die Permanenz anthropologischer Motive in der Geistesgeschichte als ganzer zu vertuschen und die Anthropologie auf die triumphierende anthropologische Disziplin des 19. Jahrhunderts zu verkürzen, die ihren systematischen Anfang bei Kant (!) genommen und die geistige Herrschaft von Taxonomie und Sprache im 18. Jahrhundert beendet haben soll153. Die symptomatische Bedeutung der Anthropologie schon an der Schwelle zur Neuzeit (Pico, Machiavelli, Montaigne etc.) kommt überhaupt nicht zur Sprache, und die Reinheit der Denkstrukturen, die angeblich das 17. und 18. Jahrhundert in ihrem Bann hielten, wird durch eine doppelte Mißhandlung des Materials abgesichert: Zur erwähnten Tilgung der geistesgeschichtlichen Vielfalt gesellt sich die Zerstückelung des Werkes der einzelnen Denker und Wissenschaftler, das nur unter dem Aspekt präsentiert wird, welcher sich in die jeweils betreffende übergreifende Denkstruktur einfügen läßt. Wenige ausgesuchte Stellen werden dabei durch große Kombinations- und Improvisationskünste zu epochalen Denkgebilden zusammengeflickt. Die eine Grundkomponente der massendemokratischen Denkfigur bei Foucault besteht also in der Kampfansage an den bürgerlichen Anthropozentrismus und seine Anthropologie. Die andere tritt vor allem in seinem späteren Werk zum Vorschein und besteht in der Forderung nach Selbstverwirklichung, die, wie wir wissen, auch verschlüsselt formuliert, auf ein bestimmtes Menschenbild hinausläuft oder dasselbe voraussetzt. In erklärter Übereinstimmung mit den „gegenwärtigen Kämpfen" gegen die herrschenden Machtformen will Foucault bezeichnenderweise dieselbe Frage aufwerfen wie der vermeintliche Urheber der Anthropologie, Kant: „wer sind wir?"; damit verbindet er wiederum das Ziel, „neue Formen der Subjektivität zustandezubringen, indem wir die Art von Subjektivität, die uns jahrhundertelang auferlegt wurde, zurückweisen" 154 . Foucault stellt freilich jene Frage nicht als diachronisch denkender Anthropologe, vielmehr will er sie auf den gegenwärtigen geschichtlichen Augenblick bezogen wissen. Trotzdem: Es besteht kein Grund und auch keine Möglichkeit, eine jahrhundertelang herrschende - und offenbar schädliche und entbehrliche - Subjektivität abzuschütteln, wenn ihr keine bisher unterdrückten Kräfte im Menschen als Gattung („wir") entgegenstehen. Was wird also im Menschen gegängelt und niedergehalten, was berechtigt zur stark wertenden Aussage, wir seien „zu Gefangenen unser eigenen Geschichte" geworden? 155 Foucault hätte auf diese Aporie eingehen müssen, denn er verlangt eine neue Subjektivität nicht einfach als funktionalistischer Soziologe und Sozialingenieur, der eine Kluft zwischen herkömmlichen Verhaltensweisen und neuen sozialen Verhältnissen, also zwischen „psychischen" und „sozialen Systemen" feststellt und diese Kluft beheben will, gleichgültig, unter welchen Vorzeichen. Im Gegenteil, er denkt in normativen Kategorien, und von der neuen Subjektivität erwartet er emanzipatorische Wirkungen. Der Individualist, der durch Konsum oder in irgendeiner anderen Form seine Selbstverwirklichung anstrebt, ist ein charakteristischer Typ der Massendemokratie. Ein anderer, ebenso unentbehrlicher ist der homo oeconomicus, der ebenfalls in vari153 A. a. O., 352, 353. 154 „Das Subjekt", 246, 250. 155 A. a. O., 245

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ierenden Gestalten auftritt und ebenfalls anthropologische Überlegungen nahelegt. Das heißt: Die Nationalökonomen und Soziologen, die in ihm die letzte soziale Einheit erblicken, interpretieren seine Handlungen auf der Basis anthropologischer Prämissen. Neuentdeckungen werden freilich dabei nicht gemacht. Man bewegt sich weiterhin im Rahmen der elementaren Anthropologie des ökonomistischen Frühliberalismus, die aber nur die eine Seite der bürgerlichen Anthropologie als ganzer ausmachte; die andere betraf die für die ethische Theorie und für das ethische Handeln relevanten anthropologischen Faktoren. Die Anthropologie der heutigen ökonomistischen Sozialtheorie ist also schon von ihrem geistesgeschichtlichen Ursprung her eine verkürzte und eindimensionale; es handelt sich hier also nicht um eine systematische Auffassung vom Menschen, im Lichte deren dann die ökonomischen Phänomene begriffen werden, sondern um partielle anthropologische Ad-hoc-Annahmen, die die Postúlate ökonomischer Theorie und ökonomistischer Sozialtheorie tragen sollen. Die Unentbehrlichkeit des Anthropologischen geht mit der Notwendigkeit seiner Verkürzung einher. Das Ausmaß der Rückversetzung in die Gedankenwelt des Frühliberalismus ist unter zwei weiteren Gesichtspunkten erkennbar. Erstens soll zwar der homo oeconomicus egoistisch, gleichzeitig aber rational sein. Das bedeutet, daß sich der Egoismus nicht in Ausbrüchen von Leidenschaft äußert, die blind um sich schlägt, sondern im Gegenteil, daß er imstande ist, sich als zweckrationales Verhalten zu artikulieren, d. h. sich die geeigneten Mittel zum Zweck zu suchen und dabei um eben dieses (egoistischen) Zwecks willen auf kurzfristigen Genuß zu verzichten. In seiner Verbindung mit der Rationalität und dem Begriff des langfristigen Interesses dient der Egoismus geradezu der Disziplinierung der Leidenschaften; die Interessen werden den Leidenschaften gegenübergestellt, und die soziale Welt wird deshalb berechenbar, weil die Interessen der Egoisten, die sie konstituieren, der Unberechenbarkeit der Leidenschaften ein Ende bereiten. Das war aber eine typische Denkfigur des 18. Jahrhunderts 156 . Zweitens verweisen die anthropologischen Argumente, die gegen die ökonomistische Verschränkung von Egoismus und Rationalität aufgeboten werden, selber auf viel ältere Debatten; die Ähnlichkeit der Argumentation ergibt sich freilich aus der Logik der Sache, nicht aus genauer Kenntnis der geistesgeschichtlichen Präzedenzien. Dem egoistischen Menschen kann man ja anthropologisch ohnehin nichts anderes grundsätzlich entgegensetzen als den uneigennützigen, und die mit dem homo oeconomicus verwachsene Konkurrenzgesellschaft läßt sich dementsprechend nur durch die Vorstellung einer neuen Solidarität bannen 1 5 7 . Dabei bleibt der Spielraum für verschiedene Kombinationen und Dosierungen der fundamentalen anthropologischen Faktoren ziemlich groß, so daß Versuche nicht ausbleiben können, an die Stelle des unilateralen rationalen Egoismus komplexere Motivationstrukturen zu setzen 158 . Dies alles erinnert bis in die Einzelheiten hinein an die Debatten der Aufklärung über den moralphilosophischen Stellenwert der Selbstliebe 159 . Aber unabhängig von den geistesgeschichtlichen Hintergründen und auch unabhängig davon, inwiefern und in welcher Form die harte utilitaristische Rationalität 156 Hirschman, Passions and the Interests. 157 So z. B. Etzioni, Moral Dimension. 158 S. z. B. Elster, Cement, 250ff. 1 5 9 D a z u Kondylis, Aufklärung,

3 8 1 ff., 4 0 7 f f .

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des homo oeconomicus im Hinblick auf die Realitäten des Handelns in psychisch und sozial komplexen Lagen aufgeweicht werden muß, zeugen solche Untersuchungen oder Aussagen von einem wachen Bewußtsein über die Relevanz und die Aktualität des Anthropologischen 160 . Manches Bemühen, den homo oeconomicus zu Fall oder zumindest ins Wanken zu bringen, entstammt allerdings direkt oder indirekt dem ethisch motivierten Wunsch nach Verteidigung der Güte und der Würde des Menschen oder der Bedeutung des Werthaft-Normativen für die Konstitution des Sozialen. Das kann hier nicht unsere Sorge sein. Im Gegenteil, es ist festzustellen, daß die ökonomistische Anthropologie im Vergleich etwa zu Parsons' Normativismus den theoretischen Vorzug aufweist, den Appell an die Wirkung internalisierter Normen möglichst hinauszuschieben 161 . Was sie prinzipiell behauptet, ist weder ganz noch in allen Fällen falsch, dennoch bleiben ihre pragmatischen und theoretischen Lücken so groß, daß sie nicht einmal eine Theorie des Wirtschaftens, geschweige denn eine allgemeine Sozialtheorie tragen kann. In dem Maße, wie ihre Ausgangsthesen zutreffen und analytisch brauchbar sind, liegt dies nicht am Gebrauch der ökonomischen Kategorien des rationalen Kalküls und der Nutzenmaximierung, sondern umgekehrt an der Tatsache, daß diese Kategorien selbst eine ökonomistische Verkleidung, allerdings auch Verkürzung und Banalisierung anthropologischer Faktoren von viel größerer Reichweite darstellen. Der Abstand zwischen dem erschließbaren realen Gehalt von Anthropologie und Sozialtheorie und dem theoretischen Umfang der ökonomistischen anthropologischen und sozialtheoretischen Konstruktionen zeigt sich übrigens an dem Druck, unter dem die Ökonomisten stehen, die Begriffe des rationalen Kalküls und der Nutzenmaximierung immer weiter zu fassen. Wie Hauptvertreter der Schule formulieren, vermöge erst eine weitgefaßte („broad") „rational choice theory" der Gesamtheit menschlichen Verhaltens gerecht zu werden; zu ihr gehört das Eingeständnis, die rationalen Entscheidungsträger seien sich des eigenen maximierenden Verhaltens nicht notwendig bewußt und auch nicht immer imstande, Rechenschaft darüber abzulegen 162 . Das ist aber Sprengstoff an den Grundlagen ökonomistischer Anthropologie. Denn es läßt sich nicht genau bestimmen, wie weit die Erweiterung ihrer ursprünglichen Begriffe gehen darf, ohne daß sie die Frage aufwirft, warum denn ausgerechnet solche Begriffe als theoretischer Ausgangspunkt dienen sollen und nicht etwa Begriffe, die den Bereichen entnommen werden könnten, auf die hin die Erweiterung erfolgte, falls sich diese als genauso erweiterungsfähig in umgekehrter Richtung erweisen würden. Wäre das Verhalten der Mitglieder der Gesellschaft, in der der Börsenmakler der Wall Street lebt, und jenes der Mitglieder der Gesellschaft, in der etwa La Rochefoucauld gelebt hat, an Hand einer und derselben egoistischen Anthropologie zu erklären, so ist nicht einzusehen, warum die Begrifflichkeit des ersteren der des letzteren vorgezogen werden muß - es sei denn, man setzt das voraus, was man beweisen soll. Die Einbeziehung der unbewußten Motivationsdimension in die anthropologische Betrachtung erhärtet diesen Verdacht und vermindert zusätzlich die Aussagekraft der „rational choice theory", die ihren Modellcha160 S. z. B. Lindenberg, „Homo Socio-oeconomicus", insb. 728-33. 161 Sciulli, „Weaknesses, 161. 162 Becker, Economic Approach, 8, 7.

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rakter und ihre Klarheit als Handlungsinterpretation nur daraus beziehen kann, daß sich in ihr die Ebene der Motivation und des Kalküls und die Ebene des Handlungsablaufs kaum voneinander unterscheiden (dürfen). Das heißt: An der Zweckrationalität des äußeren Handlungsablaufs wird die Beschaffenheit der Motivation und die Rationalität des interessegeleiteten Kalküls sichtbar; zwischen den beiden gähnt keine Kluft, die auf anthropologisch bedingte Ambivalenzen schließen ließe. In dieser Perspektive kommt die Möglichkeit zweckrationalen Handelns bei „irrationaler", d. h. nicht ökonomischer Motivation und in instrumenteller Abhängigkeit von dieser nicht in Betracht; das „Interesse" diszipliniert a limine durch seine Rationalität die „Leidenschaften", die sich nirgendwo im theoretischen Modell melden. Die paradoxe Konstellation ist nun die: Da die Transparenz des Modells auf der (irrtümlich angenommenen) Symmetrie von zweckrationalem Handeln und rationaler Motivation beruht, so muß sie durch die (zu Recht beabsichtigte) Berücksichtigung von Motivationsinteressen getrübt werden, die sich des bewußten Kalküls entziehen. Sprechen „Leidenschaften" doch ein Wort bei der Bestimmung des „Interesses" mit, so muß der Begriff des Interesses entsprechend erweitert werden, um inhaltlich sehr unterschiedliche Komponenten zu erfassen, wenn man sich dessen als Schlüssel der anthropologischen Konstruktion weiterhin bedienen will. Denn „Leidenschaften" verstanden als der Inbegriff von allem, was nicht als ökonomische, d. h. auf materielle Güter ausgerichtete Nutzenmaximierung stricto sensu bezeichnet werden darf - haben ihre eigene Rationalität und ihr eigenes rationales Kalkül, wie ja ihre häufigen Konflikte mit den „Interessen" bezeugen. Im nächsten Abschnitt werden wir sehen, wie die ökonomistische Anthropologie auf dem Umwege einer selektiven und im voraus gesäuberten Definition des Interesses der Frage der politischen Ordnung beikommen will. Wir wenden uns nun der behavioristisch inspirierten Anthropologie zu, die teils als Grundlage, teils als Ergänzung, teils als Variation der ökonomistischen angesehen werden muß 163 . Der Hauptexponent dieser Richtung hat die Forderung nach einer neuen anthropologischen Besinnung auf eine grundsätzliche Basis gestellt, indem er daran erinnerte, daß die allgemeinen Propositionen in der Sozialtheorie vor dem Aufstieg der modernen Soziologie eben Propositionen über die menschliche Natur waren 64 . Es komme nun darauf an, auf diese Tradition zurückzugreifen und gegen das Ignorieren der Gesetzmäßigkeiten menschlichen Verhaltens (seitens des Systemfunktionalismus z. B.) die anthropologische Betrachtung in Form von psychologischen Grundhypothesen wiedereinzuführen, die das Verhalten des Menschen als Menschen, d. h. als Gattungswesen und nicht bloß als Mitglied einer bestimmten Gesellschaft erklären sollen165. Dabei gilt zweierlei als ausgemacht: Daß die Wiederanknüpfung an die anthropologisch-psychologische Ausrichtung der Sozialtheorie unter der Leitung moderner Psychologie stattfinden muß und daß diese letztere keine andere als die behavioristische Individualpsychologie sein kann166. Der besondere Nachdruck auf den 163 „The two are in fact largely the same" schreibt Homans im Hinblick auf die behavioristische Psychologie und die „rational choice theory", obwohl er erstere für grundlegend hält (Nature, 39; „Commentary", 226.). 164 Homans, Nature, 35. 165 Homans, „Commentary", insb. 231; Sentiments, 252. 166 Homans, Nature, 36.

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individualistischen Ausgangspunkt wird als konsequente Kampfansage an den homo sociologicus Parsonsscher Prägung legitimiert, der nicht weniger unpersönlich sein soll als die von ihm getragenen sozialen Institutionen und Systeme16 . Dennoch besteht zwischen methodologischem Individualimus und Behaviorismus eine viel tiefere Verwandtschaft, die dem Behavioristen selbst kaum bewußt sein dürfte, weil sie von den für ihn unsichtbaren Nachteilen seiner psychologischen Methode herrührt. Man kann sie folgendermaßen beschreiben: Je mehr der Mensch als isoliertes Individuum betrachtet wird, desto tiefer können jene Faktoren in seine Beschaffenheit gesetzt werden, die zur Erklärung seines Verhaltens angeführt werden, desto höher wird m. a. W. die biologische Dimension veranschlagt. Insofern die behavioristische Psychologie bei der Erklärung menschlichen Verhaltens das Grundschema „Stimulus-Reaktion" in dieser oder jener Version zugrundelegt, bezieht sie sich in der Tat auf eine existentielle Schicht, die wegen ihrer Tiefe überall anzutreffen ist; daher der Anspruch behavioristischer Erklärungen auf Allgemeingültigkeit. Es fragt sich nur, ob Erklärungen auf dieser Tiefebene sozialtheoretisch verwendbar und fruchtbar sind oder ob die Erklärungsebene um einiges angehoben werden muß, damit der Erklärende den Boden der Sozialtheorie und auch der Geschichte betreten darf. Homans hat freilich zu Recht betont, die Universalität menschlicher Natur liege nicht in der Annahme identischer Werte seitens aller Menschen, sondern in der Ähnlichkeit der Wirkung von (unterschiedlichen) Werten auf menschliches Verhalten; zur Erläuterung des besonderen und wandelbaren Inhalts der Werte sei der Historiker, nicht der behavioristische Soziologe berufen 168 . Aber durch die Trennung der Ebene behavioristischer Soziologie von der Ebene der Geschichte und durch Anerkennung der Selbständigkeit und zugleich der Unentbehrlichkeit der letzteren wird unsere Frage nicht gelöst; zwischen beiden Ebenen gähnt noch immer eine Kluft, die aus der Tatsache entstand, daß die erstere zu tief gesetzt wurde und somit mit der letzteren nicht mehr verbunden werden kann. Bei voller Anerkennung der ausschließlichen Zuständigkeit historischer Forschung, über den jeweiligen Inhalt der Werte durch Analyse konkreter Lagen Rechenschaft abzulegen, muß eine anthropologisch untermauerte Sozialtheorie einen Schritt weiter als die behavioristische gehen und die Faktoren namhaft machen, die, über die Gleichförmigkeit der verhaltensmäßigen Wirkung von Werten hinaus, den Wandel des Inhalts von Werten als solchen bedingen. Die realen Koeffizienten dieses Wandels müssen m. a. W. zunächst unabhängig vom historisch erfaßbaren Inhalt der jeweiligen Werte, aber vor dem anthropologischen bzw. sozialontologischen Hintergrund beschrieben und ausreichend formalisiert sein, um in eine umfassende Sozialtheorie einbezogen zu werden. Dieses theoretisch entscheidende Mittelglied zwischen der Ebene der Verhaltensgleichförmigkeit und der Ebene der Geschichte oder des Konkret-Einmaligen kann die behavioristische Sozialtheorie wegen ihrer notgedrungen individualistischen Einstellung nicht fassen. Sie verwechselt die (richtige) Forderung nach Rückkehr der Sozialtheorie zum konkreten Menschen mit der (falschen) Annahme von der Möglichkeit einer adäquaten Schilderung des Menschen als isoliertem Einzelnen, sie wirft also irrtümlich Anthropologie bzw. Psychologie und (methodologischen) Individua167 Homans, „Bringing Men Back In"; „Commentary", insb. 229f. 168 Nature, 41; Grundlagen, 112.

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lismus in einen Topf. Gewiß, die konkreten Menschen sind Individuen, aber das Individuelle muß nicht den Gegenbegriff zum Sozialen bilden, wenn damit die soziale Beziehung in ihrem ganzen Spektrum und in ihrem intersubjektiven Mechanismus gemeint ist. Gerade Spektrum und Mechanismus der sozialen Beziehung beleuchten aber zentrale soziale Phänomene wie den Wertewandel, vor denen der konsequent durchgeführte Behaviorismus versagt, indem er eine eindeutige und permanente Beziehung zwischen Stimulus und Reaktion postulieren muß. Charakter, Schwankungen oder Umwälzungen der sozialen Beziehung zwischen konkreten Menschen erklären, warum nun etwas Unbehagen hervorruft, was früher als angenehm empfunden wurde, warum sich also die genannte Beziehung und die damit verbundene Wertvorstellung wandelte. Dieselben erklären, wie Vorstellungen über Wert und Unwert, Erstrebenswertes und Abzulehnendes überhaupt entstehen, während die behavioristische Psychologie nur die Wiederholung einer schon belohnten bzw. die Nicht-Wiederholung einer schon bestraften Reaktion, nicht den ersten Vollzug einer Handlung begreiflich machen kann, von der der Akteur noch nicht wissen kann, ob sie Belohnung oder Strafe nach sich zieht 169 . Und dieselben erklären schließlich, warum der Grundsatz der Grenznutzentheorie, wonach jede neue Einheit eines Nutzens oder Genusses weniger begehrenswert als die unmittelbar vorangehende erscheint, nur teilweise, wenn überhaupt, im Bereich spezifisch menschlicher Werte gilt; was Sättigung im biologischen Sinne heißt, leuchtet meistens ohne weiteres ein, die Sättigung im Hinblick auf Ruhm, Macht, Wissen etc. läßt sich aber in biologischen Kategorien kaum fassen, zumal hier jede neue Einheit sehr oft begehrenswerter als alle früheren anmutet. Die Vernachlässigung der sozialen Beziehung in ihrer anthropologisch konstitutiven Dimension durch den individualistischen Behaviorismus macht diesen zudem unfähig, an Hand des Schemas „Stimulus-Reaktion" oder „Belohnung-Strafe" die Beziehung zwischen Subjekt und Objekt und die Beziehung zwischen Subjekt und Subjekt theoretisch befriedigend voneinander zu unterscheiden. Dieses Manko, das ein differenziertes Verständnis des Mechanismus von Belohnungen und Strafen selbst verhindert, wird keineswegs dadurch behoben, daß das Schema „Stimulus-Reaktion" flexibel gehandhabt, also zwischen Stimulus und Reaktion die individuelle Beschaffenheit und die interpretatorische Tätigkeit des Subjekts eingeschoben werden. Denn diese Flexibilisierung des Schemas kann sowohl im Hinblick auf die Beziehung zwischen Subjekt und Objekt als auch auf die zwischen Subjekt und Subjekt erfolgen und trägt daher an sich nichts zur Unterscheidung der zwei Beziehungen voneinander bei. Wie dem auch sei, zeugt sie von der theoretischen Enge des puren Behaviorismus und vom Bestreben, sie ohne offene Kapitulation zu überwinden. Die stillschweigende Kapitulation fällt aber auch auf. Wenn Homans z. B. trotz grundsätzlicher Verwendung des Schemas „Stimulus-Reaktion" den jeweiligen Ausgang des Vergleichs zwischen Belohnungen und Strafen für offen hält, da er von subjektiven Wertungen abhänge, und wenn er darüber hinaus beim Austausch häufig einen Vorrang von Gerechtigkeitsgesichtspunkten gegenüber dem Stimulus materiellen Gewinnes erkennt 170 , dann stellt er faktisch den behavioristischen Grundsatz zur 169 M. Deutsch, „Homans in the Skinner Box", 162ff, Ekeh, Social Exchange Theory, 121. 170 Social

Behaviour,

76 u . p a s s i m .

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Disposition eines an ihn nicht unbedingt gebundenen Subjekts; zugleich macht er die theoretische Möglichkeit einer Vereinheitlichung von behavioristischer und ökonomistischer Anthropologie bzw. Motivationsanalyse zunichte, insofern diese auf der Annahme beruht, Belohnungen und Strafen ließen sich (in Geld) messen 171 . Man kann zweifelsohne jenen Grundsatz ständig nach Belieben drehen und wenden, um seine Geltung für alle konkreten Fälle zu beweisen; verliert er indes den eindeutigen und geradlinigen Bezug, den er bei seiner ersten Formulierung besaß, so gibt es keinen zwingenden Grund mehr, ihn als Grundlage der anthropologischen und sozialtheoretischen Begrifflichkeit zu gebrauchen, es sei denn - wie im Falle der ökonomistischen Version der egoistischen Anthropologie - , man postuliert das, was man beweisen soll. Einen einigermaßen passablen Komplexitätsgrad kann behavioristisch inspirierte Sozialtheorie jedenfalls nicht erreichen, wenn sie nicht auf Schritt und Tritt in das behavioristische Verhaltensschema Mechanismen des symbolischen Verhaltens einschmuggelt. Die Beziehung zwischen den beiden Auffassungen über den Verhaltensablauf ist indes nicht einfach komplementär, wie der nonchalante Eklektizismus behavioristischer Sozialtheoretiker suggerieren will. Wer empirisch feststellt, daß genau dieselben Dinge oder Handlungen das eine Mal als Belohnungen und das andere Mal als Strafen eingesetzt oder empfunden werden, muß auch die theoretische Einsicht beherzigen, symbolische Belohnungen oder Strafen seien sehr oft die Umkehrung der behavioristisch erfaßbaren 172 . Konditioniertes und symbolisches Verhalten bestehen zwar dicht nebeneinander bei demselben Subjekt, strukturell liegen sie aber weit auseinander, und ihr Unterschied liegt letztlich an der Tatsache, daß der Mensch Werkzeuge und Symbole gleichsam aus dem Nichts schafft, während andere Tiere höchstens bereits vorhandene gebrauchen können 1 7 3 . Die Fragen, die der ökonomistische und behavioristische Ansatz aufgeworfen haben, werden uns in dieser Arbeit mehrmals beschäftigen 174 . Hier ging es darum, der anhaltenden Wirkung von anthropologischen Motiven in diesem Denkrahmen auf die Spur zu kommen und zugleich die Gründe der gewaltigen anthropologischen Verkürzungen zu klären. Der Rückgriff ökonomistischer Anthropologie auf frühliberales Gedankengut wird durch die starke ökonomistische Ausrichtung der Massendemokratie und den Status des homo oeconomicus in der „Wirtschaftsgesellschaft" bedingt, andererseits deutet der Einbruch des Behaviorismus in dieses Terrain auf die massendemokratische Eliminierung des bürgerlichen Anthropozentrismus hin; denn der Behaviorismus hat sich programmatisch bemüht, den Abstand zwischen menschlichem und allgemein tierischem Verhalten möglichst gering zu halten oder gar abzuschaffen. Unter diesen Bedingungen konnte eine anthropologisch hinreichend untermauerte Sozialtheorie kaum gedeihen, obwohl die objektive Unentbehrlichkeit des Anthropologischen hier viel deutlicher ausgesprochen wurde als in den erzwungenen Eingeständnissen oder verbissenen Weigerungen der System- und der Kommunikationstheorie. Eine andere Quelle anthropologischer Besinnung in der Sozialtheorie ist die noch immer lebendige, aber eher durch starke Reminiszenzen vertretene soziologische Tradition, die den Begriff des sozialen Handelns in den Vordergrund 171 172 173 174

Vgl. Chadwick-Jones, Social Exchange Theory, insb. 170, 175, 168. Abrahamsson, „Homans on Exchange", insb. 281, 283, 284, 279f. Ekeh, Social Exchange Theory, 106ff. S. Kap. IV, Abschn. 2D, u. Kap. V., Abschn. 1D

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stellt - allerdings ohne bisher alle wichtigen theoretischen Schlußfolgerungen daraus gezogen zu haben. Es muß nicht eigens erklärt werden, warum der Handlungsbegriff gleichsam von sich aus zu einer Anthropologie einlädt, sich jedenfalls mit einer Anthropologie verbinden muß: Die konstitutiven Merkmale der (sozialen) Handlung weisen auf ebensoviele konstitutive Merkmale des Menschen als Menschen hin. Webers sehr lückenhafte sozialontologische Reflexion sowie seine persönlichen Interessen trieben indes die Handlungstheorie in die entgegengesetzte Richtung, d. h. in die vorrangige Erforschung von idealtypisch erfaßbaren institutionellen und anderen Kristallisierungen sozialen Handelns sowie von (langfristigen) Handlungsprozessen, die durch eine bestimmte Handelnstypologie beleuchtet werden sollten. Neuerdings und unter dem Einfluß teils des phänomenologischen und symbolischen Interaktionismus, teils durch Neuformulierungen der Psychoanalyse wurde versucht, die Handlungstheorie von ihren individualistischen oder intentionalistischen Einseitigkeiten zu befreien, sie durch die Analyse von Motivations- und Rationalisierungsprozessen zu bereichern und in dieser Form als Ausgangspunkt oder Grundlage einer anspruchsvollen Sozialtheorie zu verwenden 175 . Dabei ist eher eine rhapsodische Juxtaposition von Materialien und Thesen herausgekommen, die aber trotz des Ignorierens speziell anthropologischer Fragestellung mindestens indirekt das bleibende Bedürfnis nach Klärung der anthropologischen Komponenten der Sozialtheorie artikuliert.

6. Das Politische in der massendemokratischen Sozialtheorie und in der Konstitution des Sozialen Seit der Herausbildung des modernen europäischen Staates wurde die weitgehende Identifizierung von Politik und Staat geläufig, und sie ging mit der Gegenüberstellung von Staat und (an sich unpolitischer, d. h. wirtschaftender etc.) Gesellschaft einher. Die massendemokratische Verwischung der Grenzen zwischen Staat und Gesellschaft mußte deshalb vor diesem Hintergrund auf eine theoretische Abschwächung oder gar Herabsetzung der Politik und des Politischen hinauslaufen. Die bürgerlichliberale Gegenüberstellung von Staat und Gesellschaft war allen Indizien nach ebenso wie deren massendemokratische Verflechtung miteinander eine politisch-polemisch nützliche Fiktion. Dennoch spiegelt sich im Gegensatz der beiden Denkfiguren der reale Ubergang zum Versorgungs- und Sozialstaat des 20. Jahrhunderts wider. Nun scheint der Staat grundsätzlich im Dienste der Gesellschaft bzw. der (ausschlaggebenden) gesellschaftlichen Organisationen zu stehen und dementsprechend wird Politik als verlängerter Arm der Gesellschaft, als ein Teil oder „Subsystem" derselben betrachtet, das sich bloß durch seine speziellen Funktionen von den anderen unterscheiden soll. Diese Herabsetzung der Politik und des Politischen wird zwar, wie wir noch sehen werden, erst durch eine begriffliche Verengung derselben 175 Ich d e n k e z. B. an G i d d e n s , Constitution,

chap. 1—2.

6. Das Politische in der massendemokratischen Sozialtheorie und in der Konstitution des Sozialen

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ermöglicht, nämlich durch deren Reduktion auf den Regierungsapparat und das, was sich in seiner unmittelbaren Umwelt bewegt; nichtsdestoweniger wird sie programmatisch betrieben, indem versucht wird, das Politische und das Soziale auseinanderzuhalten und die soziale Ordnung an Hand „spezifisch soziologischer" Kategorien 1 7 6 begreiflich zu machen. Zu dieser Grundeinstellung ermutigt auch der Stolz, eine selbständige und zugleich übergreifende Disziplin zu vertreten, der es gleichsam verbietet, etwas zum konstitutiven Prinzip der Gesellschaft zu erklären, das bei der herrschenden Gliederung des Wissens den Gegenstand einer anderen Disziplin ausmacht. Daher gibt es heute eine Soziologie der Politik, keine politische Theorie des Sozialen. Die Abkehr von Parsons und die Infragestellung des Normativen als Zement der sozialen Ordnung führten nicht zu einer Besinnung auf die konstitutive soziale Funktion des Politischen, sondern zu Bestrebungen, die Ordnungsfrage entweder durch Konstruktionen des Sozialen auf individualistischer Basis oder durch das Konzept des offenen Systems zu lösen, welches dem individualistischen Ansatz Rechnung trug und ihn zugleich innerhalb der „Systemrationalität" aufhob. In beiden Fällen läuft die verfolgte theoretische Strategie darauf hinaus, die Termini der Fragestellung derart zu präparieren bzw. zu entschärfen, daß sich die erwünschte Lösung zwanglos aus den gesetzten Prämissen ergibt. So geht einer der führenden individualistischen Ansätze, d. h. der ökonomistische, von der Vorstellung eines rationaleigennützigen Einzelnen als letzter soziologischer Einheit aus; der Begriff des Interesses, der diesen Einzelnen leiten soll, wird aber derart definiert, daß er eine Motivation zum gewaltsamen oder betrügerischen Handeln geradezu ausschließt. Das ökonomistische Modell stellt ja das Individuum abstrakt, d. h. so vor, als ob es exklusiv innerhalb eines idealen Marktes agiert, in dem Gewalt, Zwang oder Betrug schädlich wären, da sie die Austauschpartner verscheuchen und somit früher oder später den sozialen Selbstmord des Bösewichts bewirken würden. Wo die Kontrahenten gleichermaßen frei sind und bleiben und wo der Markt aus gleichermaßen und permanent freien Kontrahenten konstituiert wird, da muß allerdings die rationale Verfolgung von Eigeninteressen auf Gewalt oder Betrug verzichten, da sie ständig auf die gleiche Freiheit (und Rationalität) des Anderen stößt. Aber die so definierte Rationalität des Interesses setzt voraus, daß nichts anderes als das isolierte Individuum und der pure Marktmechanismus ins Spiel kommen dürfen. Es wird vorbeugend dem Dickicht der konkreten sozialen Beziehungen ausgewichen, innerhalb dessen das Giftkraut gedeiht, das sich auf die gegebene soziale Ordnung immer schwächend und manchmal tödlich auswirkt. Trotz des angenommenen Egoismus der Individuen wird somit die soziale Ordnung theoretisch einerseits durch die konsequente Atomisierung des sozialen Ganzen und andererseits durch das Absehen von den sozialen Beziehungen im weiteren Sinne gerettet. Es sei hinzugefügt, daß ökonomistische Soziologie dieses Absehen mit der normativen Ordnungstheorie bei allem Unterschied der Prämissen teilt. Denn die Fiktion des isolierten egoistischrationalen Individuums muß auf konkrete und multidimensionale soziale Verhält176 Solche sind für Parsons die normativen im Gegensatz zu den politischen oder ökonomischen, Structure, 768. Die „conscience collective" war für Dürkheim ebenfalls eine spezifisch soziologische Kategorie. Vgl. Kap. II, Anm. 241.

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nisse sowie auf persönliche Temperamente ebensowenig Rücksicht nehmen wie die Fiktion des allseitig sozialisierten Menschen 177 . In ihrem Unvermögen, das Problem der sozialen Ordnung an Hand der eigenen spezifischen Begrifflichkeit zu bewältigen, macht die ökonomistische Sozialtheorie ergänzende Annahmen, die dann stillschweigend zur Grundlage des theoretischen Aufbaus verwendet werden. Die wichtigste unter ihnen dürfte die sein, am Anfang stünde keine Regierungsautorität, sondern ein Konsens von Individuen über individuelle Rechte 178 . Wie dieser Konsens zustande kam und was seine Dauer garantiert, bleibt dunkel. Es wird zwar auf die bestehenden sozialen Institutionen verwiesen, diese sollen aber ihrerseits aus demselben interessegeleiteten Kalkül entstanden sein, das den Marktmechanismus trägt, so daß sich ein Zustand des Konsenses über Rechte vor der Verfolgung egoistischer Anliegen nicht denken läßt. Institutionen sollen deshalb sozial wohltuend sein, weil sie mit dem marktkonformen Verhalten funktionell und vom Geist her in Übereinstimmung stehen. Es fragt sich aber, ob durch (politische) Autorität abgesicherte Institutionen geschaffen wurden, um egoistisches Verhalten zu stützen oder um eben diesem in Hinblick auf andere soziale Ziele Grenzen zu setzen 179 . Überhaupt wird im ökonomistischen sozialtheoretischen Kontext so argumentiert, als ob sich eigennützige wirtschaftliche Tätigkeit frei von jeder politisch-institutionellen Bindung nicht wesentlich anders entfalten würde als unter dem mehr oder weniger spürbaren Druck einer solchen Bindung, als ob sie also durch Selbstdisziplinierung ohne weiteres das kompensieren würde, was als äußere Disziplinierung auf den Plan tritt - oder gar als ob das, was als äußere Disziplinierung anmutet, im Grunde eine (delegierte) Selbstdisziplinierung darstellte. Selbst im Falle einer institutionell geregelten Selbstdisziplinierung muß indes zugegeben werden, daß sie nicht mit derselben Leichtigkeit wie ein privater Vertrag abgeschlossen oder gelöst werden könnte, wenn es überhaupt in der Gesellschaft feste Regeln geben soll. Der Vertrag an sich, d. h. als durch (politische) Autorität garantierte Institution, ist qualitativ etwas anderes als der Vertrag im Sinne einer beliebig abschließbaren und lösbaren Abmachung beliebigen Inhalts zwischen zwei beliebigen Kontrahenten. A fortiori gilt diese Differenz im Hinblick auf die politisch-sozialen Institutionen, in die der Einzelne hineingeboren wird und die ihm im voraus einen Status zuweisen können, mit dem er keineswegs zufrieden ist. Die Gleichsetzung von Markt und Gesellschaft will suggerieren, dieser Zustand lasse sich durch richtigen Einsatz interessegeleiteten Kalküls beheben. Diese Möglichkeit ist allerdings nicht ausgeschlossen, doch bestand sie auch in Gesellschaften, die allem anderen als einem offenen Markt ähnelten. Für den Fall des ungewollten Verbleibs in einer sozial oder wirtschaftlich unterlegenen Stellung kann zwar die ökonomistische Auffassung geltend machen, Unterwerfung werde hier durch egoistische Rationalität geboten, da der Aufstand voraussichtlich viel größere Unannehmlichkeiten („Unkosten") mit sich bringen würde. Aber die Möglichkeit, eine politische oder soziale Beziehung durch die Logik oder vielmehr das Vokabular eines ökonomischen Kalküls zu erfassen, läßt keineswegs auf die Wesensgleichheit von Politisch-Sozialem und 177 S. die vorzügliche Analyse von Granovetter, „Economic Action", insb. 488, 493, 484, 485. 178 Coleman, Foundations, 54, 170. 179 Sciulli, „ W e a k n e s s e s " , 171, 164.

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Ökonomischem, und zwar im Zeichen des letzteren, schließen. Das ökonomistische Sozialmodell muß sowohl auf der Annahme des interessegeleiteten Kalküls als auch auf jener der grundsätzlichen Gleichheit der Kontrahenten innerhalb eines offenen Marktes beruhen. Die theoretische Berufung auf das Kalkül kann also nicht dazu dienen, das tatsächliche Fehlen der Gleichheit plausibel zu machen, ohne das ökonomistische Konzept von der sozialen Ordnung aus den Angeln zu heben. Zur Auffassung, interessegeleitetes Kalkül könne die Grundsäule sozialer Ordnung abgeben, ist hier eine weitere Bemerkung am Platz. Offenbar impliziert die doppelte und gleichzeitige Kanalisierung dieses Kalküls in allgemeine institutionelle Regelungen und in individuelle Unternehmungen, daß nicht nur auf individueller Ebene, sondern auch entlang der Schnittlinie zwischen Individuellem und Allgemeinem oder Sozialem lang- und kurzfristige Interessen nicht unbedingt zusammenfallen. Auf individueller Ebene kann der Betreffende mit diesem Gegensatz zurechtkommen, ohne vom egoistischen Kalkül stricto sensu abzuweichen; schließlich arbeitet er weiterhin für sich, wenn er auf seinen jetzigen Genuß in Erwartung eines eigenen noch größeren Genusses verzichtet. Das langfristige Interesse hört also hier nicht auf, individuelles Interesse zu sein. Aber das sozial-institutionell definierte langfristige Interesse übertrifft in der Regel an Dauer und Durchsetzungskraft das individuelle, weshalb ein ganzes individuelles Leben verstreichen kann, ohne daß der Einzelne, der die angebliche Identität von sozialem und individuellem langfristigen Interesse ernst nimmt und in Ubereinstimmung mit institutionellen Geboten handelt, zum persönlichen (kurz- oder langfristigen) Genuß zu kommen vermag. In diesem Fall muß egoistisch-rationales Kalkül eine Entscheidung für den individuellen Genuß auf Kosten des so oder so definierten sozialen Interesses bedeuten, zumal der Einzelne über die ihm zur Verfügung stehende Zeitspanne nichts wissen kann. Egoistisches Kalkül betätigt sich m. a. W. ausschließlich in individuellen und zwar möglichst kurzfristigen Unternehmungen und überläßt es dem egoistischen Kalkül der anderen, sich doppelt (individuell und sozial-institutionell) zu kanalisieren. Dann wenden sich die beiden Aspekte des egoistischen Kalküls gegeneinander, und die soziale Ordnung geht zugrunde, wenn dies in einem solchen Ausmaß geschieht, daß es die alltägliche, gleichsam normale Anomie übersteigt. Das egoistische Kalkül kann also in seiner sozialtheoretisch unumgänglichen begrifflichen Doppelseitigkeit oder Zwiespältigkeit nicht für eine ausreichende Geschlossenheit der sozialen Ordnung garantieren. Dies wird zwar von mehreren Seiten eingesehen, daraus aber kaum die Schlußfolgerung von der sozial konstitutiven Funktion des Politischen gezogen. Stattdessen wird entweder Parsons gegen den Ökonomismus in Schutz genommen und ein normativ aufgeladener Rationalitätsbegriff an Stelle des egoistischen Kalküls gesetzt180 oder es wird ein mittlerer Weg eingeschlagen, d. h. normative Faktoren werden zwar gegen den „Utilitarismus" aufgewertet und die Leistungen des Staates für die Aufrechterhaltung der sozialen Ordnung anerkannt (was freilich die sozialontologische Dimension des Politischen keineswegs erschöpft), zugleich aber die theoretischen Fragestellungen bewußt auf die „spontaneous mechanisms for coordination and Cooperation" konzentriert181. 180 S. z. B. Bohman, „Limits", insb. 221, 225. 181 S. z.B. Elster, Cement, insb. chap. 3 - 4 (Aufwertung normativer Faktoren) und S. 249f. Vgl. o. Anm. 158.

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Bei der funktionalistischen Systemtheorie werden wir länger verweilen, weil sie auch in diesem Zusammenhang das vollständigste Inventar massendemokratischer Gemeinplätze und ideologischer Irrtümer bietet. Ihre Lehren über die Politik und das Politische ergeben sich übrigens nicht aus ihren spezifischen theoretischen Prämissen, sondern in Wirklichkeit bilden sie eine Variation des massendemokratischen Konzepts der „Wirtschaftsgesellschaft". Entsprechend weit gehen die Übereinstimmungen mit der ökonomistischen Sozialtheorie, die teils indirekt-konzeptuell, teils direkt-begrifflich sind. Konzeptuell fällt die Ähnlichkeit auf zwischen einem Marktmodell, das auf der flächigen Vorstellung mehrerer gleichberechtigter und voneinander unabhängiger Kontrahenten beruht, und einem Systemmodell „ohne Spitze und ohne Zentrum" 182 , das keine Hierarchie unter den Subsystemen zulassen will; die Idee einer zentralen sozialen Instanz wird in beiden Fällen programmatisch fallengelassen. Und in beiden Fällen wird, sobald die inhaltliche Schilderung der Gesellschaft es erfordert, die soziale Überlegenheit des Wirtschaftlichen gegenüber dem Politischen behauptet: Letzteres verbinde sich mit „tribalen Verhaltensmustern" während die hohe Komplexität, Wahlfreiheit und Lernfähigkeit moderner Wirtschaft das kognitive Element und somit die rationale Gestaltung der Gesellschaft fördere 183 . Unter modernen Bedingungen könnten „der Staat oder die Politik" kein „Steuerungszentrum der Gesellschaft" darstellen, das politische System bilde bloß einen Funktionsbereich oder ein Teilsystem unter mehreren, deren keines ein anderes zu ersetzen oder auch nur zu entlasten imstande sei; der Versuch, an „alteuropäische Traditionen" anzuknüpfen, also aus der Politik eine für alles verantwortliche letzte Instanz zu machen und die funktional differenzierte Gesellschaft auf die Politik zu zentrieren, würde die Zerstörung der letzteren herbeiführen, ein solcher Versuch hätte indes heute wenig Erfolgsaussichten, da Politik inzwischen so wenig souverän geworden sei, daß sie nicht mehr bestimmen könne, welche Probleme politisiert würden 184 . Nun bedeutet die Reduktion des politischen Faktors auf ein Teilsystem, welches soziologisch den übrigen gleichberechtigt ist, daß Politik im engsten Sinne des Wortes verstanden, d. h. mit der Regierung und dem Staatsapparat identifiziert wird, deren Wirkungsbereich ebenso abgesondert und eingegrenzt sein soll wie der der anderen Teilsysteme auch. Bei einem solchen Politikverständnis muß freilich die sozialontologische Frage nach dem Zusammenhalt der Gesellschaft unbeantwortet bleiben, zumal wenn - trotz der stillschweigenden konzeptuellen und inhaltlichen Voranstellung des Teilsystems „Wirtschaft" - grundsätzlich kein Teilsystem den sozialen Primat beanspruchen darf; als Lösung der sozialontologischen Frage kann andererseits nicht die Umschreibung der Gesellschaft durch den Systembegriff betrachtet werden, denn das „System" wird bloß a limine postuliert. Aber selbst wenn wir die sozialontologische Dimension momentan ausklammern und beim engen Politikverständnis bleiben, tauchen nicht geringe Aporien auf. Die angenommene Gleichberechtigung und Eingrenzung der Teilsysteme schließt ja an sich keineswegs aus, daß eines unter diesen über einen breiteren Wirkungsbereich als andere verfügen könnte. 182 So Luhmann, Polit. Theorie, 22 (vgl. den Ausdruck: „azentrische Gesellschaften ohne Zentralorgane"). 183 So Luhmann, „Positivität", insb. 198-202. 1 8 4 S o L u h m a n n , Polit.

Theorie,

19, 2 3 , 1 3 8 , 1 5 5 ; Ökol.

Kommunikation,

2 0 7 ; „Positivität", 2 0 1 .

6. Das Politische in der massendemokratischen Sozialtheorie und in der Konstitution des Sozialen

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Denn Gleichberechtigung kann nur gleiche Unentbehrlichkeit für die Konstitution des Systembegriffes bedeuten (was nicht mit gleicher Unentbehrlichkeit für die Systemrealität zu verwechseln ist), während die Eingrenzung der Wirkungsbereiche nichts über deren relative Größe und auch nichts über deren gegenseitige Uberdekkungsmöglichkeiten aussagt. So gesehen kann die Eingrenzung eines Teilsystems nur heißen, daß sein Hineinreichen in andere nur unter bestimmten (freilich geschichtlich variierenden) Gesichtspunkten erfolgen kann: Die Wirtschaft kann den Kunstmarkt erheblich beeinflussen, kaum aber die ästhetische Qualität der Kunstwerke, die Regierung kann die Wirtschaft steuerlich belasten, nicht aber die Arbeitsproduktivität per Oktroi verdreifachen. Schon im Lichte solcher, eher quantitativen Überlegungen läßt sich historisch und soziologisch einwandfrei feststellen, daß Politik das einzige „Teilsystem" darstellt, an das Forderungen und Herausforderungen aus allen anderen Teilsystemen adressiert werden und das unter seinen eigenen spezifischen Gesichtspunkten in alle anderen hineinreichen kann. Diese fundamentale Konstellation hat entsprechend der jeweiligen institutionellen Ordnung die vielfältigsten und unterschiedlichsten Formen angenommen, doch sie hat alle bisherigen Gemeinwesen gekennzeichnet. Im Hinblick darauf gibt es also keine Zäsur zwischen staatslosen und staatlich organisierten, zwischen vormodernen und modernen Gesellschaften. Der Häuptling und die Boulé der Athener, der römische Imperator und der chinesische Kaiser, der absolutistische König und das moderne souveräne Parlament sind zwar als politische Regierungsformen nur Teile der entsprechenden Gesellschaften, aber jene Teile, die von allen anderen aus den verschiedensten Gründen angerufen werden können und die sich gleichviel, aus welchen Motiven und in welchem Ausmaß - sowohl für das Verhalten oder den Zustand aller anderen Teile als auch für die Beziehungen derselben zu sich und zueinander verantwortlich oder zuständig fühlen. Der Wirtschaft als Wirtschaft mag es z. B. egal sein, ob sich kriminelle Banden oder religiöse Sekten blutige Schlachten liefern, die Politik muß sich aber um den Bürgerfrieden ebenso wie um den allgemeinen Zustand der Wirtschaft kümmern - mindestens in dem Maße, wie davon der Zusammenhalt des Gemeinwesens (nach der jeweils herrschenden Interpretation der Lage) betroffen erscheint. Es ist wahr, daß die Gesellschaft als solche und als ganze kein handlungsfähiges System ausmacht185. Dennoch liegt die Ursache dafür nicht erst in der Komplexität moderner Gesellschaften. Gesellschaften waren immer zum kollektiven Handeln, nämlich zur zielgerichteten Koordination der Teilsysteme, unfähig, solange das politische Teilsystem es versäumte, den Willen der Gesellschaft verbindlich zu interpretieren und in seinem Namen zu handeln (gleichgültig, ob die Interpretation und das Handeln „richtig" waren oder nicht), und es gibt heute kein Anzeichen dafür, daß die spezifisch politische Bereitschaft, im Namen der Gesellschaft in toto zu sprechen, geringer geworden ist als in anderen Zeiten. Es ist falsch, diese Bereitschaft mit dem (übrigens törichten) Wunsch oder Bestreben gleichzusetzen, die anderen Teilsysteme durch das Politische zu verdrängen oder gar zu ersetzen und etwa als Politik die Wirtschaft als Wirtschaft zu vertreten (s. nächsten Absatz); sie kann nur bedeuten, daß das politische Teilsystem die übrigen unter spezifisch politischen Gesichtspunkten betrachtet und behandelt. Daher darf 185 So Luhmann, Soziol. Aufltlärung, II, 80, 87.

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aus ihr nicht unbedingt und nicht von vornherein ein stark interventionistisches oder etwa planwirtschaftliches Programm abgeleitet werden. Obwohl mangelnde Interventionslust ein Zeichen politischer Schwäche sein kann, ist es andererseits wohl denkbar, daß gerade ein starkes politisches Teilsystem unter politischen Gesichtspunkten den anderen Teilsystemen sehr große Freiräume läßt. Die geschichtlichen Erfahrungen gestatten übrigens nicht zwischen wachsender sozialer Differenzierung und Abschwächung des politischen Faktors (immer im engeren Sinne) einen kausalen Zusammenhang herzustellen. Die europäische Neuzeit kennt jedenfalls die parallele Entwicklung des zentralistischen Staates und der sich immer mehr differenzierenden Gesellschaft, und zwar sowohl im absolutistischen als auch im bürgerlichen Zeitalter. Analoges läßt sich seit Jahrzehnten in den sogenannten Entwicklungsländern beobachten, wo der politische Zentralismus und Interventionismus geradezu zum Motor der sozialen Differenzierung wird 186 . Und Beispiele aus der Geschichte des 20. Jahrhunderts sowie rein theoretische Überlegungen lassen den Schluß zu, daß auch der umgekehrte Vorgang, nämlich die plötzliche ungeheure Dynamisierung des politischen Teilsystems auf hochkomplexer sozialer Basis unter bestimmten Bedingungen gut denkbar bleibt. Die scheinbar entwaffnende These, die Politisierung einer komplexen modernen Gesellschaft würde diese zerstören, bildet im Grunde eine Banalität, die für alle Gesellschaften und im Hinblick auf jedes Teilsystem gilt. Keine Gesellschaft könnte sich auf eine einzige Tätigkeit zentrieren, ganz unabhängig vom jeweiligen geschichtlich bedingten Verflechtungsgrad der einzelnen sozialen Tätigkeiten miteinander. Das verbissene Bestreben, soziales Leben auf die ästhetische, die religiöse, die wissenschaftliche oder die ökonomische Tätigkeit zu zentrieren, würde sich nicht weniger verheerend auswirken als der konsequente Monopolanspruch der Politik. Der spezifisch politische Gesichtspunkt betrifft die Art und Weise des Zusammenhalts der Teilsysteme, nicht notwendig die Art und Weise, wie innerhalb des jeweiligen Teilsystems die entsprechende soziale Tätigkeit ausgeübt wird. Sogenannte „totalitäre" Versuche religiöser oder anderer Inspiration, die verschiedenen sozialen Tätigkeiten allseitig einem einzigen Gesichtspunkt zu unterwerfen, können zwar zur verstärkten Kontrolle der Menschen führen, aber nicht zur Abschaffung des spezifischen Charakters der entsprechenden Tätigkeiten. Auch eine zutiefst religiöse Gesellschaft muß ihre Acker bestellen, und sie kann nicht den Ackerbau durch Kult und Gebet ersetzen, selbst wenn Gebete und kultische Handlungen die agrarwirtschaftliche Tätigkeit als solche ständig begleiten würden. Dasselbe gilt für die anderen sozialen Tätigkeiten, von den persönlichen zu schweigen, und deshalb können kein „Totalitarismus" und keine „Despotie" so umfassend sein, wie sie es vielleicht vom Anspruch her sein wollten oder wie sie oft in dämonisierenden Schilderungen erscheinen. Darüber hinaus ist es eine rein fiktive Vorstellung, das evolutionistische Differenzierungsschema so zu interpretieren, als ob in der „vormodernen" Vergangenheit die mangelnde Ausdifferenzierung der Teilsysteme einen Primat des Politischen ermöglichte, der nunmehr entfallen ist. An der bisher geschilderten Grundkonstellation hat sich durch die Jahrhunderte trotz der Vielfalt der institutionellen Formen kaum etwas verändert. Eine „orientalische Despotie" konnte und wollte die Produktionsweise oder die pa1 8 6 D a z u Smelser, „ M o d e r n i z a t i o n " , i n s b . 2 7 3 .

6. Das Politische in der massendemokratischen Sozialtheorie und in der Konstitution des Sozialen

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triarchalischen Institutionen der unter ihr lebenden Dorfgemeinschaft nur in engen Grenzen beeinflussen, während der theoretische Vorrang der aristotelisch verstandenen „Politik" im europäischen Mittelalter die feudale Zersplitterung und lokale Autonomie keineswegs ausschloß; Phänomene einer Refeudalisierung auf hochtechnisierter Basis in den modernen Massendemokratien haben ebensowenig mit einer drastischen Wandlung des Status und der Funktion der Politik zu tun, sondern sie hängen mit ökonomischen und sozialen Entwicklungen zusammen, die die Frage des Zusammenhalts der Gesellschaft auf eine neue Basis stellen. Aber diese Frage bleibt, und mit ihr bleibt auch die Politik, zumal wenn niemand wissen kann, ob die materiellen Voraussetzungen der modernen Differenzierungsvorgänge in Zukunft erhalten bleiben oder nicht. Genauso falsch ist die Ableitung eines reduzierten Status moderner Politik daraus, daß sie nicht bestimmen könne, welche Probleme politisiert werden. Hier wird wiederum ein konstantes Merkmal des Politischen als Ergebnis einer spezifisch modernen Entwicklung hingestellt, woraus dann die fiktive Gegenüberstellung einer schwachen gegenwärtigen und einer starken Politik in der geschichtlichen Vergangenheit entsteht. Doch das Politische und die Politik haben nie ausschließlich oder auch vornehmlich bestimmt, welche Probleme politisiert werden sollten. Ihr spezifisches Gebiet war und ist der Zusammenhalt der Gesellschaft und die Aufrechterhaltung der sozialen Ordnung (immer in einer verbindlichen Interpretation dieser Termini durch einen konkreten Träger), aber sie haben nie entscheiden können, mit welcher konkreten Frage jeweils die an sich abstrakten Ideen des Zusammenhalts und der Ordnung verbunden werden mußten; in der Regel war es so, daß diese Frage aus den nicht politischen Teilsystemen kam und das politische Teilsystem dann in seiner Weise und nach seinen eigenen Zielsetzungen Stellung dazu bezog. Wenn eine Hauptquelle solcher Fragen heute in der Wirtschaft liegt, so konnte sie früher etwa in der Theologie liegen: Der neuzeitliche Staat hat z. B. die langen Religionskriege nicht verursacht, er mußte aber die dabei gestellten politischen Fragen des Zusammenhalts und der Ordnung in seinem Sinne und Interesse bewältigen. Hinter dem erwähnten falschen Argument steckt die Auffassung, Politik verbinde sich notwendig mit einer inhaltlich selbständigen Ideologie über Politik bzw. einer spezifisch politischen Glaubenslehre, so daß das vielfach in Aussicht gestellte Ende der Ideologie überhaupt mit dem Ende herkömmlicher Politik einhergehen müsse. Es wird in der Tat behauptet, Hauptaufgabe des politischen Teilsystems im Rahmen der fortschreitenden Differenzierung der sozialen Sphären sei die Reduktion sozialer Komplexität durch das Recht und zugleich die umfassende Positivierung dieses Rechts, also seine Befreiung von der Prämisse ewiger Geltung und Wahrheit und das Abtreten der Wahrheitsfrage an die Wissenschaft 7 . Die Behauptung enthält starke Verkürzungen und Verzerrungen der tatsächlichen Vorgänge in den heutigen westlichen Massendemokratien. Das positive Recht gilt ja hier nicht allein und nicht ohne Verbindung mit Glaubenssätzen, die ontologische Wahrheit und überhistorische Gültigkeit für sich beanspruchen, also zu den Grundsäulen der herrschenden Ideologie gehören und als solche den Gegenstand philosophischer etc. Untersuchungen und Rationalisierungen ausmachen, während sie zugleich auch im Vordergrund der juri187 So Luhmann, Polit. Planung, 53ff., 58f.; „Positivität", 198.

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stischen Dogmatik stehen. „Menschenwürde" und „Menschenrechte" bilden ebensowenig Wahrheiten, die das soziale Teilsystem der Wissenschaft entdeckte und dann der Gesellschaft zur Verfügung stellte, wie etwa die Gottebenbildlichkeitslehre, an deren Stelle sie getreten sind. Die Positivierung des Rechts vollzieht sich auf einer logisch untergeordneten Stufe, auf der sich die letzten Sinn- und Identitätsfragen des Gemeinwesens nicht stellen, weil sie auf der Ebene der Prämissen für gelöst gehalten werden; um den Kodex von Hammurabi oder um das römische Recht war es im Grunde nicht anders bestellt. Jener Bereich des Rechts, der sich scheinbar oder real zu jenen letzten Fragen indifferent verhält, kann positives Recht genannt werden, sein Vorhandensein beweist indes nichts über Macht und Ohnmacht der Politik, sondern nur, daß ein mehr oder weniger großer Teil des Rechts unter Bedingungen sozialer Stabilität als politisch irrelevant empfunden werden kann. Zudem kann dieser Teil nie den ganzen Bereich des Rechts in sich einverleiben; so sehr er sich auch ausdehnen mag, muß er außerhalb des ideologisch geheiligten Ortes bleiben, an dem die oben erwähnten Glaubenssätze ungestört verweilen. Und wenn positives Recht in seiner Indifferenz gegenüber letzten Fragen relativistisch und beliebig handhabbar anmutet, so bildet dieser Relativismus nur die eine Seite des dualistischen Komplexes „Relativismus-Universalismus", der, wie wir wissen 188 , die herrschende Ideologie in der Massendemokratie kennzeichnet. Die Folge vom Relativismus des positivrechtlichen Inhalts soll jedenfalls der Formalismus einer Legitimation sein, die auf der bloßen Befolgung bestimmter Verfahren beruhen würde. Aber das formale Verfahren und die damit verbundenen Handlungsweisen beschäftigen an sich nur dann die Geister, wenn die wesentlichen inhaltlichen Fragen eine für die sozial maßgeblichen Kräfte akzeptable Lösung gefunden haben, wenn also die materiellen Grundlagen des sozialen Systems so gediegen erscheinen, daß der Hinweis darauf als direkte Bestätigung der herrschenden ideologischen Topoi dienen könnte (z. B. Wohlstand als Beweis für die Überlegenheit der Demokratie). Knistert es in diesen Grundlagen, so wird das Verfahren selbst zu einer inhaltlichen Frage oder aber die inhaltlichen Fragen setzen sich unverblümt über alle Verfahrensfragen hinweg. Auf eine ernsthafte Erwägung der Krisensituationen kann sich die Systemtheorie freilich gemäß ihrer inneren Logik kaum einlassen. Über soziale und geschichtliche bzw. aus den inneren Widersprüchen des Systems selbst hervorgerufene Krisen, welche Verfahren und institutionelle Normalitäten durcheinander bringen, wird kein Wort verloren. Kurz und am Rande wird nur die Möglichkeit einer Krise in Betracht gezogen, die gleichsam von außen über das System hereinbrechen könnte, falls die ökologisch verstandene Umwelt die Bedeutung seiner internen Differenzierung wieder mindern sollte. Die Frage, ob das politische Teilsystem die dann notwendigen Anpassungsprozesse meistern würde, wird bloß gestreift und unbeantwortet gelassen 8 9 . Die Hilflosigkeit der Politik innerhalb eines hochdifferenzierten Systems, die angesichts der großen Probleme in der Regel bloß „opportunistische Strategien des Vertröstens und Vertragens" anzubieten habe, soll nicht durch eine andere Politik überwunden werden, sondern durch die Modellierung der Gesellschaft nach dem 188 S. o. Anm. 2.

189 Luhmann, Polit.

Theorie,

24.

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Muster neuester kybernetischer Modelle 1 9 0 . Aber gerade ein solches Unternehmen wäre auf die Weitsicht und die Tatkraft eines politischen Trägers angewiesen, denn bei seiner Durchführung müßten sich die spezifisch politischen Fragen stellen - und zwar um so nachdrücklicher, je mehr die Umgestaltung der Gesellschaft darauf zielen würde, Fehler und Versäumnisse einer schlechten oder schwachen Politik zu beheben. Somit wären auch die Dienste einer zentralen Selbstreflexionsinstanz des sozialen Ganzen gefragt, welche es aber nach Auffassung der Systemtheorie in hochkomplexen Gesellschaften nicht geben könne, da in diesen nur eine Vielfalt von Gesellschaftsbeschreibungen möglich sei 191 . Der Trugschluß in dieser These läßt sich unschwer entdecken, und er verbindet sich von neuem mit einer unhaltbaren Gegenüberstellung von vormodernen und modernen Gesellschaften. In keiner bisherigen Gesellschaft hat es nämlich eine zentrale Selbstreflexionsinstanz gegeben, die von allen ohne Ausnahme in einem solchen Ausmaß als solche anerkannt worden wäre, daß jeder Einzelne auf eigene Reflexion über die Gesellschaft als ganze verzichtet hätte. Wer politisch, also im Namen der ganzen Gesellschaft spricht, tut es nicht deshalb, weil er objektiv und einvernehmlich mit allen anderen die zentrale Selbstreflexionsinstanz der Gesellschaft darstellt, sondern weil er sich unter den verschiedenen Akteuren, die den Anspruch erheben, dies zu sein, für kürzere oder längere Zeit, gegen schwächeren oder stärkeren Widerstand durchsetzt oder durchzusetzen hofft, so daß seine Reflexion über die Gesellschaft, d. h. seine Auffassung über ihren Zusammenhalt und ihre Ordnung, als verbindlich zu gelten hat. Der massendemokratische Pluralismus der Weltanschauungen und der Werte bedeutet diesbezüglich keinen radikalen Bruch mit der Vergangenheit - es sei denn, man hat von dieser eine sehr klischeehafte und eindimensionale Vorstellung im Kopf. Denn der genannte Pluralismus bildet, wie bereits gesagt, die Kehrseite des ideologischen Bekenntnisses zu bestimmten universalen Werten, und er wird sogar eben unter Berufung auf diese universalen Werte politisch gerechtfertigt; so z. B. durch das geläufige Argument, Pluralismus erziehe zur Toleranz und zur sozial erwünschten Friedfertigkeit. So gesehen ist Wertpluralismus nicht die Negation der Möglichkeit des Politischen, sondern im Gegenteil die ideologische Stütze einer bestimmten Politik. Trotzdem fungiert Politik in der hochkomplexen Gesellschaft vornehmlich weder als Anhängsel noch als Rückhalt des Pluralismus. Ihre Hauptaufgabe besteht in der Überwachung jener Knoten, die das überaus feine soziale Netz zusammenhalten. Nicht wegen ihrer Komplexität an sich, sondern wegen der Abhängigkeit dieser Komplexität von relativ wenigen vitalen Zentren ist eine moderne Gesellschaft äußerst verwundbar. Der politische Faktor wird schließlich innerhalb der Systemtheorie durch die Flucht in die begriffliche Extrapolation und in die geschichtliche Zukunft abgeschwächt oder umgangen. Diese Extrapolation und diese Zukunft tragen gemeinsam den Namen „Weltgesellschaft" 192 . Begrifflich benötigt die Systemtheorie die Weltgesellschaft deshalb, weil nur ein allumfassendes System einer Systemtheorie universale Geltung verschaffen kann. Mit Konstruktionen kann man aber beliebig spielen, und daher dürfen die inneren begrifflichen Notwendigkeiten einer Sozialtheorie nicht den 190 Luhmann, Sozial. Außlärung, III, 2 9 0 - 9 2 . 191 So Luhmann, Gesellschaftsstruktur, I, 33; III, 429. 192 L u h m a n n , Soziol. Aufklärung,

II, 55 ff.

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I. Sozialtheorie und massendemokratische Ideologie

Maßstab für ihre Stichhaltigkeit abgeben. Die angebotene reale Begründung für das Aufgehen der „alteuropäischen" Politik in der Weltgesellschaft hängt andererseits nicht in spezifischer Weise mit den theoretischen Prämissen der Systemtheorie zusammen, sondern sie entstammt uraltem und noch immer weit verbreitetem liberalem Gedankengut. Als treibende Kraft der Universalisierung wird hier die Wirtschaft betrachtet, und da gleichzeitig Politisches und Staatliches praktisch miteinander identifiziert werden, so erscheint die Auflösung der Staaten innerhalb einer wirtschaftlich einheitlichen Welt als zureichender Grund für das Dahinwelken der Politik. Der logische und historische Sprung in diesem Gedankengang liegt in der unproblematischen, geradezu vulgärmarxistischen Ableitung der politischen Konstellation aus der ökonomischen. Aber wie ein wirtschaftlich homogenes Kollektiv oder eine Nation nicht unbedingt mit einem Staat zusammenfallen, so ergibt auch der Begriff einer Weltwirtschaft oder Weltgesellschaft eo ipso weder die Abschaffung aller Staaten noch die Gründung eines Weltstaates. Damit ist keineswegs gesagt, daß der Staat in seiner neuzeitlichen europäischen Gestalt ewig und daß ein Weltstaat geschichtlich oder theoretisch unmöglich ist. Gemeint ist, daß auch innerhalb einer offenen Weltgesellschaft das spezifisch politische Problem des sozialen Zusammenhalts und der sozialen Ordnung weiter bestehen und sogar eine beispiellose Schärfe annehmen würde. Die Weltgesellschaft und das Ende der Staatenwelt würden das Ende aller Kriege nur dann gewährleisten, wenn die bisher einzige Form des Krieges der Krieg zwischen unterschiedlichen nationalen Kollektiven gewesen wäre. Wir kennen aber auch Bürgerkriege, und wir wissen, daß diese oft noch grausamer sind. Das einzige, wofür die Weltgesellschaft an sich bürgen kann, ist zunächst bloß die Verwandlung aller Kriege in Bürgerkriege. Dementsprechend wird die Aufgabe, innerhalb der Weltgesellschaft oder des Weltstaates - sollten sie je zustande kommen - Bürgerkriege zu verhindern oder zu führen (je nach den Zielsetzungen des jeweiligen politischen Subjekts), eine eminent politische Aufgabe bleiben 193 .

7. Ausblick Der Ideologieverdacht oder -Vorwurf beweist sehr wenig, wenn er pauschal und von außen geäußert wird. Um substanziell zu sein, muß er in einer immanenten Analyse gründen, die in den Grundannahmen einer Theorie logische und historische Fehler oder Lücken entdeckt. Fördert die Analyse solche Fehler zutage, so gehen diese entweder auf individuelles Unvermögen und subjektive Voreingenommenheiten zurück oder sie entspringen einem (einigermaßen) kohärenten Denkstil, welcher sich seinerseits in einer Denkfigur niederschlägt, die zentrale strukturelle Entsprechungen zur (idealisierten) Gliederung und Funktionsweise einer bestimmten Gesellschaft aufweist. Wir haben hier auf Fehler dieses zweiten Typs unser Augenmerk gelenkt und meinen, daß die vorgenommene immanente, logische und historische Erörterung der193 Die Analyse dieses Abschnittes führt bis an die Schwelle zur sozialontologischen Erörterung des Politischen. Diese wird als orientierende Skizze im Kap. II, Abschn. 3C, des vorliegenden Bandes und ausführlich im 2. Band dieses Werkes unternommen. Zur Frage des Weltstaates s. meine Überlegungen in „Der Traum".

7. Ausblick

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selben den Ideologieverdacht erhärtet, also einen ideologischen Denkstil als Quelle der Fehler festgemacht hat. Es dürfte deutlich geworden sein, in welchem Sinne dieser Denkstil als massendemokratisch bezeichnet werden kann und wie es dazu kommt, daß er unbewußte Gemeinsamkeiten zwischen Sozialtheorien selbst da stiftet, wo sich diese bewußt gegeneinander abgrenzen. Der Einbruch der Ideologie in die Sozialtheorie ist freilich keine neue Erscheinung und auch keine vorübergehende. Die ideologiekritische Prüfung von Sozialtheorien wird indes gerade durch das vielfach proklamierte Ende der Ideologien zur besonders aktuellen Aufgabe. Denn es geht um folgendes. Die Annahme vom Ende der Ideologien - als unumgänglicher Sieg der „knowledgeable society" bzw. des ökonomisch oder ethisch rationalen Menschen umschrieben - bildet einen Aspekt der evolutionistischen Geschichtsphilosophie, auf die, wie gezeigt, massendemokratische Sozialtheorie angewiesen ist. Diese Geschichtsphilosophie behauptet einen radikalen Bruch zwischen moderner und vormoderner Gesellschaft, und die Sozialtheorie, die vom Faktum dieses Bruches ausgeht, blickt dementsprechend abschätzig auf die lange Tradition sozialtheoretischen Denkens, speziell auf dessen anthropologische und politische Ausrichtung, herab. Sozialtheorie soll jetzt ihre inhaltliche und methodische Orientierung in dem Maße ändern, wie sich die Gestaltungsfaktoren des Sozialen durch den erfolgten geschichtlichen Bruch wandelten. Aber aus einem geschichtlichen Bruch auf die Änderung der Gestaltungsfaktoren des Sozialen, also der sozialontologischen Faktoren zu schließen, ist keineswegs selbstverständlich bzw. es ist nur für das ideologische Selbstverständnis der modernen Massendemokratie selbstverständlich oder (von außen gesehen) verständlich, die nicht weniger als frühere Gesellschaftsformationen glauben möchte, das weltgeschichtliche Jüngste Gericht hätte zu ihren Gunsten ein unwiderrufliches Urteil gefällt. Es fragt sich dennoch, ob geschichtliche Entwicklungen oder Brüche (und der Ubergang von der vorindustriellen zur industriellen Gesellschaft bildet zweifelsohne einen tiefen Bruch, der sich nur mit dem Ubergang zum Neolithikum zu den Hochkulturen vergleichen läßt) die grundlegenden sozialontologischen Faktoren aus den Angeln heben oder ob sie sich innerhalb des von diesen abgesteckten Rahmens abspielen müssen. Im ersteren Fall sollte der geschichtliche Bruch tatsächlich eine Sozialtheorie zeitigen, die von früheren Annahmen über Mensch und Gesellschaft Abschied nehmen würde, im letzteren bliebe jener Bruch grundsätzlich ein Gegenstand historischer und soziologischer Analyse, die auf sozialontologische Grundfragen nicht oder nur am Rande einzugehen hätte. Nun, das Selbstverständnis einer Gesellschaftsformation erscheint nur solange als objektive Selbst- und Geschichtserkenntnis, wie die betreffende Gesellschaftsformation im Aufwind ist und ihre Widersacher aus dem Weg räumt. Das ist heute mit der Massendemokratie der Fall. Aber gerade auf ihrem planetarischen Höhepunkt werden ihre eigenen Widersprüche, ja ihre explosiven Potenzialitäten zunehmend sichtbar, die eingangs dieses Kapitels angedeutet wurden. Sozialtheoretisch sind sie deswegen von Belang, weil sich in ihnen die Aktualität klassischer Fragestellungen kundtut. Die steigende Komplexität im einzelnen bewirkt eine Reduktion der großen Aporien auf Formeln von geradezu archaischer Einfachheit. Nach dem Untergang des bürgerlichen Anthropozentrismus und unter den Bedingungen der planetarisch entfalteten hochtechnisierten Massendemokratie stellt sich die Frage

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I. Sozialtheorie und massendemokratische Ideologie

nach Wesen und Möglichkeiten des Menschen noch direkter und schärfer als an der Schwelle zur europäischen Neuzeit. Einerseits wird das Menschenbild durch das nunmehr dichte Neben- und Ineinander von Kulturen, Nationen und Rassen wie nie zuvor vereinheitlicht, während zugleich die abnehmende Bedeutung von geschichtlichen und sozialen Attributen für die Bestimmung menschlicher Identität infolge der Verbereitung universalistischer Ideologien paradoxer- aber logischerweise den Menschen auf seine Beschaffenheit als biologisches Wesen reduziert; andererseits steht dieser auf sein bloßes Menschsein reduzierte Mensch, also der Mensch überhaupt und als solcher, der Natur gegenüber, er muß in einer Zeit hoher demographischer und ökologischer Spannung seine Kräfte mit ihren Kräften messen. Die Frage nach dem Tier, das Werkzeuge schafft, stellt sich auf einem von Milliarden bevölkerten und schon eng gewordenen Planeten nicht weniger akut und nicht weniger elementar, als sie sich vor einigen Millionen von Jahren in den afrikanischen Savannen stellte, als dort Horden von ihm herumirrten. Und ebenfalls akut und elementar muß die andere große sozialontologische Frage am Horizont auftauchen, jene nach dem sozialen Zusammenhalt und der sozialen Ordnung, wenn nämlich die Beziehungen zwischen Menschen eine solche Dichte und Intensität erreichen, daß die Grenzen jeder aus der Vergangenheit bekannten politischen Einheit durchlöchert oder gar gesprengt werden. Die Zeitgeschichte tut also ihrerseits genug, um die Problematik einer auf den Menschen und das Politische zentrierten Sozialtheorie bewußt zu machen - vorausgesetzt freilich, man ist imstande, Zeitgeschichte universalgeschichtlich einzuordnen und tiefere Kontinuitäten zu erkennen, ohne sich von evolutionistisch untermauerten überheblichen Selbsteinschätzungen der modernen Gesellschaft beirren zu lassen. Unsere Hauptsorge ist aber hier nicht der universalhistorische Status der Zeitgeschichte, sondern jene Tiefendimension der Sozialtheorie, die Sozialontologie heißt. Wie unsere vorangegangenen Erörterungen hoffentlich gezeigt haben, kann keine großangelegte Sozialtheorie ohne den - wenn auch widerstrebenden oder stillschweigenden - Rückgriff auf anthropologische und politische Grundkategorien auskommen. Das Politische und der Mensch waren und sind der umfangreichste und flexibelste theoretische Rahmen für die Einordnung und das Verständnis der sozialtheoretisch relevanten Erscheinungen. Diese Priorität des theoretischen, also des deskriptiven Standpunktes impliziert andererseits, daß es uns nicht darum gehen kann, „den Menschen" gegen die inhumane Anonymität von „Systemen" in Schutz zu nehmen oder seine ethische Persönlichkeit vor ihrer angeblichen Herabwürdigung durch den materialistischen Ökonomismus etc. zu retten. U m „den Menschen" klagen und sorgen sich diejenigen, die in seine Natur ein ethisch-normatives Ideal hineinprojezieren, so daß die fehlende Verwirklichung desselben einer Entartung oder Verwüstung des Menschen gleichkommt. Der Mensch ist aber unverwüstlich und in ganzer existenzieller Fülle da, und die einzige Voraussetzung dafür liegt in der Tatsache seines bloßen Vorhandenseins, nicht in einer bestimmten Lebensweise. Abzulehnen sind daher sowohl die funktionalistische Auflösung des Menschlichen, als auch seine ethisch-normative Auslegung, die direkt oder indirekt einem Substanzialismus huldigt, gegen den sich dann der Funktionalismus wendet. Eine dritte, sozialontologisch und historisch tragfähige Betrachtungsweise hat von der banalen Feststellung auszugehen, von den Zeiten der Urhorde an gebe es keine einzige Peri-

7. Ausblick

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ode der Geschichte, in der wir nicht angebbare Grundgegebenheiten unseres eigenen Verhaltens wiedererkennen würden. Ähnliche Überlegungen ermöglichen die Einsicht in den sozialontologischen Stellenwert des Politischen, von der wir uns ebenfalls ausschließlich theoretische und nicht ethisch-normative Aufschlüsse versprechen. In der Tat, die theoretische Fruchtbarkeit dieser Einsicht kann an mehreren und wichtigen Teilfragen unter Beweis gestellt werden, so z. B. bei einer methodischen Klärung der Beziehungen zwischen Sozialtheorie und Geschichtswissenschaft oder beim Versuch einer Uberwindung der künstlichen Alternative „Individualismus vs. Holismus" 194 . Die programmatische Voranstellung des Politischen und des Anthropologischen gestatten schließlich die ständige, positive oder negative Anknüpfung an eine jahrtausendealte sozialtheoretische Tradition - und zwar nicht nur des Westens und nicht nur der (westlichen) Moderne. Das vielfach erwähnte selbstgefällige Selbstbewußtsein massendemokratischer Sozialtheorie, die Uberzeugung vom radikalen Bruch mit der „Vormoderne" etc. artikulieren sich oft in Form einer Ignoranz oder Ignorierung älterer theoretischer Positionen. Die Übersetzung von uralten Fragen in ein immer wechselndes und immer komplizierteres Vokabular läßt den Eindruck ständigen theoretischen Fortschritts aufkommen, wobei der Anspruch auf Originalität nicht selten auf dem Mangel an ausreichenden Quellen- und Literaturkenntnissen beruht; was sich dem obskuren Doktoranden verbietet, gereicht anderen zum Ruhm. Die Erinnerung an das Alter der zentralen methodischen und inhaltlichen Fragen scheint deswegen Unbehagen hervorzurufen, weil sie eo ipso die Erinnerung an das Alter der (sozialen) Welt und des Menschen auffrischt. Ünsererseits wollen wir allerdings weder den Wandel und die Brüche in der Geschichte der Gesellschaft noch die Erneuerung und die Vertiefung in der Geschichte der Sozialtheorie bestreiten. Im Gegenteil, wir werden unsere eigene sozialontologische Auffassung auch in der Auseinandersetzung mit wichtigen sozialtheoretischen Ansätzen des 20. Jahrhunderts entwickeln und u. a. darlegen, wie sich formalsoziologische und interaktionistische Gesichtspunkte zu einer umfassenden Theorie der sozialen Beziehung aufbauen lassen. Zugleich wollen wir den Nachweis erbringen, selbst da, wo der Abstand von anthropologischen und politischen Fragestellungen am größten zu sein scheint, wie etwa in der formalen Soziologie, müßten Begründungsfragen solange unbeantwortet bleiben, wie auf den Menschen und das Politische kaum Bezug genommen werde. So sehr auch die substanzialistischen und normativistischen Auffassungen vom Politischen und vom Menschen nicht zu halten sind: Die politische und anthropologische Grundausrichtung der ältesten und älteren Sozialtheorie ist keineswegs überholt.

194 S. Kap. II, Abschn. 2BC in diesem Band.

II. Sozialwissenschaften und Sozialontologie

1. Stolpern und Höhenflug der Philosophen im Bereich des Sozialen

Die Leistungen der Ontologen des 16. und 17. Jahrhunderts bildeten die beliebte Zielscheibe aufklärerischen Spottes: Sie rochen nach Scholastik. Seitdem wurden die philosophischen Ontologien immer halbherziger und seltener, und sie erfreuten sich immer geringerer Beachtung; nach allgemeinem Dafürhalten war die Naturwissenschaft fortab allein zuständig, in die Geheimnisse des Seins einzudringen, über Ursprung und Beschaffenheit der Welt Rechenschaft abzulegen. Die daraufhin notgedrungen erfolgte Wendung vieler Philosophen von ontologischen hin zu anthropologischen und sozialontologischen Fragestellungen konnte freilich die moderne Sozialwissenschaft, insgesamt betrachtet, ebensowenig prägen wie die früheren philosophischen Anstrengungen zur Enträtselung des Seins das neuzeitliche Weltbild gestaltet hatten. Die bahnbrechenden Positionen und Einsichten kamen hier fast ausnahmslos aus Gebieten außerhalb der Philosophie, was indes die in der Regel einseitig oder halb gebildeten Philosophen sowie geistesgeschichtlich ungebildete Kommentatoren nicht daran hinderte, als spezifisch philosophischen Ertrag Gedankengut zu feiern, das für andere - vielfach in unterschiedlicher Terminologie und in anderen Zusammenhängen - bereits Gemeinplatz war. Im großen ganzen hat neuzeitliche Philosophie nicht eigenständig die eigenen Fragestellungen bestimmen können, denn diese wurden direkt oder indirekt zunächst durch die Herausbildung mathematischer Naturwissenschaft im 17. Jahrhundert, dann durch den Aufstieg von Anthropologie und Geschichts- bzw. Sozialwissenschaft im Zeitalter der Aufklärung diktiert; im 19. und im 20. Jahrhundert setzte sich die doppelte Vorherrschaft dieser Disziplinen fort, wobei die Spannungen in ihrem Verhältnis zueinander die Philosophen teils entzweiten (z. B. szientistischer Positivismus vs. Phänomenologie und Hermeneutik), teils ermutigten, als oberste Richter aufzutreten. Diesem Anliegen war indes kein Erfolg beschieden, jedenfalls keiner, der außerhalb eher isolierter philosophischer Kreise als solcher anerkannt worden wäre 1 . Im Hinblick auf unsere spezielleren Erkenntnisinteressen läßt sich dieser geistesgeschichtliche Tatbestand folgendermaßen schematisieren. Die Subjektphilosophie gestaltete sich beim doppelten Bestreben, die erkenntnistheoretischen Aporien zu bewältigen, die die mathematische Naturwissenschaft - z. B. durch die Unterscheidung zwischen primären und sekundären Eigenschaften oder durch das Postulat strenger Naturkausalität - aufwarf, und zugleich den ethischen Anspruch normativer Vernunft gegenüber der Glaubensautorität psychologisch-anthropologisch abzusichern. Die Schritte zu einer Uberwindung der Subjektphilosophie durch theoretische Vor1 Zu diesem geistesgeschichtlichen Komplex s. Kondylis, Metaphysikkritik,

insb. 149ff, 372ff.

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II. Sozialwissenschaften und Sozialontologie

anstellung von Faktoren wie der Lebenswelt, der Intersubjektivität oder der Tiefenschichten der Existenz als Boden, auf dem Philosophie (auch als Subjektphilosophie) erst wachsen kann, erfolgten wiederum vor dem Hintergrund und unter dem atmosphärischen Druck einer bereits fortgeschrittenen Geschichts- und Sozialwissenschaft, die aufklärerische Grundansätze vielfach unbewußt aufnahm bzw. weiterentwickelte und in ihrer Gesamtwirkung betrachtet, den Lebensmythos der Philosophie, also den Mythos von der Autonomie des Geistes zugrunderichtete, nämlich durch den Nachweis seiner biologischen, geographischen, ökonomischen, ideologischen etc. Abhängigkeiten. Anders gesagt: Von dem Augenblick an, in dem sich im Bewußtsein des breiteren sozial- und geschichtswissenschaftlich gebildeten Publikums die Uberzeugung festigte, Geistesprodukte überhaupt seien aus nicht intellektuellen Konstanten oder Variablen ableitbar, mußte mindestens eine Hauptrichtung der Philosophie mitziehen und sich auf die Suche nach jenem ontischen Boden begeben, auf dem Philosophie selbst wächst. Diese philosophische Erforschung der Wurzeln der Philosophie im Sein vermischte sich oft, wie zu erwarten war, mit überlieferten metaphysischen oder ontologischen Gedanken und Begriffen, die allerdings nun auf dem Umweg der Erhellung von Strukturen der Existenz ins Anthropologische umgebogen wurden und somit den Anschluß an laufende Debatten fanden. Die Perspektive einer Sozw/ontologie zeichnete sich aber erst ab, als Fragestellungen, die bei aller philosophischen Mystifizierung faktisch anthropologischen Charakters waren, sich mit grundsätzlichen Überlegungen zur Lebenswelt und zur Intersubjektivität verbanden. Der Einfluß der Sozial- und Geisteswissenschaften und der neuen Zeiten überhaupt machte sich also eben daran bemerkbar, daß die genannte Suche nach dem jenseits philosophischen Intellekts liegenden ontischen Urgrund wiederum bei aller philosophischen Mystifizierung - ins Sozialontologische mündete. Diese Entwicklung war freilich ungleichmäßig und widersprüchlich, und zwar nicht nur wegen der starken Erinnerungen an traditionelle Metaphysik und Ontologie. Husserls positive und negative Verwicklung in die neuzeitliche Erkenntnistheorie und Subjektphilosophie hat ebenfalls hemmend gewirkt; die ontologische Absicht, den Grund von Philosophie und Wissenschaft zu erschließen, war hier zwar unverkennbar, andererseits wurde aber der ontische Grund ins Noetische hineinverlegt und die Thematisierung von Intersubjektivität und Lebenswelt nicht zuletzt unter dem Blickwinkel der Konstitutionsfrage unternommen. Dennoch ließen weder die Anthropologisierung bzw. Psychologisierung jenes Grundes (wachsendes Gewicht des leiblichen und affektiven Faktors), noch die Erweiterung dieser Thematisierung unter freier Verwendung historischer Leitmotive lange auf sich warten. Insbesondere bedeutete die Anknüpfung an Dilthey - über Husserls Kopf hinweg - eine bewußte Wiederaufnahme des Fadens der methodisch schon raffinierten Geschichtswissenschaft, da Dilthey in der unmittelbaren Nachfolge von Droysen stand, sowie eine unbewußte Fortsetzung aufklärerischer sozial- und geschichtswissenschaftlicher Ansätze, da Dilthey als einer unter sehr wenigen die Legende von der intellektualistischen Aufklärung nicht teilte 2 . Diltheys methodologische Überlegungen und geistesgeschichtliche Analysen bildeten eine Pionierleistung bei der philosophischen Suche nach den (sozial)ontischen Wurzeln der 2 S. die Abhandlung „Das 18. Jahrhundert und die geschichtliche Welt", Ges. Schriften, III, 209ff. Vgl. Kondylis, Aufklärung, 421 ff.

1. Stolpern und Höhenflug der Philosophen im Bereich des Sozialen

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Philosophie und als solche mußten sie das Selbstbewußtsein der Subjektphilosophen, zumal der intellektualistisch ausgerichteten, erschüttern. Gleichzeitig eigneten sie sich aber dazu, jenen Philosophen, die zum Umdenken bereit waren, ein neues Selbstvertrauen einzuflößen. Denn die Erniedrigung - wenn man so sagen darf - der Philosophie durch die Sozial- und Geschichtswissenschaften wurde durch verschärfte Abgrenzung gegen die Naturwissenschaften kompensiert, wobei sich viele Philosophen die Aufgabe zuwiesen, die Führung im Aufstand gegen die Naturwissenschaften zu übernehmen und dadurch ihrem Fach die alte königliche Würde unter erschwerten Bedingungen neu zu verleihen. Deshalb erhielt der genannte Aufstand bald einen über die methodologische Dimension weit hinausgehenden weltanschaulichen Aspekt; der Aufstand also trat als Kampf gegen das „instrumentelle Denken", die „Gedankenlosigkeit der Technik" und die moderne Zivilisation überhaupt auf den Plan. Selbst in neukantianischen Kreisen, die ansonsten viel auf die eigene methodologische Strenge hielten, verwandelte sich oft und gerne die saubere Trennung des Nomologischen vom Idiographischen in eine Parteinahme für das letztere, und die Denkkategorien wurden kulturphilosophisch oder -geschichtlich untermauert. Das paradoxe Gesamtergebnis solcher und ähnlicher Tendenzen war dies: Je mehr sich die Philosophie einer antiintellektualistischen Einstellung verschrieb, desto mehr gab sie - oft ungewollt oder zähneknirschend - zu, sie entspringe selber nicht dem klaren, unbestechlichen Intellekt, sondern einem vielfach undurchsichtigen (anthropologischen und sozialen) ontischen Boden. Mancher war freilich nur allzu willig, dies laut zu propagieren. Die Lust an der Provokation spielte dabei eine Rolle, auch das Gefühl, als Philosoph im herkömmlichen Sinne hätte man ohnehin nicht mehr viel zu verlieren. So gelangte eine Hauptrichtung der Philosophie im 20. Jahrhundert bis an die Schwelle der Sozialontologie. Aber nur bis dahin. Denn die ontologischen Kategorien, die man teils aus der philosophischen Tradition übernommen, teils geprägt hat, wurden - ganz abgesehen von der Frage ihrer grundsätzlichen Brauchbarkeit im neuen Zusammenhang - nicht auf das Sein des Sozialen bzw. auf die Gesellschaft in ihren sozialontologisch maßgeblichen Dimensionen, sondern vielmehr auf individuelle Existenzen und Beziehungen zwischen denselben angewandt. Die Feststellung, das In-der-Welt-Sein und das Mitsein bildeten unabdingbare kategorielle Bestimmungen des Subjekts, diente also nicht als Ausgangspunkt zur Erforschung jener Welt, auf die eben das In-der-Welt-Sein als Mitsein der individuellen Existenzen verweist, sondern als nicht weiter vertiefte Grundlage von Überlegungen über Charakter und Möglichkeiten der Existenz in ihrem Mitsein mit anderen. Es wurde zwar erklärt und in dieser Erklärung der entscheidende Schritt über die Subjektphilosophie erblickt - , In-der-Welt-Sein und Mitsein seien für die Existenz geradezu konstitutiv, dabei stand aber eben die Konstitution der Existenz, nicht die des Sozialen und der Gesellschaft im Mittelpunkt, die eher als bloße Kulisse wirkte. Es ist offenbar zweierlei, das Soziaiontische begrifflich zu erfassen und somit eine Sozialontologie aufzustellen, und den sozialontischen Aspekt oder auch Charakter der Existenz hervorzuheben. Das nette Resultat philosophischer Bemühungen war jedenfalls die Ontologisierung von Kategorien oder Begriffen, die von ihrem Gehalt her eigentlich zur Anthropologie gehörten. Kierkegaard hatte vorgezeichnet, wie sich so etwas machen läßt, als er zentrale existentielle Lagen des Menschen als Funktionen seines ontischen Verhältnisses mit einem Höheren oder Ubergreifenden und nicht etwa als

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II. Sozialwissenschaften

und

Sozialontologie

bloß psychologische Gegebenheiten schilderte 3 . Nun wurde allerdings bei der Projektion ontologischer Strukturen in die Existenz hinein, bzw. bei der Erfassung der Existenz anhand ontologischer Begrifflichkeit reichlich Gebrauch von phänomenologischen Einsichten und Analysen gemacht; jedoch blieb Kierkegaards Beispiel in einer anderen wichtigen Hinsicht maßgebend, und zwar nicht so sehr wegen eines direkten inhaltlichen Einflusses, sondern aus viel allgemeineren Gründen, die mit dem tiefsten Machtanspruch der Philosophen zu tun haben, d. h. dem Anspruch, Sinnstifter und somit Wegweiser zu sein. Kierkegaards ontologische Fassung des Existentiellen stand bekanntlich im Zeichen einer ethisch-normativen, in seinem Fall religiösen Sorge, und eben diese Sorge gewann nun wieder, zumal gegenüber der relativen normativen Farblosigkeit des ursprünglichen phänomenologischen Ansatzes, die Oberhand, selbst wenn sie bei manchen Denkern, keineswegs bei allen, die religiöse Färbung verlor. Die Frage nach der ontologischen Verfassung der Existenz schlug bald in die Frage nach der „echten" Existenz um, und aus der Feststellung vom konstitutiven Charakter des Mitseins bzw. der sozialen Beziehung für die Existenz wurde eine Forderung nach Regelung dieser Beziehung gemäß den Bedürfnissen „echter" Existenz - mehr noch: Es wurde eine Schilderung des Ontisch-Existentiellen und des Soziaiontischen auf der Basis von Vorstellungen über „echte" Existenz und „echte" zwischenmenschliche Beziehung: Das Sollen verwandelte sich dadurch nach bewährtem Muster in ein Sein. Erst die Analyse des Sozialontischen und des Existentiellen aus der privilegierten oder ausschließlichen Sicht der Beziehung zwischen Existenzen oder der Beziehung zwischen „der" persönlichen Existenz einerseits und „der" unpersönlichen Gesellschaft andererseits konnte jene Dramatik entfalten, die ein wirksames Aufwerfen der Sinn- und Sollensfrage gestattete, gleichviel, ob der Philosoph dabei eher von ersehnten idealen Beziehungen schwärmte oder vorzugsweise das Elend gegenwärtiger Beziehungen beklagte. Gewiß, die Analyse der - ohnehin sozialen - Beziehung zwischen Individuen gehört, ebenso wie bestimmte Aspekte der Anthropologie, zum Forschungsbereich der Sozialontologie, aber nur unter der logischen Bedingung, daß nicht das Soziaiontische oder die Gesellschaft aus Beziehungen zwischen individuellen Existenzen abgeleitet, sondern umgekehrt diese Beziehungen erst mit Rücksicht auf das Sozialontische oder die Gesellschaft als ganze begriffen bzw. begrifflich eingeordnet werden. Die Analyse der sozialen Beziehung zwischen Individuen kann einen unter einigen möglichen Ausgangspunkten in Richtung auf eine Sozialontologie bieten, sie bildet weder deren ausschließliches Gebiet noch deren theoretischen Gipfel 4 . Aber die Gei3 Vgl. Buber, Problem, 92. 4 S. unsere folgenden Ausführungen über Spektrum und Mechanismus der sozialen Beziehung. Es ist daher falsch, das Verhältnis des Ich zum Du als „vorgesellschaftlich" zu bezeichnen; ein solches Verhältnis ist stricto sensu nachgesellschaftlich, wenn man so sagen darf, d. h. es findet immer innerhalb bzw. vor dem Hintergrund einer bereits konstituierten Gesellschaft statt, und in ihm wirken alle zentralen sozialontologischen Faktoren, wie sie sich im Faktum „Gesellschaft" miteinander kreuzen. Theunissen, der sich dieser falschen Bezeichnung schuldig macht, begeht auch ein Oxymoron. O b wohl er selber „die Begrenztheit des Geltungsbereichs der Ich-Du-Beziehung" hervorhebt und die richtige Uberzeugung äußert, weder vom transzendentalen noch vom dialogischen Ansatz aus führe irgendein gangbarer Weg zur Konstitution des Gesellschaftlichen, nennt er trotzdem seine Studien zu eben diesen beiden Ansätzen „Studien zur Sozialontologie der Gegenwart", mit der einzigen Begründung, Husserl hätte den Terminus bereits gebraucht {Der Andere, 7, 256 Anm. 22, 492,6).

1. Stolpern und Höhenflug

der Philosophen im Bereich des Sozialen

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ster der Philosophen schieden sich nicht an dieser sozialontologisch neuralgischen Frage, die von ihnen nur indirekt, nämlich durch die Anerkennung der konstitutiven Bedeutung des In-der-Welt-Seins und des Mitseins für das Sein der Existenz, gestreift wurde. Vielmehr schieden sie sich bei den Versuchen, die Beziehung zwischen Ich und Du oder zwischen Ich und Gesellschaft im Lichte jeweils anderer ethischnormativer Präferenzen zu analysieren oder zu bestimmen. Es sei betont, daß diese Präferenzen mit kulturkritischen Stellungnahmen einhergingen oder solche indirekt artikulierten. Auch hier gab es wichtige Unterschiede zwischen den einzelnen Philosophen. Aber die kulturkritische Einstellung bildete ebenso einen großen gemeinsamen Nenner wie die ethisch-normative, denn mit ihr verband sich der große geistige Anspruch dieser Hauptrichtung der Philosophie des 20. Jahrhunderts, die, wie gesagt, den Aufstand gegen die Naturwissenschaften und die technisch-instrumentell geprägte Zivilisation führen wollte. Die andere, die szientistische oder positivistische Hauptrichtung widmete sich bekanntlich logischen und mathematischen Problemen, die direkt oder indirekt mit der Umgestaltung der Naturwissenschaft um 1900 zusammenhingen. In Anbetracht der Unterschiede in den ethisch-normativen Präferenzen und in der Gewichtung der Kulturkritik lassen sich zwei Haupttypen philosophischer Analyse der sozialen Beziehung ausmachen. Der eine findet sich bei Heidegger, der zwar jede „moralisierende" und „kulturphilosophische" Absicht von sich weist 5 , sich zugleich aber ausgiebig des typischen Vokabulars der damaligen ästhetisierenden oder moralisierenden kulturkritischen Literatur und Publizistik bedient 6 . Das ethische Anliegen ging hier freilich einen eigenen Weg, es unterschied sich also von der Ethik des vulgus profanum und so gesehen konnte und wollte es sich sogar als unethisch ausgeben. Auf seine Wirkung deutet jedoch schon die Bestimmung der Seinsweisen des Daseins als Eigentlichkeit und Uneigentlichkeit hin, wobei letztere bezeichnenderweise an menschlichen Eigenschaften sichtbar werden kann, die vornehmlich in der modernen Zivilisation gedeihen: Geschäftigkeit, Angeregtheit etc. 7 . Diese grundlegende Bestimmung bzw. Gegenüberstellung hat normative Konnotationen, und weder bildete sie Bestandteil früheren phänomenologischen Gedankengutes noch ergibt sie sich als notwendiger Befund phänomenologischer Analyse. Aus ihrer Sicht erfolgt dennoch die Analyse des Mitseins oder Mitdaseins. Denn dessen Horizont ist das Man, das zwar ein „Existenzial" darstellt und „als ursprüngliches Phänomen zur positiven Verfassung des Daseins" gehört, diesem sogar „Entlastung" verschafft, doch andererseits eine Spaltung desselben in „eigentliches Selbst" und „Man-selbst" bewirkt; „als Man-selbst ist das jeweilige Dasein in das Man zerstreut und muß sich erst finden", es erlebt ein Verfallen, das als „schärfere Bestimmung" seiner Uneigentlichkeit bezeichnet werden kann 8 . Diejenige Eigentlichkeit, durch die sich die Existenz unanfechtbar gegen das Man macht, ist die Entschlossenheit „als eigentliches Selbstsein" und als lebendige Verkörperung des Ge5 Sein und Zeit, 167. 6 Auch nach der „Kehre" hat Heidegger niemals erklären wollen, wie sich die These von der moralischen Indifferenz des „Seins" mit lauten Klagen gegen „Flucht der Götter, Zerstörung der Erde, Vermassung des Menschen, Vorrang des Mittelmäßigen" (Einführung, 34) vereinbaren läßt. 7 Sein und Zeit, 42 f. 8 A. a. O., 129, 175 f.

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II. Sozialwissenschaften und Sozialontologie

gensatzes zur „Unentschlossenheit" des Man und darüber hinaus zu seiner „Durchschnittlichkeit", seiner Unempfindlichkeit „gegen alle Unterschiede des Niveaus und der Echtheit." 9 Die kulturkritischen und ethisch-normativen Töne bleiben also doch unüberhörbar, und in der Hitze des Kampfes zwischen Eigentlichem und Uneigentlichem wird es versäumt, wenn nicht das Soziaiontische begrifflich festzulegen, so mindestens Spektrum und Mechanismus der sozialen Beziehung zwischen Existenzen näher zu erläutern. Zumal wird kaum das Verstehen in seiner neuralgischen Funktion bei dieser Beziehung, sondern vielmehr im Zusammenhang mit dem „Entwurf" als eigener Möglichkeit des in der Welt befindlichen Daseins thematisiert10. Unter diesen Umständen und bei gleichzeitiger grundsätzlicher, aber ansonsten vager Anerkennung des Miteinanderseins als Seinsart des Daseins bleibt nur der Weg der Schilderung von Befindlichkeiten der individuellen Existenz im Gewand ontologischer Kategorien offen. Das Unterfangen ist in seinem Gehalt, d. h. von den begrifflichen Floskeln abgesehen, anthropologisch ausgerichtet, und Heidegger gibt selbst zu, seine „Fundamentalontologie" bilde einen Teil, nämlich die „ontologische Fundierung", einer „philosophischen Anthropologie" 11 . Die ontologisch fundierte Anthropologie sollte auf erweiterter und vertiefter Basis Husserls Programm verwirklichen, die Konstitution der vorwissenschaftlichen Welt, also das nicht wissenschaftliche Substrat der Wissenschaft beleuchten. An die Stelle des subjekt- oder bewußtseinsphilosophischen Instrumentariums, welches Husserl dabei gebrauchte, will nun Heidegger eine umfassendere Erhellung der Seinsart des Daseins setzen, die daseinsmäßige Faktizität erschließen und die transzendentale Weltkonstitution auf eben diese Faktizität („Befindlichkeit" etc.) gründen. Wie wir bereits andeuteten und zum Schluß dieses Abschnitts näher erklären wollen, war diese „Überwindung" der Subjekt- und Bewußtseinsphilosophie keine bahnbrechende Leistung, sondern die umständliche und verspätete philosophische Anerkennung von geistesgeschichtlichen Tatsachen, die seit der Aufklärung in den Sozial- und Geisteswissenschaften den Ton angaben. Dies erklärt auch, warum die „Überwindung" Husserls nicht eine direkte Antwort auf sein Problem, sondern in Wirklichkeit eine Verschiebung der Problematik darstellte. Husserl würde ja nicht bestreiten, daß der Mensch in die (intersubjektive) Welt hineingeboren wird und in der Welt ist; diese Feststellung beantwortet aber an sich keineswegs die Frage nach der Konstitution des Bewußtseins sowie der Konstitution der Welt und des Anderen im Bewußtsein. Die Frage ist - gleichgültig, ob Husserl sie richtig formuliert und gelöst hat - durchaus legitim und gebietet, daß der Forscher den umgekehrten Erkenntnisweg als etwa eine Sozialontologie einschlägt, die gleichsam von außen und ohne Rücksicht auf innere Bewußtseinsmechanismen ihre grundlegende Aussage über das Faktum der Gesellschaft treffen muß und darf. Wer hingegen diese Mechanismen ergründen will, kommt um die Einsicht nicht herum, es gebe schließlich keinen anderen denkbaren kognitiven Ausgangspunkt als die Perspektive eines individuellen Bewußtseins, in dem auch die anderen Subjekte ungeachtet ihres objektiven Vorhandenseins konstituiert werden müssen; 9 A. a. O., 297, 298, 299, 127. 10 A. a. O., 145f. Vgl. u. in diesem Band Kap. IV, Abschn. IC. 11 A . a . O . , 17.

1. Stolpern und Höhenflug

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denn wer diese Einsicht nicht gelten lassen will, tut es seinerseits auch in der Perspektive seines eigenen Bewußtseins, für das sich die Konstitutionsfrage wieder stellt usw. usf.. Die ontische Vorgegebenheit des Mitseins mit dessen Konstitution im Bewußtsein zu verwechseln, und die kognitiv unausweichliche Voranstellung der Analyse der letzteren als Leugnung der ersteren zu deuten, d. h. Ttpöxov (púoev und Ttpöxov Jtpôç f|nâç durcheinanderzubringen, ist einfach ein logischer Fehler. Ihn zu begehen waren freilich diejenigen nur allzu bereit, denen Husserls Phänomenologie als geistiger Entfaltungsraum nicht mehr genügte und die bewußt oder unbewußt die Verschiebung der Fragestellung betrieben 2 . Zu ihnen gehörten außer Heidegger die Dialogiker, die sich ansonsten als seine Gegenspieler fühlten. Ehe wir uns ihnen zuwenden, wollen wir ganz kurz aus sozialontologischer Sicht zwei Denkansätze charakterisieren, die der Phänomenologie näherstanden. Sartre bewegt sich im großen ganzen in demselben Denkrahmen wie Heidegger, da auch bei ihm der reale Gehalt der ontologischen Kategorien anthropologisch bleibt und das Sein als Existenz, nicht etwa als Gesellschaft aufgefaßt wird. Im Hinblick auf das Sein der Existenz wird ebenfalls die soziale Beziehung erörtert; in diesem Punkt findet aber im Vergleich zu Heidegger eine nennenswerte Konkretisierung statt, die indessen mit einem Mißverständnis einhergeht. Heidegger hat über Struktur und Spektrum des apodiktisch eingeführten konstitutiven Miteinanderseins der Existenzen wenig zu sagen, und der kulturkritischen Absicht bei der Schilderung des Man wird gedient, indem dieses in grauer Undifferenziertheit erscheint. Sartre hält nun die Undifferenziertheit für Geschlossenheit, er deutet in das Man die Beschaffenheit eines „équipe" hinein 13 um dann Mitsein und Wir durch die These von der Ursprünglichkeit der Konfliktsituation zu destruieren. Dies gestattet wiederum die Aufstellung eines elementaren Spektrums der sozialen Beziehung, welches sich zwischen den Polen des Masochismus und des Sadismus erstreckt 14 und außer seiner Enge eher impressionistisch und literarisch wirkt; die grundlegenden Mechanismen der sozialen Beziehung werden ebensowenig wie bei Heidegger zur Sprache gebracht, sie gehen ja viel tiefer als das, was Sartre durch die Analyse der gegenseitigen Objektivierung der Subjekte bietet. Im Gegensatz zum Franzosen, der als Destrukteur des Man auftritt, könnten wir Schütz den Phänomenologen des Man nennen. Das Man hält sich allerdings hier von kulturkritischen Konnotationen frei, vielmehr bildet es, in Schütz' Terminologie, die „natürliche Einstellung" oder „Anschauung" von Jedermann, die mit den Anderen innerhalb des sozialen Alltags geteilt wird und ungeachtet aller Konstitutionsfragen im Sinne Husserls die Existenz des Du und der Um- bzw. Mitwelt als Selbstver12 Lapidare Aussagen wie die Sartres: „On rencontre autrui, on ne le constitue pas" {Être, 295) zeigen, daß es sich hier in der Tat um eine Verschiebung handelte. 13 Être, 292 f., 478 ff. Die sozialontologisch neuralgische Vielfalt der sozialen Beziehung wird bei Heidegger nur stichwortartig und selektiv angedeutet, und zwar einerseits als „einspringende Fürsorge", andererseits als „Abständigkeit" oder Sorge um einen Unterschied oder Abstand gegen die Anderen, die als „Ausgleich", „Aufholen" und „Niederhalten" auftrete (a. a. O., 122, 126). Das ist derart unzureichend und macht, nebenbei gesagt, begreiflich, daß Sartre den falschen, aber verständlichen Eindruck gewinnen konnte, Heideggers „Mitsein" orientiere sich an der Vorstellung der geschlossenen Gruppe und verkenne den „rapport originaire" des Kampfes. 14 A. a. O., 3. Teil, 3. Kap.

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II. Sozialwissenscbaften und Sozialontologie

ständlichkeit in sich enthält 15 . Sie wird dennoch in phänomenologischer Manier aus der Perspektive des individuellen Bewußtseins rekonstruiert, das Soziale kommt als solches nicht in Betracht. Auch die „Gliederung" der sozialen Welt in Um-, Mit-, Vor- und Folgewelt erfolgt „nach Graden der Intimität", wobei der Gradmesser wieder der Einzelne ist 16 . Da nun die soziale Welt nach solchen Kriterien gegliedert wird, spielt in diesem Zusammenhang das Spektrum der sozialen Beziehung als Faktor sozialer Differenzierung, Über- oder Unterordnungsverhältnisse etc. kaum eine Rolle; die soziale Welt der „natürlichen Einstellung" bleibt in dieser wichtigen Hinsicht ziemlich vage. Eine bemerkenswerte Vertiefung erfährt im Gegenteil die Analyse der Mechanismen der sozialen Beziehung, die sich im engen Anschluß an Max Weber um die Begriffe des sozialen Handelns und des Verstehens dreht. Schütz erörtert das Verstehen nicht bloß als Organ sozialwissenschaftlicher Erkenntnis, sondern ebenso als konstitutiven Bestandteil sozialen Handelns, also des Handelns von sich in ihrem Verhalten aneinander orientierenden Akteuren. Uberhaupt bemüht er sich, die gemeinsamen Voraussetzungen, aber auch die unterschiedlichen Ausrichtungen von sozialwissenschaftlicher und „natürlicher" Begrifflichkeit herauszuarbeiten. So weist er nach, daß kognitive Notwendigkeiten, die in der Sozialwissenschaft zur Aufstellung von Idealtypen führen, im Alltag ihr Pendant in Typisierungen des Anderen und der Um- bzw. Mitwelt haben 17 . Trotz ihrer grundsätzlichen sozialtheoretischen Mängel und Lücken brachte die weit gefaßte phänomenologische Richtung nicht wenige fruchtbare Gedanken im einzelnen (so z. B. Schelers Verstehens- bzw. Sympathietheorie) hervor, die wir am jeweils geeigneten Ort dieser Arbeit würdigen wollen. Wir kommen jetzt auf den zweiten Haupttyp der ethisch-normativ und kulturkritisch inspirierten Analyse der sozialen Beziehung, der uns vornehmlich bei den Dialogikern, also bei Buber und manchem Mitläufer, begegnet. Kulturkritik findet hier nicht in Form des Angriffs gegen das Man, sondern in der indirekten Weise statt, daß die Vielfalt der intersubjektiven Beziehungen auf zwei Grundmuster reduziert und dann das „schlechte" von beiden der in der naturwissenschaftlich-technischen Zivilisation angeblich vorherrschenden Einstellung angeglichen bzw. dieser abgeguckt wird. Indem sich in Bubers Sprache bei der „schlechten" intersubjektiven Beziehung das Du in ein Es oder ein Objekt verwandelt, dominiert technisch-instrumentelles Verhalten. Die Forderung der Dialogiker nach Ubergang von der Subjekt-Objekt- zur Ich-Du-Logik 1 8 hat freilich gleichzeitig einen eminent ethischen Sinn. Aber nun geht es um eine Ethik der Reziprozität und der Solidarität zur Gewinnung oder Bestätigung von Eigentlichkeit - nicht um Heideggers elitär-individualistische Eigentlichkeit, die sich ihrer in der Entgegensetzung zum Man erst recht vergewissert, oder um Sartres Verantwortung in Freiheit, die sich ebenso elitär-individualistisch gegen die bürgerliche Tugend bzw. l'esprit de sérieux absetzen will 19 . In die dialogische Ethik flössen, neben mystischen Motiven, starke Erinnerungen an Kants Lehre über den Anderen als Gegenstand von Achtung und als Selbstzweck ein 20 . 15 16 17 18 19 20

Außau, 138. A. a. O., 202 f. A. a. O., 252 ff. S. die Belege bei Theunissen, Der Andere, 244ff. Être, 690 f. Vgl. Löwith, Individuum, 139ff. Vgl. u. Kap. IV, Abschn. ID.

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Nun, theoretische Sorge der Dialogiker war nicht die begrifflich untermauerte Einordnung der historisch bezeugten Vielfalt menschlicher Beziehungen, sondern eine derartige Präparierung der verwendeten Begriffe, daß sich daraus zwanglos das erwünschte ethisch-normative Resultat ergeben konnte. Zu den zentralen Begriffsmanipulationen gehört ihre Lösung oder vielmehr Umgehung der Husserlschen Konstitutionsfrage, auf die wir unter Bezug auf Heidegger hinwiesen und von neuem bei der Analyse des Mechanismus sozialer Beziehung zurückkommen werden 21 . Sie dachten, sie entgingen der Solipsismusgefahr und entzögen zugleich der instrumentellen Einstellung in der zwischenmenschlichen Beziehung den Boden, wenn sie die einseitig konstruierende Intentionalität des Ego durch eine zweiseitige Intentionalität, d. h. durch die gegenseitige Konstitution von Ich und Du in einem Wechselverhältnis ersetzten. Dabei haben sie nicht nur übersehen, daß, ehe Ich und Du überhaupt in ein Wechselverhältnis miteinander treten können, das Ich das Du und das Du (als Ich) das Ich konstituiert haben müssen, soll das genannte Verhältnis als solches bewußt sein, zumal wenn von den betreffenden Subjekten moralisches Handeln erwartet wird. Darüber hinaus haben sie nicht registriert, daß die Verbindung zwischen dem konstitutiven Status des Wechselverhältnisses von Ich und Du miteinander und der Beseitigung instrumenteller Einstellungen auf ethischem Gebiet auf einem logischen Sprung beruht. Ohne den geringsten Zweifel ist das Verhältnis zum Du für das Ich konstitutiv (wenn auch nicht im spezifischen Sinne der Husserlschen Konstitutionsfrage), andererseits besagt aber der konstitutive Charakter dieses Verhältnisses überhaupt nichts über seinen ethischen oder sonstigen Inhalt. Der Mensch wird tatsächlich am Du zum Ich, wie Buber schreibt 22 , dies gilt aber für das Ich eines Verbrechers genauso wie für das Ich eines Heiligen und präjudiziert keineswegs, zu was für einem Ich ich durch was für ein Du werde. Bestünde zwischen dem wahrhaft konstitutiven Charakter des Wechselverhältnisses von Ich und Du und seinem ethischen Charakter eine notwendige Verbindung, so gäbe es nur moralische Menschen reinen Wassers auf der Welt. Aber das ist bekanntlich nicht der Fall. Denn der Mechanismus dieses Wechselverhältnisses ändert sich selbst beim extremen Gegensatz der jeweiligen Inhalte der sozialen Beziehung zueinander überhaupt nicht 23 . Kurzum stellt die Ich-Du-Beziehung, wie die Dialogiker sie konzipieren, ein ideales Vorbild oder einen idealen Grenzfall dar, welcher in normativen Vorstellungen über das „wahre" Sein des Menschen oder seine Eigentlichkeit gründet. „Nur zwischen echten Personen gibt es echte Beziehung", schreibt Buber, nur „wesenhaftes" Du und „wesenhaftes" Ich ergeben ein „wesenhaftes" Wir - das Wesenhafte bleibt indes „selten" 24 . Nicht nur wegen seiner zugegebenen faktischen Seltenheit erscheint aber der Grenzfall der Ich-Du-Beziehung sozialontologisch ziemlich irrelevant. Zudem wird er theoretisch derart konstruiert, als ob er sich in einem Labor oder Treibhaus gestalten und abspielen würde. Je mehr sich die Ich-Du-Beziehung nach dem normativ vorgegebenen Modell entfaltet, desto mehr gerät die reale soziale Welt in den Hintergrund; allgemeine soziale Verhältnisse, ja selbst die Wirkungen der Anwesenheit dritter Personen in der unmittelbaren Umwelt erreichen sie nicht mehr. Als 21 22 23 24

S. u. Kap. IV, Abschn. ID. Ich und Du, 37. S. u. Kap. IV, Abschn. 1B und D. Problem, 164, 115f.

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Mittel gegen das Eindringen instrumentellen Geistes wird die Abkapselung verwendet, die Autarkie in der Idealität gipfelt im Gefühl, das Ich sei dem Du, das Du dem Ich „alles" 25 . Der Versuch, Beziehungen zwischen realen Existenzen unvermittelt, d. h. ohne Vermittlung der sozialen Welt zu erleben oder auch nur zu denken, muß allerdings bei der Schwärmerei oder beim Schiffbruch enden. Der Grund dafür liegt nicht so sehr im äußeren Druck, den unvollkommene soziale Verhältnisse auf eine vollkommene Ich-Du-Beziehung ausüben müssen, (in diesem Fall könnte man den gemeinsamen Widerstand oder Untergang der Partner sogar als Beweis der Vollkommenheit ihrer Beziehung deuten), sondern viel tiefer: Ich und Du treffen sich in der Realität immer als mehr oder weniger herausgebildete „Charaktere" oder „Personen"; sie sind, über die Merkmale ihrer biopsychischen Struktur hinaus, bewußte oder unbewußte Träger von all dem, was sie sich durch positive oder negative Reibungen an der Umwelt angeeignet oder einfach abbekommen haben. Dieser zentrale Tatbestand löst sich auf, wenn die spezifisch sozialontologische Fragestellung nicht am theoretischen Horizont auftaucht, wenn also das Faktum der Gesellschaft überhaupt nicht wahrgenommen, geschweige denn zum Ausgangspunkt der Betrachtung gemacht wird. Die Dialogiker thematisieren die Sozialität des Menschen nur in dem Maße, wie diese als Beweis für die These zu dienen scheint, der Mensch sei des Menschen Freund. Sie waren freilich nicht die ersten, die diesen noblen logischen Fehler begangen haben. Feuerbach, in dem sie einen Vorläufer erblickten 26 , hat ebenfalls menschliche Sozialität als Argument benutzt, um die reale Möglichkeit einer ethischen Umgestaltung menschlicher Verhältnisse zu begründen. Wie die Dialogiker arbeitete er die Grundzüge der Sozialität nicht im Rahmen einer allgemeinen Gesellschaftstheorie, sondern an Hand der Beziehung des Einzelnen zum Einzelnen heraus. Die „Einheit" oder die „Gemeinschaft" des Menschen mit dem Menschen, die „das Wesen des Menschen" ausmache, enthalte als „natürlichen Standpunkt" die Unterscheidung in Ich und Du, der die ganze Weltorientierung und -anschauung entstamme. Denn selbst der elementare Begriff des Objekts sei vermittelt durch jenen des Du als gegenständlichem Ich, und zwar dadurch, daß „meine Selbsttätigkeit an der Tätigkeit eines anderen Wesens ihre Grenze - Widerstand findet". Aus der „Wechselwirkung" des Menschen mit dem Menschen entstehe Bewußtsein und Verstand, durch Mitteilung und Konversation kämen Ideen zustande - kurzum: „die Gemeinschaft des Menschen mit dem Menschen ist das erste Prinzip und Kriterium der Wahrheit" 27 . Hier wird der Grund des Gedankens und der Idee in einer Schicht des Menschlichen als Mitmenschlichem gesucht, die jeder geistigen Produktion vorausliegt; und zugleich wird der Primat dieser Schicht in dem Sinne geltend gemacht, daß jedes andere Sein erst durch ihre Vermittlung zur ontologischen Relevanz gelangt. Außermenschliche Realität wird in den Perspektiven erfaßt, die innerhalb der beziehungsreichen menschlichen Realität eröffnet werden, das Mitsein besitzt daher einen privilegierten Status gegenüber dem In-der-Welt-Sein, obwohl Mitsein und In-der-WeltSein für den Menschen gleichursprünglich sind. Der Mensch betrachtet m. a. W. 25 Vgl. die Belege bei Theunissen, Der Andere, 422f., 450ff. 26 S. Ehrenbergs „Einleitung"; vgl. Buber, Problem, insb. 61 f. 27 Grundsätze, §§ 59, 56, 32, 41.

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seine menschliche Welt nicht aus der Sicht der äußeren Natur, sondern umgekehrt: Die jeweilige Beschaffenheit oder Entwicklung der zwischenmenschlichen Beziehungen bedingt die Naturbetrachtung. Der Seins- oder Realitätsbegriff stellt eine Funktion der Art und Weise menschlichen Miteinanderseins dar. Diese Überlegungen Feuerbachs haben offenbar eine größere Tragweite als der spätere dialogische Ansatz und übrigens lassen sie sich auch ohne ihre moralisierende Hülle nutzbar machen. Man kann ihre Weiterentwicklung bei einem Denker wie Dilthey verfolgen 28 ; schon vorher hatten sie aber die geistigen Anfänge eines noch Genialeren befruchtet. Die Erinnerung an ihn soll hier, vom Sachlichen abgesehen, der Absicht dienen, die angesprochene Vorgeschichte des Einzugs der Sozial- und Geschichtswissenschaften in die Philosophie des 20. Jahrhunderts schärfer zu umreißen. Marx läßt zunächst die Bewußtseinsphilosophie auf Grund derselben Syllogistik wie Feuerbach hinter sich. Die materialistische Wendung vom Bewußtsein zum Sein impliziert, der Mensch müsse vor allem anderen als sinnliches Wesen betrachtet werden. Aber wer die Sinnlichkeit anthropologisch ernst nimmt, löst sich automatisch vom Individualismus oder Solipsismus der Bewußtseinsphilosophie los, da der sinnliche Mensch als Mensch durch unzählige greifbare Bande (von der biologischen Reproduktion angefangen) an andere sinnliche Menschen gebunden, also definitionsgemäß ein soziales Wesen ist. Daher lobt Marx an Feuerbachs „wahrem Materialismus" nicht die bloße Voranstellung der Sinnlichkeit, sondern die Tatsache, daß dadurch „das gesellschaftliche Verhältnis des Menschen zum Menschen zum Grundprinzip der Theorie" gemacht werde 29 . Als Natur und Sinnlichkeit bildet der Mensch den „ersten Gegenstand" des Menschen, eben bei der Begegnung mit diesem Gegenstand hört aber sein „Verhältnis zu sich selbst" auf, ein bloß „gegenständliches" zu sein, es wird ein „wirkliches", und die eigene Sinnlichkeit ist nun durch die anderen Menschen „für ihn selbst" 30 ; während das Tier „sich zu Nichts und überhaupt nicht" verhält, verhält sich der Mensch im Verhältnis zu den anderen zu sich selbst, Bewußtsein ist also „von vornherein schon ein gesellschaftliches Produkt" 3 1 . Einen wichtigen Schritt über Feuerbach hinaus und in Richtung auf die Begründung einer Sozialontologie geht Marx, indem er den Menschen und die Beziehung des Menschen zum Menschen in den Rahmen des gesellschaftlichen Ganzen stellt, um sie von der Gesellschaft her zu verstehen. Gerade vor dem Hintergrund des adäquat aufgefaßten Faktums der Gesellschaft zeigt sich indes, daß weder „Gesellschaft" als Abstraktum dem „Individuum" gegenüber noch „Individuum" als Abstraktum der „Gesellschaft" gegenüber fixiert werden dürfen. Das Individuum ist das gesellschaftliche Wesen, selbst in seinen einsamen Tätigkeiten bezieht es seinen Stoff (z. B. die Sprache, in der es denkt) aus der gesamten gesellschaftlichen Tätigkeit und in diesem Sinne stellt es „das Ensemble der gesellschaftlichen Verhältnisse" dar. Die Vermittlung von Individuum und Gesellschaft miteinander findet also innerhalb einer unablässigen gesellschaftlichen Tätigkeit statt, und daher kann der oben erläuterte Zusammenhang zwischen Sinnlichkeit und Sozialität des Menschen ebensogut als Zusammenhang zwischen Sinnlichkeit und praktischer Tätigkeit aufge28 29 30 31

Wie Löwith es tut, Individuum, 2 8 - 3 0 , 43 f. „Ökon.-Phil. Manuskripte", MEW, Ergänzungsband, 1. Teil, 570. A. a. O., 544, 519. Vgl. Das Kapital, I, MEW, 23, S. 67, Anm. 18. Deutsche Ideologie, MEW, Bd. 3, 27.

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faßt werden 32 . Nun erfolgt ein zweiter, nicht weniger wichtiger Schritt. Die unzertrennliche Dreiheit von Sinnlichkeit, Sozialität und Tätigkeit, wie sie sich im Faktum der Gesellschaft kondensiert findet, gestattet es, das In-der-Welt- oder In-der-NaturSein des Menschen und das menschliche Mitsein konsequent zusammenzudenken. Als sinnliches Wesen ist der Mensch Natur, er lebt in und von der Natur, indem er - da er eben als sinnliches Wesen sozial lebt - den unausweichlichen Kampf gegen die Natur kollektiv organisiert, also mit den Mitteln der Tätigkeit der Gattung bzw. der Gesellschaft ausficht. Diesem Kampf, als Arbeit umschrieben, kommt sowohl für das Faktum des Mitseins überhaupt, als auch für seine jeweilige geschichtliche Ausgestaltung konstitutive Bedeutung zu. Insofern der Mensch die gegenständliche Welt als Gattungswesen, d. h. in der Art und Weise bearbeitet, wie seine spezifische Beschaffenheit gegenüber den anderen Tieren es erfordert, bildet der Gegenstand seiner Arbeit eine „Vergegenständlichung des Gattungslebens des Menschen" 3 3 . Durch den Kampf, im Kampf und als Kampf mit der Natur existiert und konkretisiert sich menschliches Mitsein - gleichviel, wie der Ausgang des Kampfes aussieht, ob sich also der Mensch in sehr kleinem oder sehr großem Ausmaß gegen die Natur durchsetzen kann: Arbeitsteilung bleibt das eherne Gesetz sozialer Existenz und Organisation. Die Natur wird bei diesem Vorgang selbst gesellschaftlich vermittelt, und insofern bedingt die Art des Mitseins die näheren Umstände des In-der-WeltSeins; freilich gibt es weiterhin und immer eine außergesellschaftliche, „äußere" Natur, deren Gesetze unvermindert auch für die gesellschaftlich vermittelte gelten; diese Feststellung hat indes keinen sozialontologischen Status, sie interessiert nur in dem Maße, wie man den Menschen „als von der Natur unterschieden" betrachten will 34 . Tiefe und Tragweite dieses konzeptuellen Rahmens setzen sich vorteilhaft z. B. gegen Heideggers Position ab, der zwar betont, daß „das In-der-Welt-Sein des Daseins wesenhaft durch das Mitsein konstituiert ist" 3 5 , dabei aber eben vom Dasein ausgeht und bei diesem bleibt, ohne den sozialontologisch neuralgischen Zusammenhang zwischen In-der-Welt-Sein und Mitsein unabhängig vom Dasein zum Thema zu machen. Gewiß, er verbindet die Zuhandenheit des Zeugs mit dem Faktum des Mitseins, die Verbindung bewegt sich aber auf der Oberfläche: Das Zeug bildet bloß eine „Verweisung auf mögliche Träger", also auf andere Subjekte als Benutzer oder Hersteller 36 , und keineswegs in der gesellschaftlichen Arbeit objektiviertes Mitsein, geschweige denn ein Indiz für die besondere geschichtliche Beschaffenheit sozialen Mitseins. Auch wenn Heidegger von der Begegnung mit dem Anderen „bei der Arbeit" redet, denkt er nicht an die Verflechtung individueller Tätigkeiten miteinander innerhalb der arbeitsteiligen sozialen Praxis, sondern vielmehr an das Versinken in das Man. Die mangelnde Dichte des Mitseins, wenn man so sagen darf, ist hier das Pendant zu seiner oberflächlichen Beziehung zum In-der-Welt-Sein, welches wiederum in seiner Abgeschiedenheit vom Mitsein eine Neuauflage der objektiven äußeren Welt bietet, der in der klassischen Subjektphilosophie ein Subjekt gegenüberstand. 32 „Okon.-Phil. Manuskripte", MEW, Ergänzungsband, 1. Teil, 538; „Thesen über Feuerbach", insb. 6 und 9, in: Deutsche Ideologie, MEW, Bd. 3, 584, 585. 33 „Manuskripte", a. a. O., 517. 34 Deutsche Ideologie, MEW, Bd. 3, 42. Vgl. Schmidt, Begriff der Natur, insb. 40f, 66ff. 35 Sein und Zeit, 120. 36 A. a. O., 117f.

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Marx löst sich von dieser deswegen viel radikaler los, weil er sich an die Sache nicht einfach unter dem unbewußten Druck der Sozial- und Geschichtswissenschaft, sondern bewußt als Sozialwissenschaftler und Historiker heranmacht. Der Arbeitsbegriff, der zwischen In-der-Welt-Sein und Mitsein vermittelt, ist bekanntlich der stark soziologisch ausgerichteten klassischen politischen Ökonomie entnommen, und die jeweilige konkrete Art und Weise jener Vermittlung bildet wiederum das Kriterium für das Erschließen der Geschichte, d. h. für ihre Erfassung als Aufeinanderfolge von Gesellschaftsformationen. In diesem prägnanten Sinne heißt es, Geschichte sei „die wahre Naturgeschichte des Menschen" 3 . Dieses Zusammendenken von Sozialontologie und Geschichte, in welches das Zusammendenken von In-der-Welt-Sein und Mitsein mündet, gestattet nun den Einblick in jene ontische Schicht, in der das jeder Theorie vorausliegende Vorverständnis liegt, in der also der Konstitutionsboden von Wissenschaft, Philosophie und geistiger Produktion im allgemeinen zu suchen ist. Letztere - und daran macht sich die Grenze jeder bloß anthropologischen Betrachtung bemerkbar - lassen sich ja keineswegs aus den konstanten Befindlichkeiten des Daseins ableiten, denn dann würden sich ihre Inhalte kaum ändern. Die vorwissenschaftliche, vorphilosophische etc. Befindlichkeit ist also nicht eine daseinsmäßige, sondern eine sozialontische, die aber bereits mit „Ideen" durchsetzt ist (dies meint die Marxsche Einbeziehung der „Ideologie" in das funktionale Ensemble der Gesellschaft), sonst wäre sie kaum imstande, ex nihilo Ideen hervorzubringen. Und die Orientierung der ontologischen Analyse am Dasein kann weder die spezifischen Befindlichkeiten, die sich in der Produktion von Ideen niederschlagen, noch Herausbildung und Inhalt von Ideen begreiflich machen; erst die Beleuchtung des Soziaiontischen, und zwar in der Dimension der sozialen Beziehung und des Politischen, vermag dies zu leisten. Marxens Ideologielehre - eine sozialwissenschaftliche Errungenschaft ersten Ranges - unternimmt einen sehr wichtigen Schritt in dieser Richtung, indem sie postuliert, nicht nur jede Naturbetrachtung oder, allgemeiner, jede theoretische Betrachtung über das In-der-Welt-Sein, sondern auch jede Theorie über das Mitsein stelle eine Funktion dieses selben Mitseins bzw. der sozialen Beziehung im weitesten Sinne dar. Die sozialontisch bedingte Befindlichkeit liegt also auf jeden Fall jeder Ontologie oder Sozialontologie voraus. Innerhalb jeder Ideologie als Rede über das soziale und außersoziale Sein lassen sich freilich Elemente ausmachen, die über die jeweilige Form der sozialen Beziehung hinaus mit anthropologischen Konstanten in Verbindung gesetzt werden können; dies muß indes der grundsätzlichen Ausrichtung aufs Sozialontische keinen Abbruch tun, wenn man die These ernst nimmt, der Mensch sei ah Mensch ein in Gesellschaft lebendes Wesen. Trotz seiner wertvollen Beiträge zur Sozialontologie verfügt Marx über keine sozialontologisch durchdachte Theorie der sozialen Beziehung. Soziale Beziehung kommt bei ihm konkret nur als historische Größe vor, und dann vornehmlich nur in Gestalt des Konflikts zwischen kollektiven Subjekten (Klassenkampftheorie). Ebensowenig entwickelt er eine Theorie des Politischen, die wesentlich über die Klassenkampftheorie hinausginge und in Verbindung mit der Theorie der sozialen Beziehung die sozialontische Dimension des Politischen herausarbeiten würde. Beide 37 „Manuskripte", MEW, Ergänzungsband, 1. Teil, 579. Entsprechend wird nun die Kritik an Feuerbach in der Bemerkung zusammengefaßt, diesem sei Geschichte fremd, s. Deutsche Ideologie, MEW, Bd. 3, 43.

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Mängel lassen sich im großen ganzen auf die ökonomistische Einengung seiner ansonsten grandiosen Konzeption über den Zusammenhang zwischen dem In-derWelt-Sein und dem sozialen Mitsein zurückführen. Diese ökonomistische Einengung bedeutet allerdings nicht, daß Marx das Ökonomische als solches eng auffaßt. Ökonomie wird vielmehr dem Gesamtvorgang der Produktion und Reproduktion sozialen Lebens gleichgesetzt, so daß „Religion, Familie, Staat, Recht, Moral, Wissenschaft, Kunst etc." „besondre Weisen der Produktion" sind; eine politische Ökonomie, die von den herrschenden sozialen Beziehungen, etwa dem Privateigentum absieht, wenn sie als Wissenschaft Gesetze aufstellt, begreift die eigenen Gesetze nicht 38 . Dennoch zeichnet sich hier ein Dilemma ab. Wird der Ökonomie- oder Produktionsbegriff ins Uferlose erweitert und schließlich mit dem Sozialen gleichgesetzt, so verliert er die spezifischen Züge, wobei man fragen muß, warum Kategorien ökonomischen Ursprungs theoretisch bevorzugt werden sollen. Wird er wiederum entsprechend seiner Spezifizität definiert und verwendet, so erscheint das Ökonomische als eine soziale Sphäre neben anderen, wobei sich die Frage nach der sozialontischen Priorität dieser oder jener unter ihnen stellt, und die letztlich unfruchtbare „Basis-Überbau"-Problematik aufgerollt werden muß. Marx hat das Dilemma nicht gesehen oder zumindest hat er sich als Theoretiker so verhalten, als ob es nicht existierte. Seine ökonomistische Einengung des Zusammenhanges zwischen In-derWelt-Sein und Mitsein legte nahe, letzteres sozialontisch in der Arbeitsteilung gründen zu lassen. Aber wenn Wirtschaften nicht weniger als andere Formen sozialer Tätigkeit eine Funktion von zwischenmenschlichen Beziehungen vor dem Hintergrund des Faktums der Gesellschaft darstellt, so muß es auch in sozialontologischer Absicht hinterfragt werden. Dann dürfte die Politische Ökonomie vermutlich als Ökonomie im Zeichen des Politischen umgeschrieben werden. Marx zollte nicht weniger als andere dem ethisch-normativen Denken seinen Tribut: Seine Entfremdungstheoreme bilden eine Erfassung der anthropologischen Frage aus der Sicht des Gegensatzes zwischen Eigentlichkeit und Uneigentlichkeit. Darüber wollen wir aber kein Wort verlieren. Sein Werk interessiert uns als überragender Markstein auf dem langen geistesgeschichtlichen Wege, an dessen Anfang die Rehabilitation menschlicher Sinnlichkeit durch den neuzeitlichen Rationalismus im allgemeinen und die Aufklärung insbesondere stand. Diese Rehabilitation wirkte sich in zweierlei Hinsicht aus. Der Primat der Anthropologie, den die Aufklärung gegen den Primat der Theologie erkämpfte, wurde konkretisiert durch ein Studium des Menschen in der ganzen Fülle seiner sinnlichen Bestimmungen, sowohl der biologisch-leiblichen als auch der umweltlichen - und hier wiederum nicht bloß der geographisch-klimatischen, sondern auch der ökonomisch-sozialen: Denn der sinnliche Mensch wurde ipso facto als Mensch in Gesellschaft aufgefaßt. Andererseits setzte sich die Rehabilitation der Sinnlichkeit in die Überzeugung um, purer Intellekt mache keineswegs das Wesen des Menschen, auch nicht die entscheidende Instanz menschlichen Geistes aus. Auf der Basis dieser Überzeugung bildete sich ein existentieller Erkenntnisbegriff heraus, der die Verwurzelung aller Erkenntnis und Theorie in einer sinnlich bedingten, also sich in ständiger Wechselwirkung mit der sinnlichen Umwelt befindenden und sich darin gestaltenden Existenz geltend machte. 38 „Manuskripte", a. a. O., 537, 510; vgl. Grundrisse, 26f.

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In ihm verschmolzen Denken und Wollen im Zeichen des Wollens miteinander, wobei die plastische Historizität sinnlich verwurzelter Existenz die starre Ewigkeit der Wahrheiten des Intellekts verdrängte 39 . In Marx' Konzept von der Ideologie flössen beide Aspekte der Rehabilitation der Sinnlichkeit ein, denn Ideologie ist ein unter existentiellen Geboten stehendes Denkprodukt, und die ideologisch denkende Existenz steht wiederum mitten in einem Geflecht soziologisch-historisch ermittelbarer sozialer Beziehungen. Philosophen, die den Antiintellektualismus der Aufklärung mit oder ohne Kenntnis geerbt haben, ließen im großen ganzen den ersten Aspekt beiseite, um den Primat des Sinnlichen und des Wollens vor dem Intellekt und dem Denken auf dem Gebiet und mit den Mitteln der Anthropologie herauszuarbeiten. So bereits Schopenhauer, der den im Leib objektivierten Willen als „das Unmittelbarste des Bewußtseins" ansieht; als solcher geht der Wille nie völlig in die Form der Vorstellung ein, in der Subjekt und Objekt sich gegenüberstehen4 . Ebenfalls in einem soziologischen und historischen Vakuum unternimmt es Nietzsche, einen existentiellen Erkenntnisbegriff auf der Basis von konstanten Befindlichkeiten (etwa Wille zur Macht) zu entwickeln, die jeder wissenschaftlichen oder philosophischen Tätigkeit des Intellekts vorausliegen. Intellekt und Logik sind für ihn Instrumente der übergeordneten Befindlichkeit des Wollens und wachsen aus einem „BegierdenErdreich" heraus - ja Bewußtsein überhaupt stellt „nicht die Leitung, sondern ein Organ der Leitung" dar; Erkenntnis und Wahrheit samt den erkenntnistheoretischen Einstellungen der Philosophen müssen daher wertbeladen, „Konsequenzen von Wertschätzungen" sein 41 . Wie Nietzsches Beispiel uns erinnert, trat der inzwischen z. T. verschüttete existentielle Erkenntnisbegriff der Aufklärung unter anderem auch auf dem Umwege des biologischen Evolutionismus des 19. Jahrhunderts von neuem auf den Plan. Wir müssen hier nicht näher untersuchen, wie er bei den Pragmatisten, bei Bergson oder etwa bei Freud variiert wurde; (bei den beiden letzteren hinterließ übrigens die Auseinandersetzung mit der Biologie ebenso tiefe Spuren). Bei allen zeigt sich, daß der mehr oder weniger erfolgreiche Versuch, vorintellektuelle Befindlichkeiten einer in der sinnlichen Faktizität verwurzelten Existenz auszumachen, keineswegs zur Begründung einer Sozialontologie ausreicht. Marx' Ansatz war diesbezüglich ungeachtet seiner festgestellten Grenzen ertragreicher, weil er das Faktum der Gesellschaft ernst genommen und den anthropologischen Faktor mit ihm ab ovo verbunden hat. Sozialontologisch relevante Gedanken von Philosophen wurden im 20. Jahrhundert jedenfalls unter dem Einfluß der aufsteigenden sozialwissenschaftlichen Disziplinen, allen voran der Soziologie, entwickelt. Gewiß nicht zufällig. Denn Soziologie und Sozialontologie sind sehr oft zum Schaden beider miteinander vermischt oder sogar verwechselt worden. Es gilt nun, eine begriffliche Klärung herbeizuführen. 39 Zu diesen beiden komplementären Aspekten der Rehabilitation der Sinnlichkeit s. Kondylis, Aufklärung, 421 ff., 309ff. Vgl. Heideggers Berufung auf den Zusammenhang zwischen vorstellenden und interessenehmenden Akten, um die ontische Priorität der Befindlichkeit als Stimmung herauszustellen (Sein und Zeit, 139). Es zeugt allerdings von echt philosophischer Unkenntnis der geistesgeschichtlichen Hintergründe, wenn Heidegger das „Verdienst" dieser Einsicht der phänomenologischen Schule zuschreibt oder wenn er - mit Scheler - auf Augustin und Pascal (Liebe als Vorraussetzung der Erkenntnis) verweist. 40 Die Weh als Wille, 2. Buch, §§ 1 8 - 2 1 . 41 Werke, III, 892, 667, 547.

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2. Sozialwissenschaftliche Methodenfragen in sozialontologischer Perspektive A. Zwei Grundlegungen der Soziologie Es sei gleich gesagt: Die begriffliche Absonderung von Sozialontologie, Soziologie und Geschichtswissenschaft voneinander kann wegen der offensichtlichen Gemeinsamkeiten ihres Gegenstandes nur approximativ sein, d. h. sie betrifft den Kern und nicht die äußeren Grenzen jeder dieser drei Disziplinen. Die begriffliche Freilegung dieses Kerns bewirkt also nicht automatisch die Entstehung dreier voneinander scharf abgegrenzter Gebiete, auf denen drei unterschiedliche Arten von Spezialisten arbeiten. Im Gegenteil. Die Sachen selbst haben keine Ahnung von unseren Begriffen und begrifflichen Unterscheidungen und deshalb muß sich jede tief ergehende Analyse über das, was in Gesellschaft lebende Menschen tun und schaffen, gleichzeitig auf allen drei Gebieten oder Ebenen bewegen. Die Analyse verfügt über ein feineres Instrumentarium, wenn sie dies in Kenntnis der spezifischen Problematik jeder Ebene tut, und sie verirrt sich, wenn sie unbeschwert von der einen Ebene zur anderen springt, im Glauben, sie bleibe doch ständig bei einer einzigen (z. B. bei der Soziologie) als der wahrhaft umfassenden. Ahnliche Verirrungen richten vielleicht keinen großen Schaden bei großen Forschern an, deren Genialität und allseitige Bildung für tiefere Einblicke in die Sachzusammenhänge bürgen, wie ihre erklärte „Methodologie" lautet. Hier geht es aber nicht um eine sachliche Leistung, die durch keine „Methodologie" garantiert werden kann, sondern um die Grundlegung der soziologischen Disziplin. Nach meinem Eindruck sind die innere Inkohärenz klassischer soziologischer Theorien sowie das alte Schwanken zwischen formaler und historischer Ausrichtung soziologischer Theorie überhaupt auf die Tatsache zurückzuführen, daß sozialontologische und soziologische Gesichtspunkte unreflektiert in einen Topf geworfen wurden. Dabei behinderten sie sich gegenseitig in ihrer autonomen Entfaltung bzw. Ergänzung durch andere (teils anthropologische, teils historische) oder aber es wucherten die einen und die anderen blieben auf der Strecke. Es lohnt sich theoretisch, das In- und Auseinandergehen der genannten Gesichtspunkte bei Max Weber oder Parsons zu verfolgen, um dann bei Dürkheim zu beobachten, wie gerade eine schärfere und geschlossenere Begriffsbestimmung der Soziologie mit einer sachlich bedauerlichen Abstumpfung des Sinnes für das einhergeht, was jenseits ihrer Grenzen liegen soll. Eine dritte Grundlegungsart der Soziologie, die die Formen sozialen Lebens behandeln will, wird uns bei der Erörterung der sozialen Beziehung beschäftigen. Denn solche Soziologie gibt als ganze nur einen einzigen Aspekt der viel breiteren sozialontologischen Problematik ab. Weber geht ebenfalls bei seiner Grundlegung der Soziologie von der sozialen Beziehung aus, da diese im wesentlichen synonym mit dem sozialen Handeln definiert wird, welches bekanntlich nach Weber den für die Soziologie konstitutiven Tatbestand und ihren spezifischen Gegenstand darstellt. Beides, soziales Handeln und soziale Beziehung, bedeuten gleichermaßen die Orientierung eigenen Verhaltens am Verhalten anderer, im Falle der sozialen Beziehung ist bloß diese Orientierung ge-

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genseitig 42 . Da die fragliche Orientierung seitens des oder der Handelnden mit Sinn verbunden sein muß, läßt sich im selben Duktus die nicht weniger konstitutive Beschäftigung der Soziologie mit Sinn und Verstehen von Sinn plausibel machen. Nun ist oft bemerkt worden, daß Webers substantielle Arbeit als Soziologe geringe Rücksicht auf seine programmatische Grundlegung der Soziologie nimmt und großangelegte strukturelle Analysen von geschichtlich gegebenen kollektiven Gebilden bietet, wobei „subjektiv gemeinter Sinn" und darauf bezogenes Verstehen zu kurz kommen 4 3 . Die nächstliegende Erklärung dafür, sofern überhaupt eine versucht wurde, schien die zu sein, Webers starke historische Interessen und seine Gabe zum großen Uberblick würden ihn gleich nach Erledigung der methodologischen Pflichtübungen zum Entwerfen von strukturell-funktionalen Panoramen treiben, unter Vernachlässigung der Aufgabe, zwischen den beiden Aspekten seiner eigenen Vision von der Soziologie ausreichende Vermittlungen einzubauen. Doch die Frage ist eben die, ob sich diese Aspekte grundsätzlich miteinander vermitteln lassen bzw. ob die Kluft hier nicht zwischen zwei Aspekten eines an sich einheitlichen soziologischen Denkens in seiner Besonderheit, sondern vielmehr zwischen zwei verschiedenen Ebenen des sozialen Wissens in seiner Gesamtheit gähnt. Wie ich meine, läßt sich diese Kluft deshalb nicht überbrücken, weil die Tatsache der sozialen Beziehung an sich und von ihrer Beschaffenheit her auf eine Art Untersuchung verweist, die nicht die spezifisch soziologische und der soziologischen Praxis allein zugängliche Problematik sein kann. Zweifelsohne muß die Soziologie kollektive Geflechte sozialer Beziehungen strukturell und funktional beleuchten. Diese sind aber geschichtlich geformt und veränderlich, während die soziale Beziehung als Orientierung des Handelns der einen Seite am Handeln der jeweils anderen einen konstanten, ubiquitären und vom geschichtlichen etc. Inhalt unabhängigen Mechanismus bildet. Er zeichnet die menschlichen Dinge insgesamt aus (z. B. ihre psychologische Dimension nicht weniger als die soziologische) und er könnte das spezifische Kennzeichen der Soziologie nur dann abgeben, wenn Soziologie die einzige Disziplin über die menschlichen Dinge überhaupt wäre. Bei der Definition der Soziologie darf soziale Beziehung daher gar nicht und in der Praxis des Soziologen erst nach der Markierung und innerhalb der Grenzen seiner Disziplin berücksichtigt werden - d. h. in dieser oder jener ihrer konkreten Formen. Geht die Theorie vom sozialen Handeln bzw. der sozialen Beziehung aus, so muß die Markierung jener Grenzen einer |iexdßam