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German Pages [216] Year 2018
Das Phantom »Rasse«
Schriften des Deutschen Hygiene-Museums Dresden herausgegeben von Gisela Staupe Band 13
Das Phantom »Rasse« Zur Geschichte und Wirkungsmacht von Rassismus Herausgegeben von Naika Foroutan, Christian Geulen, Susanne Illmer, Klaus Vogel, Susanne Wernsing
BÖHLAU VERLAG WIEN KÖLN WEIMAR
Die Publikation ist aus der Tagung „Rasse“. Geschichte und Aktualität eines gefährlichen Konzepts (8.–10. Oktober 2015) hervorgegangen, die das Deutsche Hygiene-Museum Dresden in Kooperation mit der Bundeszentrale für politische Bildung und dem Institut für Geschichte der Universität Koblenz/ Landau durchgeführt hat.
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ISBN 978-3-412-51202-6
Inhalt
Naika Foroutan, Christian Geulen, Susanne Illmer, Klaus Vogel, Susanne Wernsing Das Phantom „Rasse“. Zur Geschichte und Wirkungsmacht von Rassismus Eine Einleitung .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9
Rassenbegriff und Rassismustheorie Christian Geulen Der Rassenbegriff Ein kurzer Abriss seiner Geschichte .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 23 Race und „Rasse“ Politische Bedeutungen und historische Kontexte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 35 Ein Interview mit Jakob Tanner Manuela Bojadžijev Konjunkturen der Rassismustheorie in Deutschland .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 47 Mark Terkessidis Rassismus definieren (1998/2017) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 65
Wissenschaft und Technik Wie wird menschliche Vielfalt und genetische Variation erfasst? Über Ordnungsprinzipien in Geschichte und Gegenwart der Lebenswissenschaften Ein Interview mit Veronika Lipphardt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 85 Stefan Kühl Die Internationalität der Rassenforschung im 20. Jahrhundert . . . . . . . . . . . . . . . . . . 105
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Inhalt
Manuela Bauche Von der Unmöglichkeit, klare Grenzen zu ziehen Rassismus und Medizin in den deutschen Kolonien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 115
Herrschaft, Politik und Ökonomie Frank Dikötter Wie und warum wurde „Rasse“ zu einem globalen Begriff? .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 131 Andreas Eckert Vergangenheit, die nicht vergehen will Die schwierige europäische Erinnerung an den Kolonialismus in Afrika . . . . . . . . 151
Religion, Kultur und Gesellschaft Haltung statt Herkunft Wie wir heute zusammen leben Ein Interview mit Naika Foroutan .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 163 Yasemin Shooman Den Feind adressieren Antimuslimischer Rassismus im Spiegel von Zuschriften an muslimische Verbände . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 175 Sina Arnold Which Side Are You On? Zum schwierigen Verhältnis von Antisemitismus und Rassismus in der Migrationsgesellschaft .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 189 Rassismus, Kulturkonflikt und die Neuerfindung öffentlicher Räume Ein Interview mit Nilüfer Göle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 203 Verzeichnis der theoretischen Miniaturen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 215
Inhalt
Hannah Arendt Rassismus und ideologisches Denken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .33 Cornel West Race Matters .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .45 Albert Memmi Eine Definition . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .63 Michel Foucault Rassismus und Bio-Macht .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .103 Stuart Hall Der Innenraum des Rassismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .113 Frantz Fanon Die Verdammten dieser Erde .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .149 Étienne Balibar Der neue Rassismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .173 Étienne Balibar Der Rassismus – auch noch ein Universalismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .187
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Naika Foroutan, Christian Geulen, Susanne Illmer, Klaus Vogel, Susanne Wernsing
Das Phantom „Rasse“. Zur Geschichte und Wirkungsmacht von Rassismus Eine Einleitung
Der vorliegende Essayband ist aus der Tagung Rasse. Geschichte und Gegenwart eines gefährlichen Konzepts hervorgegangen, die das Deutsche Hygiene-Museum Dresden zusammen mit der Bundeszentrale für politische Bildung im Herbst 2015 in Dresden veranstaltet hat. Ziel der Tagung war es, an der Vorbereitung einer Ausstellung zum Thema mitzuwirken, die unter dem Titel Rassismus. Die Erfindung von Menschenrassen von Mai 2018 bis Januar 2019 im Deutschen Hygiene-Museum Dresden gezeigt wird. Die Tagung fand 80 Jahre nach dem Erlass der „Nürnberger Rassengesetze“ von 1935 statt, die Ausstellung ist 80 Jahre nach den Novemberpogromen von 1938 eröffnet worden. Damit sind zwei Ereignisse markiert, die historisch als entscheidende Radikalisierungsschübe der antijüdischen Politik des NS-Regimes auf dem Weg von der Aussonderung der Juden zu ihrer massenhaften, industriellen Vernichtung ab 1941 gelten. Ebenso sehr, wie in den Jahren 2015 und 2018 dieser Ereignisse in der Vorgeschichte des Holocaust gedacht werden muss(te), machen gerade sie ihre Kontextualisierung in einem größeren historischen Zusammenhang notwendig. Denn sie weisen die Vorgeschichte des Holocaust als Teil eines sich schon sehr lange und immer wieder von Neuem ereignenden Prozesses aus: der Ausgrenzung und Verfolgung bestimmter Menschengruppen im Namen einer angeblichen Verbesserung der Welt oder der Menschheit. Die „Nürnberger Gesetze“ von 1935 und die Pogrome von 1938 gehören daher sowohl zur Vorgeschichte jenes singulären Zivilisationsbruchs, den wir als die Shoah erinnern, als auch zur zeitlich und räumlich viel umfassenderen Geschichte des neuzeitlichen Rassismus. Diesen Verweisungszusammenhang der sich jeweils zum 80. Mal jährenden Ereignisse wollte das Deutsche Hygiene-Museum zum Thema eines besonderen, größeren Ausstellungsprojekts machen. Denn der Rassenbegriff, die mit seiner Hilfe entwickelten Rassentheorien und -diskurse sowie die damit legitimierten Formen einer rassenideologischen Praxis, wie sie in Nazi-Deutschland ihren genozidalen Höhepunkt fand, sind nicht nur deutlich älter als das „Dritte Reich“, sondern mit dessen Ende 1945 auch keineswegs verschwunden. Rassistische Ausgrenzung, Anfeindung und Gewalt sind
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heute nach wie vor in allen Erdteilen zu beobachten, und die Bedeutung dessen, was bis vor wenigen Jahrzehnten unbefangen „Rasse“ genannt wurde, findet sich gegenwärtig allemal dort wieder, wo man unter bewusstem Verzicht auf diesen inzwischen als problematisch geltenden Begriff von der Relevanz „biogeografischer Herkunft“ oder auch von der allgemeinen Gefährdung der eigenen Kultur, Gesellschaft oder Zivilisation durch das Fremde spricht. Angesichts jener Entwicklung, aber auch angesichts der Tatsache, dass das diffuse Phänomen „Rassismus“ gegenüber den scheinbar konkreteren Formen des Antisemitismus, Rechtsradikalismus oder Nationalismus in Deutschland selten direkt thematisiert und reflektiert wird, erschien eine größere Ausstellung zum Thema dringend notwendig. Weder die Ausstellung noch der vorliegende Essayband erheben dabei den Anspruch, eine abschließende Erklärung des Phänomens zu liefern. Im Gegenteil geht es dem vorliegenden Band darum, ein Bewusstsein für die Komplexität des Themas zu schaffen, für seine eigene Vielfältigkeit wie für die Pluralität der Formen, in denen man es analysieren, interpretieren und mit ihm umgehen kann. Denn gerade dem Rassismus wird im Alltagsdiskurs oft der Charakter einer sehr einfachen Ideologie zugesprochen, deren An- oder Abwesenheit man ebenso leicht erkennen könne wie es möglich sei, sich davon zu distanzieren: „Ich bin kein Rassist, aber …“. Das Deutsche Hygiene-Museum in Dresden war über Jahrzehnte selbst an der Verbreitung des Rassendiskurses und von rassentheoretischem Wissen beteiligt. Eine umfassende Aufarbeitung dieses Teils der Geschichte steht bis heute aus. Im Kontext der ersten und wohl größten Internationalen Hygieneausstellung (1911) in Dresden gegründet, war das Museum im 20. Jahrhundert ein wirkungsmächtiger Produzent ideologisch geformter Menschenbilder. Bereits auf der großen Schau von 1911 gab es einen eigenen Ausstellungsabschnitt, der dezidiert der „Rassenhygiene“ gewidmet war, und auch die Gesamtausstellung war von dem Willen geprägt, die politische Relevanz des Biologischen und damit den politischen Gestaltungsanspruch der Biowissenschaften zu demonstrieren. Nach dem Ersten Weltkrieg und vor allem ab Mitte der 1920er-Jahre nahm der Themenkomplex „Vererbung und Rassenhygiene“ einen festen Platz in der Ausstellungstätigkeit des Hauses und der Lehrmittelproduktion der hauseigenen Werkstätten ein.1 Als nach 1933 Eugenik beziehungsweise Rassenhygiene zu Leitwissenschaften der NSGesundheitspolitik aufstiegen, wurde das Museum mit Ausstellungen wie Volk und Rasse (1934) oder der Reichsschau Ewiges Volk (1939), mit seiner Veranstaltungstätigkeit,2 seiner 1 Vgl. Julia Radtke 2015: Das Deutsche Hygiene-Museum und die frühe Popularisierung der Rassenhygiene. Lernen aus der Geschichte 8. http://lernen-aus-der-geschichte.de/Lernen-und-Lehren/Magazin/12621 [15. Januar 2018]. 2 So wurde am Museum eine eigene „Staatsakademie für Rassen-und Gesundheitspflege“ eingerichtet, die Weiterbildungs- und Vortragsveranstaltungen organisierte; vgl. Peter Fäßler 1998: Sozialhygiene – Rassenhygiene – Euthanasie. Volksgesundheitspflege im Raum Dresden. In: Rainer Pommerin
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Lehrmittelproduktion und seinen Publikationen zu einer bedeutenden Popularisierungsinstanz der nationalsozialistischen „Rassenlehre“.3 Und obwohl es hier personelle und thematische Kontinuitäten zur Zeit davor gab, zielte die Ausstellungsstrategie vor allem in der erfolgreichsten Gesundheitsausstellung der Nationalsozialisten, an der das Deutsche Hygiene-Museum konzeptionell federführend beteiligt war, der Ausstellung Das Wunder des Lebens in Berlin (1935), stärker als alle vorhergehenden auf eine konkrete Beeinflussung der Besucher ab, die Nazis verknüpften mit der Ausstellung einen „positiven Veränderungskoeffizienten“ der Bevölkerung.4 Nach Gründung der DDR unterstand das Museum ab 1949 direkt dem Ministerium für Gesundheitswesen, eine Verordnung von 1954 machte es zum „Zentralinstitut für medizinische Aufklärung“. Seit 1990 thematisiert das Museum systematisch seine eigene Geschichte, die Historizität seiner individuellen und kollektiven Menschenbilder, des hier produzierten Körperwissens und der propagierten Körpertechniken. Große Sonderausstellungen, die das Thema „Rasse“ und Rassismus seither bereits aufgegriffen haben, waren unter anderem Darwin und Darwinismus. Eine Ausstellung zur Natur- und Kulturgeschichte (1994), Der neue Mensch. Obsessionen des 20. Jahrhunderts (1999), Fremdkörper – Fremde Körper (1999/2000), Evolution. Wege des Lebens (2005/06), Tödliche Medizin. Rassenwahn im Nationalsozialismus (2006/07) und Das neue Deutschland. Von Migration und Vielfalt (2014). Erstmalig wird sich das Museum nun mit der Ausstellung Rassismus. Die Erfindung von Menschenrassen dem Thema systematisch und zeitübergreifend zuwenden, wobei ein eigenes Kapitel der Schau der eigenen Geschichte gewidmet sein wird.
Zum Aufbau und Inhalt des Essaybandes Ausgehend von der Geschichte des Museums, das die Propagierung einer rassistischen Ideologie vor allem in den Jahren 1933 bis 1945 an das Konzept und den Begriff der (Hg.): Dresden unterm Hakenkreuz. Köln, Weimar, Wien: Böhlau, 193–207, zur Arbeit des Deutschen Hygiene-Museums besonders 199–204. 3 Vgl. dazu jüngst Sebastian Weinert 2017: Den Körper im Blick. Gesundheitsausstellungen vom späten Kaiserreich bis zum Nationalsozialismus (Ordnungssysteme. Studien zur Ideengeschichte der Neuzeit, Bd. 50). Berlin: de Gruyter, 79–97. Dass bei der Vermittlung ideologischer Inhalte stark der „Spieltrieb“ und das Unterhaltungsbedürfnis der Besucher in den szenografischen Arrangements genutzt wurden, hat zuletzt Michael Tymkiw in der Analyse der Ausstellung Wunder des Lebens gezeigt, vgl. ders. 2015: Den Körper spielerisch erkunden. Die Ausstellung Das Wunder des Lebens 1935 in Berlin und ihr Nachleben. In: Sybilla Nikolow (Hg.): Erkenne dich selbst! Strategien der Sichtbarmachung des Körpers im 20. Jahrhundert (Schriften des Deutschen Hygiene-Museums Dresden, Bd. 11). Köln, Weimar, Wien: Böhlau, 320–342. 4 Weinert 2017: 79.
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„Rasse“ gebunden hatte, bestand das Ziel der Tagung darin, Strukturlogiken und den Strukturwandel des Rassismus zu rekonstruieren und dessen Wirksamkeit bis heute auch noch dort zu zeigen, wo von „Rassen“, „Rassenmerkmalen“ oder „rassischer Minderwertigkeit“ schon längst nicht mehr die Rede ist, Ausgrenzung aber weiterhin entlang ehemals „rassisch“ genannter Unterscheidungen stattfindet und biopolitisch begründet wird. Die Gliederung des Essaybandes folgt der Grundidee der Dresdner Tagung von 2015, die Geschichte des Rassismus gerade nicht anhand bestimmter Opfergruppen zu erzählen und zu exemplifizieren und diese damit unweigerlich in Konkurrenz zueinander zu bringen. Dem Band liegt stattdessen der Anspruch zugrunde, Rassismus als eine historisch wandelbare Ideologie aufzuzeigen und jene Rationalitäten, Begründungsformen und Legitimierungsweisen offenzulegen, die den Rassismus zeitlich und räumlich je unterschiedlich funktionieren ließen und ihn eben deshalb so langlebig machen. Historisch gesehen sind diese Begründungsformen rassistischer Praxis höchst vielfältig, lassen sich aber doch vor allem drei thematischen Feldern zuteilen: Wissenschaft und Technik; Herrschaft, Politik und Ökonomie sowie Religion, Kultur und Gesellschaft. Die Herausgeber_innen haben sich zudem dafür entschieden, den thematisch gegliederten Beiträgen einen theoretischen Einführungsteil voranzustellen, in dem die Geschichte des Rassenbegriffs verfolgt wird und der zwei Texte zur Rassismusanalyse enthält. Diese ebenso wie die folgenden Texte beanspruchen nicht, das Thema Rassismus und seine Erforschung vollständig oder auch nur repräsentativ wiederzugeben. Vielmehr wurden sie nach Maßgabe der Frage ausgewählt, ob sie ein wichtiges Feld der Rassismusforschung verständlich und nachvollziehbar darstellen und zugleich so präsentieren, dass sie die gegenwärtige Relevanz des jeweils behandelten Themas aufzeigen. Zudem wurde darauf geachtet, Positionen aus möglichst verschiedenen Forschungstraditionen zusammenzustellen, sodass in diesen unterschiedlichen Sichtweisen das übergreifend Gemeinsame des Phänomens deutlich wird.
Rassenbegriff und Rassismusanalyse Das Reden von „Rassen“ suggeriert meist, dass es sich dabei um klar definierbare, wissenschaftlich bewiesene und einfach herauszufindende Größen oder Einheiten handele. Wer ein wenig genauer hinschaut, stellt fest, dass „Rasse“ einer der semantisch am wenigsten eindeutigen Begriffe unserer Sprache ist, dessen Bedeutungsfeld sich von genetischen Merkmalen tief im Zellinneren einzelner Körper bis zur „menschlichen Rasse“ als Ganzes erstreckt und von dem zugleich behauptet wird, dass er mit allem, was dazwischen liegt, irgendwie (aber entscheidend) zu tun habe: von der Familie bis
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zur Nation und von der Kultur ganzer Gruppen bis zur Intelligenz Einzelner. Dem Rassismus aber gelingt es immer wieder, diese Bedeutungsvielfalt seiner eigenen Begrifflichkeit in ihre universale Anwendbarkeit zu übersetzen und so als einfaches, sich geradezu selbst plausibilisierendes Weltbild aufzutreten. Umso wichtiger ist daher auch die theoretische Reflexion der in diesem Band zu diskutierenden Begriffe, Konzepte, Ideologien und Praktiken. Dabei geht es nicht nur um wissenschaftliche Einordnung und theoretisches Spezialwissen, sondern darum, die politische Relevanz und soziale Wirklichkeit des Phänomens durch eine Beleuchtung seines begrifflichen und theoretischen Hintergrunds verständlicher zu machen. In seiner einleitenden Geschichte des Rassenbegriffs macht Christian Geulen deutlich, dass der neuzeitliche Begriff der „Rasse“ zu keinem Zeitpunkt unabhängig von seiner ideologischen Funktion existierte, die darin bestand, gesellschaftliche Ungleichheitsverhältnisse sowie politische, kulturelle und soziale Unterscheidungen herzustellen, zu rechtfertigen und ihnen eine pseudonatürliche Grundlage zu verleihen. Geulen verweist darauf, wie sich die Vorstellung einer vormals starren Zuordnung zu einer bestimmten „Rasse“ unter dem Einfluss des Entwicklungsgedankens der Evolutionstheorie auflöste und der Idee der „Züchtung“, der gezielten Formung und steuernden Herstellung gewünschter „Rassen“ wich. Mit Blick auf die Gegenwart zeigt Geulen, wie sich Bedeutungen, die ursprünglich mit dem Begriff der „Rasse“ verbunden waren, heute unter Vermeidung des Wortes „Rasse“ mit anderen Begriffen, Ideen und Denkweisen verbinden wie „Kultur“, „Volk“, „Identität“ oder „Lebensform“. Die beiden folgenden Beiträge, von Manuela Bojadžijev und Mark Terkessidis, verweisen in je eigener Weise auf das immer noch bestehende Desiderat einer befriedigenden theoretischen Bestimmung des Phänomens Rassismus. Die Schwierigkeit einer solchen Bestimmung liegt darin, dass sie heute zum einen ohne den Begriff der „Rasse“ auskommen und zum anderen angesichts sich wandelnder Erscheinungsformen gleiche Strukturelemente erkennbar werden lassen muss. In beiden Texten wird der Bedarf an einer Theorie des Rassismus betont, die auf der Ebene einer Gesellschaftstheorie verortet sein muss – jenseits der historisch spezifischen Formen des Rassismus und der je zugehörigen subjektiven Erfahrungen. Manuela Bojadžijev arbeitet in ihrem Text die historischen Kontexte von zwei Ansätzen für eine kritische Rassismustheorie in Deutschland heraus: Zum einen nimmt sie den transnationalen Austausch zwischen Großbritannien und Deutschland während der 1970er- und 1980er-Jahre in den Blick, den sie an der wechselseitigen Rezeption der Arbeiten des Centre for Contemporary Cultural Studies in Birmingham unter Leitung von Stuart Hall und den Publikationen der Arbeitsgruppe Ideologie-Theorie um Wolfgang Fritz Haug im Argument-Verlag darstellt. Diesem Austausch verdankt sich eine Rassismusanalyse, die Elemente der Kapitalismus- und Ideologiekritik einschließt und die in
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einem größeren Rahmen der Erneuerung marxistischer Theorie im Projekt einer Neuen Linken zu verstehen ist. Zum anderen rekonstruiert Bojadžijev die Ansätze der „Gegenstandsgewinnung“ einer eigenständigen Rassismustheorie und -analyse, wie sie in den 1990er-Jahren vom Institut für Sozialforschung in Frankfurt am Main betrieben wurde und gegen konkurrierende Analysekategorien wie „gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit“, „Desintegration“ oder „Fremdenfeindlichkeit“ durchgesetzt werden musste. Der Beitrag von Mark Terkessidis betont die systemische, metasubjektive Komponente des Rassismus: Rassismus ist nicht das Ergebnis einiger verirrter und intentional rassistisch handelnder Einzelner, sondern er ist als meist implizites Wissen den gesellschaftlichen Vollzügen vorgängig und dem kollektiven Selbstverständnis eingeschrieben. Im Anschluss an Robert Miles kommt Terkessidis zu einer Bestimmung des Rassismus, den er durch die drei Prozesse der Rassifizierung, der Ausgrenzungspraxis und des Vorhandenseins einer differenzierenden Macht charakterisiert sieht. Ihr Zusammenwirken konstituiert den „‚Apparat‘ des Rassismus“, der sich historisch in verschiedenen Formen und Institutionen konkretisiert, dessen Analyse sich aber niemals auf die Beschäftigung mit eben jenen singulären Erscheinungsformen reduzieren darf, weil man dann seinen systemischen Charakter verkennt. Jakob Tanner schließlich skizziert in seinem Interviewbeitrag noch einmal eindrücklich das vielfältige Bedeutungsspektrum der Begriffe „Rasse“ und race, Rassismus und racism sowie die komplexen semantischen Beziehungen zwischen ihnen. Dabei geht es keineswegs nur um begriffsgeschichtliches Spezialwissen. Vielmehr verdeutlicht Tanner, wie eng Bedeutungsvarianten und semantische Transfers mit politischen Positionen und ideologischen Verschiebungen in der wissenschaftlichen wie alltäglichen Wahrnehmung von Rassismus zusammenhängen. Unserem Umgang mit Differenz eine endgültige und definitive Form zu geben, wie es der Rassismus selbst auf seine Weise immer wieder versucht, hält Tanner nicht zuletzt vor dem Hintergrund des historischen Wandels von Differenzen und Differenzwahrnehmungen weder für möglich noch für erstrebenswert. Nach diesem begriffsgeschichtlichen und rassismustheoretischen Einleitungsteil folgt der Band einer Gliederung in diejenigen gesellschaftlichen Felder, aus denen historische und aktuelle Rassismen jeweils ihre Begründungsformen zogen und ziehen.
Wissenschaft und Technik Seit der Frühen Neuzeit waren es vor allem die Wissenschaften, die das Wissen von „Rassen“ erzeugten, transformierten, plausibilisierten und gesellschaftlichen Ordnungsmodellen als Begründung zur Verfügung stellten. Methoden der „Rassenmanipulation“ und „Verbesserung“, wie sie von der Rassenforschung und Eugenik propagiert wurden,
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haben zudem immer auch eine technische Seite, die auf die Umwandlung des „rassischen“ Wissens in anwendbare Verfahrensweisen politischer (Hygiene) oder direkt sozialtechnologischer Art („Rassenzüchtung“ oder auch „Rassennivellierung“) abhebt. Die moderne Genetik hat zwar die biologische Nachweisbarkeit von „Rassen“ generell in Zweifel gezogen, entwickelt mit der Epigenetik oder derzeit auch in der forensischen Genetik wieder Steuerungsmechanismen und Kontrollphantasmen, die an frühere eugenische Verfahren anzuschließen scheinen. Für den Versuch, menschliche Vielfalt zu ordnen und genetische Variation zu bestimmen, weist Veronika Lipphardt in dem mit ihr geführten Interview auf die problematischen Kontinuitäten hinsichtlich bestimmter Methoden und Fragestellungen von der Rassenforschung und Eugenik bis zur heutigen Populationsgenetik hin. Sie macht auf die Möglichkeiten des Missbrauchs aufmerksam, die in Verfahren wie der biologischen Sample- und Gruppenbildung durch Isolierung bestimmter genetischer Merkmale liegen. Während heute einerseits klar ist, dass sich Menschen in maximal 0,1 Prozent ihrer DNA überhaupt unterscheiden und diese Unterschiede äußerst komplex und dynamisch sind, versprechen moderne genetische Verfahren andererseits eine eindeutige Klassifizierung dieser Unterschiede anhand von Merkmalen wie den Ancestry Informative Markers, die eine eindeutige Zuordnung von Menschen zu einer Herkunftsgruppe ermöglichen sollen. Verfahren der biogeographischen Herkunftsbestimmung erweisen sich jedoch als methodisch äußerst voraussetzungsreich: Die Screenings geben als ethnische und/oder geographische Herkunft nur aus, was vorher durch Selbstauskunft der Nutzer oder Fremdzuweisung durch Dritte in das System eingegeben wurde. Stefan Kühl verdeutlicht in seinem Beitrag einmal mehr, dass Rassenforschung und Eugenik keinen wissenschaftlichen „deutschen Sonderweg“ bildeten, sondern in nahezu allen westlichen Ländern betrieben wurden und dass die führenden deutschen Eugeniker nicht etwa – wie wir es uns heute vielleicht wünschen würden – einsame Irre waren, sondern in ihrer Zunft international anerkannt. Sie publizierten in internationalen Fachzeitschriften und waren federführend auf ihrem Gebiet. Wie Kühl zeigt, hatte das Ende der Eugenik in Deutschland nach 1945 vor allem politische Gründe, während ähnliche Forschungen in anderen Ländern wie den USA und Schweden bis in die 1960er-Jahre und darüber hinaus fortgesetzt wurden. Auf die Ambivalenzen und Widerständigkeiten einer vermeintlich eindeutigen rassistischen Differenzierung und damit auf die Kontingenz jeder rassifizierenden Zuschreibung macht Manuela Bauche in ihrem Beitrag aufmerksam. Sie zeigt am Beispiel der Gesundheits- und Siedlungspolitik der deutschen Kolonialverwaltung im kamerunischen Douala eindrucksvoll die Verflechtung von medizinischem Wissen, rassifizierender Praxis und den Technologien der Übersetzung von rassistischem Wissen in sichtbare Raumordnungen: So sollten räumlich getrennte Stadtviertel in Douala sowohl die rassistische
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Differenzierung der Gesellschaft in „Afrikaner“ und „Europäer“ augenfällig machen als auch, der rassistischen Logik von „Afrikanern“ als Infektionsquellen folgend, medizinisch präventiv wirken. Anhand von drei Grenzfällen – den „bürgerlichen Afrikanern“, den „unbürgerlichen Europäern“ und den „Goanesen“ – legt Bauche nun allerdings die Unmöglichkeit dieser starren Zuordnungen dar und damit zugleich, wie sich in solchen rassifizierenden Praktiken biologische Merkmale mit Kriterien der sozialen Klasse und mit kulturellen Vorannahmen überschnitten, gegenseitig verstärkten, aber auch einander konterkarierten.
Herrschaft, Politik und Ökonomie Die unter dieser Überschrift versammelten Texte sind eng mit dem Feld von „Wissenschaft und Technik“ verknüpft, denn das in den Wissenschaften erzeugte Wissen über „Rassen“ und „Kulturen“, über „Politik“, „Ökonomie“ und „Verwaltung“ wurde im Interesse eines bestimmten Herrschaftshandelns und -anspruchs erzeugt und fand nicht zuletzt in kolonialen Räumen praktische Anwendung. Mit der zentralen Frage, warum sich ab dem 19. Jahrhundert die Klassifikation von Menschen in „Rassen“ als zentrales Ordnungsprinzip von Vielfalt und gesellschaftlicher Hierarchien vom Westen aus global durchsetzen konnte, beschäftigt sich der Text von Frank Dikötter. Ausgehend von der Beobachtung, dass Rassismus in unterschiedlichen Weltregionen verschiedene Formen angenommen und Wirkungen erzielt hat, plädiert Dikötter für ein „interaktives“ Modell der Aneignung von Rassismen. Der ohnehin schon vielstimmige und heterogene westliche Rassendiskurs sei jeweils auf regionale Denk traditionen und Politikformen lokaler Akteure getroffen, die ihn ihrerseits aktiv interpretierten, veränderten und anpassten. Diese Form der komplexen interaktiven Aneignung (oder auch Zurückweisung) rassistischer Denksysteme zeigt Dikötter am Beispiel Chinas, der Bakongo sowie der Hutu und Tutsi. Andreas Eckert skizziert in seinem Aufsatz Stationen der eher zögerlichen Aufarbeitung der eigenen kolonialen Vergangenheit durch die europäischen Staaten auf wissenschaftlicher wie politischer Ebene. Am Beispiel der deutschen Auseinandersetzung mit der eigenen Kolonialgeschichte von der Weimarer Republik bis heute diskutiert er die historischen, wissenschaftlichen und politischen Konstellationen und Kalküle, die eine solche Aufarbeitung entweder behindert oder begünstigt haben. Die in der Wissenschaft mittlerweile anerkannte Tatsache, dass es sich beim Krieg der „Schutztruppen“ gegen Nama und Herero um einen Genozid handelte, hat es bis heute schwer, in Politik und Gesellschaft (und hier vor allem gegen etablierte Leitnarrative wie den Mythos
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der „gütigen deutschen Kolonialherrschaft“) mit allen Konsequenzen für materielle und symbolische Entschädigungen durchgesetzt zu werden.
Religion, Kultur und Gesellschaft Religiöse Begründungsformen von „Rassen“ und Rassenverhältnissen entwickelten sich in Korrespondenz zu säkularen Rassismen von den ersten Vorstellungen einer „Reinheit des Blutes“ im Spanien der Reconquista über antisemitische und antimuslimische Auffassungen im christlichen Weltbild bis zur heutigen Konstellation, in der fast alle Religionsgruppen in Krisenzeiten immer auch als „Rassen“ angesprochen und verfolgt werden können. In dieser Tradition stehen heute ebenso jene Erscheinungsformen des Rassismus, die sich primär an kultureller (und weniger direkt biologischer) Differenz entzünden. Die hier versammelten Texte und Interviews analysieren Formen von Rassismus in der deutschen und europäischen Gegenwartsgesellschaft, die durch Einwanderung und zunehmende kulturelle Diversität charakterisiert ist. So beschreibt Naika Foroutan in dem mit ihr geführten Interview einen die postmigrantische Gesellschaft charakterisierenden Rassismus, dessen Hauptmerkmal die Pluralitätsabwehr ist. In dieser Sicht befinden sich Anhänger rechtspopulistischer Bewegungen, die sich gegen Einwanderung, Heterogenität und damit verbundene Ambivalenzen positionieren, in einer unverkennbaren Nähe zu anderen Formen der Homogenitätsverehrung etwa bei radikalen Salafisten, die den angeblich „wahren“ Glauben von jeder Ambivalenz und Pluralität „rein“ halten wollen. Das Verhältnis von Antisemitismus und Rassismus analysiert Sina Arnold in ihrem Beitrag mit Blick auf die heutige postmigrantische Gesellschaft. Obwohl der Antisemitismus eine Form des Rassismus darstellt, unterscheidet er sich doch grundlegend von anderen Rassismen, ist als eigenständiges ideologisches Phänomen zu verstehen und geht nicht in einem antijüdischen Rassismus auf. Dieser ist vielmehr eine historisch spezifische Spielart des Antisemitismus, zu der in unserer durch Pluralität geprägten Gesellschaft neue Formen und Träger hinzutreten. Dabei kommt es zu bemerkenswerten neuen Allianzen und Gegnerschaften: So finden sich Teile der muslimischen Bevölkerung mit Gruppen der europäischen Linken in einer „Israel-Kritik“ zusammen, die die Form eines antisemitischen Antizionismus annehmen kann. Über die antikolonialen und antiimperialen Argumente dieser Kritik können Antisemitismus und Antirassismus auf eine gemeinsame Seite der Auseinandersetzung geraten. Spiegelbildlich zu diesem antirassistischen Antisemitismus identifiziert Arnold den anti-antisemitischen Rassismus bestimmter rechtspopulistischer Kreise, der die Verteidigung jüdischen Lebens mit anti-
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muslimischen Invektiven verbindet. Um eine Opferkonkurrenz von Betroffenen eines antisemitischen oder/und antimuslimischen Rassismus zu vermeiden, plädiert Arnold für aktivistische wie akademische Allianzen gegen beide Rassismen der Migrationsgesellschaft. Formen und Funktionsweisen eines „Rassismus ohne Rassen“ legt Yasemin Shooman am Beispiel des antimuslimischen Rassismus in Deutschland heute offen. Die von ihr analysierten Zuschriften an muslimische Verbände zeigen dabei nicht nur eine Verwechslung von Ethnizität und Religion, sondern lassen sich als Beispiele für eine Rassifizierung von Religionszugehörigkeit anführen, durch die Religion ebenso essenzialistisch und deterministisch gedacht wird wie in biologistischen Rassenkonzepten Hautfarbe und Blut (oder die Gene). Wiederkehrende, meist unreflektiert verwendete Topoi des antimuslimischen Rassismus in Briefen an unterschiedliche Adressaten weisen zudem auf ein gesellschaftlich verbreitetes antimuslimisches Wissen hin, das als Alltagswissen den Absendern zur Verfügung steht. Wie bei zahlreichen anderen Rassismen haben auch die hier analysierten antimuslimischen Topoi und Narrative die Funktion, eine „Wir“Gruppe von „den anderen“ abzugrenzen, in diesem Fall Angehörigen des muslimischen Glaubens die Zugehörigkeit zur deutschen beziehungsweise westlichen Gesellschaft abzusprechen. Im letzten Interview des Bandes setzt sich Nilüfer Göle noch einmal mit den besonderen Herausforderungen einer pluralen westlichen Gesellschaft auseinander. Sie plädiert dafür, öffentliche Räume als „inklusive Öffentlichkeit“ neu zu erfinden. Hier sollen konfliktbehaftete Themen etwa zwischen dem Islam und der westlichen Welt neu verhandelt werden. Dies würde einen Verzicht sowohl auf hegemoniale Diskurspositionen als auch auf absolute Wahrheitsansprüche erfordern. Populismus und Terrorismus sieht Göle aktuell als die größten Herausforderungen für das dafür notwendige gegenseitige Vertrauensverhältnis. Beide bewirken derzeit eher eine „Schließung“ der westlichen Gesellschaft, die die Form ihrer Identitätsbildung von laufender Selbstkritik in der Tradition der Aufklärung auf „affirmative Anerkennung der eigenen Identität“ umgestellt hat und statt auf Pluralität, demokratischen Diskurs und Repräsentativität auf Homogenität und Nativität zu setzen scheint. Vor diesem Hintergrund sieht Göle das Verschwinden des Rassenbegriffs aus allen öffentlichen Diskursen auch eher kritisch, weil mit ihm eine Gebrauchsform des Begriffs zu verschwinden droht, die ihn in der Tradition antikolonialer Emanzipationsbewegungen als Medium der Kritik benutzte, um die Verhältnisse als das zu bezeichnen, was sie waren: als rassistisch! Die hier versammelten Texte zeigen nicht zuletzt, dass zu den großen Ideologien der Moderne, die bis heute nicht vergehen wollen, auch und in besonderem Maße der Rassismus gehört. Und das, obwohl im vorliegenden Band viele und umfassende Beispiele und Kontexte ausgelassen wurden – etwa die Geschichte und Aktualität des US-ame-
Das Phantom „Rasse“. Zur Geschichte und Wirkungsmacht von Rassismus. Eine Einleitung
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rikanischen Rassismus, die Rassismusdebatten in Australien oder Südamerika, die Geschichte des Apartheidregimes in Südafrika und seine bis heute nachwirkenden Folgen oder auch die Frage, welche vormodernen Formen des Rassismus es gab. Doch nicht wissenschaftliche Vollständigkeit ist der Anspruch dieser Essaysammlung, sondern sie will zum kritischen Denken anregen. Es wäre fatal, sollten sich Rassisten und Antirassisten am Ende primär darin unterscheiden, dass die einen das Reden von der „Rasse“ für wahr und die anderen für gelogen halten, während man sich einig wähnt, über das Gleiche zu reden. Die Meinungsbildung über Rassismus wäre dann genau das, was der Rassismus selbst im Kern ist und immer schon war: eine Machtfrage. Aufklärung über den Rassismus, ebenso wie über andere Ideologien, sollte sich daher vor allem auf jene impliziten Annahmen und Behauptungen richten, die Ideologien wie den Rassismus trotz aller Kritik und wider alle Vernunft immer wieder zu plausibilisieren suchen, indem sie sich gängigen, keineswegs von vornherein rassistischen Annahmen und Wahrnehmungen in Politik, Wissenschaft und Alltag anverwandeln. Zu dieser Art von Aufklärung über eine der gefährlichsten Ideologien unserer Zeit möchte dieser Band einen Beitrag leisten.
RASSENBEGRIFF UND RASSISMUSTHEORIE
Christian Geulen
Der Rassenbegriff Ein kurzer Abriss seiner Geschichte
Christian Geulen ist Historiker. Er ist Professor für Neuere und Neueste Geschichte an der Universität Koblenz-Landau. In seinen Forschungen befasst er sich mit Geschichte politische Ideologien (Rassismus, Nationalismus, Imperialismus), mit der modernen Wissens- und Begriffsgeschichte sowie mit der Historischen Semantik des Politischen im 20. Jahrhundert.
Der Begriff der „Rasse“ existiert seit etwa einem halben Jahrtausend. Heute ist er, zumindest im Deutschen und in anderen westeuropäischen Sprachen, zunehmend tabuisiert. Aus zwei guten Gründen: zum einen weil niemand, kein Wissenschaftler und kein Politiker, je präzise benennen kann, was genau als „Rasse“ zu bezeichnen sei. Der Begriff war immer schon eine willkürliche Nomenklatur, die in der Welt, in der Natur oder unter den Menschen nie eine verlässliche empirische Entsprechung hatte. Selbst dort, wo wir ihn bis heute in relativer Präzision und Unschuld verwenden, nämlich mit Blick auf unsere Haus- und Nutztiere, bezeichnen wir mit ihm gerade keine vorgegebene Naturordnung, sondern das, was erst wir Menschen an Naturformen geschaffen haben. Zum Zweiten hatte der Rassenbegriff fast immer eine ideologische Funktion: Er rechtfertigte die gewalttätige Ausgrenzung bestimmter Menschengruppen oder rief zu ihr auf. Gerade weil er im Prinzip willkürlich verwendbar ist, zugleich aber den Anspruch vertritt, etwas Natürlich-Objektives zu bezeichnen, ist er der vielleicht ideologieträchtigste Begriff, den die Neuzeit hervorgebracht hat. Sein impliziter Verweis auf eine natürliche Ordnung macht ihn zu einem Legitimations- und Begründungsbegriff, der Menschengruppen fundamental voneinander abgrenzt. Insbesondere seitdem es die moderne Vorstellung von der einen, universalen Menschheit gibt und sich parallel zu ihr das Spektrum jener Begriffe herausbildete, mit denen wir ihre partikulare Unterteilung markieren (Nation, Volk, Kultur, Ethnie, Gesellschaft, Klasse, Geschlecht etc.), hat sich der Rassenbegriff immer wieder in diese Partikularideen eingeschrieben, sich ihnen anverwandelt, um solchen eigentlich politischen, kulturellen und sozialen Unterscheidungen eine pseudonatürliche Grundlage und Legitimation zu verleihen.
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Denn sein Bezug auf eine vermeintlich objektive Natur versieht das von ihm Bezeichnete mit einer ebenso universalen Geltung, wie sie der Menschheitsbegriff besitzt. Im Unterschied zu diesem meint er aber nie das Ganze, sondern immer nur seine innere Teilung und Differenzierung. Der Idee einer universalen Gleichheit setzt der Rassenbegriff in perfekter Symmetrie die Vorstellung einer ebenso universalen Differenz entgegen: Jeder Mensch – so seine implizite Annahme – gehört einer „Rasse“ an, zählt mit bestimmten, „natürlichen“ Merkmalen zu einer Gruppe und unterscheidet sich dadurch von einer anderen. In „Rassen“ zu denken ist die einfachste, radikalste und daher auch gefährlichste Art, Partikularität zu denken. Im Folgenden wird die Geschichte dieses Rassenbegriffs skizziert und werden die wesentlichen Verschiebungen seiner Bedeutung im Laufe der Neuzeit nachgezeichnet, um verständlich zu machen, wie ein Begriff, der ursprünglich allein in der Pferdezucht gebraucht wurde, im Laufe der Zeit eine so grundlegende und gefährliche Rolle in der Selbstverständigung der Moderne spielen konnte. Dabei wird sich herausstellen, dass der Begriff nach und nach eine zunehmende Abstraktion und Flexibilisierung erfuhr, die heute dazu führt, dass seine Rolle zunehmend von anderen Begriffen, Ideen und Denkweisen übernommen wird, sich seine Bedeutung also unabhängig vom Wortgebrauch fortsetzt. Schließlich muss einleitend noch betont werden, dass dieser kurze Abriss bewusst eine sehr eurozentrische Geschichte erzählt. Sowohl Rezeptionen als auch eigenständige Begriffsentwicklungen außerhalb Europas und Nordamerikas werden hier nicht behandelt (dieser Band enthält andere Texte, die eben das thematisieren, vgl. etwa den Beitrag von Frank Dikötter). Zum einen ist dies dem hier verlangten Umfang geschuldet; zum anderen aber soll damit auch unterstrichen werden, dass der Rassenbegriff von Europäern in die Welt gebracht wurde und dass es ebenso Europäer waren, die in seinem Namen die meisten und destruktivsten Formen der Gewalt ausübten. Was immer außereuropäische Kulturen an eigenen oder auch übernommenen, auf „Rassen“ bezogenen Ausgrenzungsvorstellungen und Anfeindungspraktiken entwickelt haben, ist historisch kaum vergleichbar mit den Folgen, die der Rassenbegriff im Kontext der europäischen Expansion und der europäischen Totalitarismen hatte.
Beschreibung, Ordnung und Hierarchie: 1500–1800 Abgeleitet von dem arabischen Wort raz (Kopf, Anführer, Ursprung) sowie dem lateinischen radix (Wurzel) war der Begriff „Rasse“ zunächst in der Pferdezucht gebräuchlich und wurde im Spätmittelalter vereinzelt auch schon verwendet, um die Macht und Nobilität einer adligen Familie zu umschreiben. In ähnlicher Weise wird im Deutschen
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bis heute das Adjektiv „rassig“ im Sinne von „edel“ für die Charakterisierung von Personen ebenso wie von Sportwagen verwendet. Schon in dieser ältesten Bedeutung zeichnete sich der Begriff dadurch aus, von Erscheinungsweisen Eigenschaften abzulesen. Zum ersten Mal auf eine Menschengruppe angewandt wurde der Rassenbegriff aber erst in Spanien gegen Ende der Reconquista, der „Rückeroberung“ des seit dem 8. Jahrhundert arabisch beherrschten Gebietes durch die Kirche und katholische Königtümer vom Norden der Iberischen Halbinsel aus. Dieser sich bis ins frühe 16. Jahrhundert erstreckende Prozess der Rekatholisierung hatte zwar primär die Vertreibung der Muslime zum Ziel, betraf aber ebenso die in Spanien in großer Zahl ansässigen Juden, die im Hochmittelalter mit den arabischen „Mauren“ und den ebenfalls nicht wenigen Christen ein relativ friedlich funktionierendes, multireligiöses Gemeinwesen unter arabischer Vorherrschaft gebildet hatten. Gegen Ende der Reconquista verschärfte sich die Ablehnung nichtchristlicher Religionen zu der 1492 formal beschlossenen Vision, ein einheitliches und rein katholisches Spanien zu kreieren. Schon in den Jahrzehnten und Jahrhunderten zuvor waren zahlreiche Mauren und Juden aus Selbstschutz zum Christentum übergegangen, während andere erst unter massivem Druck zu diesem Schritt bereit waren. Zudem gab es viele, die nur formal konvertierten, während sie faktisch an ihren alten Glaubenspraktiken festhielten. Die neuen christlichen Machthaber standen also einer weithin multikulturellen Bevölkerung gegenüber und sahen zugleich im bloßen Glaubensbekenntnis kein verlässliches Zugehörigkeitskriterium mehr. Um die 1492 beschlossenen Maßnahmen zur Zwangsbekehrung effektiv durchzuführen, teilten sie die Bevölkerung daher nicht nur nach Religionszugehörigkeiten, sondern jetzt auch danach ein, seit wie vielen Generationen sich eine Familie bereits zum christlichen Glauben bekannte und ihn auch praktizierte. Neben das alte christliche Konzept einer „Reinheit des Glaubens“ trat nun die Idee einer „Reinheit des Blutes“ als zunehmend wichtigeres Zugehörigkeitskriterium. Die sich daraus ergebenden Gruppen wurden „Rassen“ genannt. Hier, am Beginn der Geschichte des neuzeitlichen Rassenbegriffs, zeigt sich bereits eine seiner wichtigsten Funktionen: Er stiftete, oder genauer: er erfand eine „natürliche“ Ordnung dort, wo sozial, politisch, religiös oder kulturell Unordnung herrschte. Es war vor allem dieser Effekt, der den Rassenbegriff nach seiner ersten Verwendungsweise in Spanien rasch über ganz Europa verbreitete. Zunächst wurde er vor allem vom Adelsstand aufgegriffen, sowohl zur Selbst- und Fremdkennzeichnung von Familien und Dynastien als auch später zur Unterscheidung des alten dynastischen „Blutadels“ vom neuzeitlichen „Amtsadel“, wie ihn vor allem der Absolutismus einführte. Doch auch regionale oder lokale Volksgruppen, Religionsgemeinschaften und Stände wurden schon in der Frühen Neuzeit als „Rassen“ beschrieben – in den meisten Fällen allerdings primär
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in bloßer Unterscheidungsabsicht und mit Blick auf die Eigenschaften und Erscheinungsweisen einer Gruppe, deutlich seltener, um zwischen Gruppen eine Hierarchie oder Feindschaft zu begründen. Ganz anders sah das außerhalb Europas aus. Als die europäischen Eroberer in Amerika, Afrika und Asien auf eine ungeheure Vielfalt von Kulturen und Völkerschaften stießen, bot sich der Rassenbegriff an, um diese Vielfalt einerseits, etwa durch die Erfindung von „Stämmen“, zu ordnen und andererseits eine die eigene Gewaltpraxis legitimierende, hierarchische Fundamentalunterscheidung zwischen den außereuropäischen Völkern und dem christlichen Europa zu behaupten. Beides hatte Folgen, die noch unsere Gegenwart bestimmen. Alles Reden von der Globalisierung kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Weltordnung und die meisten sogenannten Weltprobleme von heute ihre primäre historische Ursache in der europäischen Expansion haben. Und diese wiederum stützte sich von ihren Anfängen bis weit in die Phase der Dekolonisierung hinein ganz massiv auf die legitimierenden, begründenden und oftmals auch radikalisierenden Funktionen des Rassenbegriffs. Dennoch muss konstatiert werden, dass dieser Begriff bis zur Epoche der Aufklärung nie den Status eines echten Ideologems annahm und die Ungleichheit zwischen Menschengruppen weniger begründete als beschrieb. Denn einer wirklichen Begründung bedurfte Ungleichbehandlung in der noch ständischen und christlich-göttlichen Weltordnung der Frühen Neuzeit nach deren Selbstverständnis ebenso wenig wie die Ausbeutung und Versklavung außereuropäischer, unchristlicher „Barbaren“. Das änderte sich erst, als Naturrecht, Naturgeschichte und schließlich auch die Naturwissenschaft den Rassenbegriff in einen völlig neuen, modern-säkularen Kontext stellten. Denn erst als Humanismus, Naturrecht und Aufklärung aus dem christlichen Menschheitsverständnis das säkulare Konzept einer universalen Menschheit entwarfen – teils philosophisch als moralische Norm, oft aber auch als Gattungsbegriff verstanden –, bedurften die faktischen Differenzierungen, Ungleichheiten und Ungleichbehandlungen zwischen Menschen einer neuen Begründung. Innerhalb Europas war es vor allem der Begriff der Nation, der diese Rolle übernahm, als Bezeichnung für ein politisch und/ oder kulturell zusammengehörendes „Stück Menschheit“, der seinerseits die ebenfalls neue Idee einer Volkssouveränität konkretisierte. Was aber nicht in diese Kategorien passte und zugleich die Fundamentaldifferenz zwischen Europa und dem Rest der Welt unter der Bedingung einer universal gedachten Menschheit aufrechterhalten sollte, wurde nun dem Bedeutungsfeld des Rassenbegriffs überantwortet. Erst jetzt wurde er rational-wissenschaftlich begründet, zu einer Kategorie der natürlichen und daher ewigen Menschheitsordnung erklärt und erhielt seine primär legitimierende Funktion durch die Hierarchisierung dieser Ordnung. So entstanden im 18. Jahrhundert und im Kontext der Fortschrittsidee die ersten, nach Hautfarbe sortier-
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ten und mit bestimmten, vor allem klimatisch begründeten Eigenschaften verbundenen Einteilungen der Menschheit in weiße, gelbe, rote, braune und schwarze „Rassen“. Dabei befanden sich die weißen Europäer grundsätzlich an der Spitze und die bereits seit Jahrhunderten deportierten und versklavten Afrikaner grundsätzlich am unteren Ende dieser Hierarchien. Trotz aller Verfeinerung jener Modelle durch Biologie, Völkerkunde und Anthropologie änderte sich an ihrer die globale Ungleichheit legitimierenden Funktion kaum etwas. Denn letztlich gab die faktisch praktizierte Ungleichbehandlung der theoretischen Rassenordnung ihre konkrete Form vor – und nicht umgekehrt. Eine erstaunliche Flexibilität zeigte dieser neue, pseudowissenschaftliche Rassenbegriff aber schon hier, im späten 18. und frühen 19. Jahrhundert, insofern er sich bereits früh von der biogeografischen Einteilung der ganzen Menschheit auch auf die sozialen und kulturellen Differenzen innerhalb der einzelnen Gesellschaften übertragen ließ. So wurden Religionsgemeinschaften wie das Judentum oder auch die im Zuge der Industrialisierung entstehenden neuen sozialen Unterschichten vom gebildeten Bürgertum bisweilen in den gleichen „rassischen“ Kategorien beschrieben wie die kolonisierten Völker. Diese Rückübertragung eines Konzepts, das die entdeckte und eroberte Welt als Ganzes ordnen sollte, auf die Binnendifferenzierung der europäischen und später aller anderen Gesellschaften, ist ein weiteres bis heute nachwirkendes Erbe des Rassenbegriffs. Es hatte nicht zuletzt zur Folge, dass seitdem jede politisch-staatliche Gemeinschaftsordnung unter Verweis auf angebliche Widersprüche zu „natürlichen“ Zugehörigkeiten delegitimiert und destabilisiert werden kann – mit separatistischen ebenso wie mit imperial ausgreifenden und mit ein- wie ausschließenden Effekten.
Kampf, Züchtung und Vernichtung: 1800–1945 Dennoch blieb der Rassenbegriff bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts – gerade in seiner Funktion, Ungleichheit und Ungleichbehandlung durch Verweis auf eine ewige, „natürliche“ Hierarchie zu legitimieren – ein primär deskriptives Konzept. Eine wiederum ganz neue Flexibilität und Dynamik entwickelte er, als der Gedanke sich durchsetzte, dass die Natur, auf die man sich berief, überhaupt nicht ewig ist; dass die Naturformen, die Arten, Spezies und „Rassen“ einem laufenden Wandel unterliegen. Diese Vorstellung war im Prinzip schon im Entwicklungsgedanken des aufklärerischen Fortschritts angelegt, entfaltete ihre volle Wirkung für den Rassenbegriff aber erst im Evolutionismus. Zwei ebenso klar unterscheidbare wie sich oftmals vermischende Erklärungen für diesen Wandel hat das 19. Jahrhundert hervorgebracht: zum einen die Vorstellung, dass sich Rassen durch den direkten Einfluss der Umwelt veränderten, der zunächst im Individuum neue körperliche und mentale Eigenschaften hervorbringe, die ihrerseits dann an die
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Nachkommen weitergegeben würden. Diese Idee entstammte den Klimatheorien der Aufklärung, wurde von dem französischen Biologen Jean-Baptiste de Lamarck um den Faktor der „Vererbung erworbener Eigenschaften“ ergänzt und spielt bis heute immer dort eine Rolle, wo die Vision einer Kontrolle und Manipulation des Evolutionsprozesses durch Eingriff in die Umwelt verfolgt wird. Zum anderen entwickelte vor allem Charles Darwin die Idee, dass die Evolution einer solchen direkten Umweltbeeinflussung gar nicht bedürfe. Denn aus darwinistischer Sicht findet die Veränderung körperlicher Eigenschaften zufällig statt (Mutation) und erst das Verhältnis zwischen einer neuen Eigenschaft und den jeweiligen Lebensbedingungen sowie der andauernde struggle for existence entscheiden darüber, ob diese neue Eigenschaft dem Überleben des Individuums, seinen Reproduktionschancen und damit der Art nützt oder nicht – sich also durchsetzt oder verschwindet. Wissenschaftlich gilt heute der Darwinismus als die plausibelste Erklärung der Evolution, doch kehrt die Frage, ob nicht doch ergänzende, lamarckistische Mechanismen nachweisbar seien, regelmäßig wieder. Von der Mitte des 19. bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts war dieser Streit völlig offen und beide Evolutionsmodelle leisteten den gleichen Beitrag zu einem weiteren und fatalen Schritt bei der Entwicklung des Rassenbegriffs. Denn mit der übergreifenden Idee einer Veränderbarkeit der „Rassen“ bildeten diese keine fixe, „natürliche“ Ordnung mehr, mit der sich Machtverhältnisse und Ausgrenzungspraktiken rechtfertigen ließen. Die Zukunft der rassenhierarchischen Ordnung war offen und musste sich erst im Laufe der evolutionären Entwicklung erweisen. Für diese wiederum sah Darwin den alltäglichen Überlebenskampf der „Rassen“ als die zentrale Determinante an, die über Aufstieg und Untergang der „Rassen“ entscheide – während Lamarck die sich in den körperlichen Eigenschaften jener „Rassen“ niederschlagende Umwelt zum entscheidenden Faktor erklärt hatte, was rasch in die Möglichkeit einer gezielten Erzeugung von Rassen mit gewünschten Eigenschaften übersetzt wurde. Mit diesen Denkfiguren von „Kampf “ und „Züchtung“ gewann der Rassenbegriff eine völlig neue Dynamik und neue ideologische Funktionen. Jetzt rechtfertigte er nicht mehr nachträglich historisch entstandene Machtordnungen, sondern vorausblickend die Praktiken ihrer Herstellung und Durchsetzung. Die Zukunft der eigenen „Rasse“ war nicht mehr von Natur aus gesichert, sondern musste durch die gleichen Mechanismen, wie sie evolutionstheoretisch in der Natur am Werk waren, praktisch garantiert werden. Die natürliche Sicherheit, mit der sich Europa seit dem 18. Jahrhundert an der Spitze der Weltordnung gesehen hatte, war ausgerechnet jetzt, in der Phase seiner scheinbar unumstrittenen hochimperialen Vorherrschaft, mit Blick auf die Zukunft massiv infrage gestellt. Spätestens als sich die Einsicht verbreitete, dass der Expansionsvorgang ins „Unbekannte“ abgeschlossen war, sich die Imperialmächte in zunehmender Konkurrenz zueinander befanden und zugleich die ersten Anzeichen
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eines antikolonialen Aufbegehrens auf die Möglichkeit eines Niedergangs der europäischen Vorherrschaft verwiesen, wurden „Kampf “ und „Züchtung“ zu den beherrschenden Themen der jetzt vielfältig sich ausbreitenden Rassentheorien. Ein Großteil der extremen Gewalt, mit der die europäischen Mächte seit dem späten 19. Jahrhundert in ihren Kolonien und Einflusszonen geringste Formen des Aufbegehrens niederschlugen, wurde im Horizont dieser Denkfiguren des evolutionistischen Rassenbegriffs legitimiert und begründet. Zunehmend wurde auch die sich ebenfalls radikalisierende soziale Frage innerhalb der europäischen Industriegesellschaften zum Objekt einer rassenbiologischen Auslegung gemacht. Eugenische und rassenhygienische Visionen einer Befriedung gesellschaftlicher Konflikte durch Züchtung eines einheitlichen „Volkskörpers“ griffen um sich und der soziale Klassenkampf im Kapitalismus wurde zu einem biologischen Überlebenskampf umgedeutet, den nur die „Stärksten“ überleben. Unerwünschte körperliche Eigenschaften, Behinderungen oder geringe Intelligenz sollten durch die Verhinderung ihrer biologischen Reproduktion und durch die bewusste Vervielfältigung und Höherzüchtung erwünschter Eigenschaften bekämpft und langfristig ausgerottet werden. Zwar blieben die meisten dieser Programme Visionen, doch viele Staaten setzten Einzelnes, etwa die Zwangssterilisierung behinderter oder als asozial deklarierter Menschen, schon zu Beginn des 20. Jahrhunderts in die Praxis um. Auch hieran zeigt sich, dass der Begriff der „Rasse“ seine gesamte ordnungsstiftende Stabilität und Statik verlor und fast nur noch als ein Prinzip des „Rassenkampfs“ und der „Rassenerzeugung“ gedacht wurde. Man kann den Schock, den die Einsicht in diese prinzipielle Instabilität aller Naturund Rassenordnungen im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert auslöste, kaum überschätzen. Dabei ist er weder Darwin noch Lamarck noch dem Evolutionismus allein anzulasten. Der Imperialismus und die Klassenkonflikte wären auch ohne die Evolutionsidee am Ende des 19. Jahrhunderts in eine Eskalationsschleife geraten. Doch stellte der Evolutionismus den obsessiv nach Legitimierungen und Rationalisierungen suchenden Zeitgenossen eine Wahrnehmungs- und Denkweise zur Verfügung, die durch ihre Betonung der prinzipiellen Instabilität, des dauernden Konflikts und der möglichen Erzeugbarkeit der „Rassen“ Öl ins Feuer goss. Denn was immer die evolutionistische Rassentheorie an scheinbar optimistischen Szenarien der Herstellung einer einheitlichen Welt ohne Gebrechen, Krankheit und Konflikt bereithielt, war grundsätzlich mit dem vorausgegangenen, jenen Zustand erst herbeiführenden Prozess der Vernichtung des Unerwünschten oder „Unwerten“ verknüpft. Ob sich diese Herstellung von Einheitlichkeit nur auf eine ausgewählte „Rasse“ bezog, wie es die meisten dachten, oder global auf eine biotechnologische Abschaffung von Rassenunterschieden, hing eher vom visionären Maßstab ab als von grundsätzlichen Lösungsunterschieden. Eine plurale Welt jedenfalls, eine Welt der gegenseitigen Anerkennung von Partikularitäten und kollektiven
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Zugehörigkeiten, war im Rahmen des evolutionistischen Rassenbegriffs um 1900 undenkbar. Zunächst in den teils genozidalen Kolonialkriegen und schließlich im von vielen als Befreiungsschlag herbeigeredeten Ersten Weltkrieg wurde jener Aspekt der Vernichtung, den zahlreiche Rassentheoretiker schon seit Jahrzehnten wie eine harmlose evolutionäre Formel im Munde führten, in ungeahnten Formen sinnfällig. Der anschließende Versuch von Versailles, eine neue globale Ordnung der Nationen und Nationalstaaten zu etablieren, hatte zwar einen strukturbildenden Effekt auf das 20. Jahrhundert, doch brachte er keineswegs die Geltung des Rassenbegriffs und der damit verbundenen Theorien und Praktiken ins Wanken. Denn obwohl vielfach der Anspruch erhoben wurde, Nation und „Rasse“ in stabilisierender Absicht zur Deckung zu bringen, tendiert der evolutionistische Rassenbegriff strukturell dazu, jede einmal etablierte Zugehörigkeitsordnung wieder infrage zu stellen, zu untergraben oder zu überspringen. Seine Flexibilität und Dehnbarkeit (etwa in den völlig willkürlichen Konzepten des „Germanischen“, „Arischen“, „Angelsächsischen“ oder auch des „Semitischen“, „Negroiden“, „Asiatischen“) lässt eine politische Schließung von Zugehörigkeitsgrenzen, wie sie der Nationalstaat anstrebt, nicht zu. Zudem hatte sich die Einsicht in die Veränderbarkeit und Erzeugbarkeit von „Rassen“ so weit verbreitet und festgesetzt, dass Rassenzugehörigkeit schon längst nicht mehr eine Sache der Feststellung, sondern der praktischen Arbeit an der „Rassenbildung“ war. Insbesondere die Ideologie des Nationalsozialismus schaffte es, „rassische Zugehörigkeit“ und „rassenkonformes“ Verhalten zur Deckung zu bringen. Und im Rahmen der vom NS favorisierten evolutionistischen Konzepte des „Rassenkampfs“ und der „Rassenzüchtung“ hieß „rassenkonformes“ Verhalten faktisch: rassistisches Verhalten. Das ging bis zu dem Punkt, an dem der Nationalsozialismus die Vernichtung seiner Feindrassen, allen voran der jüdischen, am Ende und für viele Deutsche überzeugend als letzte und einzig mögliche Form der Herstellung und Realisierung jener eigenen „germanischen Rasse“ der Zukunft ansah. In ähnlicher Weise folgten auch die langwierigen und brutalen Kämpfe um die Dekolonisierung des Globus ebenso wie andere Konflikte um Erhalt oder Aufgabe rassenpolitischer Praktiken seit 1945 einer von Michel Foucault treffend „biopolitisch“ genannten Logik, nach der die Vernichtung des kollektiven Feindes direkt und unmittelbar als Selbststärkung des eigenen Kollektivs wahrgenommen wird. Wenngleich eine im engeren Sinne biologisch-physische Auslegung von „Vernichtung“ und „Selbststärkung“ nur in extremen Formen rassistischer Politik und Praxis vorkam, hat sich das grundlegende Strukturelement dieser Weltanschauung bis heute erhalten: in der Vorstellung nämlich, dass andere und Fremde für unser eigenes partikulares Selbstverständnis nicht nur eine Herausforderung und Konkurrenz (die unsere kapitalistische Kultur sogar begrüßt) darstellen können, sondern unsere schiere Existenz zu bedrohen scheinen. Dieses Bild einer
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existenziellen Bedrohung des Eigenen durch die bloße Anwesenheit des Fremden ist die jüngste, vielleicht aber die langfristig wirksamste Hinterlassenschaft des Rassenbegriffs. Ihr Effekt, der traditionellen Vorstellung einer natürlich gegebenen Rassenordnung die als ebenso natürlich angesehene Notwendigkeit einer rassistischen Praxis ihrer Sicherung zur Seite zu stellen, hat mit dazu beigetragen, dass heute die bloße Behauptung einer Rassenordnung nur noch wenige überzeugt, die Dringlichkeit ausgrenzender Praktiken dafür aber immer mehr Anhänger findet.
Heute Wer die hier nur grob skizzierte Geschichte des Rassenbegriffs Revue passieren lässt, stellt fest, dass dieses Konzept im Laufe der Zeit keineswegs klarer definiert wurde, sondern im Gegenteil immer abstraktere Verwendungsformen entwickelte, bis hin zu jener hohlen Formel von der grundsätzlichen Bedrohung des Eigenen durch das Fremde, die geradezu beliebig mit Inhalten gefüllt und konkretisiert werden kann. Der Rassenbegriff, ursprünglich einmal als Kategorie für die Definition und Ordnung menschlicher Variabilität gedacht, hat sich in den darauffolgenden Denkformen – von der Hierarchisierung dieser Variabilität über ihre evolutionäre Veränderbarkeit und kontrollierte Herstellbarkeit bis zu ihrer Austragung in einem ewigen „Rassenkampf ums Überleben“ – regelrecht aufgelöst. Inzwischen kommen diese sogar ohne ihn aus. In den jüngsten Formen rassistischer, nationalistischer, xenophober, rechtspopulistischer und neofaschistischer Rhetorik und Praxis taucht das Wort „Rasse“ kaum noch auf. Stattdessen ist von Kulturen, Gesellschaften, Völkern, Identitäten, Lebensformen und Lebensarten die Rede, die es durch Bekämpfung des anderen und Fremden um jeden Preis zu schützen gelte. Wer sich Beispiele dieser Rhetorik zum Beispiel in Deutschland genauer ansieht, das Wahlprogramm der AfD etwa oder Thilo Sarrazins ungemein erfolgreiches Buch Deutschland schafft sich ab (2010), der stößt auf sämtliche Denkfiguren und Vorstellungen, die hier als semantische Varianten des Rassenbegriffs skizziert wurden. Der Terminus selbst aber ist weitestgehend verschwunden. Auch die biologischen Wissenschaften, von wenigen Ausnahmen abgesehen, haben inzwischen vom Begriff der „Rasse“ Abstand genommen, experimentieren zugleich aber mit alternativen Konzepten, etwa dem der „biogeografischen Herkunft“, die im Prinzip das Gleiche meinen (vgl. den Beitrag von Veronika Lipphardt). Und schließlich gilt der Begriff auch in der politischen Mitte, im liberalen wie im linken Lager als ein solches Tabu, dass viele meinen, man solle ihn, selbst in kritischer Absicht, nicht mehr verwenden und ganz auf ihn verzichten, um damit zugleich das mit ihm Gemeinte zum Verschwinden zu bringen.
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Während also der Rassismus heutzutage auch ohne den Rassenbegriff existiert, scheint der Antirassismus – zumindest hierzulande – bewusst auf Letzteren verzichten zu wollen. Vielleicht ist es in der Tat möglich und eventuell sogar notwendig, eine Kritik des Rassismus ohne den Rassenbegriff zu entwickeln, gerade weil heute der Rassismus selbst ohne ihn auskommt. Vielleicht aber brauchen wir den Rassenbegriff auch dringend, um dort, wo der Terminus durch Abwesenheit glänzt, angeben zu können, was wirklich gemeint ist. Wann und wie immer sich diese Frage entscheiden wird – zumindest für den historischen Rückblick auf die Vorgeschichte unserer Gegenwart ist der Rassenbegriff unverzichtbar. Denn für fast drei Jahrhunderte gehörte er, mit all seinen gewalttätigen Folgen, zu den zentralen ideologischen Grundbegriffen unserer modernen Selbstverständigung.
Hannah Arendt
Rassismus und ideologisches Denken
Ideologien in ihrem Anspruch auf totale Welterklärung haben es erstens an sich, nicht das, was ist, sondern nur das, was wird, was entsteht und vergeht, zu erklären. Sie haben ein Element der Bewegung von vorneherein in sich, weil sie sich überhaupt nur mit dem sich Bewegenden befassen, also mit Geschichte im gewöhnlichen Sinne des Wortes. Ideologien sind auch dann nur auf Geschichte gerichtet, wenn sie, wie im Falle des Rassismus, scheinbar von der Natur ausgehen; Natur dient hier nur dazu, Geschichtliches zu erklären, es auf Natürliches zu reduzieren. [...] Als solches wird ideologisches Denken zweitens unabhängig von aller Erfahrung, die ihm selbst dann nichts Neues mitteilen kann, wenn das Mitzuteilende eben erst entstanden ist. Es emanzipiert sich also von der Wirklichkeit [...] und besteht ihr gegenüber auf einer „eigentlicheren“ Realität, die sich hinter diesem Gegebenen verberge, es aus dem Verborgenen beherrsche [...]. Ideologien verl[assen] sich drittens in ihrer Emanzipation des Denkens von Erfahrung und erfahrener Wirklichkeit auf das Verfahren ihrer Beweisführung selbst. Dem, was faktisch geschieht, kommt ideologisches Denken dadurch bei, daß es aus einer als sicher angenommenen Prämisse nun mit absoluter Folgerichtigkeit [...] alles Weitere deduziert. So tritt an die Seite der angeblichen Erbarmungslosigkeit der von Natur oder Geschichte die (wie Hitler zu sagen liebte) „Eiskälte“ der menschlichen Logik. Diese Logik – und nicht so sehr der ursprüngliche Gehalt der Ideologien [...] überzeugt Menschen, die sich auf ihre Erfahrungen nicht mehr verlassen wollen, weil sie sich mit ihnen in der Welt nicht mehr zurecht finden können. [...] Die große Anziehungskraft, die das dem Terror entsprechende, sich selbst deduzierende Denken auf moderne Menschen ausübt, liegt in seiner Emanzipation von Wirklichkeit und Erfahrung. Hannah Arendt: Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft (1955)
Race und „Rasse“ Politische Bedeutungen und historische Kontexte
Ein Interview mit Jakob Tanner
Jakob Tanner ist Historiker und Professor emeritus für Geschichte der Neuzeit und Schweizer Geschichte am Historischen Seminar der Universität Zürich. Zu seinen Forschungsschwerpunkten zählen die Wissens- und Wissenschaftsgeschichte, die Medizin- und Körpergeschichte (insbesondere Geschichte der Drogen und der Psychiatrie), die Wirtschafts-, Unternehmens- und Finanzgeschichte sowie die Geschichte der Schweiz im europäischen Kontext. Jakob Tanner ist Mitherausgeber der Zeitschrift Historische Anthropologie und seit 2015 Ehrendoktor der Universität Luzern.
„Rasse“ ist heute ein weitgehend tabuisierter Begriff. Dennoch scheint seine Semantik in alternativen Konzepten (in der „biogeografischen Herkunft“ der Bevölkerungstheorie und Forensik, im Gemeinschaftskonzept der „Identitären Bewegungen“ oder in Thilo Sarrazins Sorge um eine „Selbstabschaffung“ Deutschlands) sehr lebendig zu sein. Wie ist darauf zu reagieren? Sollte der Rassenbegriff strikt vermieden werden, oder brauchen wir ihn, um ihn dort auch zu benennen, wo er faktisch gemeint ist? „Rassen“ wurden im 18. Jahrhundert zu einer Obsession der Wissenschaft. Die physische Anthropologie trieb das Projekt einer „Vermessung“ des Menschen voran, welches im 19. Jahrhundert perfektioniert wurde und bis weit ins 20. Jahrhundert hinein Rassentypologien empirisch plausibilisieren sollte. Das war ein transnationales Unternehmen, das viele Forschungsressourcen mobilisierte. Heute hat es seine Kredibilität eingebüßt. Denn das Konzept der „Rasse“ ist längst kulturell gedreht worden: Es verbindet sich mit der Vorstellung einer homogenen Nation als Abstammungsgemeinschaft oder eines „Kulturkreises“ mit festen Werten und Gebräuchen. „Sage mir deine Herkunft, und ich sage dir, wer du bist“, lautet die Maxime. Solche identitären Selbstversicherungsdiskurse schüren die Angst, dass die Welt durcheinandergeraten könnte, was Ordnung und „Rein-
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heit“ gleichermaßen bedroht. Die ideale Welt wäre dann die, in der alle ein festes Zuhause unter ihresgleichen haben. Da können sie bleiben und sein, was sie sind. Mit einer solchen Tautologie lässt sich eine Statik menschlicher Großgruppen denken, die qua „ihrer Kultur“ als Rassenentitäten imaginiert werden. Das schlägt allerdings rasch in Diskriminierung um. Es zeigen sich hier zwei gegenläufige Phänomene. Zum einen die asymmetrische Geschichte des Kolonialismus und Imperialismus: Es waren Rassenvorstellungen aus Europa, die politisch operativ wurden und den Zugriff europäischer Mächte auf die Kolonialreiche und Herrschaftsgebiete legitimierten. Mit dem Nationalsozialismus, dessen weltanschaulicher Kern der Antisemitismus war, richtete sich auch der Rassismus nach innen und materialisierte sich in einer brutalen Plünderungswirtschaft im Westen und einer „Lebensraumgewinnung“ im Osten. In diesen historischen Gewaltzusammenhängen wurden Rassentheorien entwickelt und rassistische Praktiken erprobt. Zum anderen tauchte zu Beginn des 20. Jahrhunderts – in einer Zeit, in der Ismen enorm populär wurden – der Gegenbegriff „Rassismus“ auf. Dieser transportierte das Rassenkonzept ex negativo, indem er es systematisch mit Kritik und Zurückweisung verband. Der Rassismusvorwurf wird von AntirassistInnen formuliert, die sich jedoch unterschiedlich auf „Rasse“ beziehen. Wieso unterschiedlich? Das Kompositum „Antirassismus“ unterwirft den Begriff der „Rasse“ einer doppelten semantischen Operation. Zunächst wird mit „Rassismus“ eine Position markiert, die sich gegen eine Gesellschaftspolitik richtet, die zwischen verschiedenen biologisch definierten oder phänotypisch beschriebenen menschlichen Großgruppen unterscheidet beziehungsweise – was wörtlich dasselbe ist – diskriminiert. Rassismus ist ein moralischer Vorwurf gegen jene, die aus behaupteten Rassendifferenzen Bevorzugungen und Diskriminierungen ableiten. Der Antirassismus weist diese Haltung zurück. Doch die Zurückweisung stößt oft ins Leere. Denn jene, die davon ausgehen, dass die Erdbevölkerung aus verschiedenen Rassen besteht und die diesen Unterschieden zwischen den „Rassen“ mit einer für angemessen gehaltenen Ungleichbehandlung von Menschengruppen Rechnung tragen wollen, sind in der Selbstwahrnehmung keine „Rassisten“ im Sinne ihrer Kritiker. Eine solche Selbsteinbildung erwies sich allerdings häufig als instrumentell; diskriminierende Ideologien haben nur allzu oft nach einer wissenschaftlichen Legitimation gesucht, und die Rassenanthropologie hat diese geliefert. Mit viel minutiösem Messaufwand wurden „Rassen“ als epistemische Objekte validiert. Wer ihre Existenz negierte, erschien als Ignorant. Umso wichtiger war die Diagnose des Rassismus, denn mit dieser wurden entlastenden Zurechtlegungen einer von „Rassen“ bevölkerten Erde
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durchkreuzt. Antirassismus konfrontierte die Promotoren von Rassenklassifikationen mit den verheerenden Folgen ihrer Weltanschauung. In den USA wurde die Problematik des Rassismus allerdings anders diskutiert. Ja, in den USA verlief diese Geschichte anders als etwa in Deutschland. Die Sklaverei, die jahrhundertelange Ausbeutung schwarzer SklavInnen beziehungsweise von afroamerikanischen Arbeitskräften, denen Menschen- und Bürgerrechte vorenthalten wurden, hat dort die Rassenproblematik zu einem wichtigen Politikum gemacht. Das Ausblenden von race wurde als Geschichtsverdrängung interpretiert. Der Soziologe und Bürgerrechtler W.E.B. Du Bois (1868–1963), der in jungen Jahren in Berlin studiert hatte und die Problematik des europäischen Rassenkonzepts kannte, schrieb 1903: „The problem of the twentieth century is the problem of color line.“ Diese color line markierte das Rassenproblem in den USA. Anstatt die Schmelztiegel-Ideologie zu reproduzieren, forderte Du Bois eine Sichtbarmachung diskriminierender race-relations. Um das Problem der Rassensegregation und der Unterdrückung der AfroamerikanerInnen zu benennen, war der Begriff race unabdingbar. Doch darüber, welche politische Strategie die Emanzipation der Schwarzen voranbringen könnte, gab es sehr unterschiedliche Vorstellungen. Worin bestanden diese Differenzen? Es lassen sich mehrere Positionen unterscheiden. Um nur drei (allerdings politisch stilprägende) zu nennen: Der als Sklave auf einer Plantage in Virginia geborene Booker T. Washington (1856–1915) profilierte sich im ausgehenden 19. Jahrhundert als Sozialreformer, Pädagoge und Bürgerrechtler, der angesichts des noch immer schroffen Machtgefälles für einen graduellen Aufstieg der AfroamerikanerInnen durch kontinuierliche Bildungsarbeit eintrat. Für Du Bois war das viel zu leisetreterisch. Als Herausgeber der Zeitschrift The Crisis, die von der 1909 gegründeten National Association for the Advancement of Colored People (NAACP) verantwortet wird, organisierte er in den 1920erJahren vier große panafrikanische Kongresse. Die zivilrechtliche Gleichstellung war für ihn die Grundlage für die Emanzipation der schwarzen Bevölkerung. Da ließen sich keine Kompromisse machen. Diese integrationistische Position wurde wiederum vom jamaikanischen Panafrika-Aktivisten Marcus Mosiah Garvey (1887–1940) abgelehnt. Garvey gründete die Universal Negro Improvement Association (UNIA), die jede Kooperation mit den Weißen zurückwies und die Rassensegregation zum Programm erhob. In den 1930er-Jahren verschrieb sich Garvey einer politisch irrlichternden RastafariMystik; er nahm den damals aufstrebenden rassistisch-gewalttätigen Ku-Klux-Clan als legitimes Gegenüber wahr, während er „falsche Freunde“, die an eine Rassenversöhnung
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glaubten, zurückwies. Diese Standpunkte zeigen, dass race ein umkämpfter Signifikant war. Race fungierte als Konfliktkategorie, an der sich ganz unterschiedliche Befreiungsund Emanzipationsstrategien kristallisierten. Das ist heute nicht anders, wie die Auseinandersetzungen um die Bewegung „Black Lives Matter“ zeigt. Auch hier wird eine Spannung deutlich zwischen der universalistischen Forderung „All Lives Matter“ und dem partikularen Insistieren darauf, dass die Gewalt gegen AfroamerikanerInnen dermaßen dauerhaft ist, dass dieses Problem spezifisch benannt werden muss und nicht in einem allgemeinen Appell für anständige Umgangsformen zwischen allen Menschen überdeckt werden darf. Wie unterscheidet sich davon die Begriffsverwendung im deutschen Sprachraum? Hier war die Semantik umgepolt. Während es in den USA eine gesellschaftliche Diskriminierungsstruktur gab, die mit der Thematisierung der Rassenbeziehungen sichtbar und diskutierfähig gemacht werden sollte, ging es in Deutschland seit dem 19. Jahrhundert darum, die Klassenstruktur der Gesellschaft mit der Behauptung, dass es unterschiedliche „Rassen“ gäbe, zu verdunkeln. „Rasse“ tauchte hier an der Schnittstelle von wissenschaftlichen Forschungsansätzen – physische Anthropologie, Kriminalanthropologie etc. –, ideologischer Publizistik und politischer Diskriminierung auf. Der Begriff wurde theoretisch fundiert – mit aus heutiger Sicht abstrusen Annahmen und Methoden – und gleichzeitig als Kampfbegriff in diskriminierender oder auch distinguierender Absicht eingesetzt. Der populäre Schriftsteller Houston Stewart Chamberlain (1855–1927) propagierte die germanische „Herrenrasse“, die sich im organischen Überlebenskampf der Völker durchgesetzt habe und zur Beherrschung von „minderwertigen Rassen“ prädestiniert sei. „Rasse“ war die Losung für den Angriff auf die demokratische Gleichheits- und Freiheitsunterstellung der modernen Gesellschaft. Mit der Annahme von unüberbrückbaren, weil in den Körper eingeschriebenen biologischen Differenzen wurde zugleich eine mit dem egalitären Menschenbild inkompatible kollektive Hierarchie behauptet. Während race im US-amerikanischen Mainstream eine Chiffre war, um eine rechtliche Gleichstellung und demokratische Partizipation anzustreben, diente „Rasse“ in Deutschland – und in Kontinentaleuropa generell in vielen Varianten – dazu, diese Zielsetzungen zu torpedieren. Nach dem Zweiten Weltkrieg versuchten politisch korrumpierte Wissenschaftler durch den Verweis auf ihren angeblich wertneutralen Rassenbegriff ihre Mitverantwortung für die nationalsozialistischen Verbrechen zu negieren. Mit dieser anderen Wertigkeit des Wortes „Rasse“ verbanden sich im deutschen Sprachraum andere diskursive Regelmäßigkeiten, andere Möglichkeiten und Grenzen des Sagbaren.
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Wenn „race“ mit „Rasse“ übersetzt wird, findet also eine semantische Verschiebung statt? Genau, es ist wichtig, das zu sehen, weil diese Übersetzungsschwierigkeiten die transatlantische Kommunikation verkompliziert haben. Ein aktueller Blick auf ein leistungsfähiges Tool, das die relative Häufigkeit des Auftretens von Begriffen in verschiedenen Sprachen sichtbar macht, ist der google ngram-viewer. Die Graphen, die dieser produziert, zeigen, dass die Verwendung des Begriffs race im Englischen ab den 1740er-Jahren rasch ansteigt, um in der Zeit um 1800 einen ersten Höhepunkt zu erlangen. Nach einer weiteren Zunahme ab den 1820er Jahren wird um 1890 der historische Spitzenwert erreicht. Anschließend ist die Wortkurve rückläufig, ab den 1960er Jahren gegenläufig zum Begriff racism. Seit den 1980er Jahren treten beide Worte, race und racism, wieder häufiger auf. Im Deutschen steigt die Verwendung von „Rasse“ ab 1860 an, verzeichnet in den Jahren um 1900 einen weiteren Aufschwung, um dann zwischen dem Ende der 1920er- und den beginnenden 1940er-Jahren einen Höhepunkt zu erreichen. Er ist gebunden an den Aufstieg und Fall des nationalsozialistischen Regimes. In der Nachkriegszeit bricht der Begriff ein, erholt sich aber seit den 1980er Jahren wieder leicht. Gegenüber der „Anglosphäre“ zeigen sich drei signifikante Unterschiede: Erstens liegt das relative Gewicht des Wortes (im Verhältnis zum gesamten Wortschatz) im Deutschen um die Hälfte niedriger als im Englischen. Zweitens wird der Spitzenwert im Deutschen ein halbes Jahrhundert später, auf dem Zenit der Machtentfaltung des „Dritten Reiches“, erlangt. Und drittens wird im Deutschen die kritisch-polemische Kategorie „Rassismus“ in den 1990er Jahren häufiger verwendet als „Rasse“; im Englischen wird race demgegenüber fünf Mal häufiger verwendet als racism. So interessant derartige Zeitreihen sind, so deutlich muss gesagt werden, dass sie nichts über die historische Semantik, die Veränderung der Wortbedeutung und die Wertladung der Begriffe aussagen. Die Ergebnisse der ngram-Graphen unterstützen allerdings meine Überlegungen zum unterschiedlichen Wortgebrauch im deutschen und im englischen Sprachraum. Wie zeigen sich diese Unterschiede in der Geschichtswissenschaft und anderen Disziplinen? Es ist interessant zu sehen, dass die US-amerikanische feministische Theorie der 1970er Jahre von der Trias Klasse, „Rasse“ und Geschlecht ausging. 1986 kritisierte Joan W. Scott in einem bahnbrechenden Aufsatz über „Geschlecht als nützliche Kategorie der historischen Analyse“ die repetitive „litany of class, race and gender“ und öffnete den Raum für eine intersektionalistische Analyse, in der sich verschiedene Achsen und Dimensionen von Ungleichheit überlagern, verstärken oder neutralisieren. Aber selbstverständlich blieb race weiterhin eine unverzichtbare Kategorie. Diese Selbstverständlichkeit, mit der „Rasse“ auf eine Stufe mit Geschlecht und Klasse gestellt wird, ist
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im deutschen Sprachraum nicht gegeben. Zu argumentieren, dass mit „Geschlecht“ auch „Rasse“ als Kategorie der Geschichtswissenschaft aufgewertet werden müsse, hatte hier aus nachvollziehbaren Gründen einen merkwürdigen Beiklang. Anfänglich ging es denn in der deutschen Gender-Debatte auch weit stärker um die Kritik der These, die „Frauenfrage“ sei in der marxistischen Theorie der kapitalistischen Klassengesellschaft bloß ein „Nebenwiderspruch“. „Rasse“ fand im deutschen Sprachraum fast ausschließlich als historischer Eigenname, als Quellenbegriff Eingang in die historische Forschung; das gehäufte Auftreten des Begriffs war ein Indikator dafür, dass eine grundrechtlich fundierte Demokratie infrage gestellt wurde. Migration gilt als eine der größten Herausforderungen des 21. Jahrhunderts. Fördert sie die Wiederkehr von Rassenvorstellungen und Formen der rassistischen Ausgrenzung? Oder ist die gegenwärtige Rede vom Schutz vor „Überfremdung“ und vom Recht auf das Eigene nur mittelbar eine Reaktion auf Migrationsprozesse? Gesellschaften sind nie statisch, und Mobilität ist ubiquitär. Sie findet über unterschiedliche Distanzen, aus verschiedenen Motiven und in einer Vielzahl von Formen statt. Und sie löst unterschiedliche Reaktionen aus. Heute ist der Globus kommunikationstechnisch so integriert, dass das Wissen um Migrationsmöglichkeiten und Zukunftsaussichten überall zugenommen hat. Es kommt hinzu, dass das „Recht auf Bleiben“ durch Verarmungsprozesse und Klimawandel beeinträchtigt wird. Obwohl hier die Kausalitäten diffus sind, gibt es doch klare Bezüge zwischen den im internationalen Vergleich reichen Industrieländern und den Problemen von MigrantInnen. Über die Frage hinaus, ob Staaten grundsätzlich das Recht haben, Individuen (woher sie auch kommen mögen) in ihren Rechten zu beschneiden (viele PhilosophInnen bestreiten ein solches Recht), gibt es also auch eine Verantwortungsebene, die beachtet werden muss. So stellt sich die Frage, ob nicht das Prinzip einer globalen Bewegungsfreiheit oder einer internationalen Personenfreizügigkeit die angemessene Reaktion auf eine steigende grenzüberschreitende, transnationale und interkontinentale Mobilität sein müsste. Wird solches gefordert, weckt das allerdings Ängste, die heute von rechtsnationalen Bewegungen und nationalkonservativen Parteien systematisch bewirtschaftet und zu beeindruckenden Bedrohungsszenarien verdichtet werden. Migration erhält eine spezifische semantische Ladung, die sich in Metaphern wie „Flüchtlingswelle“, „Überflutetwerden“, „Fremdkörper“ und „Eindringling“ gießt. Damit sind Gefühlslagen verbunden, die ein Recycling rassistischer Diskurse aus der Vergangenheit fördern. Hat das Bedürfnis, einer Gemeinschaft anzugehören, die auch durch körperliche Merkmale markiert ist oder sich als Abstammungsgemeinschaft begreift, eine anthropologische Dimension?
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Anders gefragt: Hat es dieses Bedürfnis immer schon gegeben, und erleben wir derzeit nur seine neuen Varianten? Mit anthropologischen Konstanten lässt sich kaum argumentieren. Bedürfnisse sind nie einfach da, sie sind immer das Ergebnis einer historischen Entwicklung. Das gilt auch für jene Aktivitäten von Menschen, die häufig als „natürlich“ apostrophiert und damit aus der Geschichte herausgehoben werden wie Ernährung, Schutz, Fortpflanzung. Wie diese Geschichtlichkeit – nicht „des“ Menschen, sondern der Menschen im Plural – gedacht werden kann, lässt sich an dieser Stelle nicht weiter vertiefen. Wenn ich die Spezifik der heutigen globalen Situation beschreiben soll, so fallen zwei Punkte auf. Erstens hat die Ungleichheit im Weltmaßstab seit dem 19. Jahrhundert massiv zugenommen. Noch in den 1870er Jahren erklärte die Klassenzugehörigkeit weit mehr Unterschiede in den Lebensbedingungen als der Ort, an dem ein Mensch auf diesem Planeten lebte. Heute ist es umgekehrt. Aus diesem Sachverhalt resultiert eine Art neuer Feudalismus: Es gibt erneut ein Vorrecht der Geburt. Wer das Glück hat, in einem reichen Land geboren zu sein, glaubt daraus das Recht ableiten zu können, allen anderen die Vorzüge dieses schönen Lebens vorenthalten zu dürfen. Privilegienverteidigung („my country first“) und Grenzkontrolle steigen so zum Kernstück nationaler Politik auf. Damit hängt der zweite Punkt zusammen. Mir leuchtet die These ein, dass hier der sozialtopografisch vertikale Klassenkampf durch eine territorialtopografisch horizontale Abwehr von Fremden substituiert wurde. Im Zuge dieser „Flachlegung“ des Kampfes um soziale Besserstellung werden auch Identitätskonstruktionen umgerüstet. Das Feindbild ist nicht mehr das – wie auch immer gefasste – „Kapital“, sondern der Fremde, der Flüchtling, die „Flut von Menschen“, die alle „zu uns“ wollen. Das Wir-Gefühl des Nationalstaates imaginiert das „Volk“ als homogen. Da liegt die Analogie zur „Rassenreinheit“ nahe. Bewegungen, welche Klassenauseinandersetzungen mit völkischen Parolen stilllegen, sind allesamt obsessiv mit der „Gefahr“ einer „Vermischung“ beschäftigt. Identität wird folglich zum Gegenprinzip der Migration. Nationalstaaten, welche ihre Grenzen gegen unerwünschte Zuwanderung hochrüsten, fördern damit die Herausbildung eines kognitiv-emotionalen Ensembles, in dem verschiedenste Versatzstücke aus der europäischen Geschichte des Rassismus weithin Resonanz finden und in dem die ganze Tradition rassistischer Ausgrenzung reaktiviert werden kann. Wenn nun aber gesagt wird, dass dies eine „Reaktion“ auf Migration sei, so ist das nicht haltbar. Denn gerade die RassistInnen setzen ja auf eine „natürliche Abwehr“ gegen „Überfremdung“ und deuten den „wutbürgerlichen“ Aufstand gegen die „Masseneinwanderung“ als geradezu biologisch konditionierte Reaktion auf eine Kontaminationsgefahr und mithin als Ausdruck eines immerhin noch „gesunden Volkskörpers“. Es ist aber jederzeit möglich, die Sache auch ganz anders darzustellen und in der Migration einen Normalzustand zu sehen, der immer
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wieder faszinierende soziokulturelle Dynamiken freisetzt und in dem Chancen und Risiken kontextsensitiv diskutiert werden müssen. Gibt es einen Zusammenhang zwischen der neuen Popularität nationalistischer oder auch rassistischer Denkweisen und den heutigen medialen Kommunikationsformen? Worin bestände dieser? Könnte es sein, dass die bislang wissenschaftlich und pädagogisch vorherrschende Betonung des „konstruierten“ Charakters kollektiver Identitäten heute virtuelle Praxis geworden ist – dass Menschen also dazu tendieren, sich Identität und Zugehörigkeit einfach selbst zu erfinden? Solche Entwicklungen lassen sich feststellen. Die ganze Diskussion um echo chambers, filter bubbles und empathy walls wird allerdings kontrovers geführt. Nationen konnten in den vergangenen zwei Jahrhunderten auch deshalb so lange eine kriegerische Politik durchhalten, weil sie als Echokammern fungierten, in denen Propagandamaschinen mit hoher Effizienz zur Hochform aufliefen. So ließen sich eindimensionale Loyalitäten stabilisieren. Menschen sahen sich häufig nicht als Opfer einer transnationalen Gewaltpolitik, sondern sie wollten selbst ein Opfer bringen für „ihre“ nationale Gemeinschaft. Nationen stellten das erfolgreich so dar. Heute ist dergleichen schwieriger geworden. Die digitale Medienrevolution ermöglicht neue Kommunikationspraktiken, welche einer Zerfaserung, Fragmentierung und Fraktionierung Vorschub leisten. Gefühlssynchronisierte Erfahrungsräume, als die früher die Nationalstaaten fungierten, werden durch Differenzierungs- und Individualisierungsprozesse aufgelöst. Doch dieser Vorgang erzeugt im gleichen Moment neue Konformitätstrends und alimentiert auch Hasstiraden gegen unliebsame, als bedrohlich empfundene oder ganz einfach „fremde“ Menschen. Wenn im großen Stil Identität durch Fitness abgelöst wird, wenn Berufsprofile einer generalisierten Flexibilitätsbereitschaft weichen, dann ergeben sich neue Ausgangsbedingungen sowohl für mehr Vielfalt als auch für Massentrends. Ein technischer Determinismus existiert nicht. Es ist aber so, dass fremdenfeindliche und rechtsextreme Parteien eine hohe Social-Media-Affinität aufweisen und diese neuen Kommunikationsmedien immer wieder virtuos nutzen im Kampf gegen „Eliten“ und „Lügenpresse“. Sie vermitteln Menschen das Gefühl, Opfer anonymer Entwicklungen zu sein; sie verkörpern den Aufstand gegen eine vermeintliche Fremdbestimmung und „Überfremdung“. Sie kultivieren das Ressentiment „kleiner Leute“ und hindern diese somit daran, für linke oder liberale Parteien zu stimmen. Über soziale Medien lassen sich selbstverständlich auch andere Inhalte transportieren: Es gibt Solidaritätsgruppen, Hilfsaktionen für Flüchtlinge, Unterstützungsnetzwerke und viele weitere Initiativen, die ebenfalls eine steigende Präsenz in den sozialmedialen Kommunikationsräumen zeigen. Und dann gibt es, gleichsam unterhalb dieser politischen Polarisierung, ein riesiges Experimentier- und Suchgelände,
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das ich schlecht überblicke und in dem eine Vielzahl von persönlichen Profilierungsmöglichkeiten existiert – von Gesundheitstypologien über Konsumstile bis hin zu Geschlechtszuschreibungen. Dieses von vielen sehr ernsthaft betriebene Spiel mit Konstruktionen, die ebenso produktive Fiktionen wie ein fragiles Theater der (Ent-)Täuschungen sind, wird künftig weitere Kreise ziehen und neue Unsicherheiten hervorrufen. Keine freie Gesellschaft kann das abstellen wollen. Nochmals: Welche Rolle spielen rassistische Denkweisen und antirassistische Argumente heute? Es gibt, wie schon festgestellt, in allen europäischen Ländern das bewusste Schüren rassistischer Vorurteile durch rechtsradikale Bewegungen und Parteien, die durchaus unterschiedlich operieren und kommunizieren, die jedoch als gemeinsamen Nenner das Phantasma des bedrohlichen Fremden und, komplementär dazu, der homogenen Nation pflegen. Rassendiskurs und Nationalismus sind also durchaus „Wahlverwandte“ geblieben; es gilt aber zu sehen, dass „Rasse“ inzwischen keine zwingende Ingredienz dieser Ideologie mehr ist. Ebenso effektiv ist der Rekurs auf „Kultur“. Am anderen Ende des Definitionsspektrums wird in einem sehr weiten Sinne von einem strukturellen Rassismus gesprochen, der unter anderem Praktiken befördert, die in den USA als racial profiling kritisiert werden. Diese Praktiken haben weniger mit expliziten Haltungen und bewussten Absichten zu tun als mit oft unwillkürlichem Verhalten. Das wird als Resultat einer Sozialisation begriffen, in der „unsere Überlegenheit“ schon immer der Pfeiler des kollektiven Selbstbewusstseins gewesen sei. Dieser strukturelle Ansatz neigt allerdings zu einer Hermeneutik des Verdachts, die darauf hinausläuft, in jeder Lebensäußerung bestimmter Bevölkerungsgruppen einen Reflex von Rassismus zu sehen. Es ist dann rasch das Argument zur Hand, dass eine solche Kollektivzuschreibung rassistischer Haltungen ihrerseits rassistisch sei. Was ist von diesem Einwand zu halten? Wir stoßen hier auf ein grundlegendes Problem, das von Sozialtheoretikern wie Pierre-André Taguieff schon in den 1980er-Jahren, in den Anfängen der Diskussion um eine „multikulturelle Gesellschaft“, formuliert wurde. Antirassismus ist eine kritische Haltung und weist als solche eine polemische Struktur auf. Er ist weder kognitiv noch semantisch stabil, sondern in einer Aporie gefangen. Wenn unter Rassismus eine Assimilationspolitik verstanden wird, die bestimmten Gruppen oder Individuen das Recht auf Anderssein verwehrt und sie zur „Integration“ zwingt, so argumentiert Antirassismus von einer kommunitaristischen Warte aus und verteidigt das Recht auf traditionelle Lebensweisen und erworbene Identitäten. Wenn hingegen Rassismus als segregierende
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Diskriminierung gesehen wird, dann rekurriert die antirassistische Position auf universalistische Rechtsansprüche und auf die grundsätzliche Gleichheit der Menschen. Die beiden antirassistischen Positionen weisen also neben ihrer kritischen Kraft auch einen blinden Fleck auf. Es lassen sich damit auf der einen Seite das Recht auf religiöse oder ethnische Identität und das Festhalten an traditionellen Milieus verteidigen. Auf der anderen Seite steht das Plädoyer für Religionskritik und individuelle Selbstbestimmung. Offensichtlich passen diese beiden Präferenzen in vielen Situationen schlecht zusammen. So geraten im eigenen Verständnis antirassistische Positionen aneinander. Hier liegt ein Problem, das weiterer Klärung bedarf. Benötigen wir mehr Gleichgültigkeit – im Doppelsinne, dass verschiedene Lebensformen gleich gültig sein sollen und dass wir uns weniger aufregen sollen über Communitys, die von ihren Mitgliedern etwas fordern, das uns vielleicht irritiert? Oder sollen wir ganz einfach die Menschenrechte verteidigen und es nicht zulassen, dass irgendjemand zu irgendetwas gezwungen werden kann? In dieser dichotomen Gegenüberstellung ist die Frage wohl falsch gestellt. Wir sollten eine Problematisierung anstreben, die nicht in unproduktive Entweder-oder-Optionen hineinführt. Dasselbe gilt für die Biotechnologien. Es stellt sich die Frage, ob die Wechselwirkungen zwischen Biomacht, Biopolitik und Biomedizin auf die in der Moderne immer wieder virulenten biologischen Selektionspraktiken (und damit auf Rassismus) verweisen oder ob diese Entwicklungen anders gefasst werden können, weil biomedizinische Neuerungen keineswegs genuin rassistisch sind. Wie auch immer: Dass diese Fragen schließlich, nach vielem Nachdenken und harten Diskussionen, gelöst werden können, ist nicht zu erwarten. „Rasse“ und „Rassismus“ waren schon immer Konzepte mit einem hohen Divergenzpotenzial. Die notwendige Verständigung darüber wird möglicherweise in noch mehr Dissens führen (das Phänomen ist zum Beispiel in der Emotionsforschung bekannt). Wenn jedoch Kultur Differenz ist und wenn Differenz immer wieder in kontroversen Kommunikationsprozessen reflektiert werden muss, dann erweist sich das Ziel einer schließlichen Auflösung des Rätsels als Illusion und zudem überhaupt nicht als erstrebenswert. Das Interview führte Christian Geulen im Herbst 2017 schriftlich.
Cornel West
Race Matters
Without the presence of black people in America, European-Americans would not be white – they would be Irish, Italians, Poles, Welsh, and other engaged in class, ethnic, and gender struggles over resources and identity. Cornel West: Race Matters (1993)
Manuela Bojadžijev
Konjunkturen der Rassismustheorie in Deutschland
Manuela Bojadžijev ist Kulturwissenschaftlerin. Sie ist Professorin für „Globalisierte Kulturen“ an der Leuphana Universität Lüneburg und Mitglied des Berliner Instituts für empirische Integrations- und Migrationsforschung (BIM) der Humboldt-Universität zu Berlin. In ihren Forschungen und Publikationen befasst sie sich mit den historischen und aktuellen Konjunkturen und Theorien von Rassismus in der Einwanderungsgesellschaft; sie forscht außerdem zur Transformation von Arbeit und Migration unter digitalen und logistischen Bedingungen.1
Ausgangspunkt: Verknappung des Diskurses über Rassismus Die Verknappung des Diskurses über Rassismus in der medialen Öffentlichkeit, aber auch in vielen wissenschaftlichen Feldern war in Deutschland lange Zeit eklatant. Schon der Begriff Rassismus wurde meist vermieden, galt er doch vielen als unsachlich oder unwissenschaftlich.2 Eine Aufweichung dieser ablehnenden Haltung folgte sukzessive nach der im Jahr 2011 aufgedeckten Mordserie des Nationalsozialistischen Untergrunds (NSU) beziehungsweise des Komplexes, der die Aktivität dieses Terrornetzwerkes getragen hatte. Bei der Gedenkfeier, die von den Angehörigen der Mordopfer gefordert worden war und die im Februar 2013 in Berlin stattfand, sprach Bundeskanzlerin Angela
1 Dieser Beitrag ist eine aktualisierte und gekürzte Version des bereits veröffentlichten Textes: Manuela Bojadžijev 2015: Zur Entwicklung kritischer Rassismustheorie in Deutschland seit den 1980er Jahren. In: Dirk Martin, Susanne Martin und Jens Wissel (Hg.): Perspektiven und Konstellationen kritischer Theorie. Münster: Westfälisches Dampfboot, 49–71. 2 Die Problematik, dass der Rassismusbegriff die Existenz von „Rassen“ immer wieder aufruft und aktualisiert, wenngleich in der kritischen Absicht zu zeigen, dass es Gesellschaften sind, die Rassismus Geltung verschaffen und „Rassen wahr machen“, bleibt bestehen und ist Gegenstand theoretischer wie auch politischer Auseinandersetzungen. Vgl. Alex Demirović 1992: Vom Vorurteil zum Neorassismus. Das Objekt „Rassismus“ in Ideologiekritik und Ideologietheorie. In: Institut für Sozialforschung (Hg.): Aspekte der Fremdenfeindlichkeit. Beiträge zur aktuellen Diskussion. Frankfurt a.M., New York: Campus, 21–54, hier 21–23.
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Merkel explizit von Rassismus.3 Barbara John, die ehemalige Ausländerbeauftragte des Berliner Senats, die als Sachverständige für den Untersuchungsausschuss des Bundestags zum NSU bestellt war, forderte unter anderem die Gründung eines Instituts gegen Fremdenfeindlichkeit und Rassismus, wobei sie zu Protokoll gab, dass „man die Begrifflichkeiten nicht scheuen“ dürfe.4 In den Medien werden inzwischen journalistisch Fälle von Rechtsextremismus und Alltagsrassismus aufgearbeitet, und es wird den institutionellen sowie rechtlichen Grundlagen beziehungsweise Formen von Rassismus nachgegangen. Trotzdem wurde gerade im Zuge der Aufklärung der Taten des NSU offensichtlich, dass das Nicht-Reden über Rassismus eine Analyse dieser Taten massiv erschwerte.5 Institutionellen oder Alltagsrassismus in staatlichen Apparaten, in Kindergärten, Schulen und in der Wissenschaft, in der Polizei und in Sicherheitsdiensten, aber auch in Gewerkschaften und Parteien oder den Medien zu thematisieren, stieß und stößt auf eine bemerkenswerte Abwehr. Wenngleich die über Rassismus sprechenden Personen zahlreicher geworden sind und Migranten heute insgesamt eine größere öffentliche Präsenz einnehmen als noch vor zehn Jahren, ist dennoch auffällig, dass auch Letztere – in der Öffentlichkeit wohlgemerkt – tunlichst vermeiden, den Begriff Rassismus im Munde zu führen. Wissenschaftliche Studien dazu fehlen weitgehend, weil Rassismusanalyse von vornherein Unwissenschaftlichkeit vorgeworfen wird. Im Repertoire der Vorwürfe gegen ein Sprechen über Rassismus rangieren „fehlende Sachlichkeit“, „Übertreibung“ und „Moralismus“ unter den Favoriten. Dabei verlaufen die Argumente zirkulär: Denn insgesamt scheint die Mehrheitsgesellschaft davon auszugehen, dass es sich bei rassistisch motivierten Gewalt- und/oder Sprechakten im Großen und Ganzen um gesellschaftlich Unwesentliches handelt. Rassismus gilt als reduzierbar auf andere soziale, psychologische, ökonomische, kulturelle 3 Angela Merkel im Wortlaut: „Doch Intoleranz und Rassismus äußern sich keineswegs erst in Gewalt. Gefährlich sind nicht nur Extremisten. Gefährlich sind auch diejenigen, die Vorurteile schüren, die ein Klima der Verachtung erzeugen. Wie wichtig sind daher Sensibilität und ein waches Bewusstsein dafür, wann Ausgrenzung, wann Abwertung beginnt. Gleichgültigkeit und Unachtsamkeit stehen oft am Anfang eines Prozesses der schleichenden Verrohung des Geistes. Aus Worten können Taten werden. Der irische Denker Edmund Burke hat einmal gesagt – ich zitiere: ‚Für den Triumph des Bösen reicht es, wenn die Guten nichts tun.‘ Ja, Demokratie lebt vom Hinsehen, vom Mitmachen. Sie lebt davon, dass wir alle für sie einstehen, Tag für Tag und jeder an seinem Platz. Demokratie zu leben mutet uns zu, Verantwortung zu übernehmen für ein Zusammenleben in Freiheit – und damit für ein Leben in Vielfalt. Gelingt dies, kann Vielfalt ihren Reichtum zum Besten aller entfalten.“ Rede von Bundeskanzlerin Angela Merkel am 23.2.2012 im Konzerthaus am Gendarmenmarkt in Berlin. Abgedruckt in: Deutscher Bundestag 2013: Beschlussempfehlung und Bericht des 2. Untersuchungsausschusses nach Artikel 44 des Grundgesetzes. Drucksache 17/14600, 59–62, hier 62. 4 Ebd.: 823. 5 Vgl. Manuela Bojadžijev 2013: Wer von Rassismus nicht reden will. Einige Reflexionen zur aktuellen Bedeutung von Rassismus und seiner Analyse. In: Imke Schmincke und Jasmin Siri (Hg.): NSU Terror. Ermittlungen am rechten Abgrund. Bielefeld: transcript, 145–154; Heike Kleffner 2013: NSU. Rassismus, Staatsversagen und die schwierige Suche nach Wahrheit. In: Ebd.: 29–42.
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oder völlig zu vernachlässigende Faktoren, die deshalb für die politische Analyse oder für die Sozial- und Kulturwissenschaften auch unwesentliche Analysen nur unwesentliches Wissen produzierten. Tatsächlich geht es aber, so meine These, um marginalisierte Bereiche, weil sie uns an die Marginalisierung der von Rassismus Betroffenen im politischen und wissenschaftlichen Diskurs erinnern. Es geht also bei der Rassismusanalyse bislang, so ließe sich im Anschluss an Michel Foucault sagen, um unterworfenes Denken, nicht um etablierte Ideologien.
Die Etablierung der Rassismustheorie seit den 1970er- und 1980er-Jahren Die Entwicklung der Rassismustheorie in der Bundesrepublik möchte ich zunächst am Beispiel des transnationalen Austauschs über Rassismustheorie in den 1970er- und 1980erJahren zwischen Großbritannien und Deutschland nachzeichnen.6 Dass es überhaupt einen solchen Austausch gegeben hat, mag überraschen. Bei meinen Aufenthalten in Großbritannien bin ich oft der Auffassung begegnet, dass Deutschland bei der Problematisierung und der Analyse von Rassismus weit hinterherhinke, sowohl in Bezug auf seine Theoretisierung als auch in Hinsicht auf handgreifliche, rassistisch motivierte Gewalt. Ich möchte diese Vorstellung einer Verzögerung oder eines Zurückbleibens der Diskussionen über Rassismus gar nicht infrage stellen, denn ich denke, dass eine solche Einschätzung in vielen – obwohl nicht in allen – Aspekten tatsächlich zutrifft. Aber anstatt die unterschiedlichen Umstände und Bedingungen in beiden Ländern in den Vordergrund zu stellen, was einer eigenen Studie bedürfte, interessieren mich eher die Resonanzen der Debatten über Rassismus zwischen den beiden Regionen, die bis in die Gegenwart reichen. Mit Resonanzen meine ich, dass zwischen diesen Orten wesentliche Aspekte der Rassismustheorie in Übereinstimmung miteinander ausgebildet werden, wenngleich aus sich selbst heraus, das heißt artikuliert in und mit den jeweils spezifischen lokalen Bedingungen und historischen Entwicklungen. Der Austausch fand explizit und historisch manifest statt ebenso wie in Form einer gemeinsamen theoretischen Anstrengung, die ich hier anhand von zentralen Begriffen der Debatte, die ich bis heute für relevant halte, rekonstruieren möchte. Die Geschichte dieses Austauschs zwischen beiden Orten kann dabei helfen, die aktuelle Verfassung unserer Welt besser zu verstehen und uns darin zu situieren.
6 Weitere wichtige Impulse für die Entwicklung der kritischen Rassismustheorie in Deutschland stammten aus den USA, Frankreich oder Südafrika.
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Aspekte und Kriterien kritischer Rassismustheorie Ein kurzer Rückblick: Mit der Diskreditierung des biologischen Rassenkonzepts nach dem Zweiten Weltkrieg begann sich ein neuer, kultureller Rassismus zu etablieren, den Frantz Fanon bereits 1956 in seinem Vortrag „Rassismus und Kultur“ auf dem Ersten Kongress Schwarzer Schriftsteller und Künstler in Paris folgendermaßen diagnostizierte: „Der Rassismus, der sich rational, individuell, genotypisch und phänotypisch determiniert gibt, verwandelt sich in einen kulturellen Rassismus“.7 Diese These wurde ab den 1970erJahren am Centre for Contemporary Cultural Studies in Birmingham empirisch und theoretisch weiter ausgearbeitet. Zu nennen sind hier die Schriften zum kritischen Kulturalismus, zu Differenz und Alterität von Protagonisten der Cultural Studies wie Stuart Hall, Paul Gilroy, Angela McRobbie, Celia Lury, Hazel Carby, John Solomos oder Paul Willis, die die wissenschaftlichen Debatten über Rassismus bis heute prägen. Um die Arbeiten des Centre for Contemporary Cultural Studies zu charakterisieren, bietet es sich an, den Sammelband The Empire Strikes Back von 1982 herauszugreifen, der von der „Race and Politics“-Arbeitsgruppe am Centre for Contemporary Cultural Studies und mit Unterstützung sowie der beratenden Tätigkeit von Stuart Hall, dem damaligen Direktor, herausgegeben wurde. Die Einleitung von John Solomos, Bob Findlay, Simon Jones and Paul Gilroy trägt den Titel The organic crisis of British capitalism and race. The experience of the seventies und sucht Anschlüsse an den drei Jahre zuvor erschienenen Sammelband Policing the Crisis von Stuart Hall und anderen.8 Angesichts der derzeitigen Finanz- und Schuldenkrise in Europa, die sich zu einer veritablen Krise Europas verschärft hat und deren Ende bisher nicht absehbar zu sein scheint, ist es inspirierend, die Einleitung erneut zu lesen. Sie zielt nicht nur darauf ab, die wiederkehrende Krise des Kapitalismus zu konzeptualisieren, sondern auch darauf, die marxistische Theorie jenseits eines reduktionistischen Ökonomismus zu erneuern, und zwar durch die Einarbeitung einer Analyse der Kategorien „Rasse“ und Rassismus. Um „die organische Natur der Krise zu betonen, womit gemeint ist, dass es sich um ein Ergebnis eines kombinierten Effekts von ökonomischen, politischen, ideologischen und kulturellen Prozessen handelt“, wollen die Autoren „einige Diskussionen um Rasse beginnen, um zu einer umfassenderen Beschreibung zu kommen“.9 Es ist bezeichnend, dass diese „Diskussionen um Rasse“ vermittels einer kritischen Ideologietheorie den marxistischen 7 Frantz Fanon 1972: Für eine afrikanische Revolution (1964). Frankfurt a.M.: März, 39 f. 8 Centre for Contemporary Cultural Studies (Hg.) 1982: The Empire Strikes Back. London: Hutchinson. Der Band wurde 2013 in zweiter Auflage mit neuen Nachworten wiederveröffentlicht. 9 Bob Findlay, Paul Gilroy, Simon Jones und John Solomos 1982: The organic crisis of British capitalism and race. The experience of the seventies. In: Centre for Contemporary Cultural Studies 1982: 7–43, hier 9. Diese und alle folgenden Übersetzungen aus dem Englischen von der Autorin.
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Diskussionen jener Zeit nicht nur etwas hinzugefügt haben, sondern die Grundlage für ihre radikale Neuerfindung wurden. Ein wichtiger Grund dafür mag in der damit verbundenen Ausarbeitung einer Staatstheorie liegen, die unter anderem durch die Arbeiten von Nicos Poulantzas und Claus Offe inspiriert war und die zu zeigen versuchte, wie „die Krise der 70er durch Rasse gelebt wurde“.10 Ohne an dieser Stelle näher darauf eingehen zu können, erkenne ich hier einen wichtigen Hinweis für die aktuelle Notwendigkeit, Rassismus heute in einem Rahmen neu zu verstehen, der die krisenhafte Situation Europas umfasst, und dabei über die Merkmale, Konzepte und Möglichkeiten eines solchen Rahmens zu reflektieren.
Das Projekt einer Neuen Linken Die Praktiken des Austauschs über die Verfasstheit von Kapitalismus, „Rasse“ und Rassismus standen in einem größeren Rahmen eines neu definierten und sich entwickelnden linken Projekts in Westeuropa und Nordamerika, der Neuen Linken. Das Centre for Contemporary Cultural Studies befand sich innerhalb dieses Rahmens im westlichen Teil der Welt – in einer Welt, die sich in einer Blocksituation geopolitisch gegenüberstand – und es trug zu diesem heterogenen Konglomerat von sozialen und politischen Bewegung durch eine Erneuerung des marxistischen Denkens bei. Die Nachkriegsgeneration in Europa begann sich Fragen über ihre Zukunft zu stellen. In Deutschland nahmen die Proteste zunächst gegen die nukleare Aufrüstung, einschließlich der westdeutschen Frauenfriedensbewegung, in den 1950er-Jahren und später dann gegen die zivile Nutzung der Kernenergie zu, was unter anderem mit den gesellschaftlichen Konflikten um einen unverarbeiteten Faschismus in der Nachkriegsgesellschaft sowie einer antisemitischen Anschlagsserie 1959 kombiniert war.11 Dies verstetigte sich im Verlauf der 1960er-Jahre in einem Engagement für die antikolonialen Kämpfe des globalen Südens, die in den Protest gegen den Krieg in Vietnam übergingen. An der Freien Universität Berlin wurde 1961 die Ausstellung Was geht uns Algerien an? eingerichtet, die später in anderen westdeutschen Städten zu sehen sein sollte und die die Aufstände ebenso wie die Foltermethoden der französischen Kolonialmacht in Algerien zeigte. Die Ausstellung wurde zur Grundlage für einen Disput zwischen universitären und Regierungsinstitutionen und markierte einen der Anfänge der Neuen Linken.12
10 Ebd.: 26. 11 Vgl. Wolfgang Kraushaar 1996: Protest-Chronik 1949–1959. Bde. I–III. Hamburg: Rogner & Bernhard. 12 Vgl. Dorothee Weitbrecht 2012: Aufbruch in die Dritte Welt. Der Internationalismus der Studentenbewegung. Göttingen: V&R unipress.
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Wenig später legte Stuart Hall die Basis für die Rezeption der Arbeiten des Centre for Contemporary Cultural Studies in Deutschland: So erschienen drei Texte von ihm auf Deutsch in Publikationen des Argument-Verlags, wobei einer davon auf einem Interview mit ihm basierte, das 1977 im Radioprogramm des Westdeutschen Rundfunks gesendet worden war. In diesem Interview sprach Hall über die Arbeit des Centre for Contemporary Cultural Studies, insbesondere über den Einfluss von Louis Althusser und Antonio Gramsci auf die Theoriebildung sowie die Entwicklung eines kritischen Verständnisses von Kultur.13 Das Ziel der Bestrebungen Halls und seiner Mitstreiter am Centre for Contemporary Cultural Studies bestand demnach darin, über die relative Autonomie des Ideologischen, Kulturellen, Politischen und Ökonomischen in der Gesellschaft nachzudenken, ohne den Anspruch aufzugeben, diese als komplexe Einheit zu denken.14 In den anderen Beiträgen, veröffentlicht in der Zeitschrift Das Argument,15 die sich laut einem der Herausgeber, Wolfgang Fritz Haug, als „kleine Schwester“ der britischen Zeitschrift The New Left Review verstand, ging es um die Entwicklung eines neuen Verständnisses von Ideologie. Von Anfang an wollte die Zeitschrift Das Argument eine kritische Gesellschaftstheorie und einen eigenen Marxismus am Rande beziehungsweise jenseits der deutschen Wissenschaftslandschaft entwickeln, in der es zu jener Zeit kaum Ansätze zu einer kritischen Bildung und Gesellschaftsanalyse gab. Im Jahr 1977 gründete Wolfgang Fritz Haug das Projekt Ideologie-Theorie mit, eine Arbeitsgruppe, die sich zunächst vor allem mit den theoretischen Traditionen von Karl Marx und Friedrich Engels, von Antonio Gramsci, Louis Althusser sowie Stuart Hall auseinandersetzte und sich auf dieser Grundlage in einem zweiten Schritt mit einer Materialanalyse befasste.16 Zuvor hatte bereits eine intensive Diskussion über Antisemitismus und Faschismus stattgefunden, die aber konzeptuell erweitert werden musste.17 In diesem Zusammenhang gelangten Theorien zu Ideologie, Kultur und Rassismus (nicht nur) aus Großbritannien nach Deutschland.18 Für mein Verständnis jener Zeit ist der 13 Vgl. Stuart Hall 1977: Über die Arbeit des Centre for Contemporary Cultural Studies (Birmingham). Ein Gespräch mit H. Gustav Klaus. Gulliver. Deutsch-Englische Jahrbücher. 2, 54–67. Vgl. auch ders. 2016: Cultural Studies 1983. A Theoretical History. Durham, NC: Duke University Press. 14 Vgl. ebd. 15 Stuart Hall 1979: Ideologie und Wissenssoziologie. Ein historischer Abriß. In: Wolfgang Fritz Haug (Hg.): Theorien über Ideologie. Berlin: Argument-Sonderband, 130–153; ders. 1979: Über Ideologieforschung in Großbritannien. Das Argument. 118, 846–855. 16 Vgl. Projekt Ideologie-Theorie 1979: Theorien über Ideologie. Berlin: Argument-Sonderband; dass. 1980: Faschismus und Ideologie 1. Berlin: Argument; sowie dass. 1984: Die Camera obscura der Ideologie. Philosophie, Ökonomie, Wissenschaft. Drei Bereichsstudien von Stuart Hall, Wolfgang Fritz Haug und Veikko Pietilä. Berlin: Argument. 17 Vgl. Peter Schmitt-Egner 1975: Kolonialideologie im Wilhelminischen Reich. Eine Studie über Ursachen und Bedingungen des Faschismus. Lollar bei Gießen: Achenbach. 18 Vor allem Nora Räthzel besorgte später Übersetzungen von Halls Schriften für den Argument-Verlag, organisierte in Hamburg den Kongress „Rassismus und Migration in Europa“ und brachte mit Anita
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Prozess des Austausches zweier „Schulen“ der Rassismustheorie zwischen dem Centre for Contemporary Cultural Studies und den Kreisen um den Argument-Verlag zentral. Eine der „Schulen“ analysierte das historische Setting und die konkreten Ausformungen eines wissenschaftlich begründeten Rassismus des 19. Jahrhunderts im nationalsozialistischen Deutschland mit seinem expansiven Kolonialismus vor allem innerhalb Europas und war gerade einem Publikum in Deutschland darum bekannt. Die andere fußte auf der historischen Erfahrung des britischen Kolonialismus. Was beide Situationen miteinander in Verbindung setzte, war eine Einschreibung der zeitgenössischen antikolonialen und dekolonialen Kämpfe des Südens in die politischen Auseinandersetzungen des Nordens, nicht zuletzt durch den „Retorsionseffekt“ der in Europa ankommenden Migrationsbewegungen aus dem Süden. Dieser Effekt klingt im Titel von The Empire Strikes Back mit, ebenso wie er Ausdruck in den Kämpfen der Migration findet, die dazu beitrugen, das akkumulierte Wissen dieser Kämpfe in die Neue Linke des Westens (einschließlich der USA) zu übersetzen.19
Rassismus und Antirassismus Das komplexe Verständnis einer kapitalistischen Gesellschaftsformation, welches das Centre for Contemporary Cultural Studies sowie das Projekt Ideologie-Theorie vertraten, implizierte eine Abgrenzung von jeglichem orthodoxen Marxismus (und Parteikommunismus) und war zugleich mit dem ehrgeizigen Ziel einer Erneuerung des Marxismus verbunden. Das Engagement für ein kritisches Verständnis von Ideologie führte so zu einem kritischen Verständnis von Rassismus und Sexismus in kapitalistischen Gesellschaften, das die „Race and Politics Group“ am Centre for Contemporary Cultural Studies vorantreiben wollte. Paul Gilroy schrieb in seinem Beitrag „Race, Class, and Autonomy“ in The Empire Strikes Back: „Wir erkennen deutlich, dass der ideologische Status des Konzepts ‚Rasse‘ einen analytischen Nutzen hat. Es ist insbesondere die Bedeutungslosigkeit, die uns beständig auf die Konstruktion, Mobilisierung und Relevanz verschiedener Formen rassistischer Ideologie und Strukturierung in spezifischen historischen Verhältnissen verweist. Wir müssen die Rolle dieser Ideologien in der komplexen Artikulation von Klassen in Gesellschaftsformationen untersuchen und uns bemühen, die Bedingungen aufzudecken, die der Konstitution von ‚schwarzen‘ Menschen in Politik, Ideologie und Ökologie zugrunde liegen. Aus diesem Grund kann es auch keine Kalpaka 1994 das Buch Die Schwierigkeit, nicht rassistisch zu sein. Rassismus in Politik, Kultur und Alltag heraus. Köln: Dreisam (Wiederauflage 2017). 19 Für die Bundesrepublik vgl. Manuela Bojadžijev 2008: Die windige Internationale. Rassismus und Kämpfe der Migration. Münster: Westfälisches Dampfboot.
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allgemeine Theorie von ‚Rasse‘ oder ‚Rassenbeziehungen‘ geben, sondern nur die historische Resonanz rassistischer Ideologien und einen spezifischen ideologischen Kampf mit Mitteln, durch die reale strukturelle Phänomene im Prisma von ‚Rasse‘ verkannt und entstellt werden.“ Diese Absage an eine allumfassende Theorie des Rassismus fand zehn Jahre später ein Echo bei Wolfgang Fritz Haug, wenn dieser vor dem Hintergrund des erstarkenden Nationalismus und Rassismus nach der Vereinigung der beiden deutschen Staaten davor warnte, dem Wort Rassismus eine mythische Bedeutung zuzuschreiben und die Problematik des Universalismus zu ignorieren.20 Als einer der Protagonisten, die dabei halfen, die Diskussionen über Rassismus aus Großbritannien nach Deutschland zu tragen, war ihm ganz offenbar klar, dass „wir im Transfer von Theoremen Vorsicht walten lassen müssen“.21 Wenn man die Ausrichtung des Centre for Contemporary Cultural Studies und des Projektes Ideologie-Theorie vergleicht, lässt sich feststellen, dass am Centre vornehmlich die Modalitäten von Handlungsfähigkeit betrachtet wurden, während sich das Projekt Ideologie-Theorie stärker auf die Aspekte von Herrschaft konzentrierte. Für beide „Schulen“ der Rassismustheorie ging es vor allem um die Konzepte von und die Stärkung des Antirassismus in einer kritischen Perspektive auf Rassismus. In seiner Diskussion von Valentin N. Vološinovs Buch Marxismus und Sprachphilosophie (das russischsprachige Original erschien 1929, eine englische und eine deutsche Übersetzung wurden erst 1973 beziehungsweise 1975 publiziert) in The Emprie Strikes Back definiert Paul Gilroy Antirassismus als eine Praxis, die „den Status von sichtbaren Unterschieden, die als rassisch gekennzeichnet sind, hinterfragt“. Er beginnt damit, ein Verständnis von Rassismus vorzubereiten, das er später unter dem Titel Against Race. Imagining Political Culture Beyond the Color Line22 ausarbeiten sollte. 1982 diagnostiziert er, dass Antirassismus dort Gewicht erhalte, wo „die Unterdrückten die Kategorien ihrer Unterdrückung negieren, indem sie aufzeigen, wie diese Kategorien Orte und Grenzen des Klassenkampfs in der Ideologie markieren, dort, wo sie Kulturen des Widerstands schaffen“. Ein paar Jahre später, als beziehe er sich direkt darauf, schreibt Haug, Hall23 zitierend: „So wenig wie es den Rassismus als solchen ‚gibt‘, gibt es den Antirassismus, ‚sondern es gibt ihn immer nur, soweit er politisch hergestellt wird‘ […]. Das führt zur Frage nach der ‚Politik‘ 20 Vgl. Wolfgang Fritz Haug 1992: Zur Dialektik des Anti-Rassismus. Erkundungen auf einem Feld voller Fallstricke. Das Argument. 191, 27–52; auch Étienne Balibar 1994: Racism as Universalism. In: Ders.: Masses, Classes, Ideas. Studies on Politics and Philosophy before and after Marx. New York, London: Routledge, 191–204. 21 Haug 1992: 32. 22 Vgl. Paul Gilroy 2002: Against Race. Imagining Political Culture Beyond the Color Line. Harvard: Harvard University Press. 23 Vgl. Stuart Hall 1989: Rassismus als ideologischer Diskurs. Das Argument 178, 913–21, hier 915.
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dieser Herstellung: Was tun wir, wenn wir bestimmte Problematiken als Rassismus definieren und dabei unterschiedliche Merkmale bündeln und vereinheitlichend deuten? […] Das Verhältnis ist verschachtelt: Der Antirassist konstruiert den Rassisten als einen, der Rasse konstruiert. Wir müssen aufpassen, daß wir in dieser Schachtel nicht steckenbleiben, während der Rassist sogar die Diskursposition des Antirassisten formal einnehmen kann.“24 In seinen Überlegungen bezieht sich Haug auch auf den bemerkenswerten, 1986 erschienenen Text Varieties of Marxist conceptions of ‚race’, class and the state: a critical analysis von John Solomos.25 Dieser Aufsatz, der noch im selben Jahr ins Deutsche übersetzt wurde, verfolgt eine Definition von Rassismus, die weder theoretisch noch politisch reduktionistisch ist, sondern die Grundlage für eine Kombination von Marxismus und Rassismusanalyse legt, die wieder aktuell wurde, als 1989 Rasse, Klasse, Nation. Ambivalente Identitäten von Étienne Balibar und Immanuel Wallerstein im französischen Original erschien.
Das Konzept der Artikulation Der gemeinsame Ausgangspunkt von Centre for Contemporary Cultural Studies und Projekt Ideologie-Theorie war eine Vorstellung, nach der alles Wissen zwar ins Historische eingelassen ist, aber von kategorialen Voraussetzungen abhängt, die ihm Konsistenz verleihen. Um das theoretisch zu entwickeln, begannen sie ein Konzept von Artikulation auszuarbeiten. Dieses wird in der Einleitung zu The Empire Strikes Back bestimmt als „ein Konzept, das bedeutet, dass Rasse verschiedene Elemente der organischen Krise und die Weise, in der sie erfahren werden, zusammenbringt, aber auch, dass es auf politischer und ideologischer Ebene spezifischen Formen der Kontrolle, die auf schwarze Menschen zielen, Ausdruck verleiht“.26 Die Vorstellung der Artikulation diente dazu, die Analyse von Klassenverhältnissen in einem breiten gesellschaftlichen Kontext zu operationalisieren, um die kontingente und heterogene Verfasstheit des Sozialen zu analysieren. Die Arbeiten von Louis Althusser, Étienne Balibar, Gilles Deleuze und Félix Guattari in Frankreich, Ernesto Laclau und Stuart Hall in Großbritannien und Alex Demirović, Jürgen Link, Nora Räthzel sowie Jost Müller in Deutschland sind mit diesem Ansatz verbunden, bei allen Unterschieden zwischen ihnen, die ich hier nicht ausführen kann. Die Ausarbeitung des Konzepts der Artikulation bedeutete eine, man könnte 24 Haug 1992: 32. 25 Vgl. John Solomos 1986: Spielarten der marxistischen Konzepte von „Rasse“, Klasse und Staat. Eine kritische Betrachtung. Peripherie. 24, 7–28. 26 Findlay, Gilroy, Jones und Solomos 1982: 26.
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sagen: „häretische Operation“ an den Grenzen marxistischen Denkens, ohne die Vorstellung einer umfassenden Vergesellschaftung durch den Kapitalismus aufzugeben. Es überrascht also nicht, dass der Band The Empire Strikes Back als Resultat der Artikulation von verschiedenen diskursiven Elementen, materiellen Praktiken und historischer Verankerung ein Versuch war, die Verbindung zwischen britischem Kapitalismus und „Rasse“ zu konzeptualisieren. Der Begriff der Artikulation fand zugleich an mehreren Orten Resonanz und war ganz offenbar in der Lage, epochale Probleme, sowohl politischer als auch konzeptueller Natur, mit denen sich viele konfrontiert sahen, aufzugreifen und übersetzbar zu machen, insofern er die Multiplizität wie die Singularität von Situationen als Ressource der Analyse begriff. Ich bin davon überzeugt, dass die Ausarbeitung des Konzepts des „europäischen Rassismus“, von dem Balibar spricht,27 auf diesen früheren Anstrengungen aufbaut und zwei Formationen miteinander artikuliert: Die eine reflektiert die koloniale und faschistische Vergangenheit, die Europa produziert und geformt hat; die andere verweist auf den Widerstand, auf den Kolonialismus und Faschismus in der Geschichte Europas trafen. Es ist die Herausstellung der Komplexität und Heterogenität des Sozialen im historischen Kontext der Europäisierung, die dabei geholfen hat und hilft, die Entwicklung der Rassismen in Europa zu verstehen, ohne die Sicht auf die spezifischen Artikulationen zu verlieren. Insbesondere in Zeiten, in denen das europäische Projekt eine Intensivierung von Krise und Krisenmanagement erlebt, könnte eine mögliche neue materialistische Fundierung der Debatten über „Rasse“ und Rassismus enorm von einer Wiederaufnahme nicht nur dieser Debatten aus den 1970er- und 1980erJahren profitieren, sondern auch von den Diskussionen der 1990er-Jahre, in denen Alex Demirović eine zentrale Rolle einnimmt.
Die Rassismusdiskussion der 1990er-Jahre am Beispiel von Arbeiten des Instituts für Sozialforschung in Frankfurt am Main Anfang der 1990er-Jahre veröffentlichte das Institut für Sozialforschung (IfS) als Erstes in Deutschland eine Reihe von empirischen und theoretischen Arbeiten zum Thema Rechtsextremismus und Rassismus.28 Darunter war eine Untersuchung zu rassistischen Einstellungen unter qualifizierten Dienstleistungsangestellten in Frankfurt am Main, einer Stadt, die sich nicht nur als multikulturell begriff, sondern die auch als erste deut27 Étienne Balibar 2009: Europe as Borderland. Environment and Planning, D. Society and Space. 27, 190– 215. 28 Vgl. Institut für Sozialforschung 1992: Aspekte der Fremdenfeindlichkeit. Beiträge zur aktuellen Diskussion. Frankfurt a.M., New York: Campus; dass. 1994: Rechtsextremismus und Fremdenfeindlichkeit. Studien zur aktuellen Entwicklung. Frankfurt a.M., New York: Campus.
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sche Stadt ein solches Selbstverständnis im Amt für multikulturelle Angelegenheiten seit 1989 institutionell verankert hatte.29 Eine andere Studie widmete sich den Konflikten zwischen deutschen und migrantischen Angestellten bei der Müllabfuhr30 und bei einer weiteren ging es um die Grenzen staatlicher Interventionsmöglichkeiten gegen rechtsextreme Tendenzen bei der Polizei.31 Im Frühsommer 1993 begann eine am Institut angesiedelte Arbeitsgruppe um Alex Demirović sich mit der Frage auseinanderzusetzen, ob die Neue Rechte, die sich in den 1980er-Jahren auf der Basis einer intensiven Auseinandersetzung mit Theorien der Linken in kritischer Distanz zu den älteren rechten Gruppierungen formiert hatte,32 sich popularisieren und Zugang zu intellektuellen Milieus in Deutschland finden könnte. Daraus entstand ein von Alex Demirović und Gerd Paul geleitetes Forschungsprojekt zu rechtem Denken und demokratischem Selbstverständnis unter Studierenden an hessischen Hochschulen.33 Angesichts des Erstarkens von Nationalismus, Rechtsradikalismus und Rassismus im Zuge der Vereinigung der beiden deutschen Staaten und der Pogrome in Hoyerswerda, Rostock und anderswo sah sich das in der Tradition der Kritischen Theorie stehende und im hier betrachteten diskursiven Feld durch seine Arbeiten zum Antisemitismus ausgewiesene Institut herausgefordert, einen „Beitrag zur Aufklärung über Ursachen und Wirkungen zu leisten“.34 Zu jener Zeit stand das Institut damit in der Wissenschaftslandschaft in Deutschland, wenngleich es vergleichsweise früh damit begonnen hatte, nicht allein – auch anderswo wurden Kongresse organisiert, Forschungsprojekte durchgeführt und Beiträge zur Diskussion veröffentlicht.35 Eines der zentralen Anliegen des Instituts – und vor allem von Demirović – bestand darin, sich um eine begriffliche Klärung zu bemühen, um überhaupt von Rassismus sprechen zu können. Der Begriff unterstand einem Tabu und es war von Ausländer- und Fremdenfeindlichkeit beziehungsweise „gruppenbezogener Menschen-
29 Vgl. Sabine Grimm und Klaus Ronneberger 1994: Weltstadt und Nationalstaat. Frankfurter Dienstleistungsangestellte äußern sich zur multikulturellen Gesellschaft. In: Institut für Sozialforschung 1994: 91–128. 30 Vgl. Thomas von Freyberg 1994: Ausländerfeindlichkeit am Arbeitsplatz. Zur Untersuchung ethnischer Konflikte zwischen deutschen und ausländischen Beschäftigten. In Ebd.: 129–166. 31 Vgl. Hans-Gerd Jaschke 1994: Rechtsextremismus, Fremdenfeindlichkeit und die Polizei. In: Ebd.: 167–210. 32 Vgl. Alex Demirović 1994: Rechtsextremismus in der Bundesrepublik. In: Ebd.: 29–58. 33 Vgl. Alex Demirović und Gerd Paul 1994: Eliten gegen die Demokratie? Studierende zwischen demokratischem Selbstverständnis und rechtsextremen Ideologien. In: Ebd.: 59–90; dies. 1996: Demokratisches Selbstverständnis und die Herausforderung von rechts. Student und Politik in den neunziger Jahren. Frankfurt a.M., New York: Campus. 34 Instiutut für Sozialforschung 1994: 9. 35 Zentrale Orte der wissenschaftlichen Diskussion waren das Duisburger Institut für Sprach- und Sozialforschung, das Hamburger Institut für Sozialforschung und der Kreis um den Sozialwissenschaftler Wilhelm Heitmeyer in Bielefeld.
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feindlichkeit“ und „Desintegration“ die Rede.36 Hintergrund war eine leidenschaftlich geführte, manchmal konfliktive Debatte über den Gegenstand der Forschung sowohl in Bezug auf die konzeptuelle Analyse als auch in Hinsicht auf das Konzept konkreter Untersuchungen. Es ging um die Herausarbeitung und Positionierung neuer Forschungsagenden des Instituts für Sozialforschung, mit anderen Worten um die Frage, ob Rassismus eine Kategorie gesellschaftlicher Analyse sein solle, welche Auswirkungen Rassismus in Politik, Gesellschaft sowie Kultur habe und welchen Einfluss ein gegen Migranten, Flüchtlinge und Illegalisierte gerichteter Rassismus auf die gesellschaftlichen Verhältnisse in der Demokratie habe. Ein zentraler Aspekt der Auseinandersetzung war die – bis heute aktuelle – Diskussion über ein essenzialistisches beziehungsweise antiessenzialistisches Verständnis von „Rasse“ und Ethnie, wobei das jeweilige Verständnis Implikationen nicht nur auf die Konzeption von Analysen und Forschung hatte, sondern auch auf Politiken des Antirassismus. Das mag in Deutschland unter anderem damit zusammenhängen, dass die Auseinandersetzung um Rassismus sowie Antirassismus im Zeichen der nationalsozialistischen Vergangenheit und des Antisemitismus stand, wenngleich im zeitgenössischen Kontext Arbeitsmigration und seit den 1980er-Jahren vor allem Flucht maßgeblich waren.37 So setzten sich Analysen zur Konstruktion von Ethnizität mit den Möglichkeiten und Grenzen der Analogie zu Antisemitismus und zu Prozessen der Rassialisierung auseinander,38 bezeichnenderweise existiert aber bis heute kein begriffliches Äquivalent von Rassismus im Verhältnis zu Ethnizität. Vielmehr entschied man sich auch hier dafür, den Begriff Rassismus beizubehalten, gerade weil eine Analogisierung in die Irre führt und damit Fragen evoziert, die hier produktiv gemacht werden. Diese Konstellation korrespondierte mit einer konzeptionellen Verschiebung im Rassismus zur Zeit der späten 1980er- und frühen 1990er-Jahre, mit der Herausarbeitung eines kulturalistisch argumentierenden Neorassismus, einem Rassismus ohne „Rassen“.39 Ich halte es für eine besondere Stärke von Ansätzen der Gesellschaftstheorie 36 Vgl. Wilhelm Heitmeyer 1992: Die Bielefelder Rechtsextremismus-Studie.Erste Langzeituntersuchung zur politischen Sozialisation männlicher Jugendlicher. Weinheim, München: Juventa. 37 Die koloniale Vergangenheit und die postkoloniale Gegenwart Deutschlands als Determinanten der Diskussion traten wenig später hinzu, bemerkenswerterweise existieren aber über die sozialistische Vergangenheit und die postsozialistische Gegenwart in Deutschland nur wenige Forschungen (Ausnahmen bilden Harry Waibel 2012: Rassisten in Deutschland. Frankfurt a.M.: Peter Lang; Urmila Goel 2013: Ungehörte Stimmen. Überlegungen zur Ausblendung von Migration in die DDR in der Migrationsforschung. In: Duygu Gürsel, Zülfukar Çetin und Allmende e. V. [Hg.]: Wer Macht Demo_kratie? Kritische Beiträge zu Migration und Machtverhältnissen. Münster: edition assemblage, 138–150.). Sowohl konzeptuell als auch empirisch wird die zukünftige Herausforderung darin bestehen, zu einer die historischen Aspekte zusammenbringenden Analyse zu kommen. 38 Vgl. Jost Müller 1995: Mythen der Rechten. Nation, Ethnie, Kultur. Berlin, Amsterdam: Edition IDArchiv. 39 Vgl. Étienne Balibar 1992: Gibt es einen „Neo-Rassismus“? In: Ders. und Immanuel Wallerstein (Hg.): Rasse, Klasse, Nation. Ambivalente Identitäten (1989). Hamburg: Argument, 23–38.
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und -kritik in Deutschland, auf der begrifflichen Einheit von Rassismus (im Gegensatz zu einer einheitlichen Begrifflichkeit in Bezug auf Rassismus) zu bestehen, nicht nur trotz, sondern auch gerade aufgrund der Heterogenität und Sperrigkeit der historisch tradierten Formationen von Rassismus, weil so eine theoretisch komplex argumentierende Rassismustheorie hervorgebracht werden konnte.
Ideologiekritik und Ideologietheorie Zu den gesellschafts- und rassismustheoretischen Arbeiten der späten 1980er- und frühen 1990er-Jahre zählt auch Alex Demirovićs Projekt einer Verbindung von Kritischer Theorie und Poststrukturalismus, insbesondere der Verbindung von Ideologiekritik und Ideologietheorie.40 Er verstärkte den zwischen diesen beiden theoretischen Strömungen liegenden Zwischenraum durch einen konkretisierenden Zugang und die Verbindung von drei weiteren Elementen, die er der poststrukturalistischen Theorie entnahm und für ein Verständnis von Rassismus fruchtbar machte: erstens die Zentralität von Diskursen und Repräsentationsverhältnissen für von Rassismus geprägte gesellschaftliche Verhältnisse, deren Analyse es erlaubte, stärker sozial dynamische Kategorien für Prozesse der Rassifizierung herauszuarbeiten – mithin soziale Auseinandersetzungen statt eine herrschaftsfunktional gedachte Unterwerfung in den Vordergrund zu rücken; zweitens eine Untersuchung der historischen Kontexte, die danach fragt, wie rassifizierte Identitäten vorgestellt und performativ umgesetzt werden, durch welche Institutionen und Apparate (Schulen, Familien etc.) sie begünstigt beziehungsweise eingeschränkt werden – das heißt die Konstitution von Subjekten und ihre Subjektivierungen in politisch sich verändernden Prozessen nachvollziehbar zu machen; drittens die Untersuchung von biopolitischen Technologien, durch die auf Makro- wie auf Mikroebene das generative Verhalten und die soziale Endogamie der Bevölkerung reguliert werden – mithin Wissen über Bevölkerungen zu produzieren und zur Grundlage für die Regierung von Bevölkerungen zu machen.41 Von der Kritischen Theorie übernahm Demirović im Anschluss an Pierre-André Taguieff und Étienne Balibar die Überlegungen zum Neorassismus als verallgemeinertem Antisemitismus. Das hatte entscheidende Konsequenzen für eine Konzeption von Rassismus, die sich den Widerstand gegen Rassismus zur Grundlage der Analyse macht und nicht die unterworfenen, die rassifizierten Subjekte.42 Drei Gesichtspunkte kennzeichnen dieses Projekt: Erstens muss „Rasse“ zwar als ideologisches Konstrukt ausge40 Vgl. Demirović 1992. 41 Vgl. ebd.: 44–54. 42 Vgl. Bojadžijev 2008.
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wiesen werden, das ein imaginäres genealogisches Schema bezeichnet; „Rasse“ kann aber keine empirische Gesellschaftskategorie sein, von der Existenz menschlicher „Rassen“ ist nicht auszugehen. Damit ist ein Perspektivwechsel verbunden, der die erkenntnistheoretische Bringschuld auf die Seite der Herrschaft legt, wie Demirović bezugnehmend auf Theodor W. Adornos und Max Horkheimers Schrift Dialektik der Aufklärung (1944) argumentiert: „Dass Juden als Rasse angesehen werden, ist der Ansicht Horkheimers und Adornos zufolge eine von den Nazis propagierte Doktrin, die an sich falsch, doch auf grausame Weise wahr geworden ist, insofern sie der ‚Faschismus wahr gemacht hat‘“.43 Dieser Perspektivwechsel impliziert eine gesellschaftstheoretische Konsequenz. Nicht nur der rassistische Diskurs oder eine ethnozentrische Einstellung wird zur Grundlage von Untersuchungen oder von unserem Verständnis von Rassismus gemacht, vielmehr geht es um ein umfassendes gesellschaftliches Verhältnis, da auch die Kontinuität rassistischer Ideologie erklärt werden muss. Zweitens bedeutet dies, dass trotz unterschiedlicher Ausformungen von Rassismus die Einheit des Begriffs Rassismus erhalten bleiben kann, um von zentralen Elementen eines von Kontinuität geprägten Rassismus auszugehen, selbst und gerade wenn, wie historisch geschehen, nicht nur das Wort „Rasse“, sondern auch die damit verbundenen Aussagen zensiert und verschleiert werden beziehungsweise wenn ihr Bedeutungszusammenhang sich vollkommen verschiebt, wie in Bezug auf den Neorassismus argumentiert wurde. Drittens geht es um eine konkrete Untersuchung der spezifischen historischen Situationen, Formationen und Konjunkturen von Rassismus.44 Konjunkturen des Rassismus sollte zehn Jahre später auch ein Sammelband heißen, der die Beiträge einer am IfS im April 2001 organisierten Tagung zusammentrug und bei der es darum gegangen war, die kritische Rassismustheorie selbstreflexiv zu befragen. Unmittelbaren Anlass boten das Zustandekommen der Regierungskoalition im Februar 2000 von Österreichischer Volkspartei (ÖVP) unter dem Vorsitz des neuen Kanzlers Wolfgang Schüssel und der rechtspopulistischen Freiheitlichen Partei Österreich (FPÖ), angeführt durch Jörg Haider, sowie zugleich die breite Mobilisierung dagegen in der österreichischen Gesellschaft. Hieran ließ sich ablesen, dass die rassistische Ideologie sich veränderte und keineswegs gleich und immer stabil blieb. Vielmehr konnte konkret untersucht werden, wie Rassismus sich seiner internen Logik nach verschiebt, andere Formen annimmt und sich – wie im Fall der Regierungskoalition – mit unerwarteten Praktiken verbindet. Schließlich ließen sich für die Bestimmung der Konjunktur auch noch die Formen und Praktiken analytisch hinzunehmen, die sich gegen Rassismus zur Wehr setzen, um das aktuelle gesellschaftliche Kräfteverhältnis verstehen zu können. 43 Demirović 1992: 23. 44 Vgl. Alex Demirović und Manuela Bojadžijev 2002: Vorwort. In: Dies.: Konjunkturen des Rassismus. Münster: Westfälisches Dampfboot, 7–29.
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Konfliktachsen in der Debatte um Rechtsradikalismus45 und Rassismus Der Versuch einer Bestimmung des Kräfteverhältnisses bezog sich auch auf wissenschaftliche Diskurse. In der Einleitung des Sammelbandes Rechtsextremismus und Fremdenfeindlichkeit (1994) analysiert Demirović den wissenschaftlichen Rassismusdiskurs zu jener Zeit, indem er sechs Konfliktachsen identifiziert, entlang derer sich „Positionen symptomatisch polarisieren“.46 Bei den sechs Achsen der Konfrontation geht es um Thesen und Gegenthesen über die Motive rechtsradikaler Täter (Ideologie versus Anomie), über die sozialräumliche Dimension des Rechtsradikalismus (autoritäre Eliten versus Aufstand der Masse), die historische Dimension (Regression in vordemokratischen Orientierungen versus Risiko der multikulturellen Gesellschaft) und die soziokulturelle Dimension (Werteverfall oder normative Desintegration) sowie über die Ursachen rechtsradikaler Gewalt (Verteilungskonflikt oder Identitätskonflikt) und schließlich die Frage, wie mit der Gewalt beziehungsweise den Tätern umzugehen sei (Kommunikation versus Exklusion). Gerade diese Polarisierungen, so Demirovićs Diagnose, suggerierten die Möglichkeit eines Entweder-oder in der Debatte, das aber dem komplexen Zusammenhang der Problematik nicht angemessen sei. Eine Polarisierung, die in der letzten Dekade hinzugekommen ist – weniger in der wissenschaftlichen Beschreibung des Gegenstands als innerhalb des Untersuchungsfeldes selbst –, ließe sich dieser Aufzählung heute hinzufügen: Zu beobachten ist eine verstärkte religiöse Artikulation von sozialer Ungleichheit, die durch einen rassistischen Diskurs überdeterminiert ist, eine autoritäre (oft nationalistische) Kollektivbildung mit sich bringt und in katastrophische, ja manichäische Polarisierungen der „Guten“ und der „Bösen“ zwingt. Eine solche Polarisierung zeichnete sich bereits im Kontext der Diskussionen um den Islam in den europäischen Einwanderungsgesellschaften in den 1980erJahren ab, hat sich aber nach der Attacke von 9/11 in New York und in der Folge durch die neuen Formen von Kriegsführung (nicht mehr nur zwischen Staaten) und die Neuausrichtung geopolitischer und geosozialer Konstellationen massiv verstärkt und reicht bis in den Alltag hinein. Wir alle operieren mit den diskursiven Automatismen, die als ideologische Präkonstrukte/Ideologeme in der aktuellen Diskussion vorhanden sind (vergleiche die Debatten um Kopftücher oder den Bau von Moscheen in europäischen 45 In den Schriften des Instituts für Sozialforschung ist von Rechtsextremismus die Rede. Zugleich zeichnet Demirović in seiner Einleitung zum Band Rechtsextremismus und Fremdenfeindlichkeit (Institut für Sozialforschung 1994) eine Genealogie des Begriffs nach und verweist darauf, dass der Begriff Rechtsextremismus 1974 von den Verfassungsschutzbehörden eingeführt wurde, um rechtspolitisch eine „‚wehrhafte‘ Demokratie, die sich gegen ihre Feinde, eben die Extremisten von links und rechts, wehren müsse“, zu etablieren (ebd.: 9–28, hier 10). Zugleich habe sich die Verwendung des Begriffs durchsetzen können und finde auch in kritischen Studien zum Rechtsradikalismus Verwendung. 46 Alex Demirović 1994: Einleitung. In: ebd., 9—28, hier 15.
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Städten) und eine eigene Evidenz entwickeln. Auffällig in der gegenwärtigen Diskussion ist vor allem die Tendenz zur moralischen „Verminung“ des Feldes – eine Tendenz zur Identitätsstiftung, die über Werte und Normen geschaffen wird und auf eine autoritäre Konstellation schließen lässt. Im Grunde liest sich die systematische Inventarisierung der Gesichtspunkte, Kriterien und Ansätze in der Debatte der 1980er- und 1990er-Jahre wie ein bis heute unerfülltes Forschungsprogramm. Unerfüllt deshalb, weil viele der genannten Polarisierungen weiter stattfinden, wenngleich in reartikulierter Form. Eine Diskussion über und die Erforschung von Rassismus sowie eine Entwicklung der Rassismustheorie, wären sie in den letzten Dekaden intensiviert worden, hätten vielleicht keine Diskurshoheiten in eine Richtung hervorgebracht und es stattdessen vermocht, die Polarisierungen beziehungsweise die falschen Gegensätze in ihnen aufzulösen (das war auch der Gegenstand des Sammelbandes Konjunkturen des Rassismus 2002 und seiner vorhergehenden Tagung am Institut für Sozialforschung). Allerdings ist es befremdlich, dass wir ganz offenbar immer noch mit vielen der alten Fragen beschäftigt sind, ohne auf ein Repertoire kritischer Studien zurückgreifen zu können, die eine Diskussion um Rassismus nicht nur versachlichen, sondern auch entmoralisieren könnten. In einer globalisierten Welt, in der durch die Herausbildung von Weltwissen neue Zuordnungen und Zugehörigkeiten im Alltag zunehmend eine Rolle spielen, wäre es wichtig, diese theoretischen Einsichten zu erneuern und ihnen neben ihrem konzeptuellen und theoretischen Blickpunkt auch empirische Untersuchungen mit kritischer Perspektive an die Seite zu stellen. Solch eine demokratisch orientierte Arbeit könnte implizieren, dass eine Vision davon existierte, wie sich Rassismus als soziales Verhältnis auch beenden ließe; es geht – um es in Anlehnung an Donna Haraway zu formulieren – um einen „utopischen Traum, die Hoffnung auf eine monströse Welt ohne Rassen“47. Monströs, weil eine solche Welt erfinderischer und kreativer wäre und sein müsste als die unerträgliche Aufteilung in Ethnizitäten, „Rassen“, Kulturen, Völker, wie wir sie heute leben, erleben und erleiden.
47 Donna Haraway 1995: Die Neuerfindung der Natur. Primaten, Cyborgs und Frauen. Frankfurt a.M./New York: Campus Campus, hier 71.
Albert Memmi
Eine Definition
Der Rassismus ist die verallgemeinerte und verabsolutierte Wertung tatsächlicher oder fiktiver Unterschiede zum Vorteil des Anklägers und zum Nachteil seines Opfers, mit der seine Privilegien oder seine Aggressionen gerechtfertigt werden sollen. Albert Memmi: Rassismus (1982)
Mark Terkessidis
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Dr. Mark Terkessidis ist ausgebildeter Psychologe und Pädagoge. Er arbeitet als freier Autor und Publizist zu den Themen (Populär-)Kultur, Migration, Rassismus und gesellschaftlicher Wandel. Zu seinen letzten Veröffentlichungen gehören „Interkultur“ (Edition Suhrkamp 2010), „Kollaboration“ (Edition Suhrkamp 2015) und „Nach der Flucht. Neue Vorschläge für die Einwanderungsgesellschaft“ (Reclam 2017). Zusammen mit Jochen Kühling initiierte er das Projekt „Heimatlieder aus Deutschland“.
Einleitung Was ist Rassismus? Diese Frage spielte in den 1990er-Jahren eine große Rolle. Das Thema gewann damals europaweit an Virulenz, und gleichzeitig veränderten sich die Artikulationsformen: Nicht mehr die Vorstellung von biologischen „Rassen“ erklärte und legitimierte die Trennung zwischen „uns“ und „ihnen“, sondern Ideen von unüberwindlichen Grenzen zwischen verschiedenen Kulturen. Um aber Rassismus benennen zu können, bedurfte es einer Definition. Ich habe in meinem Buch Psychologie des Rassismus aus dem Jahre 1998 an einer solchen gearbeitet – der vorliegende Text stammt im Wesentlichen aus dem Buch.1 Die damalige Definition und überhaupt die Frage der Definition haben an Aktualität jedoch nicht verloren. Tatsächlich ist nach den 1990er-Jahren kaum noch an umfassenden Definitionen des Rassismus gearbeitet worden. Die aktuellen Forschungen in Deutschland, etwa von Karim Fereidooni, Wiebke Scharathow, Paul Mecheril oder auch das Handbuch Diskriminierung,2 kommen zumeist mit Arbeitsdefinitionen aus. Das hat auch 1 Vgl. Mark Terkessidis 1998: Psychologie des Rassismus. Opladen: Westdeutscher Verlag, 67–82. 2 Vgl. Wiebke Scharathow 2014: Risiken des Widerstandes. Jugendliche und ihre Rassismuserfahrungen. Bielefeld: transcript; Karim Fereidooni 2016: Diskriminierungs- und Rassismuserfahrungen im Schulwesen. Eine Studie zu Ungleichheitspraktiken im Berufskontext. Wiesbaden: Springer VS; ders. und Meral El (Hg.) 2016: Rassismuskritik und Widerstandsformen. Wiesbaden: Springer VS; María do Mar Castro
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damit zu tun, dass der Rahmen der Rassismusforschung gewissermaßen kleiner geworden ist: Das Thema wurde in den 1990er-Jahren noch auf dem Feld der Gesellschaftstheorie verhandelt, also sozusagen von der Struktur aus, während aktuell die strukturelle Seite fast ausschließlich über die subjektiven Erfahrungen zugänglich gemacht wird. Oft genug spielen dabei auch nur noch die subjektiven Erlebnisse eine Rolle. Wenn in den Colleges der Vereinigten Staaten in Anlehnung an den Psychologen Derald Wing Sue das Konzept der „microaggression“3 dominiert, dann geht es in erster Linie um Beleidigungen, Verletzungen und deren Wirkung auf Individuen.4 Die strukturelle Seite wird dabei aufgerufen über die Herstellung einer nichtverletzenden, gewissermaßen „gesunden“ Atmosphäre. Nun geht es zwar nicht darum, die subjektive und die strukturelle Perspektive gegeneinander auszuspielen – in dem folgenden Text wird diskutiert, wie Subjektivität methodisch zur Erkenntnis des Rassismus dazugehört. Ich denke allerdings, dass die gesellschaftspolitische Dimension nicht vernachlässigt werden darf. Die Ausgrenzungspraxis (dazu weiter unten) wird derzeit so gut wie gar nicht mehr thematisiert – etwa die Tatsache, dass Personen mit Migrationshintergrund in Deutschland ein durchschnittliches Armutsrisiko haben, das mehr als doppelt so hoch ist wie das der Bevölkerung deutscher Herkunft.5 Die Verabsolutierung des subjektiven Zugangs bietet zudem Spielraum für jenen Vorgang, den Pierre-André Taguieff einmal als „Retorsion“ bezeichnet hat.6 Im aktuellen Diskurs der Neuen Rechten in Europa hat die neorassistische Idee des „Ethnopluralismus“ abgedankt zugunsten einer Verteidigungshaltung, die aus einem behaupteten „großen Austausch“ hervorgeht: Die „multikulturellen Eliten“ in Europa, so heißt es bei Renaud Camus oder Martin Bosma, führten durch Einwanderung bewusst eine Zerstörung der bisherigen Völker herbei, sie organisierten in ihrem ureigenen Interesse eben einen „großen Austausch“.7 Schaut man auf die aktuelle Zusammensetzung der Städte, dann hat diese Behauptung durchaus einen gewissen realen Unterbau: Bei den Unter-
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Varela und Paul Mecheril (Hg.) 2016: Die Dämonisierung der Anderen. Rassismuskritik der Gegenwart. Bielefeld: transcript; Albert Scherr, Aladin El-Mafaalani und Gökçen Yüksel (Hg.) 2017: Handbuch Diskriminierung. Wiesbaden: Springer VS. Vgl. Derald Wing Sue 2010: Microaggressions in Everyday Life. Race, Gender, and Sexual Orientation. Hoboken: John Wiley & Sons. Für Deutschland vgl. etwa Tupoka Ogette 2017: exit RACISM. rassismuskritisch denken lernen. Münster: Unrast. Vgl. 11. Bericht der Beauftragten der Bundesregierung für Migration, Flüchtlinge und Integration 2016 (Dezember): Teilhabe, Chancengleichheit und Rechtsentwicklung in der Einwanderungsgesellschaft Deutschland. https://www.bundesregierung.de/Content/Infomaterial/BPA/ IB/11-Lagebericht_09-12-2016.pdf;jsessionid=168E150149E5F043DD94A5F39790143A.s4t2?__ blob=publicationFile&v=6, 28 ff. [6. Dezember 2017]. Pierre-André Taguieff 1988: La force du préjugé. Essai sur le racisme et ses doubles. Paris: la découverte. Renaud Camus 2017: Le grand remplacement. Introduction au remplacisme global. 4. Aufl. Lieux: Chez l’auteur; Martin Bosma 2011: De schijn-élite van de valsemunters. Amsterdam: Bert Bakker.
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Sechsjährigen etwa sind die Kinder mit Migrationshintergrund längst in der Mehrheit; in Städten wie Offenbach und Heilbronn gibt es keine „Mehrheitsgesellschaft“ deutscher Herkunft mehr. Das führt dazu, dass Teile der bisherigen Mehrheit beginnen, ihre „Abschaffung“ zu beklagen, sich selbst als Minderheit zu betrachten und vor allem auch zu inszenieren, was allerdings die tatsächliche Verteilung der Machtpositionen ignoriert. Die AfD steht nicht zuletzt für diese Haltung. Schließlich ist die gesellschaftliche Situation zweifellos komplizierter geworden, was auch bedeutet, dass die „Mehrheit“ sich jeweils neu zusammensetzt. Wenn im Vereinigten Königreich die Kinder von indischen Einwanderern gegen die polnischen Migranten wettern oder sich in München ein junger Mann iranischer Herkunft für einen „Arier“ hält und Jagd auf „Türken und Araber“ macht; wenn innerhalb von „Communities“ wiederum Minderheiten diskriminiert werden oder wenn sich plötzlich antirassistische und feministische oder LGBT-Positionen gegenüberstehen, dann wird ein feineres Instrumentarium benötigt. Ich möchte aber auch dafür plädieren, diese Gemengelage nicht gleich wieder in ein extrem allgemeines Konzept wie „Intersektionalität“ aufzulösen. Die Arbeit an der Definition eines eigenen Gegenstandes namens Rassismus als spezifischem gesellschaftlichen Ungleichheitsverhältnis bleibt eine notwendige Aufgabe, besonders dann, wenn wir nicht auf der Ebene von Verallgemeinerungen oder moralischen Verurteilungen stehenbleiben wollen.
Ein notwendiger Perspektivenwechsel Die Definition des Gegenstandes Rassismus ist ein heikles Unterfangen. Bereits die reine Benennung transportiert bestimmte Annahmen über seine Beschaffenheit. Tatsächlich geht es von vornherein konzeptuell jeweils um etwas anderes, wenn wir von Vorurteilen, Stereotypen, Ausländerfeindlichkeit, Fremdenfeindlichkeit (Xenophobie) oder Rassismus sprechen. Hinter jedem dieser Begriffe verbirgt sich ein spezifischer Prozess der „Gegenstandsgewinnung“.8 Ich habe mich bereits in den 1990er-Jahren für den Begriff Rassismus entschieden. Dieser Begriff entstand während der 1920er-Jahre, um die Überbewertung des „Rassen“Konzeptes in der Wissenschaft zu kritisieren. Obwohl seine Entstehung an das Konzept „Rasse“ gebunden war, scheint der Begriff weiterhin am besten geeignet zu sein, um den infrage stehenden Gegenstand als kontinuierliches und kollektives Phänomen der Moderne zu kennzeichnen. Denn die Subjekte des Rassismus sind ebenso wenig verirrte Einzelne, wie seine „Objekte“ tatsächlich „Ausländer“ oder „Fremde“ sind. 8 Klaus Holzkamp 1968: Wissenschaft als Handlung. Berlin: de Gruyter, 44.
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Nun wird der Begriff Rassismus keineswegs einheitlich verwendet.9 Dabei haben sich die meisten Forscher die Mühe einer ausführlichen Definition ohnehin erspart. Um von Rassismus sprechen zu können, so schrieb der französische Soziologe Michel Wieviorka zu Beginn seiner Untersuchung L’espace du racisme (1991), müsse irgendeine Verbindung zwischen den physischen, genetischen oder biologischen Merkmalen von Individuen oder Gruppen mit ihren intellektuellen oder moralischen Charakteristika hergestellt werden. Die Leser, die nun eine ausführlichere Definition erwarteten, verwies Wieviorka darauf, dass sein Buch als Ganzes, indem es Rassismus als Gegenstand konstruiere, der Versuch einer solchen Definition sei.10 Die Bescheidenheit eines solchen Ansatzes ist durchaus verständlich – den Gegenstand Rassismus zu umreißen ist, wie gesagt, eine unbequeme Angelegenheit. Offensichtlich sucht man das „Objekt“ Rassismus in der Welt vergeblich; schließlich ist Rassismus ein Prozess, in dem selbst „Objekte“ erzeugt werden. Damit wird auch die Position des Wissenschaftlers als epistemologisches „Subjekt“ erschüttert, denn es ist unausweichlich, den Erkenntnisprozess beziehungsweise den Prozess der Wissensbildung selbst zu thematisieren. Die ganze Vorgehensweise der Wissenschaft wird also zum Problem, und es scheint daher kein Zufall zu sein, dass die Wissenschaft in die Produktion des rassistischen Wissens entscheidend verwickelt war – also weitaus mehr über die „Objekte“ eines rassistischen Wissens zu sagen hatte als über den Gegenstand Rassismus. Das gilt nicht nur für die Wissenschaft des 19. Jahrhunderts. Die meisten psychologischen Konzepte des Rassismus wie etwa die Vorurteils- oder Stereotypisierungsansätze schauen am Gegenstand vorbei, da sie implizit die Vorstellung vom „objektiven“ Forscher und vom richtig zu erkennenden „Objekt“ aufrechterhalten. Deshalb bin ich auch weit davon entfernt, jenen Individuen, die rassistisches Wissen verwenden, zu unterstellen, sie würden sich irren, seien krank oder würden gar bewusst von irgendjemand über ihre Wirklichkeit getäuscht. Ich möchte weder die Einzelnen entmündigen noch das Wissen, welches etwa im wissenschaftlichen Konsens des 19. Jahrhunderts, in der faschistischen Massenbegeisterung oder in den erstaunlich stark verbreiteten „Vorurteilen“ heute zum Ausdruck kommt, als bloßen Zufall der Geschichte betrachten. Viele Untersuchungen, egal welcher methodischen Provenienz, belegen, dass rassistisches Wissen auch gegenwärtig allgemein verbreitet ist.11 Statistisch stellten etwa Robert 9 Vgl. dazu etwa Robert Miles 1991: Rassismus (1989). Hamburg: Argument, 57ff. 10 Vgl. Michel Wieviorka 1995: The Arena of Racism. London: Sage, XIIIf. 11 Vgl. Robert Miles und Annie Phizacklea: Working-Class Racist Beliefs in the Inner City. In: Dies. (Hg.): Racism and Political Action in Britain. London: Law Book; Robert Miles und Annie Phizacklea 1980: Labour and Racism. London: Routledge; Teun A. van Dijk 1987: Communicating Racism. Lon-
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Miles und Annie Phizacklea in ihrer Umfrage unter britischen Arbeitern Ende der 1970er Jahre fest, dass 75 Prozent irgendeine Form von rassistischen Auffassungen vertraten. Eine Fragebogen-Untersuchung von Alphons Silbermann und Francis Hüsers 1995 in Deutschland ergab, dass nur etwa 15 Prozent der Befragten auf der von den Forschern verwendeten Skala für „Fremdenfeindlichkeit“ keine Punkte erreichten, wenngleich etwa ein Drittel nur wenig „Fremdenfeindlichkeit“ äußerte. So kommen die Autoren auch zu dem Schluss, „dass Fremdenfeindlichkeit in unterschiedlich starker Ausprägung für unsere Gesellschaft leider ‚normal‘ ist“.12 In diesem Sinne ist es nicht sinnvoll, von sich akkumulierenden Irrtümern auszugehen, sondern vielmehr von gesellschaftlich verbreiteten Wissensbeständen, die ich als „rassistisches Wissen“ bezeichnen möchte. Noch demonstrativer resümierte der Psychologe Joseph Renny Noel bereits zu Beginn der 1970er-Jahre in dem Artikel „The Norm of White Antiblack Prejudice in the United States“ die Ergebnisse seiner Befragung: „Since racism is so ubiquitous, it is virtually unavoidable. The real problem may therefore be to explain not how people become prejudiced but rather why some people reject these prejudiced attitudes.“13 Es wäre also Wirklichkeitsverleugnung, wollte man all diesen Individuen eine „unangemessene“ Repräsentation ihrer Lebensverhältnisse attestieren. Wer nun „Subjekt“ und „Objekt“ des Wissens wurde, war augenscheinlich oft ein Ergebnis von Macht. Europäische Soldaten haben nach der sogenannten Eindeckung einer „neuen Welt“ eine Ansammlung von Menschen aufgrund des Kriteriums der Hautfarbe überhaupt erst zu einer Gruppe gemacht, zu einem „Objekt“ von Besitzergreifung, Sklaverei und Kolonialismus, über das die „rationale“ Wissenschaft anschließend Wissen bilden konnte. Dieses Wissen war Erkenntnis und Legitimation von Macht gleichermaßen. „Wissenserwerb war noch niemals ein unschuldiges Streben“, betont Aziz Al-Azmeh, „und wird es auch niemals sein; Wissen ist von Grund auf besudelt.“14 Die „Objektivität“ ist also offenbar selbst perspektivisch; in der Konstruktion der anderen als „Objekte“ des don: Sage; Philomena Essed 1991: Understanding Everyday Racism. London: Sage; Siegfried Jäger 1992: BrandSätze. Duisburg: DISS; Jonathan Potter und Margaret Wetherell 1992: Mapping the Language of Racism. Wheatsheaf: Columbia University Press; Studs Terkel 1992: Die sind einfach anders. Wien: Europaverlag; Sabine Grimm und Klaus Ronneberger 1994: Weltstadt und Nationalstaat. Frankfurter Dienstleistungsangestellte äußern sich zur multikulturellen Gesellschaft. In: Institut für Sozialforschung (Hg.): Rechtsextremismus und Fremdenfeindlichkeit. Frankfurt a.M., New York: Campus; Alphons Silbermann und Francis Hüsers 1995: Der „normale“ Haß auf die Fremden. Eine sozialwissenschaftliche Studie zu Ausmaß und Hintergrund von Fremdenfeindlichkeit in Deutschland. München: Quintessenz; Margret Jäger 1996: Fatale Effekte. Die Kritik am Patriarchat im Einwanderungsdiskurs. Duisburg: DISS. 12 Silbermann und Hüsers 1995: 41. 13 Joseph R. Noel 1972: The Norm of White Antiblack Prejudice in the United States. In: International Journal of Group Tensions. 2, 51–62, hier 61. 14 Aziz Al-Azmeh 1993: Die Islamisierung des Islam. Imaginäre Welten einer politischen Theologie. Frankfurt a.M., New York: Campus, 182.
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Wissens verkörpert sich die parteiliche Weltsicht der übergeordneten Gruppe. Was bedeutet es nun für die Erkenntnis des Rassismus, wenn die Epistemologie der „Objektivität“ nicht mehr funktioniert? Offenbar muss man, um Rassismus als Gegenstand hervortreten zu lassen, die Perspektive ändern. Eine Möglichkeit für diesen Perspektivenwechsel ist die Einführung von Werten in die analytische Arbeit. So hat etwa Gunnar Myrdal für seine eigene Untersuchung An American Dilemma (1944) über die Lage der US-Amerikaner mit afrikanischen Vorfahren in einer geschickten Wendung jenen Komplex von Werten als Grundlage formuliert, den er den „Amerikanischen Glauben“ nannte. Dabei handelt es sich, wie er meinte, um ein verbreitetes Leitbild, das historisch aus einer Mischung zwischen Aufklärung, Christentum und englischem Recht entstanden war und das grob gesagt aus den Idealen der Menschenwürde, der grundsätzlichen Gleichheit, der Unveräußerlichkeit des Rechtes auf Freiheit, der Gerechtigkeit und der fairen Chancen für jeden besteht.15 Diese Voraussetzungen leiten sich vom „Gleichheitsethos“ der Moderne ab, wobei Myrdal der Gleichheit einen spezifischen Inhalt gibt. Aufgrund der Wertprämissen des Rassismus tritt dieser als Gegenstand hervor, denn die Herstellung von bestimmten Gruppen als „Objekte“ in der Praxis und auch im Wissen lässt sich mit diesen Werten nicht vereinbaren. Rassismus wird sichtbar, weil es ein Prozess ist, der die Verwirklichung von politischer Demokratie und gleichen Chancen unterläuft. 16 Eine andere Möglichkeit, die Perspektive zu ändern, ergibt sich aus einer Umkehrung der Blickrichtung. Die Analyse spricht dann vom Ort der „Objekte“ aus. Diese Möglichkeit wurde in den 1970er-Jahren vielfach unter dem Aspekt einer „Politisierung der Sozialwissenschaft“ diskutiert. „Die Sozialwissenschaften werden Partei“, schrieben Peter Brückner und Alfred Krovoza 1972.17 Sie wollten die „Objektivität“ aufheben, indem sie etwa den Standpunkt der unterdrückten, „objektivierten“ Arbeiterbewegung übernahmen. Ein anderer Autor, der die Parteilichkeit in den Vordergrund rückte, war Michel Foucault. Er entwickelte, wie Hans-Herbert Kögler sagt, eine „Standpunkt-Epistemologie der unterdrückten Wissensarten“.18 Die Methode der Genealogie verstand Foucault als eine Kritik, die „Gelehrsamkeit“ mit dem „Wissen der Leute“ kombiniert.19 Mithilfe der „Gelehrsamkeit“ wollte Foucault das „Sichtbarwerden von historischen Inhalten“ ermöglichen; er untersuchte, wie bestimmte gesellschaftliche Machttechnologien 15 Vgl. Gunnar Myrdal 1944: An American Dilemma. New York: Harper & Row. 16 Gunnar Myrdal 1965: Das Wertproblem in der Sozialwissenschaft (1958). Hannover: Verlag für Literatur und Zeitgeschehen, 93ff. 17 Peter Brückner und Alfred Krovoza 1972: Was heißt Politisierung der Wissenschaft und was kann sie für die Sozialwissenschaften heißen? Frankfurt a.M.: EVA, 40. 18 Hans-Herbert Kögler 1994: Michel Foucault. Stuttgart, Weimar: Metzler, 126. 19 Michel Foucault 1978: Historisches Wissen der Kämpfe und Macht. In: Ders.: Dispositive der Macht. Über Sexualität, Wissen und Wahrheit. Berlin: Merve, 55–74, hier 59 ff.
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bestimmte „Objekte“ hervorbringen und wie die Wissenschaft schließlich die „Wahrheit“ über sie spricht. Wie solche „Gelehrsamkeit“ funktionieren kann, das hat Foucault etwa mit seinen Untersuchungen über die Irrenanstalt oder über das Gefängnis gezeigt.20 Etwas ganz anderes ist mit jenen „unterdrückten Wissensarten“ gemeint, die Foucault als das „Wissen der Leute“ charakterisiert. Es handelt sich dabei um die „nicht qualifizierten, ja geradezu disqualifizierten Wissensarten […], die nicht zu verwechseln sind mit Allgemeinwissen oder gesundem Menschenverstand, sondern im Gegenteil ein besonderes, lokales, regionales Wissen […] darstellen, das seine Stärke aus der Härte bezieht, mit der es sich allem widersetzt, was es umgibt“.21 Als Beispiel nennt Foucault etwa das Wissen der Psychiatrisierten, der Kranken, der Delinquenten (manchmal auch jenes des Krankenwärters oder des Arztes, wenn es sich vom Wissen der Medizin unterscheidet); Wissen also, in dem sich aufgrund der Perspektive Einsicht in die Mechanik von Macht ausdrücken kann. Über das „Wiederauftauchen“ dieser Wissensarten konnte, wie Foucault meint, schließlich die Kritik erfolgen.22 Foucault sucht also nach einer nichtverdinglichten Geschichte der „Objekte“, nach jener Geschichte von Kämpfen und Zusammenstößen, welche unter den „funktionalen Anordnungen und systematischen Gliederungen“ verborgen liege.23 Foucault ist damit Marx näher, als er oft eingesteht, denn auch Marx erzählte etwa im ersten Buch des Kapitals (1867) gegen den erbaulichen politischen Mythos der Kapitalakkumulation durch Arbeit, Askese und Individualismus eine Geschichte der Diebstähle und Ausplünderungen – eine Geschichte der Kämpfe also. Auch seine Methode ist im Grunde eine Kombination aus „Gelehrsamkeit“ und dem „Wissen der Leute“. Die Umkehrung der Blickrichtung, das Denken vom Ort der „Objekte“ her, stellt die Wissenschaft, wie wir sie kennen, radikal infrage. „Die Genealogien“, so betont Foucault, „sind also nicht positivistische Rückgriffe auf eine gewissenhaftere und exaktere Form der Wissenschaft; die Genealogien sind gerade Anti-Wissenschaft.“24 Tatsächlich, ob wir von Myrdals Wertprämissen ausgehen oder auf die eine oder andere Weise von der Perspektive der Minorisierten, der „Objekte“ – immer geht notwendig jene „Objektivität“ oder „Wertfreiheit“ verloren, die Wissenschaft gewöhnlich für sich reklamiert. Schon die Definition des Gegenstandes wird also notwendig im Konflikt mit der herkömmlichen Wissenschaft sein, denn als Voraussetzung benötigt sie sowohl einen Bezug auf Werte – um die faktische rechtliche und ökonomische Ungleichheit zwischen 20 Vgl. Michel Foucault 1988: Die Geburt der Klinik: Eine Archäologie des ärztlichen Blicks. Frankfurt a.M.: Suhrkamp (1963); ders. 1992: Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses. Frankfurt a.M.: Suhrkamp (1975). 21 Michel Foucault 1978: 60. 22 Vgl. ebd.: 61. 23 Ebd.: 60. 24 Ebd.: 62.
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Gruppen zu problematisieren – als auch auf die Perspektive der untergeordneten Gruppe – um die Mechanismen der Objektivierung aufzuzeigen. „Im Beginn ihres Weges“, so hat Peter Brückner es einmal ausgedrückt, „gilt für eine politische Psychologie, die allein diesen Namen verdient: Aller Anfang ist falsch.“25 Allerdings, und das sollten sich jene vor Augen halten, die bereits beginnen, das hier entstehende Wissen „wissenschaftlich“ zu diskreditieren, handelt es sich dabei um Voraussetzungen der „Gegenstandsbildung“ – die konkreten Definitionen, Analysen und Erklärungen sind selbstverständlich weder wertend noch „subjektiv“.
Robert Miles’ Definition Nach Klärung der Voraussetzungen einer Definition des Rassismus möchte ich auf Wieviorkas Versuch noch einmal zurückkommen. Ich halte es für zu bescheiden – auch angesichts des immensen Umfangs der Forschung zum Thema –, erst am Ende einer Untersuchung genau wissen zu wollen, wovon während derselben eigentlich gesprochen wurde. Manche Forscher haben sich um etwas präzisere Bestimmungen des Begriffs bemüht. „Der Rassismus“, so schreibt Albert Memmi, „ist die verallgemeinerte und verabsolutierte Wertung tatsächlicher und fiktiver Unterschiede zum Vorteil des Anklägers und zum Nachteil des Opfers, mit der seine Privilegien oder seine Aggressionen gerechtfertigt werden sollen“.26 In dieser Definition finden wir Elemente, die in den meisten Bestimmungen des Begriffs auf die eine oder andere Weise wiederkehren. Offensichtlich geht es bei Rassismus um die Festlegung von Unterschieden und ihre Bewertung im Dienste der Rechtfertigung einer vermeintlich übergeordneten Position. Eine weitaus differenziertere Definition hat der ehemalige Leiter der Forschungsgruppe „Migration und Rassismus“ an der Universität von Glasgow, Robert Miles, 1989 vorgelegt. Miles kritisiert zunächst die oft unscharfe Verwendung des Begriffs Rassismus. Zum einen werde der Begriff ständig überdehnt – Rassismus lasse sich daher nicht mehr unterscheiden von Nationalismus und Sexismus –, zum anderen verengt – so werde Rassismus ausschließlich zum Problem der „Weißen“. Für seine Definition will er den Begriff nicht induktiv aus einem empirischen Beispiel gewinnen, sondern analytisch aus theoretischen Reflexionen über jenen Prozess ableiten, „durch den reale oder imaginäre biologische Eigenschaften des Menschen mit Bedeutung versehen werden“.27 Insofern
25 Peter Brückner 1968: Die Transformation des demokratischen Bewußtseins. In: Ders. und Johannes Agnoli: Die Transformation der Demokratie. Frankfurt a.M.: EVA, 114. 26 Albert Memmi 1987: Rassismus (1982). Frankfurt a.M.: EVA, 103. 27 Miles 1991: 93. Der englische Originaltext war 1989 erschienen.
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geht es zunächst darum, die Beziehungen zwischen dem Begriff Rassismus und einer Reihe verwandter Begriffe zu klären. Miles beginnt seine Theoriearbeit mit der Erläuterung des Prozesses der „Rassenkonstruktion“ (racialization). „Ich verwende von daher den Begriff der Rassenkonstruktion für jene Fälle“, schreibt Miles, „in denen gesellschaftliche Beziehungen zwischen Menschen durch die Bedeutungskonstruktion biologischer Merkmale dergestalt strukturiert werden, daß sie differenzierte gesellschaftliche Gruppen definieren und konstruieren.“28 Die Merkmale sind historisch variabel; manchmal wurden unsichtbare (fiktive und reale) biologische Eigenschaften zu solchen Kennzeichen, gewöhnlich jedoch irgendwelche sichtbaren somatischen Attribute. In der Konstruktion von Menschen als Angehörige von „Rassen“ findet also ein „Kategorisierungsprozess“ statt, der gleichzeitig die jeweilige Gruppe implizit oder explizit als „spezifische, naturgegebene Einheit“ festlegt, „die sich biologisch reproduziert“.29 Die Erklärung der Wesensmerkmale und der Dynamik des Prozesses überlässt Miles dabei der Sozialpsychologie.30 Miles weist nachdrücklich darauf hin, dass die so gewonnenen Einteilungen mit irgendwelchen „natürlichen“ Einteilungen nichts zu tun haben. Denn nur ganz bestimmte Merkmale unter ganz bestimmten Umständen wurden historisch zu „Bedeutungsträgern“, andere jedoch nicht. So wurde zwar die schwarze oder weiße Hautfarbe, nicht aber die Groß- oder Kleinmäuligkeit von Menschen zu einem Merkmal erklärt, das angeblich „Rassen“ definieren sollte. „Rassen“, so betont Miles daher, „sind gesellschaftliche Fiktionen, keine biologischen Realitäten“.31 Um Rassismus sinnvoll eingrenzen zu können, führt er noch einen weiteren Begriff ein, jenen der „Ausgrenzungspraxis“ (exclusionary practice). Er verwendet diesen Begriff zur Charakterisierung der Fälle, „in denen eine näher bezeichnete Gruppe bei der Zuteilung von Ressourcen und Dienstleistungen nachweislich ungleich behandelt wird, oder in denen sie in der Hierarchie der Klassenverhältnisse systematisch über- oder unterrepräsentiert ist“.32 Voraussetzung dieser Ausgrenzungspraxis sind also zum einen Prozesse, die zwischen Menschen diskriminieren, und zum anderen ein grundsätzlicher Mangel an Ressourcen. Der Begriff der Ausgrenzungspraxis bezieht sich nach Miles auf ganz konkrete Handlungen und Prozesse (etwa auf die Tatsache der deutlich höheren Arbeitslosigkeit unter Personen mit Migrationshintergrund), ohne bereits etwas darüber mitzuteilen, wie diese Handlungen und Prozesse verursacht werden. Darüber hinaus bezieht sich der Begriff sowohl auf intentionale Handlungen als auch auf unbeabsichtigte Folgen. 28 Ebd.: 100 f. 29 Ebd. 30 Ebd. 31 Ebd.: 96. 32 Ebd.: 103.
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Miles stellt in zweierlei Hinsicht eine dialektische Beziehung zwischen Eingrenzung und Ausgrenzung fest: Eine ausgrenzende Praxis dient immer auch zur Definition des eingrenzenden Kriteriums. So führen also die Handlungen oder Prozesse, die etwa eingewanderte Personen daran hindern, Arbeit zu finden, gleichzeitig zur Bestimmung der Eigenschaften derer, die Jobs bekommen. Umgekehrt legen natürlich auch eingrenzende Prozesse das ausgrenzende Kriterium fest. Was nun den Rassismus betrifft, so begreift Miles diesen ausschließlich als ideologisches Phänomen. Damit unterscheidet sich der Rassismus von der Ausgrenzungspraxis, die jedoch eine Bedingung des Rassismus ist. Die Rassenkonstruktion erscheint als Voraussetzung des Rassismus, allerdings besitzt dieser einige „spezifische repräsentationale Eigenschaften“.33 Der Prozess der Rassenkonstruktion muss ergänzt werden durch die Zuschreibung zusätzlicher, negativ bewerteter Merkmale, seien sie biologischer oder kultureller Provenienz. „Dieser Konstruktion zufolge“, schreibt Miles, „besitzen alle Menschen, die eine naturgegebene biologische Gruppe bilden, also auch eine Reihe von negativ bewerteten biologischen und/oder kulturellen Eigenschaften oder Merkmalen.“34 Rassismus unterscheidet sich demnach von der Rassenkonstruktion vor allem durch die explizit wertende Komponente.35 Miles erläutert vier weitere Merkmale der Ideologie des Rassismus. Die Darstellungsformen des Rassismus sind zunächst ebenso dialektisch wie jene Handlungen und Prozesse der Ausgrenzungspraxen; in ihnen verkörpert sich immer auch eine Darstellung des Eigenen. Zudem können sich rassistische Darstellungen in alltäglichen Ansammlungen von Bildern und Klischees zeigen, aber auch die Gestalt von relativ kohärenten wissenschaftlichen Theorien annehmen. Die Versionen der rassistischen Ideologie dienen dabei nicht nur der Rechtfertigung, sondern sie helfen den jeweiligen Verwendern auch dabei, den realen materiellen Abständen zwischen Gruppen „einen Sinn zu verleihen“36 – also „die Welt ‚einleuchtend‘ zu erklären“.37 Allerdings bezeichnet der Rassismusbegriff nach Miles keinen spezifisch historischen Inhalt; es geht ihm lediglich um die allgemeinen Kennzeichen, die ein Diskurs aufweisen muss, um als Beispiel für Rassismus gelten zu können. Von „institutionellem Rassismus“ kann man nach Miles nur dann sprechen, wenn sich die Ausgrenzungspraxis aus dem Rassismus ergibt.38 In einer so entstandenen Ausgrenzungspraxis ist Rassismus nicht mehr ausdrücklich, sondern nur noch implizit gege33 Ebd. 34 Ebd.: 105 f. 35 Vgl. ebd.: 106. 36 Ebd.: 108. 37 Ebd.: 107. 38 Ebd.: 113 ff.
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ben. So war etwa, wie Miles erläutert, bei der Formulierung der britischen Einwanderungsgesetze nach 1945 im politischen Kontext eine rassistische Ideologie vorhanden, obwohl keines der Gesetze sich eines explizit rassistischen Vokabulars bedient. Ein zweiter Fall von „institutionellem Rassismus“ sei die Integration von Rassismus in formal nichtrassistische Diskurse. Als Beispiel für solche „Ent-Nennungen“ führt Miles etwa den Diskurs der Neuen Rechten an, den manche Forscher auch als „Rassismus ohne Rassen“ bezeichnen. Das Verdienst Miles’ um eine ausführliche Definition des Rassismus lässt sich wohl kaum genug würdigen. Jede folgende Definition, so auch meine eigene, kann nicht umhin, sich in der Auseinandersetzung mit seinen Ausführungen zu entwickeln. Ich denke, dass Miles die grundsätzlich in den Rassismus verwickelten Prozesse adäquat beschreibt, dass er jedoch das Phänomen seinerseits zu sehr begrenzt. Der Prozess der Rassenkonstruktion scheint mir zu eng gefasst und seine Trennung vom Begriff Rassismus künstlich zu sein. Zudem lässt sich vermuten, dass die Unterscheidung von Ideologie und Ausgrenzungspraxis von der marxistischen Differenzierung zwischen „Basis“ und „Überbau“ herrührt. Wenn der Prozess der Objektivierung jedoch nicht nur im Wissen, sondern auch in der Praxis stattfindet, wenn es also einen komplizierten Gesamtprozess der Produktion von Andersheit gibt, dann sollte der Begriff Rassismus meiner Meinung nach diesen Gesamtprozess kennzeichnen. Jedenfalls ist es notwendig, Miles’ Erläuterungen noch einmal im Einzelnen zu durchqueren.
Der „Apparat“ des Rassismus 1. Rassifizierung Zunächst beschränkt sich Miles in seiner Definition des Kategorisierungsprozesses auf somatische/biologische Merkmale, die als „Bedeutungsträger“ zur Festlegung einer bestimmten Gruppe von Menschen dienen sollen. Offenbar ist das Feld dieser Merkmale jedoch weiter gestreut, als er behauptet. Colette Guillaumin glaubt, dass die zur Diskriminierung zwischen Gruppen verwendete Vorstellung von „Rasse“ ein ganzes „Bündel von Konnotationen, ein Cluster unbeständiger Bedeutungen“ umfasst.39 In dieses Bündel können nun Elemente äußerst heterogener Art eingehen: (a) morpho-physiologische Kennzeichen (diese können sichtbar oder unsichtbar sein, sie gelten als natürlich/evident und als geeignet, Gruppen zu unterscheiden); (b) soziologische 39 Colette Guillaumin 1991: RASSE. Das Wort und die Vorstellung. In: Ulrich Bielefeld (Hg.): Das Eigene und das Fremde. Neuer Rassismus in der alten Welt? Hamburg: Junius, 159–174, hier 164.
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Kennzeichen (Sprachen, Wirtschaftssysteme, Gewohnheiten, Ernährung, Kleidung, Musik etc.); (c) symbolische und geistige Kennzeichen (politische Praktiken, Einstellungen, Lebensauffassungen, kulturelle und religiöse Verhaltensweisen etc.) sowie (d) imaginäre Kennzeichen (etwa phantasmatische Vorstellungen von okkulter Macht etc.).40 „Die Gesamtheit dieser Merkmale“, schreibt Guillaumin, „verschmilzt zu einem Ensemble, das sich als synkretistisch definieren läßt“.41 Die Erweiterung der Konstruktionsmerkmale ist nicht zuletzt deswegen wichtig, weil somatische/biologische Merkmale zugunsten von beispielsweise soziologischen – wie etwa Kopftüchern – in den Hintergrund treten. So steht zwar für den Prozess der Rassenkonstruktion, also der Festlegung einer als naturgegeben angenommenen Einheit, die sich reproduziert, die „Rassen“-Idee Pate; dennoch muss die so hergestellte Gruppe nicht mehr notwendig als „Rasse“ mit allen Implikationen aufgefasst werden. Die miteinander verbundenen Konzepte Ethnie und Kultur sind oftmals an die Stelle von „Rasse“ getreten. Selbst an Orten, an denen die Bezeichnung race weiter gebräuchlich ist, wie etwa im englischsprachigen Raum, hat sie ihren inhaltlichen Charakter verändert.42 Da es sich noch immer um die Konstruktion von scheinbar naturgegebenen Einheiten handelt, die sich reproduzieren, ist es durchaus weiterhin sinnvoll, von Rassenkonstruktion zu sprechen. Allerdings muss „Natur“ als determinierende Kraft nicht grundsätzlich biologisch verstanden werden. Die Verschiebung von „Rasse“ auf Ethnie oder Kultur ist nicht bloß Reformulierung oder Tarnung des alten Konzeptes „Rasse“; das „Objekt“ dieses neuen Diskurses hat, wie ich später noch zeigen werde, tatsächlich seine Beschaffenheit verändert. Wie erwähnt unterscheidet Miles nun zwischen Rassenkonstruktion und Rassismus. Um von Rassismus sprechen zu können, müssen der als naturgegeben konstruierten Gruppe zusätzliche – und vor allem negativ bewertete – biologische und/oder kulturelle Eigenschaften zugeschrieben werden. Bei näherer Betrachtung erweist sich diese Trennung jedoch als unhaltbar. Denn zum einen kann die Rassenkonstruktion selbst schon wertend sein, zum anderen vermögen Darstellungsformen rassistisch zu sein, in denen jegliche Wertung zu fehlen scheint. Dieses Problem stellte sich ja bereits bei jenen sozialpsychologischen Theorien, die nach Miles Wesen und Dynamik der Rassenkonstruktion erfassen. Auch die Stereotypisierungsansätze trennen zwischen der Kategorisierung und der Zuschreibung negativ bewerteter Eigenschaften. Nun geht Miles allerdings nicht davon aus, dass der Prozess 40 Zu dieser Aufstellung vgl. ebd.: 167, und Colette Guillaumin 1992: Zur Bedeutung des Begriffs „Rasse“. In: Rassismus und Migration in Europa. Beiträge des gleichnamigen Kongresses. Hamburg: Argument, hier 83. 41 Guillaumin 1992: 83. 42 Vgl. etwa David Theo Goldberg 1993: Racist Culture. Cambridge, Mass.: Blackwell, 70 ff.
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der Kategorisierung eine neutrale Qualität haben könnte. Miles lässt die Macht nicht aus der Beziehung zwischen den Gruppen verschwinden, aber er betont, dass durch die Rassenkonstruktion das europäische Selbst und der andere „gleichermaßen in einer gemeinsamen Welt von (europäischen) Bedeutungen eingeschlossen“ wurden.43 Im Akt dieser Einschließung jedoch werden die Kriterien der bloßen Differenzierung und jene der Bewertung ununterscheidbar. Die vielfältigen äußerlichen Kennzeichen, die zur Festlegung von Gruppen als naturgegeben gewählt wurden, transportieren immer bereits eine Wertung – sei es die Nacktheit der Ureinwohner; die schwarze Hautfarbe jener Gruppe, die seit dem 16. Jahrhundert als negros bezeichnet wurde;44 die berüchtigte Hakennase der Juden oder auch das Kopftuch der Muslima. Die Merkmale scheinen gerade wegen ihrer negativen Konnotation überhaupt zu „Bedeutungsträgern“ geworden zu sein. Ebenso dienen jene negativ bewerteten biologischen und kulturellen Zuschreibungen, die Miles für den Rassismus reserviert, auch der schieren Kategorisierung. Denn die negativen biologischen – etwa „Parasitentum“ – oder kulturellen Eigenschaften – Unvernunft, Grausamkeit, Zügellosigkeit etc. – fixieren die Gruppen im Prozess der Wertung ebenfalls als naturgegeben. Wie Henri Tajfel gezeigt hat, stützen sich die Kategorien und das Wertesystem der hegemonialen Gruppe gegenseitig.45 Dennoch gibt es Gründe dafür, zwischen Rassenkonstruktion – im nun erweiterten Verständnis – und Rassismus zu unterscheiden. Jost Müller grenzt die beiden Begriffe logisch voneinander ab, indem er Rassismus als Verwirklichung der abstrakten Rassenkonstruktion betrachtet. „Rassismus“, so schreibt er, „realisiert die Rassenkonstruktion, indem er sie konkretisiert. Anders ausgedrückt: die ideologische Konstruktion der „Rassen“, die als abstrakte Formbestimmung dem Rassismus logisch vorausgeht, existiert nur in den historisch-konkreten Artikulationen des Rassismus.“46 Im Gegensatz zu Miles wäre daher die Rassenkonstruktion ideologisch, nicht aber der Rassismus eine Ideologie. Denn dieser besitzt nach Müller „im Ensemble ideologischer Praxisformen“ keinerlei Selbstständigkeit.47 Damit meint er, dass jene für die Rassenkonstruktion spezifische Spaltung zwischen einem „Selbst“ und den anderen in vielfältigen Artikulationen der familiären, schulischen, religiösen, juristischen, kulturellen etc. Instanzen präsent sei, allerdings zu den Bedingungen dieser Instanzen und ohne 43 Ebd.: 101. 44 Die erste Überlieferung des Wortes stammt aus dem Jahre 1516, vgl. Immanuel Geiss 1988: Geschichte des Rassismus. Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 124. 45 Vgl. Henri Tajfel 1982: Gruppenkonflikt und Vorurteil. Bern, Stuttgart, Wien: Hans Huber. 46 Jost Müller 1992: Rassismus und die Fallstricke des gewöhnlichen Antirassismus. In: Redaktion diskus (Hg.): Die freundliche Zivilgesellschaft. Rassismus und Nationalismus in Deutschland. Berlin: Edition ID Archiv, 25–44, hier 30. 47 Ebd.
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dass die Konstruktion von „Rassen“ das Zentrum dieser Äußerungen wäre. Das „rassistische Subjekt“ ist eine Art „Phantom“,48 es spricht zumeist im Namen von etwas anderem – des Sozialstaats, des Arbeitsmarktes, der Sicherheit, des sozialen Friedens oder der Nachbarschaft. So scheinen bestimmte Diskurse, die dennoch auf dem Feld des Rassismus spielen, sogar ohne Rassenkonstruktion auskommen zu können – und, um noch einmal auf Miles’ Definition zurückzukommen, auch ohne jede Wertung. Die im englischsprachigen Raum als colourblind bekannte Perspektive hinterlässt zunächst den Eindruck, dass sie dazu geeignet sei, Rassismus zu vermeiden. Dennoch betont etwa Jean-Paul Sartre, dass der für „konkrete Synthesen“ blinde „Demokrat“, der die Juden gegen den Antisemitismus verteidige, „den Juden als Menschen rettet und als Juden auslöscht“.49 Auf eine ganz ähnliche Weise kritisiert Paul Gilroy ein Wahlplakat der britischen Konservativen von 1983, auf dem der Slogan „Labour says he’s black. Tories say he’s British“ mit einem schwarzen jungen Mann im etwas zu großen dunklen Anzug illustriert wird. Denn dieses Plakat lösche in seiner offenkundigen „Farbenblindheit“ ebenfalls die „konkreten Synthesen“ aus. „Blacks are being invited“, so Gilroy, „to forsake all that marks them out as culturally distinct before real Britishness can be guaranteed.“50 Zweierlei Natur wird in der „demokratischen“ Rede von der „Farbenblindheit“ ständig verhandelt: Zum einen die „Natur“ der Juden oder Schwarzen und zum anderen die „Natur“ des abstrakten Menschseins oder Britisch-Seins, wobei offenbar beide einander ausschließen. Um die seltsame Abwesenheit der Rassenkonstruktion zu veranschaulichen, vergleicht Patricia J. Williams in einer Anekdote den Raum des Rassismus mit einem Zimmer, welches man gerade freigeräumt hat, in dem man sich jedoch weiter so bewegt, als seien die Möbel noch an der gleichen Stelle. „The power of that room“, schreibt sie, „is very like the power of racism as status quo: it is deep, angry, eradicated from view, but strong enough to make everyone who enters the room walk around the bed that isn’t there, avoiding the phantom as they did the substance“.51 Auch Miles ist diese Abwesenheit aufgefallen, allerdings hat er sie wenig überzeugend als „institutionellen Rassismus“ bezeichnet.52 So ist also Müllers Unterscheidung zwischen Rassenkonstruktion und Rassismus weitaus sinnvoller als jene von Miles. Rassenkonstruktion ist notwendig abstrakter 48 49 50 51
Ebd.: 121. Jean-Paul Sartre 1954: Überlegungen zur Judenfrage (1946). Reinbek bei Hamburg: Rowohlt, 37. Paul Gilroy 1987: There Ain’t No Black in the Union Jack. London: Hutchinson, 59. Patricia J. Williams 1991: The Alchemy of Race and Rights. Cambridge, Mass.: Harvard University Press, 49. 52 Vgl. oben und Miles 1991: 115 f.
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Bestandteil von Rassismus, jedoch muss sie weder explizit sein noch muss die Konstruktion einer naturgegebenen Gruppe zusätzlich gewertet werden. Ich denke nun, dass mehrere Prozesse zusammenkommen müssen, damit von Rassismus gesprochen werden kann. Die Rassenkonstruktion ist ein notwendiges Element der Definition des Rassismus. Allerdings möchte ich den Begriff wie erwähnt etwas weiter fassen als Miles. Um die Differenz zu dessen Verständnis zu verdeutlichen, möchte ich den Begriff Rassenkonstruktion durch jenen der Rassifizierung ersetzen. Im Prozess der Rassifizierung wird einerseits mittels bestimmter Merkmale eine Gruppe von Menschen als „natürliche“ Gruppe festgelegt und gleichzeitig wird die „Natur“ dieser Gruppe im Verhältnis zur eigenen Gruppe formuliert. Die beiden Vorgänge innerhalb des Gesamtprozesses stützen sich dabei gegenseitig. Das Kriterium der „Natürlichkeit“ der Gruppe hilft, ihre „Natur“ mitzuformulieren, und die Formulierung ihrer „Natur“ unterstreicht ihre „Natürlichkeit“.
2. Die Ausgrenzungspraxis Wie erwähnt glaubt Miles, dass es sich bei der Subsumierung der Ausgrenzungspraxis unter den Begriff Rassismus um eine Überdehnung des Begriffs handelt. Ich denke jedoch, dass die Ausgrenzungspraxis ein weiterer Bestandteil der Rassismusdefinition sein sollte. Denn im Begriff der Ausgrenzungspraxis verbirgt sich die ganze praktische Struktur des Rassismus. Zunächst müssen wir die Ausgrenzungspraxis als, wie Wallerstein sagt, differentia specifica des modernen Weltsystems begreifen. Denn während in anderen historischen Epochen einige Menschen einbezogen und andere einfach ausgeschlossen wurden, ist das moderne System so organisiert, dass es Menschen ausschließt, indem es sie einbezieht.53 Erst nach der spezifischen Einverleibung bestimmter Menschen setzt jene Dialektik der Ein- und Ausgrenzung ein, welche die Menschen anhand bestimmter Merkmale als Gruppen zum Erscheinen bringt. So hat die als negros bezeichnete Gruppe sich vor der Einbeziehung in das europäische System nicht als Gruppe begriffen; erst die Ausgrenzung durch Einverleibung hat bestimmte Kriterien der Unterscheidung konstituiert. Diese Kriterien fließen in die Rassifizierung ein, wobei die Rassifizierung schließlich den zukünftigen Horizont der Ausgrenzungspraxis absteckt und auch das Verhalten gegenüber den Mitgliedern der rassifizierten Gruppe beeinflusst. Erst ein solches Ensemble von Rassifizierung und Ausgrenzungspraxis gewährleistet die ständige Produktion von Andersheit. Das Verständnis von Rassismus als Ideologie greift zu kurz; es handelt sich wohl eher um etwas, 53 Vgl. dazu Immanuel Wallerstein 1991: Die Sozialwissenschaft „kaputtdenken“. Weinheim: Beltz Athenäum, 102.
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das Michel Foucault als „Dispositiv“ bezeichnet, also einen aus nichtdiskursiven und diskursiven Praktiken bestehenden „Apparat“, einen Macht-Wissen-Komplex.54 Insofern ist die Ausgrenzungspraxis, wie Miles sie versteht, mit all ihren Implikationen ein zweiter Bestandteil des Rassismus. Nur in einem Punkt ist Miles’ Erläuterungen zur Ausgrenzungspraxis zu widersprechen: In der Ausgrenzung schlägt sich nicht unbedingt eine „Knappheit“ der gesellschaftlichen Ressourcen oder Dienstleistungen nieder.
3. Die differenzierende Macht Hinter dem beschriebenen Komplex von Praxis und Wissen verbirgt sich keine Herrschaft im traditionellen Sinne. Dieser „Apparat“ hat kein offensichtlich lokalisierbares und mit Bewusstsein ausgestattetes Zentrum. Um jenes Ensemble zur Produktion von Andersheit jedoch zum Leben zu erwecken und zu reproduzieren, ist stets Gewalt vonnöten. Wie stumm auch immer der Zwang der Verhältnisse sein mag, eine solche „differenzierende Macht“ muss eine bestimmte Verfügbarkeit von Menschen gewährleisten. Aktuell zeigt sich diese Macht im globalen Wohlstandsgefälle und in der Macht der Einwanderungsländer, „Einwanderungsströme“ zu kanalisieren, die Grenzen zu befestigen, vorzuverlagern und zu Todeszonen zu machen, Bürgerschaft zu definieren oder Personen abzuschieben. Diese Macht, wie auch immer sie sich äußern mag, die nun als weiterer Bestandteil in die Definition des Rassismus aufgenommen wird, erlaubt zudem eine Differenzierung zwischen Rassifizierungen gemäß dem Ort, den die Gruppen im Gesamtensemble einnehmen. „Wenn eine untergeordnete Gruppe eine übergeordnete Gruppe als Rasse konstruiert“, so schreibt Jäger entsprechend, „dann ist das zwar schädlich für die Handlungsfähigkeit dieser untergeordneten Gruppe sowie für die Perspektive einer selbstbestimmten Gesellschaft, kann aber nicht als rassistisch bezeichnet werden, solange sie nicht die Macht hat, ihre Definition und die damit einhergehenden Ausgrenzungspraxen gegen die übergeordnete Gruppe durchzusetzen.“55 Dass die Definition des Rassismus als „Apparat“ mit den Bestandteilen (1) Rassifizierung, (2) Ausgrenzungspraxis und (3) differenzierende Macht sinnvoll ist, erweist sich nicht zuletzt anhand der Schärfe, mit der Rassismus damit von benachbarten Gegenständen abgegrenzt werden kann. So ermöglicht die Definition eine nützliche Unterscheidung vom Phänomen des Nationalismus. Zweifelsohne ist der Nationalismus zunächst ebenso wie der Rassismus mit Rassifizierungen verbunden – in jeder westlichen Nation existiert ein Korpus von Wissen über 54 Vgl. dazu H. L. Dreyfus und Paul Rabinow 1982: Michel Foucault. Jenseits von Strukturalismus und Hermeneutik. Weinheim: Beltz Athenäum, 150. 55 Jäger 1992: 15.
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die „Natur“ der übrigen westlichen Nationen. Aber die Mitglieder der jeweils anderen Nationen sind gewöhnlich nicht von einer Ausgrenzungspraxis betroffen, was schließlich bedeutet, dass auch keine differenzierende Macht existiert. So spielen sich die Rassifizierungen im Verhältnis zwischen „Gleichen“ ab. Tatsächlich haben sie auch einen ganz anderen Inhalt als jene des Rassismus. Deutsche mögen von US-Amerikanern behaupten, sie seien oberflächlich – dass sie jedoch als faul und schmutzig bezeichnet wurden oder werden, davon ist nichts bekannt. Ich möchte noch einmal auf das von Müller angesprochene Verhältnis von Abstraktion und Konkretion zurückkommen. Denn das Ensemble von Rassifizierung, Ausgrenzungspraxis und differenzierender Macht existiert als abstrakter „Apparat“ nur in den historisch-konkreten Artikulationen des Rassismus. Das bedeutet mehreres: Zum einen kann dieser „Apparat“ historisch sehr verschiedene Formen annehmen. Zum anderen ist er charakterisiert durch seine mangelnde Selbstständigkeit in der gesellschaftlichen Praxis; er verkörpert sich nicht in einer zentralen Instanz. Der „Apparat“, der Andersheit produziert, konkretisiert sich in Institutionen, deren gesellschaftliche Funktion nicht vorrangig in der Produktion von Andersheit besteht. Schließlich umfassen die Konkretionen des „Apparates“ auch die vielfältigen rassistischen Artikulationen, die durch das Ensemble von Rassifizierung, Ausgrenzungspraxis und differenzierender Macht bedingt werden und seine Wirkung verstärken. Nehmen wir etwa folgenden Fall: Ein Arbeitgeber glaubt, dass Personen, die sich zum islamischen Glauben bekennen, durch Fanatismus Ärger verursachen würden und weist daher solche Bewerber zurück. Ohne eine Rassifizierung bestimmter Bewerber, also ohne Annahmen über die „Natur“ einer Gruppe, ist diese Handlung nicht denkbar. Die Ablehnung des Bewerbers konkretisiert daher den „Apparat“, ohne jedoch wie die Ausgrenzungspraxis eine systematische Qualität zu besitzen. Die gesamte Bandbreite dieser Artikulationen – Alltagsdiskurse, Pogrome, Polizeigewalt etc. – trägt jedoch insgesamt zur Produktion von Andersheit bei. Solche Artikulationen, die den „Apparat“ gewissermaßen zufällig und oft unvorhersehbar konkretisieren, stehen gewöhnlich im Mittelpunkt des öffentlichen und wissenschaftlichen Interesses, wenn es um Rassismus geht. Und so scheint es sich bei diesen Diskursen und Handlungen jedes Mal um singuläre „Ausnahmen“ zu handeln. Tatsächlich ist das Verhalten des angenommenen Arbeitgebers auch von irgendeiner besonderen individuellen Disposition geleitet. So wird der abstrakte „Apparat“, der sich in diesen Diskursen und Handlungen konkretisiert, gewöhnlich ignoriert. Man muss jedoch Frantz Fanon zustimmen, wenn er betont: „Ein für allemal stellen wir folgendes Prinzip auf: eine Gesellschaft ist entweder rassistisch oder nicht. Solange man diese Evidenz nicht erfaßt hat, wird man an einem großen Teil der Probleme vorbeigehen. Wer zum Beispiel sagt, daß der Norden Frankreichs rassistischer ist als der Süden, daß der Rassismus das
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Werk von Untergebenen ist, also in keiner Weise die Eliten betrifft, daß Frankreich das am wenigsten rassistische Land der Welt ist, der gehört zu jenen Menschen, die nicht richtig nachdenken können.“56 Um nun die Arbeit des „Apparates“ zum Thema der Wissenschaft zu machen, muss die Forschung notwendig die eng gefassten Grenzen der herkömmlichen Fächer verlassen. Weiterhin dominieren psychologische Konzepte wie „Vorurteil“ oder „Stereotypisierung“, die ohne die Einbeziehung von wirtschafts- und politikwissenschaftlichem, juristischem, soziologischem und historischem Wissen überhaupt nicht erklären können, warum bestimmte Einstellungen in der Gesellschaft eigentlich massenhaft geteilt werden. Der Gegenstand Rassismus wäre wohl ein ausgezeichnetes Betätigungsfeld für jene einheitliche „historische Sozialwissenschaft“,57 die Immanuel Wallerstein emphatisch gefordert hat.
56 Frantz Fanon 1985: Schwarze Haut, weiße Masken (1952). Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 63f. 57 Wallerstein 1991: 125.
WISSENSCHAFT UND TECHNIK
Wie wird menschliche Vielfalt und genetische Variation erfasst? Über Ordnungsprinzipien in Geschichte und Gegenwart der Lebenswissenschaften
Ein Interview mit Veronika Lipphardt
Veronika Lipphardt ist ausgebildete Historikerin und Biologin. Sie ist Professorin für Science and Technology Studies am University College Freiburg der Ludwig-Albrechts-Universität Freiburg. In ihren Forschungen befasst sie sich mit Wissensgeschichte sowie mit der Geschichte der Lebenswissenschaften, insbesondere der Humangenetik und der Physischen Anthropologie, außerdem mit der Geschichte und der aktuellen Entwicklung der Populationsgenetik. Ein besonderer Schwerpunkt ihrer Forschungen liegt auf der transdisziplinären Diskussion um die Anwendung Erweiterter DNA-Analysen in der Forensik.
Frau Lipphardt, gibt es „Rassen“? „Rassen“ gibt es nicht. Was es gibt, das sind genetische Unterschiede – bei Tier- und Pflanzenarten, bei Bakterien und Pilzen und eben auch bei Menschen. Nur ist diese genetische Vielfalt unglaublich komplex und dynamisch. Sie lässt sich deshalb kaum sinnvoll ordnen und klassifizieren. Der Begriff „Rasse“ ist ein menschengemachtes Ordnungsprinzip, und zwar ein besonders untaugliches. Denn es ist viel zu simpel, zu grob und zu willkürlich, um genetische Vielfalt zu ordnen. Aber genau das – Ordnen und Klassifizieren der Vielfalt des Homo sapiens – ist eine der Lieblingsbeschäftigungen unserer Spezies. Man kann es sich natürlich einfach machen: ein Ordnungssystem mit zum Beispiel fünf „Rassen“ entwerfen und dann entsprechend Menschen auswählen, deren Porträts jede einzelne dieser „Rassen“ als möglichst „typisch“ illustrieren sollen. Aber das ist nicht wissenschaftlich. Vor allem bedeutet es nicht, dass alle Menschen in ein solches Ordnungssystem passen – im Gegenteil. Wenn man allerdings nicht tagtäglich inmitten dieser komplexen Vielfalt lebt, sondern im Alltag nur
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relativ einheitlich aussehenden Menschen begegnet, kann man sich vielleicht der Illusion hingeben, dass Vielfalt leicht zu ordnen und zu klassifizieren sei. Sind sich Wissenschaftler_innen darin einig, wie dieses Ordnungsprinzip zu bewerten ist? An Kontroversen um das angemessenste Ordnungsprinzip, die korrekte Anzahl von „Einheiten“ („Rassen“, Populationen, Varietäten) und die beste Klassifizierung der menschlichen Vielfalt hat es in der Wissenschaft in den letzten Jahrhunderten nicht gemangelt. „Rasse“ ist nur eines von mehreren Ordnungsprinzipien, die Wissenschaftler_innen und andere Akteure in verschiedenen Ländern und zu verschiedenen Zeiten zu etablieren versuchten. Obwohl sich die meisten Forscher_innen heute darin einig sind, dass es zum Ordnen der genetischen Vielfalt als besonders ungeeignet, ja, als misslungen gelten muss, war es historisch gesehen ziemlich erfolgreich: Über Jahrzehnte hinweg dominierte es das Sprechen über menschliche Vielfalt. Aber aus meiner Sicht ist „Rasse“, wie schon gesagt, ein besonders misslungenes Ordnungsprinzip. Welche anderen Ordnungsprinzipien für genetische Vielfalt gibt es? Was bedeutet zum Beispiel „graduelle Variation“, und was versteht man unter „Isolaten“? Es gibt zum Beispiel die Vorstellung, dass genetische Vielfalt graduell variiert, meist über geografische Entfernungen hinweg, so wie etwa die Haarfarbe im Verlauf von Nord- nach Südeuropa immer dunkler wird. Auch dieses Ordnungsprinzip ist historisch gesehen alt, aber es hat bis in die 1960er-Jahre keine vergleichbare Verbreitung und Akzeptanz gefunden wie jenes der „Rasse“. In seinem aktuellen Buch vergleicht Mark Stoneking menschliche genetische Vielfalt mit einem Regenbogen, in dem die Farben ineinander übergehen.1 Je nachdem, wo und wie viele Bildausschnitte man aus dem Regenbogen auswählt, kommt man zu ganz unterschiedlichen Aussagen: Nimmt man nur drei Proben und diese jeweils aus der Mitte der Farbflächen Gelb, Rot und Blau, dann wird man seine Daten so interpretieren, dass Regenbögen aus drei klar voneinander abgrenzbaren Farben bestehen. Wählt man aber viele Proben über das ganze Spektrum verteilt, wird man diese Aussage nicht treffen, sondern über graduelle Verteilung sprechen. Dieser Einwand gegen das Ordnungsprinzip „Rasse“ ist sehr wichtig und überzeugend. Aber auch das Konzept der „graduellen Variation“ hat Mängel, und es lässt sich nicht generell auf menschliche genetische Vielfalt anwenden. Vielleicht funktioniert es bei „standortgebundenen“ Pflanzen, bei denen die Ausbreitungsfaktoren – man könnte auch sagen: die Migrationsfaktoren – vergleichsweise überschaubar und simpel 1 Vgl. Mark Stoneking 2017: An Introduction to Molecular Anthropology. Hoboken: Wiley-Blackwell.
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sind: Verbreitungsmodus und Reichweite der Fortpflanzungseinheiten, Umweltfaktoren etc. Pflanzen können nicht weggehen und auch nicht zurückkommen, weder als Individuum noch als Gruppe; sie können auch keinen Beschluss fassen, sich so oder so zu verhalten, um dies oder jenes zu bewirken oder zu vermeiden, und sie betreiben keine Symbolpolitik. Menschen tun all das aus ganz unterschiedlichen Gründen und mit sehr verschiedenen Hilfsmitteln. Bewegung findet freiwillig oder erzwungen statt, mit unendlichen Variationen der Geschwindigkeit und der Entfernung. In unserer Spezies ist Migration sehr komplex, viel komplexer, als die Schaubilder mit den großen Pfeilen auf der Weltkarte es suggerieren. Deshalb sind die „graduellen Verteilungsmuster“ der genetischen Vielfalt mitunter verwischt, durchquert, durcheinandergebracht, verschoben. Ein weiteres Ordnungsprinzip ist das der „Isolate“. Damit ist die Vorstellung gemeint, dass Populationen in relativer Isolation voneinander leben und so genetische Unterschiede akkumulieren. Überall da, wo man Unterschiede findet – seien sie nun graduell oder eher abrupt –, werden sie mit diesem Ordnungsprinzip der Isolation erklärt. Geografische Entfernung wird als ein möglicher Grund für eine solche Isolation zweier Populationen voneinander gesehen, kulturelle oder soziale Barrieren als mögliche andere Gründe. Je nach Situation kann beides zu gradueller oder zu abrupter genetischer Differenz führen. Aber auch dieses Konzept der Isolation hat in der Anwendung auf die heute zu beobachtende genetische Vielfalt seine Schwächen. Nicht immer lassen sich die Faktoren und die Folgen der Isolation noch nachvollziehen – wer weiß schon, ob und aus welchen Gründen sich Gruppen vor mehreren Tausend Jahren nicht gemischt haben. Zusammengefasst bedeutet das nach meiner Ansicht: Die genetische Vielfalt beim Homo sapiens ist so komplex und dynamisch, dass man ihr nicht ordnend und klassifizierend beikommen kann. Was wiederum nicht bedeutet, dass Wissenschaftler_innen die Hände sinken lassen und sich damit nicht mehr beschäftigen sollten. Aber sie sollten es so tun, dass ihre Forschung der Komplexität gerecht wird, und keine unangemessenen Vereinfachungen vornehmen. Sie sagen, dass es genetische Unterschiede zwischen Menschen gibt. Welcher Stellenwert wird diesen Unterschieden in der Wissenschaft beigemessen? Genetische Unterschiede bilden nur einen winzigen Bestandteil unserer gesamten genetischen Information. Fachleute sprechen von ungefähr 0,1 Prozent, wenn man es auf die DNA-Basensequenz bezieht.2 Bei drei Millionen Basenpaaren sind das immer noch etwa 300.000 Stellen auf dem Genom, an dem sich die Basenabfolgen unterschei2 Würde man hier auch epigenetische Unterschiede einbeziehen, wäre die Sachlage sogar noch viel komplexer.
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den können. Aber wiederum nur ein kleiner Teil dieser Unterschiede bezieht sich auf Unterschiede zwischen „Populationen“.3 Vielen wissenschaftlichen Darstellungen zufolge bestehen die meisten genetischen Unterschiede zwischen zwei Individuen derselben „Population“. Wie so oft würden Wissenschaftler_innen, die eng mit dem Thema vertraut sind, solche numerischen Angaben allerdings kritisieren: Sie dienen ja meist der Veranschaulichung für Personen, die mit der Komplexität nicht vertraut sind, und können selten wiedergeben, was eigentlich alles berücksichtigt werden müsste, um eine solche Frage nach dem Stellenwert zu beantworten. Derzeit wird jedenfalls intensiv an dem sehr kleinen Anteil von Unterschieden geforscht, die Auskunft darüber geben sollen, aus welcher Population die Familie eines Menschen „ursprünglich“ stammte: an den sogenannten Ancestry Informative Markers (AIM). Manche Wissenschaftler_innen verstehen diesen Begriff streng geografisch: Aus welcher geografischen Gegend stammen die Vorfahren eines Menschen? Andere begreifen „Population“ eher als „Ethnie“: Aus welcher „Ethnie“ stammen die Vorfahren eines Menschen? Aber der Begriff der Ethnie – ein sozialwissenschaftlicher Begriff – wird im naturwissenschaftlichen Gebrauch meist vollkommen falsch verstanden. Außerdem besteht zwischen geografischem und ethnischem Verständnis von Abstammung eine inhaltliche Spannung, die in der Forschung noch zu vielen Diskussionen führen dürfte. AIMs sind aber nicht nur ein Gegenstand wissenschaftlicher Neugierde (ein „epistemisches Objekt“, um mit Hans-Jörg-Rheinberger zu sprechen); sie dienen auch als „Instrumente“, um andere interessante Objekte zu untersuchen. Als solche „Werkzeuge“ sind sie in den Lebenswissenschaften sehr weit verbreitet, vor allem in biomedizinischen Forschungsbereichen, aber auch in der Forensik. Umstritten ist heutzutage vor allem, ob und inwiefern die genetischen Unterschiede überhaupt eine Bedeutung haben, was aus ihnen mit welcher Zuverlässigkeit abzuleiten wäre und wie man ihrer Komplexität sowie ihrer politischen Brisanz gerecht werden könnte. Kann die Wissenschaft dieser Komplexität gerecht werden? Wenn man ausbuchstabieren würde, was genau da jeweils gemeint ist, würde schnell deutlich werden, was jeweils nicht aufgeht, zum Beispiel für das biologische Verständnis. Bevor man weitreichende Aussagen über „Rassen“ oder „Populationen“ trifft, muss man über das Sampling, das Labeling, die Datenverarbeitung und die Interpretationsleistungen nachdenken, die den angeblich soliden „Fakten“ zugrunde liegen. Angenommene 3 Wohlgemerkt, es gibt bis heute keine allgemein verbindliche Definition dieses Begriffs in der Populationsgenetik des Menschen, die die Auswahl der tatsächlich untersuchten Populationen hinreichend legitimieren würde. Die einzelnen Studien und Argumente in diesem Bereich verwenden implizit, ohne Begründung, ganz unterschiedliche Vorstellungen von „Populationen“.
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Korrelationen bedeuten außerdem nicht unbedingt Kausalbeziehungen, weil etwa Populationen oft mit fragwürdigen Labels versehen werden. Dennoch wird zum Beispiel oft behauptet, dass eine bestimmte Population (sagen wir: Marsianer) eine bestimmte Disposition zu dieser oder jener Krankheit (zum Beispiel Grünsucht) habe. Präziser gefasst müsste es heißen: „Personen, die von sich selbst (oder von anderen Personen) als Marsianer bezeichnet werden und in biomedizinischen Studien unter diesem Populationsnamen ins Sample einbezogen wurden, erhalten statistisch häufiger die Diagnose Grünsucht. Über die kausalen Zusammenhänge ist noch nichts bekannt.“ Diese kausalen Zusammenhänge können aber sehr überraschend sein. Zum Beispiel können sie mit den Diagnosepraktiken der Ärzte zu tun haben. Was wiederum nicht bedeutet, dass die ins Sample einbezogenen Menschen keine interessanten genetischen Unterschiede zu einer wie auch immer definierten Vergleichspopulation aufweisen. Nur muss auch das Zustandekommen der Vergleichspopulation betrachtet und explizit diskutiert werden. Wie steht es um die ethischen Implikationen der heutigen Biowissenschaften? Jeder und jede, der oder die sich zu dem Thema äußert, muss sich den enormen wissenschaftlichen und ethischen Herausforderungen dieses Phänomens stellen. Bisher habe ich vor allem von den wissenschaftlichen Herausforderungen gesprochen und dabei nur an der Oberfläche gekratzt! Außerdem ist aus meiner Sicht entscheidend, wie deterministisch ein Konzept ist. „Unabänderlich“, „eindeutig feststellbar“, „kommt gehäuft in dieser oder jener Population vor“, „durch die Weitergabe von Generation zu Generation festgelegt“, „robust“: Wenn jemand Unterschiede zwischen Menschen derart imaginiert – übrigens auch kulturelle Unterschiede –, dann hat er oder sie die ethischen Herausforderungen nicht verstanden oder ignoriert sie bewusst. Er oder sie hat offensichtlich auch kein Interesse an einer ernsthaften inhaltlichen Diskussion über die wissenschaftliche Komplexität und die facettenreichen Herausforderungen genetischer Vielfalt. Wer aber ein solches Interesse nicht mitbringt, kann meiner Meinung nach wissenschaftlich nicht mitreden. Wie aktuell ist diese Diskussion? Sie ist hochaktuell! Seit den frühen 2000er-Jahren ist sie nicht zum Stillstand gekommen, und sie verläuft in den einzelnen Disziplinen unterschiedlich. Obwohl es Berührungspunkte gibt: Die physische Anthropologie führt eine andere Debatte als die forensische Genetik oder die medizinische Humangenetik oder die Populationsgenetik oder die sogenannte molekulare Anthropologie oder genetic history. In der Öffentlichkeit sieht man immer nur einzelne Momente aus diesen Diskussionen. Dass es hier keinen ein-
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heitlichen Forschungsstand gibt, wird fast nie ausgesprochen. Aber es geht dabei nicht nur um eine wissenschaftliche Diskussion mit einer sehr interessanten Dynamik – dazu gleich mehr –, sondern auch um Praktiken. Die Praktiken des Unterscheidens nach Populationen sind schon lange allgegenwärtig: im staatlichen Handeln, im gesellschaftlichen Alltag und auch in den Wissenschaften.4 Die Ordnung genetischer Vielfalt nach Populationen spielt seit Jahrzehnten eine Rolle in zahlreichen Forschungsbereichen der Lebenswissenschaften, zum Beispiel in der Neurologie, Ernährungswissenschaft, Strahlenbiologie, Reproduktionsmedizin, Serologie etc. Hier wurden zudem Fakten geschaffen: Viele Forschungsresultate, die angeblich genetisch bedingte Unterschiede zwischen sozialen Gruppen belegen, sind bereits in soziale, gesellschaftliche, und staatliche Maßnahmen sowie in die öffentliche Meinungsbildung eingeflossen. Eine riesige Datenmenge hat sich angesammelt, in der mehr oder weniger kohärente Populationsbezeichnungen zusammenkommen und in Datensets akkumuliert werden. Heutzutage werden „Populationsunterschiede“ auch in den Neurowissenschaften und natürlich bei allen DNA-Big-Data-Projekten studiert und genutzt, um alles Mögliche zu untersuchen. In fast allen Projekten, die große Datenmengen über Menschen erheben, wird die „Populationszugehörigkeit“ erhoben. Aber über die Kriterien, die Qualität und die Konsequenzen dieser Zuschreibung zu einer Population wird viel zu wenig diskutiert. Denn die Erhebung dieser Daten entspricht bei Weitem nicht den Qualitätsstandards, die in der dazugehörigen Diskussion eingefordert werden – oder einzufordern wären. Hier gibt es ein ganz praktisches Problem: Die Erhebung sollte standardisiert werden, damit Vergleichbarkeit wirklich gegeben ist, aber das ist nicht möglich. Die Bedingungen, unter denen das Sampling sowie die Zuschreibung zu Populationen jeweils erfolgen, unterscheiden sich weltweit drastisch. Allen Protokollen zum Trotz haben die Forscher kein einheitliches Verständnis von diesem Prozess des Samplings. Um überhaupt von einer „Population“ reden und Personen als zugehörig ansprechen zu können, muss man zudem viele nichtnaturwissenschaftliche Informationen über die jeweilige „Population“ einholen: von Historikern, Sozialwissenschaftlern, Sprachkundigen, Fachkundigen, Insidern etc. Ungeklärt ist aber, wie mit diesen Informationen umzugehen ist und welche komplementäre Expertise benötigt wird, um sie einordnen zu können. Als Wissenschaftshistorikerin beschäftigen Sie sich also mit der Frage, mit welchen Methoden und Begriffen die biologischen und genetischen Unterschiede zwischen Menschen beschrieben
4 Vgl. Alexandra Widmer und Veronika Lipphardt (Hg.) 2016: Health and Difference. Rendering Human Variation in Colonial Engagements. New York: Berghahn Books.
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wurden. Heute wird diese Vielfalt als „human genetic variation“ beschrieben, jedoch unterschiedlich interpretiert. Die DNA ist demnach nicht selbsterklärend? Nein! Der Mediävist Jörg Feuchter schreibt ganz zutreffend: DNA lügt nicht. Sie erzählt aber auch nichts. Wissenschaftler_innen in diesem Forschungsbereich interpretieren ziemlich komplexe, große Datensätze. Manchmal sind ihre persönlichen Vorannahmen dabei unübersehbar, zum Beispiel wenn sie eine bestimmte Interpretation bevorzugen, obwohl mehrere andere ebenso sachlich gerechtfertigt wären. Umso mehr gilt das für Laien. Geschichten, die man von der DNA hören möchte, werden gern akzeptiert und für absolut wahr gehalten. Scheint das „Orakel“ Unangenehmes, Verwirrendes oder Unklares anzuzeigen, verwirft man das lieber: Es könnte ja ein technischer Fehler gewesen sein, oder die Methode ist noch nicht so weit etc. Der wissenschaftsgeschichtliche Blick richtete sich in Europa lange auf biologische Anthropologie und „Eugenik“, die bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts mit dem Begriff der „Rasse“ operierten. Seit 1945 schien ein solcher „wissenschaftliche Rassismus“ durch die „objektive Populationsgenetik“ abgelöst zu sein. Wie beurteilen Sie diesen Bruch? Es gab ihn höchstens als Wunschdenken. Oder, mit Blick auf involvierte Lebenswissenschaftler_innen, als Entlastungsstrategie. Aus meiner Sicht sind diese Begriffe und ihre Kontrastierung problematisch: „Wissenschaftlicher Rassismus“ klingt so, als ob bis 1945 alles ganz schlimm ideologisch gewesen sei, dann aber nicht mehr. Das hilft natürlich als Kontrastfolie, wenn man das, was nach 1945 an die Stelle der Rassenforschung trat, als objektiv und unproblematisch darstellen möchte. Tatsächlich gibt es viel mehr Kontinuitäten, als es vielen Wissenschaftler_innen recht ist. Das Auftreten der Populationsgenetik kann man auch disziplinhistorisch kontextualisieren: Im 19. Jahrhundert beschäftigten sich zunächst einige, teilweise neu entstandene Disziplinen mit menschlicher Vielfalt: Ethnologie, Urgeschichte, Zoologie, Geografie, physische Anthropologie und Demografie. Die physische Anthropologie wurde im frühen 20. Jahrhundert zur Kerndisziplin, wenn es um die Erforschung menschlicher Vielfalt ging; anthropometrische Methoden dominierten dieses Feld. Die „Eugenik“ kann man nur sehr bedingt als Disziplin betrachten; ich würde sie eher als eine soziale, weltanschauliche Bewegung bezeichnen, in der sich Wissenschaftler_innen und Mediziner_innen aus vielen Disziplinen und Ländern zusammenfanden (die sie natürlich gern auf Dauer als Disziplin an den Universitäten etabliert hätten). Dabei griffen diese Forscher für ihre eugenisch motivierten Projekte auf genetische, medizinische, genealogische oder demografische Methoden zurück. Sowohl die „Eugenik“ als auch die Rassenforschung und die physische Anthropologie mussten nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs zwar
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nicht sofort, aber doch innerhalb der nächsten zwanzig Jahre ihre Rolle als Kerngebiet der Erforschung menschlicher Vielfalt an die Genetik abgeben. Und die neue, unbelastete Disziplin der Populationsgenetik spielte dabei eine zentrale Rolle. Viele der älteren Ansätze, Begriffe, Klassifikationen, Konzepte und Praktiken wurden jedoch in dieses neue Kerngebiet übernommen, manche aber auch über Bord geworfen. Zur Aufklärung über die heutige Situation schlagen Sie also vor, die Geschichte der Populationsgenetik in den Blick zu nehmen, die in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts zur Leitdisziplin der Erklärung menschlicher Vielfalt/Variation wurde. Was genau meinen Sie damit? Bereits in den 1920er-Jahren entstand die Seroanthropologie als vielversprechender neuer Ansatz zur Erforschung der menschlichen Vielfalt. Sie widmete sich den Unterschieden der Verteilung der Blutgruppen – entweder geografisch-graduell oder zwischen angenommenen „Rassen“. Die Blutgruppen waren die ersten phänotypischen Merkmale, deren Erbgang beim Menschen verstanden wurde, ein Erbgang, der gut überschaubar und robust erschien. Darüber hinaus gab es davon die richtige Anzahl an Varianten – weder zu viele noch zu wenige –, was deren Verteilung auf dem Globus zu einer vielversprechenden Forschungsaufgabe machte. Manche Forscher betrachteten die Seroanthropologie wegen ihrer innovativen Methodik als Kontrapunkt zur Rassenforschung, die damals überwiegend mit anthropometrischen Methoden arbeitete. Aber sehr viele Forscher arbeiteten bis in die 1960er-Jahre mit beiden Methoden. Das wirft die Frage auf, ob es einen Unterschied zwischen der Untersuchungseinheit „Rasse“ der Rassenforschung und der „Population“ der Populationsgenetik gegeben hat. Meine Forschungen haben ergeben, dass es in vielen Fällen überhaupt keinen Unterschied gibt; dieselben Gruppen wurden vor und nach 1945 unter demselben Gruppennamen als Untersuchungsobjekt ins Auge gefasst. Das Populationskonzept der Nachkriegszeit, das die Entstehung mendelscher Populationen durch relative reproduktive Isolation annimmt, ist natürlich schon vor dem Zweiten Weltkrieg, auch im Rahmen der Rassenforschung, formuliert worden, es war also nicht neu. Die Wissenschaftsphilosophin Lisa Gannett hat es treffend als populational race concept bezeichnet. Um ein Beispiel zu nennen: Mit meinem interdisziplinären Team untersuche ich derzeit mehr als zweihundert Publikationen aus dem Fachgebiet der Genetik aus den vergangenen 96 Jahren, die sich den Roma als einer angeblich genetisch isolierten Population widmen. Was „Roma“ bedeutet, ob man hier überhaupt von einer eingrenzbaren Gruppe sprechen kann, wird in diesen Studien nirgends thematisiert; bis vor Kurzem verwendeten die Forscher den Populationsnamen gypsies – und manche tun das sogar heute noch. Seit knapp hundert Jahren hat sich an den biohistorischen Narrativen, mit
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denen die Geschichte der Roma in diesen Studien beschrieben wurde, so gut wie nichts geändert. Sie unterscheiden sich auch nicht wesentlich von den Narrativen in den anthropometrischen und rassistisch und/oder eugenisch motivierten Studien, die bis weit nach dem Zweiten Weltkrieg an Roma durchgeführt wurden – mit einer Ausnahme: Sie gehen sehr viel deutlicher als die älteren Studien von einer durchgehenden sozialen Isolation der Roma in Europa aus. Hier wurde einfach der Begriff der „Rasse“ durch den der „Population“ ersetzt, genauer: „isolierte Population“. Statt Blutgruppen wurden Proteine und später die DNA untersucht, aber der konzeptionelle Rahmen ist ziemlich konstant geblieben. Aktuell wird eine erneute Zunahme von Rassenklassifikationen in den Lebenswissenschaften beobachtet. Vor allem in den USA wird diese „Rückkehr“ von „Rasse“ beziehungsweise „race“ kritisch kommentiert. Was ist darunter zu verstehen, und in welchen Feldern ist dies zu beobachten? Abgesehen von der physischen Anthropologie gibt es momentan vier Felder, in denen diese Rückkehr beobachtet wird: zum einen in der biomedizinischen, zum anderen in der forensisch-genetischen Forschung, im Bereich der genetic history und schließlich im kommerziellen Betrieb des ancestry testing. Ich werde mich weiter unten vor allem darauf konzentrieren, die Methoden und Probleme der Anwendung in der Forensik ausführlich darzustellen. Natürlich sind nicht alle Vertreter dieser Forschungsrichtungen an einer affirmativen Wiederbelebung von race beteiligt. Es gibt da intern sehr viel Kritik und Dissens, aber meist sind es Sozialwissenschaftler_innen, die darüber kritisch einer breiteren Öffentlichkeit berichten. Ich bin froh, dass es wenigstens in den USA und Großbritannien in allen beteiligten Disziplinen wache, kritische Stimmen gibt; hier, in Deutschland, sind auch einige zu vernehmen, aber zu wenige, und es mangelt an allgemeinem Verständnis für die Problematik. Meiner Meinung nach kann da nichts „erneut“ aufkommen, denn diese Forschungsansätze – mit und um menschliche genetische Vielfalt herum – waren ja nie weg. Wohl aber ist das Sprechen über genetische Vielfalt unter dem Motto „Rasse“ erneut aufgekommen und hat das Forschungsfeld, das all die Jahrzehnte über ohne Unterbrechung Daten zu genetischen Unterschieden produziert hat, zu einem gewissen Teil wiedererobert. Für mich stellt sich die Frage, ob Wissenschaftler_innen diese Begriffe verwenden, weil sie über die damit einhergehenden begrifflichen Fallstricke einfach nicht Bescheid wissen – oder ob sie dies absichtlich tun, um einen Begriff wieder salonfähig zu machen, obwohl ihn zahlreiche der besten Wissenschaftler_innen als untauglich für die Beschreibung genetischer Vielfalt beim Menschen ansehen. Übrigens überschneiden sich die Bedeutungen von race und „Rasse“ nur teilweise (vgl. den Beitrag von Jakob Tanner);
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auch „Ethnie“ und ethnicity bezeichnen nicht dasselbe. Übersetzungsleistungen in diesem Bereich sind höchst anspruchsvoll, weil man dafür viel Wissen zum Beispiel über die Geschichte des Diskurses und des administrativen Umgangs mit Vielfalt in verschiedenen Ländern haben muss. Sie sehen Ihre Aufgabe als Wissenschaftsforscherin unter anderem darin, diesen Forschungsstrang zu untersuchen und „fachfremde“ Vorannahmen der genetischen Forschung sichtbar zu machen. Was heißt das? Ein entscheidender Punkt besteht in der Erfassung und Definition einer „Population“. Mit meinem Team stelle ich folgende Fragen an die historischen und gegenwärtigen Quellen: Nach welchen Kategorien werden Individuen in sogenannte Samples aufgenommen? Wie werden diese Menschen angesprochen und zur Teilnahme bewegt? Welche Erzählungen über die Geschichte der jeweiligen Gruppe werden dafür herangezogen, welche werden ignoriert? Woher kommen ihre Erzählungen? Welche Disziplinen und Vertreter dieser Disziplinen werden für die Bereitstellung von Wissen über die Gruppe herangezogen? Welche werden aus dem interdisziplinären Dialog ausgeschlossen und mit welchen Folgen? Wie viele alternative Erklärungen für das Zustandekommen von genetischen Unterschieden prüft ein Team: nur eine oder mehrere, und bei Letzterem: stets mit derselben Sorgfalt? Oder steht von vornherein fest, welche Geschichte als einziges infrage kommendes Erklärungsmodell betrachtet wird? In Studien, die sich spezifischen Populationen zuwenden, finden wir sehr oft vorgefertigte Ansichten darüber, wie eine bestimmte Bevölkerungsgruppe betrachtet werden sollte. Momentan wird in Deutschland über die gesetzliche Einführung „erweiterter DNA-Analysen“ diskutiert. Dazu gehört einerseits das „Forensic DNA Phenotyping“ (FDP) – die Bestimmung von Haut-, Haar- und Augenfarbe – und andererseits die Bestimmung der „biogeografischen Herkunft“. Was hat es mit der Diskussion um dieses Konzept auf sich? Aufseiten der Lebenswissenschaften hat man vor etwa 15 Jahren versucht, menschliche genetische Vielfalt mit einem neuen analytischen Begriff zu fassen, und zwar mit der „biogeografischen Herkunft“ oder biogeographical ancestry (im Folgenden: bgA). Dabei handelt es sich um ein statistisches Konzept. Auf der Basis von Wahrscheinlichkeitsberechnungen kreist es die Region ein, aus der die Vorfahren einer Person stammen, deren DNA zum Beispiel an einem Tatort gefunden wurde. Das Konzept geht davon aus, dass die genetischen Unterschiede zwischen Menschen umso größer sind, je weiter entfernt ihre Vorfahren voneinander lebten oder je weniger Sexualkontakte es zwischen den Vorfahren gab.
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Doch das Konzept biogeographischen Herkunft macht das Problem nicht einfacher, denn wie sich zeigen wird, kann man es sowohl gegen als auch für Rassentheorien und -konzepte in Stellung bringen. Wie dieser Ansatz derzeit in Deutschland aufgegriffen wird, lässt erahnen, um welche Komplexitäten es bei der Diskussion um FDP und bgA geht. Denn der öffentliche Diskurs in Deutschland zeigt, dass selbst die befürwortenden Wissenschaftler_innen die wissenschaftliche Komplexität jener Technologien und Konzepte unterschätzen und ihre Aussagekraft überschätzen. Konkret sieht ein Gesetzesvorstoß der Länder Baden-Württemberg und Bayern vor, dass Ermittler künftig bei schweren Verbrechen die bgA sowie äußerlich sichtbare Merkmale bestimmen dürfen. Die „kontinentale biogeografische Herkunft“, so steht es in den entsprechenden Gesetzesentwürfen,5 ließe sich zu 99,9 Prozent Wahrscheinlichkeit ermitteln. Das klingt, als ob man jede DNA-Probe fast zweifelsfrei einem Kontinent zuordnen könne. In der fachlichen Praxis ist die Aussagekraft der Methode aus verschiedenen Gründen, die ich gleich näher erläutere, keineswegs so groß. In der Forensik wird derzeit fieberhaft an der Präzision dieser Methoden gearbeitet, um aus einer am Tatort gefundenen DNA die bgA des DNA-Trägers (nicht: des Täters, denn oft findet sich an Tatorten auch nicht-tatrelevante DNA) zu bestimmen. Da im nächsten Schritt die entsprechende Eingrenzung eines Personenkreises vorgenommen wird, der dann weiteren, zum Teil grundrechtsverletzenden Ermittlungen unterworfen wird, müssen die Standards hier entsprechend hoch angesetzt werden. Die Befürworter, darunter Ermittler, Politiker und einige wenige Forensiker, wollten die zahlreichen kritischen Argumente bisher nicht gelten lassen, selbst dann nicht, wenn es sich um naturwissenschaftliche und statistische Argumente handelte. Sie sprechen von „ideologischen Scheuklappen“ und „Gutmenschen“, die aufgrund der deutschen Geschichte überbesorgt und nur um politische Korrektheit bemüht seien. Diese Argumentationsweise verhindert eine wissenschaftliche, ausgewogene Diskussion darüber, was bgA bedeuten kann und ob die vorgeschlagenen Technologien bei der Anwendung in Ermittlungsverfahren eine gewisse Diskriminierungsgefahr mit sich bringen könnten, selbst wenn keiner der Beteiligten eine explizite Diskriminierung beabsichtigt. Es geht nicht um politische, sondern um wissenschaftliche Korrektheit – und da hilft nur eine wissenschaftliche Kontroverse weiter. Nachdem Debatten um „Rasse“ und „Rassenforschung“ in Deutschland jahrzehntelang gar nicht geführt worden waren, wird von manchen Kommentatoren jetzt heftig in die andere Richtung übertrieben. Sorgfältiges Formulieren von Aussagen tritt hinter das freie Fabulieren über die angeblich objektiv und einfach festzustellende bgA, „Ethnie“ oder gar „Rasse“ zurück. 5 Alle Texte finden sich unter http://www.stsfreiburg.wordpress.com [17. Januar 2018].
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Dass dieses in Deutschland neu aufkommende Sprechen über genetische Vielfalt kritisch beobachtet werden muss, zeigt sich angesichts der vielen „slippages“, um es im Jargon der Wissenschaftsforschung zu sagen: gemeint sind damit Missverständnisse, Fehlinterpretationen und Kurzschlüsse, die die Befürworter der Gesetzesänderung in der öffentlichen Debatte ständig produzieren. Nicht nur Laien stellen zum Beispiel eine viel zu enge, ja sogar kausale Verbindung zwischen „biogeografischer Herkunft“ und „Ethnizität“ sowie dem äußeren Erscheinungsbild her. Dabei ist das eine nicht unmittelbar aus dem anderen abzuleiten; es gibt zwar Korrelationen, aber die sind komplex. Während der forensische Genetiker und Vorsitzende der Gemeinsamen Spurenkommission, Peter Schneider, in einer Stellungnahme vom Dezember 2016 explizit davor warnt, „den Begriff der ‚Ethnizität‘ oder ‚Ethnie‘ im Zusammenhang mit der genetischen Herkunftsbestimmung [zu verwenden], da soziale, kulturelle oder religiöse Kriterien dabei keine Rolle spielen“, 6 sind andere Forensiker davon überzeugt, dass die „ethnische Zugehörigkeit“ eines mutmaßlichen Täters „objektiv“ aus dessen DNA bestimmt werden könne. Das zeigt die Diskussion auf dem Blog des Forensikers Cornelius Courts.7 Auch dem unter Innenpolitikern weit verbreiteten Irrglauben, dass das „genetische Phantombild“ schon heute sehr präzise möglich sei, ist Schneider mit starken Worten entgegengetreten. Leider üben sich nicht alle Genetiker in Deutschland in vergleichbarer Zurückhaltung und Besonnenheit in Bezug auf die Technologien. Hier besteht also noch umfassender Klärungsbedarf innerhalb der forensischen Community, der Polizei und der Justiz. Dabei ist der Austausch mit den Sozial- und Geisteswissenschaften gefragt, die in den vergangenen zwanzig Jahren maßgeblich zur analytischen Differenzierung und damit zur Überwindung reduktionistischer Sichtweisen auf das soziale Konstrukt der „Ethnizität“ beigetragen haben. Man muss aber unbedingt betonen, dass sich etliche Genetiker, vor allem im englischen Sprachraum, um sehr vorsichtige und präzise Äußerungen bemühen, wenn es darum geht, die Zusammenhänge zwischen bgA, „Rasse“, „Ethnie“ und Aussehen zu beschreiben.
6 Peter Schneider 2014: Pressemitteilung der Spurenkommission. Deutsche Gesellschaft für Rechtsmedizin. http://www.gednap.org/wp-content/uploads/2016/12/Stellungnahme_DNA-Vorhersage_Spurenkommission_2016-12-141.pdf, 3 [17. Januar 2018]. 7 http://scienceblogs.de/bloodnacid/2017/04/06/deutschland-modernisiert-hoffentlich-endlich-diestpo/; hier: #70 [17. Januar 2018].
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Wie beurteilen Sie diese Diskussion? Welche Unterschiede sehen Sie zur früheren Rassenforschung? Was die Befürworter den Ermittlern ermöglichen wollen, ist eine naturwissenschaftliche Zuordnung von Individuen zu angeblich klar unterscheidbaren Bevölkerungskategorien. Diese werden als biologische Klassifikationseinheiten verstanden. Sie gehen zudem davon aus, dass die eindeutige Erfassung äußerlicher Merkmale, die diese Zuordnung erleichtern soll, wissenschaftlich einwandfrei möglich sei. Und sie wollen die Verwendung solcher Zuordnungen in staatlich-administrativen Kontexten ermöglichen. Für mich ist deshalb deutlich erkennbar, dass es die heutige Diskussion um erweiterte DNA-Analysen gewisse Berührungspunkte hat mit den Anliegen der damaligen Rassenforschung, in Deutschland, aber auch anderswo, vor und während der NS-Zeit. Die Wissenschaftler damals haben ebenfalls gern und intensiv mit staatlichen Stellen zusammengearbeitet. Das war ein einvernehmliches Geben und Nehmen. Die Anliegen auf der staatlich-administrativen Seite sind freilich heute andere als damals, und wir leben nicht unter einem diktatorischen Regime. Keineswegs will ich den heutigen befürwortenden Wissenschaftler_innen unterstellen, dass sie sich, wie die Kollegen in den 1930er und 1940er Jahren, skrupellos an staatlichen Maßnahmen beteiligen würden, die die Rechte der Bürger massiv verletzen. Aber meiner Ansicht nach sollten sie sich schon die Frage stellen, inwiefern ihre Situation – zwischen wissenschaftlichen und staatlichen Ordnungsversuchen – Ähnlichkeiten zur Situation ihrer Kollegen damals aufwirft. Angesichts der politischen Entwicklungen stellt sich außerdem die Frage, wie lange es noch dauern wird, bis in anderen Staaten, in denen die Rechte der Bürger bereits stark eingeschränkt wurden, ähnliche politische Interessen sehr problematische Anwendungen dieser Technologien anleiten werden. Wenn die Technologien tatsächlich so tauglich und ausgereift wären (was ich bezweifele), wie es die Befürworter behaupten, dann wären sie um einiges gefährlicher als die Methoden, die dem NS-Regime zur Verfügung standen. Dann wären sie allerdings auch ein ausgesprochen wichtiges Thema für den Deutschen Ethikrat, der bisher dazu schweigt. Was macht die Bestimmung der „biogeografischen Herkunft“ so schwierig? Und weshalb lässt sie keinen Rückschluss darauf zu, was unter „Ethnie“ verstanden wird? Bevor ich erkläre, weshalb die Bestimmung der bgA technisch sehr kompliziert ist, muss der Begriff der Ethnizität genauer erläutert werden. „Ethnie“ ist kein naturwissenschaftlicher Begriff, sondern den Sozial- und Kulturwissenschaften entlehnt. Auch dort wird er kontrovers diskutiert, aber gemeinsam ist allen Ansätzen, dass „ethnische Zugehörigkeit“, wenn überhaupt, nicht ohne die explizite Frage nach der Selbstzuschreibung
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untersucht werden kann. Eine solche Selbstzuschreibung muss nicht unbedingt mit der Vorstellung einer biologischen Gruppenzugehörigkeit einhergehen. Menschen, die sich derselben ethnischen Gruppe zuordnen, können unterschiedliche bgA haben; umgekehrt können sich Menschen mit derselben bgA verschiedenen Ethnien zuordnen. Viele Menschen mögen sich aber gar keiner Ethnie zuordnen, weil ihnen das Konzept nichts sagt oder nicht bedeutungsvoll erscheint. Ordnet nun ein externer Beobachter eine Person einer Ethnie zu, also „von außen“, ist dies als wissenschaftlicher Ansatz problematisch, weil weder Staatsangehörigkeit, Aussehen noch Sprache eine klare Zuordnung ermöglichen. Ethnizität, die anhand solcher Kriterien zugeschrieben wird, stimmt oft nicht mit der Selbstzuordnung und auch nicht unbedingt mit der bgA überein. Es kann also kein allgemeingültiges Kriterium für die Zuordnung geben. Andersherum gilt: Anhand der bgA einen geografischen Ort zu ermitteln, an dem vermutlich die Vorfahren der Person gelebt haben könnten, hat seine Tücken; vor allem sagt es weder etwas über die kulturelle Zugehörigkeit noch über die Selbst- oder Fremdzuordnung einer Person aus. Trotzdem kann es Fälle geben, in denen alles übereinstimmt: bgA, selbst- und fremdzugeschriebene Ethnie, Sprache, Staatszugehörigkeit. Aber wie häufig kommt das vor im Vergleich zu komplexeren Fällen? Diese Frage kann niemand beantworten; die Ansichten darüber gehen weit auseinander. Man kann freilich untersuchen, inwiefern eine per DNA-Analyse ermittelte bgA mit der self identified ethnicity oder mit der externally-ascribed ethnicity korreliert. Für verschiedene Länder, Gruppen und Personen werden sich auf diese Weise ganz unterschiedliche Korrelationswerte finden. Anders als in den USA existieren zum Beispiel in Deutschland keinerlei Zensusdaten zur self identified ethnicity. Deutsche Staatsbürger haben daher keine Erfahrung mit der Selbstzuschreibung von Ethnizität in administrativen Zusammenhängen. Das bedeutet, dass es sehr viele Überraschungen gäbe, wenn man die bgA-Bestimmung verpflichtend für alle deutschen Bürger machen würde. Hinzu kommt, dass der Einsatz dieser Methoden in bestimmten örtlichen Kontexten wenig sinnvoll ist. Das gilt einerseits für große Städte mit multiethnischer, stark gemischter Wohn- und Durchreisebevölkerung und andererseits für gesellschaftliche Gruppen, die eine bewegte Geschichte hinter sich haben. Zum Beispiel wird die bgA weniger mit der selbst zugeschriebenen Ethnizität korrelieren, wenn eine Geschichte von mehrfacher Vertreibung, Versklavung oder Unterwerfung über große Zeiträume hinweg vorliegt. Dabei ist auch zu bedenken, dass viele Menschen, unter anderem gerade wegen solcher Ereignisse und Machtstrukturen, eine Selbstzuschreibung zu einer stigmatisierten Gruppe ablehnen. Nun zurück zur Frage der technischen Bestimmung der bgA: Dabei wird die DNA einer Person mit der DNA zahlreicher anderer Personen verglichen. Genetiker benötigen dazu aus möglichst vielen geografischen Regionen sogenannte Referenz-DNA-Daten der dort ansässigen Bevölkerung. In das Referenzdatenset, das stellvertretend für die
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bgA einer bestimmten Region steht, werden dabei DNA-Daten von Menschen aufgenommen, die angeben, dass bereits alle vier Großeltern aus dieser Gegend stammen (zum Beispiel aus einem Umkreis von 100 Kilometern um den Geburtsort der Person). Wenn nun die bgA einer beliebigen Person bestimmt werden soll, wird deren DNA mit den Referenzdaten einer Datenbank abgeglichen. Dort wird die neue DNA derjenigen Population zugeordnet, mit der sie die meisten genetischen Ähnlichkeiten hat. Bei einer regional überschaubaren Familiengeschichte ist die Einordnung relativ klar – aber nur dann, wenn entsprechende Referenzdaten auch in der Datenbank vorhanden sind. Verschiedene Datenbanken können daher auch für dieselbe DNA zu unterschiedlichen Ergebnissen kommen. Die derzeit verfügbaren Referenzdatenbanken sind lückenhaft, sie decken längst nicht alle Weltregionen gleich gut ab. Der Mittlere Osten ist zum Beispiel in vielen Datenbanken nur sehr dünn repräsentiert. Fraglich ist zudem, ob globale Repräsentativität mit ethisch vertretbaren Mitteln je zu erreichen ist, nämlich nach den internationalen Regeln, die zum Schutz möglicher Probanden gelten, vor allem anhand der sogenannten Informierten Einwilligen (informed consent). Ausgedehnte Grenzregionen zwischen Kontinenten, wie der Mittelmeerraum oder der Mittlere Osten, die immer auch Kontaktzonen zwischen vielfältigen Bevölkerungsgruppen waren, machen die bgA-Bestimmung außerdem sehr komplex. Das größte „Problem“ sind nämlich Wanderungen und die sogenannte mixed ancestry. Die bgA festzustellen, funktioniert sehr viel schlechter bei Menschen, deren Vorfahren nicht nach den strengen Residenzregeln der bgA-Bestimmung gelebt haben – also bei Menschen, deren Vorfahren aus unterschiedlichen Regionen kommen. Zugespitzt gesagt: Mit 99,9 Prozent Sicherheit lassen sich nur Personen zuordnen, in deren Familiengeschichte es keine Sexualkontakte mit „Ortsfremden“ gab. Zum Beispiel bedeutet das auf Nordund Südamerika oder Australien bezogen, dass lediglich bei den Nachfahren der indigenen Bevölkerung, die nie entsprechenden Kontakt mit Eingewanderten hatten, derart hohe Vorhersagewahrscheinlichkeiten erzielt werden können, nicht jedoch bei der überwiegenden Mehrheit der dortigen Bevölkerungen, den multiethnischen Gesellschaften. Diese sind von jahrhundertelangen Migrationsbewegungen und Sexualkontakten zwischen Angehörigen unterschiedlicher Gruppen geprägt. Zu berücksichtigen ist dabei, dass es neben freiwilligen Sexualkontakten zwischen Angehörigen unterschiedlicher Gruppen vielfältige Formen unfreiwilliger Sexualkontakte gab und gibt, zum Beispiel systemimmanente sexuelle Übergriffe auf Frauen der einheimischen Bevölkerung durch Vertreter des europäischen Kolonialismus oder Massenvergewaltigungen während kriegerischer Auseinandersetzungen, ein Phänomen auch der jüngeren und jüngsten europäischen Vergangenheit. In vielen Fällen sind freiwillige wie unfreiwillige Sexualkontakte zwischen Angehörigen unterschiedlicher Gruppen – vor allem wenn sie außerhalb fester Partnerschaften stattfinden – bis heute mit Tabus belegt, was dazu führt, dass
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Personen diese oft verschweigen, wenn sie nach ihren Familiengeschichten befragt werden – oder sogar nicht einmal selbst davon wissen. Können Sie ein Beispiel dafür geben, dass eine analysierte bgA nicht aussagekräftig ist? Ein Beispiel wäre Afghanistan, zwischen Europa und Asien gelegen. Es mag afghanische Staatsbürger geben, deren Familien den bgA-Kriterien so entsprechen, dass ihre DNA auf einer Landkarte dem heutigen Afghanistan zugeordnet werden kann. Dasselbe gilt jedoch auch für viele Menschen ohne afghanischen Pass. Zudem ist Afghanistan ein multiethnisches Land, und die Referenzdaten sind sehr lückenhaft. Bei bgA-Analysen werden manche Menschen mit afghanischer Staatsangehörigkeit dem asiatischen, andere dem europäischen Raum zugeordnet. Das bedeutet: Weder der ermittelte Kontinent noch das Land, aus dem laut bgA-Analyse die Vorfahren einer Person stammen, erlauben eine Zuordnung zu dem Staat, dessen Bürger die Person tatsächlich ist. Andersherum: Weder die Staatszugehörigkeit noch der Kontinent noch das Land, auf beziehungsweise in dem eine Person mit Vorfahren aus dem heutigen Afghanistan aufgewachsen ist, können anhand einer bgA-Untersuchung mit 99,9 Prozent Treffsicherheit genannt werden. Diese Unsicherheitsfaktoren stellen für Genetiker eine große Herausforderung bei der Herkunftsbestimmung dar, vor allem für Forensiker. Denn sie können ja auf keinerlei begleitende Informationen zur Familiengeschichte eines mutmaßlichen Täters zurückgreifen, wenn dessen DNA an einem Tatort gefunden werden würde. Diese Faktoren prägen außerdem auch die Referenz-DNA-Daten selbst, da viele der freiwilligen DNASpender wissentlich oder unwissentlich ungenaue oder unzutreffende Angaben zu ihrer Familiengeschichte machen. Um noch einmal zusammenzufassen: Die „biogeografische Herkunftsanalyse“ nähert sich anhand statistischer Mittel dem geografischen Raum an, in dem die Vorfahren einer bestimmten Person gelebt haben. Sie erlaubt weder direkte Aussagen über die ethnische Zugehörigkeit oder das Aussehen einer bestimmten Person, von der eine DNA-Spur stammt, noch über ihre Staatsangehörigkeit. Doch vom genauen Gegenteil gehen viele aus – nicht nur Laien. Ein anderes Verfahren ist das „Forensic DNA Phenotyping“. Halten Sie es für methodisch zuverlässiger? Auch die Bestimmung von externally visible characteristics wie Haut-, Augen- und Haarfarbe ist nicht so sicher, wie es von den Befürwortern und in den Gesetzesentwürfen behauptet wird. Die in den Gesetzesänderungsanträgen angeführten Prozentzahlen sind nämlich keine Vorhersagegenauigkeiten, sondern „AUCs“, Wahrscheinlichkeitswerte,
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die in der Ermittlungssituation nicht weiterhelfen. Erst kürzlich haben die zuständigen Experten dazu publiziert und bestätigt, dass ihre Modelle zur Vorhersage von Haut-, Augen- und Haarfarben noch nicht ausgereift genug sind, um in Kriminalermittlungen eingesetzt zu werden.8 Zudem sind die Vorhersagegenauigkeiten nur für ganz bestimmte Ausprägungen eines Merkmals hoch, etwa für blaue Augen. Sämtliche Mischfarben – auch für Haar und Haut – werden mit viel geringerer Wahrscheinlichkeit vorhergesagt. Und die Kombination mehrerer dieser Informationen macht die Analyse nicht einfacher und sicherer, sondern komplexer und unsicherer. Zentrale wissenschaftliche Fragen sind also noch offen – und viele der grundlegenden Probleme werden sich auch durch noch so gute genetische Analysemethoden nicht lösen lassen. In Großbritannien sind sich die Fachleute dieser Komplexität bewusst und gehen mit größter Vorsicht an die Arbeit; ihre Gutachten geben nur die Informationen aus, die mit sehr hoher Zuverlässigkeit erzielt werden können. Über Fehlerquellen wird reflektiert und diskutiert; die Methoden kommen äußerst selten zum Einsatz, öffentlicher Druck dafür wird nicht ausgeübt. Was würde das alles für den Anwendungsfall bedeuten? Aufgrund der genannten Unsicherheiten könnten sich bei der Anwendung unbeabsichtigte Diskriminierungseffekte ergeben: Die Ermittler werden ihren Fokus nämlich bloß dann effektiv und zuverlässig einschränken können, wenn mit hoher Treffsicherheit ein vor Ort seltenes Merkmal vorhergesagt wird. Das ist in Deutschland dann gegeben, wenn die Technologie auf dunkle Haare, dunkle Augen, dunkle Haut und/oder eine eindeutige bgA in Asien oder Afrika hinweist. In Deutschland ergibt sich hingegen kein Nutzen für die Ermittlungen, wenn das Ergebnis lautet: hellbraune Haare, blaue Augen, helle Haut, europäische Herkunft. Man braucht weder juristisches noch molekulargenetisches Fachwissen, sondern nur ein grundlegendes Verständnis von Mengenlehre, um zu verstehen, dass die Technologien in den allermeisten Fällen lediglich dann weitere Ermittlungsschritte nach sich ziehen werden, wenn sie auf nichteuropäische Minderheiten hinweisen. Die damit verbundenen gesellschaftlichen Risiken sollte man sehr ernst nehmen und entsprechend vorsichtig bei der Gesetzgebung vorgehen. Das Interview führte Susanne Wernsing im November 2017 schriftlich.
8 Vgl. Amke Caliebe, Manfred Kayser und Michael Krawczak 2017: Predictive Values in Forensic DNA Phenotyping Are Not Necessarily Prevalence-Dependent. In: Forensic Science International. Genetics. http://dx.doi.org/10.1016/j.fsigen.2017.11.006 [11. Januar 2018].
Michel Foucault
Rassismus und Bio-Macht
Im großen und ganzen sichert der Rassismus, denke ich, die Funktion des Todes in der Ökonomie der Bio-Macht gemäß dem Prinzip, daß der Tod der Anderen die biologische Selbststärkung bedeutet, insofern man Mitglied einer Rasse oder Bevölkerung ist, insofern man Element einer einheitlichen und lebendigen Pluralität ist. Wie Sie sehen, sind wir hier im Grunde von einem Rassismus sehr weit entfernt, der einfach und traditionell Verachtung oder Hass zwischen den Rassen wäre. [...] Die Besonderheit des modernen Rassismus, seine Spezifik, ist nicht an Mentalitäten, Ideologien und Lügen der Macht gebunden. Sie ist an die Technik der Macht, an die Technologie der Macht gebunden. [...] Der Rassismus ist an das Funktionieren eines Staates gebunden, der sich zum Zweck der Ausübung seine souveränen Macht der Rasse, der Eliminierung der Rassen und der Reinigung der Rasse, zu bedienen gezwungen sieht. [D]as Funktionieren der alten souveränen Macht des Rechts über den Tod durch die [moderne] Bio-Macht, bringt es mit sich, daß der Rassismus erneut funktioniert, erneut in Einsatz gebracht wird und aktiv sein kann. Hier, denke ich, liegen tatsächlich seine Wurzeln. Michel Foucault: In Verteidigung der Gesellschaft (1976)
Stefan Kühl
Die Internationalität der Rassenforschung im 20. Jahrhundert
Stefan Kühl ist Soziologe. Er ist Professor für Soziologie mit dem Schwerpunkt Organisationssoziologie an der Universität Bielefeld. In einem seiner aktuellen Forschungsprojekte beschäftigt er sich mit dem Genozid aus organisationssoziologischer Perspektive. Zu seinen thematisch relevanten Publikationen gehören u.a. Ganz normale Organisationen. Zur Soziologie des Holocaust (2014) und Die Internationale der Rassisten. Der Aufstieg und Niedergang der internationalen Bewegung für Eugenik und Rassenhygiene im zwanzigsten Jahrhundert (1997).1
Die immer noch dominierende Geschichtsschreibung über Eugenik und Rassenhygiene in Europa und den USA zeichnet ein karges Bild des Zusammenhangs von Wissenschaftlichkeit und Rassismus: Gerade US-amerikanische Historiker präsentieren eine Gruppe von rassistischen, wissenschaftlich umstrittenen Eugenikern als den Hauptstrom der eugenischen Bewegung, der von der Gründung der ersten eugenischen Organisationen am Anfang des 20. Jahrhunderts bis in die 1930er-Jahre die Diskussion beherrscht habe. Diese Gruppe, so die Meinung jener Historiker, sei dann besonders in den USA und Großbritannien in den 1930er-Jahren schrittweise von wissenschaftlich glaubwürdigeren, explizit antirassistisch eingestellten Reformeugenikern abgelöst worden.2 Eine Betrachtung der Geschichte der internationalen eugenischen Bewegung stellt eine solche implizite Gleichsetzung von Rassismus und Pseudowissenschaftlichkeit infrage.3
1 Dieser Artikel basiert auf meinem Buch: Stefan Kühl 2014: Die Internationale der Rassisten. Aufstieg und Niedergang der internationalen eugenischen Bewegung im 20. Jahrhundert. Frankfurt a.M., New York: Campus; englische Ausgabe: Stefan Kühl 2013: For the Betterment of the Race. The Rise and Fall of the International Movement for Eugenics and Racial Hygiene. New York: Palgrave Macmillan. Es handelt sich um eine überarbeitete Fassung meines Artikels von 2004: Rassenforschung im Rahmen der internationalen eugenischen Bewegung. In: Peter Martin und Christine Alonzo (Hg.): Zwischen Charleston und Stechschritt. Schwarze im Nationalsozialismus. Köln: Dölling und Galitz, 495–507. 2 Vgl. Kenneth M. Ludmerer 1972: Genetics and American Society. Baltimore, London: Johns Hopkins University Press; Daniel J. Kevles 1986: In the Name of Eugenics. Genetics and the Uses of Human Heredity. Berkeley, Los Angeles: University of California Press. 3 Eine ausführliche Schilderung einzelner Aspekte und auch umfassende Quellen- und Literaturnachweise finden sich in: Kühl 2014.
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Stefan Kühl
Eugenik und die Verwissenschaftlichung des Rassenbegriffs Zu Beginn des 20. Jahrhunderts wurden Eugenik und Rassenhygiene (die Begriffe wurden anfangs weitgehend synonym verwandt) als eigenständige Wissenschaft präsentiert. So forderten führende Eugeniker wie der Begründer der deutschen Rassenhygiene, Alfred Ploetz, der langjährige Vorsitzende der britischen eugenischen Gesellschaft, Leonard Darwin, und der führende US-amerikanische Eugeniker, Charles B. Davenport, dass die Eugenik sich an streng wissenschaftlichen Kriterien orientieren müsse. Besonders in der Anfangsphase versuchten alle drei, „eugenische Laien“ aus einflussreichen Positionen in den verschiedenen nationalen eugenischen und rassenhygienischen Organisationen zu verdrängen. Die verschiedenen Strategien zur Internationalisierung der Eugenik mit der Gründung unterschiedlicher internationaler eugenischer Gesellschaften dienten dem Zweck, der Eugenik beziehungsweise der Rassenhygiene eine wissenschaftliche Basis zu geben. Schon die Bildung der Internationalen Gesellschaft für Rassenhygiene auf Initiative von Alfred Ploetz im Jahr 1907, aber besonders die Gründung des Permanent International Eugenics Committee 1912 sollten der Verwissenschaftlichung von Eugenik und Rassenhygiene dienen. Es wurde gehofft, durch den internationalen Austausch von Informationen über menschliche Vererbung, Rassenforschungen und Bevölkerungsentwicklungen das wissenschaftliche Kriterium der Intersubjektivität, also der Gültigkeit unabhängig von persönlichen Vorlieben und Wahrnehmungsmustern, zu erfüllen. In den 1920er- und 1930er-Jahren versuchten die Eugeniker und Rassenhygieniker in der internationalen Bewegung die noch junge und fragile Wissenschaft der Eugenik gerade dadurch zu stabilisieren, dass sie die Rassenforschung intensivierten und professionalisierten. Die auch zur damaligen Zeit zunehmend wissenschaftlich überholten isolierten, anthropologischen Vermessungen von Schädeln und anderen menschlichen Körperteilen wurden durch Intelligenztests und international vergleichende Studien ergänzt beziehungsweise gar ersetzt. Die Gründung verschiedener Komitees zu Themen wie Rassenpsychiatrie, Rassenmischung oder Intelligenzforschung im Rahmen der International Federation of Eugenic Organizations, der Nachfolgeorganisation des Permanent International Eugenics Committee, hatte das Ziel, Anschluss an aktuelle wissenschaftliche Untersuchungen zu halten.
Eugenische und rassenhygienische Forschung im Nationalsozialismus Wenn man sich die internationale Reaktion unmittelbar nach 1945 anschaut, dann könnte man annehmen, dass eine Gruppe von korrupten deutschen Wissenschaftlern
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alle ihre wissenschaftlichen Prinzipien über Bord geworfen hatte, um die nationalsozialistische Politik der „Rassenaufartung“ unterstützen zu können. Angesichts der Eindrücke von den nationalsozialistischen Massenmorden an religiös, ethnisch oder sozial definierten Gruppen, die zum Teil deutsche Wissenschaftler legitimiert hatten, wurden nach 1945 gerade die anthropologischen, genetischen und bevölkerungswissenschaftlichen Forschungsrichtungen im Nationalsozialismus zu einem Synonym für Unwissenschaftlichkeit. Diese Ansicht ist in einem gewissen Maß berechtigt: Es gab in Deutschland auch schon nach damaligen Standards wissenschaftlich kaum zu legitimierende Forschungen im Bereich der Anthropologie, Genetik oder Bevölkerungswissenschaft. So entsprachen Forschungen über einen vermeintlichen Gegensatz der genetischen Struktur von jüdischen und nichtjüdischen Deutschen nicht dem internationalen Niveau der damaligen Zeit. Aber dies ist lediglich die eine Seite der Medaille. Die andere Seite ist, dass im Bereich der Eugenik, Psychiatrie, der genetisch orientierten Anthropologie und der Rassenforschung deutsche Wissenschaftler wirkten, deren wissenschaftliches Renommee weitgehend außer Frage stand. Obwohl Eugeniker und Rassenforscher wie die Humangenetiker Fritz Lenz und Freiherr Otmar von Verschuer sowie der Anthropologe Egon von Eickstedt eng mit einflussreichen nationalsozialistischen Stellen kooperierten, darf dies nicht darüber hinwegtäuschen, dass ihre wissenschaftlichen Forschungen jedenfalls in den 1930er-Jahren noch an die internationale Diskussion anschlussfähig waren. Beiträge der deutschen Humangenetik, biologischen Anthropologie, Bevölkerungsforschung oder Psychiatrie wurden auch in den 1930erJahren international rezipiert. Aus dieser Sicht ist es nicht mehr so überraschend, dass die nationalsozialistische Politik der „Rassenaufartung“ die Anerkennung von Wissenschaftlern anderer Länder fand. Sicherlich gab es bei den nichtdeutschen Unterstützern der Rassenpolitik der Nationalsozialisten Wissenschaftler, die auf einem absteigenden Ast waren. Harry L. Laughlin zum Beispiel, einer der dominierenden Eugeniker in den USA, und der Rassenhygieniker Alfred Mjöen aus Norwegen hatten unübersehbar Schwierigkeiten, den aktuellen wissenschaftlichen Entwicklungen zu folgen. Darüber hinaus gehörten aber auch führende, wissenschaftlich weitgehend unumstrittene Eugeniker und Rassenhygieniker zu den Unterstützern der Nationalsozialisten. Im biologisch-anthropologischen Paradigma verankerte Eugeniker wie die anerkannten schwedischen Humangenetiker Herman Lundborg, Herman Nilsson-Ehle oder Torsten Sjögren zeigten sich von der Politik der Nationalsozialisten beeindruckt und verteidigten diese als wissenschaftlich fundiert. Immer wieder wurde von den internationalen Unterstützern der nationalsozialistischen Rassenpolitik darauf verwiesen, dass die rassenhygienische Gesetzgebung der Nationalsozialisten auf Erfahrungen mit ähnlichen Gesetzen vor allem in den USA aufbauen
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konnte. Besonders die Verabschiedung des nationalsozialistischen Sterilisationsgesetzes nur wenige Monate nach der „Machtergreifung“ der Nationalsozialisten sei, so die Unterstützer, nur möglich gewesen, weil auf die Expertise US-amerikanischer Eugeniker zurückgegriffen werden konnte und sich die Erfahrungen mit Sterilisationsgesetzen in verschiedenen US-Bundesstaaten einbeziehen ließen.4 Wie breit die internationale Unterstützung für die Nationalsozialisten im Bereich der Eugenik, Rassenforschung und biologischen Anthropologie war, zeigt die Tatsache, dass die International Federation of Eugenic Organizations, die in den 1930er-Jahren eugenische Forschungsgesellschaften in über dreißig Staaten repräsentierte, die Maßnahmen zur Massensterilisationen von Behinderten in Nazi-Deutschland begrüßte. Auf der Konferenz der International Federation of Eugenic Organizations 1934 in Zürich legten die Vertreter der verschiedenen nationalen eugenischen Gesellschaften und Forschungsinstitute den „Regierungen der Welt“ nahe, in „gleicher sachlicher Weise, wie dies bereits in einigen Ländern von Europa und Amerika geschehen ist, die Probleme der Erbbiologie, Bevölkerungspolitik und Rassenhygiene zu studieren und deren Ergebnisse zum Wohle ihrer Völker anzuwenden“.5 Torsten Sjögren, nach 1936 Vorsitzender der International Federation of Eugenic Organizations, beabsichtigte sogar, im Namen der internationalen eugenischen Dachorganisation die Schirmherrschaft für einen internationalen Kongress für Eugenik und Rassenhygiene zu übernehmen, den die Nationalsozialisten 1940 in Wien durchführen wollten.6
Die Kritik an der rassistischen Eugenik nach 1945 Nach 1945 gab es in der Wissenschaft allgemein eine breite Abkehr von der Rassenforschung. Der Einfluss der Gene auf die geistigen Leistungen von „Rassen“ wurde von den meisten Humangenetikern bestritten. Die Mischung zwischen verschiedenen ethnischen Gruppen bezeichnete die überwältigende Mehrzahl der Wissenschaftler als unproblematisch. Darüber hinaus stellten zunehmend Sozialwissenschaftler, aber auch einzelne Naturwissenschaftler infrage, dass Gruppen überhaupt in genetisch verschiedene Rassen unterteilt werden könnten. „Rasse“ wurde also in der wissenschaftlichen Betrach4 Vgl. Stefan Kühl 2002: The Nazi Connection. Eugenics, American Racism, and German National Socialism. New York, Oxford: Oxford University Press. 5 IFEO 1934: Bericht der 11. Versammlung der Internationalen Föderation eugenischer Organisationen. Konferenzsitzungen vom 18. bis 21. Juli 1934 im Waldhaus Dolden. Zürich: 78 f. (Separatabdruck aus: Archiv der Julius-Klaus-Stiftung für Vererbungsforschung, Sozialanthropologie und Rassenhygiene. Bd. 10, Heft 1, 1935). 6 Sjögren an den Reichsinnenminister, 9.1.1939 (Kopie im Archiv des Max-Planck-Instituts für Psychiatrie in München, GDA 33).
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tung immer mehr zu einem „sozialen Mythos“, der lediglich dazu diente, bestimmte Gruppen zu diskriminieren. Was war für diese grundlegende Veränderung in der Haltung der Wissenschaftler gegenüber der Rassenforschung verantwortlich? Es gab in den 1930er- und 1940erJahren kaum neuere Forschungen, die die rassistischen Forschungsansätze in der Eugenik und Anthropologie infrage gestellt haben.7 Die Abkehr von rassistischen Postulaten und implizit oder explizit rassistischen Forschungsansätzen hatte überwiegend politische Gründe. Dies zeigt besonders eindrücklich die Diskussion über die Statements der UNESCO zur Rassenfrage, mit denen die 1945 gegründete Kultur- und Wissenschaftsorganisation der Vereinten Nationen Forschung mit rassistischen Implikationen diskreditieren wollte. Wenngleich in den ersten beiden offiziellen Stellungnahmen 1950 und 1951 Unterschiede zwischen den geistigen Leistungen verschiedener Rassen bestritten und die Mischung zwischen verschiedenen ethnischen Gruppen als aus wissenschaftlicher Sicht unproblematisch bezeichnet wurden, verdeutlichen die gut dokumentierten internen Diskussionen, dass gerade einige der an der Ausarbeitung der Stellungnahmen beteiligte Naturwissenschaftler sich in Bezug auf die wissenschaftliche Fundierung ihrer Annahmen gar nicht so sicher waren.8 Die politische Stimmung nach 1945 hatte auch massive Auswirkungen auf die internationale eugenische Bewegung. Eugenik und Rassenhygiene waren durch die Nationalsozialisten so stark diskreditiert, dass ein wichtiger Teil der Eugeniker die Hoffnung aufgab, Eugenik und Rassenhygiene als eigenständige Wissenschaft jemals vollständig zu etablieren. Die Eugeniker, die unter anderem aus diesem Grund eine „Entwissenschaftlichung“ der Eugenik propagierten, gehörten überwiegend den eugenischen Gesellschaften an, die sich in Rassenfragen zurückhielten. Gerade die hierin moderaten Vertreter der American Eugenics Society und der britischen Eugenics Society gaben nach 1945 das Motto aus, eugenisch relevante Forschung nur noch in den sich neu etablierenden Wissenschaftszweigen Humangenetik und Bevölkerungswissenschaft zu betreiben. Es wurde anerkannt, dass die Eugenik von vielen jenseits der Wissenschaft liegenden normativen Vorstellungen ausgehe und deswegen als eigene Wissenschaftsdisziplin keine Berechtigung habe. Die eugenischen Gesellschaften sollten zu politischen LobbyOrganisationen für die sich neu entwickelnden, „eugenisch nützlichen“ Wissenschaften umgebaut werden. Diese Rücknahme des mit der Eugenik und Rassenhygiene verbundenen Anspruchs lief der Strategie der an Rassenforschung orientierten Eugenik entgegen. Die Mehrzahl der an Rassenfragen orientierten Eugeniker hegte die Hoffnung, die Rassenforschung 7 Vgl. William B. Provine 1986: Geneticists and Race. American Zoologist. Jg. 26, 857–887. 8 Vgl. die intensiven Briefwechsel im Archiv der UNESCO, Paris (323.12 A 102).
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weiterhin über eine eigenständige eugenische Wissenschaft propagieren zu können. In dem Modell dieser unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg relativ unbedeutenden Gruppe von Eugenikern waren Wissenschaft, Rassenforschung und Eugenik eng miteinander verkoppelt. Da Eugenik und Rassenhygiene als eigenständige Wissenschaftsrichtung nach 1945 keine Lobby mehr hatte und die neu entstehenden Wissenschaftsdisziplinen der Humangenetik und Bevölkerungswissenschaft überwiegend von in Rassenfragen zurückhaltenden Eugenikern dominiert wurden, blieben für die an Rassenforschung interessierten Wissenschaftler vorrangig nur zwei wissenschaftliche Rückzugsgebiete: die humanbiologisch orientierte Anthropologie und die statistisch arbeitende psychologische Intelligenzforschung.
Die „Renaissance“ der Rassenforschung in den 1960er-Jahren In den 1960er-Jahren kam es im Rahmen eines neu erwachten Interesses an Rassenfragen zur Bildung von wissenschaftlichen Gesellschaften und Zeitschriften. Diese „Renaissance“ der an Rassenfragen interessierten Eugenik hatte ihre Wurzeln weniger in der Humangenetik und der Bevölkerungswissenschaft, sondern vielmehr in der humanbiologisch orientierten Anthropologie und später in der statistisch ausgerichteten Intelligenzforschung. Genauso wenig wie die antirassistische Bewegung in den Wissenschaften nach dem Zweiten Weltkrieg vorrangig auf neue wissenschaftliche Erkenntnisse in der Humangenetik, Anthropologie oder Bevölkerungswissenschaft zurückzuführen gewesen war, spielten nun, in den 1960er-Jahren, neue wissenschaftliche Erkenntnisse eine Rolle. Hintergrund dieser „Renaissance“ war vielmehr die Aufhebung der Rassentrennung in den USA.9 In der politischen Auseinandersetzung um die Aufhebung der Rassensegregation in den USA spielte die UNESCO-Erklärung zur Rassenfrage vom Juli 1950 eine wichtige Rolle. Die Beweislast für die verschiedenen politischen Kräfte war nach 1945 unter anderem durch die UNESCO-Erklärung förmlich umgedreht worden. Während in den 1930er-Jahren Gegner der Rassentrennung gegen die Mehrheitsmeinung der Wissenschaft argumentieren und sich dadurch überwiegend auf moralische Argumente stützen mussten, standen jetzt die verbliebenen Vertreter der Rassentrennung unter immensem Legitimationsdruck, weil die wissenschaftliche Mehrheitsmeinung gegen sie gerichtet schien. 9 Vgl. William H. Tucker 2002: The Funding of Scientific Racism. Wickliffe Draper and the Pioneer Fund. Urbana, Chicago: University of Illinois Press, 65–130.
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Der Aufbau eines internationalen Netzwerks von Rassenforschern in den späten 1950er-, frühen 1960er-Jahren, das sich anfangs um die 1959 gegründete International Association for the Advancement of Ethnology and Eugenics und die heute noch existierende Zeitschrift Mankind Quarterly gruppierte, hatte das Ziel, in diese politische Diskussion unter dem Label der Wissenschaft einzugreifen. Während sich die Gruppe der Rassenforscher nach außen auf eine wertneutrale, rein wissenschaftliche Motivation für die Gründung der Zeitschrift und der eugenischen Dachorganisation zurückzog, geben die internen Briefwechsel interessante Einblicke in die politische Motivationslage: Die internationale eugenische Organisation unterhielt enge Kontakte zum NeonaziSpektrum in Europa und den USA. Die Zeitschrift Mankind Quarterly wurde von Wickliffe P. Draper finanziert, dessen Stiftung Pioneer Fund in den 1930er-Jahren die Verteilung von Propagandamaterial des nationalsozialistischen Rassenamtes in den USA organisiert hatte. Draper, der in den 1950er- und 1960er-Jahren einen erheblichen Teil der Rassenforschung in Europa und den USA finanzierte, knüpfte die Finanzierung des Mankind Quarterly an die Auflage, dass dieser seine „objektive Einstellung zu Rassenproblemen“ beibehielte.10 Spezifisch für die Entwicklung der Rassenforschung nach 1945 war eine Immunisierung gegen jede Form von Kritik. Die eigene Position wurde als streng wissenschaftlich präsentiert. Kritiker aus unterschiedlichen Wissenschaftszweigen wurden als marxistisch motiviert und wissenschaftlich wenig seriös abgetan.
Schlussbemerkung In der Auseinandersetzung mit der Eugenik genauso wie mit der biologisch orientierten Anthropologie muss selbstverständlich die Frage, inwiefern bestimmte Postulate und Forschungsansätze dieser Denkrichtungen an aktuelle Erkenntnisse der Humangenetik anschlussfähig sind, eine wichtige Rolle spielen. Eine Kritik, die sich auf wissenschaftliche Erkenntnisse der Humangenetik bezieht, kann mit dazu beitragen, rassistische Ansätze in der Wissenschaft aufzuzeigen. Die historische Wissenschaftsforschung wählt jedoch einen anderen Ansatz. Ihre Stärke ist es, sowohl für ganze Wissenschaftsdisziplinen als auch für einzelne Forschungsprojekte nachzuweisen, wie einzelne wissenschaftliche Annahmen sozial konstruiert werden. Denn Forschungen mit rassistischen Implikationen verlieren viel von ihrer Bedrohlichkeit, wenn deutlich wird, wie entschieden sie Ausdruck von zeitlich und kontextuell gebundenen Arbeitshypothesen sind. 10 Vgl. Kühl 2002: 3–11; Kühl 2014: 205–232; Tucker 2002: 131–196.
Stuart Hall
Der Innenraum des Rassismus
Rassismus ist m.E. zum Teil das Verleugnen, dass wir das, was wir sind, aufgrund innerer gegenseitiger Abhängigkeiten von anderen sind. Es ist die Zurückweisung der angsterregenden Bedrohung, dass das Andere, so schwarz er oder sie ist, möglicherweise ein Teil von uns ist. Rassismus mit seinem System binärer Gegensätze ist ein Versuch, das Andere zu fixieren, an seinem Platz festzuhalten, er ist ein Verteidigungssystem gegen die Rückkehr des Anderen. Die Angst, dass dieses Andere, das wir ausweisen und ausschließen wollen, möglicherweise wiederkehrt, taucht ebenfalls im Diskurs des Rassismus auf. Dies erkennt man an den Phantasien, die überall mit dem Rassismus einhergehen. Die Phantasie des weißen Mannes, dass der schwarze Mann sexuell potenter ist, als er es jemals sein könnte, die Phantasie, dass die primitiven Schwarzen noch eine Beziehung zur Natur, zu den Instinkten zu den Gefühlen haben, die man verdrängt und unterdrückt hat. Ich sage etwas, das vielleicht schockierend scheint, nämlich dass diese Sprache des Hasses und der Gegnerschaft zum Teil genährt wird durch ein unaussprechliches Begehren. Deshalb können wir oft die Tiefe und die Macht des rassistischen Diskurses nicht begreifen. Wir denken, dass er die Dinge in binäre Pole spaltet, um Ordnung herzustellen, während er in Wirklichkeit versucht, die Welt in diesen binären Gegensätzen zu fixieren, aus Furcht, sonst in einem Mischmasch zu versinken. Hinter dem Diskurs des Rassismus lauert immer die Angst vor kultureller Umweltverschmutzung. Wir versuchen, den Diskurs des Rassismus rational zu analysieren, während er seine Macht und seine Dynamik gerade aufgrund der mythischen und psychischen Energien gewinnt, die in die Kultur investiert werden. Er ist Teil unserer Selbstdefinition, unserer Definition, zu welcher Gemeinschaft wir gehören und welches die Zukunft und das Schicksal unserer Kultur sein wird. Strategien und Politik des Antirassismus, die nicht versuchen, in diesen tieferen und grundlegend widersprüchlichen Schichten des Rassismus hinabzusteigen, werden scheitern, weil sie sich auf die Oberflächenstruktur einer ausschließlich auf das Rationale zielenden Politik beschränken. Stuart Hall: Rassismus als ideologischer Diskurs (1989)
Manuela Bauche
Von der Unmöglichkeit, klare Grenzen zu ziehen Rassismus und Medizin in den deutschen Kolonien
Manuela Bauche ist Historikerin mit Schwerpunkten in Medizin-, Kolonial- und Globalgeschichte. Derzeit forscht sie am Museum für Naturkunde, Berlin, über die Geschichte naturkundlicher Expeditionen im Kalten Krieg. Ihre Dissertation Medizin und Herrschaft. Malariabekämpfung in Kamerun, Ostafrika und Ostfriesland (1890–1919) erschien 2017 im Campus-Verlag. Manuela Bauche war und ist an mehreren Bildungsprojekten beteiligt, die sich mit öffentlicher Erinnerung an den deutschen Kolonialismus beschäftigen, unter anderem an www.kolonialismusimkasten.de.
Kulturalistische Rassismen haben derzeit Konjunktur, heißt es: Wenn etwa die Zugehörigkeit von Muslim_innen zur deutschen Gesellschaft „debattiert“ oder auch unumwunden negiert wird, geschieht dies mit Verweisen auf vermeintliche Defizite, was demokratische Werte, die Idee der Gleichheit der Geschlechter und Bildung betrifft – kurz: mit Verweis auf eine vermeintlich spezifische islamische Kultur. Damit imaginiert die hiesige Mehrheitsgesellschaft ihre eigene Kultur als demokratisch, feministisch und mittelständisch – und blendet dafür allerlei aus: von weißen Deutschen begangene rassistische Mordserien, die „#MeToo“-Kampagne von 2017, die grundsätzliche Bildungsungleichheit zwischen Kindern von Akademiker_innen und jenen von Arbeiter_innen und vieles mehr. In solchen Rassismen ist heute nur selten von „Rassen“ die Rede. Stattdessen werden Personen zu Gruppen zusammengefasst und diesen dann gegensätzliche „Kulturen“ zugeschrieben. Die Rassismusforschung unterscheidet deshalb einen derartigen „Rassismus ohne Rassen“ von früheren Rassismen, die auf der Behauptung biologisch voneinander unterscheidbarer Menschengruppen aufgebaut hätten.1 Im Folgenden blicke ich in vergangene Zeiten zurück und zeige, dass die Vorstellung von einem früher vor allem auf Biologie und Naturwissenschaften basierenden Rassismus 1 Vgl. dazu u.a. Étienne Balibar und Immanuel Wallerstein (Hg.) 1990: Rasse, Klasse, Nation. Ambivalente Identitäten. Hamburg, 28.
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Manuela Bauche
hinkt. Selbst in Zeiten und Kontexten, die mit einem auf diese Weise begründeten Rassismus assoziiert werden, waren kulturalistische Begründungen zentral. Die nachfolgenden Ausführungen zeigen das am Beispiel der medizinischen Praxis und Gesundheitspolitik in den deutschen Kolonien. Im Zentrum der Aufmerksamkeit steht das Ziel der deutschen Kolonialmacht, bei der medizinischen Behandlung und im kolonialen Alltag zwischen Schwarz und Weiß2 zu scheiden. Hier eine klare Grenze herzustellen war aber gar nicht so leicht. Denn die Trennlinien, die rassistische Argumentationen behaupteten, existierten so im Alltag nicht. Von den verbissenen, sisyphosartigen Versuchen weißer Mediziner und Kolonialverwalter, solche Grenze immer „genauer“ zu ziehen und zu begründen, handelt dieser Text. Er zeigt, dass der Rückgriff auf „Kultur“ dabei stets zentral war.
Zwischen Schwarz und Weiß scheiden: Koloniale Segregation Medizin war in den europäischen Kolonien nicht ohne rassistische Differenzierung denkbar. In den unter deutscher Kolonialherrschaft stehenden Gebieten manifestierte sich das darin, dass die Krankenversorgung entlang jener Linien organisiert war, die auch das Kolonialrecht prägten: hier Krankenhäuser für „Europäer“3, dort solche für diejenigen, die unter dem Begriff „Eingeborene“ subsumiert wurden. Ein besonders augenfälliges Beispiel für die Verbindung aus kolonialer Gesundheitspolitik und Rassismus ist das wahnwitzige Vorhaben der deutschen Kolonialverwaltung in Kamerun, die Stadt Douala umzubauen. Douala war (und ist nach wie vor) die größte Stadt und das Handelszentrum Kameruns. An der Mündung des Flusses Wouri in den Atlantik gelegen war Douala bereits seit dem 17. Jahrhundert ein Ort der Begegnung zwischen europäischen und afrikanischen Händler_innen. Lange hatten die Duala4 verboten, dass Europäer_innen sich in ihrem Land niederließen. Doch als das deutsche Kaiserreich 1884 mit den Duala-Eliten einen sogenannten Schutzvertrag unterzeichnete und damit Kame2 Zur begrenzten Tauglichkeit dieser Begriffe zur Benennung von Personen in kolonialen Kontexten vgl. Anmerkung 24. 3 Ich setze die Begriffe „Europäer“, „Eingeborene“ und „Afrikaner“, aber auch „Syrer“, „Goanesen“ u.a. in Anführungsstriche, um darauf hinzuweisen, dass ich sie nicht als beschreibende Begriffe benutze, sondern als Kategorien, die von kolonialen Akteuren bereitgestellt wurden. Ich weise damit auf den Konstruktionscharakter, die problematische Unschärfe und/oder den Rassismus der mit diesen Begriffen verbundenen Ideen hin. 4 In Anlehnung an andere Forschungen mache ich durch die Schreibweise kenntlich, ob ich mich auf die Bewohner_innen der Stadt, die Duala, oder auf die Stadt Douala (Schreibweise nach dem aktuellen Stadtnamen) beziehe. Sowohl in Zitaten als auch in der Benennung der Akten behalte ich allerdings die zeitgenössische deutsche Schreibweise „Duala“ für die Stadt bei. Vgl. u.a. Eckert, Andreas Eckert 1999: Grundbesitz, Landkonflikte und kolonialer Wandel. Douala 1880 bis 1960, Stuttgart, S. 3.
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run formell zur deutschen Kolonie erklärte, installierten die Deutschen Warenlager, Läden, Verwaltungs-, Versorgungs- und Wohngebäude in der Stadt. Neben den Häusern von Afrikaner_innen fanden sich nun auch solche von Europäer_innen.5 Beider räumliche Nähe wurde ab 1900 wiederholt von deutschen Behörden problematisiert. 1910 beschloss die Kolonialverwaltung, der Situation mit einem systematischen Umbau der Stadt zu begegnen: Diese sollte in einen ausschließlich für Wohnhäuser von Europäer_innen und in einen für Wohnhäuser von Afrikaner_innen vorbehaltenen Teil geschieden – segregiert – werden. Das vom für Douala zuständigen Verwalter, dem Bezirksamtmann Hermann Röhm, vorgelegte Konzept für den Umbau konkretisierte, dass die auf dem Landstreifen entlang des Wouri befindlichen Stadtteile, in denen sich das Geschäftsleben konzentrierte, in eine exklusive „Europäerstadt“ verwandelt würden, während die afrikanische Bevölkerung von dort „mindestens 1 km weit weg“ landeinwärts anzusiedeln wäre. Es sollten eine europäische Kernstadt und eine afrikanische Peripherie entstehen.6 Später wurde präzisiert, dass zwischen beiden Vierteln eine „Freie Zone“ von etwa einem Kilometer Breite anzulegen wäre. Diese Zone war als unbewohntes Gebiet gedacht, und vor allem sollte Afrikaner_innen der dauerhafte Aufenthalt darin verboten werden.7 Mit dem Plan zum Umbau Doualas waren viele Ziele und Interessen verknüpft: Die Kolonialverwaltung wollte sich durch umfassende Enteignungen als Haupteigentümerin von Land etablieren und auf diese Weise die Nutzung und Preise von Land kontrollieren; auch war sie vermutlich daran interessiert, die Duala von ihren für den Handel günstigen und aus politischen Gründen wichtigen Plätzen am Ufer des Wouri zu vertreiben und damit die Position europäischer Händler_innen zu stärken.8 Aber auch medizinische Argumente für den Stadtumbau wurden vorgebracht und das Projekt von Ärzten verteidigt: zunächst von Hans Ziemann, dem sogenannten Medizinalreferenten, der die Leitung des Medizinalwesens der Kolonie innehatte; ab 1912 von seinem Nachfolger Philalethes Kuhn; schließlich von dem in Douala tätigen Regierungsarzt Noetel. Sie alle betonten, dass die Trennung zwischen europäischer und afrikanischer Stadtbevölkerung eine aus gesundheitlicher Sicht notwendige Maßnahme sei. 5 Vgl. Eckert 1999: 112–119; Ralph A. Austen und Jonathan Derrick 1999: Middlemen of the Cameroons Rivers. The Duala and Their Hinterland, c. 1600 – c. 1960, Cambridge, 128 f. 6 Hermann Röhm: Denkschrift über die Forderung für Erwerb von Eingeborenenland in Duala und Verlegung eines Teils der Eingeborenen von Duala zum Etat 1911 (BArch R 1001/4427, Bl. 13). 7 Vgl. Denkschrift über die Durchführung der Sanierung von Duala und die Ausführung von Anlagen infolge anderweiter Ansiedelung der Eingeborenen, 1913 (BArch R 1001/4428, Bl. 127). 8 Zum ersten Argument vgl. Manuela Bauche 2017: Medizin und Herrschaft. Malariabekämpfung in Kamerun, Ostafrika und Ostfriesland (1890–1919). Frankfurt a.M., New York; zum zweiten vgl. u.a.: Albert Wirz 1980: Malaria-Prophylaxe und kolonialer Städtebau. Fortschritt als Rückschritt? Gesnerus. 37, 215–234; Eckert 1999: 118; Ralph A. Austen 1997: Duala versus Germans in Cameroon. Economic Dimension of a Political Conflict. Revue française d’histoire d’Outre-Mer. Jg. 64, Heft 237, 477–497.
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Dabei stand der Gedanke im Zentrum, dass Afrikaner_innen Quellen von Krankheit und Infektion für Europäer_innen darstellten. So argumentierte Ziemann in einem Gutachten zum Umbauplan, dass die vorgesehene Segregation in der Lage sei, Malariainfektionen bei Europäer_innen vorzubeugen. Dies begründete er damit, dass der anvisierte Abstand von einem Kilometer zwischen den Wohnstätten von Europäer_innen und Afrikaner_innen es den Malaria übertragenden Anopheles-Mücken unmöglich machen würde, von dem einen Viertel ins andere zu wechseln: Der Abstand übersteige die maximale Flugweite der Mücken, erklärte Ziemann.9 Bezeichnenderweise implizierte sein Argument, dass die Ansteckung mit Malaria als eine Art Sackgasse funktionierte: Seinem Bild zufolge waren ausschließlich Europäer_ innen potenziell von einer Infektion bedroht, während Afrikaner_innen grundsätzlich in der Rolle als Quelle von Ansteckung vorkamen. Mit seiner Ansicht stand Ziemann nicht allein. Im Gegenteil, sein Argument folgte der in den europäischen Kolonien populären rassistischen Definition von Afrikaner_innen als Träger_innen von Krankheiten. Auch Ziemanns Nachfolger Kuhn und Noetel bezeichneten die Segregation Doualas als ein aus hygienischer Sicht wichtiges Projekt. Anders als Ziemann identifizierten sie aber neben der Malaria weitere gesundheitliche Gefahren, gegen die der Umbau Abhilfe schaffen könne: Gelbfieber- und Filarieninfektionen, den Befall mit Sandflöhen, eine schlechte Entsorgung von Fäkalien – alles Bedrohungen, die die Ärzte als von Afrikaner_innen ausgehend darstellten. Obwohl aus ihrer Perspektive nicht alle genannten Probleme auf Douala zutrafen, kamen sie zu dem „Schluß, daß die Verlegung der Eingeborenen von Duala eine hygienische Notwendigkeit ist“.10 Dass eine solche Maßnahme auch dabei helfen würde, die Malariainfektionen bei Europäer_innen zu vermindern, stellten die Ärzte als „so sehr Allgemeinwissen der in den Tropen lebenden Weißen“ dar, „daß es nicht nötig ist, noch darüber zu berichten“.11 Der Umbau Doualas wurde letztendlich nur ansatzweise verwirklicht: Die Duala-Elite wehrte sich in Verhandlungen mit der Kolonialverwaltung und mit zahlreichen Eingaben an den Reichstag vehement gegen das Vorhaben. Duala Manga Bell, der dabei eine zentrale Rolle spielte, und seinen Mitstreiter Ngoso Din sollte dieser Protest gar das Leben kosten. Sie hatten freilich dazu beigetragen, dass Enteignungen und Umsiedlun-
9 1914: Denkschrift über die Enteignung und Verlegung der Eingeborenen in Duala (Kamerun). Stenographische Berichte über die Verhandlungen des Reichstages. 13. Legislaturperiode. H. Band 305, 3269– 3388 (Aktenstück 1576), hier 3306 f., 3320 f., 3364–3366. 10 Ebd.: 3321. 11 Ebd.: 3320.
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gen erst mit erheblicher Verzögerung beginnen und vor dem Beginn des Ersten Weltkriegs nicht mehr abgeschlossen werden konnten.12 Der Fall des Umbaus von Douala legt nahe, dass sich aus Sicht von in den Kolonien tätigen Medizinern die koloniale Gesellschaft eindeutig und scharf entlang spezifischer Grenzen scheiden ließ: auf der einen Seite Krankheit in sich tragende Afrikaner_innen, auf der anderen für Krankheiten empfängliche und schützenswerte Europäer_innen. Tatsächlich aber verrät ein genauerer Blick auf die Umsetzung des Umbauplans, dass Medizinern und Kolonialverwaltung die Grenze, die sie selbst zu ziehen versuchten, nicht vollkommen adäquat erschien. Denn es tauchten immer wieder Fälle auf, die aus ihrer Sicht ein Überdenken und Verschieben der vermeintlich so klar an Herkunft und Äußeres gebundenen Kategorien „Afrikaner_innen“/„Europäer_innen“ beziehungsweise „Krankheitsträger“/„Krankheitsempfänger“ nötig machten. Auf einige Beispiele für diese „Zweifelsfälle“ rassistischer Grenzziehungen in der deutschen kolonialmedizinischen Praxis gehe ich im Folgenden ein.
Zweifelsfall 1: Bürgerliche Afrikaner_innen Der Plan, Douala umzubauen, fügte sich in europäische Visionen einer „modernen Stadt“ ein, die um 1900 entworfen und verfolgt wurden. Sie waren eng mit der Idee verbunden, Städte „funktional zu differenzieren“, nämlich für unterschiedliche Viertel je eigene Bebauungsformen zu entwickeln, abhängig davon, ob diese Stadtteile als Industrie-, Wohn- oder politische Repräsentationsviertel ausgewiesen wurden. In Deutschland versuchten die Kommunen mit städtischen Bauordnungen und Wohnungsgesetzen eine entsprechende Stadtplanung durchzusetzen.13 Auch in Douala waren die Vorschläge, die Bezirksamtmänner und Ärzte unterbreiteten, von dem Bemühen geprägt, die Stadt in Viertel mit bestimmten Charakteristika, einer spezifischen Bevölkerungs- und Bebauungsstruktur sowie entsprechenden Funktionen aufzuteilen. Die Kriterien, anhand derer Stadtteile voneinander geschieden werden sollten, folgten hier ebenfalls den Vorstellungen davon, was eine „moderne“ Gesellschaft und eine „moderne Stadt“ konstituiere. So bildete – neben einer Trennung in Geschäftsviertel einerseits und Wohnviertel andererseits – der vermeintliche Gegensatz zwischen „afrikanischen“ und „europäischen“ Wohnstätten das überdeutliche Leitmotiv in den Stadtbeschreibungen von Röhm, Ziemann, Kuhn und Kollegen. Demnach bestünden die „Eingeborenenansiedelungen“ „zum
12 Vgl. Andreas Eckert 1991: Die Duala und die Kolonialmächte. Eine Untersuchung zu Widerstand, Protest und Protonationalismus in Kamerun vor dem Zweiten Weltkrieg. Münster, 124. 13 Vgl. Jürgen Reulecke 1992: Geschichte der Urbanisierung in Deutschland. 3. Aufl. Frankfurt a.M., 86–91.
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weit überwiegenden Teil [aus] Hütten aus Matten oder Wellblech“.14 Zudem würde dort der Abfall nicht zufriedenstellend entsorgt, sondern schlicht in ein „großes Loch“ geschüttet. Rauch, Feuer, Lärm und der „unerträgliche Geruch des Abbrennens“ prägten diese Orte, hinzu kämen schließlich Krankheiten übertragende Tiere wie Ratten und Sandflöhe.15 Ähnlich konkrete Beschreibungen für die Wohnstätten der Europäer_innen sucht man in den Berichten vergebens. Die abwertenden Schilderungen machen aber klar, dass die Behausungen der Europäer_innen als positives Gegenstück und als Norm imaginiert wurden, die für die Verfasser der Berichte wie für ihre Adressat_innen so selbstverständlich waren, dass sie nicht näher erläutert zu werden brauchten.16 Ohne Worte behaupteten sie, dass aus ihrer Sicht die von Europäer_innen bewohnten Häuser aus festen Materialien erbaut waren, dass hier die Abfallentsorgung auf hygienischem Wege geschah, die Gerüche erträglich waren und Ungeziefer nie gesehen wurde. Hans Ziemann fasste diesen Gegensatz zusammen, indem er von „Träger[n] der Blutparasiten“ auf der einen Seite und „Träger[n] der Kultur“ auf der anderen sprach.17 Ausgehend von die Idee eines unüberbrückbaren Gegensatzes erklärten der Arzt und seine Kollegen eine konsequente Scheidung der so bezeichneten und imaginierten „Bevölkerungsgruppen“18 für unerlässlich. Dem Anspruch auf konsequente Scheidung von Europäer_innen hier, Afrikaner_innen da freilich wurden Bezirksverwaltung und Ärzte selbst nicht gerecht. So mussten die Behörden trotz aller Versuche, eine klare Dichotomie herzustellen, von Beginn an mit dem nicht von der Hand zu weisenden Phänomen umgehen, dass keineswegs alle Duala in „Mattenhäusern“ wohnten, sondern einige von ihnen Häuser hatten bauen lassen beziehungsweise bewohnten, die vom idealtypischen „Europäerhaus“ nicht zu unterscheiden waren. Einige dieser Gebäude entsprachen peinlich genau dem Modell des kolonialen Bungalows mit Pfeilern und umlaufender Veranda, während andere dem Stil 14 Hermann Röhm: Denkschrift über die Forderung für Erwerb von Eingeborenenland in Duala und Verlegung eines Teils der Eingeborenen von Duala zum Etat 1911 (BArch R 1001/4427, Bl. 14). 15 Denkschrift über die Enteignung 1914: 3320 f. 16 Hier wirkt sich der Mechanismus aus, der in der Forschung zu whiteness beschrieben wird, nämlich dass der weiße Standpunkt sich selbst unsichtbar macht: „[…] whiteness makes itself invisible precisely by asserting its normalcy, its transparency, in contrast with the marking of others on which its transparency depends.“ Ruth Frankenberg (Hg.) 1997: Displacing Whiteness. Essays in Social and Cultural Criticism. Durham, 6. 17 Hans Ziemann: Die Notwendigkeit einer Entfernung bezw. Versetzung der Eingeborenen aus der Nähe der Europäer in Duala, Duala, 28.5.1910 (BArch R 1001/4427, Bl. 11). 18 Hier folge ich Benedict Andersons Analyse von Nation als imaginierter Gemeinschaft sowie Rogers Brubakers Kritik an „Gruppismus“ (groupism), also an der selbstverständlichen Annahme der Existenz von (z.B. ethnischen) Gruppen und ihrer Betrachtung „als Grundkonstituenten des gesellschaftlichen Lebens, als Hauptprotagonisten sozialer Konflikte und als fundamentale Einheiten der Gesellschaftsanalyse“. Benedict Anderson 1991: Imagined Communities. Reflections on the Origin and Spread of Nationalism. New York; Rogers Brubaker 2007: Ethnizität ohne Gruppen. Hamburg, 17.
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des britisch-indischen Pavillons folgten. Wie sollte damit umgegangen werden? Ärzte und Bezirksverwaltung einigten sich schnell darauf, dass solche Häuser, obwohl sie im Besitz von Duala waren, vom Abriss ausgenommen werden sollten – schließlich fügten sie sich in die Baulandschaft ein, die ihnen für die „Europäerstadt“ vorschwebte.19 Ob eine Wohnstätte wünschenswert war oder nicht, ob sie für geeignet befunden wurde, in die „Europäerstadt“ aufgenommen zu werden, oder nicht, wurde hier also nicht danach entschieden, ob sie einem_r Duala oder einem_r Europäer_in gehörte, sondern danach, ob sie einem bestimmten ästhetischen und damit kulturellen Ideal entsprach. Mehr noch: Duala, die jenem Ideal gleichkamen, wurden in den Berichten der Behörden als „bessere Eingeborene“ hervorgehoben.20 Und Ende 1910 wurde vereinbart, dass diese – anders als zunächst vorgesehen – in ihren Häusern und damit in der „Europäerstadt“ würden wohnen bleiben können, wenngleich die Häuser in den Besitz der Kolonialverwaltung übergehen sollten. Gouverneur Otto Gleim brachte den Vorschlag ein, und Ziemann stimmte als Medizinalreferent zu. Die endgültige Entscheidung darüber, wer es wert war, in der „Europäerstadt“, in der Stadt der Herrschenden, zu wohnen, war also nicht nur davon motiviert, ob jemand „Europäer“ oder „Afrikaner“ war. „Kultur“ und Klasse flossen hier als relevante Marker ebenso ein. Soziologisch gesprochen war es der Habitus im Sinne einer sozialen Praxis, der für eine Klassifizierung sorgte und in dem sich ein spezifischer, von anderen unterscheidbarer Lebensstil konstituierte.21 Afrikaner_innen, deren Lebensstil als bürgerlich markiert war, erfüllten aus Sicht der am Umbau Doualas beteiligten Mediziner die Bedingungen, um in der „Europäerstadt“ wohnen zu dürfen. Sie wurden wie Europäer_innen als „Kulturträger“ und als schützenswert kategorisiert und damit als Gegensatz zu anderen Afrikaner_innen stilisiert, die als „Krankheitsträger“ imaginiert wurden.
Zweifelsfall 2: Unbürgerliche Europäer_innen Die Zugehörigkeit zur bürgerlichen Klasse und ein entsprechender Habitus bildeten also relevante Kriterien für das Wohnen in der „Europäerstadt“ und für die Identifikation als „Träger der Kultur“, ein Anspruch, den durchaus nicht alle „Europäer“ erfüllten. Zwar stand nie zur Debatte, Europäer_innen in die „Eingeborenenstadt“ zu verbannen; wohl aber machte Kuhn deutlich, dass beispielsweise die Lärmbelastung in der Stadt keines19 Vgl. Hans Ziemann an RKA, 19.1.1911 (BArch R 1001/4427, Bl. 45). 20 Gouvernement an RKA: Trennung der Eingeborenen-Wohnplätze von denen der Europäer in Duala, Buea, 6.1.1911 (BArch R 1001/4427, Bl. 49 f.). 21 Vgl. Pierre Bourdieu 1987: Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft. Frankfurt a.M., 277–281.
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wegs nur auf die Duala zurückzuführen sei. „Ich will der letzte sein, der die Schuld nur auf die Schwarzen wälzt“, versicherte er und fuhr fort: „[…] auch der unnötige Lärm mancher Zusammenkunftspunkte der Europäer wäre wohl zu vermeiden; das oft unsinnige Tuten der Fahrzeuge auf dem Wuri, besonders der abfahrenden, könnte ebenso gut fortfallen, wie es in Accra bei Strafe verboten ist. Aber diese Getöse werden erst dann abgeschafft werden, wenn der [L]ärm [der Schwarzen] verschwunden und die Ruhe zu einer ausführbaren, dankbaren Bürgerpflicht geworden ist.“22 In dieser Klage wird der unerwünschte Lärm sowohl als Ergebnis einer spezifisch „afrikanischen“ Lebensweise als auch als Auswirkung einer noch nicht vollends durch bürgerliche Standards geprägten Stadt gezeichnet. Als Ursache für das nichtbürgerliche Antlitz der Stadt identifizierte Kuhn zwar das Verhalten von Afrikaner_innen, aus seiner Sicht konnten aber Europäer_innen dieser Lebensweise ebenso „verfallen“. Langfristig, so deutete er an, sollte bürgerliche Lebensweise zum Maßstab und damit „der Bürger“ zum idealen Bewohner Doualas werden. Denjenigen also, der Steuern zahlt, der dauerhaft und kontinuierlich an Politik, Wirtschaft und Kultur partizipiert, hatte Kuhn vor Augen – weder, wie er weiter unten abschätzig abgrenzte, „die alten [an Schwarze] gewohnten Afrikaner“, womit er Europäer_innen meinte, die nach seinem Dafürhalten keinen ausreichenden Abstand zu den Kolonisierten hielten, noch „die flüchtigen Bewohner Kameruns“,23 die sich wenig mit der Kolonie identifizierten. Nicht die Frage, ob es sich um „Europäer“ oder „Afrikaner“ handelte, begründete hier die Grenzziehung zwischen würdigen Bewohner_innen der „modernen Europäerstadt“ und „den anderen“, sondern eine Vorstellung von Bürgerlichkeit. Und auch Mediziner stützten diese Art der Grenzziehung, indem sie der Kategorie „Krankheitsträger“ nicht etwa jene der „Keimfreien“ gegenüberstellten, sondern die der „Kulturträger“. Sie ließen damit erkennen, wie stark ihre medizinischen Vorstellungen von Krankheit und Gesundheit von Leitbildern einer „idealen“ Gesellschaft geprägt waren. Die ständige Unschärfe bei dem Versuch, klare rassistische Linien zu ziehen, ist keineswegs ein Spezifikum für den Umgang mit Douala oder den Kontext Kameruns. Im Gegenteil zeichnet sie koloniale Praxis – und Rassismus – grundsätzlich aus. Daran wird viererlei deutlich: erstens dass Grenzziehungen in der Kolonie nicht a priori existierten, sondern erst behauptet, dann begründet und konstant gesichert werden mussten; zweitens dass die rassistischen Begründungen, auf die dafür zurückgegriffen wurde, auf der Kombination einer Vielzahl unterschiedlicher Merkmale beruhten: Selbst Mediziner argumentierten keineswegs nur unter Berufung auf die Biologie oder wollten Grenzen entlang von „Phänotypen“ ziehen, sondern stützten sich auf Vorstellungen von Kultur, 22 Denkschrift über die Enteignung 1914: 3365. 23 Ebd.
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auf Visionen „idealer“ Gesellschaftsordnungen und orientierten sich an Klassenunterschieden. Drittens scheint hier das „Erfolgsrezept“ von Rassismus durch: nämlich dass er in seinen Argumentationen flexibel und dadurch an unterschiedlichste gesellschaftliche Konstellationen und politische Zielsetzungen anpassbar ist. Viertens und schließlich wird deutlich, dass „Rasse“ kein in sich geschlossenes kohärentes Konzept ist, sondern stets eine Fiktion, die sich eklektisch aus Vorstellungen vielfältiger Felder zusammensetzt.
Zweifelsfall 3: „Goanesen“ Die Unschärfe und Flexibilität von rassistischen Kategorisierungen hatte sich in den Kolonien bereits in dem Versuch manifestiert, kolonialrechtlich zwei Kategorien zu schaffen. So sah die rechtliche Grundordnung für die Kolonien, das Schutzgebietsgesetz vom 17. April 1886, zwar zwei Rechtsbereiche vor – einen für „Eingeborene“ und einen für „Nichteingeborene“ –, definierte aber an keiner Stelle die beiden so benannten Gruppen. In der Praxis orientierte man sich an dem Grundsatz, deutsche Reichsangehörige sowie Angehörige von als „zivilisiert“ bewerteten Staaten als „Nichteingeborene“ zu behandeln und alle Personen, die nicht in solche Kategorien fielen, als „Eingeborene“ anzusehen. Mit diesem Mangel an Definition wurde die Grundlage für eine ganze Reihe von juristischen und politischen Irritationen gelegt, standen doch einige Entscheidungen zum rechtlichen Status von Personen im Widerspruch zu deren zeitgenössischer, von „rassenbiologischen“ Vorstellungen geprägter Wahrnehmung: So wurden mit der Kategorie „Nichteingeborene“ in erster Linie weiße Personen24 assoziiert; tatsächlich konnten „Nichteingeborene“ aber durchaus nichtweiß sein, etwa im Falle von Afroamerikaner_innen oder in Ostafrika lebenden Inder_innen. Andersherum hatten als „Eingeborene“ kategorisierte Personen unter bestimmten Bedingungen – etwa durch Heirat – die Möglichkeit, die deutsche Staatsbürgerschaft zu erhalten. Schließlich gab es Menschen, die allgemein als „nichteuropäisch“ wahrgenommen wurden (beispielsweise „Syrer“, „Goanesen“, „Parsen“ und „Chinesen“) und in der einen Kolonie deshalb als „Eingeborene“ galten, in der anderen aber als „Nichteingeborene“. Im letzteren Fall wurde dies mit Verweis auf ihre Zugehörigkeit zum Christentum, ihren bürgerlichen Lebensstil oder 24 Dem Dilemma, zwischen politisch begründeten und phänotypisch orientierten Kategorien gefangen zu sein, entkomme auch ich nicht. Mangels Alternativen verwende ich mit „weiß“ und „nichtweiß“ Begriffe, die auf die hier besprochenen kolonialen Kategorien zurückgehen. Einen davon unabhängigen Begriffsapparat zu schaffen scheint mir unmöglich. Die Definition der von mir verwendeten Begriffe muss deshalb unscharf und in hohem Maße tautologisch bleiben: Mit „weiß“ benenne ich Personen, die mit der Kategorie „europäisch“ assoziiert wurden und werden, mit „nichtweiß“ Personen, die mit der Kategorie „außer-/nichteuropäisch“ assoziiert wurden und werden.
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auch auf politischen Druck jenes Staates hin entschieden, dessen Staatsbürgerschaft die Betreffenden besaßen.25 Der Mangel an inhaltlicher Füllung solcher Kategorien führte auch im Gesundheitswesen zu Irritationen – nicht nur in Douala und überhaupt in Kamerun. In DeutschOstafrika etwa waren Ärzte unsicher, ob sie „Goanesen“ in Krankenhäuser aufnehmen sollten, die „Europäern“ vorbehalten waren, oder ob die „Eingeborenenkrankenhäuser“ für sie zuständig waren. Als „Goanesen“ verstand man in Deutsch-Ostafrika Personen, die mit der portugiesischen Kolonie Goa auf dem indischen Subkontinent assoziiert wurden. Sie galten als „teils Mischlinge zwischen Portugiesen und Indern der Jetztzeit, teils Nachkömmlinge solcher aus der früheren Blütezeit der Portugiesenherrschaft in Indien (Goa, Ormuzd, Diu, Daman usw.), teils Nachkömmlinge solcher Goanesen untereinander, auch wieder mit Inderblut gemischt“.26 Letztendlich entschieden Ärzte unterschiedlich. So ist dokumentiert, dass im Regierungskrankenhaus in Daressalam einige als „Goanesen“ bezeichnete Personen in jenem Trakt behandelt wurden, der „Europäern“ vorbehalten war, andere allerdings in dem für „Farbige“. In Fällen, in denen „Goanesen“ in denselben Räumen wie „Europäer“ behandelt wurden, war dies in Berichten häufig explizit vermerkt,27 so als sei den berichtenden Ärzten nicht ganz wohl bei dem Gedanken gewesen, solche Personen im Bericht unkommentiert und damit unsichtbar in dieser Kategorie „aufzulösen“. Die Kriterien dafür, wer im kolonialen Gesundheitswesen als „Europäer“ und wer als „Farbiger“ verstanden wurde, variierten also, denn sie waren nicht festgeschrieben. Der Umgang mit den Kategorisierungen war uneinheitlich, der Rassismus, auf dem sie beruhten, „flexibel“.
Rassismus: Kultur naturalisieren Die Unschärfe rassistischer Grenzziehungen erlaubte es einerseits, bestimmte Personen mit Privilegien auszustatten und anderen diese zu entziehen, wie es opportun erschien, und so Herrschaftsverhältnisse zu sichern. Andererseits war, was eine solche flexible, klassenspezifische Grenzziehung betrifft, gerade bei den involvierten Ärzten ein Unbehagen zu erkennen – und zwar gegenüber dem Befund, dass mit einer auf diese Weise 25 Vgl. Dominik Nagl 2007: Grenzfälle. Staatsangehörigkeit, Rassismus und nationale Identität unter deutscher Kolonialherrschaft. Frankfurt a.M., 50–71; Birthe Kundrus 2003: Moderne Imperialisten. Das Kaiserreich im Spiegel seiner Kolonien. Köln, 234–279. 26 Reichs-Kolonialamt (Hg.) 1914: Die deutschen Schutzgebiete in Afrika und der Südsee 1912/1913. Amtliche Jahresberichte. Berlin, 8. 27 Kolonial-Abteilung des Auswärtigen Amts (Hg.) 1907: Medizinal-Berichte über die Deutschen Schutzgebiete Deutsch-Ostafrika, Kamerun, Togo, Deutsch-Südwestafrika, Neu-Guinea, Karolinen, Marshall-Inseln und Samoa 1905/06. Berlin, 3.
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begründeten Grenzziehung die Linie zwischen Kolonisierten und Kolonisierenden zu verblassen drohe oder zumindest in Einzelfällen infrage gestellt würde. In Douala zum Beispiel verspürte der Medizinalreferent Kuhn eine Beklommenheit gegenüber Wohnbauten, die er als „Nachahmungshäuser“28 der Duala wahrnahm. Die Gegenstrategie, die er entwickelte, lautete, Kultur und Herkunft miteinander zu verknüpfen, genauer: eine spezifische „Eingeborenenkultur“ festzuschreiben, die sich allein nach der Herkunft richten sollte, unabhängig vom sozialen Stand. So mahnte er, „daß die neue Eingeborenenstadt in Duala Häuser nur nach Eingeborenenart gestatte[n dürfe]“. Diese Regel sollte ausdrücklich von der sozialen Stellung der Bewohner_innen unabhängig sein: „Reichen Duala-Leuten sollten die Baumeister Häuser bauen, deren Pläne von den Bedürfnissen der Schwarzen, insbesondere von der Notwendigkeit offener Feuerstellen beherrscht werden, und den Stil der [Afrikaner]häuser weiterentwickeln. Hier liegt die dankenswerte Aufgabe der Entwicklung eines kolonialen Eingeborenenstils für unsere Architekten vor.“29 Was später als „Erfindung der Tradition“30 beschrieben worden ist, wird hier eindrücklich illustriert: Die im Alltag Doualas nur schwer zu findende dichotome Teilung in einen „europäischen“ und einen „afrikanischen“ Stil galt es erst herzustellen – sowohl was den Baustil als auch was den Lebensstil betraf. Dass die Kolonialverwaltung zum Herausbilden dieser Dichotomie auf Ideen von Kulturalität und den Marker Bürgerlichkeit zurückgriff, ist keineswegs ein Hinweis darauf, dass sie aus kolonialrassistischen Logiken ausbrach: Rassismus ist ein Prozess, in dem erstens Gruppen hergestellt werden, zweitens Personen innerhalb dieser Gruppen verortet werden, indem drittens beides durch den Verweis auf biologische oder kulturelle Merkmale geschieht, die als wesentlich, als nicht ohne Weiteres austauschbar, also als quasinatürlich für diese Gruppe gedacht werden, und aus dem viertens für diejenigen, die diese Gruppenkonstruktion
28 Denkschrift über die Enteignung 1914: 3365. 29 Ebd. 30 Terence Ranger 1992: The Invention of Tradition in Colonial Africa. In: Eric J. Hobsbawm (Hg.): The Invention of Tradition. Cambridge, 211–262. Paul Rabinow und Gwendolyn Wright haben beschrieben, wie in der französischen Stadtplanung zu Beginn des 20. Jahrhunderts tatsächlich ein Stil „erfunden“ wurde, der als marokkanisch wahrgenommene Elemente mit als westlich und modern markierten verband. Im Falle von Casablanca sollte der neue Baustil auch ein bestimmtes soziales Vorhaben fördern: das der Nachbarschaft. Hier wurde der jüngst entwickelte Stil beim Bau der neuen Medina ab 1913 verwandt. Vgl. Paul Rabinow 1989: Governing Morocco. Modernity and Difference. International Journal of Urban and Regional Research. 13, 32–46, hier 38–43; ders. 1989: French Modern. Norms and Forms of the Social Environment. Cambridge, Mass.; Gwendolyn Wright 2001: Tradition in the Service of Modernity. Architecture and Urbanism in French Colonial Policy, 1900–1930. In: Frederick Cooper und Ann L. Stoler (Hg.): Tensions of Empire. Colonial Cultures in a Bourgeois World. Berkeley, 322–345; dies. 1991: The Politics of Design in French Colonial Urbanism. Chicago.
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betreiben, Privilegien erwachsen.31 Tatsächlich versuchte auch in Douala die Kolonialverwaltung durch den Rückgriff auf eine Kombination aus biologistischen („Krankheitsträger“), klassistischen („Kulturträger“) sowie kulturalistischen („Durcheinanderleben“ und Sprachmischung) Argumenten eine Trennlinie zu ziehen und sie als „natürlich“ zu legitimieren. Diese Argumentation verdeutlicht, wie eng Rassismus und Ideale von Bürgerlichkeit und Modernität miteinander verquickt waren (und sind).
Epilog: Rassismus als flexibles System Kulturalistische Rassismen sind keineswegs neu und frühere Rassismen waren in ihren Begründungen keineswegs weniger kulturalistisch oder andersherum biologistischer als heutige. Das hat der Blick zurück in die koloniale Geschichte Deutschlands gezeigt. Die „rassenhygienischen“ Argumente eines Ziemann oder Kuhn waren genauso von der Vorstellung kultureller Unterschiede sowie zivilisatorischer Höher- und Minderwertigkeit genährt wie aktuelle Diskurse über die vermeintlich frauenfeindliche und antidemokratische „muslimische Kultur“ es sind. Kurz: Ein Rassismus ohne Kulturalismus ist kaum denkbar – und auch in die Idee von „Rasse“ sind stets Vorstellungen von Kulturalität und Klassenpositionen eingewoben. Auch „Rasse“ also ist ein Kulturalismus. Es sind seine kulturalistischen Begründungen, die Rassismus zu einer flexibel oder besser: willkürlich einsetzbaren Waffe machen. Die mit „Kultur“ erklärte Deprivilegierung lässt sich unterschiedlich füllen und so auf ganz verschiedene „Personengruppen“32 anwenden, abhängig davon, welche Zielrichtung gerade politisch angezeigt ist. Zur Gefahr für die Kultur der deutschen Mehrheitsgesellschaft wurden und werden entsprechend mal Jüd_innen, mal Muslim_innen stilisiert, mal Osteuropäer_innen, mal Südeuropäer_innen, mal Rom_nija und Sinti_zas, mal Afrikaner_innen, mal Chines_innen, mal US-Amerikaner_innen und so weiter. Flexibel und willkürlich ist Rassismus schließlich auch in dem Sinne, dass er es erlaubt, Personen(-gruppen) von rassistischer Ausgrenzung auszunehmen und in die Mehrheits31 Robert Miles beschreibt Rassismus als Zusammenspiel dreier Bedingungen: erstens des Prozesses der „Rassenkonstruktion“ (racialisation), also jenes Prozesses, in dem quasinatürliche Gruppen hergestellt werden; zweitens des Vorhandenseins einer Ideologie, die für die auf diese Weise gebildete Gruppe negative Konsequenzen bedeutet; drittens einer Praxis der Ausgrenzung, in der bestimmte „Gruppenangehörige“ benachteiligt werden. Miles betont, dass Rassismus als Prozess der „Bedeutungskonstruktion“ verstanden werden müsse. Robert Miles 1991: Rassismus. Einführung in die Geschichte und Theorie eines Begriffs. Hamburg, 9, 93–112. Für Albert Memmi ist Rassismus „la valorisation, généralisée et définitive, de différences, réelles ou imaginaires, au profit de l’accusateur et au détriment de sa victime, afin de justifier une agression ou un privilège“. Albert Memmi 1982: Le racisme. Description, définition, traitement. Paris, 98 f. 32 Vgl. Anm. 15.
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gesellschaft zu integrieren, wenn dies erwünscht ist. Heute geschieht das etwa mit (ehemaligen) Musliminnen, die sich in die hegemoniale Klage über den vermeintlichen Antifeminismus „des Islam“ einreihen. Zu Kolonialzeiten war es die Zugehörigkeit zum Christentum, die es „Syrern“ erlaubte, den rechtlich privilegierten Status der „Nichteingeborenen“ zu erlangen; und der bürgerliche Habitus ermöglichte es vermögenden Duala, im „Europäerviertel“ zu wohnen. Allerdings galt und gilt diese Flexibilität nicht für alle gleichermaßen und funktioniert(e) meist nur in eine Richtung: Zwar war es in Douala möglich, Afrikaner_innen, wenn sie wohlhabend waren, gewissermaßen in ihrem Status innerhalb der Kolonialgesellschaft zu erheben und ihnen das Wohnen im „Europäerviertel“ zu erlauben. In der kolonialen Logik verbat sich allerdings der Gedanke, andersherum Europäer_innen mit niedrigem sozialen Stand zu „degradieren“, indem sie in die „Eingeborenenstadt“ verwiesen würden. Trotz solch punktuell bevorzugter Behandlung vermochten Afrikaner_innen im kolonialen Rechtssystem dem Status der „Eingeborenen“ nicht zu entkommen. Anders als bei „Syrern“ oder „Goanesen“ konnte selbst eine christliche Erziehung ihnen nicht zu einer Anerkennung als „Nichteingeborene“ verhelfen.33 Dafür war Afrikanischsein, Schwarzsein zu sehr an die Idee der Unterklasse gebunden. Wenn hundert Jahre später, 2013, die reiche schwarze US-Showmasterin Oprah Winfrey in Zürich in einer Luxusboutique nicht bedient wird, weil die Verkäuferin annimmt, sie könne sich die angebotene Ware nicht leisten, dann ist auch das ein Beispiel dafür, dass Habitus aus Sicht der Mehrheitsgesellschaft nicht genügt, um die starke Assoziation von Schwarzsein und Armut zu lösen und schwarze Personen als gleichwertig wahrzunehmen.34 Vor allem wird an diesen Beispielen aber eines deutlich: Keineswegs sind es die Betroffenen selbst, die über ihren Ein- und Ausschluss flexibel entscheiden können. Stattdessen profitieren jene von der Unschärfe der rassistischen Kategorien, die sie selbst erzeugen. Wie Jean-Paul Sartre bemerkt: „Der Antisemit macht den Juden“.35
33 Vgl. Ulrike Schaper 2012: Koloniale Verhandlungen. Gerichtsbarkeit, Verwaltung und Herrschaft in Kamerun 1884–1916. Frankfurt a.M., 68–77. 34 Vgl. Sophia Lindsey 2013: „Die können Sie sich nicht leisten“. sueddeutsche.de, 9.8.2013, http:// www.sueddeutsche.de/panorama/rassismus-gegen-oprah-winfrey-die-koennen-sie-sich-nicht-leisten-1.1742625 [11. Dezember 2017). 35 Jean-Paul Sartre 1994: Überlegungen zur Judenfrage. Reinbek bei Hamburg, 43.
HERRSCHAFT, POLITIK UND ÖKONOMIE
Frank Dikötter
Wie und warum wurde „Rasse“ zu einem globalen Begriff?
Frank Dikötter ist ein niederländischer Historiker. Er ist seit 2006 Professor for Humanities an der Universität Hongkong. In seinen Forschungen befasst er sich mit der Geschichte des modernen China. Zu seinen einschlägigen Publikationen gehören u.a. The Discours of Race in Modern China (1992) und Mao’s Great Famine. The History of Chinas Most Devastating Catastrophe (2010).1
Die Menschen beweisen einen unendlichen Einfallsreichtum bei der Erfindung von Wegen, sich gegenseitig zu diskriminieren und zu erniedrigen – ob im Namen der Religion, der Kultur, des Geschlechts, der Klasse oder der Nation. Noch bis vor kurzem war die Idee der „Rasse“ eine der wirksamsten Barrieren gegen die Gleichheit, indem sie Menschen verschiedenen, vermeintlich biologisch einheitlichen Gruppen zuordnete und sie hierarchisch auf einer evolutionären Skala der Gewinner und Verlierer verteilte. Augenfarbe, Hautton, Kopfform und Haarbeschaffenheit wurden als Merkmale grundlegender biologischer Differenzen zwischen Menschen angesehen, die so unterschiedliche Phänomene rechtfertigen konnten wie den Sklavenhandel, die Apartheid oder den Holocaust. Die Idee, dass sich Menschen auf Grundlage einiger realer oder imaginierter Zeichen klassifizieren lassen, nahm im 19. Jahrhundert globale Dimensionen an. Warum genau das passierte, ist weiterhin umstritten, doch gibt es generell drei Erklärungen. Eine populäre Ansicht behauptet, dass sich Rassenklassifikationen weit verbreiteten, weil sie real sind. Diese Auffassung verstehe ich als ein auf biologischen Annahmen beruhendes common-sense-Modell. Historiker, Soziologen, Anthropologen und Biologen, darunter Größen wie Richard Lewontin und Stephen Gould, haben das Rasse-Konzept seit vielen Jahrzehnten als eine mächtige Illusion ohne echte wissenschaftliche Geltung zu entlarven versucht. Die schlichte Tatsache jedoch, dass Wissenschaft selbst ein komplexes, sich entwickelndes und vielstimmiges Feld ist, ruft in regelmäßig wiederkehrenden 1 Dieser Text basiert auf einem früheren Aufsatz des Autors, der unter dem Titel erschienen ist: Frank Dikötter 2008: The Racialisation of the Globe. An Interactive Interpretation. In: Ethnic and Racial Studies. 31, 1478–1496.
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Abständen neue Thesen zur Existenz von Rassenunterschieden auf den Plan. Jüngere Entdeckungen der Genetik haben den Alltagsannahmen über die Realität von „Rassen“ sogar neue Glaubwürdigkeit verliehen: So gehen einige Biologen nicht nur von der tatsächlichen Existenz der fünf Menschenrassen aus, die Johann Friedrich Blumenbach und andere vor zwei Jahrhunderten bestimmten, sondern ebenfalls von erkennbaren Differenzen auf genetischer Ebene zwischen „schwarzen“, „braunen“, „roten“, „gelben“ und „weißen“ Menschen, die ihre Anfälligkeit für bestimmte Krankheiten definieren.2 Noch direkter behauptete etwa Armand Leroi 2005 in der New York Times, dass biologische Rassenunterschiede in der Spezies Mensch schlicht eine Tatsache seien.3 Eine zweite, gleichermaßen populäre Erklärung verwirft die Wissenschaft als bloßen Mythos und behauptet stattdessen, dass der globale Rassismus den Ideologien und Strukturen des globalen Kapitalismus eingeschrieben sei. Die Vertreter dieses Ausbeutungs-Modells, von Oliver Cox bis Fidel Castro, gehen davon aus, dass die Europäer im Zuge der Welteroberung ein System der sozialen Ungleichheit schufen, um sich mit billigen Arbeitskräften zu versorgen. Der Rassismus garantierte dabei, dass die Kolonisierten als minderwertige Menschen betrachtet wurden und wie jede andere Ware erworben oder verkauft werden konnten. In seiner jüngsten und am meisten verallgemeinerten Variante dieses Erklärungsmodells wird behauptet, dass der Fall der Berliner Mauer eine neue Ära der Globalisierung einläutete, in der ein vereinigter Norden den Rassismus für die Ausbeutung des postkolonialen Südens weiter fortschreibe. Weniger offensichtlich, aber noch einflussreicher ist das Diffusions-Modell. Die Dominanz des Westens, so wird hier behauptet, habe zur Verbreitung des Rassismus von Europa aus über den ganzen Rest der Welt geführt. Vorurteile wurden kopiert und angepasst, so dass die hergebrachten Formen der Diskriminierung verdrängt wurden. Die Herabsetzung „schwarzer“ Kultur wurde auf lokaler Ebene in dem Maße reproduziert, in dem die globalen Eliten der „weißen“ Kultur nacheiferten. So gibt es etwa in Brasilien ein ausgeklügeltes Vokabular zur Abstufung des Weißseins – vom brancarao, einem hell-häutigen „Mulatten“, der fast als „weiß“ gelten kann, bis zum kleinen und dunklen mulequinho. Das eindrücklichste Beispiel aber liefern Studien zur kosmetischen Körperkorrektur in Japan, die zeigen, wie stark die rassische Ideologie des „Weißseins“ hier mittlerweile internalisiert wurde. So gehen sie auf Beispiele von Frauen ein, die nicht nur Hautaufheller verwenden, sondern auch Augenlider und Nasen operativ entsprechend verändern lassen.4 2 Nikolas Rose 2006: Introduction to the discussion of race and ethnicity in Nature Genetics. In: BioSocieties. 1, 307–311. 3 Armand Leroi: A family tree in every gene. In: New York Times, 14. März 2005. 4 Vgl. u.a. Eugenia Kaw 1993: Medicalization of racial features: Asian American women and cosmetic surgery. In: Medical Anthropology Quarterly. 7. Heft 1, 74–89; Mikiko Ashikari 2005: Cultivating Jap-
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Alle drei Erklärungsmodelle sind eingängig in ihrer Einfachheit, scheitern aber letztlich daran, dass sie den Rassismus als ein uniformes Phänomen begreifen – als gäbe es nur eine Form von Rassismus, die in ihren Ursprüngen, Ursachen, Bedeutungen und Wirkungen universal sei. Auch reproduzieren sie den Eurozentrismus, indem sie die nachhaltige Macht regionaler Denktraditionen und lokaler Politikformen in Asien, Afrika, Amerika oder im Mittleren Osten ignorieren. Sie fassen Menschen als bloße Rezipienten fremder Dinge und Ideen auf und vernachlässigen die zentrale Rolle menschlichen Handelns, das Akteure rund um den Globus auf je eigene Weise den Rassismus aktiv interpretieren, anpassen, verändern und möglicherweise auch ablehnen lässt. Die Vielstimmigkeit und Anpassungsfähigkeit des Rassendiskurses muss in verschiedenen historischen Kontexten erkannt werden, wenn seine fortdauernde Anziehungskraft verstanden werden soll. Das interaktive Deutungsmodell, das hier vorgeschlagen wird, konzentriert sich auf die von lokalen Akteuren konstruierten Weltbilder und analysiert die komplexen kognitiven, sozialen und politischen Dimensionen hinter der Aneignung und Vereinnahmung rassistischer Glaubenssysteme. Kurz: Es betont Inkulturation statt Akkulturation. Dieses interaktive, auf der Rezeptionsforschung beruhende Deutungsmodell trifft allerdings unmittelbar auf eine große Herausforderung: Wenn die je lokalen Vorstellungen von Rassismus relevant sind, benötigen wir detaillierte Tiefenstudien zu eben den lokalen Formen des Sprachgebrauchs, die von den drei erwähnten eurozentrischen Modellen systematisch ignoriert werden. Erst 1992 wurde die erste systematische historische Analyse eines rassistischen Glaubenssystems außerhalb Europas und Amerikas veröffentlicht, die empirische Befunde zur Herausbildung, Verbreitung und Konsolidierung des Rassismus im besonderen Fall Chinas vorlegte.5 Seitdem sind eine Reihe weiterer Studien zu anderen Weltteilen erschienen, die das interaktive Erklärungsmodell weiter entwickelt haben und in den Formen der Aneignung, des differenzierten Gebrauchs und der Umdeutung den Schlüssel zur Erklärung der raschen Verbreitung rassistischer Weltbilder außerhalb Europas sehen.6
anese whiteness: The whitening cosmetics boom and the Japanese identity. In: Journal of Material Culture. 10. Heft 1, 73–91. 5 Die folgenden chinesischen Beispiele können detailliert nachgelesen werden in Frank Dikötter 1992: The discourse of race in modern China. Stanford. 6 Zu Japan vgl. Frank Dikötter 1997 (Hg.): The construction of racial identity in China and Japan. Historical and contemporary perspectives. Honolulu sowie John W. Dower 1986: War without mercy. Race and power in the pacific war. New York.
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Kognitive Traditionen und die Herausbildung rassischer Denkkategorien Der wichtigste Punkt beim Studium von Rassenkategorien außerhalb Europas und Amerikas ist die Relevanz der dort bereits existierenden Gesellschafts- und Denktraditionen. In einem bahnbrechenden Artikel von 1997 unter dem Titel How Indians Got to be Red hat Nancy Shoemaker die Annahme in Frage gestellt, dass die Idee der „Röte“ allein von den Europäern erfunden wurde.7 Weil nach gängigem Verständnis die Macht zu benennen und zu kategorisieren allein den Europäern zugeschrieben wird, wird angenommen, dass diese die Indianer gemeinhin als „rot“ definierten, weil diese sich „rot“ anmalten. Doch lange bevor diese Kennzeichnung in irgendeiner europäischen Sprache auftauchte, bezeichneten sich die amerikanischen Indianer, besonders im Südosten, bereits selbst als „rot“. Dieser heimische Farbensymbolismus – überliefert in Ursprungsmythen, die auf rote Völker, rote Erde und einen roten Schöpfer verwiesen – war in den indianischen Ratsversammlungen der 1720er-Jahre vorherrschend, als die meisten europäischen Entdecker noch die Bezeichnungen „braun“ oder „gelbbraun“ benutzten. In den indianischen Sprachen des Südostens, Nantchez, Choctaw oder auch Muskogee, leitete sich die Selbstbezeichnung für Indianer von der Farbe Rot ab und bedeutete wörtlich „Mensch-rot“, was mit „roter Mensch“ oder „rotes Volk“ übersetzt wurde. Rot und Weiß waren komplementäre Gegenbegriffe und verwiesen auf Krieg und Frieden. Wo die Indianer des Südostens keine gesonderte Selbstbezeichnung besaßen, nannten sie sich „rot“ in Reaktion auf die sich als „weiß“ beschreibenden Europäer, um sich von deren „schwarzen“ Sklaven abzugrenzen. Auch hier gab es natürlich wichtige geographische Unterschiede: Die meisten Europäer im Südosten begannen in den frühen 1700er-Jahren, sich als „weiß“ zu bezeichnen, zweifellos weil viele der nach Carolina kommenden Kolonisten aus Barbados stammten, wo sie sich selbst nicht länger als „Christen“, sondern als „Weiße“ bezeichneten. Die Holländer in den New Netherlands und die Engländer im Nordosten aber beschrieben die Welt noch bis in die 1730er-Jahre mit den Begriffen „Christen“ und „Indianer“. Erst danach begannen sie sich als „Weiße“ zu bezeichnen. Dieser Begriff ließ sich im Gegensatz zum Konzept der „Christen“ wörtlich in die Sprachen der Einheimischen übersetzen. Seit den 1760er Jahren glaubten die meisten Indianer, dass die verschiedenen körperlichen Erscheinungen zwischen den beiden Völkern deutliche Unterschiede markierten. Die Hautfarbe signalisierte als göttliches Zeichen den Landbesitz der „Roten“ und den Status der „Weißen“ als Eindringlinge. Damit imaginierten sich anfänglich Indianer wie Europäer in der gleichen Weise, entwickelten mit der Zeit aber eine Fiktion 7 Vgl. Nancy Shoemaker 1997: How Indians got to be red. In: The American Historical Review. 102, 624–644.
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irreversibler Differenz, die sich in der jetzt rassischen Bedeutung der Begriffe „rot“ und „weiß“ ausdrückte. „Die Ähnlichkeiten zwischen Indianern und Europäern führten zu einer schärferen Konturierung der Unterschiede und im Laufe des 18. Jahrhunderts wurden neue Identitäten konstruiert, in denen der Kontrast übertrieben und zugleich ignoriert wurde, was man gemeinsam hatte“8, so konstatiert Shoemaker. Auch in China, um einen anderen Erdteil zu betrachten, hatte die Farbe Gelb lange vor der Etablierung rassistischer Glaubenssysteme aus dem Westen positive Konnotationen. In Europa hat sich der Begriff einer „gelben Rasse“ wohl erst im späten 17. Jahrhundert herausgebildet, als Jesuiten vom symbolischen Wert der Farbe Gelb in China berichteten. Das Konzept war der Antike unbekannt und wurde auch nicht von den Reisenden des Mittelalters, wie Marco Polo, Pian del Carpine, Bento de Goes oder den arabischen Händlern gebraucht. Die erste europäische Mission zur Qing-Dynastie im Jahre 1655 beschrieb die Chinesen als „Weiße“, „ähnlich den Europäern“, mit Ausnahme einiger Südländer, deren Haut „leicht braun“ sei. Francois Bernier‘s Etrennes adressées à Madame de la Sablière pour année (1688) gilt als die erste wissenschaftliche Arbeit, in welcher der Begriff einer „gelben Rasse“ auftaucht. In China galt Gelb als eine der fünf reinen Farben, wurde lange mit Herrschaft in Verbindung gebracht und symbolisierte das Zentrum. Es war die Farbe des Herrschers über das mittlere Königreich, angestammte Heimat der Nachfahren des Gelben Herrschers, der seinen Ursprung angeblich im Tal des Gelben Flusses hatten. Der bis zu Beginn dieses Jahrhunderts einflussreiche Loyalist Wang Fuzhi (1619–1692) nannte eines seiner wichtigeren Werke Das Gelbe Buch (Huangshu): Sein letztes Kapitel kontrastierte die Reichsfarbe Gelb mit vermischten Farben und bezeichnete China als das „gelbe Zentrum“. Auf einer eher populären Ebene zirkulierten außerdem Legenden über den Ursprung der Menschen, in denen das „edle Volk“ aus gelbem Schlamm und das „gemeine Volk“ aus einfachem Seil gemacht seien – nicht unähnlich den Erzählungen der Cherokee über die Formung der Menschen aus roter Erde.9 Dank der vielen schriftlichen Überlieferungen in offizieller Sprache lässt sich im Falle Chinas auch auf einer anderen Ebene eine deutliche Korrespondenz zwischen lokalen Gesellschaftsinstitutionen und rassistischen Glaubenssystemen finden, besonders etwa im Kontext der väterlichen Abstammungslinie. Die Lineage (zu) war eine Form der sozialen Organisation, die auf der Annahme gemeinsamer Herkunft und Abstammung basierte und in ihrer modernen Variante unter der Song-Dynastie (960–1279) eingeführt wurde. Sie basierte auf patrilinearer Herkunft und beschränkte sich im Allgemeinen auf eine Gruppe von Dörfern, wo dieser Lineage Land, Schulen und ein Ahnentempel 8 Ebd.: 3. 9 Vgl. Dikötter 1992.
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gehörte. Einige dieser Linien oder Clans dominierten ganze Regionen. Die Abstammung wurde in Genealogien (zupu) festgehalten, eine Aufgabe, welche die Mitarbeit vieler Linien-Mitglieder erforderte. So arbeiteten an der letzten Auflage der Genealogie der Zeng in Hunan, die ihre Herkunft auf einen Prinz der Xia-Dynastie zurückführten und deren Vater in den Jahren 2218–2168 v.Chr. regiert hatte, 106 Personen mit. Eine solche Blutsverbindung mit einem mythischen Vorfahren zu etablieren, sollte den Linien mehr Prestige einbringen. Die Genealogien bewiesen zudem die Reinheit der Linie und dienten dem Nachweis, dass es keine Verbindung mit jenen Völkern gegeben habe, die das Reich erobert und zwischenzeitlich beherrscht hatten. Zwischen den Linien konnten beträchtliche Konflikte entstehen und Feindschaften erstreckten sich durch die gesamte Zeit der Qing Dynastie, die 1644 von Mandschus gegründet wurde, die China vom Norden aus eroberten. An den bewaffneten Schlachten beteiligten sich viele tausend Kämpfer; ein besonders schwerer Konflikt zwischen den Hakka und den Punti forderte 1856–1857 100.000 Opfer. Später soll gezeigt werden, wie diese Linien am Ende des 19. Jahrhunderts rassisiert wurden. Bislang haben wir gesehen, wie wichtig vorherrschende Traditionen für die Herausbildung eines neuen rassischen Sprachgebrauchs waren, der sich umso besser in einer kulturellen Umwelt verbreiten konnte, die von sich aus bereits einen besondere Wert auf reale oder imaginierte körperliche Differenzen legte. Ein Gegenbeispiel illustriert diesen Punkt noch besser: Laut Wyatt MacGaffey basierte die traditionelle Kosmologie der Bakongo, ein Volk des südlichen Kongo an der Grenze zu Angola, auf der komplementären Unterscheidung zwischen der diesseitigen Welt und einer anderen jenseitigen. In einer Religion, die Wassergeistern eine besondere Rolle beimisst, glaubte man, dass die Haut der Toten weiß werde, wenn sie über das Wasser in die Unterwelt fahren. Folglich nahm man an, dass die ersten im Kongo ankommenden Europäer dem Wasser entsprangen und nachts zum Schlafen auch dorthin zurückkehrten. Dieses integrale Weltbild, in dem das Leben kein prinzipielles Ende hat, bewahrte die Bakongo davor, Bevölkerungsgruppen in Rassenbegriffen zu unterscheiden und verhinderte die Herausbildung einer scharfen Unterscheidung zwischen der europäischen Kultur und der Bakongo-Kosmologie: „Als die ersten Portugiesen 1485 im Kongo auftauchten, hatten sie prinzipiell die Erscheinung von Toten: Sie waren weiß, sie sprachen eine unverständliche Sprache und sie verfügten über Technologien, die sogar derjenigen der lokalen Priestergilde von Schmieden überlegen waren. Diese ersten Portugiesen, wie alle die nach ihnen kamen, wurden als Besucher aus dem Land der Toten wahrgenommen.“10 MacGaffey betont hier weniger das Exotische einer vormodernen Kosmologie als viel10 Vgl. Wyatt MacGaffy 1986: Religion and society in Central Africa. The Bakongo of lower Zaire. Chicago; Suzanne Preston Blier 1993: Imagining otherness in ivory. African portrayals of the Portuguese ca. 1492. In: The Art Bulletin. 75. Heft 3, 375–396.
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mehr die Fähigkeit eines lokalen Glaubens, sich auch auf fundamentale Umbrüche einzustellen – nicht zuletzt sogar auf das Projekt Leopolds II, die Bakongo als einen primitiven Stamm zu klassifizieren und zur kolonialen Arbeit zu zwingen. So hatte die Erziehung in Missionsschulen allein den Zweck, schlecht ausgebildete und fügsame Arbeitskräfte hervorzubringen. Doch während dieses System erfolgreich die materielle Kultur der Bakongo veränderte, scheiterte es völlig daran, auch das europäische Weltbild zu vermitteln: Das gesamte Kolonialunternehmen wurde von den Kolonisierten in der Sprache der Hexerei als ein nächtlicher Menschentausch und die Missionsschule als ein den vorkolonialen Praktiken nicht unähnliches Initiationsritual verstanden. Am Ende erwies sich das symbolische Universum des Kongo als erstaunlich resistent gegen Jahrzehnte konzentrierter kolonialer Beeinflussung, einschließlich der Palette rassentheoretischer Ideen, die Missionare und Kolonialoffiziere zu verbreiten suchten.11 Im Gegensatz zu den Bakongo, deren lokale Kosmologie auch nach Jahrzehnten rassistischer Indoktrinierung nicht verschwand, bildete die komplexe Beziehung zwischen den Hutu und Tutsi einen Hintergrund, auf dem der Kolonialismus aufbauen konnte. Als die Kolonisten im frühen 20. Jahrhundert nach Ruanda kamen, unterschieden sie nicht nur Afrikaner und Europäer als verschiedene „Rassen“, sondern ebenso die bereits existierenden sozialen Gruppen: So beschrieben sie die Minderheit der Tutsi als große und elegante „Rasse“, die Toga trugen und eine Verbindung zu den alten römischen Kolonien Nordafrikas aufwiesen, während die Mehrheit der Hutu als harmlos, dumm und gegenüber den Tutsi als „rassisch minderwertig“ dargestellt wurden. Ein System der Volkszählung, das von zwei völlig verschiedenen und in sich kohärenten Rassetypen ausging, verhärtete diesen Gegensatz zwischen den Hutu und Tutsi noch weiter. Die Tutsi nutzten diese Vorurteile aus, indem sie innerhalb der kolonialen Ordnung ihre Kontrolle über die Hutu weiter ausbauten. In dem, was Alison Des Forges ironisch die „große, unbesungene Kollaboration“ nannte, haben ruandische Intellektuelle und europäische Kolonisten über Jahrzehnte die Geschichte des Landes nach Maßgabe ausländischer Annahmen und sozialer Interessen der Tutsi neu geschrieben.12 Verwaltungsbeamte, Lehrer und Missionare halfen so den indigenen Häuptlingen, Dichtern und Historikern dabei, den elitären Status der Tutsi zu einem rassistischen Dogma zu machen – auch mithilfe der physischen Anthropologie: Bantu und Etiopoid wurden die „fachlichen“ Begriffe zur Unterscheidung zwischen Hutu und Tutsi, während soziale, kulturelle und regionale Binnendifferenzen beider Gruppen schlicht ignoriert wurden zugunsten einer strikten rassischen Klassifizierung auf Grundlage der Nasen- und Schädelvermessung. Sogar nach der Revolution von 1959, als die Tutsi von den Hutu entmachtet 11 Vgl. MacGaffy 1986. 12 Alison Des Forges 1995: The ideology of genocide. In: Issue: A Journal of Opinion. 23. Heft 2, 44–47.
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wurden, gingen die wesentlichen Elemente dieses Rassenmythos in eine Ideologie des Hasses gegen eine einst mächtige Minderheit ein, die nun für alles Böse verantwortlich gemacht wurde. Politische und eine Reihe weiterer sich verschränkender Faktoren radikalisierten diese Differenzen bis zum Völkermord, dem im Bürgerkrieg von 1994 dann 800.000 Tutsi zum Opfer fielen. Wie Peter Uvin gezeigt hat, gingen die rassistischen Vorurteile zwar von der Regierung aus, wurden aber auch von den Nöten der gewöhnlichen Leute befeuert, die die Tutsi zum Sündenbock für ihr eigens Leid machten.13
Die Politik des Rassismus Es scheint fast trivial zu betonen, dass der Rassismus eine politische Sache ist: Wie alle Glaubenssysteme sind auch rassistische mit Macht und Prestige verknüpft. Die eigentliche Frage ist, ob wir die politische Dynamik des Rassismus angesichts der weltweiten Verschiedenheit genauer bestimmen können. Während üblicherweise das Ausmaß betont wird, in dem der Rassismus gesellschaftlichen Ausschluss legitimiert, möchte ich für einen präziseren Ansatz argumentieren, der die Bedeutung der Abwehr von Gleichheitsvorstellungen in der Entstehung von Rassendiskursen hervorhebt. Schließlich basierten in der Geschichte viele politische Systeme auf strikter Hierarchie, von denen aber keines bis zum 18. Jahrhundert eines Rassenbegriffs bedurfte. Religion, Verwandtschaft, Sprache oder Kultur ließen sich lange ebenso gut in Ideologien einer radikalen Differenz verwandeln. Nicht zuletzt die Christen hatten wenig Mühe, sich in den Religions- und Konfessionskriegen gegenseitig zu dehumanisieren und zu vernichten – noch bevor sie Amerikaner, Asiaten und Afrikaner töteten. Eine Theorie der politischen Gleichheit aber entstand, ähnlich wie der Rassenbegriff, erst in der jüngeren Geschichte. Und beide stehen in einem dynamischen Verhältnis zueinander. Blicken wir kurz auf Amerika. Wie George Frederickson gezeigt hat, entwickelte sich eine rassische Gesellschaftsordnung in Teilen Nordamerikas erst im späten 17. Jahrhundert.14 In den früheren Jahrzehnten wurden freie Schwarze kaum oder nicht offen diskriminiert und hatten sogar, zumindest in Massachusetts, dieselben Grundrechte wie alle anderen Menschen. Anderswo war die Lage weniger eindeutig, wie etwa in Virginia, doch selbst dort hatten freie Schwarze das Recht, Eigentum zu erwerben und zu wählen. Zudem galt in weiten Teilen des Landes eine Heirat weißer Dienerinnen und schwarzer Sklaven als nichts Ungewöhnliches. Der Status, frei oder versklavt zu sein, war für die soziale Position weitaus bestimmender als die rassische Unterscheidung zwischen weiß 13 Vgl. Peter Uvin: Prejudice 1997: Crisis and genocide in Rwnda. In: African Studies Review. 40. Heft 2, 91–115. 14 George M. Frederickson 2002: Racism. A short history. Princeton.
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und schwarz. Das änderte sich jedoch mit der Entstehung einer Klassenstruktur unter den freien Weißen, von denen einige Land und Sklaven erwarben und damit andere in einen niederen sozialen Rang zurückdrängten. Sowohl die armen Weißen als auch die reichen Eliten versuchten, diese Formierung einer sozialen Hierarchie der Ränge und Privilegien zu verhindern, da sie dem verbreiteten Gleichheitsideal widersprach. Statt aber an den Eigentumsverhältnissen zu rühren, bemühte man sich, die erfolgreichen freien Schwarzen noch unter den Status der ärmsten Weißen zu drücken. So wurde schließlich „Rasse“ zur Grundlage dessen, was Frederickson eine „Pseudogleichheit“ weißer Menschen nannte. Fredericksons vergleichender Blick auf Südamerika ist sehr erhellend. Spanien und Portugal waren noch feudale Gesellschaften mit einer strikten sozialen Hierarchie und Standesordnung. Sklaven waren die unterste Stufe in dieser Hierarchie. Freiheit bedeutete nur den Aufstieg auf die nächste Stufe und dies stellte keinerlei Bedrohung für die Elite dar. Diese mittelalterliche Ständeordnung wurde schlicht auf die amerikanischen Plantagengesellschaften übertragen, deren mittlere Ebenen von verschiedenen Formen und Graden der „Blutvermischung“ geprägt waren, wobei der unterste Stand vor allem als „schwarz“ und der höchste als „weiß“ galt. Eine ideologische Rechtfertigung für die Unterteilung der nordamerikanischen Kolonien in „weiße“ und „schwarze“ entstand erst einige Jahrhunderte später, obgleich die Spannungen bereits zunahmen, als die Gleichheitsphilosophie in der Unabhängigkeitserklärung von 1776 zu einem nationalen Wert erhoben wurde. In den 1830er-Jahren ließ sich die Idee einer Ausweitung des Konzepts gleicher Rechte auf die Afroamerikaner nicht mehr ignorieren. Bevor die Abolitionisten vehement die Anwendung des Prinzips gleicher Rechte forderten, wurden durchaus Ideen einer Gleichheitsphilosophie vertreten, die Sklaverei und rassische Diskriminierung nicht unmittelbar als Widerspruch begriffen. Wurde die Gleichheit aber direkt eingefordert, konnten die Verteidiger des Rassismus entweder die Afroamerikaner zu einer „untermenschlichen Art“ erklären oder aber das Gleichheitsideal als ein Privileg der Weißen hinstellen. Die Überzeugung, dass Afroamerikaner im Vergleich zur „Herrenrasse“ von Natur aus minderwertig seien, verbreitete sich wie ein Lauffeuer und spielte einer neuen Biologie in die Hände, die sich vor allem auf die Rolle körperlicher Merkmale konzentrierte. Auch in Europa verbreitete sich der Rassenbegriff, wie Michael Banton argumentiert, nicht nur aufgrund der überseeischen Expansion, sondern konkreter als Konsequenz lokalpolitischer Entwicklungen.15 Mit der Französischen Revolution von 1789 und den bürgerlichen Revolutionen von 1848 wurde die Macht im Namen der Gleichheit von den Monarchen auf das Volk übertragen. Doch wer war das Volk in Ländern, die bislang 15 Michael Banton 1998: Racial theories. Cambridge, 29.
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vom feudalen System strikter Ständehierarchien geprägt waren? Die Revolutionäre versuchten innere, auf Geburt basierende Standesgrenzen abzuschaffen und konstruierten äußere Grenzen zwischen Völkern und Nationen, oft beschrieben als biologische Einheiten oder „Rassen“. Zudem wurde mit der Verbreitung von Gleichheitsidealen in republikanischen Ordnungen der Ausschluss bestimmter Gruppen (Afrikaner, Juden) zunehmend schwierig, was auch hier Argumente ihrer ewigen, biologischen Minderwertigkeit auf den Plan rief. Das wohl berüchtigtste Beispiel ist wahrscheinlich Deutschland, das in den 1930er-Jahren nur noch „Arier“ als Angehörige der Nation anerkannte. Um den globalen Dimensionen des Rassismus gerecht zu werden, soll jedoch im Folgenden noch einmal China als Beispiel etwas genauer betrachtet werden. Obwohl manche der traditionellen Denkweisen in China ein fruchtbarer Nährboden für die Rezeption von Rassentheorien gewesen sein könnten, entstand ein rassisches Weltbild erst im Kontext der Reformbewegung, die vor allem nach der Niederlage gegen Japan 1894/1895 an Dynamik gewann. Führungsfiguren wie Liang Qichao (1873–1929) und Kang Youwei (1858–1927) wandten sich vom Konfuzianismus ab und suchten Aufklärung im Ausland, in der Hoffnung, den Schlüssel für Reichtum und Macht im entfernten Europa zu finden. Sie suchten in den Schriften von Charles Darwin oder Herbert Spencer nach einem Vergemeinschaftungskonzept, das alle Untertanen des Kaisers verbinden konnte. So sollte eine moderne, mächtige Nation entstehen, die ausländischen Übergriffen widerstehen konnte. Sie entdeckten den Rassenbegriff und benutzten ihn, um die Standes- und Klassengrenzen sowie die religiösen und regionalen Binnendifferenzen zu überwinden und das Land zumindest begrifflich in eine machtvolle, organische und blutsverwandte Gemeinschaft zu verwandeln. Ihr Ruf nach rassischer Einheit inmitten einer blutrünstigen Welt war ungeheuer populär, vor allem weil sie mit den traditionellen Ideen der Verwandtschaftslinien korrespondierte. So wurde auf die Kultur patrilinearer Herkunft verwiesen, um alle Einwohner Chinas zu gleichen Nachkommen des Gelben Kaisers zu erklären. Abgeleitet aus der indigenen Vorstellung dynastischer Fehden, die das späte chinesische Reich durchzogen, projizierten die Reformer ein rassisches Weltbild, in dem die „Gelben“ und „Weißen“ um die Herrschaft über die degenerierten „Braunen“, „Schwarzen“ und „Roten“ konkurrierten. „Rasse“ (zhongzu) wurde als Ausweitung der Verwandtschaftslinie (zu) verstanden, eine Art Mega-Dynastie, die alle Menschen einschloss, die den Grund und Boden des Gelben Kaisers bewohnten. Konservative Gelehrte dagegen kritisierten die Reformer für diese Verwendung von Begriffen wie „gelbe“ und „weiße“ Rasse. Für sie implizierte dieser Begriff einen Relativismus, der die Grundlagen ihres sinozentrischen Weltbildes untergrub. Auch die Reformer waren keine Revolutionäre und favorisierten eine Art konstitutionelle Monarchie mit dem Manchu-Kaiser an der Spitze. Ihr Verständnis von „Rasse“
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war breit genug, um alle Bewohner des Reiches einzuschließen. Doch ihre politischen Bemühungen kamen 1898 zu einem abrupten Ende als die Witwe des Kaisers alle ihre Dekrete aufhob und eine Reihe von Richtern, die mit den politischen Reformern sympathisierten, hinrichten ließ. Schon bald riefen noch radikalere Gelehrte zum Umsturz der Qing-Dynastie auf. Unter Verweis auf die europäischen Revolutionen von 1789 und 1848 stellten die Revolutionäre die Mandschus als ein minderwertige „Rasse“ dar, die für die desaströse Politik verantwortlich sei und so das Land an den Rand des Untergangs geführt habe. Im Gegensatz dazu betrachteten sie die Mehrheit aller Chinesen als eine homogene „HanRasse“. Während die Reformer also ein Groß-Geschlecht annahmen, das alle Bewohner des Reiches zusammenfasste, schlossen die Revolutionäre Mongolen, Mandschus, Tibeter und andere Völker aus ihrer Gemeinschaftsdefinition aus. die sich auf die „Han“ verengte – ein antiker Terminus, der einmal eine Dynastie bezeichnete, jetzt aber neu gewendet wurde. Zur Beschreibung der „Han“ benutzte man den Begriff minzu, eine Kombination aus dem Begriff Volk (min) und der Bezeichnung für die patrilineare Abstammung (zu). Der Terminus kam zum ersten Mal 1903 auf, als man den Nationalstaat politisch zu rechtfertigen versuchte. Minzu, meist übersetzt als Nation oder Nationalität, bezeichnete eine gemeinsame Abstammung, ein gemeinsames Territorium und gemeinsame Vorfahren und müsste daher eher als „Volksnation“ übersetzt werden. Als die Mandschus in der Revolution von 1911 schließlich gestürzt wurden, machte das jahrtausendealte Reich einer modernen Republik Platz. Die Rassentheorien wurden in den folgenden Jahrzehnten weiterentwickelt, indem die Nationalisten „die“ Chinesen als ein Volk mit gleichen physischen Merkmalen und einer gemeinsamen Abstammung darstellten, deren Wurzeln bis in die Antike zurückreichten. Sun Yatsen, der Gründer der herrschenden Nationalpartei konkretisiert es in seinen berühmten Werk Drei Prinzipien des Volkes folgendermaßen: „Die stärkste Macht ist gemeinsames Blut. Die Chinesen gehören zur gelben Rasse, denn sie stammen vom Blut der gelben Rasse ab. Das Blut der Vorfahren überträgt sich durch Vererbung auf die ganze Rasse, was die Blutverwandtschaft zu einer mächtigen Kraft macht.“16 Kurz: Als sich die Idee der Gleichheit durch neue Regierungsformen verbreitete, die Volk und Nation statt Grundbesitz und Klasse beschworen, übernahm der Rassendiskurs zwei sehr verschiedene, aber voneinander abhängige Funktionen: Einige Gruppen – Afroamerikaner in den USA, Afrikaner in Südafrika, Juden in Deutschland, Mandschus in China – konnten als von Geburt aus minderwertig erklärt werden, während andere trotz sozialer, kultureller oder religiöser Differenzen zu Gleichrangigen ernannt werden konnten. Das betraf nicht nur den Nationalismus, der sehr verschiedene Gruppen als 16 Sun Wen (Sun Yatsen), Sanminzhuyi 1927: The three principles. Shanghai: Shangwu yinshuguan, 4–5.
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politisch Gleiche in den Raum der Nation integrierte – in China etwa die Händler HongKongs ebenso wie die Hunanesischen Bauern – sondern ebenso größere politische Einheiten wie etwa den Panafrikanismus. Wie Anthony Apphia in seiner bahnbrechenden Studie von 1992 gezeigt hat, basierte der afrikanische Nationalismus, wie er von Alexander Crummell und vielen seiner Anhänger von Edward Blyden bis W.E.B DuBois vertreten wurde, auf der Idee der „Rasse“: Die wesentliche Gemeinsamkeit aller Afrikaner wurde hier nicht nur in ihrer gemeinsamen geographischen Herkunft und Geschichte gesehen, sondern als etwas Tieferes und Angeborenes, das die vielen Sprachund Kulturgrenzen des Kontinents transzendierte. Afrika wurde als das Land der „schwarzen Rasse“ repräsentiert, als die durch Blut, Haut und Haar bestimmte „Negritude“.17
Die Sprache der Wissenschaft Politik ist eine Schlüsselkomponente des Rassismus, insbesondere in Form der modernen Idee der Gleichheit, die entweder im Namen rassischer Integration beschworen oder im Namen rassischer Exklusion abgelehnt wird. Doch ein weiteres Kernelement des Rassismus ist die Sprache der Wissenschaft. Ob Tutsi-Historiker, afrozentrische Politiker oder chinesische Reformer, sie alle teilten die Sprache der Wissenschaft – und wie jede Sprache ist auch diese bedeutungsreich, komplex, flexibel und entwicklungsfähig. Die globale Glaubwürdigkeit des Rassendiskurses ist nur verständlich, wenn wir darauf achten, wie er sich die Wissenschaft als System organisierter Reflexion der Natur zunutze macht. Wenn die Wissenschaft in der Lage ist, Dampfschiffe zu erfinden und die Bewegung himmlischer Objekte vorauszusagen, dann, so scheint es, ist sie ebenfalls mächtig genug, die Menschheit in verschiedene biologische Gruppen zu unterteilen. Unter den Forschern, die Rasse wissenschaftlich als Trugschluss entlarven wollen, herrscht fälschlicherweise häufig die Auffassung vor, Wissenschaft bezeichne ein einheitliches und ganzheitliches Arbeitsfeld und nicht eine spezifische Art des Sprechens über die natürliche Welt. Nicht nur das Prestige der Wissenschaft half dem Rassendiskurs zum Erfolg, sondern zugleich gab es so viele sich widersprechende und inkompatible Theorien, dass sich letztlich jeder Ansatz im Namen der Wissenschaft rechtfertigen ließ. So wird oft behauptet, der Rassismus stelle soziale Gruppen als unveränderliche Einheiten dar, woraus sich ihr andauernder Ausschluss von der politischen Mitbestimmung ergebe. Empirisch ist die Sache jedoch bedeutend komplexer. In Frankreich etwa war eine weiche, weniger strikte Deutung der Vererbung bis in die 1930er-Jahre sehr viel populärer als die „harte“ Genetik, was „Rasse“ zu einer eher flexiblen als fixen Ein17 Vgl. Kwame Anthony Apphia 1992: In my father’s house. Africa in the philosophy of culture. Oxford 1992.
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heit machte, die sich verbessern ließ. Sie wurde also eher neo-lamarckistisch als neodarwinistisch gedeutet. Der Neo-Lamarckismus, der Natur und Umwelt als sich gegenseitig bedingende Faktoren sah, insofern auch erworbene Eigenschaft als vererbbar galten, repräsentierte nicht einen biologischen, sondern einen durch Umweltfaktoren bedingten Determinismus. In Frankreich lebten einige der engagiertesten Verteidiger einer neo-lamarckistischen Eugenik und auch Beispiele aus Südamerika zeigen, dass Ansätze einer Kombination von Umwelteinflüssen und Vererbung weiter verbreitet waren als lange angenommen. So waren in Brasilien, Argentinien und Mexiko, die von Nancy Stepan untersucht wurden, neo-lamarckistische Konzepte weit wichtiger als die strikten Mendelschen Vererbungsgesetze. Die Entstehung einer präventiven Eugenik, welche die Umwelt von allen schädlichen Faktoren zum Schutz der „rassische Gesundheit“ bereinigen sollte, wurde somit begünstigt.18 Zu Beginn des 20. Jahrhunderts war der Neo-Lamarckismus in den wissenschaftlichen Disziplinen und Institutionen vieler Länder weit verbreitet und teilweise verknüpft mit den Mendelschen Gesetzen und darwinistischen Theorien. Das gilt nicht nur für Russland, Brasilien, China und Frankreich, sondern auch für Teile der Welt, in denen es viele Vertreter der „harten“ Vererbungslehre gab, wie etwa die Vereinigten Staaten. Wie George Stocking gezeigt hat, existierte der Lamarckismus in der amerikanischen Sozialanthropologie auch dann noch weiter, als die Mendelschen Gesetze weitgehend akzeptiert waren.19 Eine genauere Untersuchung der Quellen auch aus nicht-westlichen Ländern würde wahrscheinlich ergeben, dass die „harte“ Eugenik, wie sie vor allem in Großbritannien und Deutschland vertreten wurde, in vielen sich entwickelnden Ländern außerhalb Europas gerade nicht der dominante Ansatz war. Die bereits genannten Reformer in China etwa eigneten sich sehr selektiv nur solche Evolutionstheorien an, die von einer „weichen“ und flexiblen Form der Vererbung ausgingen. So folgten sie lieber Herberts Spencers Konzept einer Gruppenselektion, als der Darwinschen Vorstellung einer ständigen Konkurrenz zwischen Individuen. Für Reformer wie Yan Fu, Liang Qichao und Kang Youwei wurden Evolutionsprozesse durch Prinzipien der rassischen Gruppenbildung bestimmt: Ähnlich wie jede einzelne Zelle zur Gesundheit eines Gesamtorganismus beiträgt, müssten sich die Individuen eine Rasse vereinen, um im Daseinskampf zu überleben. Neben dem individualistischen Konkurrenzverständnis lehnten die Reformer auch das Darwinsche Konzept der Evolution als einer ständigen Ausdifferenzierung ab. Viel18 Vgl. Nancy Stepan 1991: ‘The hour of eugenics’. Race, gender, and nation in Latin America. Cornell. 19 Vgl. George W. Stocking 1982: Race, culture and evolution. Essays in the history of anthropology. Chicago; Jessica Blatt 2004: ‘To bring out the best that is in their blood’. Race, reform and civilization in the Journal of Race Development. In: Ethnic and Racial Studies. 27. Heft 5, 691–709.
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mehr übernahmen sie Lamarcks Idee einer linearen Evolution, nach der sich die menschliche Entwicklung, vom Affen ausgehend, in einer geraden Abstammungslinie vollziehe. Ebenso entwickelt sich der Embryo zielgerichtet zur Reife, doch lässt sich dieser Prozess durch Veränderungen der sozialen und politischen Umwelt beeinflussen. Damit lieferte der Lamarckismus ein flexibles Bild der Evolution, das den politischen Absichten der Reformer entgegenkam, insofern sie den menschlichen Fortschritt im politischen Bereich als Instrument für die rassische Verbesserung der Art ansahen. Insgesamt konnte also eine Vielzahl unterschiedlicher politischer Positionen im Namen der Wissenschaft verteidigt werden – von strikt genetischen Annahmen unveränderlicher Rassen bis zu „sanfteren“ lamarckistischen Annahmen einer rassischen Verbesserbarkeit durch Erziehung. Obwohl Rassetheorien nach dem Zusammenbruch Nazideutschlands weitgehend geächtet wurden, verschrieben sich viele Wissenschaftler und Institutionen auch Jahrzehnte nach dem Zweiten Weltkrieg weiterhin den Prinzipien der Eugenik. Auch hier besteht der entscheidende Fehler darin, Wissenschaft als homogenes Feld mit einheitlicher Stimme zu betrachten, statt als einen vielstimmigen und sich ständig verändernden Raum von Ideen und Praktiken. In Skandinavien etwa wurde die Eugenik auch Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg noch praktiziert. Sie führte dort zu tausenden Sterilisationen. Auch in Regionen wie Finnland, im Süden der Vereinigten Staaten und in China, die fernab der Zentren wissenschaftlicher Forschung lagen, stießen Eugeniker auf wenig Widerstand von Seiten der Medizin, der Politik oder der Öffentlichkeit. Bis in den wissenschaftlichen „Mainstream“ der 1960er-Jahre hinein fand die Eugenik einzelne Unterstützer.20 Wie anfangs bereits angedeutet, ist der wissenschaftliche Rassismus auch heute noch präsent. Das Urteil von Wissenschaftlern, die noch vor wenigen Jahrzehnten „Rasse“ zu einer reinen Fiktion erklärten, könnte sich als zu optimistisch, vielleicht sogar zu naiv erweisen, denn Geschichte entwickelt sich selten geradlinig oder isoliert von politischen und ideologischen Kontexten. Wie Marek Kohn in seiner Studie zur Rückkehr der Rassenwissenschaft betont hat, werden wissenschaftliche Argumente zur Unterstützung der Rassenidee immer wieder neu erfunden und gewinnen im Horizont der neuen Genetik und Genomik sogar an Plausibilität.21 Und auch diese Rückkehr der Rassenwissenschaft hat globale Dimensionen. Noch einmal ist hier China ein gutes Beispiel. Nach Mao Zedongs Tod im Jahre 1976 hat das Idiom der Wissenschaft in einer Reihe politisch sensibler Felder die kommunistische Ideologie allmählich ersetzt. So illustriert etwa die Paläoanthropologie, wie sich in der 20 Vgl. Frank Dikötter 1998: Race culture. Recent perspectives on the history of eugenics. In: American Historical Review. 103. Heft 2, 467–478. 21 Vgl. Marek Kohn 1995: The Race Gallery. The Return of Racial Science. London: Jonathan Cape.
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wissenschaftlichen Forschung seit den 1980er-Jahren „Rasse“ und Nation in neuer Weise verschränkten.22 Bekannte Wissenschaftler haben den Peking-Menschen von Zhoukoudian zum Vorfahren der mongolischen „Rasse“ erklärt. Eine große Zahl hominider Zähne, Schädelfragmente und Affenfossilien, die seit 1949 überall in China gefunden wurden, sollten in diesem Zusammenhang als Beweis für die direkte Abstammungslinie der heutigen gelben „Rasse“ von hominiden Vorfahren in China gelten. Obgleich auch chinesische Paläoanthropologen anerkennen, dass jene Funde auf Afrika als den Geburtsort der Menschheit verweisen, fordern renommierte Forscher wie Jia Lanpo, den wahren Ursprungsort aller Menschen in Ostasien zu suchen. Wu Rukang, ebenfalls einer der bekanntesten Paläoanthropologen in China behauptet geradezu einen polygenetischen Ursprung der Menschheit mit Blick auf die geographische Verteilung der „gelben“, „schwarzen“ und „weißen Rasse“: „Die Fossilien des homo sapiens, die in China gefunden wurden, zeigten alle deutlich die charakteristischen Merkmale der gelben Rasse [...], was eine natürliche Kontinuität zwischen dieser gelben Rasse und dem heutigen chinesischen Volk nahe legt.“23 In ähnlicher Absicht werden heute regelmäßig Adern, Schädel, Haare, Augen, Nasen, Ohren, ganze Körper und sogar die Genitalien tausender Personen von Anthropometrikern vermessen, gewogen und beurteilt, um die besonderen Eigenschaften (tezheng) von Minderheiten zu bestimmen. Um nur ein Beispiel zu nennen: Zhang Zhenbiao, ein berüchtigter Anthropometriker, der in der berühmten Acta Anthropologica Sinica, Chinas Flaggschiff unter den anthropologischen Zeitschriften, publiziert, kam nach der Vermessung von 145 Tibetern zu folgendem Ergebnis: „Als Ergebnis dieser Untersuchung der besonderen Merkmale der Köpfe und Gesichter der heutigen Tibeter muss festgestellt werden, dass ihre Köpfe und Gesichter denen der anderen Nationalitäten unseres Landes grundlegend ähneln, insbesondere denen des Nordens und Nordwestens unseres Landes (einschließlich der Han und der dortigen nationalen Minderheiten). Es steht daher außer Zweifel, dass die Tibeter ebenso wie die anderen Nationalitäten unseres Landes einen gemeinsamen Ursprung haben und mit Blick auf ihre physischen Eigenschaften zum selben ostasiatischen Typus der gelben Rasse gehören [hunagzhogren de Dongya leixing].“24 Dies sind keine isolierten Bemerkungen einiger exzentrischer Wissenschaftler. Nach systematischen Untersuchungen von 779 Artikeln der Acta Anthropologica Sinica aus den Jahren zwischen 1982 und 2001 zeigte sich, dass alle Artikel mit Bezug auf menschliche 22 Vgl. Frank Dikötter 1998: Reading the body. Genetic knowledge and the social marginalisation in the PRC. In: China Information. 13. Heft 2/3, 1–13. 23 Wu Rukang 1989: Guren leixue (Paleoanthropology). Beijing: Wenwu chubanshe, 205f. 24 Zhang Zhenbiao 1985: Zangzu de tizhi tezheng (The physical characteristics of the Tibetan nationality). In: Renleixue xuebao. 4. Heft 3, 250–257.
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Vielfalt unhinterfragt den Begriff der Rasse verwendeten. In China, so die Schlussfolgerung dieser Studie, „scheint die Rasse bei den Anthropologen aller Generationen als ein natürliches Phänomen akzeptiert zu sein.“25
Fazit Ich habe in diesem Aufsatz nicht versucht, eine umfassende Geschichte der Globalisierung des Rassenbegriffs zu entwerfen. Vielmehr wollte ich zeigen, dass rassistische Glaubenssysteme eine gemeinsame Sprache der Wissenschaft teilen und eine gemeinsame politische Dynamik besitzen, die sich aus einer Philosophie der Gleichheit herleitet und im Kontext unterschiedlicher Denktraditionen und lokaler Politikstile stark variieren können. Aus meiner Sicht kann nur ein interaktiver Ansatz zeigen, wie rassistische Glaubenssysteme in spezifischen historischen Kontexten verhandelt, angeeignet und verändert werden. Er kann erklären, auf welche Weise der Rassismus eine parasitäre Beziehung zu einer Wissenschaft entwickelt, die ihrerseits in ihrer systematischen Erforschung der natürlichen Welt dennoch ein historisch kontingentes Weltbild erzeugt. Das bedeutet nicht, dass die vielen Verbindungen zwischen Wissenschaft und Rassenidee sich in den vergangenen zwei Jahrhunderten auf der Welt überall gleich entwickelt hätten. Im Gegenteil: Vielmehr haben sich beide Seiten über die Zeit enorm verändert, teilweise sogar bis zur vollkommenen Marginalisierung der biologischen Seite. Dennoch gibt es keine Form von Rassismus, die von indirekten Bezügen auf die Natur – als einem von der Wissenschaft konstruierten Untersuchungsfeld –frei wäre. Angesichts der weiterhin grundlegenden Bedeutung sowohl der modernen Wissenschaft als auch der politischen Gleichheitsansprüche, sollte uns schließlich die Globalisierung des Rassismus in der relativ kurzen Zeit seit dem späten 18. Jahrhundert kaum überraschen. In dem Maße, in dem die Standes-, Klassen- und Statusunterschiede an Relevanz verloren, wurden „rassische“ Unterschiede wichtiger. Dies gilt umso mehr je offener die Grenzen rund um den Globus wurden und die Wanderung von Menschen zunahm – ein Prozess der sich heute noch fortsetzt. Die Wahrscheinlichkeit, dass die Welt zu einer Art Farbenblindheit zurückkehrt, ist daher heute und in naher Zukunft eher gering; auch, weil viele Menschen weltweit die Menschheit insgesamt immer noch und immer wieder nach rassischen Kategorien aufteilen. Dabei fungieren „weiß“ und „schwarz“ fast überall als polare Gegensätze, von Lateinamerika bis Ostasien. Auf der 25 Qian Wang, Goran Štrkalj and Li Sun 2003: On the concept of race in Chinese biological anthropology: Alive and well (Discussion). In: Current Anthropology. 44. Heft 3, 403.
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anderen Seite muss ebenso die Tatsache berücksichtigt werden, dass der Rassismus in den vergangenen Jahrhunderten nur eine von vielen Formen war, Menschen zu klassifizieren, zu marginalisieren und zu dämonisieren. Die Feststellung, dass der Rassismus global wurde, bedeutet nicht, ihn für uniform und universal zu erklären. Hier kommt es auf den Blickwinkel an: Während der Rassismus weiterhin verbreitet ist und in manchen Teilen der Welt sogar zurückzukehren scheint, hat er bislang nie wieder solch extreme Formen angenommen wie vor dem Ende des Zweiten Weltkriegs. Aus dem Englischen von Christian Geulen
Frantz Fanon
Die Verdammten dieser Erde
Die Dritte Welt steht heute als eine kolossale Masse Europa gegenüber; ihr Ziel muss es sein, die Probleme zu lösen, die dieses Europa nicht hat lösen können [...]. Also, meine Kampfgefährten, zahlen wir Europa nicht Tribut, indem wir Staaten, Institutionen und Gesellschaften gründen, die von ihm inspiriert sind. Die Menschheit erwartet etwas anderes von uns als diese fratzenhafte und obszöne Nachahmung. Wenn wir Afrika und Lateinamerika in ein neues Europa verwandeln wollen, dann vertrauen wir die Geschicke unserer Länder lieber den Europäern an! Sie werden es besser machen als die Begabtesten unter uns. Wenn wir jedoch wollen, daß die Menschheit ein Stück vorwärts kommt, wenn wir sie auf eine andere Stufe heben wollen als die, die Europa innehat, dann müssen wir wirkliche Erfindungen und Entdeckungen machen [...]. Für Europa, für uns selbst und für die Menschheit, Genossen, müssen wir eine neue Haut schaffen, ein neues Denken entwickeln, einen neuen Menschen auf die Beine stellen. Frantz Fanon: Die Verdammten dieser Erde (1961)
Andreas Eckert
Vergangenheit, die nicht vergehen will Die schwierige europäische Erinnerung an den Kolonialismus in Afrika
Andreas Eckert ist Historiker und Afrikawissenschaftler. Er ist Professor für die Geschichte Afrikas an der Humboldt-Universität zu Berlin. Seit 2009 ist er Leiter des Internationalen Geisteswissenschaftlichen Kollegs „Arbeit und Lebenslauf in globalgeschichtlicher Perspektive“. Andreas Eckert forscht zur Geschichte Afrikas im 19. und 20. Jahrhundert, insbesondere zur Geschichte des Staates, zu Urbanisierung, Widerstand, zur Geschichte der Arbeit und des Kolonialismus.
I. In London, einst die Hauptstadt eines Imperiums, in dem die Sonne nie unterging, drückte Außenminister William Hague am 6. Juni 2013 im Abgeordnetenhaus sein Bedauern darüber aus, dass Tausende Kenianer in den 1950er-Jahren unter britischer Kolonialherrschaft während des Ausnahmezustands Opfer von Folter und anderen Misshandlungen geworden waren. Ferner verkündete er, dass die Regierung an über 5200 Kenianer Entschädigungen zahlen sowie die Kosten für die Errichtung eines Denkmals in Kenia zum Gedenken an die Opfer kolonialer Gewalt übernehmen werde. Dem vorausgegangen war die erfolgreiche Klage der Anwaltsfirma Leigh Day, die im Namen von kenianischen Opfern der kolonialen britischen Gewalt agierte, gegen die Regierung in London.1 Die seit den frühen 2000er-Jahren auch öffentlich intensiv geführte Debatte über die Mau-Mau-Rebellion im Kenia der 1950er-Jahre und deren brutale Niederschlagung durch die britischen Behörden sorgte für erhebliche Risse im sorgsam gepflegten Bild vom Ende der britischen Kolonialherrschaft in Afrika und Asien als Ausdruck 1 Vgl. The Guardian, 29.10.2014.
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liberaler Denkungsart, ja als Erfolgsgeschichte aus dem Geist angelsächsischer Freiheitsliebe.2 Die britische Kolonialverwaltung hatte seinerzeit mit massiver Härte gegen die Mau-Mau-Revolte agiert, die vor allem vom Volk der Kikuyu getragen wurde. 95 getöteten Europäern, davon 32 Zivilisten, standen über 20.000 tote Afrikaner gegenüber. Während des gut sieben Jahre dauernden Krieges wurden mehr als eintausend Afrikaner auf der Grundlage von hastig verabschiedeten Antiterrorgesetzen gehenkt, weit mehr als in jedem anderen kolonialen Konflikt, Algerien einschlossen. Rund 70.000 Einheimische saßen ohne Prozess oft für mehrere Jahre in Gefängnissen und Internierungslagern, in denen die Regierung sie rigorosen „Umerziehungsprogrammen“ unterwarf. Über 100.000 Menschen wurden „umgesiedelt“. Das koloniale Kenia war in den 1950er-Jahren ein brutaler Polizeistaat, wie David Anderson schrieb: „In ihrem Versuch, Einfluss und Autorität aufrechtzuerhalten, wurde die britische Regierung, die ein Jahrzehnt zuvor im Zweiten Weltkrieg aufrecht gegen die Tyrannei gekämpft hatte, selbst zum Tyrannen.“3 Seit den 1960er-Jahren hatte sich in Großbritannien überdies der offene Rassismus gegen Einwanderer aus den ehemaligen Kolonien verstärkt. Ein Kandidat der Konservativen etwa garnierte seine Wahlkampagne in Birmingham 1965 mit dem Slogan „If you want a nigger for a neighbour, vote Labour“. Drei Jahre später hielt der ToryAbgeordnete Enoch Powell, ebenfalls in Birmingham, seine berühmt-berüchtigte „Rivers of Blood“-Rede, in welcher er prophezeite, dass eine Flut von Immigranten zu Strömen von Blut führen würde.4 In den Boulevardblättern vermehrten sich schrille Töne über die Kriminalität Schwarzer; die Figur des „Black Briton“ mutierte zur Projektionsfläche für die Ängste einer weißen Mehrheitsgesellschaft im Angesicht beunruhigender sozialer und wirtschaftlicher Veränderungen. Neue Gesetze gaben der Polizei eine Carte blanche, „verdächtige“, in der Regel schwarze Männer auf der Straße anzuhalten und zu drangsalieren. Eine Kommission zur Zukunft eines multiethnischen Großbritannien kam im Jahr 2000 zu der Schlussfolgerung, dass der Begriff „Britishness“ rassistische Konnotationen habe und durch den Einschluss der Erfahrungen aller ethnischen Gruppen in Großbritannien neu gedacht werden könne. Dieser Vorschlag wurde vom dama-
2 Zu dieser Stilisierung vgl. etwa Gerhard Altmann 2005: Abschied vom Empire. Die innere Dekolonisation Großbritanniens. Göttingen. 3 David M. Anderson 2005: Histories of the Hanged. Britain’s Dirty War in Kenya and the End of Empire. London, Innenseite Umschlag. Vgl. auch Caroline Elkins 2005: Britain’s Gulag. The Brutal End of Empire in Kenya. London; Daniel Branch 2009: Defeating Mau Mau, Creating Kenya. Countersinsurgency, Civil War and Decolonization. New York. Während des Entschädigungsprozesses über die Opfer der britischen Gewalt in Kenia kam überdies heraus, dass zahlreiche relevante Dokumente zum Zeitpunkt der Unabhängigkeit von der Kolonialverwaltung zerstört oder nach Großbritannien geschafft wurden. Vgl. David M. Anderson 2015: Guilty Secrets. Deceit, Denial and the Discovery of Kenya’s Migrated Archive. History Workshop Journal. 80,1, 142–160. 4 Vgl. Camilla Schofield 2013: Enoch Powell and the Making of Postcolonial Britain. Cambridge.
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ligen Labour-Innenminister, Jack Straw, brüsk zurückgewiesen und auch die Presse reagierte weitgehend feindselig.5 Von London nach Paris: Dort verabschiedete die Nationalversammlung im Februar 2005 ein Gesetz, welches die angeblich „positive Rolle“ des französischen Kolonialismus in den Rang einer gesetzlich festgeschriebenen und damit gleichsam unumstößlichen historischen Wahrheit zu erheben beanspruchte.6 Im ersten Artikel hielt das Gesetz fest: „Die Nation dankt den Frauen und Männern, die an dem Werk beteiligt waren, das Frankreich in den früheren französischen Departments in Algerien, Marokko, in Tunesien und in Indochina sowie in den Territorien, die vorher unter französischer Souveränität standen, vollbracht hat.“ Als besonders umstritten sollte sich dann der vierte Artikel erweisen: „Die universitäre Forschung räumt der Geschichte der französischen Präsenz in Übersee, vor allem aber in Nordafrika, einen gebührenden Raum ein. Die Lehrpläne in den Schulen stellen vor allem die positive Rolle der französischen Präsenz auf anderen Kontinenten, insbesondere in Nordafrika, dar und räumen der Geschichte und den Opfern der Kämpfer der französischen Armee in diesen Gebieten den wichtigen Platz ein, der ihnen zusteht.“7 Dies löste zum einen nachhaltigen Protest von Historikern aus, die eine Debatte über die prinzipielle (Un-)Zulässigkeit parlamentarischer Geschichtsdeutungen anzettelten – und die damit endete, dass der umstrittene Passus am 15. Februar 2006 per Dekret und ohne erneute Debatte im Parlament wieder gestrichen wurde. Zum anderen hatte sich bereits einige Wochen vor der Verabschiedung des Gesetzes, im Januar 2005, eine bis dahin unbekannte Gruppierung mit dem provokanten Namen „Les Indigènes de la République“ zu Wort gemeldet. In einem Appell an die Öffentlichkeit kritisierten die Unterzeichner, die sich als antikoloniale Aktivisten und Nachfahren von afrikanischen Sklaven, von Kolonisierten und postkolonialen Einwanderern bezeichneten, die Kontinuität kolonialer Hierarchien und Machtasymmetrien in der Gegenwart und formulierten als dringliche Aufgabe, die „postkoloniale Republik“ Frankreich endlich zu dekolonisieren. Viele Beobachter sahen wenig später, im Herbst 2005, überdies enge Zusammenhänge zwischen den in jener Zeit aufflammenden Jugendunruhen in den französischen Vorstadtvierteln und der Fortdauer rassistischer Diskri-
5 Vgl. 2000: The Future of Multi-Ethnic Britain. The Parekh Report. London. 6 Der folgende Abschnitt basiert auf Christoph Kalter und Martin Rempe 2011: La république décolonisée. Wie die Dekolonisierung Frankreich verändert hat. Geschichte und Gesellschaft. 37,2, 157–197, hier 159–165. Vgl. ferner u.a. Pascal Blanchard und Isabelle Veyrat-Masson (Hg.) 2008: Les guerres de mémoires. La France et son histoire. Enjeux politiques, controverses historiques, stratégies médiatiques. Paris; Pascal Blanchard u.a. (Hg.) 2005: La fracture coloniale. La société française au prisme de l’héritage colonial. Paris. 7 Verschiedene Fassungen des Gesetzes finden sich unter https://www.legifrance.gouv.fr/ [19. Dezember 2017].
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minierungen.8 Achille Mbembe polemisierte noch unlängst gegen die in Frankreich weit verbreiteten Versuche, die eigene Kolonialgeschichte entweder zu verdrängen oder zu einem Akt des Humanismus umzudeuten. Frankreich verharre in einem „imperialen Winter“ und weigere sich, über die „Geschichte seiner Präsenz in der Welt und die Geschichte der Präsenz der Welt in seinem Inneren“ kritisch nachzudenken. Das Land offenbare ein „Begehren nach Provinzialismus“, verwehre sich jeglicher Art von Öffnung und verschärfe und leugne zugleich die Exklusionsmechanismen der eigenen Gesellschaft.9 Und weiter nach Berlin: Am 30. September 2011 betrat eine hochrangige Delegation aus Namibia den Hörsaal des Universitätsklinikums Charité, um 20 Schädel entgegenzunehmen. Die Körperteile waren vor dem Ersten Weltkrieg unter reichlich dubiosen Umständen in die deutsche Hauptstadt gelangt – als „Material“ für wilhelminische „Rassenforscher“, die sich die sterblichen Überreste von oft durch deutsche Hand zu Tode gekommenen Afrikanern gesichert hatten, um „rassenkundliche“ Untersuchungen durchzuführen. Die Übergabe rund hundert Jahre später endete in einem Eklat. Den afrikanischen Gesandten, darunter Namibias Minister für Kultur Kazenambo Kazenambo, ging es um mehr als nur darum, ihre Ahnen heimzuholen. Sie wünschten sich endlich ein Bekenntnis zu dem Unrecht zu hören, das die Kolonialherren den Völkern Namibias angetan hatten. Dies genau verweigerte aber die damalige Staatsministerin Cornelia Pieper vom Auswärtigen Amt in ihrer Ansprache.10 Die Episode in der Charité reiht sich ein in die späte und zähe öffentliche Auseinandersetzung über die Anerkennung des Krieges der deutschen „Schutztruppe“ gegen die Herero und Nama in der damaligen Kolonie Deutsch-Südwestafrika als Genozid. Immerhin: Seit Juli 2015 gilt nach Angaben des Auswärtigen Amtes folgender Satz als „politische Leitlinie“ für die Bundesregierung: „Der Vernichtungskrieg in Namibia von 1904 bis 1908 war ein Kriegsverbrechen und
8 Vgl. Charles Tschimanga u.a. (Hg.) 2009: French and the African Diaspora. Identity and Uprising in Contemporary France. Bloomington, Indiana; Dominic Thomas 2013: Africa and France. Postcolonial Cultures, Migration, and Racism. Bloomington, Indiana; Dominique Malaquais 2011: Imagin(IN)g Racial France. Public Culture 23,1, 157–166. 9 Achille Mbembe 2016: Ausgang aus der langen Nacht. Versuch über ein entkolonisiertes Afrika. Frankfurt a.M. 10 Vgl. Jürgen Zimmerer 2013: Kolonialismus und kollektive Identität. Erinnerungsorte der deutschen Kolonialgeschichte. In: Ders. (Hg.): Kein Platz an der Sonne. Erinnerungsorte der deutschen Kolonialgeschichte. Frankfurt a.M., 9–38, hier 17–21; Reinhart Kößler und Heiko Wegman 2011: Schädel im Schrank. Das düstere koloniale Erbe der deutschen Rasseforschung muss endlich aufgeklärt werden. DIE ZEIT, 13.10.2011; Holger Stoecker u.a. (Hg.) 2013: Sammeln, Erforschen, Zurückgeben? Menschliche Überreste aus der Kolonialzeit in akademischen und musealen Sammlungen. Berlin.
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Völkermord.“11 Dieser Satz bildete überdies die Grundlage für seither laufende deutschnamibische Verhandlungen über den Umgang mit dem Genozid.
II. Auch in anderen europäischen Ländern, die einst Kolonialmächte waren, rückt die koloniale Vergangenheit zunehmend, zuweilen freilich sehr zögerlich, in den Blickpunkt öffentlicher (und wissenschaftlicher) Debatten.12 Es sind häufig, aber keineswegs ausschließlich Nachkommen der ehemals Kolonisierten und Vertreter der Diaspora, welche das Thema der kolonialen Vergangenheit Europas auf die Agenda setzen. Dass dies in Deutschland besonders spät geschah, hing also auch mit der vergleichsweise geringen Präsenz nationaler oder kolonialer Minoritäten zusammen, die ihre Geschichten hätten einfordern können. Deutschland hat im Gegensatz zu England und Frankreich nicht die Erfahrung eines „Imperiums, das zurückschlägt“ gemacht, war nicht mit mehreren Hunderttausend Migranten aus den ehemaligen Kolonien konfrontiert, die nun in den europäischen Metropolen lebten und arbeiteten. Einwanderung ist im öffentlichen deutschen Diskurs vornehmlich mit türkischen oder anderen südeuropäischen „Gastarbeitern“ oder neuerdings mit „Flüchtlingen“ aus nichteuropäischen Ländern verbunden.13 Mitte der 1980er-Jahre unternahm eine Gruppe afrodeutscher Feministinnen zwar den Versuch, die Formation einer afrodeutschen Identität mit dem Kampf gegen Rassismus und Diskriminierung im zeitgenössischen Deutschland zu verknüpfen, blieb aber zunächst ohne weitreichende Resonanz. Gleichwohl formulierte sie ein höchst wichtiges Anliegen, das auf ein zentrales Element rassistischen Denkens zielte. Es war den Frauen daran gelegen, die Vorstellung zu überwinden, dass „schwarz“ und „deutsch“ einen unüberwindbaren Kontrast bildeten, und einen Gegendiskurs zum dominanten nationalistischen Paradigma zu etablieren, das die Erfahrungen von schwarzen Menschen ausschloss. Dieser Gegendiskurs ist zumindest in Teilen der Wissenschaft, kaum jedoch in Politik und Öffentlichkeit angekommen.14 11 Unterhttps://www.bundesregierung.de/Content/DE/Mitschrift/Pressekonferenzen/ 2015/07/2015-07-10-regpk.html [19. Dezember 2017]. 12 Für das Beispiel Portugal vgl. etwa Isabel dos Santos Lourenço und Alexander Keese 2011: Die blockierte Erinnerung. Portugals koloniales Gedächtnis und das Ausbleiben kritischer Diskurse. Geschichte und Gesellschaft. 37,2, 220–243. 13 Vgl. Karin Hunn 2005: „Nächstes Jahr kehren wir zurück …“. Die Geschichte der türkischen „Gastarbeiter“ in der Bundesrepublik. Göttingen. 14 Vgl. May Opitz u.a. (Hg.) 1986: Farbe bekennen. Afro-deutsche Frauen auf den Spuren ihrer Geschichte. Berlin; Sara Lennox 2016: Remapping Black Germany. New Perspectives on Afro-German History, Politics and Culture. Amherst.
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Der Vertrag von Versailles 1919 hatte zwar das formale Ende des kurzlebigen deutschen Kolonialreiches bedeutet, nicht jedoch das Ende deutscher kolonialer Ambitionen. Insbesondere Mediziner erfuhren den „Verlust“ des deutschen Kolonialreiches als dramatische Beschneidung ihrer Arbeits- und Experimentiermöglichkeiten. Diese Ärzte wurden ein gewichtiger Teil des kolonialrevisionistischen Syndroms der Weimarer Republik und entfachten eine Rhetorik der Verspätung, verknüpft etwa mit dem Argument, dass Deutschland in der medizinischen und allgemein wissenschaftlichen Forschung hinter die führenden Nationen zurückfallen würde.15 Insbesondere Afrika blieb in der Zwischenkriegszeit eine Projektionsfläche deutscher Expansionspläne und -fantasien.16 Der Mythos der gütigen deutschen Kolonialherrschaft wurde gepflegt und fand seinen stärksten Ausdruck in Gestalt der angeblich „treuen Askaris“, der afrikanischen Mitglieder der kolonialen Armee in Deutsch-Ostafrika.17 Afrikaner aus den ehemaligen Kolonien, die in diesen Jahren nach dem Ende des Ersten Weltkriegs in Deutschland lebten, erfuhren jedoch viel Ablehnung und Rassismus.18 Nicht zuletzt das neue Medium des Films half dabei, den Hunger des Publikums nach allem Kolonialen und „Exotischen“ zu befriedigen, und verklärte zugleich koloniale Gewaltexzesse, indem etwa Carl Peters – im gleichnamigen Film (1941) von dem extrem populären Schauspieler Hans Albers dargestellt – zu einem rational agierenden Kolonialisten gemacht wurde.19 Auch nach dem Ende der nationalsozialistischen Herrschaft und des Zweiten Weltkrieges, das endgültig deutsche Kolonialträume ad acta legte, blieb eine kritische Auseinandersetzung mit dem deutschen Kolonialismus in der Bundesrepublik zunächst aus. Die DDR hingegen erklärte sich rasch zur antiimperialen Macht und verdammte den „Neokolonialismus“ des anderen deutschen Staates. Nicht zuletzt auf der Grundlage des privilegierten Zugangs zu den in Potsdam lagernden Akten des Reichskolonialamtes entstand seit den späten 1950er-Jahren eine Reihe von sehr kolonialkritischen Studien aus der Feder von DDR-Historikern, die langsam auch in der westdeutschen Geschichtswissenschaft ein Echo fanden.20 Aufsehen erregte die vom Westdeutschen Rundfunk 1966/67 ausgestrahlte kritische Dokumentation von Ralph Giordano mit dem Titel Heia 15 Vgl. Wolfgang U. Eckart 1997: Medizin und Kolonialimperialismus. Deutschland 1884–1945. Paderborn. 16 Vgl. Dirk van Laak 2004: Imperiale Infrastruktur. Deutsche Planungen für eine Erschließung Afrikas 1880– 1960. Paderborn; Karsten Linne 2008: Deutschland jenseits des Äquators. Die NS-Planungen für Afrika. Berlin. 17 Vgl. Stefanie Michels 2013: Der Askari. In: Zimmerer 2013, 294–308. 18 Vgl. Robbie Aitken und Eva Rosenhaft 2013: Black Germany. The Making and Unmaking of a Diaspora Community, 1884–1960. Cambridge. 19 Vgl. Tobias Nagl 2009: Die Unheimliche Maschine. Rasse und Repräsentation im Weimarer Kino. München; Sandra Maß 2006: Weiße Helden, schwarze Krieger. Zur Geschichte kolonialer Männlichkeit in Deutschland 1918–1964. Köln, 242 ff. 20 Vgl. etwa Fritz Ferdinand Müller 1962: Kolonien unter der Peitsche. Eine Dokumentation. Berlin. Ein wichtiger, über engere akademische Zirkel wahrgenommener westdeutscher Beitrag zur Kolonialge-
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Safari. Die Legende von der deutschen Kolonialidylle. Zahlreiche Zuschauer wollten sich – das dokumentieren etliche Briefen – ihre Vorstellung vom „guten deutschen Kolonialismus“ jedoch nicht nehmen lassen oder beschwerten sich darüber, dass diese vermeintlich längst vergangene Vergangenheit wieder aufgewärmt würde.21 Die Studentenbewegung jener Jahre, auf die die Befreiungsbewegungen der „Dritten Welt“ eine gewisse Faszination ausübten, setzte sich zudem, wenngleich in recht begrenzter und oberflächlicher Weise, mit dem Erbe des deutschen Kolonialismus auseinander.22 Die Universitäten standen im Zentrum der kritischen Auseinandersetzung mit der deutschen Kolonialvergangenheit. Freilich waren die meisten Aktivitäten wie das Niederreißen der Denkmäler der beiden deutschen Kolonialadministratoren Hermann von Wissmann und Hans Dominik an der Universität Hamburg vor allem als Kritik an der vermeintlichen Fortsetzung „faschistischer“ Politik und Universitätsstrukturen formuliert und weniger als Beitrag zu einer fundierten Debatte über den Kolonialismus.23 Im Übrigen war in den Medien weithin ein äußerst rassistisches Bild von Afrika und Afrikanern präsent, wie etwa die Beschreibung des kongolesischen Ministerpräsidenten Patrice Lumumba von dem seinerzeit bekanntesten journalistischen „Afrika-Experten“ zeigt: „Aber ist es nun das Mephisto-Bärtchen oder die wie Billardkugeln rollenden Augäpfel hinter den Brillengläsern? Der Mann hat etwas Beängstigendes. Sein Kopf ist der eines afrikanischen Lenin“, berichtete Peter Scholl-Latour in einer Fernsehreportage über die sogenannten Kongo-Unruhen 1961.24 In den 1970er- und 1980er-Jahren stand das Thema „Kolonialismus“ eher abseits der Debatten über die deutsche Geschichte und ihre Folgen bis zur Gegenwart. In den vergangenen zwei Dekaden lässt sich ein etwas breiteres Interesse feststellen, sowohl auf der Ebene der historischen Forschung als auch auf jener der Politik und Alltagskultur, etwa im Kontext der Debatten über die Umbenennung von Straßen, die die Namen schichte: Helmut Bley 1968: Kolonialherrschaft und Sozialstruktur in Deutsch-Südwestafrika 1884–1914. Hamburg. 21 Vgl. Eckart Michels 2008: Geschichtspolitik im Fernsehen. Die WDR-Dokumentation „Heia Safari“ von 1966/67 über Deutschlands Kolonialvergangenheit. Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte. 3, 467–492. 22 Vgl. Andreas Eckert 2016: „Was geht mich eigentlich Vietnam an“? Internationale Solidarität und „Dritte Welt“ in der Bundesrepublik. In: Axel Schildt (Hg.): Von draußen. Ausländische intellektuelle Einflüsse in der Bundesrepublik bis 1990. Göttingen, 191–210. 23 Vgl. Ingo Cornils 2011: Denkmalsturz. The German Student Movement and German Colonialism. In: Michael Perraudin und Jürgen Zimmerer (Hg.): German Colonialism and National Identity. New York, 197–212. 24 Zitiert in der Fernsehdokumentation „Patrice Lumumba. Mord im Kolonialstil“. https://www. fernsehserien.de/politische-morde/folgen/2x01-mord-im-kolonialstil-patrice-lumumba-eine-afrikanische-tragoedie-792681 [19. Dezember 2017]. Auch in seinen späteren, kommerziell hocherfolgreichen Büchern sparte Scholl-Latour nicht mit rassistischen Plattitüden. Zur Fortdauer solcher Stereotype in der deutschen Afrikaberichterstattung bis in die jüngste Zeit vgl. Lutz Mükke 2009: Journalisten der Finsternis. Akteure, Strukturen und Potenziale deutscher Afrika-Berichterstattung. Köln.
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deutscher Kolonialisten wie Wissmann oder Peters tragen.25 Vor allem die Debatten und Kontroversen über den angemessenen Umgang mit den deutschen Kolonialverbrechen in Namibia verdeutlichen freilich, dass eine substanzielle Auseinandersetzung über die koloniale Vergangenheit Deutschlands gerade erst am Anfang steht.26 Die Mehrheit der Fachhistoriker ist sich einig, dass es sich bei dem Krieg der deutschen „Schutztruppen“ gegen die Herero und Nama um einen Völkermord gehandelt habe. Diese Sicht hatte sich in internationalen akademischen Zirkeln um die Jahrtausendwende weitgehend etabliert, nicht jedoch im öffentlichen und politischen Diskurs. Dies änderte sich ein wenig anlässlich des 100. Jahrestages des Genozids, als die damalige Ministerin für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung, Heidemarie Wieczorek-Zeul, im Sommer 2004 auf einer Gedenkfeier in Namibias Hauptstadt Windhuk konzedierte: „Die damaligen Gräueltaten waren das, was man heute als Völkermord bezeichnen würde – ein General von Trotha würde dafür heute vor Gericht gebracht und verurteilt.“ Freilich vermieden Vertreter der rot-grünen Regierung ansonsten weiterhin das Wort „Völkermord“. Außenminister Joschka Fischer hatte überdies proklamiert: „Eine entschädigungsrelevante Entschuldigung wird es nicht geben.“ Zwar versuchten diverse Initiativen in Namibia, aber auch Nichtregierungsorganisationen und einzelne Wissenschaftler in Deutschland das Thema fortan wiederholt auf die Agenda zu setzen, doch die folgenden Regierungskoalitionen in Berlin wollten von Reparationen und unmissverständlichen Entschuldigungen ebenfalls nichts wissen, verwiesen stattdessen etwa auf die besonders üppige Entwicklungshilfe, die Namibia zuteil würde. Neuen Schwung in die Debatte um Namibia brachten die Diskussionen über die Ermordung von etwa 1,5 Millionen Armeniern im Osmanischen Reich während des Ersten Weltkriegs. Sie kulminierten im Juni 2016 in einer Resolution des Bundestages, in der jenes Ereignis als Völkermord bezeichnet wurde. Dies provozierte den ganzen Zorn und wüste Invektiven des türkischen Ministerpräsidenten Recep Tayyip Erdoğan, der etwa darauf verwies, dass Deutschland erst einmal über den Genozid in Namibia Rechenschaft ablegen solle, bevor es sich erdreiste, die Türkei des Völkermords an den Armeniern zu beschuldigen. Bundestagspräsident Norbert Lammert musste zerknirscht eingestehen, dass das Fehlen einer „ähnlich unmissverständlichen Erklärung“ zu Namibia, wie sie von deutscher Seite nun für Armenien vorliege, „bedauerlich und im Kontext der jüngeren Auseinandersetzung auch ein bisschen peinlich“ sei. Lammert selbst hatte bereits im Sommer 2015 in 25 Vgl. Zimmerer 2013. 26 Vgl. für die folgenden Ausführungen (und Zitate) Reinhart Kößler und Henning Melber 2017: Völkermord – und was dann? Die Politik deutsch-namibischer Vergangenheitsbearbeitung. Frankfurt a.M. Der Artikel von Lammert erschien unter dem Titel „Deutsche ohne Gnade. Wer in der Bundesrepublik vom Armenier-Genozid spricht, darf vom deutschen Völkermord an den Herero und Nama nicht schweigen“. Zeit-online, 23. Juli 2015 http://www.zeit.de/2015/28/voelkermord-armenier-hereronama-norbert-lammert (21. Dezember 2017).
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einem Zeitungsartikel den deutsch-namibischen Kolonialkrieg als „Völkermord“ bezeichnet. Ende 2015 ernannte die Bundesregierung den CDU-Politiker und langjährigen Vorsitzenden des Auswärtigen Ausschusses, Ruprecht Polenz, zum Sondergesandten für die deutsch-namibischen Beziehungen; seither finden Verhandlungen über den Umgang mit dem Völkermord statt.
III. Der bisherige Verlauf der offiziellen Gespräche hat jedoch nicht die Hoffnungen eingelöst, die mit dem Schwenk im Sprachgebrauch der Bundesregierung und der Einleitung eines Verhandlungsprozesses geweckt worden waren. Vertreter der Herero und Nama haben inzwischen den Weg der Klage vor einem New Yorker Gericht beschritten, um Reparationen zu erstreiten.27 Offenbar war die namibische Delegation sehr verärgert über die paternalistische Haltung der deutschen Verhandlungsvertreter, die von Anfang klar stellten, dass sie zwar keine Entschädigungen zahlen, aber möglichst vor den Bundestagswahlen eine offizielle Versöhnung erreichen wollten. Insgesamt bleibt der Befund, dass wir es weiterhin mit einer Amnesie der deutschen Kolonialgeschichte zu tun haben, trotz einiger positiver Veränderungen, etwa das große Interesse an der vom Deutschen Historischen Museum in Berlin 2016 eingerichteten Ausstellung über den deutschen Kolonialismus.28 Gleichwohl leuchtet der Öffentlichkeit die Beschäftigung mit dem Kolonialismus und seinem Erbe oft gar nicht ein. Am Thema Interessierte müssen gewissermaßen in Vorleistung gehen, was Recherchen und Beweisführung angeht. Mit der Ignorierung oder Verklärung der kolonialen Vergangenheit einher geht die ungebrochene Fortführung kolonialer Bilderwelten und rassistischer Stereotype etwa in Werbung und medialer Berichterstattung. Der Hamburger Historiker Jürgen Zimmerer hat darauf hingewiesen, dass die Berichterstattung über die sexuellen Übergriffe in der Kölner Silvesternacht 2015/16 in einer Tradition von Darstellungen über die „Schwarze Schmach am Rhein“ in den 1920er-Jahren stand. Damals hatte die französische Regierung in Paris ihre Kolonialtruppen zur Besetzung des Rheinlandes und Erzwingung von Reparationszahlungen mobilisiert – ein gezieltes Kalkül, um die Deutschen zu demütigen. Die Weimarer Republik reagierte mit einer extrem rassistischen Kampagne, um die Soldaten aus Westafrika und dem Maghreb zu denunzieren. Darstellungen von der 27 Die deutschen Medien berichteten regelmäßig über die schleppenden Verhandlungen und die Klage der Herero und Nama. Vgl. etwa http://www.deutschlandfunk.de/voelkermord-an-herero-undnama-viel-druck-im-kessel-bei.1773.de.html? dram:article_id=397153 [21. Dezember 2017]. 28 Deutsches Historisches Museum (Hg.) 2016: Deutscher Kolonialismus. Fragmente seiner Geschichte und Gegenwart. Stuttgart.
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Andreas Eckert
Schändung des weißen Frauenkörpers durch Schwarze dominierten die Berichterstattung. Das Echo dieses „Schlüsselereignis[es] des deutschen Rassismus“, so Zimmerer, sei noch nach der Silvesternacht in Köln zu hören gewesen.29 Europäische Nationen grenzen sich in ihrer Erinnerung an den Kolonialismus zwar voneinander ab, entwickeln gegenüber der nichteuropäischen Welt jedoch eine gemeinsame Identität. Prozesse der Globalisierung haben eine wichtige Rolle dabei gespielt, die verdrängte Erinnerung an die Kolonialzeit in Europa zu aktivieren; zugleich haben sie neue Abgrenzungen und Konfliktlinien gezogen und Tendenzen des Vergessens bestärkt. Doch Kontroversen über die Geschichte von Kolonialismus und Rassismus und ihre Folgen bis heute lassen sich nicht aussitzen. Nicht zuletzt die aktuellen Diskussionen über das gegenwärtig entstehende Humboldt Forum in Berlin zeigen: Weltweit vertreten viele Menschen die Auffassung, dass die mit dem Kolonialismus verbundenen Ideologien und Praktiken immer noch relevant sind und Gegenstand kritischer Auseinandersetzung sein müssen.
29 „Wer sich an den Kolonialismus erinnerte, hat ihn verklärt“. Interview mit Jürgen Zimmerer. Zeitonline, 14.7.2016. http://www.zeit.de/wissen/geschichte/2016-07/voelkermord-herero-deutschlandkolonialismus-namibia [19. Dezember 2017]. Zum historischen Hintergrund vgl. Iris Wigger 2006: Die „Schwarze Schmach am Rhein“. Rassistische Diskriminierung zwischen Geschlecht, Klasse, Nation und Rasse. Münster.
RELIGION, KULTUR UND GESELLSCHAFT
Haltung statt Herkunft Wie wir heute zusammen leben
Ein Interview mit Naika Foroutan
Naika Foroutan ist Politik- und Sozialwissenschaftlerin. Sie ist Professorin für „Integrationsforschung und Gesellschaftspolitik“ und stellvertretende Direktorin des Berliner Instituts für empirische Integrations- und Migrationsforschung (BIM) an der Humboldt-Universität zu Berlin. In ihren Forschungen befasst sie sich mit gesellschaftlichen Transformationsprozessen, die infolge von Migration stattfinden sowie mit Fragen der Integration und Identitätsbildung.
Liebe Frau Foroutan, Sie beschreiben unsere gegenwärtige, durch Migration geprägte Gesellschaft als „postmigrantisch“. Was bedeutet das? In dem Begriff steckt terminologisch eine gewisse Irritation, da er unterstellt, dass Migrationsvorgänge beendet sind und nun nach dem Danach gefragt wird. Es ist allerdings vielmehr so, dass in dem Präfix „post“ eine Kontinuität steckt, ähnlich wie bei den Begriffen postkolonial, postnational oder postmodern auch. Es ist ja nicht so, dass Moderne, Nation oder Kolonialismus plötzlich verschwinden und dann eine ganz neue Zeit anbricht, sondern Nachwirkungen eines gesellschaftlichen Zusammenhanges im Jetzt und Heute feststellbar sind. In diesem Sinne befragt das Postmigrantische jene Nachwirkungen von Migrationserleben auf die Gesellschaft, auf die migrantischen und nichtmigrantischen Akteure und auf die Politik. Es ist also ein Wort, das auf Kontinuitäten verweist und gleichzeitig neue Beziehungszusammenhänge herstellt. Migration ist selbstverständlich etwas, das es schon immer gegeben hat. Jeder Historiker wird Ihnen herleiten können, dass Deutschland schon immer eine Migrationsgesellschaft war. Meine Mutter kommt beispielsweise aus Boppard in Rheinland-Pfalz - ein Ort, der von den Römern erbaut wurde und früher Baudobriga hieß. Auch in der Region um Koblenz und Köln ist alles davon geprägt, dass es einmal römisch war. Bis zum Limes wirkt in Deutschland der Einfluss dieser Migrationsbewegungen sehr stark nach. Natürlich ist das Bewusstsein dafür mit der Zeit verloren gegangen, weil diese
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Ein Interview mit Naika Foroutan
Migration als Teil der Geschichte verwoben wurde und sich die Menschen in dieser Region als immer schon Dagewesene begreifen. Unabhängig davon verweist der Begriff „postmigrantisch“ aber natürlich auf eine gesellschaftliche Zäsur. So befasse ich mich unter anderem damit, welche Veränderungen sich in einem Staat vollziehen, sobald er sich politisch als Einwanderungsland bezeichnet. In Deutschland hat die Süssmuth-Kommission 2001 beispielsweise erstmalig in Gesetzestexten formuliert, dass Deutschland als Einwanderungsland zu bezeichnen ist. Durch diese politische Setzung kam es zu einer Zäsur, die ein neues Narrativ erzeugte und gleichzeitig eine Reihe von Gesetzesänderungen ins Rollen brachte. So haben wir in der Folge das Zuwanderungsgesetz bekommen, die Anerkennung ausländischer Abschlüsse und die doppelte Staatsangehörigkeit wurden beschlossen, außerdem wurde das allgemeine Gleichbehandlungsgesetz eingeführt. Ist dies lediglich als politische Setzung zu verstehen, oder lässt sich diese Zäsur auch am Selbstverständnis der Menschen mit und ohne Migrationshintergrund an verschiedenen Selbstund Fremdwahrnehmungen festmachen? Ab dem Moment der politischen Anerkennung wird formal das Signal vermittelt, dass Rechte von eingewanderten Menschen den Rechten von Einheimischen ebenbürtig sind. Theoretisch scheint dies natürlich vorher schon ausgehandelt: Es gibt selbstverständlich den Grundsatz der Gleichheit vor dem Gesetz für alle Menschen, der aber natürlich nicht auf allen gesellschaftlichen Ebenen auch so umgesetzt wird. Mit der politischen Setzung des Einwanderungsbekenntnisses aber kann sich der Bürger mit Migrationshintergrund auf dieses Bekenntnis berufen und es einklagen. So lässt sich beispielsweise die Anerkennung eines ausländischen Abschlusses rechtlich einfordern. Damit ist zwar immer noch nicht sicher, dass man im Rahmen eines Bewerbungsverfahrens gleichwertig behandelt wird, dennoch erzeugt die Möglichkeit, politisch dagegen anzugehen, eine über das Symbolische hinausgehende Anerkennung. Es folgen also massive Aushandlungsprozesse und ein Kampf um die Einhaltung und Ausweitung des Rechts. Jegliche Form nachgewiesener illegitimer Diskriminierung erscheint ab diesem Zeitpunkt auch als solche. Das Recht auf Gleichheit und Partizipation einzufordern führt auch dazu, Repräsentationslücken zu benennen: Wenn also 22,5 Prozent der Menschen in diesem Land eine Migrationsbiografie haben, aber nur sechs Prozent der Abgeordneten im Bundestag, dann gibt es effektiv eine ungleiche Repräsentation dieses Bevölkerungsteils. Analog dazu kann man auch die Frauenfrage betrachten. Es gibt zwar 50 Prozent Frauen in diesem Land aber nur sieben Prozent in den Vorständen der Dax-Unternehmen. Diese Repräsentationslücken werden als ungerecht und ungleich erkannt und das Auffüllen dieser Lücken eingefordert. Dies führt zu Verteilungsdruck
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und Aushandlungen in der Gesellschaft, was wiederum Spannungen erzeugt. Es benötigt einige Zeit, bis sich ein normatives Bekenntnis effektiv in die gesellschaftliche Realität hinein vermittelt. Ist die postmigrantische Gesellschaft zugleich auch eine postnationale Gesellschaft oder setzt sie einen Staat voraus, in dem sie verhandelt wird? Ja, die Verhandlungen finden noch im nationalen Zwischenraum statt. Für migrantische Akteure stellt sich in diesem Zusammenhang immer die Frage, wann sie zum sogenannten „Staatsvolk“ gehören. Die Nation konstruiert sich ja aus der Idee eines Staatsterritoriums, Staatsvolkes und Staatsrechtes. Im Grunde wird von den Akteuren dieser Dreiklang ausgehandelt, um die Zugehörigkeit zum nationalen Kollektiv zu erlangen. Von daher sind diese Überlegungen durchaus noch national eingebettet, denn die Rechte, die eingefordert werden, werden in einem nationalen Rahmen ausgehandelt. Wie muss man sich die Aushandlungsprozesse um Zugehörigkeit und Ausschluss vorstellen? In vielen Ländern verlaufen Prozesse ganz ähnlich und lassen sich in die fünf Schritte Anerkennung, Aushandlung, Ambivalenz, Allianzen und Antagonismen unterteilen. Nach dem politischen Bekenntnis treten migrantische Akteure nun als legitimes politisches Subjekt auf und gelangen in Aushandlungsprozesse mit dem Staat als auch mit der Gesellschaft, welche sie lange Zeit nicht als Teil der kollektiven Einheit begriffen hat. So hat in der deutschen Geschichte bereits die erste Generation von Migranten – ich beziehe mich jetzt auf die Arbeitsmigranten, die sogenannten Gastarbeiter, der neueren Migrationsgeschichte ab 1955 - für die politische und juristische Einhaltung der eigenen Rechte gekämpft, auch wenn diese Generation noch viel stärker mit ihren Herkunftsländern verbunden war. Die zweite und dritte Generation verfügt heute über ein größeres Selbstbewusstsein und will sich nicht mehr hinten anstellen, da sie sich längst als heimisch und zugehörig begreift. Die Aushandlungen kreisen dementsprechend nicht nur um die Anerkennung politischer und juristischer Rechte, sondern auch um solche mit symbolischem und affektivem Wert: Diese Auseinandersetzungen betreffen beispielsweise die Infragestellung von nationaler Zugehörigkeit, also Deutschsein, Privilegien, die Besetzung von Positionen als Sprecher oder Sprecherin oder Aufstiege in Vertrauens- oder Entscheiderberufe. Das darauffolgende Moment der Ambivalenz ist derzeit gut anhand der aktuellen gesellschaftlichen Lage zu beobachten: Je mehr die Sichtbarkeit von Personen mit Migrationshintergrund in der Öffentlichkeit zunimmt und diese in Politik oder in hochrangigen Ämtern und Berufszweigen wichtige Positionen besetzen, desto schärfer wird der
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Anti-Integrationsdiskurs geführt. Diese Ambivalenz ist es, die den eigentlichen Kern der postmigrantischen Gesellschaft ausmacht und um den sich die Anerkennungs- und Aushandlungsprozesse drehen. Was genau verstehen Sie unter dem Anti-Integrationsdiskurs? Die Stimmen, die anzweifeln, dass Integration funktioniert, werden immer lauter, je besser sie funktioniert. Seitdem die Aufstiege der migrantischen Personengruppen messbar werden, diskutieren wir so viel über Integration wie noch nie. Das ist übrigens gut an der Kopftuch-Debatte abzulesen: Seit spätestens 1963 sind größere Zahlen von Frauen mit Kopftuch in Deutschland beheimatet. Zu einem großen Thema wurde das Kopftuch aber erst, als eine Lehrerin 2003 rechtlich einforderte, es im Unterricht tragen zu dürfen. Vorher war das Kopftuch auch da, aber als Kopftuch von Personen, die nie oder kaum mit anderen in aufstiegsrelevante Konkurrenzverhältnisse hätten treten können. Die Teilhabekämpfe verschärfen sich natürlich, wenn ein unterschichteter Bevölkerungsteil nun plötzlich in eine Aufstiegsmobilität gerät. Dann setzt sich plötzlich eine Dynamik in Gang, die zur Infragestellung des eigenen Gruppenstatus führt. Solange wir die Fragen der ökonomischen Verteilung als Kosten- und Nutzen-Spiel begreifen, generieren die Aufstiege der einen die Verdrängung der anderen aus ihren Positionen. Das sind im Übrigen Gedanken, die viel zu selten mit bedacht werden bei Fragen der sozialen Mobilität von Migrantinnen und Migranten. Sie werden stattdessen konstant als soziale Absteiger imaginiert. In welchen gesellschaftlichen Arenen finden diese Aushandlungsprozesse statt? Die Kämpfe werden sicher nicht nur im Rahmen politischer Programme, sondern alltäglich ausgefochten. Richtig, derzeit erleben wir ja auch eine Menge Friktionen in der Gesellschaft. Diese Prozesse sind deshalb so ambivalent, weil sie eben nach dem Top-Down-Prinzip funktionieren. So wird beispielsweise das Bekenntnis zur Einwanderungsgesellschaft grundsätzlich nicht mehr in Frage gestellt, aber es gibt natürlich diskursiv durchaus Stimmen in der Gesellschaft, die beispielsweise eine Rückführungsquote von Ausländern einfordern. Das heißt, es gibt eine Form kognitiver Akzeptanz bei gleichzeitiger emotionaler Distanz, wodurch permanent eine gewisse Spannung erzeugt wird. Das erklärt auch die große Verunsicherung bei vielen Menschen, welche die Tragweite des Bekenntnisses zur pluralen Einwanderungsgesellschaft noch nicht erfasst haben. Davon abgesehen wirkt es ja oft so, als seien diese politischen und rechtlichen Neuerungen ganz automatisch in Gang gesetzt worden, nur weil plötzlich viel mehr Migrantinnen und Migranten in Deutschland leben. Man muss jedoch immer wieder darauf
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hinweisen, dass erst ihre jahrzehntelangen Kämpfe gesellschaftliche Akzeptanz und juristische Gleichbehandlung erwirkt haben und nicht ihr reines Hiersein oder die empirische Dichte. Sollten aus der Perspektive der postmigrantischen Gesellschaft fest in der Verfassung verankerte Grundrechte auch zur Debatte stehen und neu verhandelt werden? Nein, die Verfassung steht da nicht zur Disposition. Artikel drei des Grundgesetzes ist bereits ein klares Bekenntnis zu Vielfalt, Gleichberechtigung und Pluralität. Die Herausforderung liegt darin, dieses normative Bekenntnis in gelebte Realität umzusetzen. Dafür braucht es positive Maßnahmen. Zur Verdeutlichung: Artikel drei beinhaltet die Gleichheit von Mann und Frau vor dem Gesetz. Das war normativ, als Grundrecht verankert. Dennoch mussten bis 1977 Frauen ihre Männer um Erlaubnis fragen, wenn sie arbeiten wollten. Ein in der Verfassung angelegtes Recht hat also nicht automatisch Konsequenzen für die gelebte Alltagspraxis. Erst das Bewusstsein, dass hier eine Ungleichheit vorliegt und der Kampf um deren Behebung setzen einen gesellschaftlichen Aushandlungsprozess in Gang, der dann wiederum zu Gesetzesänderungen oder -ergänzungen führen kann. Ich würde daher sagen, dass das normative Bekenntnis zu den Grundsätzen der pluralen Einwanderungsgesellschaft Irritationen erzeugt, weil diese politische Setzung erst den Beginn der Aushandlungen darstellt. Man weiß also nicht, welche immensen Folgen dieses Bekenntnis nach sich ziehen kann und was aus diesen Rechten folgt. Die plurale Demokratie kennzeichnet ja eine ganze Reihe von Grundrechtsartikeln von der Religionsfreiheit, Versammlungsfreiheit bis zur freien Meinungsäußerung oder die Diskriminierung und Bevorzugung aufgrund bestimmter Eigenschaften. Gleichzeitig merken wir jedoch, dass dadurch neue Probleme entstehen, weil etablierte Werte infrage gestellt werden – wie z.B. die in den 70iger Jahren geltende Überzeugung, dass Frauen ihre Männer zu fragen haben, wenn sie arbeiten gehen wollen. Auch ausgehandelte Werte geraten immer wieder in eine neue Aushandlungsschleife. Das heißt aber nicht, dass dafür die Verfassung abgeschafft wird. Sie wird nur auf Basis ihrer Versprechen ausgefüllt. Apropos Wertedebatte: Braucht die postmigrantische Gesellschaft eine Leitkultur? Wertedebatten anzuregen, finde ich grundsätzlich sehr plausibel. Gemeinsam mit dem Rat für Migration haben Kollegen und ich vor eineinhalb Jahren eine LeitbildDebatte gefordert, um über die Zukunft des Landes zu diskutieren und die FriedrichEbert-Stiftung hat dann unter der Leitung der Integrationsbeauftragten des Bundes eine Leitbildkommission eingerichtet. Das empfinden wir als konstruktiver als eine Leitkul-
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tur-Debatte, die hierzulande ständig danach fragt, woher wir stammen und welche Vergangenheit uns zu dem gemacht hat, was wir sind. Ich halte es für sinnvoller, ein aspiratives Leitbild mit einer Zielorientierung zu entwerfen. So ist in den USA das Selbstbild als „land of freedom“ ein treibendes Narrativ, auch Frankreich ist eng mit dem Leitspruch „Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit“ verknüpft. Auch wenn dies in beiden Ländern selbstverständlich keine empirische Realität ist, erfolgt die Verbundenheit der Menschen mit der kulturellen Identität dort sehr viel stärker über diese Ideale als über Ahnenschaft. Dabei wird Deutschland angesichts des Wandels, den es vor allem in den vergangenen beiden Jahren durch die Aufnahme der Geflüchteten im Außenbild vollzogen hat, gemeinsam mit Kanada an der Spitze einer Modernisierungsbewegung begriffen. Ich bin regelmäßig im Ausland unterwegs und dort wird mir häufig gesagt, dass die einzigen beiden Länder, die heute noch als moralischer Kompass funktionieren könnten, Deutschland und Kanada sind. Wer hätte gedacht, dass Deutschland mit seinem starken Bekenntnis zur Identität der Täterschaft, das oft genug in den vergangenen Jahren im Zuge schwammiger Patriotismus-Debatten kritisiert wurde, die Rolle eines Demokratieankers in der Flüchtlingsfrage annehmen würde – im Vergleich zu anderen EU-Nationen? Dieser Wandel ist symbolisch das erste Mal im Jahre 2006 zu spüren gewesen, als sich Deutschland im Zuge der Fußball-WM 2006 mit dem Motto „Die Welt zu Gast bei Freunden“ präsentiert hat. Die Sarrazin-Debatte hat zwar einen Backlash ausgelöst, allerdings wurde dieser Diskurs viel stärker in Deutschland als im Ausland geführt. Das zeigt, dass das Bekenntnis zur offenen Gesellschaft eben nicht nur von der Politik, sondern von breiten Teilen der Zivilbevölkerung getragen wird - auch in Auseinandersetzung mit Bewegungen und Parteien wie Pegida oder der AfD. In der öffentlichen Debatte scheint es immer so, als hätten diese rechten Strömungen die Definitionsmacht im Diskurs. Faktisch gibt es aber in der Zivilgesellschaft, auch in Dresden, sehr viele heterogene Bewegungen von protestantischen Bildungsbürgern, atheistischen Linken bis zu migrantischen Selbsthilfeorganisationen, die sich während der Flüchtlingskrise immens mit verschiedensten Hilfsangeboten gemeinsam engagiert haben und nicht nur als passive Akteure verängstigt auf Pegida gestarrt haben. Sie haben sich selbst Handlungsmacht gegeben und müssten viel stärker beachtet werden. Auch das sind postmigrantische Akteure – die eine Gesellschaft nicht mehr in „Wir“ und „Die“ einteilen, „Wir Deutsche“ und „die Migranten“. Sie schauen schon längst über diese Trennlinie hinaus. Das ist mit postmgirantischer Perspektive gemeint: der Blick geht über das Migrantische hinaus. Die ganze Gesellschaft wird in den Blick genommen, die Gesellschaft in der man leben möchte und die als plurale Demokratie benannt wird oder etwas vereinfachter als „Deutschland ist bunt“.
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Hieran lässt sich auch erkennen, dass sich neue Allianzen durch verschiedene gesellschaftliche Schichten hinweg um die Aushandlung dieser pluralen Demokratie ausbilden. Es wirkt ja oft so, als stelle sich eine kleine abgehobene, kosmopolitische Elite gegen das Volk. Dabei versammeln sich unter den Pro-Pluralisten enorm viele, die wenig privilegiert sind. Ältere Menschen, Lehrerinnen, Kirchenanhänger oder Vereinsmitglieder. Das sind keine Jetsetter, sondern hart arbeitende Menschen, die eine bestimmte Perspektive auf dieses Land teilen – eine von Gleichheit und Gleichberechtigung. Unter den Gegnern, so auch bei der AfD, häufen sich hingegen gesellschaftlich etablierte Personen wie Selbstständige, Angestellte oder Professoren, deren Einkommen weit über dem deutschen Durchschnitt liegt. Interessanterweise mischen sich in diese rechtsnationalen Gruppierungen aber auch Migranten der ersten Generation. Genau diese Auflösung der traditionellen Verortung in Camps von links und rechts, Alt und Jung, Stadt und Land, migrantisch und nichtmigrantisch kennzeichnet die postmigrantischesche Gesellschaft und macht sie so ambivalent, so herausfordernd. Trifft dieser Zerfall angestammter Gruppenzugehörigkeiten auch auf Personen mit Migrationshintergrund zu? Durchaus, die fallen auch in Pro- und Anti-Pluralität auseinander. Im Camp von Pegida lässt sich eigentlich auch die Fraktion der Salafisten verorten, da diese Gruppe ebenfalls mit vereinfachten Antworten auf schwierige gesellschaftliche Fragen aufwartet und sich gegen Dinge wie Geschlechtergerechtigkeit und andere Formen von Pluralität und Mehrdeutigkeit richtet. Interessant ist ja beispielsweise auch, dass der Deutsch-Türke Akif Pirinçci ein Sprecher innerhalb der zuwanderungsfeindlichen Pegida-Bewegung ist. Wir müssen uns also damit auseinandersetzen, dass wir gesellschaftliche Trennlinien und vertraute homogenisierende Kategorien revidieren müssen, was natürlich permanent Spannungen und Selbstirritationen erzeugt. Früher wurden die Kämpfe der ersten Migrationsgeneration eher in homogenen Migrantenorganisationen wie den spanischen Elternvereinen, russischen Landsmannschaften oder der Türkischen Gemeinde ausgefochten. In der postmigrantischen Konstellation werden nun neue Organisationen gegründet, in denen sich die Allianzen verschieben. Aber auch die alten Verbände öffnen sich zusehends, weil man Kämpfe gemeinsam austragen will. Man streitet also mehr denn je gleichberechtigt Hand in Hand für ein gemeinsames Deutschland, ohne dass sich die eine Gruppe paternalistisch vor die andere stellen muss und sagt: „Ich helf ‘ dir jetzt!“
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Welche Form von Rassismus kennzeichnet die postmigrantische Gesellschaft? Wenn wir von einem machtverwobenen Rassismus-Konzept ausgehen, dann gibt es klassischerweise nur einen Hegemon, der rassistisch gegen andere agieren kann. Setzen wir jedoch ein Rassismus-Konzept voraus, das die Pluralitätsabwehr zum Ausgangspunkt hat, dann lassen sich die etablierten Rassismen einzelner Gruppen untersuchen und beurteilen. Aus dieser Perspektive ist der Antisemitismus bei Muslimen eine ähnlich rassistische Vorstellung wie der anti-muslimische Rassismus bei rechtspopulistischen Parteien, da sich beide gegen alles richten, was ihre Homogenitätsvorstellungen bedroht. Zu diesem Anti-Pluralismus gehören auch die Ablehnung Europas und der Eliten sowie der antimuslimische Rassismus als ein Kerntreiber, der die vermeintlich verlorengegangene Homogenität beschreibt. Diese Sehnsucht nach Homogenität bezieht sich in Deutschland vor allem auf die Reinheit der Nation. Daher denke ich, dass die Rassismen der postmigrantischen Gesellschaft diverse Vorstellungen von Reinheit zum Inhalt haben: die Reinheit des Geschlechts, der Nation, der Kultur. Diese Reinheitsideologie ist natürlich je nach Gruppierung anders konnotiert: So finden wir beispielsweise in salafistischen Milieus die Vorstellung der Bereinigung von allem, was die Religion amivalent und plural macht. Daher projizieren sie die Bedrohung vor allem auf jene Muslime, die aus ihrer Sicht zu offen und zu plural leben. Auf diese Weise versuchen sie eine Meinungshoheit über die gesamte Gruppe der Muslime zu erlangen, ähnlich wie Pegida auch die Debatte über das richtige Deutschland für sich zu monopolisieren versucht. Befördert der Zuzug von Geflüchteten seit 2015 die Akzeptanz von Diversität in der postmigrantischen Gesellschaft auf lange Sicht? Es scheint ja im gesellschaftlichen wie im theoretischen Diskurs seit der sogenannten „Flüchtlingskrise“ einen Rückschlag in alte Stereotype in Bezug auf Diversität und Migration zu geben. Es stimmt, dass wir bereits einmal ein Stück weiter waren. Allerdings funktioniert Gesellschaft immer in einer Konfliktdynamik und kann sich nur konfliktiv weiterentwickeln. Jeder Konflikt stellt den aktuellen Status quo einer Gesellschaft infrage und wird in einem argumentativen Setting von Pro und Kontra neu ausgehandelt. So entstehen erst neue Ideen und Impulse. Wir befinden uns im Moment in einer praktischen Aushandlungsphase, die sehr widersprüchlich in vielen gesellschaftlichen Gruppen und im unmittelbaren Miteinander geführt wird.
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Sie haben bereits ein neues gesellschaftliches Leitbild angesprochen. Wie werden wir aus Ihrer Sicht künftig in der postmigrantischen Gesellschaft zusammenleben? Wenn wir verstanden haben, dass die Verteilungskämpfe in der postmigrantischen Gesellschaft nicht nur zwischen Migranten oder Einheimischen ausgetragen werden, sondern vor allem entlang der Kategorien von „Rasse“, Geschlecht und Klasse, dann können wir deutlicher vermitteln wogegen oder wofür es sich lohnt, zu kämpfen und könnten uns vielleicht breiter gesellschaftlich für ein von Solidarität, Gleichwertigkeit und Demokratie getragenes Leitbild öffnen. Ich glaube, dass wir langfristig einen Integrationsvertrag brauchen, der alle Personen und Gruppen in dieser Gesellschaft adressiert. Wer abgehängt ist vom nationalen Narrativ, vom Arbeitsmarkt oder vom Bildungssektor, der braucht Integrationsangebote. Sehr bezeichnend fand ich dahingehend eine Anekdote der sächsischen Integrationsministerin Petra Köpping, die bei Vorträgen über Migration und Flüchtlinge immer wieder von Männern aus der Region den Satz zu hören bekam: „Integriert doch erst einmal uns!“ Das sehe ich als klares Zeichen, dass Integration als gesamtgesellschaftliches Werkzeug und Ideal gleichermaßen ausgeweitet werden sollte, um den Blick auf all diejenigen zu richten, die sich nicht mitgenommen fühlen. Liebe Frau Foroutan, vielen Dank für das Gespräch.
Die Fragen stellte Susanne Illmer im Juni 2017.
Étienne Balibar
Der neue Rassismus
Der neue Rassismus ist ein Rassismus der Epoche der Entkolonialisierung, in der sich die Bewegungsrichtung der Bevölkerung zwischen den alten Kolonien und den alten „Mutterländern“ umkehrt und sich zugleich die Aufspaltung der Menschheit innerhalb eines einzigen politischen Raumes vollzieht. Ideologisch gehört der gegenwärtige Rassismus, der sich bei uns um den Komplex der Immigration herum ausgebildet hat, in den Zusammenhang eines „Rassismus ohne Rassen“ [...], eines Rassismus, dessen vorherrschendes Thema nicht mehr die biologische Vererbung, sondern die Unaufhebbarkeit der kulturellen Differenzen ist; eines Rassismus, der [...] nicht mehr die Überlegenheit bestimmter Gruppen oder Völker über andere postuliert, sondern sich darauf „beschränkt“, die Schädlichkeit jeder Grenzverwischung und die Unvereinbarkeit der Lebensweisen und Traditionen zu behaupten. [...] Diese Art von Rassismus ist zu Recht als ein differentialistischer Rassismus bezeichnet worden. [...] Tatsächlich vollzieht sich eine ganz allgemeine Verlagerung der Problematik. Von der Theorie der Rassen bzw. des Kampfes der Rassen in der Menschheitsgeschichte – ganz gleich, ob diese auf biologische oder psychologische Grundlagen zurückgeführt wurden – wird der Übergang zu einer Theorie der „ethnischen Beziehungen“ (oder auch der „race relations“) innerhalb der Gesellschaft vollzogen, die nicht die rassische Zugehörigkeit, sondern das rassistische Verhalten zu einem natürlichen Faktor erklärt. Der differentialistische Rassismus ist also, logisch betrachtet, ein Meta-Rassismus, bzw. ein Rassismus, den wir als Rassismus zweiter Linie kennzeichnen können, d.h. ein Rassismus, der vorgibt, aus dem Konflikt zwischen Rassismus und Antirassismus seine Lehren gezogen zu haben, und sich selbst als eine politisch eingriffsfähige Theorie der Ursachen von gesellschaftlicher Aggressivität darstellt. Étienne Balibar: Gibt es einen Neo-Rassismus? (1988)
Yasemin Shooman
Den Feind adressieren Antimuslimischer Rassismus im Spiegel von Zuschriften an muslimische Verbände
Yasemin Shooman ist Historikerin und wurde 2013 mit einer Dissertation zu islamfeindlichen Diskursen in Deutschland am Zentrum für Antisemitismusforschung der Technischen Universität Berlin promoviert. Seit 2013 leitet sie das Akademieprogramm des Jüdischen Museums Berlin und verantwortet dabei die Programme Migration und Diversität sowie das Jüdisch-Islamische Forum. Darüber hinaus ist sie Mitglied des Rats für Migration.
Die Protestwelle der „Patriotischen Europäer gegen die Islamisierung des Abendlandes“ (PEGIDA) und die Wahlerfolge der mit aggressiver Anti-Islam-Rhetorik agierenden rechtspopulistischen Partei Alternative für Deutschland (AfD) zeigen, dass in den vergangenen Jahren auch in Deutschland Strömungen, die weit verbreitete antimuslimische Ressentiments zu Mobilisierungszwecken nutzen, an politischem Gewicht gewonnen haben.1 Die Argumentationsmuster der Organisationen und ihrer Unterstützer*innen sind dabei symptomatisch für einen gesellschaftlich virulenten Rassismus, der Muslim*innen als „unintegrierbare“ Minderheit konstruiert und sie als Andere im Inneren Europas exkludiert. Zugleich ist ein deutlicher Anstieg antimuslimischer Straftaten in Form von Übergriffen auf Moscheen und andere muslimische Einrichtungen sowie auf muslimisch markierte Menschen zu verzeichnen, die von Droh- und Schmähbriefen, Vandalismus bis hin zu gefährlicher Brandstiftung und tätlichen Angriffen reichen.2
1 Laut aktuellen Umfragen fühlen sich 50 Prozent der Bevölkerung „durch die vielen Muslime hier wie ein Fremder im eigenen Land“ und über 40 Prozent sind der Meinung, „Muslimen sollte die Zuwanderung nach Deutschland untersagt werden“. Vgl. Oliver Decker/Johannes Kiess/Elmar Brähler (Hrsg.) 2016: Die enthemmte Mitte. Autoritäre und rechtsextreme Einstellung in Deutschland. Gießen: Psychosozial Verlag, 50. 2 Vgl. Aleksandra Lewicki 2017: Islamophobie in Deutschland 2016. In: Enes-Bayraklı und Farid Hafez (Hrsg.): European Islamophobia Report 2016. Istanbul. Online abrufbar unter: http://www.islamophobiaeurope.com/wp-content/uploads/2017/05/Analyse_33.pdf.
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Yasemin Shooman
Wer von antimuslimischem Rassismus spricht und damit die Diskriminierung von Muslim*innen als Muslim*innen konzeptionell als Rassismus begreift, sieht sich mit dem Einwand konfrontiert, dass religiöse Identität– anders als die Hautfarbe – frei wählbar und damit veränderlich sei. Dieses Argument basiert auf einem verengten und veralteten Rassismusbegriff, der nur biologistisch argumentierenden Rassismus berücksichtigt. Die nachfolgende Analyse3 soll daher aufzeigen, inwiefern antimuslimische Narrative als Ausdruck einer aktuellen Form des Rassismus eingeordnet werden können. Dieser basiert auf einer Rassifizierung von (tatsächlicher oder auch bloß zugeschriebener) Religionszugehörigkeit, was zur Folge hat, dass die Kategorien „Religion“ und „Kultur“ in ähnlich deterministischer Weise verwendet werden wie einst der biologistische Rassebegriff. Geht man davon aus, dass kollektives Wissen in Diskursen zirkuliert, so gilt dies auch für rassistisches Wissen. Für die Rassismusforschung hat die Analyse von Diskursen daher eine zentrale Bedeutung, da Rassismus als soziale Praxis in hohem Maße diskursiv reproduziert wird. Die meisten Analysen von antimuslimischen Diskursen fokussieren Sprachhandlungen von Akteur*innen, die sich an ihre ingroup richten – in Deutschland also auf Angehörige der Mehrheitsgesellschaft, die über Muslim*innen sprechen oder schreiben. Das Besondere an dem für diesen Beitrag ausgewerteten Quellenmaterial besteht darin, dass die Zuschriften an muslimische Verbände die Objekte ihrer Ablehnung – also Muslim*innen – direkt adressieren. Bei dem Quellenkorpus handelt es sich um 667 E-Mails und Briefe, die an zwei muslimische Organisationen, den Zentralrat der Muslime in Deutschland (ZMD) und die Islamische Gemeinschaft Mili Görüs (IGMG), sowie an eine säkulare Migrantenselbstorganisation, die Türkische Gemeinde in Deutschland (TGD), geschickt wurden. Die Überlieferung der Quellen ist als fragmentarisch anzusehen, denn keine der Organisationen archiviert alle eingehenden Briefe lückenlos. Die Zuschriften stammen überwiegend aus dem Zeitraum 2009 bis 2011. Es ging bei der Auswertung dieser Quellen folglich nicht darum, quantifizierende Aussagen über das exakte Ausmaß von Ablehnung und Drohungen gegenüber muslimischen Verbänden zu treffen. Vielmehr sollten Argumentations- und Legitimierungsmuster offengelegt und gefragt werden, wie sich antimuslimisches Wissen, das in öffentlichen Diskursen zirkuliert, in Alltagswissen übersetzt und Spuren in den Zuschriften als Form der alltagsweltlichen Kommunikation hinterlässt. Warum stellen die Zuschriften eine interessante Quelle für die Analyse des antimuslimischen Rassismus dar? Ähnliche Studien wurden in Deutschland bislang im Rahmen
3 Dieser Beitrag basiert auf dem Kapitel „Antimuslimischer Rassismus in der nicht-öffentlichen Kommunikation – Zuschriften an muslimische Verbände“. In: Yasemin Shooman 2014: „… weil ihre Kultur so ist“. Narrative des antimuslimischen Rassismus. Bielefeld: transcript, 179–218.
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der Antisemitismusforschung durchgeführt.4 Wolfgang Benz, der als erster Zuschriften an den Zentralrat der Juden in Deutschland analysiert hat, hebt die Alltagsdimension des ausgrenzenden Denkens hervor, das sich in solchen Quellen offenbart und sich unterhalb der Schwelle von strafbaren Handlungen bewegt.5 Im Gegensatz zu quantitativen Meinungserhebungen, in denen Antworten auf vorformulierte Items abgefragt werden, handelt es sich bei Zuschriften zudem um selbstmotivierte Äußerungen, bei denen Störfaktoren im Antwortverhalten, wie die soziale Erwünschtheit, entfallen.
Sprecher*innenpositionen und Schreibanlässe Die meisten Absender*innen setzen unter die E-Mail oder den Brief ihren Namen, zum Teil sogar unter Nennung ihrer Adresse. Dies deutet darauf hin, dass in Bezug auf das Geschriebene kein Unrechtsbewusstsein existiert und kein sozialer Druck wirkt, der zu einem Ausweichen in die Anonymität führen würde. Anders verhält es sich bei den Zuschriften, die besonders drastische Drohungen und Beleidigungen enthalten; diese werden zumeist anonym verschickt. Auch die wenigen Zuschriften, die auf eine offen rechtsextreme Haltung schließen lassen, zum Beispiel durch Grußformeln wie „Sieg Heil“, gehen in der Regel anonym ein. Die überwiegende Zahl der Absender*innen distanziert sich in ihrer Selbstdarstellung jedoch explizit vom Rechtsextremismus. Um dies zu unterstreichen, verweisen einige auf „Freunde und Bekannte […] aus anderen Kulturkreisen“6 oder heben hervor, dass sie sich „seit Jahrzehnten […] für Menschenrechte engagier[en]“7. Andere geben Auskunft über ihr Wahlverhalten und ihre politischen Präferenzen. So betont der Absender einer E-Mail an den ZMD in seinem Postskriptum: „Übrigens habe ich Links gewählt, weil ich von den rechten Parolen nichts halte!“8 Ein Absender, der an die TGD schreibt, stellt sich als „SPD-Wähler seit über 30 Jahren“9 vor, der Nächste hebt seine Mitgliedschaft in einem Bündnis gegen Rechtsextremismus hervor10 und ein anderer betont: „Ich bin kein Nazi, oder sonstwas in der Richtung.“11 In solchen Distanzierungsformeln gegenüber dem politisch rechten Rand ist implizit 4 Vgl. Wolfgang Benz 2004: Was ist Antisemitismus. München: C.H. Beck.; Monika Schwarz-Friesel/ Jehuda Reinharz 2013: Die Sprache der Judenfeindschaft im 21. Jahrhundert. Berlin/Boston: De Gruyter. 5 Vgl. Ebd., 7. 6 E-Mail an die TGD vom 11.10.2010. 7 E-Mail an die TGD vom 12.10.2010. 8 E-Mail an den ZMD vom 10.10.2009. Die Rechtschreibfehler, die viele Zuschriften aufweisen, wurden in den Zitaten bewusst nicht korrigiert. Sie stehen in einem auffälligen Kontrast zu der darin wiederholt vorgebrachten Forderung an Muslim*innen, richtig Deutsch zu lernen. 9 E-Mail an die TGD vom 17.10.2010. 10 Vgl. E-Mail an den ZMD vom 8.7.2009. 11 E-Mail an den ZMD vom 4.8.2009.
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auch das Von-sich-weisen des Rassismusvorwurfs enthalten, da Rassismus in Deutschland häufig auf den Rechtsextremismus verengt wird und davon auszugehen ist, dass die Absender*innen ihre Aussagen als wohl begründete und nicht als von Ressentiments geleitete Meinung verstanden wissen wollen. Die Briefeschreiber*innen nehmen häufig Bezug auf Medienberichte und benutzen diese als empirische Grundlage für ihr Urteil über Muslim*innen. Der explizite Verweis auf medial vermittelte Informationen verdeutlicht die Relevanz der Medien als OpinionLeaders, insbesondere wenn persönliche Erfahrungen und die soziale Interaktion mit Minderheitenangehörigen fehlen.12 Neben wichtigen medialen Diskursereignissen, in denen Muslim*innen als Akteur*innen vorkommen oder der Islam thematisiert wird, dienen öffentliche Auftritte oder Aussagen muslimischer Verbandsvertreter*innen häufig als Schreibanlässe. Die Absender*innen nehmen jedoch in den allermeisten Fällen nur kurz Bezug auf den konkreten Anlass ihres Schreibens und gehen dann schnell dazu über, Muslim*innen als ganze Bevölkerungsgruppe zu adressieren. Dies ist insbesondere relevant, da E-Mails häufig kopiert und identisch an mehrere Verbände verschickt werden. Damit wird deutlich, dass der Adressat nicht ein spezifischer Verband ist und die formulierte Kritik oder Ablehnung nicht einer bestimmten Verbandspolitik gilt, sondern „dem Muslim“ als solchem.
Muslim*in-Sein und Deutsch-Sein als Antagonismus In der Mehrzahl der ausgewerteten Zuschriften findet eine scharfe Einteilung in Wir- und Sie-Gruppen statt, ein häufig verwendetes rhetorisches Mittel der diskriminierenden Rede. Diese Trennung tritt besonders deutlich zutage, wenn Muslim*innen und Deutsche einander komplementär gegenübergestellt werden. Darin drückt sich eine Vermengung der Kategorien Ethnizität und Religion aus, die den Effekt der Ethnisierung der muslimischen Religionszugehörigkeit zur Folge hat, wie er auch im öffentlichen Diskurs zu beobachten ist. Deutlich kommt dies beispielsweise in einer an die Türkische Gemeinde als auch an den Zentralrat gerichteten E-Mail zum Ausdruck. In dieser heißt es: „Nennen Sie mir ein Volk, welches in Deutschland so negativ auffällt wie Moslems [Hervorhebung von Y.S.].“13 Muslim*innen werden dabei ganz selbstverständlich zu Nicht-Deutschen erklärt. Dies zieht sich als Grundhaltung durch nahezu alle Zuschriften: „Warum gehen Sie nicht in Ihr Heimatland zurück? Erzählen Sie mir nicht, dass Sie 12 Vgl. Myria Georgiou 2010: Media representations of diversity. The power of the mediated image. In: Alice Bloch/John Solomos (Hrsg.): Race and Ethnicity in the 21st Century. Hampshire: Palgrave, 166–185. 13 E-Mail an die TGD und den ZMD vom 2.1.2011.
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auch Deutscher sind, für mich werden Sie das niemals sein“14, so der Tonfall in einer namentlich unterzeichneten E-Mail an den damaligen TGD-Vorsitzenden Kenan Kolat. Das Beharren darauf, Muslim*innen oder muslimisch markierte Menschen könnten per Definitionem keine Deutschen sein, deutet auf ein tief verwurzeltes völkisches, abstammungsbasiertes Verständnis von Deutsch-Sein und auf die Rassifizierung des Muslim*inSeins hin, wie auch das nachfolgende Zitat veranschaulicht: „Selbst wenn Sie 1000 deutsche Pässe hätten, würden Ihnen nicht automatisch auch noch deutsche Gene zuwachsen! Dies schreibt Ihnen ein echter deutscher, dessen Vorfahren deutschen Blutes nachweislich seit Jahrhunderten auf deutschem Gebiet ansässig waren.“15
Abwertung des Anderen und Aufwertung des Eigenen Eine weitere Strategie, den größtmöglichen Abstand zwischen der konstruierten Selbst- und Fremdgruppe herzustellen, besteht darin, besonders extreme Beispiele aus den jeweiligen Gruppen einander als repräsentativ gegenüberzustellen. Norbert Elias hat in seiner Theorie der Etablierten-Außenseiter-Beziehungen dargelegt, dass „eine Etabliertengruppe dazu [neigt], der Außenseitergruppe insgesamt die ‚schlechten‘ Eigenschaften der ‚schlechtesten‘ ihrer Teilgruppen, ihrer anomischen Minorität, zuzuschreiben. Und umgekehrt wird das Selbstbild der Etabliertengruppe eher durch die Minorität ihrer ‚besten‘ Mitglieder, durch ihre beispielhafteste oder ‚nomischste‘ Teilgruppe geprägt. Diese pars-pro-toto-Verzerrung in entgegengesetzter Richtung erlaubt den Etablierten, ihre Glaubensaxiome vor sich und anderen als begründet zu erweisen: sie haben immer Belege dafür parat, daß die eigene Gruppe ‚gut‘ ist und die andere ‚schlecht‘.“16 Solche spiegelbildlich angeordneten Selbst- und Fremdbilder dominieren auch die Zuschriften an Muslim*innen und muslimisch markierte Migrant*innen. Diese werden vielfach als kulturell minderwertig adressiert bei gleichzeitiger Überhöhung der Eigengruppe. So schreibt ein Absender an den ZMD: „Die moslemische Welt ist eine von Primitivlingen [...] geführte und Religiös verblendete Scheinwelt [...] (der Bildungsgrad in vielen Ländern geht gegen null). Die gebildeten Menschen des Westens haben es schwer, diesen ‚Abschaum‘ [...] zu ertragen.“17 Ein anderer führt aus: „Ich bin deutscher Christ. Ich will mein Land weiterhin in der modernen, fortschrittlichen abendländischen
14 15 16 17
E-Mail an die TGD vom 6.1.2011. E-Mail an die TGD vom 22.10.2010. Norbert Elias/John L. Scotson 1993: Etablierte und Außenseiter. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 13. E-Mail an den ZMD vom 9.1.2010.
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Kultur eingebettet sehen. Der intolerante, rückständige […] und menschenverachtende […] Islam hat hier nichts zu suchen.“18 Das Konstrukt einer abendländischen Kultur wird als exklusiv christlich (zuweilen auch jüdisch) definiert und mit Attributen des Fortschritts und der Zivilisation versehen. Damit werden Selbstbilder vom Christentum als „aufgeklärte Religion“ aufgerufen und mit einem seit der Kolonialzeit bestehenden Wahrnehmungsmuster des Islams als rückständige und primitive Religion kontrastiert. Diese Denkfigur findet sich in vielen Zuschriften, unter anderem bei einem Absender, der sich als „stolzer Westler“ bezeichnet: „Auch wenn sie intellektuell minderbegabt sind, muß ihnen auffallen, dass wir Deutschen/ Europäer und alle nicht-muslimischen Migranten euch nicht in diesem Land haben wollen.“ Der Islam sei „eine asoziale, faschistische Kultur bzw. Religion“, die Muslim*innen „ins liberale Europa gebracht“ hätten. Der Verfasser schließt mit folgendem Appell: „Gehen sie in ein Morgenland ihrer Wahl und belästigt uns nicht mit euren mittelalterlichen Sitten.“19 Der Bezug auf das Mittelalter oder die Steinzeit ist ein häufig gebrauchter Topos in den Zuschriften.20 Er umschreibt metaphorisch ein evolutionäres Gefälle, demzufolge „der Westen“ „den Muslimen“ in der menschlichen Entwicklung mehrere Jahrhunderte und damit Entwicklungsstufen voraus sei. In Abgrenzung zu Muslim*innen und zum Islam wird also nicht nur die deutsche Nation, sondern auch die übernationale europäische Identität angerufen und stabilisiert. In ihr finden aus Sicht des Absenders interessanterweise ausdrücklich „alle anderen nicht-muslimischen Migranten“ Platz.21
Dominante Topoi und Argumentationsstrategien Eine solche Hierarchisierung in „gute“ und „schlechte“ Migrant*innen dient als Legitimierung der rassistischen Argumentation und soll die Ablehnung, Abwertung und Ausgrenzung der muslimischen Minderheit als begründete und differenzierte Position erscheinen lassen. Diese Argumentationsstrategie findet sich in den Zuschriften in einer solchen Regelmäßigkeit, dass sich von einem Muster sprechen lässt. In einer E-Mail, die sowohl an den Zentralrat als auch an die Türkische Gemeinde verschickt wurde, 18 E-Mail an den ZMD vom 19.9.2010. 19 E-Mail an die IGMG vom 10.1.2010. 20 So z.B. auch in einer E-Mail vom 11.4.2009 an den ZMD, in der Muslime als „schwarzhaarige Mittelalterbrut“ bezeichnet werden, oder in einer E-Mail vom 2.1.2011 an die TGD, in der es heißt: „Diese im Mittelalter stehen gebliebene Unmenschen müssen zurückgeführt werden.“ An anderer Stelle fordert ein Absender „alle Moslems in Europa“ dazu auf, „in Euer Steinzeit-Anatolien“ zurückzugehen. E-Mail an die TGD vom 27.11.2010. 21 E-Mail an die IGMG vom 10.1.2010.
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heißt es beispielsweise: „Leider ist das Verhalten der Moslems in Deutschland so verabscheuungswürdig, dass sie im Gegensatz zu allen anderen Ethnien die hier einwandern, die nicht so kriminell, aggressiv und anpassungsfeindlich sind, immer mehr Ablehnung, ja Hass im Gastland erzeugen.“22 Die unterstellten Eigenschaften, mit denen Muslim*innen hier einer speziellen Neigung zur Gewalt und Kriminalität beschuldigt werden, tauchen immer wieder auf. So wird in einer Zuschrift ein „islam-spezifische[s] Gewaltpotential“23 diagnostiziert, ein anderer Absender ist „überzeugt das von den 14 bis 30 jährigen Muslimen 70 Prozent Radikale sind, die nach kurzer Einstimmung auch zum Töten bereit sind“24 und ein dritter E-Mail-Verfasser schätzt, dass „in Berlin […] jeder zweite Ausländer kriminell“25 ist. Diese Zuschreibungen reflektieren klassische rassistische Stereotype, wie sie etwa auch in dem Diskurs über Sinti und Roma oder Schwarze zu finden sind. Zugleich geht aus den Zuschriften deutlich hervor, dass sich der darin zutage tretende Rassismus spezifisch gegen Muslim*innen oder als solche markierte Menschen richtet. So heißt es in einer Zuschrift an die Türkische Gemeinde: „Ich habe neulich die Patenschaft über 2 Kinder aus Indien übernommen. Die Voraussetzung war, keine Moslems!“26 Ein anderer stellt sich die Frage, „warum […] sich Zuwanderer aus dem ostasiatischen Raum (z.B. Indien, China, Korea) besser bei uns [integrieren] […]. Hat das doch etwas damit zu tun, dass diese nicht aus islamischen Ländern kommen?“27 Neben der verbreiteten Hierarchisierung von Muslim*innen und anderen Minderheiten finden sich in den Zuschriften weitere Strategien der Legitimierung rassistischer Argumentationsweisen, die auch im etablierten Diskurs auszumachen sind. Hierzu gehört in erster Linie ein Anknüpfen an egalitäre und menschenrechtsorientierte Argumentationen und die Instrumentalisierung des Sexismus-, Antisemitismus- und Homophobievorwurfs: „Wann gehen Sie endlich in Ihre Heimat zurück? Wir wissen doch alle, […] dass der Islamfaschismus und ein mittelalterlicher, antisemitischer, homophober, frauenverachtender, antiliberaler, krimineller, aggressiver türkisch-arabischer Kulturkreis nicht willkommen ist. […] Daher fordere ich Sie auf, Europa zu verlassen.“28 Muslim*innen werden – auch das ist eine Parallele zur rassistischen Stereotypisierung anderer Gruppen wie den Sinti und Roma – in einem großen Teil der Zuschriften eines parasitären Daseins in Deutschland beschuldigt. So meint eine Absenderin zu wissen,
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E-Mail an den ZMD und die TGD vom 2.1.2011. E-Mail an den ZMD vom 8.7.2009. E-Mail an den ZMD vom 17.7.2009. E-Mail an den ZMD vom 26.10.2009. E-Mail an die TGD vom 25.11.2010. E-Mail an die TGD vom 11.10.2010. E-Mail an den ZMD vom 11.10.2009.
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dass „die Hälfte der Moslems […] von unserer harterarbeiteten Sozialhilfe“29 lebt, ein anderer Verfasser ist sich sicher, „dass gerade Moslems in den Parallelgesellschaften mehr kosten als sie bringen“30. Ein weiterer meint, dass Muslim*innen „größtenteils ungebildet und auf dem Arbeitsmarkt unbrauchbar sind“31 und ein vierter Absender zeigt sich überzeugt davon, dass es keine „türkische[n] Leistungsträger gibt“32. Wieder andere bezeichnen Muslim*innen als „Schnorrer“33, „Asoziale“34 und „Parasiten“35, die „auf Kosten der Allgemeinheit“36 und „wie die Ratten“37 lebten. Insgesamt fällt auf, dass viele Absender*innen in ihren Zuschriften auf eine entmenschlichende Rhetorik zurückgreifen. Der Islam und die Muslim*innen werden zum Beispiel mit Krankheiten wie „Krebsgeschwüren“38 verglichen und als „Tiere“39 oder „Unmenschen“40 bezeichnet, die „zurückgeführt“ werden müssten. Diese Forderung nach Vertreibung oder Ausweisung der muslimischen Minderheit erscheint angesichts dieser dehumanisierten Wahrnehmung als logische Konsequenz und stellt einen ständig wiederkehrenden Topos in den Zuschriften dar. Der Vorwurf des parasitären Daseins, der überdies die Bedeutung von Klassenzugehörigkeit und sozialer Schicht im antimuslimischen Rassismus hervorhebt, ist häufig mit der Aufforderung zur Dankbarkeit gegenüber Deutschland und den Deutschen verknüpft. Darin drückt sich der Wunsch nach Festschreibung eines hierarchischen Verhältnisses und dem eigenen privilegierten Status aus. Dieses Verhältnis hebt auf die Machtasymmetrie zwischen der Mehrheitsgesellschaft, der sich die Absender*innen zuordnen, und der muslimischen Minderheit ab.
Dominanzkonflikte und Täter-Opfer-Umkehr Wie die Analyse zeigt, erzeugt die Beteiligung der Muslim*innen am Diskurs sowie die Artikulation ihrer eigenen Interessen offenbar einen Dominanzkonflikt, der eine mögliche Ursache des hier zutage tretenden antimuslimischen Rassismus darstellt. Auf ihre gesellschaftliche Partizipation wird mit dem Verlangen reagiert, Muslim*innen auf 29 30 31 32 33 34 35 36 37 38 39 40
Brief an die IGMG vom 24.1.2008. E-Mail an die TGD vom 1.1.2011. E-Mail an die TGD vom 16.10.2010. E-Mail an die TGD vom 1.1.2011. Brief an den ZMD vom 14.10.2003. E-Mail an die IGMG vom 18.7.2010. E-Mail an den ZMD vom 2.8.2009. E-Mail an die TGD vom 25.11.2010. E-Mail an den ZMD vom 17.12.2008. E-Mail an den ZMD vom 15.7.2009. Vgl. z.B. E-Mail an die IGMG vom 21.3.2010. E-Mail an die TGD vom 2.1.2011.
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einen niedrigeren Platz in der Gesellschaft, den sie durch die selbstbewusste Teilnahme am Diskurs in den Augen der Absender*innen zu verlassen drohen, zu verweisen. Anschaulich wird dies in einer E-Mail, in der Muslim*innen angeraten wird, „in Zukunft in Bittstellung [zu] gehen, oder brav in den Ghettos [zu] bleiben“41. In einer anderen E-Mail heißt es: „An alle Türken und sonstige Muslime, damit es ein für allemal klar ist: Wir Deutsche haben eure unverschämten Forderungen bis obenhin satt. […] Nur echte Deutsche haben das Recht Forderungen zu stellen!!!!!“42 Die Botschaft, dass Muslim*innen keine „echten“ Deutschen seien und sich deshalb unterordnen sollten, ist ein zentrales Motiv in einem Großteil der Zuschriften. Die E-Mails dokumentieren die Verweigerung, Muslim*innen als zur deutschen und europäischen Gesellschaft zugehörig anzuerkennen, woraus der Anspruch auf Dominanz ihnen gegenüber abgeleitet wird. Entsprechend heißt es in einer weiteren E-Mail an die IGMG: „Europa ist nicht Eure ursprüngliche Heimat, aber es ist Meine Heimat...Mein Heim! Jeder Moslem, unabhängig ob hier geboren oder nicht ist nur Gast! Also benehmt Euch wie Gäste!“43 Die häufig gebrauchte Gast-Metapher dient der Zementierung eines hierarchischen Verhältnisses zwischen Mehrheit und Minderheit: „Sie sind hier Gäste und jeder Gast sollte sich auch so Betragen. Sie aber benehmen sich als wären Sie hier die Herren sind Unverschämt und Unmäßig“44, so die Zurechtweisung eines Absenders. Der Verfasser einer anderen Zuschrift hält „etwas mehr Bescheidenheit in Hinblick auf die Größe ihrer Moscheen“ für angebracht45, eine weitere Absenderin maßregelt den ZMD, „bitte demnächst etwas zurückhaltender“46 zu sein und dem TGD-Vorsitzenden Kenan Kolat wird der Ratschlag erteilt: „Also, wenn Sie nicht wollen, dass die Deutschen sich immer mehr gegen die Muslime stellen, überlegen Sie doch einmal, wie man das Wort Bescheidenheit, für alle Muslime, übersetzt!“47 Um die verbalen Angriffe als gerechtfertigt erscheinen zu lassen, wird in den Zuschriften häufig auf die Strategie der Täter-Opfer-Umkehr zurückgegriffen und eine Viktimisierung der Mehrheitsgesellschaft betrieben, die die realen Machtverhältnisse leugnet. So moniert eine Verfasserin: „Als Deutsche fühlt man sich fremd im eigenen Land, man fühlt sich von der Minderheit gemobbt und denunziert. Wer spricht eigentlich einmal von Deutschenfeindlichkeit hier im Land ausgehend von ausländischen Mitbürgern?“48 41 E-Mail an die TGD und den ZMD vom 16.10.2010. 42 E-Mail an den ZMD und die TGD sowie einige türkeistämmige Bundestagsabgeordnete vom 28.8.2010. 43 E-Mail an die IGMG vom 15.12.2009. 44 E-Mail an den ZMD vom 17.10.2010. 45 E-Mail an den ZMD vom 14.7.2009. 46 E-Mail an den ZMD vom 12.7.2009. 47 E-Mail an die TGD vom 28.8.2010. 48 E-Mail an die TGD vom 11.10.2010.
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Dieses Selbstbild der von einer Minderheit bedrohten Mehrheit ist ein ständig wiederkehrendes Motiv in den Zuschriften. Muslim*innen werden als machtvolle Eindringlinge imaginiert, gegen die sich die autochthone deutsche Bevölkerung zur Wehr setzen müsse. Insgesamt fällt auf, dass viele Absender*innen explizit oder implizit Bezug auf die deutsche NS-Vergangenheit nehmen. Einige beklagen, dass die Deutschen auch heute noch wegen ihrer historischen Verantwortung für den Nationalsozialismus „erpressbar“ seien. So stellt sich unter anderem die Verfasserin einer E-Mail hinter Thilo Sarrazin und sein Buch „Deutschland schafft sich ab“: „In Frankreich oder einem anderen Europäischen Land würde überhaupt nicht so ein Wirbel um ein solches Buch gemacht. Aber leider haben wir die leidige Hitlergeschichte bei uns immer noch zu verarbeiten.“49 In einer anderen Zuschrift erregt sich ein Absender, dass „durch die verheerende Niederlage im 2. Weltkrieg […] das deutsche Volk derartig kleingemacht worden [ist], dass es sich gegen die dauernde Bevormundung durch unsere sog. Freunde und die letztlich auch darauf basierende lasche Haltung in Bezug auf die Aufnahme vieler Muslime (vor allem Türken) ohne Ausbildung und Sprachkenntnisse nicht mehr wehren konnte.“50 Die Tatsache, dass Deutschland zu einem Einwanderungsland geworden ist, wird als „Buße“ für die historische Schuld gedeutet, die aus den Deutschen ein „schwache[s] Volk“ gemacht habe. Dies werde nun von Muslim*innen ausgenutzt51 und der deutsche Staat sei nicht in der Lage, hart gegen unliebsame Minderheiten durchzugreifen. Die Überzeugung, das Anrecht zu haben, Muslim*innen des Landes zu verweisen, offenbart ein Superioritätsdenken, das in zahlreichen Zuschriften deutlich zum Ausdruck kommt. Die rhetorische Ausbürgerung imaginiert sie als rechtlose Subjekte, die sich dem Willen der Mehrheitsgesellschaft zu unterwerfen hätten: „Ihr seit hier nur Gäste und diese schmeißt man raus wenn Sie sich nicht benehmen können.“52 Wenn die Mitglieder einer Mehrheitsgesellschaft Minderheitenangehörigen ihre Bürgerrechte absprechen, so hat dies eine besondere Verletzungsmacht. Implizit beinhalten solchen Botschaften auch immer die Drohung, die formulierten Absichten könnten eines Tages umgesetzt werden, was einschüchternd auf die Adressat*innen wirken soll. So schreibt ein Absender an den ZMD: „Ich würde an der Stelle der Moslems auf gepackten Koffern sitzen.“53 Das Bild der gepackten Koffer legt Angehörigen der muslimischen Minderheit nahe, sich auf eine bevorstehende Ausweisung gefasst zu machen. Ein anderer Absender, der seine E-Mail an die TGD mit vollem Namen und Anschrift unterzeichnet, warnt: „Das ist doch erst das laue Lüftchen! Der Hurrikan, der euch wie gefallenes Laub aus unserem Land hin49 50 51 52 53
E-Mail an die TGD vom 3.9.2010. E-Mail an die TGD vom 6.1.2011. Vgl. E-Mail an die TGD vom 6.1.2011. E-Mail an den ZMD vom 23.11.2010. E-Mail an den ZMD vom 25.11.2010.
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fort fegt, der kommt erst noch!“54 Andere drücken ihre Drohbotschaft durch Gewalt- und Vernichtungsfantasien aus: „Hoffentlich fliegt bald eine Atombombe auf Mekka; am besten wenn alle Moslems der Welt dort hingepilgert sind!“55 Verbale Attacken wie diese zielen darauf ab, das Sicherheitsgefühl von Muslim*innen und muslimisch markierten Menschen zu beeinträchtigen: „Das leben hier wird für euch so unerträglich, dass Ihr freiwillig und ohne gewalt zu erfahren, zurück nach hause geht.“56
Fazit Zusammenfassend lässt sich sagen, dass Muslim*innen, als solche markierte Migrant*innen und ihre Nachkommen in den Zuschriften nicht als Individuen und die Verbände nicht als konkrete Akteure adressiert werden, sondern als homogen konstruiertes Kollektiv. Ebenso begreifen die Absender*innen die eigenen Sprachhandlungen nicht als individuelle Meinungsäußerungen, sondern inszenieren sich als Sprachrohr für eine „schweigende Mehrheit“: „So denken alle die ich kenne“57, meint ein Absender zu wissen. „Glauben Sie ja nicht, daß dies die Meinung eines Einzelnen ist. Es ist die vorherrschende Meinung der ganzen Bevölkerung in der Bundesrepublik Deutschland“58, mahnt ein anderer Verfasser. Die E-Mails und Briefe an Muslim*innen werden also in dem Bewusstsein verschickt, Teil der deutschen Mehrheitsgesellschaft zu sein. Die nationale Identitätskonstruktion wird durch ein hermetisch geschlossenes Verständnis von ethnischen, kulturellen und religiösen Identitäten stabilisiert und in Form von Antithesen – „deutsch“ versus „muslimisch“, „türkisch“ oder „arabisch“ – konzipiert. Vor diesem Hintergrund vermag auch die deutsche Staatsangehörigkeit nichts an der Wahrnehmung von Muslim*innen als Nichtdeutsche zu ändern: „Vergesst eure deutschen Pässe – ihr seid keine Deutschen, ihr seid keine Europäer!“59, empört sich ein Schreiber. Zwar dienen bestimmte Diskursereignisse als Schreibanlässe, die Botschaften sind in den meisten Fällen aber von diesen Kontexten unabhängig und genereller Natur. Sie vermitteln Muslim*innen den Eindruck, ein unerwünschter Bevölkerungsteil zu sein. Häufig wird dies auch mit der Aufforderung gekoppelt, das Land zu verlassen oder sich wenigstens in der Rolle als Gast der Aufnahmegesellschaft unterzuordnen. Insgesamt 54 E-Mail an die TGD vom 25.11.2010. 55 E-Mail an den ZMD vom 14.7.2009. 56 Ebd. 57 E-Mail an die TGD vom 25.11.2010. 58 E-Mail an den ZMD vom 19.10.2010. 59 E-Mail an die TGD vom 3.9.2010.
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zeugen die Zuschriften von einem Dominanzbedürfnis und dem Wunsch, eine Hierarchie zwischen der Mehrheitsgesellschaft und der muslimischen Minderheit in Deutschland festzuschreiben. Wo immer diese ins Wanken zu geraten droht, zum Beispiel durch die aktive Beteiligung von Muslim*innen am öffentlichen Diskurs, reagieren die Verfasser*innen der Zuschriften mit Aggressionen in E-Mails und Briefen. Die diskriminierenden Ansichten werden als sagbar eingestuft, Angst vor Sanktionen oder juristischen Konsequenzen besteht überwiegend nicht, wie die Verwendung von Klarnamen und identifizierbaren E-Mail-Adressen zeigt. Dies hängt sicherlich auch damit zusammen, dass die Absender*innen vielfach Topoi des etablierten öffentlichen Diskurses über den Islam und Muslim*innen reproduzieren, wie der häufige Verweis auf Autoritäten und Gewährsleute illustriert, zum Beispiel auf den ehemaligen Berliner Finanzsenator Thilo Sarrazin.60 Das diskursiv erzeugte antimuslimische Wissen wird mittels der Zuschriften in diskriminierendes Handeln umgesetzt. Muslim*innen werden in einem paternalistischen Habitus zurechtgewiesen und gemaßregelt, herabgewürdigt und verunglimpft. Sie werden bedroht und beschuldigt, die ihnen widerfahrene Ablehnung selbst provoziert zu haben. Dadurch findet eine Täter-Opfer-Umkehr statt, die zum festen Bestand rassistischer Argumentationen gehört. Wenngleich sich der Tonfall zum Teil erheblich unterscheidet, weisen die Argumentationsfiguren in den Zuschriften bis in die Formulierungen hinein Ähnlichkeiten auf. Dies lässt auf einen antimuslimischen „Wissensbestand“ in der Gesellschaft schließen, der den Absender*innen als Alltagswissen zur Verfügung steht. Zahlreiche weiterführende Aspekte, wie die Häufung von Geschlechterstereotypen (darunter die ständig wiederkehrende Figur des hypersexuellen muslimischen Mannes) sowie der Stellenwert des islamischen Glaubens, der mittels historisch tradierter islamfeindlicher Topoi herabgewürdigt wird, konnten hier nicht berücksichtig werden.61 Wie die vorliegende Analyse aber bereits zeigt, verschränken sich im antimuslimischen Rassismus verschiedene Differenzlinien wie Kultur, Religion, Ethnizität, Geschlecht und Klasse zu einem komplexen Geflecht. Welchen Stellenwert die jeweiligen Kategorien darin genau einnehmen, lässt sich nicht pauschal beantworten, da einzelne Diskriminierungsmerkmale in der Praxis nur schwer zu filtern sind und je nach Kontext unterschiedlich miteinander interagieren. Zukünftige Forschung wird daher unter anderem der Frage nachgehen müssen, wie sich die diskursiv erzeugten Markierungen und Stigmata im Alltag der Betroffenen auswirken.
60 Vgl. beispielsweise E-Mails an die TGD vom 28.8.2010, 30.8.2010, 1.9.2010 und 4.9.2010. 61 Vgl. Shooman 2014: 212–217.
Étienne Balibar
Der Rassismus – auch noch ein Universalismus
Der Rassismus ist eine Denkweise: Verstehen wir darunter nicht bloß eine Art, Worte an Dinge, sondern tiefergehend, Worte an Bilder zu binden, um daraus Konzepte zu machen. Den Rassismus zu überwinden, ob in der individuellen oder in der kollektiven Erfahrung, erfordert daher nicht nur, unser Augenmerk auf die Realität zu richten (notfalls mit Hilfe der Wissenschaft und der Forscher). Es gilt, was viel schwerer ist, die Denkweise zu verändern. Je mehr wir über Rassismus diskutieren, je mehr wir uns an antirassistischen Aktivitäten beteiligen, desto stärker fällt uns auf, daß im Herzen des Rassismus ein sehr hartnäckiger Erkenntniswunsch wohnt, der weit über die Legitimation von Privilegien, die Aggressivität gegen Konkurrenten, die Trägheit von Gruppen-Traditionen oder die Reaktion auf Gewaltsituationen hinausgeht. Dieser Wunsch ist in Wirklichkeit eine Weise, sich ununterbrochen danach zu fragen, „wer“ man innerhalb einer bestimmten sozialen Welt ist, weshalb diese Welt Platzierungen aufweist, denen man sich mehr oder weniger leicht, mehr oder weniger freiwillig, anzupassen hat, indem man sich selbst der notwendigen Dressur unterzieht, in dem man sich selbst eine „Identität“ verleiht (und zwar eine einzige: das ist viel einschränkender als eine gesellschaftliche „Rolle“, mit der man „spielen“ kann). Es ist eine Weise, sich zu fragen und sich zu erklären, weshalb man selbst gewalttätig ist und unfähig, dem Trieb einer Gewalt zu widerstehen, die über die rationellen Notwendigkeiten des sozialen Konflikts hinausgeht. Auf all diese, per definitionem lebenswichtigen Fragen antwortet der Rassismus: Weil wir „verschieden“ sind und, in einer Tautologie, weil die „Differenz“ das universelle Wesen dessen ist, was wir sind. Nicht die individuelle Differenz, die Singularität, die beinahe undenkbar ist, sondern die kollektive, aus Analogien und Ähnlichkeiten bestehende Differenz. Étienne Balibar: Der Rassismus – auch noch ein Universalismus (1991)
Sina Arnold
Which Side Are You On? Zum schwierigen Verhältnis von Antisemitismus und Rassismus in der Migrationsgesellschaft
Sina Arnold ist Ethnologin und als Postdoktorandin am Berliner Institut für empirische Integrations- und Migrationsforschung (BIM) an der Humboldt-Universität zu Berlin tätig. Ihre aktuellen Forschungsschwerpunkte sind Antisemitismus in Migrationsgesellschaften und in sozialen Bewegungen, postnationale Identitäten sowie Flucht und digitale Medien.
Die gegenwärtigen wissenschaftlichen und politischen Diskurse zu Antisemitismus und Rassismus sind von Trennung, gar von Konkurrenz geprägt. Die jeweiligen Forschungszweige gehören meist unterschiedlichen wissenschaftlichen Instituten an, eine integrierte vergleichende Analyse existiert kaum.1 Dieser „methodologische Separatismus”2 liegt teilweise in unterschiedlichen Theorietraditionen begründet, bei denen für das Verständnis von Antisemitismus im deutschsprachigen Raum einerseits das Erbe der Kritischen Theorie im Sinne Theodor W. Adornos und Max Horkheimers und somit (neo-)marxistische Strömungen, andererseits die empirische Vorurteilsforschung einflussreich waren. In der neueren Rassismusforschung – in Deutschland weiterhin kein etabliertes Feld3 – dominieren hingegen postkoloniale und poststrukturalistische Ansätze.4 Die akademischen gehen mit politischen Spaltungen einher, in denen eine „Lagerbildung“ in Zivilgesellschaft und Öffentlichkeit stattfindet zwischen jenen, die sich gegen Antisemi1 Vgl. Julia Edthofer 2015: Gegenläufige Perspektiven auf Antisemitismus und antimuslimischen Rassismus im post-nationalsozialistischen und postkolonialen Forschungskontext. Österreichische Zeitschrift für Soziologie. Jg. 40, Heft 2, 189–207. 2 Robert Fine und Glynis Cousins 2012: A Common Cause. European Societies. Jg. 14, Heft 2, 166–185, hier 176. 3 Vgl. Manuela Bojadžijev 2015: Zur Entwicklung kritischer Rassismustheorie in Deutschland seit den 1980er Jahren. In: Dirk Martin, Susanne Martin und Jens Wissel (Hg.): Perspektiven und Konstellationen kritischer Theorie. Münster: Westfälisches Dampfboot, 49–71. 4 Meron Mendel und Tom David Uhlig 2017: Challenging Postcolonial. Antisemitismuskritische Perspektiven auf postkoloniale Theorie. In: Meron Mendel und Astrid Messerschmidt (Hg.): Fragiler Konsens. Antisemitismuskritische Bildung in der Migrationsgesellschaft. Frankfurt a.M.: Campus, 249–268.
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tismus engagieren, und anderen, die gegen Rassismus aktiv sind.5 Diese Konstellationen sind nicht selten von einer „Eskalationsdynamik”6 begleitet, begründet in einem konkurrierenden Denken: Wird etwa durch die Thematisierung von Antisemitismus unter Geflüchteten ein antimuslimischer, rassistischer Diskurs genährt? Tragen antirassistische Bewegungen zur Verharmlosung des Islamismus und somit zur Tolerierung antisemitischer Positionen bei? Läuft eine vergleichende Vorurteilsforschung entweder Gefahr, die Singularität der Shoah zu leugnen, oder aber die Brutalität des gegenwärtigen Rassismus zu ignorieren? Derlei Spaltungen in zwei getrennte Lager bringen aber verschiedene Schwierigkeiten mit sich: Sie verhindern einen erkenntnistheoretischen Wissenstransfer, bei dem etwa die je spezifischen Analysen angewendet werden auf unterschiedliche Minoritätserfahrungen und Ideologiefunktionen. Sie führen aber auch zu Reibungen beim Engagement gegen aktuellen Rassismus und Antisemitismus. In diesem Artikel soll aufgezeigt werden, wie solche Konflikte in der postmigrantischen Gesellschaft insbesondere seit dem „langen Sommer der Migration“7 2015 an Virulenz gewonnen haben und was mögliche Umgangsweisen wären.
Same Same But Different Antisemitismus ist eine Form von Rassismus, da dessen Grundprinzipien – die Essenzialisierung und darauf aufbauende Abwertung einer Gruppe – wirkmächtig werden. Gleichzeitig unterscheidet der Antisemitismus sich grundlegend von anderen Rassismen: Während insbesondere der Kolonialrassismus die „anderen“ idealtypisch als unterlegen markiert, als eine Gruppe, der gegenüber aufgrund ihrer „Zurückgebliebenheit“ und „Prämodernität“ die (eigene) Herrschaft aufrechterhalten werden muss, gilt „der Jude“ in der antisemitischen Vorstellungswelt als überlegen. Als hypermodern, intelligent und überrational sei er in der Lage, die Welt zu reagieren. In der imaginierten Superiorität kondensiert sich der Hass auf „die da oben“, die vermeintliche Herrschaft (der anderen) gilt es abzuschütteln. Klaus Holz8 fasst mit der „Figur des Dritten“ das Grundprinzip, nach dem „Juden“ weder „wir“ noch „die anderen“ sind: Anders als das rassifizierte Gegenüber fungieren sie als Gegenrasse und scheinen somit nicht nur nationale Identi5 Fine und Cousins 2012: 176. 6 Mendel und Uhlig 2017: 250. 7 Sabine Hess, Bernd Kasparek, Stefanie Kron, Mathias Rodatz, Maria Schwertl und Simon Sontowski (Hg.) 2016: Der lange Sommer der Migration. Grenzregime III. Berlin: Assoziation A. 8 Klaus Holz 2005: Die Gegenwart des Antisemitismus. Islamische, demokratische und antizionistische Judenfeindschaft. Hamburg: Hamburger Edition.
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täten zu bedrohen, sondern indirekt die nationalstaatliche Ordnung der Welt als solche infrage zu stellen – und somit eines der grundlegenden Orientierungsprinzipien der Moderne. Auch Étienne Balibar, einer der bedeutendsten Analytiker des (Neo-)Rassismus, deutet diese Spezifik an, sieht er doch im Antisemitismus eine „rassisierende Verfolgung einer absolut einmaligen Pseudo-Ethnie (ohne eigenes Territorium, ohne ‚National‘Sprache)“,9 wobei Juden und Jüdinnen als der „gemeinsame innere Feind aller Kulturen, aller beherrschten Populationen“10 gelten. Ähnlich wie Holz analysiert er „die Tatsache, daß ein rassischer Signifikant über die nationalen Unterschiede hinausgehen und ‚transnationale‘ Solidaritäten organisieren muß, um wiederum die Wirksamkeit des Nationalismus sicherzustellen“.11 Alle europäischen Nationalismen „haben auf diese Weise den gleichen Gegensatz, den gleichen ‚Vaterlandslosen‘ gehabt“.12 Um die Ordnung der Welt wiederherzustellen reicht dem Antisemiten am Ende nicht die Unterwerfung des „anderen“ – wie etwa im Kolonialrassismus, der dies auch ganz physisch gewaltvoll praktizierte –, sondern nur dessen Vernichtung. Es sind diese bedeutsamen Unterschiede, die es rechtfertigen, weiterhin vom Antisemitismus als einem spezifischen ideologischen Phänomen – und nicht nur einem „antijüdischen Rassismus“ – zu sprechen. Doch obwohl der Antisemitismus sich nicht auf den Rassismus reduzieren lässt und Letzterer umgekehrt auch kein „verallgemeinerter Antisemitismus“13 ist, lassen sich beide Phänomene doch nicht voneinander trennen. „Sie waren nie ganz unabhängig voneinander, sie sind nicht unveränderlich“,14 wie Balibar zu Recht feststellte, weder in ihrer Wesenhaftigkeit noch in ihren Funktionen oder ihrer Einbettung in die europäische Ideengeschichte.
History Never Repeats Denn trotz eines ideologischen Kerns unterliegen Vorurteilsformationen einem geschichtlichen Wandel. So war der Antisemitismus in bestimmten historischen Phasen primär ein antijüdischer Rassismus, etwa zu Beginn der großen Einwanderungswelle in die USA zwischen 1880 und 1920.15 Den Wandel zu einem „modernen“, das heißt weltbildhaften 9 Étienne Balibar 1992: Rassismus und Nationalismus. In: Ders. und Immanuel Wallerstein (Hg.): Rasse, Klasse, Nation. Ambivalente Identitäten (1989). 2. Aufl. Hamburg: Argument, 49–84, hier 67. 10 Ebd. 11 Ebd.: 78. 12 Ebd. 13 Étienne Balibar 1992: Gibt es einen „Neo-Rassismus“? In: Ders. und Immanuel Wallerstein (Hg.): Rasse, Klasse, Nation. Ambivalente Identitäten. Hamburg: Argument, 23–38, hier 32. 14 Balibar 1992: Rassismus und Nationalismus, 58. 15 Vgl. Sina Arnold 2016: Das unsichtbare Vorurteil. Antisemitismusdiskurse in der US-amerikanischen Linken nach 9/11. Hamburg: Hamburger Edition, 61–63.
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Antisemitismus durchlief er als gesamtgesellschaftliches Phänomen erst etwas später, wiewohl die entsprechenden Stereotype – etwa von Juden als Kapitalisten – und gesellschaftlichen Grundbedingungen – die Zeit der rapiden Industrialisierung und Urbanisierung mit den damit einhergehenden Krisenerscheinungen – bereits früher entstanden waren.16 Diese Entwicklung setzte sich in den 1930er- und 1940er-Jahren, der Hochphase des US-amerikanischen Antisemitismus, fort. Seit Ende des Zweiten Weltkriegs hingegen nahmen die – weiterhin auch rassifizierenden – Stereotypisierungen ab, Juden und Jüdinnen wurden in der Fremdwahrnehmung „weißer“.17 Ähnliche Wandelbarkeiten können für zahlreiche weitere Vorurteilsformationen festgestellt werden: Der aufflammende Rassismus gegenüber Belgier_innen im Deutschen Kaiserreich während des Ersten Weltkriegs, der mit kolonialen Bildern angefüllt war und bald wieder abflaute,18 oder die Vorstellungen von Ir_innen als „Nigger“ in den USA des 19. Jahrhunderts19 erinnern daran, dass Form, Inhalt wie Funktion bestimmter Stereotype sich ändern. Und neuere historische Ereignisse wie der Genozid an den Tutsi in Ruanda 1994 verweisen darauf, dass auch andere Opfergruppen von Vorurteilen getroffen werden können, die ihrer Struktur nach eher dem Antisemitismus als dem Rassismus ähneln,20 wie sie auch klar von zielgerichteter Annihilation betroffen waren. Die Rassismus- wie die Antisemitismusforschung stehen also unablässig vor der Herausforderung, Kontinuitäten herauszuarbeiten und gleichzeitig Wandel anzuerkennen, ohne dabei in eine Beliebigkeit der „1000 Rassismen“ zu verfallen.
New Order Diese Herausforderung und die mit ihr zusammenhängenden Schwierigkeiten bei der Bestimmung des Verhältnisses zwischen Antisemitismus und Rassismus bestehen insbesondere seit Anfang des gegenwärtigen Jahrtausends: Die Terroranschlägen auf das New Yorker World Trade Center am 11. September 2001 und der Beginn der Zweiten Intifada in den palästinensischen Autonomiegebieten im Jahr zuvor wurden Ausdruck 16 Vgl. Kristoff Kerl 2016: Männlichkeit und moderner Antisemitismus. Eine Genealogie des Leo Frank-Case, 1860er–1920er. Köln: Böhlau. 17 Karen Brodkin 1998: How Jews Became White Folks and What that Says about Race in America. New Brunswick: Rutgers University Press. 18 Vgl. Sebastian Bischoff 2018: Kriegsziel Belgien. Nationale Feindbilder und Annexionsdebatten in der deutschen Öffentlichkeit, 1914–1918. Münster, New York: Waxmann (im Druck). 19 Vgl. David Roediger 1991: The Wages of Whiteness. Race and the Making of the American Working Class. London, New York: Verso, 133. 20 Kolja Lindner 2010: Radikalisierte Identitäten. Der Genozid in Ruanda und seine (post-)koloniale Vorgeschichte. iz3w. 319, 34–37.
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ideologischer Veränderungen hin zu einem „Neuen Antisemitismus“,21 für den insbesondere „Israel-Kritik“ als Umwegkommunikation relevant wurde: ein von Dämonisierung, Delegitimierung und Doppelstandards gekennzeichneter Antizionismus, der die Grenzen politischer Kritik überschritt und zu einem geografisch verlagerten Antisemitismus mutierte. Gekennzeichnet war dieser „Neue Antisemitismus“ aber nicht nur durch neue inhaltliche Schwerpunkte, sondern auch durch neue Träger: Einerseits richtete sich die Aufmerksamkeit auf Länder mit mehrheitlich muslimischer Bevölkerung, vor allem im arabischen Raum, sowie auf Menschen mit muslimischem Migrationshintergrund in Europa; andererseits stand auch die politische Linke in der Kritik. Nicht ganz unverbunden mit der ersten Trägergruppe artikulierte sie teilweise einen Antisemitismus „im Namen des Anderen“.22 Ein Kristallisationspunkt war die UN-Weltkonferenz gegen Rassismus in Durban 2001,23 bei der mehrere Tausend NGOs in ihrer Abschlusserklärung Israel einseitig verurteilten und eine Atmosphäre schufen, die von manchen jüdischen Teilnehmenden als extrem feindselig beschrieben wurde.24 Sie verdeutlichte einen Trend dieses „Neuen Antisemitismus“, bei dem Antirassismus in Frontstellung gebracht wurde, um über ihn einen vermeintlich legitimen Judenhass auszudrücken:25 Über antiimperialistische und antikoloniale Argumentationsmuster wurde ein antisemitischer Antizionismus transportiert. Die veränderte weltpolitische Situation bot den Nährboden für eine Lagerbildung, eine Konkurrenz unterschiedlicher Konstellationen und Koalitionen. Virulent wird dies seit Anfang des Jahrtausends insbesondere in Bezug auf das Verhältnis zwischen Antisemitismus und antimuslimischem Rassismus, unterlagen doch beide signifikanten Veränderungen: Nach 9/11 kam der islamistische Terrorismus auch nach Europa, über Anschläge in Madrid, London, Paris, Berlin und anderswo. Gleichzeitig nahmen antisemitische Einstellungen und Straftaten zu und der Rechtspopulismus erstarkte europaweit. Beides führte dazu, dass viele Juden und Jüdinnen Angst haben. So zeigt eine aktuelle quantitative Umfrage unter 553 Juden und Jüdinnen in Deutschland, dass 78 Prozent der Befragten eine Zunahme von Antisemitismus wahrnehmen und 21 Doron Rabinovici, Ulrich Speck und Natan Sznaider (Hg.) 2004: Neuer Antisemitismus? Eine globale Debatte. Berlin: Suhrkamp. 22 Alain Finkielkraut 2004: Im Namen des Anderen. Reflexionen über den kommenden Antisemitismus. In: Doron Rabinovici, Ulrich Speck und Natan Sznaider (Hg.): Neuer Antisemitismus? Eine globale Debatte. Berlin: Suhrkamp, 119–132, hier 119. 23 Vgl. Monique Eckmann 2005: Antisemitismus im Namen der Menschenrechte? Migration, europäische Identitäten und die französische Diskussion. In: Hanno Loewy (Hg.): Gerüchte über die Juden. Antisemitismus, Philosemitismus und aktuelle Verschwörungstheorien. Essen: Klartext, 101–120. 24 Vgl. Joëlle Fiss 2008: The Durban Diaries. What Really Happened at the UN Conference against Racism in Durban (2001). American Jewish Committee. http://www.icare.to/THE%20DURBAN%20 DIARIES%20-%20by%20Joelle%20Fiss.pdf [24. November 2017]. 25 Vgl. Pierre-André Taguieff 2004: Rising from the Muck. The New Anti-Semitism in Europe. Chicago: Ivan R. Dee.
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83 Prozent einen weiteren Anstieg in den kommenden Jahren befürchten.26 Einer weiteren Studie zufolge wird bezweifelt, die eigene Zugehörigkeit zum Judentum offen vertreten zu können.27 Doch manche dieser Ängste, insbesondere in der nichtjüdischen Mehrheitsgesellschaft, finden auch pauschalisierend-rassistischen Ausdruck und nähren damit bestehende Ressentiments. Denn eine Zunahme an antimuslimischem Rassismus gibt es seit 9/11 nicht nur in den USA,28 sondern auch in Europa. In Deutschland verdeutlichte dies die öffentliche und mediale Debatte um Thilo Sarrazins Buch Deutschland schafft sich ab29 ebenso wie empirische Studien wiederholt die weit verbreiteten Ressentiments gegenüber Muslim_innen bestätigen.30 Dieser Anstieg an Vorurteilen gegenüber als jüdisch oder muslimisch wahrgenommenen Menschen wie auch die Tatsache, dass diese nicht nur von der Mehrheitsgesellschaft ausgingen, sondern ebenso innerhalb gesellschaftlicher Minderheiten bestehen, reihte sich in eine globale „Opferkonkurrenz“31 ein. In Europa ist ihre Grundlage die Verdrängung der eigenen Kolonialgeschichte und ihrer (postkolonialen) Kontinuitäten, während zugleich der Holocaust im Erinnerungsdiskurs einen zentralen Stellenwert einnimmt32 – das Resultat hat Peter Novick33 mit „Holocaustneid“ beziehungsweise „Holocaustbesitzgier“ beschrieben. Dies alles – der Anstieg des Antisemitismus wie auch des (antimuslimischen) Rassismus, der Islamismus wie auch die Opferkonkurrenz – findet seine Zuspitzung in der deutschen postmigrantischen Gesellschaft, die von einer Gemengelage sichtbarer neuer Akteure geprägt ist: Muslim_innen, die selbstbewusst öffentlich auftreten, etwa über (Jugend-)Organisationen wie JUMA – Jung Muslimisch Aktiv oder die Junge Islam Konferenz (JIK); (Post-)Migrant_innen, die über die „Neuen Deutschen Medienmacher“ oder die „Neuen Deutschen Organisationen“ in den gesellschaftlichen Diskurs intervenieren; antizionistische israelische Migrant_innen, die sich in Gruppen wie Jewish Antifa 26 Vgl. Andreas Zick, Andreas Hövermann, Silke Jensen und Julia Bernstein 2017: Jüdische Perspektiven auf Antisemitismus in Deutschland. Ein Studienbericht für den Expertenrat Antisemitismus. https://unibielefeld.de/ikg/daten/JuPe_Bericht_April2017.pdf, 13 [8. Dezember 2017]. 27 Vgl. Eliezer Ben-Rafael, Yitzhak Sternberg und Olaf Glöckner 2010: Juden und jüdische Bildung im heutigen Deutschland. Eine empirische Studie im Auftrag des L.A. Pincus Fund for Jewish Education in the Diaspora, 45. http://archive.jpr.org.uk/download?id=2652 [25. November 2017]. 28 Vgl. Louise Cainkar 2006: The Social Construction of Difference and the Arab American Experience. In: Journal of American Ethnic History. Jg. 25, Heft 2/3, 243–278. 29 Thilo Sarrazin 2010: Deutschland schafft sich ab. Wie wir unser Land aufs Spiel setzen. München: Deutsche Verlags-Anstalt. 30 Naika Foroutan, Coşkun Canan, Sina Arnold, Benjamin Schwarze, Steffen Beigang und Dorina Kalkum 2014: Deutschland postmigrantisch I. Gesellschaft, Religion, Identität. Erste Ergebnisse. Berlin: Humboldt-Universität zu Berlin, 30 f. 31 Jean-Michel Chaumont 2001: Die Konkurrenz der Opfer. Genozid, Identität und Anerkennung. Lüneburg: Zu Klampen. 32 Vgl. Edthofer 2015: 203. 33 Peter Novick 2001: Nach dem Holocaust. Der Umgang mit dem Massenmord. Stuttgart, München: Deutsche Verlags-Anstalt, 257.
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Berlin sammeln oder in der Bewegung Boycott, Divestment and Sanctions (BDS) gegen Israel in antirassistischen Zusammenhängen aktiv sind. Derlei Interventionen sind nicht neu – schon immer haben jene, die von Rassismus oder Antisemitismus betroffen waren, auch dagegen gekämpft. Aber die Pluralität der postmigrantischen Gesellschaft führt zu einer qualitativen Steigerung, während zugleich die Zunahme an Migration aufgrund von Flucht und der europäischen Wirtschaftskrise eine quantitative Steigerung mit sich bringt – im Jahr 2015 hatte die Nettozuwanderung in die Bundesrepublik Deutschland ihren historischen Höchststand erreicht.34
There’s Too Much Confusion Die postmigrantische Gesellschaft, so Naika Foroutan,35 ist von einer Zunahme nicht nur an Allianzen, sondern auch an Konflikten geprägt. Die damit einhergehende Konkurrenz um die Verteilung von Ressourcen und Anerkennung spielt sich ebenso in Bezug auf das Paar „Rassismus–Antisemitismus“ ab. Um nur zwei Phänomene herauszugreifen: Es gibt einen spezifischen „antirassistischen Antisemitismus“, der in linken sozialen Bewegungen sicherlich kein neues Phänomen ist,36 doch in der aktuellen Fluchtmigration besondere Sichtbarkeit gewonnen hat: Wenn etwa die Berliner Gruppe F.O.R. Palestine, die für die Abschaffung Israels eintritt und alle Formen palästinensischen Widerstands – einschließlich Messerattacken gegen israelische Zivilist_innen – legitimiert,37 die Anliegen Geflüchteter in eine Reihe mit dem Wunsch der Palästinenser_innen setzt – etwa in Aussagen wie „Solidarität mit Geflüchteten setzt Solidarität mit Palästina voraus. In Deutschland, in Palästina, und überall“38 –, dann bedeutet das nicht nur eine Instrumentalisierung des Kampfes Geflüchteter in Deutschland; es stellt auch eine antirassistische Engführung der Kategorie des „Flüchtlings“ dar.
34 Vgl. Statistisches Bundesamt 2016: 2015. Höchststände bei Zuwanderung und Wanderungsüberschuss in Deutschland. Pressemitteilung Nr. 246 vom 14.7.2016. https://www.destatis.de/DE/PresseService/Presse/Pressemitteilungen/2016/07/PD16_246_12421.html;jsessionid=4BCDB786F2F23 1930A858C9DBF3D64B5.InternetLive2 [13. November 2017]. 35 Vgl. Naika Foroutan 2016: Postmigrantische Gesellschaften. In: Heinz Ulrich Brinkmann und Martina Sauer (Hg.): Einwanderungsgesellschaft Deutschland. Entwicklung und Stand der Integration. Wiesbaden: Springer VS, 227–255. 36 Vgl. Arnold 2016: 224–228. 37 Vgl. die Stellungnahme „Über die Natur von Gewalt, Widerstand und Solidarität“. http://for-palestine.org/de/uber-die-natur-von-gewalt-widerstand-und-solidaritat/ [18. November 2017]. 38 Vgl. den Redebeitrag von F.O.R. Palestine auf einer Demonstration für die Rechte von Geflüchteten. http://for-palestine.org/de/redebeitrag-von-for-palestine-auf-dem-my-right-is-your-right-carnival/ [18. November 2017].
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Spiegelbildlich dazu gibt es einen „anti-antisemitischen Rassismus“: wenn also aus der – tatsächlichen oder vermeintlichen – Motivation heraus, Antisemitismus zu bekämpfen, Rassismus reproduziert wird. So behauptete die ehemalige AfD-Vorsitzende Frauke Petry, ihre Partei sei „einer der wenigen politischen Garanten jüdischen Lebens auch in Zeiten illegaler antisemitischer Migration nach Deutschland“.39 Derlei Argumentationsformen gehen von in sich geschlossenen Kollektiven aus, sie missachten die Vielfalt jüdischen, muslimischen oder/und migrantischen Lebens. Antirassismus und Anti-Antisemitismus bedeuten nun nicht, dass man in „dem anderen“ einen besseren Menschen sieht: Natürlich gibt es Geflüchtete, die antisemitische Einstellungen haben, wie erste empirische Studien bestätigen.40 Und natürlich gibt es Juden und Jüdinnen, die einen Nährboden für Rassismus bereiten, wie es etwa der Vorsitzende des Zentralrats der Juden, Josef Schuster, tat, als er 2015 eine Obergrenze für Geflüchtete forderte.41 Postmigrantische Allianzen würden dem gegenüber bedeuten, für Herrschaftsverhältnisse in ihrer Intersektionalität sensibel zu sein, aber nicht in einen Paternalismus zu verfallen, der den Konflikt scheut. „Was mir fehlt, ist, dass man einfach zusammen politisch arbeiten kann“, drückte ein 29-jähriger Syrer in einer an der Humboldt-Universität zu Berlin durchgeführten Studie diese Kritik und seinen Wunsch aus.42 Doch der antirassistisch motivierte Antisemitismus wie auch der anti-antisemitisch motivierte Rassismus ergeben sich nicht nur aus falschen Verallgemeinerungen, sondern sie erfüllen teilweise auch Funktionen innerhalb der deutschen Gesellschaft. Mit Astrid Messerschmidt43 kann man hier von einer doppelten Projektion nach „außen“ und nach „innen“ sprechen: „Mit dem Verweis auf die israelischen Herrschaftspraktiken gegenüber Palästinensern, Libanesen und anderen erledigt sich die eigene Geschichte des Antisemitismus dadurch, dass dessen Opfer als Täter erscheinen, und die eigene Geschichte des Kolonialismus erledigt sich dadurch, dass anderen koloniale Praktiken zugeschrieben werden können. Das Gegenstück zu dieser Projektion nach außen bildet eine Projektion 39 Matthias Kamann 2017: AfD ist einer der wenigen Garanten jüdischen Lebens. Welt, 6.4.2017. https://www.welt.de/politik/deutschland/article163446354/AfD-ist-einer-der-wenigen-Garantenjuedischen-Lebens.html [24. November 2017]. 40 Vgl. Sina Arnold und Jana König 2016: Flucht und Antisemitismus. Qualitative Befragung von Expert_innen und Geflüchteten. Erste Hinweise zu Erscheinungsformen von Antisemitismus bei Geflüchteten und mögliche Umgangsstrategien. Expertise für den Unabhängigen Expertenkreis Antisemitismus des Deutschen Bundestages. https://www.bim.hu-berlin.de/media/Abschlussbericht_Flucht_und_Antisemitismus_SA_JK.pdf [29. November 2017]. 41 Vgl. Jacques Schuster 2015: Wir werden um Obergrenzen nicht herumkommen. Welt, 23.11.2015. https://www.welt.de/politik/deutschland/article149136577/Wir-werden-um-Obergrenzen-nichtherumkommen.html [24. November 2017]. 42 Arnold und König 2016: 35. 43 Astrid Messerschmidt 2008: Postkoloniale Erinnerungsprozesse in einer postnationalsozialistischen Gesellschaft. Vom Umgang mit Rassismus und Antisemitismus. PERIPHERIE. Jg. 28, Heft 109/110, 42–60, hier 52.
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im Inneren der nationalen Ordnung, wenn versucht wird, den nach wie vor vorhandenen Antisemitismus in der deutschen Gesellschaft an Minderheiten festzumachen und den ‚Fremden‘ eine historisch unaufgeklärte Haltung zu unterstellen. Dabei können die in der deutschen Einwanderungsgesellschaft wirksamen Spaltungen von ‚wir‘ (einheimische Deutsche) und ‚ihr‘ (Migranten) zur Abwehr einer kritischen Selbstreflexion eingesetzt werden.“44 Diese Dynamik ist besonders deshalb relevant, weil Rassismus und Antisemitismus weiterhin vor allem Probleme der Mehrheitsgesellschaft und der extremen Rechten, also von Deutschen, sind. Von 681 antisemitischen Straftaten im ersten Halbjahr 2017 wurden 632 von Rechten begangen.45 Dem gegenüber wurden 2016 lediglich zwölf antisemitische Delikte registriert, bei denen die Tatverdächtigen Asylbewerber_innen waren.46 Die Zustimmungswerte zu Antisemitismus in der sogenannten Mitte der Gesellschaft bleiben unverändert hoch: Bis zu dreißig Prozent der Bevölkerung stimmen sekundär-antisemitischen und etwa zehn Prozent primär-antisemitischen Aussagen zu. Und das Einverständnis mit israelbezogenem Antisemitismus liegt bei mehr als zwanzig Prozent.47
There Must Be Some Kind of Way Outta Here48 Gegenüber den abgegrenzten Zuständigkeiten in sozialen Bewegungen und im öffentlichen Diskurs bedürfte es also neuer Allianzen, die das Konkurrenzdenken durchbrechen. Neben aktivistischen Allianzen sind aber auch solche analytischer Art in der Antisemitismus- und der Rassismusforschung vonnöten. Denn die politische Brisanz und die oben erwähnten unterschiedlichen Theorietraditionen führen nicht zuletzt in universi44 Ebd. Vgl. auch Esra Özyürek 2016: Export-Import Theory and the Racialization of Anti-Semitism. Turkish- and Arab-Only Prevention Programs in Germany. Comparative Studies in Society and History. Jg. 58, Heft 1, 40–65. 45 Tagesschau 2017: Bundesinnenministerium. Zahl antisemitischer Delikte steigt an. https://www.tagesschau.de/inland/antisemitismus-deutschland-101.html [24. November 2017]. 46 N.N. 2017: Israels neuer Botschafter besorgt über neuen Antisemitismus. Migazin. 29.11.2017. http://www.migazin.de/2017/11/29/israels-neuer-botschafter-besorgt-ueber-wachsenden-antisemitismus/?utm_source=wysija&utm_medium=email&utm_campaign=MiGAZIN+Newsletter [29. November 2017]. 47 Elmar Brähler, Oliver Decker und Johannes Kiess 2016: Die enthemmte Mitte. Autoritäre und rechtsextreme Einstellungen in Deutschland. https://www.boell.de/de/2016/06/15/die-enthemmte-mittestudie-leipzig, 35 [8. Dezember 2017]; dies. 2014: Die stabilisierte Mitte. Rechtsextreme Einstellung in Deutschland. https://www.amadeu-antonio-stiftung.de/w/files/pdfs/mitte_leipzig_internet.pdf, 35 [8. Dezember 2017]; Anna Klein und Andreas Zick 2014: Fragile Mitte – feindselige Zustände. Rechtsextreme Einstellungen in Deutschland. Bonn: Dietz, 73, 80. 48 Ich danke Jana König für inspirierende Diskussionen zu dieser Frage.
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tären und außeruniversitären Analysen zu Verkürzungen und Ungenauigkeiten, die in aktuelleren Debatten um antimuslimischen Rassismus umso deutlicher werden.49 In diesen werden einerseits Antisemitismus und (antimuslimischer) Rassismus gleichgesetzt, wenn etwa der Antisemitismusforscher Wolfgang Benz meint: „Das Feindbild der Juden wird heute durch das Feindbild der Muslime ersetzt“50 oder der Autor und Rabbinerstudent Armin Langer behauptet: „Muslime sind die neuen Juden“.51 Der Historiker Enzo Traverso konstatiert eine „Metamorphose” von der Judeo- zur Islamophobie:52 „Today, racism has changed its form and its targets: the Muslim immigrant has replaced the Jew“.53 Andererseits gibt es Autor_innen, die von einer grundsätzlichen wesenhaften Unterschiedlichkeit ausgehen.54 Beide Behauptungen sind empirisch nicht haltbar, aber das „Dazwischen“ muss einer genauen und unpolemischen Analyse unterzogen werden. Dabei gibt es neben den genannten strukturellen und historischen Unterschieden auch zahlreiche diskutierbare Gemeinsamkeiten: etwa einen historischen Orientalismus, der sowohl Juden und Jüdinnen als auch Muslim_innen als Bedrohung des christlichen Abendlandes sah,55 aktuelle Verschiebungen im Feindbild „der Muslime“, die über die Themen innere Sicherheit und Demografie („Geburten-Djihad“56) auch zum „inneren Feind“ werden, und die Vorstellung einer „stillen Islamisierung“,57 die durchaus Bilder einer die westlichen Gesellschaften zersetzenden Zerstörung nähren. Und aktuelle empi49 Vgl. Edthofer 2015. 50 Deutscher Bundestag 2013: Feindbild der Juden durch Muslime ersetzt. https://www.bundestag.de/ dokumente/textarchiv/2013/44867985_kw20_lesung_morgenland/212454 [24. November 2017]. Vgl. auch Farid Hafez 2012: Antisemitismus und Islamophobie. Ein Nachwort mit Anmerkungen. In: Ders. (Hg.): Jahrbuch für Islamophobieforschung. Wien: New Academic Press, 215–223. Für eine differenzierte Ausführung vgl. Wolfgang Benz 2011: Antisemitismus und „Islamkritik“. Bilanz und Perspektive. Berlin: Metropol. Für weitere Beispiele der direkten Gleichsetzung im akademischen und öffentlichen internationalen Diskurs vgl. Pascal Bruckner 2015: Antisemitism and Islamophia. The Inversion of the Debt. In: Alvin H. Rosenfeld (Hg.): Deciphering the New Antisemitism. Bloomington: Indiana University Press, 7–20, hier 12–14. 51 Armin Langer 2014: Muslime sind die neuen Juden. Der Tagesspiegel, 9.9.2014. http://www.tagesspiegel.de/politik/rassismus-und-antisemitismus-in-deutschland-muslime-sind-die-neuen-juden/10669820.html [24. November 2017]. 52 Vgl. Enzo Traverso 2016: The End of Jewish Modernity. London: Pluto Press. 53 Ders. 2016: Islamophobia. The New Western Racism. https://www.plutobooks.com/blog/islamophobia-the-new-western-racism/ [24. November 2017]. 54 Vgl. Gideon Botsch, Olaf Glöckner, Christoph Kopke und Michael Spieker (Hg.) 2012: Islamophobie und Antisemitismus – ein umstrittener Vergleich. Berlin, Boston: de Gruyter, 1–10; David Cesarini 2009: Why Muslims Are Not the new Jews. The Jewish Chronicle. 22.10.2009. https://www.thejc.com/ why-muslims-are-not-the-new-jews-1.11966 [18. November 2017]. 55 Vgl. James Renton und Benjamin Gidley (Hg.) 2017: Antisemitism and Islamophobia in Europe. A Shared Story? London: Palgrave Macmillan. 56 Yasemin Shooman (2008): Islamfeindschaft im World Wide Web. In: Wolfgang Benz (Hg.): Jahrbuch für Antisemitismusforschung 17. Berlin: Metropol, 69–96, hier 91. 57 Ebd.: 95.
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rische Studien deuten darauf hin, dass „die Muslime“ als Feindgruppe nicht nur entlang ethnisierter, sondern ebenfalls entlang nationaler Grenzen wahrgenommen werden.58 Theoretische Genauigkeit in der Analyse wäre also eine dringend gebotene Konsequenz aus der Konkurrenzstellung. Diese aber muss sich in der empirischen Analyse von Antisemitismus beziehungsweise Rassismus in diversifizierten Migrationsgesellschaften beweisen, wobei es hier durchaus zu wechselseitigen Bereicherungen kommen kann. Ein Beispiel: In öffentlichen wie wissenschaftlichen Diskussionen wird oft pauschalisierend von einem „muslimischen“ Antisemitismus gesprochen, die Erkenntnisse aus empirischen Forschungen über die Einstellungen deutscher Muslim_innen werden anschließend auf Geflüchtete übertragen. Der Rassismus gegenüber deutschen Muslim_innen und gegenüber gerade angekommenen – muslimischen oder nichtmuslimischen – Geflüchteten hat aber unterschiedliche Effekte: Erstere werden immer und immer wieder aus dem „deutschen Wir“ herausdefiniert. Ihr Antisemitismus hat, neben ideologischen Ursachen wie etwa salafistischen Einflüssen, gerade unter Jugendlichen manchmal auch den Effekt der Selbstethnisierung, Identitätsstabilisierung und Provokation.59 Geflüchtete aber sind von anderen Effekten des deutschen Rassismus betroffen: Vor dem Hintergrund eines prekären Aufenthaltsstatus und eines damit oft einhergehenden Integrationswunsches können sie sich vergleichbare Provokationen (noch) nicht leisten, und ohne Pass sind sie tatsächlich noch kein Teil des „Wir“. Bei ihnen wird sich Antisemitismus eher vorsichtig, über Umwege äußern, denn auch empirisch zeigt sich, dass es durchaus eine Sensibilität für die existenten Stereotype von Geflüchteten als Antisemit_innen gibt.60 Das Wissen über die Funktion des jeweiligen Rassismus hilft bei der Einordnung antisemitischer Aussagen. Das ist nicht unbedingt relevant für ihre Sanktionierung, wohl aber für die Einordnung der Motivation und somit für pädagogische Interventionen und Bildungsprogramme. Ein zweites Beispiel: Der in der aktuellen Rassismusforschung weithin vertretene Zugang der critical whiteness basiert auf den Prinzipien von Definitionsmacht und Identitätspolitik. Trotz damit einhergehender problematischer Konsequenzen61 lässt sich daraus doch eines lernen: Der Fokus auf die Sichtweise von Betroffenen, die Akteurszentriertheit wurde in der Arbeit zu Antisemitismus oft vernachlässigt. Mehr als die Rassismusforschung konnte die Antisemitismusforschung und -präventionsarbeit 58 Vgl. Foroutan, Canan, Arnold, Schwarze, Beigang und Kalkum 2014: 32–42. 59 Vgl. Sina Arnold und Günther Jikeli 2008: Judenhass und Gruppendruck. Zwölf Gespräche mit jungen Berlinern palästinensischen und libanesischen Hintergrunds. In: Wolfgang Benz (Hg.): Jahrbuch für Antisemitismusforschung 15. Berlin: Metropol, 105–128, hier 120. 60 Vgl. Arnold und König 2016: 28. 61 Vgl. Juliane Karakayali, Vassilis S. Tsianos, Serhat Karakayali und Aida Ibrahim 2012: Decolorise it! Diskussion. Die Rezeption von Critical Whiteness hat eine Richtung eingeschlagen, die die antirassistischen Politiken sabotiert. https://www.akweb.de/ak_s/ak575/23.htm [24. November 2017].
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fälschlicherweise ohne Juden und Jüdinnen agieren. Dies wurde gerade in den letzten Jahren in Arenen wie der Universität, Expertenkommissionen und Studien zunehmend und zu Recht infrage gestellt, die Auseinandersetzungen in und um die critical race studies können hier, mit Vorsicht genossen, durchaus ein Vorbild sein. Befruchtungen gäbe es aber auch in die andere Richtung, also von der Antisemitismus- zur Rassismusforschung. Denn erstens findet Forschung zu Rassismus in Deutschland immer in einer postnazistischen Gesellschaft statt. Paradigmen aus der aktuellen Rassismusforschung, insbesondere critical whiteness, haben eine neue Perspektive in diese eingebracht. Doch die damit verbundenen Schwierigkeiten rühren unter anderem aus der Unmöglichkeit der direkten Theorieübertragung auf deutsche Verhältnisse: Die „color line“62 in Deutschland verlief, anders als in den USA, nie primär zwischen „Schwarz“ und „Weiß“, sondern zeitweise vor allem zwischen „Arisch“ und „Nichtarisch“. Um Rassismus in Deutschland zu verstehen muss der Antisemitismus verstanden werden. Zweitens könnten auch die grundlegenden Erkenntnisse der Kritischen Theorie die Analyse des aktuellen Rassismus bereichern. „Der Antisemitismus beruht auf falscher Projektion“, so Horkheimer und Adorno,63 er bedarf keiner Erfahrung. Dem Wahnhaften und der Irrationalität verleiht er vielmehr eine Schein-Rationalität. So wenig wie der Antisemitismus etwas mit dem Verhalten von realen Juden und Jüdinnen zu tun hat, so wenig braucht der Rassismus die realen Muslim_innen. Diese grundlegende sozialpsychologische Erkenntnis würde nicht nur in die Forschung, sondern auch in öffentliche Diskussionen, in denen zur Erklärung von Rassismus nach der Anzahl an Kopftuchträgerinnen, Sozialhilfeempfänger_innen oder Kriminellen unter „den Muslimen“ gefragt wird, eine wichtige Perspektive bringen. Denn sie lenkt den Blick auf die projektiven Motivationen der Täter_innen, nicht auf das Verhalten der Betroffenen. Im politisch-praktischen Raum gibt es mindestens zwei weitere Punkte, bei denen an der Erfahrung mit Antisemitismus(-prävention) angeknüpft werden kann: Zum einen existiert ein öffentliches Bewusstsein für historischen Antisemitismus, welches in Form einer „multidirektionalen Erinnerung“64 nicht nur zu Konkurrenz, sondern auch zu mehr Sichtbarkeit gegenüber historischem Rassismus führen kann – wenn etwa deutschtürkische Jugendliche durch die Auseinandersetzung mit der Shoah beginnen, in ihren Familien auch über den Genozid an den Armenier_innen zu sprechen.65 Zum anderen 62 W.E.B. Du Bois 1994: The Souls of Black Folk (1903). Minela: Dover Publications. 63 Max Horkheimer und Theodor W. Adorno 2001: Dialektik der Aufklärung (1944). Frankfurt a.M.: Fischer, 196. 64 Michael Rothberg 2009: Multidirectional Memory. Remembering the Holocaust in the Age of Decolonization. Stanford: Stanford University Press. 65 Vgl. Sina Arnold und Jana König 2018: „The whole world owns the Holocaust“. Erinnerungspolitik in der postmigrantischen Gesellschaft. In: Naika Foroutan, Juliane Karakayali und Riem Spielhaus (Hg.): Postmigrantische Perspektiven. Frankfurt a.M.: Campus (im Druck).
Which Side Are You On?
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ist Antisemitismus oftmals keine isolierte Denkform. Das völkische, autoritäre Weltbild des Nationalsozialismus war auch von Rassismus gegenüber anderen Minderheiten geprägt. Den Antisemitismus – zumindest in seiner rechtsextremen Spielart – zu verstehen bedeutet unter anderem, Kontinuitäten dieses Weltbildes zu verstehen. Sie fanden ihren Ausdruck etwa in der rechtsterroristischen Mordserie des Nationalsozialistischen Untergrunds (NSU).66 Antisemitismus ist ein Element eines geschlossenen rechtsextremen Weltbildes, welches immerhin 5,4 Prozent der deutschen Bevölkerung haben.67 Die Notwendigkeit aktivistischer wie akademischer Allianzen in den Themenbereichen Antisemitismus/Rassismus, so hat dieser Artikel herausgearbeitet, ist von Schwierigkeiten geprägt. Ihre Überwindung ist angesichts aktueller gesellschaftlicher Entwicklungen dringend geboten: Denn die postmigrantische Gesellschaft beinhaltet, dass Menschen sowohl antisemitische Äußerungen treffen als auch von Rassismus betroffen sein können, und umgekehrt. Hybride Mehrfachzugehörigkeiten und plurilokale Bindungen sind eine Selbstverständlichkeit in dieser Gesellschaft. Hier Haltungen statt Herkunft in den Mittelpunkt zu stellen, bei gleichzeitiger Sensibilität für die Verstrickung in unterschiedliche Herrschaftsverhältnisse, ist zentral für Verständnis wie Bekämpfung unterschiedlicher Vorurteile. Neue Allianzen werden besonders relevant nicht nur seit dem Sommer 2015, sondern auch durch die Situation zwei Jahre danach: Das erste Mal seit den 1950er-Jahren ist eine Partei, die nationalsozialistische Inhalte vertritt, in den Bundestag eingezogen. Ihr antimuslimischer Rassismus ist offenkundig, ihr Antisemitismus halbwegs codiert,68 doch betrachtet sie beide kulturell-religiösen Minderheiten als Gegensätze ihres deutschnationalen Projektes. Die AfD ist damit die parlamentarische Stimme von rechtsextremen Gruppen, die – wie etwa der NSU – ebenfalls weiterhin den Rassismus und den Antisemitismus als tragende Ideologien vertreten. Diesem doppelten Angriff auf die Gesellschaft der Vielen kann nur doppelt und gleichzeitig gemeinsam begegnet werden, im Aktivismus wie in der Akademie.
66 Die Rolle des Antisemitismus im Weltbild des NSU wurde öffentlich allerdings kaum thematisiert. Vgl. Bayerischer Rundfunk 2015: NSU-Terror und Antisemitismus. Interview mit Prof. Hajo Funke. http://www.br.de/interkulturell/nsu-antisemitismus-funke-100.html [24. November 2017]. 67 Vgl. Brähler/Decker/Kiess 2016: 48. 68 Vgl. Belltower News 2017: Die AfD und der Antisemitismus. Teil 1. http://www.belltower.news/ artikel/die-afd-und-der-antisemitismus-–-teil-1-12285 [24. November 2017].
Rassismus, Kulturkonflikt und die Neuerfindung öffentlicher Räume
Ein Interview mit Nilüfer Göle
Nilüfer Göle, geboren in der Türkei, ist Professorin für Soziologie an der École des Hautes Études en Sciences Sociales (EHESS) in Paris. Zu ihren jüngsten Publikationen gehört: Europäischer Islam. Muslime im Alltag.
In Deutschland haben sich die Sozial- und Kulturwissenschaften vom Begriff der „Rasse“1 zunehmend verabschiedet. Es gibt sogar Bemühungen, ihn auch aus Gesetzestexten, etwa aus dem Antidiskriminierungsparagrafen des Grundgesetzes, zu streichen. Glauben Sie, vor dem Hintergrund Ihrer internationalen Erfahrungen, dass die völlige Vermeidung des Rassenbegriffs der richtige Weg ist, um Rassismus zu bekämpfen? Begriffe haben ihre eigene Geschichte, ihren eigenen Lebensweg; sie entstehen in einer bestimmten historischen Situation, werden Teil der sozialwissenschaftlichen Sprache, nehmen mehrere Bedeutungsebenen an, prägen unser Handeln und unsere Gesetze, greifen auf andere Kontexte über – und dann können sie auch verschwinden oder überwunden werden. Dennoch folgt die Lebensgeschichte von Begriffen keinem evolutionären Prozess der „natürlichen Selektion“. Die Idee, den Rassenbegriff aus Gesetzestexten und offiziellen Dokumenten zu löschen, zeigt gerade, dass die Begriffe, die wir benutzen, zum fortlaufenden Machtkampf in unseren Gesellschaften gehören. Wie die Begriffsgeschichte in der Tradition Reinhart Kosellecks lehrt, können wir die Politik und das Selbstbild einer Gesellschaft ohne eine Geschichte ihrer Grundbegriffe 1 Das Interview mit Nilüfer Göle wurde in englischer Sprache geführt. Daher war in dem Interview stets von race die Rede und die Antworten von Nilüfer Göle beziehen sich auf die Begriffsgeschichte des angloamerikanischen Begriffes race, dessen Bedeutung mit dem Begriff der „Rasse“ im Deutschen nicht übereinstimmt. Zu den unterschiedlichen Begriffsgeschichten beider Wörter und den daraus resultierenden Schwierigkeiten der Übersetzung und des Verständnisses vgl. ausführlich das Interview mit Jakob Tanner in diesem Band. Zur Begriffsgeschichte des Rassebegriffs im Deutschen vgl. den Aufsatz von Christian Geulen in diesem Band.
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Ein Interview mit Nilüfer Göle
und ihrer verschiedenen Bedeutungsschichten nicht verstehen. So müssen wir uns daran erinnern, dass die Begriffe „race“, „class“ und „gender“ auch in enger Beziehung zu Emanzipationsbewegungen von Kolonialismus, Kapitalismus und Patriachat ihre Bedeutungen entwickelt haben. Sie fanden Eingang in die sozialwissenschaftliche Literatur, prägen unser öffentliches Bewusstsein und beeinflussen Mentalitäten, Werte und Rechtsetzungen. Sie meinen also, dass der Begriff der „Rasse“ (race) seine Geschichte nicht nur in den Rechtfertigungsdiskursen von Gewalt und Unterdrückung vermeintlich minderwertiger „Rassen“ (races) hatte, sondern überdies durch eine umdeutende Aneignung in den Emanzipationsdiskursen der Unterdrückten genutzt wurde und dass mit dem Verschwinden des Begriffs eben diese Geschichte auch in Vergessenheit zu geraten droht? Ja, in vielen Fällen spielte die Kategorie „Rasse“ (race) eine zentrale Rolle bei der Veränderung von Machtverhältnissen zwischen den Kolonien und dem Westen; sie half bei der Entwicklung eines kritischen Denkens gegen Kolonialismus und Sklaverei und veränderte schließlich auch das Selbstbild westlicher Bildungsbürger. Ein grober historischer Überblick zeigt, dass der koloniale Rassismus zunächst die Unterscheidung der Menschheit in höher- und minderwertige „Rassen“ (races) einführte, den Unterschied zwischen den Zivilisierten und Barbaren. Auf dieser Grundlage bedeutete Kolonialpolitik andauernde Gewalt durch Zwangsarbeit und Sklaverei. Das Werk Frantz Fanons war wegweisend dabei, die scheinbar objektive Kategorie der „Rasse“ (race) in das kritische Studium des Rassismus zu transformieren.2 Fanon verstand Rassismus als Sozialstruktur, die das Diskriminierungsverhältnis zwischen Herr und Knecht bestimmt und dabei sowohl beim Kolonisator als auch beim Kolonisierten ein gespaltenes Bewusstsein produziert, wenngleich in unterschiedlicher Weise. Die Intellektuellen, Schriftsteller und Dichter der afrikanischen Diaspora, die in den 1930er-Jahren in Paris lebten, entwickelten einen neuen Stil des antikolonialen Denkens, eine négritude-Bewegung, um das Stigma von Leib und Seele auszudrücken. Bekannte Personen und Stichwortgeber dieser Bewegung, wie Aimé Césaire und Léopold Sédar Senghor, betonten die Notwendigkeit, das Faktum der „Schwarzheit“ anzuerkennen – als einzigen Weg, eine Dekolonisierung des Geistes zu erreichen.3 Diese Intellektuellen kritisierten tiefgreifend die etablierten Rassenkategorien des westlichen Narrativs von der Unterscheidung zwischen Barbaren und Zivilisierten und sie suchten nach einem 2 Vgl. Frantz Fanon 1981: Die Verdammten dieser Erde (1961). Frankfurt a.M.: Suhrkamp; ders. 1985: Schwarze Haut, weiße Masken (1952). Frankfurt a.M.: Suhrkamp. 3 Vgl. etwa Aimé Cesaire 1968: Über den Kolonialismus (1950). Berlin: Wagenbach; Léopold Sédar Senghor 1967: Négritude und Humanismus (1964). Düsseldorf, Köln: Diederichs.
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neuen Verhältnis zu ihren afrikanischen Ursprüngen, zur afrikanischen Geschichte und Literatur. Ich glaube, dass diese Verwandlung der pejorativen Kategorie nègre in die affirmative Form der négritude ein revolutionärer Schritt war. Die Umkehrung des Stigmas wurde zum zeitgenössischen Modus einer Selbstermächtigung, die von vielen anderen Bewegungen im Kampf gegen Diskriminierung und Ausschluss geteilt wurde. Wenn im Diskurs über Rassismus der Begriff „Rasse“ (race) heute zunehmend verschwindet oder vermieden wird, welcher andere Begriff tritt mit einer ähnlichen Funktion dann an seine Stelle? Wir können beobachten, wie die Kategorien der „Rasse“ (race) und des Rassismus die Wissensfelder insbesondere der Anthropologie, Soziologie und Biologie verändert haben. Étienne Balibar etwa spricht von einem epistemologischen Bruch in der Anthropologie, insofern die Kategorie der „Rasse“ (race) heute von einer „objektiven, natürlichen“ Kategorie in eine soziokulturelle verwandelt werde.4 Zudem war der Rassendiskurs selbstverständlich nicht auf die koloniale Erfahrung begrenzt, sondern erreichte im Rassenhass und Antisemitismus der Nazis ein völkervernichtendes Level. Seitdem kommt dem Antirassismus eine zentrale Funktion in sozialen Auseinandersetzungen zu. Bisweilen scheint er, gemeinsam mit dem Menschenrechtsdiskurs, alle Arten von Diskriminierung in modernen Gesellschaften auf einmal erfassen zu wollen. In der Gegenwart aber ist der Rassenbegriff in der Tat ein zunehmend „unerwünschter“ Terminus; und zugleich geraten antirassistische Diskurse unter Druck. Das hat auch damit zu tun, dass die westlichen Demokratien derzeit ihre Form der Identitätsbildung verändern. Nicht mehr ihre laufende Selbstkritik, sondern die affirmative Anerkennung ihrer eigenen Identität, bis hin zu derjenigen einer „weißen Überlegenheit“, wird derzeit wieder populärer. Ich glaube daher, dass der heutige Drang zur „Überwindung“ des Rassenbegriffs keinem „natürlichen“ Prozess der Entstehung und des Verschwindens von Begriffen entspricht, sondern eine radikale Wende anzeigt, eine Verschiebung in der Art und Weise, in der europäische Gesellschaften ihre Identität ausbilden und dabei ihre Beziehung zu anderen definieren. Im letzten Jahrzehnt wurden wir in vielen westlichen Gesellschaften Zeuge einer populären Kritik am Kulturrelativismus und der vielfachen Behauptung eines Scheiterns des Multikulturalismus, meist gefolgt von einem Aufruf zur neuen Wertschätzung der eigenen ethnonationalen Überlegenheit. Vor allem diejenigen, die einen neuen Nativismus verteidigen, bekämpfen das Konzept des Rassismus, denn sie sehen es als etwas an, das ihre freie Meinungsäußerung behindert, als Teil einer 4 Étienne Balibar 1992: Gibt es einen „Neo-Rassismus“? In: Ders. und Immanuel Wallerstein (Hg.): Rasse, Klasse, Nation. Ambivalente Identitäten. Hamburg: Argument, 23–38.
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hegemonialen, ihnen von liberalen Intellektuellen auferlegten „politischen Korrektheit“. Unter diesen Neuen Rechten finden sich auch ehemalige Linke. Die italienische Journalistin Oriana Fallaci etwa war eine der Ersten, die eine grundlegende Kritik an der „Toleranz der Intellektuellen“ formulierte. In ihrem Buch Die Wut und der Stolz, das kurz nach den New Yorker Anschlägen vom 11. September 2001 erschien, argumentierte sie, dass der Westen sich durch Intellektuelle und deren Klage über Kolonialismus und Rassismus nicht einschüchtern und sich keinen Minderwertigkeitskomplex einreden lassen solle.5 In Deutschland führte das Buch Thilo Sarrazins 2010 zu einer ähnlichen Debatte. Sarrazin, ein Repräsentant des sozialdemokratischen Establishments, kündigte auf der Grundlage seiner kulturellen Vorurteile gegen türkische Migranten und arabische Gemeinden alarmistisch den baldigen Untergang Deutschlands an.6 Sein Buch wurde ein Bestseller und für viele lag sein Erfolg darin, dass er den eigenen „Mut“ stilisierte, mit dem er Tabus im Migrationsdiskurs durchbrach und dafür sogar das Risiko in Kauf nahm, als Rassist zu gelten. Seine Popularität beruhte vor allem auf diesem Tabubruch und zugleich waren die Rassismusvorwürfe gegen ihn weit weniger wirksam, als dies wohl noch vor wenigen Jahrzehnten der Fall gewesen wäre. Rückblickend, denke ich, stellen wir also fest, dass die kritische Verwendung der Kategorien „Rasse“ (race) und Rassismus gegenüber neuen Formen der Diskriminierung und der Reproduktion von Stereotypen an Boden verlieren. Seit dem 11. September 2001 wird der radikale Islamismus im Westen oft als wachsende globale Gefahr und Bedrohung porträtiert, was bisweilen zu Formen des Antiislamismus führt, die als eine Art Kulturrassismus erscheinen. Muss dies als Überreaktion auf terroristische Angriffe gedeutet werden oder zeigt sich hier ein tieferer Strukturwandel in unserer Wahrnehmung von Kulturkonflikten? Die Angst vor dem Islam hat im Westen viele Gesichter. Sie hat zunächst mit den terroristischen Angriffen zu tun, die seit dem 11. September 2001 nicht abreißen: in Madrid, Istanbul, London, Paris, Nizza, Berlin, doch ebenso in mehrheitlich muslimischen Ländern wie jüngst in Ägypten. Dieser Terror ist ein globales Phänomen geworden. Die Ziele solcher terroristischen Angriffe sind öffentliche Räume: Räume des Gottesdienstes oder auch Räume der Freizeit, Konzerthallen, Stadien, Strände, Terrassen und Cafés, Arbeitsräume, Banken, Einkaufszentren, öffentliche Verkehrsmittel, Märkte. Alle Einwohner moderner Städte, ohne Ausnahme und inklusive der Migranten und Touristen, sind Ziele des Terrorismus. Das bedeutet, dass die Sicherheitspolitik zum primären 5 Vgl. Oriana Fallaci 2002: Die Wut und der Stolz (2001). München: List. 6 Vgl. Thilo Sarrazin 2010: Deutschland schafft sich ab. Wie wir unser Land aufs Spiel setzen. München: Deutsche Verlags-Anstalt.
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Kriterium erfolgreicher Regierungsarbeit in den westlichen Gesellschaften wird. In der Praxis impliziert diese Sicherheitspolitik wiederum den Einsatz selektiver Überwachungsmethoden, die die Menschen nach ethnischem Ursprung, Gesichtszügen und „rassischen“ Eigenschaften unterscheiden. Mit anderen Worten: Ausgerechnet die Sicherheitspolitik operiert mit Techniken der Identifizierung und Diskriminierung von „Rasse“ (race), Religion und Ethnizität. So wissen wir aus den Statistiken, dass jene, die angeblich nur nach dem Zufallsprinzip kontrolliert werden, häufig Personen mit Migrationshintergrund sind. Die Gefahr dabei besteht in einer Verallgemeinerung der Angst vor dem Islam, darin, dass jeder Muslim als potenzieller Agent der Radikalisierung und des Terrorismus verdächtigt wird. In dieser Verschmelzung von Islam und Terrorismus, von einer kleinen Gruppe Terroristen und der Mehrheit muslimischer Migranten liegen die Wurzel antiislamistischer Gefühle und der Keim eines kulturellen Rassismus. Bislang versagen die westlichen Gesellschaften darin, die Frage nach islamischer Differenz angemessen zu stellen. Eine Politik des Multikulturalismus und der religiösen Minderheitenrechte kann heute nicht mehr dabei helfen, den Anspruch der Muslime zu Gehör zu bringen. Ich glaube, der Begriff Kulturrassismus hat eine erkundende, heuristische Funktion; er hilft uns dabei, die Ausweitung der Rassenkategorie auf kulturelle Praktiken zu verstehen. Tariq Modood hat den Begriff des Kulturrassismus mit Blick auf Einwanderer in Großbritannien angewandt und beschrieben, wie diese, insbesondere Pakistani, aufgrund ihrer kulturellen und „rassischen“ Differenzen diskriminiert werden.7 Dieser Ansatz bleibt den Traditionen des Multikulturalismus und der antirassistischen Linken verhaftet. Beide aber sind strukturell „religionsblind“ und übersehen den Bereich religionskultureller Konflikte. Sie halten also das Konzept des Kulturrassismus für eine noch immer zu ungenaue Analysekategorie, um die feindliche Haltung gegenüber dem Islam in den westlichen Ländern zu erklären? Ich glaube nicht, dass die Kategorien von „Rasse“ (race) und Rassismus alle Formen religiös-ethnischer Differenz erfassen können. In welchem Maße lassen sich etwa der Antisemitismus oder der Antiislamismus zur Gänze als Rassismen verstehen? Was ist das Besondere an islamischer Differenz? Geht es beim Islam um Religion oder um Kultur? Aus der Geschichte des Judaismus in Europa können wir lernen, wie er in seiner Beziehung zum Protestantismus erst zu einer bestimmten „Religion“ gemacht wurde. 7 Vgl. etwa Tariq Modood 2010: Still Not Easy Being British. Struggles for a Multicultural Citizenship. London: Trentham Books.
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So wurde lange debattiert, ob das Judentum nun eine Religion oder eine Ethnie sei. Die öffentlich sichtbaren Rituale der jüdischen Kultur führten im europäischen Alltag zu ähnlichen Problemen mit dem europäischen Säkularismus wie heute beim Islam. So wurden schon lange vor 1933 die Beschneidungspraxis, die koschere Kost oder das rituelle Schlachten scharf kritisiert. Solche Kontroversen korrespondieren mit den heutigen Debatten über den Islam in Europa. Muslime wie Juden sehen sich dem Vorwurf ausgesetzt, eine barbarische, archaische, in jedem Fall vormoderne Religion zu vertreten, die mit den europäischen Werten nicht vereinbar sei. Die Beschneidungsdebatte, die 2012 in Köln geführt wurde, illustriert die Wiederkehr solcher alten Konflikte sehr gut. Es ging um einen vierjährigen muslimischen Jungen, bei dem im Jahr 2010 die Beschneidung zu medizinischen Komplikationen geführt hatte. Das Gericht erklärte die Beschneidung zur Körperverletzung, zur Missachtung der körperlichen Integrität des Kindes und seines Rechts, später im Leben selbstbestimmt eine Religion zu wählen, und beschloss ein Verbot der rituellen Praxis. Ironischerweise glaubte das Gericht, damit nur Muslime zu treffen, übersah jedoch völlig die Tatsache, dass die Beschneidung ebenso eine übliche Praxis im Judentum ist.8 Der Fall zeigt, dass islamische Praktiken oft aus dem Bereich der religiösen Minderheitenrechte herausfallen und als solche überhaupt nicht wahrgenommen werden. Im Gegenteil: Die Debatte wurde Teil einer größeren sozialen Auseinandersetzung, in deren Rahmen muslimische Praktiken wie das Tragen des Kopftuchs, die rituelle Schächtung oder die Beschneidung von Jungen auf einmal zu Problemen einer allgemeinen Kulturkritik und zu Feldern einer restriktiven rechtlichen Regulierung gerieten. Diese Praktiken wurden als Widerspruch zu den vorherrschenden ethisch-säkularen Werten der westlichen Moderne wahrgenommen. Der Islam wurde gleichgesetzt mit der Unterdrückung von Frauen, mit dem Quälen von Tieren und mit der Verletzung der körperlichen Integrität kleiner Jungen. In solchen Kontexten kann der Multikulturalismus kein Modell des Umgangs mit kultureller Differenz mehr sein. Die Angst vor kulturellem Relativismus scheint hier ersetzt und aufgehoben zu werden durch die Vorstellung eines kulturellen Krieges, durch die Erfindung von Hierarchien und Grenzen zwischen „uns“ und „denen“. Insgesamt hat die Angst vor dem Islam also zunächst etwas mit dem Terrorismus zu tun; dann aber auch mit religionskultureller Differenz. Ebenso muss der derzeitige Antiislamismus als Teil dieser kulturellen Konfrontation gesehen werde. Er markiert in der Tat einen tieferen Strukturwandel in unserem Umgang mit Kulturkonflikten. Das Pendel, das sich eine Weile aufseiten der offenen Gesellschaft, des Multikulturalismus und des
8 Ausführlicher hierzu: Nilüfer Göle 2016: Europäischer Islam. Muslime im Alltag (2015). Berlin: Klaus Wagenbach.
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Feierns von Vielfalt befand, schlägt gegenwärtig zurück auf die Seite der Grenzschließung, des Mehrheitsrechts und des Schutzes vor „rassischer“ oder kultureller Vermischung. Der Rassenbegriff wurde immer mit der materiellen, physischen, und kulturellen „äußeren Erscheinung“ von Menschen verbunden. Rassenzugehörigkeit wurde meist imaginiert als etwas prinzipiell Sichtbares – selbst wenn es sich in den Genen „verstecke“, könne es prinzipiell sichtbar, beobachtbar oder messbar gemacht werden. Sie haben viel und Wichtiges über die öffentliche Sichtbarkeit kultureller Differenz geschrieben. Wie würden Sie die Rolle der Sichtbarkeit in der gegenseitigen Wahrnehmung eines neuen, nationalen Populismus in vielen westlichen Staaten und den islamischen Kulturen beschreiben, die schon seit Jahrzehnten ein Teil dieser westlichen Gesellschaft sind? Wir können die Öffentlichkeit als einen Ort der Soziabilität unter Fremden beschreiben. Als den Ort, an dem wir ausdrücken, was wir glauben, an dem wir anderen begegnen, andere kennenlernen, an dem wir unsere Differenzen erkennen und vergleichen und an dem wir schließlich auch vertrauter miteinander werden können. Ich glaube an dieses emanzipatorische und transformative Potenzial der Öffentlichkeit, obschon ich zugleich glaube, dass es derzeit in vielerlei Hinsicht gefährdet ist. Wir leben in einer multikulturellen Welt als Ergebnis einer langen Zirkulation von Ideen, Werten und Glaubensformen ebenso wie von Menschen. Dennoch wird dieser Zustand begleitet von einer Geisteshaltung, die Zygmunt Bauman „Mixophobie“ nennt: die Angst vor Vermischung und der gleichzeitige Wunsch nach territorialer Abgrenzung.9 Ich habe kulturelle Begegnungen zwischen muslimischen Einwanderern und den jeweiligen Mehrheitsgesellschaften bevorzugt im Raum der Öffentlichkeit untersucht, um zu sehen, ob hier Möglichkeiten eines Austauschs, einer Kulturvermischung und gemeinsamer Lebensformen entstehen, die ohne Gewalt auskommen. Die Präsenz von Muslimen in Europa wird sehr häufig nur als „Problem“ thematisiert: Mangelnde Integration, Kriminalitätsraten und die Tendenz zur Radikalisierung sind nur drei klassische Wahrnehmungsfelder. Die eigentlichen Debatten der letzten dreißig Jahre aber kreisten eher um Einzelfragen: nach der Verschleierung von Frauen und Mädchen (besonders im schulischen Kontext), um den Bau von Moscheen oder um die Entwicklung von Halal-Märkten. Hier geht es um muslimische Bürger, die sich um Bildung bemühen, am urbanen Leben teilhaben, professionelle Karrierewege einschlagen und zu jener Gesellschaft gehören wollen, in der sie leben. Wir beobachten schon lange die Entstehung eines muslimischen Bürgertums quer durch die europäischen Staaten. Eine sich neu formierende Mittelklasse beansprucht einen Raum für die Ausübung ihrer 9 Vgl. Zygmunt Bauman 2007: Liquid Times. Living in an Age of Uncertainty. Cambridge: Polity Press.
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Alltagspraktiken und Frömmigkeitsformen. Die erste Generation von Migranten lebt demgegenüber meist am Rand der Gesellschaft; ihre religiösen Praktiken sind selten öffentlich sichtbar. Der Islam wird erst ab einer bestimmten Stufe der Integration sichtbar, wenn nämlich Muslime mit ihren besonderen Merkmalen überhaupt öffentlich geteilte Räume betreten. Anders gesagt: Das Kopftuch der Arbeiterin stört niemanden, während das der Schülerin, Studentin oder gar Lehrerin Aufmerksamkeit hervorruft und ein öffentlich umstrittenes Themas wird. Viele Muslime leben inzwischen in einem postmigrantischen Zustand, ihre Aufmerksamkeit gilt nicht länger dem Herkunftsland – stattdessen interessieren sie sich für Themen, die ihren Alltag in Europa bestimmen. Sie wollen das sein, was ich „normale Muslime“ nenne. Darunter verstehe ich Muslime, die ein normales Leben führen wollen, ausgerichtet an Zielen wie Bildung, Beruf, Familie und Glaube. Zudem kann „normal“ auch bedeuten, wie alle anderen zu sein, im Sinne einer Zugehörigkeit ohne Referenz auf die migrantische Herkunft. Doch der Begriff trägt einen Widerspruch in sich, ein Paradox: Wie kann man ein normaler Bürger sein, wenn die muslimische Identität eine erwünschte oder aber unerwünschte Form der Sichtbarkeit impliziert? Es sind diese Spannungszonen und kulturellen Zwischenräume, in denen Muslime versuchen, sich einen eigenen Raum der Erfahrbarkeit und Anerkennung ihrer Bindestrich-Identitäten zu eröffnen. Die islamische Präsenz fordert die Homogenität der europäischen Gesellschaften vielfältig heraus. Diese kulturelle Homogenität wird zusehends schwächer und zumindest in der Zukunft wird Europa ein anderer, religiös und kulturell heterogenerer Kontinent sein. Ein postokzidentales Europa steht vor der Tür und man kann bis zu einem gewissen Grad verstehen, dass dieser Umstand die Selbstwahrnehmung der Europäer beunruhigt. Heute sind, in unterschiedlichem Ausmaß, populäre Bewegungen für eine Wiederkehr autoritärer Herrschaftsformen zu beobachten. Meist fällt es aber schwer, den Erfolg solcher Bewegungen einer bestimmten sozialen oder kulturellen Gruppe zuzuschreiben. Stattdessen rechtfertigen sich diese Bewegungen und „Führerfiguren“ im Namen abstrakter Begriffe eines „wahren Volkes“ oder im Namen sich angeblich selbst erklärender kultureller oder religiöser Werte. Kulturelle Diversität scheint im Verweis auf einen nationalen oder kulturellen „Kern“ zu verschwinden, wodurch faktisch sehr heterogene Gesellschaften in nur zwei Lager gespalten werden: Anhänger und Feinde. Keine dieser neuen populistischen Bewegungen setzt auf den Rassenbegriff. Aber ist eine solche Transformation einer multikulturellen in eine bipolare Sozialstruktur nicht genau das, was im 19. und 20. Jahrhundert im Namen des Rassedenkens und des Rassismus geschah?
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Wir sind heute an vielen verschiedenen Orten rund um den Globus in der Tat Zeugen einer Wiederkehr autoritärer Herrschaftsformen, von Feindseligkeiten gegen kulturelle Eliten und von „Säuberungsaktionen“ gegen die Vertreter des Pluralismus. Die neuen „Führer“ der entsprechenden Bewegungen geben vor, das „wahre Volk“ direkt zu vertreten und seine Gefühle auszuleben. Sie übernehmen die Kontrolle über die Medien, erfinden politische Narrative, diskreditieren ihre Gegner und zerstören vermittelnde Institutionen und Menschen. Wir erleben Gleiches in sehr verschiedenen Kontexten: die Wahl Donald Trumps zum US-Präsidenten am 20. Januar 2017, die BrexitEntscheidung am 23. Juni 2016, das Verfassungsreferendum der Türkei vom 16. April 2017. Es gibt einen immer tieferen Abgrund zwischen jenen Gesellschaftsmitgliedern, die eine offene Gesellschaft verteidigen, verbunden mit liberalen Werten und kulturellem Pluralismus, und solchen, die für die Restauration herkömmlicher kollektiver Werte und nationaler Gemeinschaften stehen. Die politische Macht begünstigt derzeit die Letzteren. Wenn im Falle der USA die Wahl Barack Obamas einen echten Bruch mit uralten Rassentabus bedeutete, kann Trumps Wahl als echter Rückfall und als Rache des weißen Mannes interpretiert werden. Ebenso wandte sich Großbritannien, lange das Paradebeispiel für ein multikulturelles und politisch liberales Land, mit der Brexit-Entscheidung wieder dem Protektionismus und dem Nationalismus zu. Und die Türkei, früher einmal ein Beispiel für den pluralistischen politischen Islam, unterdrückt nun alle Kritiker, die als „ausländische Agenten“ angeprangert werden. In vielen Ländern hat eine neue Politik der Polarisierung das multikulturelle Projekt abgelöst. In seinem bekannten Buch Was ist Populismus? hat Jan-Werner Müller den Begriff des Populismus im Lichte zeitgenössischer Entwicklungen auf seinen neuesten Stand gebracht.10 Er legt dar, dass der wesentliche populistische Mechanismus darin bestehe, aus der bloßen Summe aller Bürger ein „wahres Volk“ zu extrahieren. Den populistischen „Führern“ geht es dabei nicht um Repräsentation, sondern sie beanspruchen, dieses „wahre Volk“ unmittelbar und direkt zu verkörpern. Mithilfe einer bestimmten Körpersprache, einer bestimmten Rhetorik und bestimmten Dresscodes behaupten sie Volksnähe und vermitteln die Vorstellung, dass sie das Volk seien. Zwischeninstitutionen, politische Parteien, Räume der politischen Verhandlung oder politische Gegner verschwinden dabei nicht nur, sondern gelten als unnötig, gar als illegitim. Wenn diese neuen Spielarten des Autoritarismus den Staatsapparat kontrollieren, verwandeln sie die Demokratie in eine Zuschauerdemokratie, um die öffentliche Aufmerksamkeit gefangen zu halten und auf Dauer zu erschöpfen. Dabei entwickelt die Feindseligkeit gegen kulturelle Eliten, Intellektuelle, Migranten, Journalisten und die Zivilgesellschaft, also gegen alle, die nicht ins neue nationale Narrativ passen, eine sich steigernde Dynamik. 10 Vgl. Jan-Werner Müller 2016: Was ist Populismus? Berlin: Suhrkamp.
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Der typische Anhänger eines solchen Populismus wird üblicherweise als Angehöriger der frustrierten, enttäuschten, verbitterten und wenig gebildeten Klassen beschrieben, die sich als Verlierer des Liberalismus und der Globalisierung betrachten. Ich glaube, dass die Dynamiken der Globalisierung in der Tat Reaktionen in Form eines neuen Ethnonationalismus und der Ideologie des Nativismus hervorrufen. Der Nationalismus hat sowohl eine universalistische als auch eine partikularistische, ethnische oder rassistische Komponente. Derzeit steht die zweite Seite im Vordergrund. Diejenigen, die stigmatisiert und unterdrückt werden, gelten als Fremdkörper, als eine die nationale Gemeinschaft bedrohende Minderheit. Es erscheint sinnvoll, hier an den Begriff des Kosmopolitismus zu erinnern, um diese tiefe Spaltung zu erklären. Ein Kosmopolit repräsentiert heute nicht mehr die entwurzelte Elite, sondern kosmopolitisch sind solche Gruppen, Personen oder Aktivisten, die durchaus lokal verwurzelt, zugleich aber in transnationalen Netzwerken aktiv sind. Alle, die eben diese Schnittstellen zwischen dem Lokalen und dem Globalen repräsentieren – NGO-Aktivisten, Intellektuelle, Migranten –, stehen unter dem Generalverdacht, nicht mehr die Interessen des „wahren Volkes“ zu vertreten. Daher ist die Beobachtung völlig richtig, dass der Wandel von multikulturellen zu bipolaren Gesellschaftsbildern mit der Wiederkehr autoritärer Herrschaftsformen Hand in Hand geht. Wie genau aber lässt sich dieser Prozess bezeichnen, durch den Teile des Volkes zu Fremden, gefährlichen anderen oder zu Feinden des Volkes erklärt werden? Welche der Kategorien „Rasse“ (race), Religion oder Nation ist die treibende Kraft hinter diesem Vorgang der Aussonderung? Man kann die gleiche Frage auch andersherum stellen: Wie genau und als was konstruiert sich eigentlich die Mehrheit? Geht es hier um kulturelle Authentizität oder um „rassische Reinheit“ – oder um beides? Was erwarten Sie von der Zukunft? Werden „Rasse“ (race) und Rassismus weiterhin ein Thema sein? Gibt es Möglichkeiten, mit kulturellen Konflikten umzugehen? Wie sehen Sie das Verhältnis zwischen den islamischen und den westlichen Kulturen in einigen Jahrzehnten? Die Kategorien der „Rasse“ (race) und des Rassismus werden im gesellschaftlichen Kampf gegen Diskriminierung wichtig bleiben. Die Dekolonisierung ist ein sich fortsetzender Prozess und die Kritik am Kolonialismus nimmt in den Vorstellungen und Diskursen der europäischen Jugend einen zunehmend breiteren Raum ein. Auf der anderen Seite entwickeln die europäischen Gesellschaften immer neuen Widerstand dagegen, sich ihrer kolonialen Vergangenheit zu stellen. Als Emmanuel Macron vor Kurzem öffentlich die koloniale Vergangenheit Frankreichs in Algerien ansprach und sie ein „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ nannte, rief das aggressive Gegenreaktionen hervor. Der Begriff des Rassismus verschiebt jedoch seine Bedeutung gegenwärtig von der kolonialen Vergangenheit auf die migrantische Gegenwart. Wir sprechen heute von
Rassismus, Kulturkonflikt und die Neuerfindung öffentlicher Räume
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„Rassifizierung“ etwa mit Blick auf neue Formen der sozialen Diskriminierung. Der französische Philosoph Jacques Rancière hat herausgestellt, dass Migranten eher Opfer eines Rassismus von oben seien (einschließlich desjenigen des linken Republikanismus) als Opfer eines Rassismus der unteren Schichten. In Frankreich gibt es eine fortlaufende Debatte über staatlichen Rassismus sowie darüber, ob dieser Begriff angemessen sei oder aus dem Sprachgebrauch verbannt werden sollte. Das alles zeigt: Die semantischen Unterscheidungen, die mit den Begriffen der „Rasse“ (race), des Rassismus oder der Rassifizierung einhergehen, verschieben sich laufend. Und Konzepte wie staatlicher Rassismus, „Rassismus von oben“ oder „Rassismus der breiten Masse“ verdeutlichen die Wandlungsfähigkeit des Rassismus und seinen Stellenwert in den Debatten der heutigen Gesellschaft. In der postkolonialen Epoche werden ethnische, „rassische“ und religiöse Differenzen in räumliche Nähe zueinander gerückt, ohne die „sicheren“ zeitlichen und räumlichen Abstände früherer Zeiten. „Die Kolonien“ und „der Orient“ sind heute ein Teil Europas, Einwanderer gehören zum Alltag und fordern ihren Anteil an der cité, am öffentlichen Leben, ein. Die Europäer haben die Angewohnheit, ihre Identität aus der Vergangenheit abzuleiten und diese bewahren zu wollen. Doch Europa zu einer Art „Museumsfestung“ zu machen ist nicht möglich noch erscheint es als der beste Weg, auf die Herausforderungen der Einwanderung und Globalisierung zu reagieren. Wie Europa mit diesen neuen sozialen und kulturellen Realitäten umgeht, wird über die Zukunft seiner eigenen Demokratien entscheiden. Doch es gibt auch eine umgekehrte Beziehung zwischen den eingewanderten und den eingeborenen Bürgern Europas. Denn wie Muslime ihren Minderheitenglauben leben und ihren Anspruch auf Zugehörigkeit artikulieren, wird ebenso entscheidend sein. Europa ist der Ort, an dem über die gegenseitige Anerkennung und Beeinflussung der Kulturen entschieden wird: ein Lackmustest für die globalen Kulturkonflikte zwischen der islamischen und der westlichen Kultur. Der Terrorismus schwächt die Chancen für einen solch wechselseitigen Kulturwandel. Jeder Angriff vertieft die sozialen Brüche durch persönliche Verletzungen und verringert das gegenseitige Vertrauen. Der Terrorismus belastet das Leben von Muslimen in Europa schwer, ihre Integrationswege werden unterbrochen und sie sind laufend gezwungen, ihren Glauben zu erklären und gegen diese Angriffe Stellung zu beziehen. Es gibt auch andere muslimische Reaktionen auf den Terror. So nehmen manche eine offensivere Position ein und behaupten, dass diese terroristischen Angriffe gar nichts mit dem Islam zu tun hätten. Sie sehen ihren Glauben durch die Terrorakte gar nicht berührt und verteidigen stattdessen „ihren“ Islam. Ebenso gibt es Stimmen, besonders in der jungen Generation, die einen noch offensiveren Diskurs führen und die Mehrheitsgesellschaft und ihre mediale Berichterstattung direkt kritisieren. Sie werfen „der öffentlichen Meinung“ in Europa vor, sie nur noch mit herkunftsbegründetem Misstrauen zu betrachten
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Ein Interview mit Nilüfer Göle
und sie zu zwingen, ihren Glauben und zugleich ihre Solidarität mit Europa zu erklären. Manche weigern sich daher, die Angriffe zu verurteilen, und behaupten, dass es eine Form der Diskriminierung und der „Rassifizierung“ des Islam sei, wenn muslimische Bürger für den Terror verantwortlich gemacht werden. Denn das zeige nur, wie weit verbreitet die Islamophobie in der Mehrheitsgesellschaft sei. Zwar leugnen solche jungen Muslime schlicht den Zusammenhang zwischen Terror und Islam, doch ihre Argumente zeugen vor allem von der Übernahme der politischen Sprache und der politischen Kommunikationsformen jener Länder, in denen sie leben. In ihrer Kritik machen sie sich zugleich zu Dialogpartnern und zu hörbaren Sprechern in einer öffentlichen Debatte. Junge Muslime versuchen also auf verschiedene Weise, ihrer kritischen Stimme einen Raum in der Öffentlichkeit zu verleihen. Der Hashtag „#I am not Charlie“ nach dem Anschlag in Paris 2015 war ein Beispiel für diesen Versuch, eine Gegenöffentlichkeit zu schaffen. Es gibt aber auch noch andere Formen des öffentlichen Engagements wie die Kampagne „#Not in my Name“, die gegen terroristische Angriffe Stellung nahm: Schon 2014 verurteilten britische Muslime damit die Gräueltaten des IS. In der Kampagne waren verschiedene Gesichter junger Muslime zu sehen, von Männern mit Bärten, Frauen mit und ohne Kopftuch und unterschiedlicher ethnischer Herkunft. Sie machten muslimische Identität sichtbar und wehrten sich gegen den Anspruch der Terroristen, für die muslimische Gemeinde sprechen können. Die „#Not in my Name“-Kampagne signalisierte eine Distanzierung von der erzwungenen Zugehörigkeit zu einer vermeintlich homogenen Glaubensgemeinschaft und drückte bürgerliche Solidarität mit den „eingeborenen“ Briten aus. Ich glaube, dass solche Formen der performativen Teilhabe durch Muslime den Weg zu einem pluralistischen Europa weisen. Das Gegengift zu Terrorismus auf der einen Seite und Neopopulismus auf der anderen besteht darin, eine Identitätspolitik wechselseitiger Vorwürfe und Anfeindungen zu überwinden. Wir müssen den öffentlichen Raum neu erfinden, eine inklusive Öffentlichkeit. Das erfordert Verzicht auf beiden Seiten. Kontroverse Themen wie die Sichtbarkeit von Frauen, des Glaubens im öffentlichen Leben oder die Rolle heiliger Praktiken zeigen, dass sich das Konfliktfeld zwischen dem Islam und dem Westen vor allem auf kulturellem Gebiet befindet. Die Herausforderung besteht darin, die Spaltung zu überwinden. Hegemoniale Formen des westlichen Universalismus müssen ebenso dekonstruiert werden wie die Wahrheitsansprüche der islamistischen Politik. Künftig wird es um die Wiedererfindung einer öffentlichen Kultur gehen, die soziale Vermischung ebenso fördert wie den kulturellen Wandel und neue Formen des bürgerlichen Zusammenlebens. Die Fragen stellte Christian Geulen im Oktober 2017. Das Interview wurde auf Englisch geführt. Übersetzung ins Deutsche: Christian Geulen
Verzeichnis der theoretischen Miniaturen
Hannah Arendt 1993: Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft (1955). München: Piper, 718–23.
Cornel West 1993: Race Matters. New York: Beacon Press, 107–108. Albert Memmi 1992: Rassismus (1982). Übers. v. Udo Rennert. Hamburg: Europäische Verlagsanstalt, 103. Michel Foucault 2002: In Verteidigung der Gesellschaft (1976). Übers. v. Michaela Ott. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 299f. Stuart Hall 2016: Rassismus als ideologischer Diskurs (1989). In: Dorothee Kimmich, Stephanie Lavorano und Franziska Bergmann (Hgg.): Was ist Rassismus? Kritische Texte. Stuttgart: Reclam, 185f. Frantz Fanon 1969: Die Verdammten dieser Erde (1961). Reinbek: Rowohlt , 240–242. Etienne Balibar 1990: Gibt es einen Neo-Rassismus? (1988). In: Ders. und Immanuel Wallerstein (Hgg): Rasse, Klasse, Nation. Amivalente Identitäten. Hamburg: Argument, 28–30. Etienne Balibar 1999: Der Rassismus – auch noch ein Universalismus. In: Ulrich Bielefeld: Das Eigene und das Fremde. Neuer Rassismus in der Alten Welt? (1991). Hamburg: Hamburger Edition, 183f.