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German Pages [343] Year 2018
Birgitta A. Weinhardt
Das Modell des illibertaren Indeterminismus: Lebensführung jenseits von Willensfreiheit und Fatalismus Ein philosophisch-theologischer Entwurf im Dialog mit den Naturwissenschaften
Religion, Theologie und Naturwissenschaft/ Religion, Theology, and Natural Science Herausgegeben von Christina Aus der Au, Celia Deane-Drummond, Agustín Fuentes, Jan-Olav Henriksen, Antje Jackelén, Markus Mühling und Ted Peters Band 31
Birgitta A. Weinhardt
Das Modell des illibertaren Indeterminismus: Lebensführung jenseits von Willensfreiheit und Fatalismus Ein philosophisch-theologischer Entwurf im Dialog mit den Naturwissenschaften
Mit 17 Abbildungen
Vandenhoeck & Ruprecht
Dissertation PH Heidelberg
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.de abrufbar. © 2018, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Theaterstraße 13, D-37073 Göttingen Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Umschlagabbildung: Der Denker von Auguste Rodin im Park des Dr. Linde. Munch, Edvard 1863–1944, © akg-images. Satz: textformart, Göttingen Vandenhoeck & Ruprecht Verlage | www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com ISSN 2197-1110 ISBN 978-3-666-57049-0
Inhalt Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8 1. Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9 2. Willensfreiheit aus philosophischer Perspektive . . . . . . . . . . . . . . 14 2.1 Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14 2.2 Ethische Freiheit, Handlungsfreiheit und metaphysische Freiheit . . 15 2.3 Die Bedingungen der Willensfreiheit im Kontext von Determinismus und Indeterminismus . . . . . . . . . . . . . . 17 2.4 Die Vereinbarkeit von Freiheit und Determinismus: Die Grundfrage in der Willensfreiheitsdebatte . . . . . . . . . . . . 21 2.5 Ausgewählte philosophische Entwürfe zur Willensfreiheitsthematik 24 2.5.1 Michael Pauen: Eine kompatibilistische Minimalkonzeption von personaler Freiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 25 2.5.2 Geert Keil: Inkompatibilismus mit libertarer Willensfreiheit 47 2.5.3 Bettina Walde: Epistemischer Libertarismus . . . . . . . . . . 58 2.5.4 Ted Honderich: Konsequenzen einer deterministischen Weltanschauung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 67 2.6 Aufzunehmende Ergebnisse aus der Analyse der philosophischen Positionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 83 2.6.1 Das zugrundeliegende Weltbild . . . . . . . . . . . . . . . . . 83 2.6.2 Differenzierungen im Freiheitsbegriff . . . . . . . . . . . . . 84 2.6.3 Die Notwendigkeit einer zweifachen analytischen Perspektive: Einzelne Entscheidungsprozesse und der gesamte Lebenslauf 85 2.6.4 Intuition und Rationalität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 86 3. Willensfreiheit aus neurobiologischer Perspektive . . . . . . . . . . . . . 89 3.1 Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 89 3.2 Methoden und Einsichten der Neurobiologie im Überblick . . . . . 91 3.3 Gerhard Roths neurobiologische Anthropologie und ihr Bezug zur Willensfreiheitsdebatte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 95 3.3.1 Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 95 3.3.2 Das Gehirn und die Persönlichkeitsentwicklung als Grundlage von Roths Freiheitsverständnis . . . . . . . . . 98 3.3.3 Neuronale Handlungs- und Entscheidungssteuerung . . . . 119 3.3.4 Roths neurobiologische Interpretation von Grundbegriffen der philosophischen Anthropologie . . . . . 131 3.3.5 Roths Anthropologie im Kontext der Willensfreiheitsdebatte 147
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Inhalt
3.4 Aufzunehmende Ergebnisse aus der neurobiologischen Theoriebildung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 159 3.4.1 Deterministisches Gehirn und die Frage nach der Ontologie 159 3.4.2 Empirische Erkenntnisse aus der Neurobiologie . . . . . . . 160 3.4.3 Offene Frage: Epiphänomenalismus? . . . . . . . . . . . . . . 160 4. Das Modell des Illibertaren Indeterminismus: Lebensführung jenseits von Willensfreiheit und Fatalismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 162 4.1 Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 162 4.2 Der Indeterminismus als die plausiblere ontologische Hypothese . . 164 4.2.1 Der Zufall bei Quantenereignissen . . . . . . . . . . . . . . . 165 4.2.2 Alternative Quantentheorien ohne Zufall und Indeterminismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 174 4.2.3 Quantenzufall und menschliche Lebenswirklichkeit . . . . . 178 4.3 Zur Kritik der Konstruktion von libertarer Willensfreiheit auf der Grundlage von hypothetischen Quantenzufällen im menschlichen Gehirn . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 183 4.4 Zur Kritik der kompatibilistischen Argumente gegen die Relevanz des Quantenindeterminismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 190 4.4.1 Argument 1: Der Indeterminismus stellt unter den Physikern eine Außenseiterposition dar; bzw. Determinismus und Indeterminismus sind zwei völlig gleichberechtigte Interpretationen der quantenmechanischen Phänomene. . . 190 4.4.2 Argument 2: Der Quantenzufall wirkt sich nicht im Weltprozess aus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 192 4.4.3 Argument 3: Der Quantenzufall findet nicht im Gehirn statt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 193 4.4.4 Argument 4: Quantenzufälle im Gehirn ermöglichen keine Willensfreiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 194 4.5 Zwischenresümee der bisherigen Analyse . . . . . . . . . . . . . . . 194 4.6 Der illibertare Indeterminismus: Ansatz und Entfaltung . . . . . . 195 4.6.1 Die zeitliche und räumliche Reichweite von Zufällen in der Erfahrungswelt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 195 4.6.2 Lebensläufe in einer deterministischen und in einer indeterministischen Welt . . . . . . . . . . . . . . . . . 198 4.6.3 Das Fatalismusproblem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 202 4.6.4 Bildungsmotivation im illibertaren Indeterminismus . . . . 210 4.7 Der illibertare Indeterminismus im Kontext einiger klassischer Argumente der Willensfreiheitsdebatte . . . . . . . . . . 212 4.7.1 Der Entscheidungsprozess: Zum grundlegenden Unterschied zwischen Zufallsereignissen in der Person und Zufallsereignissen in der Außenwelt . . . . . . . . . . . . 212
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4.7.2 Der indeterministische Alternativismus begründet keine Willensfreiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 213 4.7.3 Urheberschaft im illibertaren Indeterminismus . . . . . . . . 214 4.7.4 Das Konsequenz-Argument im illibertaren Indeterminismus 217 4.8 Lebensführung im illibertaren Indeterminismus . . . . . . . . . . . 218 4.8.1 Lebensführung als langfristige Lebensplanung auf der Grundlage von Wissen, Erfahrung und Selbstreflexion . . 218 4.8.2 Selbstvorwürfe oder Lebenserfahrung? . . . . . . . . . . . . . 221 4.8.3 Illibertarer Indeterminismus macht möglicherweise glücklich 222 4.9 Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 223 5. Der illibertare Indeterminismus als ontologischer Bezugsrahmen der evangelischen Theologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 225 5.1 Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 225 5.2 Die klassische Position Martin Luthers: Das geknechtete Willensvermögen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 227 5.2.1 Luthers existentielles Interesse an Heilsgewissheit . . . . . . 228 5.2.2 Luthers Konkretisierung der Streitfrage . . . . . . . . . . . . 231 5.2.3 Luthers Umgang mit der Schrift . . . . . . . . . . . . . . . . . 232 5.2.4 Die Allwirksamkeit Gottes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 233 5.2.5 Deus absconditus und Deus revelatus . . . . . . . . . . . . . . 238 5.2.6 Vertritt Luther einen theologischen Determinismus? . . . . . 241 5.3 Evangelische Dogmatik und illibertarer Indeterminismus . . . . . . 244 5.3.1 Zeitgenössische Vorstellung vom Handeln Gottes in der Welt außerhalb des illibertaren Indeterminismus (im Anschluss an Reinhold Bernhardt) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 245 5.3.2 Der Ertrag der bisherigen Diskussion über Gottes Handeln in der Welt für den illibertaren Indeterminismus: Die Ebenen des göttlichen Handelns . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 260 5.3.3 Der Mensch in seiner Beziehung zu Gott . . . . . . . . . . . 263 5.4 Zusammenfassung: Der philosophische Ansatz des illibertaren Indeterminismus und die evangelische Dogmatik . . . . . . . . . . 314 5.4.1 Willensunfreiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 315 5.4.2 Gottes Eigenschaften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 315 5.4.3 Theologische Anthropologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 316 6. Schluss . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 318 Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 321 Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 332 Stichwortregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 336
Vorwort
Die hier vorgelegte Untersuchung entstand am Institut für Evangelische Theologie der Pädagogischen Hochschule Karlsruhe im Rahmen einer Arbeitsgruppe theologisch-naturwissenschaftlicher Dialog.1 Drei Jahre lang wurde sie durch ein LGFG-Stipendium der Hochschule gefördert, wofür ich mich bei der Forschungskommission bedanke. Die Dissertation wurde im Mai 2015 an der Pädagogischen Hochschule Heidelberg eingereicht. Ich danke Prof. Dr. Martin Hailer und Prof. Dr. Heidrun Dierk für ihre Bereitschaft, die externe Arbeit zu adoptieren und die Gutachten anzufertigen. Den Herausgebern von Religion, Theologie und Naturwissenschaft/Religion, Theology and Natural Science und dem Verlag danke ich ganz herzlich für die Aufnahme in ihre Reihe. Anastasia Gaede und Tobias Kubach haben mich bei den Registern sehr unterstützt, weshalb auch Ihnen Dank gebührt. Karlsruhe, im Oktober 2017 Birgitta Annette Weinhardt
1 Vgl. Weinhardt/Weinhardt 2014.
1. Einleitung
Das leitende Interesse dieser Arbeit ist der Versuch, bei dem vielschichtigen Problem der Möglichkeit und Wirklichkeit von Willensfreiheit einige Schritte weiterzukommen.1 Die Willensfreiheitsthematik steht in der Theologie in Zusammenhang mit so wichtigen Themen wie Rechtfertigungslehre, Theodizee und Eschatologie. In der Philosophie bildet die Willensfreiheit den Kern des aufgeklärten autonomen Menschenbildes. Die Neurobiologie schließlich ist im 20. Jahrhundert angetreten, um mit ihren Einsichten in die Anatomie und Physiologie des Gehirns eben dieses Menschenbild herauszufordern. Alle diese genannten Wissenschaften werden in der vorliegenden Studie berücksichtigt und zusammengeführt. In der evangelischen Theologie fällt es auf, dass nach wie vor die reformatorische Rechtfertigungslehre als zentraler oder wenigstens doch als einer der zentralen Themenkomplexe gilt, sieht man einmal von einer besonders zugespitzten Ausprägung der so genannten New Perspective on Paul ab. Es herrscht auch weitgehend Konsens darüber, dass nach der Rechtfertigungslehre das Heil des Menschen ein reines Geschenk des gnädigen Gottes sei. Dennoch scheut man sich davor, die anthropologischen Konsequenzen, die Luther und Calvin daraus gezogen haben, anzuerkennen, wonach der Mensch zumindest in Glaubensdingen einen völlig unfreien Willen habe. Die Aufklärung dieser Diskrepanz ist das direkte Ziel dieser Arbeit gewesen. Da die systematisch-theologische Theoriebildung sich idealerweise stets in einen Dialog mit anderen Wissenschaften begibt, die aus ihrer je eigenen Perspektive dieselben oder vergleichbaren Gegenstände behandelt, war es notwendig, die philosophische und neurobiologische Willensfreiheitsdebatte mit in den Horizont der theologischen Fragestellung einzubeziehen. Selbstverständlich sollten dabei nicht lediglich etwaige Endergebnisse aus diesen beiden Wissenschaften in die Theologie überführt werden. Allerdings hat die systematische Theologie die Aufgabe, den Wahrheitsanspruch der christlichen Glaubensaussagen vor dem Wahrheitsbewusstsein ihrer jeweiligen Gegenwart zu verantworten. Der erste Schritt auf diesem Weg besteht schlichtweg darin, die verschiedenen Vorstellungskreise einer jeden Wissenschaft zu einem gegebenen Themenkomplex vergleichend aufeinander zu beziehen und aus den Vergleichsergebnissen die angemessenen Schlüsse zu ziehen. So wie die Theologie sich dabei nicht von vorneherein an Vorgaben aus anderen Wissenschaften bindet, stellt sie natürlich auch keine 1 Allgemeine und elementare Einleitungen in die Thematik finden sich etwa bei Düsing/ Düsing, Einleitung; Quante, Philosophische Freiheiten; Klein, Ich bin.
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Mindestbedingungen an diese, um als Dialogpartner gelten zu können. Vielmehr sucht die Theologie den interdisziplinären Dialog, um Erkenntnisse über die Welt wahrnehmen zu können, die durch Methoden der anderen Disziplinen zugänglich sind. Mit diesen Erkenntnissen vergleicht sie dialektisch ihre eigenen Theorien, um sie in einem weiteren Horizont tiefer entfalten zu können. Mit dieser methodischen Leitvorstellung reiht sich die vorliegende Arbeit in die Linie der klassischen Vermittlungstheologie des 19. Jahrhunderts ein, die auch in der Gegenwart orientierend sein kann, um eine gleichermaßen evangelische und zeitgemäße Theologie zu entwerfen. In der europäischen Philosophie ist die Willensfreiheitsthematik schon fast von Anfang an präsent, man denke nur an die Stoa und ihre Gegner. Die gegenwärtige philosophische Debatte kreist vorwiegend um die Frage, ob Willensfreiheit mit einem deterministischen Weltbild vereinbar sei. Diese Frage wird, je nach Position der Autoren, negativ oder positiv beurteilt. Entsprechend wird die Möglichkeit und Wirklichkeit von Willensfreiheit entweder bejaht oder verneint. Diese Diskussion wird im anschließenden Philosophiekapitel dargestellt und analysiert. Dabei fällt auf, dass lediglich die deterministische Ontologie als Ausgangspunkt der Theorieentwicklung veranschlagt wird: Die Autoren weisen zwar darauf hin, dass in der Physik, speziell in der Quantenphysik, auch indeterministische Vorgänge das Weltbild prägen, aber die meisten lehnen es ab, auf der Grundlage einer indeterministischen Ontologie eine Willens- und Handlungstheorie zu entwickeln. Nur die relativ kleine Gruppe der Verfechter von starker Willensfreiheit versucht, aus den Zufälligkeiten im Weltprozess eine Stütze für ihre Ansicht zu gewinnen. In der Philosophie herrscht also die Grundalternative: Entweder Indeterminismus mit starker Willensfreiheit oder Determinismus ohne oder mit einer abgeschwächten Form von Willensfreiheit. Außerdem wird noch eine Position beschrieben, aber noch seltener vertreten als die indeterministische Freiheitstheorie, nämlich der sogenannte Impossibilismus. Er besagt, dass starke Willensfreiheit weder in einem deterministischen noch in einem indeterministischen Weltbild denkbar sei. Auch die Neurobiologie, die im dritten Kapitel behandelt wird, setzt das deterministische Weltbild voraus, zumindest für ihren eigenen Gegenstandsbereich, das menschliche Gehirn. Man könnte sagen, die Philosophie bezieht sich auf einen ontologischen Determinismus, während die Neurobiologie einen anthropologischen voraussetzt. Dementsprechend bilden die neurobiologischen Argumente gegen die Willensfreiheit auch keine neue Klasse im Vergleich mit den philosophischen, sondern eher eine Untergruppe. Es sind konkrete Argumente gegen die Möglichkeit von menschlicher Willensfreiheit, während die philosophischen eher abstrakter Art sind. Dass die Neurobiologie nicht den Menschen in seiner ganz allgemeinen Existenz untersucht, sondern sich auf sein Körperorgan Gehirn fokussiert, führt auch zu der möglicherweise zu einseitigen Zuspitzung des Gegensatzes von frei und unfrei zu der Antithese von bewusst und un-
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bewusst. In der Neurobiologie gilt der Wille weitgehend als unfrei, weil er von unbewussten Vorgängen bestimmt sei. Philosophisch gesehen ist es aber durchaus umstritten, ob der Wille schon frei sei, wenn er lediglich durch bewusste, aber notwendige und hinreichende Gründe bestimmt wäre, wie dies etwa bei dem seiner Bestimmung entsprechenden Menschen nach Kant der Fall ist. Interessanterweise analysieren viele Neurobiologen und Philosophen die Willensfreiheitsfrage zumeist in der Hinsicht auf einzelne Entscheidungen. Sie reflektieren aber nicht darauf, welche Konsequenzen die Ontologie für das menschliche Selbstverständnis unter der Perspektive auf die Lebensführung zwischen Geburt und Tod hat. Es wird sich zeigen, dass eine umfassende Willensfreiheitsbzw. Willensunfreiheitstheorie vor einer doppelten Aufgabe steht: Zunächst muss der Prozess der Entscheidungsfindung vor dem Hintergrund des jeweils vorausgesetzten Weltbildes analysiert werden. Im nächsten Schritt muss aber auch untersucht werden, wie sich das Weltbild auf die Intuitionen eines Menschen auswirkt, der sein Leben als eine ganze Kette von einzelnen Entscheidungsprozessen im jeweiligen Weltbild reflektiert. Beim Vergleich von philosophischen und neurobiologischen Willensfreiheitstheorien fällt außerdem auf, dass in beiden Disziplinen keine ausführliche Auseinandersetzung mit der physikalischen Arbeit am Weltbild stattfindet.2 Zwar wird die Quantenphysik mit ihren indeterministischen Elementen immer wieder erwähnt. Es wird dann jedoch sofort betont, dass es Physiker gebe, die nach Wegen suchten, die kausalen Lücken in der Quantenwelt deterministisch zu schließen, oder dass die Zufälle in der subatomaren Wirklichkeit keine Bedeutung für die menschliche Erfahrungswelt bzw. für die Signalübermittlung im Gehirn habe. Die Aussage, dass die meisten Quantenphysiker eine deterministische Interpretation ihrer Theorie verträten, schien mir zu Beginn dieser Untersuchung in einem gewissen Gegensatz zu meiner bisherigen Kenntnis der physikalisch-naturphilosophischen Literatur zu stehen. Deswegen versuchte ich, diese Frage für mich zu klären. Dabei bemerkte ich, dass die moderne Physik tatsächlich eine indeterministische Ontologie als plausibleren Ausgangspunkt für weitergehende Überlegungen begründet. Damit war es ausgeschlossen, dem philosophischen mainstream zu folgen und den Determinismus als Grundlage eines Willensfreiheits-Modells vorauszusetzen. Auf der anderen Seite haben mich auch die philosophischen Argumente nicht überzeugt, die aus dem ontologischen Indeterminismus starke Willensfreiheit zu konstruieren versuchen. Die in Kapitel vier entwickelte Position des illibertaren Indeterminismus ist daher, philosophisch gesehen, ein impossibilistischer Standpunkt. Der Impossibilismus in der Willensfreiheitsfrage ist aber nicht das Endergebnis dieser Studie. Vielmehr kann gezeigt werden, dass sich viele Probleme des menschlichen Selbstverständnisses, 2 Das zeigt sich beispielsweise in den Literaturverzeichnissen von Pauen, Illusion; Keil, Willensfreiheit; Walde, Willensfreiheit; Roth, Aus Sicht; Ders., Fühlen.
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die schon jahrhundertelang mit der Negation von Willensfreiheit einhergehen, dadurch gelöst werden können, dass man den Zufall in seiner Bedeutung für die menschliche Lebensführung analysiert, abseits des Versuches, Willensfreiheit mit ihm zu begründen. Hier geht es vor allem um das Fatalismusproblem. Es besteht darin, dass im Rahmen des Determinismus die Zukunft der Welt und jede Biographie jetzt schon feststeht, wodurch eine resignative Haltung entstehen kann, in der man sich nur noch getrieben fühlt und sein Leben nicht mehr aktiv führen zu können glaubt. Weil der illibertare Indeterminismus dieses Problem löst und den Menschen zeigt, wie aktive Lebensführung auch ohne Willensfreiheit aussehen kann, ist er dazu geeignet, ein Kristallisationspunkt für ein humanes Menschenbild jenseits von Willensfreiheit zu werden. Zu einem solchen Menschenbild gehört auch die Ablehnung des Epiphänomenalismus im Rahmen eines monistischen interaktionistischen Perspektiven-Dualismus.3 Als Willensunfreiheits-Theorie lässt sich der illibertare Indeterminismus gut zur Reformulierung der Rechtfertigungslehre verwenden. Auf seiner Grundlage kann man das sola gratia so ausformulieren, dass der paulinisch-reformatorischen Gnadenlehre voll entsprochen werden kann. Ich habe versucht, in Kapitel fünf auch die anderen gängigen Aspekte der theologischen Anthropologie im Gegenüber zu dem in Kapitel vier entwickelten Modell zu analysieren: Den Menschen als Geschöpf, als Sünder, als Gerechtfertigten und als neues Geschöpf. Bei der Frage nach der Eschatologie bleibt auch auf der Basis des illibertaren Indeterminismus ein Problem bestehen, dass schon von Erasmus gegen Luther ausgespielt wurde: Ist Gott gerecht, wenn er die Nicht-Glaubenden wegen ihres Unglaubens ewig bestraft, wenn doch keine Person sich willensfrei für oder gegen den Glauben entscheiden kann (vgl. Röm 9)? In dieser Hinsicht habe ich die Gründe für die Lehre von der Allerlösung gesammelt und stark gemacht, die man exegetisch und dogmatisch auch bisher schon in der theologischen Tradition vertreten hat. Hinsichtlich der Gotteslehre setzt der illibertare Indeterminismus einige Impulse frei, welche die neuere Diskussion um die Eigenschaften Gottes und um Gottes Handeln in der Welt anreichern: Gott erschafft eine Welt, in der Zufälle und Gesetzmäßigkeiten eine offene Zukunft ermöglichen, so dass Menschen ihre Lebensziele entwerfen und verfolgen können, ohne durch ein fatalistisches Gefühl gelähmt zu werden. Zufälle in der Welt müssen auch für Gott in der ihm eigentümlichen Weise zufällig sein. Dann weiß er die Zukunft der Welt nur so weit voraus, wie die Notwendigkeiten reichen, die er in die Schöpfung hinein gelegt hat. Diese wirken sich so aus, dass die von Gott intendierten Vorgänge in der Schöpfung eintreten werden. Außerdem weiß er, welche Zustände er für die Welt bestimmt hat, welche sich nicht notwendig aus ihr heraus entwickeln (Reich Gottes), sondern die er selbst aktual handelnd herbeiführen wird. So weit die Zufälle die Kausalketten durchbrechen, ist auch Gott nur aktual allwissend, nicht
3 Vgl. u. 48 f., 139.
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jedoch futurisch. Da aber Gottes Allmacht in diesem dogmatischen Entwurf nicht eingeschränkt werden muss, um den Menschen Eigenständigkeit zu ermöglichen, dürfte die Veränderung am Prädikat der Allwissenheit zu keiner Störung im christlichen Gottesverständnis führen, dafür jedoch zu einer Entlastung des Gott-Mensch-Verhältnisses.
2. Willensfreiheit aus philosophischer Perspektive
2.1 Einleitung Die Frage nach der Möglichkeit und Wirklichkeit eines freien Willens hat sich nicht erst im 20. Jahrhundert als ein Thema erwiesen, das außer dem wissenschaftlich-philosophischen und dem populärwissenschaftlichen Buchmarkt auch das Feuilleton unübersehbar bestimmt. In der Philosophie des Abendlandes ist das Problem der Willensfreiheit vielmehr schon seit der Antike ein stehendes Thema. So konnte die Stoa auf die naturphilosophischen Spekulationen der Vorsokratiker und auf die induktiv-empirischen, wenn auch noch nicht experimentellen Ergebnisse der Aristoteliker und anderer Naturforscher zurückblicken, und musste sich der Frage nach der Vereinbarkeit von naturgesetzmäßigem Weltlauf und menschlicher Freiheit stellen. Denn offenbar betrafen die neu entdeckten Gesetzmäßigkeiten im Weltlauf unmittelbar das Selbstverständnis der Menschen, so dass die stoische Philosophie theoretische Erkenntnisse und lebenspraktische Reflexionen noch mehr miteinander verband als die ihr vorangehenden Schulen (dasselbe gilt natürlich auch für die Epikureer).1 Auch heute ist die Willensfreiheitsdebatte fest verknüpft mit der Frage nach dem Weltbild, also mit der Gültigkeit des Determinismus oder des Indeterminismus, und mit gesellschaftlichen und lebenspraktischen Leitvorstellungen wie Verantwortung, Schuldfähigkeit und Strafe. Die Anzahl der verschiedenen Positionen in der Diskussion ist fast unüberschaubar. Um angesichts der Positionsvielfalt einen Überblick zu gewinnen, sollen in den nächsten Abschnitten dieses Kapitels die Grundbegriffe vorgestellt werden, die den Rahmen für den gegenwärtigen Diskurs bilden. Anschließend skizziere ich exemplarisch die Positionen von Michael Pauen, Geert Keil, Bettina Walde und Ted Honderich. Am Ende des Kapitels werden die bei der Analyse dieser Positionen gewonnenen Einsichten zusammengestellt, die für die Konzeption des illibertaren Indeterminismus von Bedeutung sind.
1 Vgl. dazu Hermann Weidemanns Aufsatz über Freiheit als metaphysisches Problem in der Philosophie der Antike.
Ethische Freiheit, Handlungsfreiheit und metaphysische Freiheit
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2.2 Ethische Freiheit, Handlungsfreiheit und metaphysische Freiheit Ein rudimentärer Freiheitsbegriff liegt der so genannten ethischen Freiheit zugrunde. Diese Freiheit entspringt ausschließlich den praktischen Vollzügen von Handlungsbeurteilungen, Verantwortungszuschreibungen, emotionalen Vorwürfen und Haltungen wie Reue oder Scham. Vertreter dieser ausschließlich praktisch-pragmatischen Freiheitsvorstellung behaupten, dass eine philosophische Auseinandersetzung mit logischen, ontologischen und naturwissenschaftlichen Erkenntnissen und Problematisierungen unnötig sei für das menschliche Selbstverständnis und unsere gesellschaftlichen Institutionen.2 Eine solche dezidierte Abkoppelung des Freiheitsbegriffs von weitergehenden Analysen, die von den meisten Philosophen als wesentlich betrachtet werden, dürfte eine resignative Schlussfolgerung aus der teilweise verworrenen und unentwirrbar scheinenden Diskussion der letzten Jahrzehnte sein. Ethische Freiheit könnte demnach als eine sehr junge, postmoderne Form von Freiheit bezeichnet werden, deren Vertreter sich aus der Frage nach einer metaphysischen bzw. ontologischen Begründung der Möglichkeit von Willensfreiheit verabschieden. Die meisten Autoren sind aber nach wie vor an der metaphysischen Frage nach Willensfreiheit interessiert. Sie führen die moderne philosophische Freiheits diskussion weiter, an deren Anfang David Hume steht. Er begreift Freiheit als Handlungsfreiheit und versteht darunter eine Macht zu handeln oder nicht zu handeln, je nach den Entschließungen des Willens; das heißt, wenn wir in Ruhe zu verharren vorziehen, so können wir es; wenn wir vorziehen, uns zu bewegen, so können wir dies auch. Diese bedingte Freiheit wird nun aber einem jeden allgemein zugestanden, der nicht ein Gefangener in Ketten ist. Hierin liegt also kein Problem.3
Hume spricht hier von der Determination des Willens. Frei ist, wer seinem eigenen Willen gemäß handeln kann. Nicht der Wille ist frei, sondern der Mensch, der so handeln kann, wie sein Wille beschaffen ist. Der Wille selbst ist seinerseits von anderen Faktoren determiniert. Humes Handlungsfreiheit kann also auch in einer deterministischen Welt gedacht werden, in der alle Dinge sich gegenseitig bestimmen und determinieren. Damit steht Hume am Anfang der Entwicklung des Kompatibilismus. Auch die heutigen Vertreter dieser Gruppe halten die Vereinbarkeit von Freiheit und Determinismus für möglich. Anders 2 Vgl. Quante, Philosophische Freiheiten, 14 f. Er bezieht sich mit dieser Beschreibung des rein ethischen Freiheitsbegriffs auf den Beitrag von Sibille Mischer in dem von ihm eingeleiteten Sammelband (Mischer, Finns Wahl). 3 Hume, Eine Untersuchung, VIII/1, S. 113.
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Willensfreiheit aus philosophischer Perspektive
als Hume erachten die meisten von ihnen jedoch die bloße Handlungsfreiheit als zu defizitär für die Vorstellung von verantwortlichem Handeln. Denn nach Hume wäre auch ein solcher Mensch frei, der aufgrund von innerer Abhängigkeit oder beeinflusst durch Hirnwäsche oder andere Formen von Manipulationen tun kann, was er will. Deswegen setzen heutige Kompatibilisten nicht mehr lediglich die Handlungsfreiheit als notwendige Voraussetzung für verantwortliches Handeln an, sondern suchen nach einer Form von Willensfreiheit, die sich mit dem Determinismus vereinbaren lässt.4 Besonders die Suche nach einer solchen Form von Willensfreiheit hat zu der schon erwähnten Vielzahl unterschiedlicher Positionen beigetragen. Neben den zahlreichen Entwürfen von determinismus-kompatibler Willensfreiheit liegen dazu auch noch einige Theorien vor, die Willensfreiheit durch die Bestreitung des Determinismus gewinnen wollen. Aufgrund dieser Disparatheit gibt es nicht einmal eine von allen geteilte Definition des Begriffes Willensfreiheit.5 Es ist jedoch möglich, gemeinsame Prinzipien zu benennen, die von den meisten Autoren als notwendige Voraussetzungen für das Vorhandensein von Willensfreiheit akzeptiert werden:6 1. Die Person könnte auch anders entscheiden und handeln, als sie es tatsächlich tut (Bedingung des Alternativismus). 2. Die Person ist Urheber ihrer Entscheidungen und Handlungen (Urheberschaftsbedingung). 3. Die Person handelt aus nachvollziehbaren Gründen und nicht willkürlich (Intelligibilitätsbedingung). Diese drei Bedingungen von Willensfreiheit liegen sehr nahe bei alltagssprachlichen Vorstellungen. Man könnte auch sagen, es handle sich dabei um erste Antworten des so genannten gesunden Menschenverstandes auf die Frage, wie Willensfreiheit denn zu verstehen sei. Die Quelle solcher Vorstellungen oder Bestimmungen wird in der Philosophie als Intuition bezeichnet.7 Die intuitive Vorstellung von Urheberschaft geht oft mit dem Gedanken von Erstauslösung einher. Erstauslösung läge vor, wenn eine Person den Impuls für eine Wirkungsfolge geben könnte, der völlig außerhalb von anderen Bedingungsfaktoren läge.8 4 Vgl. Guckes, Illusion, 35 f. 5 Vgl. etwa Stier, Verantwortung, 101 f. 6 Vgl. etwa aaO. 102–104, im Anschluss an Henrik Walter und Richard Double. Anders Beckermann, Willensfreiheit – ein Überblick, 1: Er nennt als dritte Bedingung die Kontrollbedingung: „Wie die Person handelt oder entscheidet, muss ihrer Kontrolle unterliegen. Diese Kontrolle darf nicht durch Zwang ausgeschlossen sein.“ 7 Das Verhältnis von Intuition und Rationalität wird weiter unten noch thematisiert. Vgl. u. 86–88; 131–136; 151–155, 213. 8 In diesem Zusammenhang wird gerne auf Kant verwiesen, der unter Willensfreiheit die Erstauslösung einer neuen Kausalkette in der Sinnenwelt verstand. Vgl. K. Düsing, Spontaneität, 108–110.
Die Bedingungen der Willensfreiheit
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Aufgrund ihrer intuitiven Herkunft klingen die drei Bedingungen durchaus einleuchtend, und sie scheinen auf den ersten Blick den Begriff der Willensfreiheit gut zu umreißen. Die eigentliche Problematik der Willensfreiheitsdebatte entsteht aber genau dann, wenn alle drei Bedingungen in der deterministischen Ontologie oder in ihrem Gegenstück, dem ontologischen Indeterminismus, verankert werden sollen. Wie das im Einzelnen aussieht und welche Probleme durch die jeweiligen Verbindungen entstehen, betrachten wir im folgenden Abschnitt.
2.3 Die Bedingungen der Willensfreiheit im Kontext von Determinismus und Indeterminismus Der Philosoph steht also vor der Frage, inwieweit sich die drei Bedingungen mit dem jeweils vorausgesetzten Weltbild, Determinismus oder Indeterminismus, plausibel zusammendenken lassen. Was besagt der Determinismus? Als determiniert bezeichnen wir ein Ereignis, wenn dessen Eintreten durch vorangegangene Umstände vollständig festgelegt wird, so daß also bei einer Wieder holung der vorausgegangenen Umstände auch das Ereignis selbst immer wieder eintreten wird. Ist unsere Welt determiniert, dann gelten die genannten Bestimmungen für sämtliche Geschehnisse in dieser Welt. In einer solchen Welt kann man also niemals sagen, daß etwas anderes hätte eintreten können, als faktisch eingetreten ist.9
In einer determinierten Welt steht also auch die gesamte Zukunft jetzt schon fest. Während es eine präzise Definition für den Determinismus gibt, begnügt man sich bei der Bestimmung des Indeterminismus meistens damit, dass man ihn als Nicht-Determinismus beschreibt. Nun gibt es aber zwei in sich selbst völlig unterschiedliche Gegensätze zum Determinismus. Erstens ist eine Welt dann indeterministisch, wenn in ihr Zufallsereignisse vorhanden sind. In solchen Welten muss offensichtlich nicht „bei einer Wiederholung der vorausgegangenen Umstände auch das Ereignis selbst immer wieder eintreten“. Zweitens sind manche Philosophen auf der Suche nach etwas Drittem außerhalb des Gegensatzes von deterministischer Notwendigkeit und indeterministischem Zufall. Hier soll das „Selbst“, die „Seele“ oder eine andere Instanz des Menschen so agieren, dass sie weder zufällig-willkürlich handelt noch dass sie durch etwas anderes als „durch sich selbst“ determiniert sei.10 Diese Gruppe von Philosophen meint also, dass eine solche Instanz einen starken Begriff von Willens 9 Pauen/Roth, Freiheit, 38. 10 In diese Richtung denkt etwa Roderick Chisholm (im Anschluss an John Eccles). Vgl. Klein, Ich bin, 32–35; M. Heisenberg, Freier Wille, 39.
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Willensfreiheit aus philosophischer Perspektive
freiheit ermöglichen könnte. Aber ein derartiger Indeterminismus, der schon Instanzen voraussetzt, die anders als zufällig oder notwendig agieren können, müsste erst einmal in seinen Grundzügen ausgearbeitet werden. Denn die bisher einzige plausible Form von Indeterminismus ist diejenige des Zufalls-Indeterminismus.11 Ob aus der Kombination von Zufall und Notwendigkeit etwas Drittes entstehen könnte, müsste erst noch aufgezeigt werden.12 Bisher ist dieser Aufweis nicht gelungen. Erst dann könnte die von manchen Autoren avisierte Willensfreiheit durch den Indeterminismus diskutiert werden. Was geschieht nun im Einzelnen, wenn die drei Bedingungen der Willens freiheit auf das jeweilige Weltbild angewendet werden? Dem aufmerksamen Leser dürfte schon aufgefallen sein, dass sich das Triplett der Bedingungen in keine der beiden Weltbilder spannungsfrei einfügen lässt. Bei der ersten Bedingung, dem Prinzip der alternativen Möglichkeiten, liegt die Unvereinbarkeit mit dem Determinismus geradezu auf der Hand: In einem alternativlosen Weltverlauf kann es auch keine Entscheidungs- bzw. Handlungsalternativen für Personen geben. Man könnte nun intuitiv zu der Vermutung gelangen, dass die menschlichen Entscheidungsalternativen dann in einem indeterministischen Weltbild besser unterzubringen seien. Doch dies erscheint höchstens auf den ersten Blick so. Nach der einzigen bisher denkbaren Form des Indeterminismus führt nur die Annahme des echten Zufalls in der Welt dazu, dass der gesamte Weltverlauf noch nicht feststeht. Auf das Entscheidungsvermögen des Menschen angewendet bedeutet dies, dass allein der Zufall im subjektiven Entscheidungsvorgang ein alternatives Verhalten hervorbringen könnte. Der Alternativismus ist dadurch zwar tatsächlich gerettet. Aber die Vorstellung, dass eine alternative Entscheidung rein zufällig entstanden ist, trifft nicht die Intention von Bedingung eins, weil eine zufällig entstandene alternative Entscheidung keine Entscheidung der Person, sondern des in ihr wirkenden Zufalls wäre. Es liegt nicht im Vermögen der Person, alternativ zu entscheiden, sondern ein Zufall wirkt sich alternativ in ihr aus. Auch die zweite Bedingung, die Urheberschaft, kann nicht ohne weiteres in einem deterministischen Weltbild untergebracht werden. Hier kommt das sogenannte Konsequenzargument zum Tragen. Es besagt, dass im Determinismus die Entscheidungen einer Person nicht auf die Person selbst, sondern auf den Zustand der Welt vor ihrer Geburt und auf die Naturgesetze zurückgehen.13 Der 11 Vgl. Searle, Freiheit, 57. 12 Vgl. u. 54 f. 13 Das Konsequenzargument geht auf Peter van Inwagen zurück. Vgl. ders.: An Essay on Free Will, 16, 56.; Pauen, Illusion, 137. Danach geht die Person auf die Geschichte ihrer Eltern, auf die genetische Information ihrer Zellen und auf ihre eigene Geschichte zurück. Dabei bestimmt der Zustand der Welt zusammen mit den Naturgesetzen die gesamte Vorgeschichte und die Geschichte einer jeden Person. Das Konsequenzargument soll die Unvereinbarkeit von Freiheit und Determinismus zeigen. Vgl. u. 43–46; 65.
Die Bedingungen der Willensfreiheit
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Kern des Arguments lautet demnach: Weil Personen keine Kontrolle über die Ereignisse vor ihrer Geburt haben, diese aber bereits jede einzelne Entscheidung einer Person festlegen, kann die Person auch keine Kontrolle über ihre Entscheidungen und Handlungen haben. Die intuitive Vorstellung von Urheberschaft ist also nicht mit einem deterministischen Weltbild vereinbar, so lange die Vorstellung von Erstauslösung noch mit ihr verbunden ist. Wie sieht es mit dem Konsequenzargument im Rahmen der indeterministischen Ontologie aus? Spontan könnte man wieder geneigt sein zu glauben, dass eine offene Zukunft den Raum für die Urheberschaftsbedingung ermöglicht. Denn immerhin kommt hier das Konsequenzargument nicht zum Tragen: Der echte Zufall in der Welt führt dazu, dass der gesamte Weltverlauf nicht alternativlos festgelegt ist. Demnach könnte eine Entscheidung einer Person nicht auf die Ereignisse vor ihrer Geburt zurückgehen, weil die Zufälle nach ihrer Geburt zu weiteren Determinanten ihrer Entscheidung werden, die vor ihrer Geburt noch nicht festlagen. Doch kann der Zufall, wenn er das Konsequenzargument unwirksam macht, auch in positiver Weise Urheberschaft ermöglichen? Auf diese Frage muss man mit einem klaren „Nein“ antworten, denn Zufall ist eben nicht mehr als Zufall. Das heißt, dass in einer indeterministischen Welt die Entscheidungen einer Person entweder notwendig durch einen Zustand der Welt und die Naturgesetze ausgelöst werden oder durch einen Zufall (oder durch eine Kombination von Naturgesetzlichkeit und Zufall).14 Aber wie wir schon gesehen haben, kann eine zufällig ausgelöste Entscheidung die intuitive Vorstellung von Urheberschaft genauso wenig befriedigen wie eine Entscheidung, die von naturgesetzmäßigen Ereignissen bestimmt ist (wie im Determinismus). Wir sehen also bei der genaueren Analyse, dass die Intuition, in Bezug auf Urheberschaft und Handlungsalternativen, in keiner der beiden Weltbilder auf ihre Kosten kommt. Prüfen wir abschließend noch, ob sich diese intuitiv missliche Lage bei der Analyse der dritten Bedingung im Kontext der beiden Weltbilder beheben lässt. Die dritte Bedingung, die Intelligibilitätsbedingung, lässt sich mit einem deterministischen Weltbild gut vereinbaren. Denn wenn eine Person einen guten Grund für ihre Entscheidung hat, stört es nicht, wenn dieser Grund ihr Handeln determiniert. Sie handelt dann notwendig nach ihrem Grund. In der Philosophie wird an dieser Stelle meist die Frage diskutiert, ob Gründe und Ursachen das Gleiche seien und auf die gleiche Weise kausal wirken oder nicht. Auf diese Frage gibt es unterschiedliche Antworten. Manche Philosophen unterscheiden Gründe und Ursachen dahingehend, dass sie Ursachen eher der physikalischen Welt zuordnen, die Gründe dagegen eher dem Mentalen bzw. dem Geistigem. Donald
14 An dieser Stelle kommt auch in einer indeterministischen Welt die Argumentation des Konsequenz-Arguments zum Tragen.
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Willensfreiheit aus philosophischer Perspektive
Davidson und Michel Pauen jedoch plädieren dafür, zwischen Gründen und Ursachen keinen Unterschied zu machen.15 An dieser Stelle eröffnet sich eine zweite ontologische Grundunterscheidung, diejenige zwischen Dualismus und Monismus. Im Dualismus, der bis in die vorchristliche Philosophie zurückgeht, wurde die Welt des Physischen mehr oder weniger stark getrennt von der Welt des Geistigen. In manchen Formen des Dualismus gibt es nicht die geringste Interaktion zwischen Geist und physischer Realität, meist aber nahm man an, dass es eine Schaltstelle im Menschen gebe, wo der Geist (die Seele) auf den Körper und damit auch auf die ganze physische Welt einwirken kann. In einer solchen Auffassung wären Ursachen und Gründe etwas kategorial Verschiedenes: Die Ursachen wirken in der physischen Welt (und damit auch im menschlichen Körper); die Gründe dagegen liegen in der Seele des Menschen. Ein solcher Dualismus wird inzwischen nur noch selten vertreten. Auch in dieser Arbeit wird ein monistisches Welt- und Menschenbild vorausgesetzt. Diese Voraussetzung ist deswegen nicht problematisch, weil auch bei der Annahme einer dualistischen Zwei-Welten-Theorie die Überlegung gilt: Entweder sind diese Welten deterministisch oder indeterministisch (oder die eine deterministisch und die andere indeterministisch). Die grundsätzlichen Aporien des Willensfreiheitsbegriffs, die im Folgenden unter der Annahme einer einzigen Welt analysiert werden, gälten dann auch analog für ein Zwei-Welten-System. Auch darauf werde ich an späterer Stelle noch zurückkommen.16 Wenn also im Folgenden von Ursachen und Gründen geschrieben wird, so gilt dies in diesem Sinne: Wenn ein Apfel vom Baum fällt, wurde dies durch die Schwerkraft verursacht. Wenn eine Person dagegen Freude daran hat, Opern zu hören, hat sie einen guten Grund, sich Karten für Carmen zu kaufen. Die Gründe im Bewusstsein einer Person hängen dabei eng mit den Ursachen in ihrem Körper, genauer gesagt in ihrem Gehirn zusammen. Es gibt also eine Übersetzungsmethode von Ursachen in Gründe und umgekehrt, die allerdings noch nicht sehr weit erforscht ist. Deswegen muss zwischen Ursachen und Gründen auch nicht grundsätzlich unterschieden werden. Im Einzelnen könnte man hinsichtlich des Unterschiedes zwischen Gründen und Ursachen etwa Fragen stellen wie die, ob ein Grund oder eine Ursache vorliegt, wenn eine Person unbewusst handelt, wie dies z. B. bei stark automatisierten Tätigkeiten der Fall ist. Wenn ich beispielsweise automatisiert meinen Computer ausschalte, ohne dass mir dies bewusst wird, ist dann das Ausschalten des Computers durch mein Handeln nur verursacht oder auch begründet? So sieht man schon an dem Phänomen des unbewussten, automatisierten Handelns, dass Gründe und Ursachen, physikalische Objekte und mentale Zustände nicht so klar zu trennen sind wie es der ontologische Dualismus annimmt. Aus diesen Grün 15 Vgl. Davidson, Handlungen; Pauen, Gründe, 146–149. 16 Vgl. u. 59 f.
Die Vereinbarkeit von Freiheit und Determinismus
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den übernehmen wir Pauens und Davidsons Ansicht, dass es keinen prinzipiellen Unterschied zwischen den beiden Arten von Kausalität gibt. Kehren wir aber wieder zu der Frage zurück, wie die drei Bedingungen der Willensfreiheit in den beiden Weltbildern realisierbar sind. So wie für den Determinismus oben beschrieben, besteht natürlich auch im Indeterminismus die Möglichkeit, aus guten Gründen zu handeln. Denn auch im Indeterminismus liegt nicht eine völlige Regel- und Gesetzlosigkeit der Prozesse vor, sondern lediglich eine durch mehr oder weniger häufige Zufälle unterbrochene Kausalitätenkette. Es stellt sich dann die Frage: Handelt es sich auch um gut begründetes Handeln, wenn nicht eine folgerichtige Überlegung, sondern ein Zufall einen guten Grund handlungswirksam werden lässt? Diese Frage ist wohl zu verneinen, auch wenn das unbegründet ausgelöste Handeln dennoch ein wünschenswertes Handeln wäre. Außerdem muss noch darauf hingewiesen werden, dass in einer indeterministischen Welt der Zufall auch eine unbewusste Handlung, also eine Handlung ohne Gründe, hervorrufen könnte. Dies zeigt, dass der Indeterminismus keineswegs der bessere Boden für Intelligibilität ist als der Determinismus. Je mehr Zufälle in einer Welt das Handeln der Personen bestimmen, desto geringer sind intelligible Handlungsbedingungen vorhanden. Auf der anderen Seite sind auch im Determinismus weitaus nicht alle Handlungen gut begründet, wie wir noch sehen werden.17 Die Intuition kommt also bei der Intelligibilitätsbedingung von Handlungen in beiden Weltbildern auf ihre Kosten. Allerdings ist damit für die Willensfreiheit selbst nichts gewonnen. Denn die Begründetheit einer Handlung hängt gerade an der Gesetzmäßigkeit ihres Zustandekommens und der Nachvollziehbarkeit dieser Gesetzmäßigkeit. Aber der Alternativismus und die Urheberschaft lassen sich ohne starke Einschränkung der Intuition in beiden Weltbildern nicht denken. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass sich die drei Bedingungen für Willensfreiheit in den beiden möglichen Weltbildern nur schwer erfüllen lassen. Die verschiedenen philosophischen Positionen entstehen dadurch, dass dieses Problem in unterschiedlicher Weise behandelt wird, um es doch noch zu lösen. Die idealtypischen Lösungsansätze sollen im folgenden Abschnitt systematisch entwickelt werden.
2.4 Die Vereinbarkeit von Freiheit und Determinismus: Die Grundfrage in der Willensfreiheitsdebatte Da das Triplett der drei Bedingungen nur mit mehr oder weniger starken Modifikationen gehalten werden kann, stehen die Philosophen entweder vor der Aufgabe, die Kriterien für Willensfreiheit und damit auch den Freiheitsbegriff selbst 17 Vgl. dazu u. 214–217.
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soweit abzuändern, dass sie sich in einem der beiden Weltbilder unterbringen lassen, oder aber einen neuen, bisher noch nicht gefundenen Begriff von Willensfreiheit zu konstruieren. Je nachdem, wie die Begriffsabschwächung bzw. Begriffsmodifikation im Einzelnen aussieht, ergeben sich unterschiedliche Positionen. Die erste Weichenstellung bei der Positionsbestimmung ergibt sich aus der Antwort auf die Frage, ob Freiheit und Determinismus miteinander vereinbar sind. Die Kompatibilisten bejahen diese Frage. Sie vertreten die dominante, für die analytische Philosophie repräsentative Theorie.18 Die Inkompatibilisten hingegen verneinen sie. Interessanterweise wurde die Vereinbarkeitsfrage lange Zeit ausschließlich in Bezug auf den deterministischen Standpunkt gestellt, also in der Form: Ist Willensfreiheit mit dem Determinismus vereinbar? Die ebenfalls mögliche Frage: Ist Willensfreiheit mit dem Indeterminismus vereinbar?, schien sich zu erübrigen. Offenbar ging man davon aus, dass in einem indeterminis tischen Rahmen eine echte Variante von Willensfreiheit selbstverständlich sei. Inzwischen ist aber erkannt worden, dass auch der Zufalls-Indeterminismus nicht automatisch eine unproblematische Grundlage für Willensfreiheit darbietet. Marco Stier unterscheidet fünf mögliche Positionen in der Freiheitsfrage, die sich aus der Kombination von Freiheitsbedingungen und Weltbildern ableiten:19 (1) Die Kompatibilisten behaupten die Vereinbarkeit von Determinismus und Willensfreiheit. (2) Die Inkompatibilisten verneinen diese Vereinbarkeit, spalten sich dann aber im Weiteren auf: (2a) Die harten Deterministen20 gehen davon aus, dass die Welt deterministisch ist und lehnen deswegen die Möglichkeit von Willensfreiheit ab. (2b) Im Gegensatz dazu meinen die Libertaristen, dass die Welt nicht deterministisch sei, und deswegen nehmen sie die Realität von Willensfreiheit an. (3) Die Impossibilisten sind der Ansicht, dass Willensfreiheit weder mit dem Determinismus noch mit dem Indeterminismus zusammen bestehen könne, und lehnen sie deswegen ab. (4) Mit dem Begriff Irrelevanzkompatibilisten bezeichnet Stier schließlich solche Autoren, die von der Realität von Willensfreiheit ausgehen und die Relevanz der Determinismusdebatte für die Freiheitsfrage schlichtweg bestreiten. Unter diesen fünf Positionen sprechen sich also drei für die Möglichkeit und Wirklichkeit von Willensfreiheit aus, nämlich die Kompatibilisten (Willensfreiheit zusammen mit Determinismus), die Libertaristen (Willensfreiheit unter Ablehnung 18 Vgl. Pothast, Analytische Philosophie, 295. 19 Vgl. Stier, Verantwortung 106–108. 20 Als weiche Deterministen werden immer wieder die Kompatibilisten bezeichnet. Vgl. aaO. 106 f.
Die Vereinbarkeit von Freiheit und Determinismus
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des Determinismus) und die Irrelevanzkompatibilisten (Willensfreiheit unter Absehung von dem Weltbild überhaupt). Letztere vertreten also den oben beschriebenen ethischen Freiheitsbegriff.21 Unter den Freiheitsleugnern begründet der harte Determinismus seine Position durch die Annahme der deterministischen Ontologie, während die Impossibilisten Freiheit mit keinem der beiden Weltbilder für kompatibel halten. Es ist anzunehmen, dass alle, also auch die beiden zuletzt genannten Gruppen, das Konzept der Handlungsfreiheit akzeptieren, wonach eine Handlung dann als frei bezeichnet wird, wenn kein äußerer Zwang vorliegt. Ein noch etwas weiter aufgefächertes Positionenspektrum schlägt Michael Quante vor. Er unterscheidet folgende Ansätze: Tab. 1: Positionen in der Willensfreiheitsdiskussion nach Quante. In Spalte 3 sind die Kategorien von Stier zugeordnet. Positionsbeschreibung
Quante
Stier
Freiheit ist nur mit dem Determinismus vereinbar & die Welt ist deterministisch.
Weicher Determinismus
Kompatibilismus bzw. Weicher Determinismus
Freiheit ist nur mit dem Determinismus vereinbar & die Welt ist indeterministisch.
Tragischer Kompatibilismus
–
Freiheit ist sowohl mit dem Determinismus als auch mit dem Indeterminismus vereinbar & die Welt ist deterministisch.
Sowohl-als-auchTheorie
Irrelevanz kompatibilimus
Freiheit ist sowohl mit dem Determinismus als auch mit dem Indeterminismus vereinbar & die Welt ist indeterministisch.
Sowohl-als-auchTheorie
Irrelevanz kompatibilismus
Freiheit ist nur mit dem Indeterminismus vereinbar & die Welt ist deterministisch.
Harter Determinismus, Tragischer Inkompatibilismus
Harter Determinismus
Freiheit ist nur mit dem Indeterminismus vereinbar & die Welt ist indeterministisch.
Libertarianismus
Libertarismus
Freiheit ist weder mit dem Determinismus noch mit dem Indeterminismus vereinbar & die Welt ist deterministisch.
Nihilismus
Impossibilismus
Freiheit ist weder mit dem Determinismus noch mit dem Indeterminismus vereinbar & die Welt ist indeterministisch.
Nihilismus
Impossibilismus
Quantes Kategoriensystem ist insofern umfassender als Stiers, als er den tragischen Kompatibilismus konstruiert, der sehr wahrscheinlich von niemandem 21 Vgl. o. 15.
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Willensfreiheit aus philosophischer Perspektive
vertreten wird, auch wenn sich zeigen wird, dass bei Kompatibilisten ein Anknüpfungspunkt für diese Position vorliegt.22 Außerdem hat Quante die beiden Positionen, die bei Stier Impossibilismus und Irrelevanzkompatibilismus heißen, noch einmal aufgespalten. Hier könnte man wieder reduzieren, weil sowohl die Nihilisten als auch die Sowohl-als-auch-Theoretiker keine Notwendigkeit sehen dürften, die ontologische Frage zu beantworten. Diese Einteilungen der philosophischen Positionen ermöglichen einen ersten Überblick über die Positionalität der philosophischen Willensfreiheitsdebatte.23 Wie sich noch zeigen wird, sollte man die Entwürfe auch noch in einer ganz anderen Dimension miteinander vergleichen. Denn bei Stier und Quante ergeben sich die Distinktionen durch verschiedene theoretische Grundentscheidungen. In der jetzt folgenden Detailargumentation der vorzustellenden Autoren wird aber sichtbar werden, dass auch der Gegensatz zwischen emotionsorientierter Intuition und theoretischer Rationalität eine große Rolle bei der Theoriebildung spielt. Man sollte also die philosophischen Standpunkte auch noch auf das Gegensatzpaar Rationalität und Intuition beziehen. Wie dieses zusätzlich differenzierte Positionenschema aussehen könnte, zeige ich am Ende dieses Kapitels auf.
2.5 Ausgewählte philosophische Entwürfe zur Willensfreiheitsthematik Wir beginnen die Reihe mit Michael Pauen, der in Deutschland wesentlich am Ausbau der kompatibilistischen Grundposition beteiligt war. Ihm folgt Geert Keil, der als Libertarist im direkten Gegensatz zu Pauen steht. Bettina Walde befindet sich wieder recht nahe bei Pauen, sie will aber, ausgehend vom Kompatibilismus und unter Zuhilfenahme eines inkompatibilistischen Argumentes, der Intuition stärker Rechnung tragen als Pauen. Ted Honderich wird noch am ehesten, wenn auch nicht von allen Autoren, dem harten Determinismus24 zugeordnet, soweit dieser überhaupt noch lebendig ist. Er kommt zu einer pessimistischen Beurteilung dessen, was die Befriedigung der Freiheitsintuition betrifft.
22 Vgl. u. 164–183; 190–193 o. 23 Auch bei Guckes, Illusion, findet sich auf S. 22–25 ein entsprechendes Kategoriensystem, das aber durch die hier behandelten vollständig abgebildet wird. 24 Die Position des harten Determinismus wird heute eher von manchen Neurobiologen vertreten, wie etwa Wolf Singer, vgl. u. 94; der frühe Roth, vgl. u. 3.3 S. 1.
Ausgewählte philosophische Entwürfe zur Willensfreiheitsthematik
25
2.5.1 Michael Pauen: Eine kompatibilistische Minimalkonzeption von personaler Freiheit Pauens Theorie behauptet „eine grundsätzliche Kompatibilität von Freiheit und Determinismus“.25 Im Großen und Ganzen geht Pauen auch von der Gültigkeit des Determinismus aus. Trotzdem setzt er sich immer wieder mit dem Begriff des Zufalls auseinander, der im Determinismus keinen Platz hat. Es darf nach Pauen sogar überhaupt keinen Zufall in der Willensbildung geben, weil die daraus folgenden Handlungen dem Handelnden nicht zugerechnet werden könnten. Dieser Sachverhalt wird von ihm unter dem Stichwort „Urheberschaft“ behandelt.26 An anderer Stelle behauptet Pauen ausdrücklich, dass er das Problem des Determinismus nur erörtert […], um damit näheren Aufschluss über die Kriterien freier Handlungen zu erlangen. Ich werde meinerseits keine Annahmen darüber machen, ob unsere Welt deterministisch ist oder nicht.27
Es irritiert etwas, dass Pauen eine Freiheitskonzeption für den Determinismus entwickelt und gleichzeitig keine Entscheidung über die Wahrheit des Determinismus treffen will. Es könnte scheinen, als sei Pauen wegen seiner Zurück weisung der Frage nach der Wahrheit des Determinismus als Irrelevanz-Kompatibilist einzustufen wäre. Aber tatsächlich hält er den Zufall für ungeeignet, um Freiheit zu ermöglichen. Wir werden auf diese merkwürdige Tatsache noch zurückkommen.28 Jetzt aber entfalten wir zuerst Pauens Theorie. Er beginnt bei der Definition von Handlungsfreiheit, um von dieser aus schrittweise zu einem „Mehr“ an Freiheit zu gelangen.
25 Pauen, Minimalkonzeption, 80. 26 Vgl. u. 27 f. 27 Pauen, Minimalkonzeption, 81 f. Gegen eine solche vornehme Zurückhaltung vor einer Entscheidung für oder gegen den Determinismus wendet sich Ulrich Pothast, Letzte Verantwortlichkeit, 129 f.: „Ich halte es für kaum Erfolg versprechend, beim Legitimationsversuch für gesellschaftliche und rechtliche Reaktionen auf geschehene Verfehlung über gesetzmäßige Verhältnisse in der Welt und der Gesellschaft nur in der Möglichkeitsform zu sprechen […] Ich vermute also, die Legitimation konkreter Formen der Verantwortlichkeit unter Menschen, so verschieden sie von Zeitalter zu Zeitalter und von Kultur zu Kultur sein mögen, wird die Philosophen, die dieses Legitimationserfordernis ernst nehmen, von der akademischen Zurückhaltung über die Realität gesetzmäßiger Verhältnisse bei der Entstehung menschlichen Handelns wegführen müssen […] Zu dem, was hier anzuerkennen ist, gehört auch, dass wir die angemessene Prüfung und Rechtfertigung dessen, was wir als Verantwortung unter Menschen prak tizieren und verteidigen wollen, wohl nur unter Hinzuziehen der einschlägigen empirischen Erkenntnisse glaubwürdig zustande bringen werden.“ 28 Vgl. u. 27 Anm. 38.
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Willensfreiheit aus philosophischer Perspektive
2.5.1.1 Zwischen Handlungsfreiheit und Entscheidungsfreiheit Nach Pauen ist eine Person dann handlungsfrei29, wenn sie ungezwungen ihrem Willen folgen kann: Handlungsfreiheit besitzt eine Person, die so handeln kann, wie sie will. Wenn ich den Willen habe, eine Zigarette zu rauchen, und die äußeren Umstände mir die Realisierung der entsprechenden Handlung erlauben, dann besitze ich Handlungsfreiheit. Eingeschränkt wird diese Freiheit also nur durch Faktoren außerhalb meines Körpers. Attraktiv ist diese Position, weil sie über ein vergleichsweise klares Kriterium verfügt und überdies mit dem Determinismus vereinbar ist. Aus Sicht einer Vertreterin der Handlungsfreiheit können freie Handlungen determiniert und determinierte Handlungen frei sein, weil nichts dagegen spricht, dass der Wille seinerseits determiniert ist. Entscheidend ist lediglich die Übereinstimmung von Wille und Handlung. Da der Wille das Kriterium der Freiheit darstellt, ist die Frage nach der Freiheit des Willens aus der Sicht eines Vertreters dieser Position […] schlicht sinnlos […].30
Nach dieser Definition sei auch ein Alkoholiker frei, wenn er willentlich nach der Flasche greife. So lange es keine externen Hindernisse gebe, die ihn am Trinken hindern, gebe es auch „keinen Grund, ihm die Handlungsfreiheit streitig zu machen“. Aber die Reduktion von Willensfreiheit auf bloße Handlungsfreiheit sei unbefriedigend. Die Meisten verlangen nach einer stärkeren Form von Freiheit, nämlich nach der Willens- bzw. Entscheidungsfreiheit.31 Nach der Analyse der Positionen von Roderick Chisolm, Galen Strawson und Harry G. Frankfurt32 kommt Pauen zu dem Schluss, dass es keine „wirklich überzeugende Theorie der Entscheidungsfreiheit“ gebe.33 Er will deswegen ein Konzept von personaler Freiheit entwickeln, die zwischen bloßer Handlungsfreiheit und unmöglicher Entscheidungsfreiheit steht. Pauens „Minimalkonzeption der personalen Freiheit“ soll sowohl den vorwissenschaftlichen Intuitionen für die Freiheit als auch den philosophischen Einwänden von inkompatibilistischer Seite gegen die Möglichkeit von Freiheit in einer determinierten Welt standhalten können.34 Für dieses Konzept gibt Pauen zwei Minimalbedingungen an, nämlich die Geltung zweier Prinzipien, des Autonomieprinzips und des Urheberprinzips. Es ist gleich festzuhalten, dass diese Prinzipien die personale Freiheit nicht positiv definieren, sondern lediglich beschreiben, welche Eigenschaften eine freie Handlung nicht haben darf, um als freie Handlung gelten zu können. Die beiden Prinzipien sind 29 Vgl. Pauen, Illusion, 14 f.; 28 f.; 34–36. 30 Pauen, aaO. 35. Vgl. o. 15 f. 31 AaO. 36. 32 Vgl. aaO. 38–58. 33 AaO. 59. 34 Vgl. aaO. 59 f.
Ausgewählte philosophische Entwürfe zur Willensfreiheitsthematik
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also eher Annahmen darüber, „was Freiheit nicht ist“.35 Es wird am Ende geprüft werden müssen, ob Pauen tatsächlich einen Begriff von personaler Freiheit entwickeln kann, der reichhaltiger ist als der Begriff der Handlungsfreiheit.36
2.5.1.2 Autonomieprinzip und Urheberprinzip Das Autonomieprinzip schließt aus, dass sich eine Handlung vollständig auf äußere Umstände zurückführen lässt. Autonomie liege vor, wenn eine Person weder durch äußeren Zwang noch durch sonst eine externe Steuerung, wie etwa Hypnose, handle. Ein Bankangestellter, der von einem Bankräuber mit einer Pistole bedroht wird und daraufhin diesem das gesamte Geld aushändigt, würde nach Pauens Konzeption also nicht frei handeln. Das Autonomieprinzip geht demnach nicht weiter als Handlungsfreiheit.37 Pauens zweites Prinzip ist das Urheberprinzip. Es steht für die Einsicht, dass freie Handlungen auch nicht von zufälligen Ereignissen verursacht sein dürfen. Pauen möchte eine feste Verbindung zwischen der Handlung und der Person garantieren. Deswegen müsse die Person, und nicht der Zufall, Urheber einer Handlung sein. Nur wenn die Person selbst der Urheber einer Handlung sei, könne die Handlung der Person mit Recht zugeschrieben werden. Pauen konkretisiert das Prinzip der Zuschreibung folgendermaßen: Der hier gemeinte Sinn von Zuschreibbarkeit lässt sich am einfachsten erläutern, wenn man berücksichtigt, dass Freiheit […] einen Handlungsspielraum zwischen einer Option x und einer Option y impliziert. Zuschreibbar ist eine Handlung unter diesen Bedingungen dann, wenn der Bezug auf die Person eine kritische Rolle in der Erklärung dafür spielt, dass die Handlung x statt der Handlung y vollzogen worden ist, d. h. wenn erst der Bezug auf die Person selbst verständlich machen kann, warum in der gegebenen Situation die Handlung x und nicht die Handlung y vollzogen worden ist. Voraussetzung dafür ist eine hinreichend robuste Verbindung zwischen der Person und ihrer Handlung; dies bedeutet jedoch nicht, dass hier eine deterministische Beziehung erforderlich ist. In Frage kommen hier auch starke probabilistische Erklärungen.38 35 AaO. 59. 36 Vgl. u. 46 f. 37 Vgl. aaO. 60–62. 38 Pauen, aaO. 62 f. Das Stichwort Probabilismus ist in diesem Zusammenhang schwierig zu interpretieren. Fasst man den betreffenden Satz erkenntnistheoretisch auf, so wäre er so zu verstehen: Wir haben vielleicht eine Person wiederholt in einer bestimmten Situation beobachtet. In achtzig Prozent dieser Fälle hat sie die Handlung x vollzogen, ansonsten die Handlung y. Wir wissen nicht ganz sicher (deterministisch), ob die Person auch das nächste Mal x tun wird, können aber mit großer Wahrscheinlichkeit (probabilistisch) davon ausgehen. In jedem Fall wäre die nächste Handlung jedoch vollständig determiniert. Lediglich unsere Unkenntis der im Entscheidungsprozess der Person wirkenden Faktoren ermöglicht uns keine sichere Voraussage. Dieses Verständnis würde zu einem deterministischen Weltbild passen.
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Willensfreiheit aus philosophischer Perspektive
Einem Vegetarier könnte daher der Verzicht auf ein angebotenes Fleischgericht als freie Handlung zugeschrieben werden, weil dieses Verhalten fest mit der Person und ihren Eigenschaften verknüpft ist. Es könnte aber auch sein, dass diese Person großen Wert auf Höflichkeit legt und deshalb in einer konkreten Gastsituation doch einmal ein nicht vegetarisches Gericht verspeist. Die Entscheidungen dieser Person in derartigen Situationen können also nur mit (robuster) Wahrscheinlichkeit, nicht aber mit Notwendigkeit erwartet werden.
2.5.1.3 Selbstbestimmung Das Autonomie- und das Urheberprinzip ermöglichen nach Pauen die personale Freiheit in einem minimalen Sinne. Der Minimalbegriff von Freiheit könne mit dem Begriff „Selbstbestimmung“ ausgedrückt werden. Selbstbestimmung stellt für Pauen eine hinreichende Bedingung für Autonomie und Urheberschaft dar, jedoch eine notwendige Bedingung nur für die Urheberschaft: Ganz unabhängig davon, wie man die beiden Bedingungen im Einzelnen auslegt, so werden sie durch selbstbestimmte Handlungen erfüllt: Selbstbestimmung ist unverträglich mit Fremdbestimmung und daher auch mit Zwang und externer Determination – selbstbestimmte Handlungen erfüllen also das Autonomieprinzip. Gleichzeitig entsprechen selbstbestimmte Handlungen auch der Forderung nach Urheberschaft: Von Selbstbestimmung kann schließlich nur dann die Rede sein, wenn die handelnde Person selbst bestimmt, was sie tut. Dies schließt aus, dass die fragliche Aktivität zufällig zustande gekommen ist, vielmehr muss es möglich sein, die Handlung der Person zuzuschreiben. Selbstbestimmte Handlungen erfüllen damit auch das Urheberprinzip. Selbstbestimmung stellt aber auch eine notwendige Bedingung zumindest für die Erfüllung des Urheberprinzips dar: Wir würden nicht sagen, dass eine Handlung auf ihren Urheber zurückzuführen ist, wenn es nicht der Handelnde selbst war, der die fragliche Handlung bestimmt hat.39
Man könnte den Probabilismus aber auch ontologisch verstehen. Dann ginge es um echte Zufallsereignisse, wie sie von der Quantenphysik beschrieben werden. In der gemeinsamen Publikation mit dem Neurobiologen Gerhard Roth wird die Möglichkeit reflektiert, dass quantenphysikalische Zufälligkeiten Auswirkungen auf Gehirnprozesse haben könnten. Die beiden Autoren gehen davon aus, dass bei den meisten Gehirnfunktionen die mikrophysikalischen Indeterminiertheiten keine Rolle spielen, da bei der Aktivität des Gehirns jeweils sehr viele molekulare Vorgänge beteiligt seien, deren Zufälligkeiten sich dabei ausmitteln würden. Die Autoren sprechen auch von einer Quasi-Determiniertheit der Welt, „d. h. determiniert ablaufende Prozesse sind von Zufälligkeiten durchsetzt, die gleichzeitig in den Grenzen bestimmter Wahrscheinlichkeiten bleiben.“ (Pauen/Roth, Freiheit, 110). Im letzten Satz definieren sie exakt den quantenphysikalischen Indeterminismus. Sie ziehen aber daraus keine Konsequenzen, weil sie die Rolle der Zufälligkeiten für vernachlässigbar erachten. Faktisch setzen sie also den Determinismus voraus, weshalb Pauen eben doch kein Irrelevanz-Kompatibilist ist, sondern ein weicher Determinist. 39 Pauen, aaO. 64 f.
Ausgewählte philosophische Entwürfe zur Willensfreiheitsthematik
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Kurz gefasst: Aus der Selbstbestimmung folgt sowohl das Autonomieprinzip als auch das Urheberprinzip. Aus dem Urheberprinzip folgt auch die Selbstbestimmung. Aber aus dem Autonomieprinzip folgt nicht notwendig die Selbstbestimmung. Denn es gibt autonome (handlungsfreie) Handlungen, die an sich nicht selbstbestimmt sind, wenn nicht das Urheberprinzip noch hinzukommt. Wenn selbstbestimmte Handlungen also weder zufällig noch durch äußeren Zwang verursacht sind, – wodurch dann? Was verbirgt sich hinter dem Begriff „Selbst“, welches das selbstbestimmte Handeln ermöglicht? Zunächst darf nach Pauen das Selbst nicht in einem cartesianischen Sinn verstanden werden, also nicht als eine immaterielle Instanz, die der Materie befiehlt, was zu tun sei. Näherhin versteht er unter dem Selbst die „Fähigkeiten und Eigenschaften, die konstitutiv für eine Person sind“.40 Dies bedeute, dass nur diejenigen Eigenschaften einer Person zum Selbst gezählt werden, die als besonders charakteristisch für sie gelten. Diese „Personalen Merkmale“ versucht Pauen näher zu bestimmen, indem er weiterhin zwischen „Personalen Fähigkeiten“ und „Personalen Präferenzen“ unterscheidet.
2.5.1.4 Personale Fähigkeiten und personale Präferenzen Personale Fähigkeiten sind nach Pauen die Voraussetzungen für personale Präferenzen. Er definiert die beiden Begriffe so: Personale Fähigkeiten müssen grundsätzlich vorhanden sein, damit eine Person sich selbst bestimmen kann. Ganz generell wird man hierzu diejenigen Fähigkeiten zählen, die erforderlich sind, um selbstbestimmte Entscheidungen zu treffen und sie in die dazugehörigen Handlungen umzusetzen. Bei Personalen Präferenzen dagegen handelt es sich um spezifische Überzeugungen, Wünsche und Dispositionen, die eine Person als ein ganz bestimmtes Individuum gegenüber anderen Individuen auszeichnen. Diese Präferenzen dürften also eine zentrale Rolle in der Erklärung dafür spielen, dass eine Person eine bestimmte Handlungsoption einer anderen Option vorgezogen hat. Zu betonen ist dabei, dass personale Präferenzen nur eine Auswahl derjenigen Überzeugungen, Wünsche und Dispositionen darstellen, die eine Person faktisch besitzt.41
Es wird deutlich, dass Pauen hier auf der Suche nach einer besonderen Art innerer Bestimmung von Handlungen ist. Unter die personalen Fähigkeiten fällt bei ihm „ein Minimum an Rationalität auf Seiten der Handelnden“, nämlich fähig zu sein, im Sinne der personalen Präferenzen zu handeln.42 Konkret geht es dabei um „die Fähigkeit zum Erkennen von Handlungsfolgen und zur Abwägung 40 AaO. 65. 41 AaO. 67. Hervorhebungen wie im Original. 42 AaO. 68.
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konkurrierender Wünsche und Überzeugungen“, aber auch um „die Ansprechbarkeit für Normen und die Fähigkeit, getroffene Entscheidungen in die Tat umzusetzen.“43 Der Begriff der personalen Präferenz ist einer der schwierigsten in Pauens Konzeption. Offensichtlich will er drei verschiedene Formen von Handlungsverursachungen voneinander unterscheiden, bei denen schon mindestens das Vorliegen von Handlungsfreiheit vorausgesetzt ist. Die erste Form dieser Handlungsursachen sind die personalen Präferenzen. Von ihnen unterscheidet er zweitens inneren Zwang (etwa Sucht oder psychische Erkrankungen).44 Drittens gibt es die so genannten nicht-personalen Präferenzen, sofern sie nicht unter die Kategorie Abhängigkeit fallen. Für diese Art nicht-personaler Präferenzen gibt Pauen keine genaue Definition, aber auch keine ganz befriedigenden Umschreibungen. Aus dem einzigen konkreten Beispiel können nur grobe Vorstellungen davon entwickelt werden, was eine nicht-personale Präferenz sein könnte. Pauens Beispiel handelt von einem Menschen, der eine „für seine Persönlichkeit konstitutive Leidenschaft für italienische Opern besitzt“.45 Dieser Mensch hat damit eine personale Präferenz für Opern. Ein Mensch hingegen, welcher jetzt gerade zum ersten Mal eine Oper besucht und dem diese Oper gefällt, hat noch keine personale Präferenz dafür. Denn personale Präferenzen sind „Einstellungen, die konstitutiv für eine Person sind“ und die „eine gewisse Stabilität besitzen“.46 Im Bewusstsein dafür, dass es schwierig sein dürfte zu bestimmen, ab wann ein bloßes Gefallen-Haben an etwas in eine personale Präferenz übergeht, schlägt Pauen als „Minimalkriterium […] vor, dass eine Person die betreffende Präferenz seit zumindest einem Tag besitzt und diese Präferenz auch schon zumindest einmal handlungswirksam geworden ist.“47 Es ist also die zeitliche Stabilität, die eine personale Präferenz im Gegensatz zu einer nicht-personalen Präferenz ausmacht. Allerdings erklärt Pauen später, dass auch die personalen Präferenzen sich über – vermutlich längere – Zeiträume hinweg ändern können, sogar in ihr Gegenteil.48 Damit ermöglicht das zeitliche Kriterium, das Pauen als einziges nennt, um personale von nicht-personalen Präferenzen zu unterscheiden, doch keine ganz exakte begriffliche Differenzierung. Dennoch bezeichnen wir im Folgenden aus sprachlichen Gründen Pauens nicht-personale Präferenzen, die nicht unter die Kategorie inneren Zwang fallen, als momentane Präferenzen.
43 AaO. 71. Diese Fähigkeiten werden bei Gerhard Roths Vier-Ebenen-Modell der kognitiv-kommunikativen Ebene (Handlungsfolgen) und der oberen limbischen Ebene (Ansprechbarkeit auf Normen und Handlungsausführung) zugeordnet. Vgl. u. 107 f. 44 Vgl. aaO. 76. 45 AaO. 76. 46 AaO. 75. 47 AaO. 76. 48 Vgl. aaO. 94.
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Bei der weiteren Entwicklung seiner Theorie kommt es Pauen darauf an, weitere Entscheidungskriterien zu entwickeln, um die personalen Präferenzen einerseits von innerem Zwang abzugrenzen, auf der anderen Seite von momentanen Präferenzen. Bei der Näherbestimmung dessen, was eine personale Präferenz sein könnte, muss nach Pauen zwischen drei Denkvarianten differenziert werden. 2.5.1.4.1 Die rationale Variante von personalen Präferenzen In der rationalen Variante wird die personale Präferenz sehr eng an die Rationalität gebunden. Eine personale Präferenz läge demnach genau dann vor, wenn der Akteur „gute Gründe für diese Präferenz“ hätte. Pauen hält diese Bedingung für eine hinreichende, aber nicht für eine notwendige Bedingung für personale Präferenz. Denn es gebe durchaus auch personale Präferenzen, die sich nicht rational rechtfertigen ließen. Pauen begründet dieses Urteil zweifach: Zum einen stimmen die meisten Moralphilosophen darin überein, dass es bessere Gründe für pflichtmäßiges Handeln gebe als dagegen.49 Dann hätten aber alle, die gegen die Pflicht verstoßen, keine guten Gründe für ihr Verhalten. Ihr pflichtwidriges Verhalten wäre demnach nicht selbstbestimmt, da die Präferenz zur Pflichtverletzung per definitionem keine personale Präferenz wäre.50 Zum anderen seien Personen zwar auch, aber nicht nur rationale Wesen. Ihre Handlungen werden durch individuelle Gründe bestimmt, wie etwa „spezifische Wünsche, Emotionen und Bedürfnisse“.51 Solche nicht rationalen Gründe seien konstitutiv für Personen, weshalb eine ausschließlich rationale Definition personaler Präferenzen undurchführbar sei.52 2.5.1.4.2 Die liberale Variante von personalen Präferenzen In der liberalen Variante und auch in der später zu behandelnden identifikatorischen Variante sind nicht-rationale Aspekte von personalen Präferenzen zugelassen. Diese dürfen lediglich nicht „durch externe Faktoren determiniert“ sein. Allerdings dürfen die personalen Präferenzen durch Faktoren entstanden sein, „die sich dem Einfluss des Urhebers entziehen, also z. B. auf genetische und soziale Bedingungen oder auf Ereignisse, die vor der Geburt des Urhebers stattgefunden haben“.53 Doch was ist nun der Unterschied zwischen ‚durch externe Faktoren determiniert‘ und ‚durch externe Faktoren entstanden‘? Wenn eine extern entstandene Einstellung ein „möglicher Gegenstand einer wirksamen selbstbestimmten Entscheidung“ ist, handelt es sich nach der liberalen Variante um eine personale 49 Vgl. aaO. 77. 50 Vgl. aaO. 78. John Martin Fischers Alternativvorschlag für einen rationalistischen Ansatz hält Pauen für zu schwach begründet. 51 AaO. 79. 52 Vgl. aaO. 80. 53 AaO. 81. Hier wendet sich Pauen insbesondere gegen Strawson. Zur Diskussion des Konsequenz-Argumentes, das hier einschlägig ist, vgl. u. 43–46; 65; 217.
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Präferenz.54 Extern entstandene Präferenzen können personale Präferenzen sein, wenn sie aufgegeben werden könnten. Extern entstandene Präferenzen, die nicht aufgegeben werden könnten, wären dann extern determiniert und deswegen keine personalen Präferenzen. Es ist an dieser Stelle vielleicht hilfreich, auf den Unterschied hinzuweisen zwischen äußerem, also ebenfalls externem Zwang, der schon die Handlungsfreiheit unmöglich macht, und externer Determination von innerlichen Präferenzen einer Person. Externer Zwang läge etwa vor, wenn ein Vater sein Kind dazu zwingt, sein Zimmer aufzuräumen. Wenn jemand als Kind immer durch äußeren Zwang dazu gebracht wurde, sein Zimmer aufzuräumen, könnte dadurch die Gewohnheit entstehen, dass dieser Mensch auch als Erwachsener immer in aufgeräumten Zimmern lebt. Wenn dieser Mensch sich gegen diese Gewohnheit entscheiden könnte, wäre seine „Aufgeräumtheit“ eine extern entstandene, aber dennoch personale Präferenz. Könnte er sich nicht gegen diese Gewohnheit entscheiden, handelte es sich um eine externe Determination, aber nicht mehr um äußeren Zwang. Das Beispiel zeigt: Externe Determination kann in inneren Zwang übergehen. Um die verschiedenen Handlungsverursachungen bei Pauen zu veranschaulichen, können wir folgende Sachverhalte unterscheiden: 1. Äußerer Zwang auf ein Kind, sein Zimmer aufzuräumen (keine Handlungs freiheit). 2. Die Freiheit, sein Zimmer aufzuräumen, wenn man will (Handlungsfreiheit). 3. Eine momentane Präferenz, sein Zimmer in diesem Moment aufzuräumen (verschwindet entweder schnell wieder oder entwickelt sich zu Fall 4. oder 5. weiter). 4. Eine personale Präferenz, sein Zimmer immer (mindestens aber mittelfristig) aufgeräumt zu halten (personale Freiheit nach Pauen – die Person könnte sich auch dagegen entscheiden, ihr Zimmer aufzuräumen). 5. Ein innerer Zwang, sein Zimmer immer aufgeräumt zu halten (keine Freiheit – die Person könnte sich nicht dagegen entscheiden, ihr Zimmer aufzuräumen).
54 AaO. 82. Diese Bestimmung erscheint insofern als problematisch, als eine personale Präferenz, welche doch die Voraussetzung selbstbestimmter Entscheidungen ist, dadurch definiert wird, dass sie ein möglicher Gegenstand einer selbstbestimmten Entscheidung sei. In einer gewissen Analogie zur liberalen Variante zur Identifikation von personalen Präferenzen steht Ulrich Steinvorth. Er geht davon aus, dass man willensfrei im scholastischen Sinne entscheiden könne. Dies geschehe dann, wenn man gelegentlich aus dem Grund anders entscheide als man sonst entschieden hätte, um zu beweisen, dass man willensfrei sei. „Wer durch Gründe determiniert ist, kann durch einen besonderen Grund determiniert sein. Er kann […] durch den Grund determiniert sein, seine Willensfreiheit zu beweisen. Dadurch ändert sich seine Determination so radikal, dass wir ihm Willensfreiheit im scholastischen Sinn zusprechen müssen.“ (Steinvorth, In welchem Sinn, 8, Hervorhebung durch mich).
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Bei der weiteren Analyse der liberalen Variante von personaler Präferenz führt Pauen an, dass erstens personale Präferenzen auch dann vorliegen können, wenn sie nicht faktisch Gegenstand einer selbstbestimmten Entscheidung waren. Es reiche aus, wenn eine solche Entscheidung getroffen werden könnte. Es ist einleuchtend, dass eine personale Präferenz auf diese Weise beschrieben werden kann. Im konkreten empirischen Fall kann damit aber noch nicht festgestellt werden, ob eine bestimmte Person ein zeitüberdauerndes Verhalten aufgrund einer personalen Präferenz oder eines inneren Zwangs zeigt. Zweitens könne eine Einstellung nur dann eine personale Präferenz sein, wenn eine Person sich auch gegen sie entscheiden könnte.55 Auch dies ist als Definitionselement plausibel. Aber auch hier ist festzustellen, dass im konkreten Fall ein zeitüberdauerndes Verhalten so lange auf personale Präferenzen oder auf inneren Zwang zurückzuführen wäre, solange die Entscheidung nicht gefallen ist. Drittens dürfe die Entscheidung für oder gegen eine Einstellung nicht willkürlich fallen, sondern müsse auf andere personale Präferenzen zurückzuführen sein.56 Bei dieser dritten Bedingung fragt sich Pauen, ob er nicht in einen Regress geraten sei, indem er die problematische Erkenntnis einer personalen Präferenz durch Rekurs auf andere, genauso problematisch zu erkennende, personale Präferenzen erreichen will. Dieses Problem wird dadurch noch größer, dass nach unserer Analyse der beiden vorhergegangenen Bestimmungen das Vorhandensein einer personalen Präferenz empirisch erst dann festgestellt werden kann, wenn sie Gegenstand einer selbstbestimmten Entscheidung war. Diesen Regressverdacht versucht Pauen durch folgende Argumentation abzuwehren: „Um festzustellen, ob eine Person die Fähigkeit hat, eine bestimmte Präferenz gegebenenfalls zu korrigieren, muss man keineswegs deren übrige Präferenzen kennen.“ Es reiche vielmehr aus zu wissen, „ob die Person die dispositionale Fähigkeit hat, die fragliche Präferenz überhaupt willentlich zu korrigieren.“57 Was soll das bedeuten? Fragen wir uns etwa mit dem Pauenschen Beispiel, ob die Vorliebe einer Person für italienische Opern eine personale Präferenz sei oder ein innerer Zwang. Um diese Frage entscheiden zu können, müssen wir demgemäß nicht die sonstigen Präferenzen der Person kennen, sondern lediglich wissen, ob die Person „die dispositionale Fähigkeit hat, die fragliche Präferenz [hier: Opern hören] überhaupt willentlich zu korrigieren.“ Um diese Frage zu klären, gibt es nach Pauen zwei Möglichkeiten. Wenn die Opernvorliebe rational begründet wäre, könnte sie als personale Präferenz erkannt werden, wenn die Person sie aufgrund besserer Gründe aufgeben würde. Würde die Person, trotz besserer Gründe, diese Präferenz nicht aufgeben, wäre es keine personale Präferenz. Nun ist Opernvorliebe offensichtlich nicht rational begründet. Also ist 55 Vgl. Pauen, Illusion, 83. 56 Vgl. aaO. 83 f. 57 AaO. 85.
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dieser erste Weg am gegebenen Beispiel nicht gangbar. Der zweite beginnt bei der Frage danach, ob es sich bei der Opernvorliebe der Person um eine psychische Abhängigkeit handle, die durch einen Willensakt nicht überwunden werden kann. Wer etwa schon sein ganzes Geld für Opernkarten ausgegeben habe und kurz vor dem Ruin stehe, wäre süchtig nach Opern, und es läge bei ihm keine personale Präferenz vor. Gehe die fragliche Person aber im Großen und Ganzen gut bildungsbürgerlich mit ihrer Opernliebe um, liege keine Abhängigkeit vor. Nach Pauens Vorschlag handelte es sich demnach um eine personale Präferenz.58 Ist damit aber tatsächlich eine sichere Erkenntnis einer personalen Präferenz ermöglicht? Zweifellos gelingt die Abgrenzung zwischen personaler Präferenz und momentaner Präferenz gut über die Beobachtung des Zeitraumes, über den hinweg eine Präferenz besteht. Was aber ist mit der Abgrenzung zwischen personalen Präferenzen und innerem Zwang? Könnte es nicht sein, dass auch dann ein innerer Zwang nach Opernbesuch besteht, wenn die bürgerliche Existenz davon nicht beeinträchtigt wird? Etwa so wie eine Alkoholabhängigkeit, die von einer Person lange Zeit verdrängt und von ihrer Umgebung bagatellisiert wird? Es dürfte demnach Fälle geben, bei denen es sich aus der Dritten-Person-Perspektive nicht entscheiden lässt, ob eine Handlung auf eine personale Präferenz zurückzuführen ist oder auf einen inneren Zwang.59 Aus der Ersten-Person-Perspektive lässt sich der Unterschied zwischen personaler Präferenz und Abhängigkeit (innerer Zwang) erst entscheiden, wenn die Person aktiv versucht hat, eine gewohnte Handlung aufzugeben. Ob also beispielsweise eine Person unter einer Opernoder Alkoholabhängigkeit leidet, kann sie selbst erst feststellen, wenn sie einmal versucht hat, längere Zeit auf Opern oder Alkohol zu verzichten. So lange sie dies nicht getan hat, kann ihre Vorliebe sowohl auf eine personale Präferenz als auch auf einen inneren Zwang zurückgeführt werden. Damit kommen wir zu diesem Zwischenergebnis: In der rationalen Variante lassen sich personale Präferenzen bezüglich rational zugänglicher Entscheidungen von Abhängigkeiten gut unterscheiden. Allerdings erlaubt die rationale Variante keine Erkenntnis von personalen Präferenzen mit emotionalen Komponenten. Die liberale Variante ermöglicht es, momentane Präferenzen und personalen Präferenzen begrifflich und empirisch-diagnostisch zu unterscheiden. Es ist jedoch nicht möglich, personale Präferenzen von inneren Zwängen zu unterscheiden, solange eine zeitüberdauernde Präferenz noch nicht Gegenstand einer selbstbestimmten Entscheidung geworden ist. Damit sind beide von Pauen vorgeschlagenen Wege, um eine Präferenz als personale Präferenz zu erkennen, ohne 58 Vgl. aaO. 84 f.; Pauen, Minimalkonzeption, 91 f. 59 Vgl. die Fälle 4 und 5 im obigen Beispiel des aufgeräumten Zimmers. Empirisch betrachtet erscheint das Zimmer in beiden Fällen aufgeräumt. Aus der Dritten-Person-Perspektive dürfte es allerdings schwer zu erkennen sein, ob die Aufräumaktion auf eine personale Präferenz oder auf einen inneren Zwang zurückzuführen ist. Vgl. o. 32.
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auf andere personale Präferenzen rekurrieren zu müssen, fehlgeschlagen. Das Regressproblem bleibt als erkenntnistheoretisches Problem bestehen.60 Pauen bemerkt diesen Sachverhalt selbst. Um ihn zu relativieren, weist er darauf hin, dass der bisherige Fortschritt der Neurowissenschaften darauf hoffen lasse, in Zukunft emotionale personale Präferenzen durch neuronale Aktivitätsmuster zu identifizieren. Auch die Volitionspsychologie ermögliche vielleicht einmal Rückschlüsse auf personale Präferenzen emotionaler Art.61 Damit stehen wir vor dem Tatbestand, dass aus der Dritten-Person-Perspektive nicht entschieden werden kann, ob eine Person nach einer personalen Präferenz oder aus innerem Zwang handelt. Ein zukünftig möglicher Präferenz-Detektor kann aber möglicherweise ein und demselben Verhalten zwei verschiedene Hirnaktivitätsmuster zuordnen, welche der begrifflichen Differenz zwischen persönlichen Präferenzen und innerem Zwang entsprechen. Ein solcher Gehirnscanner würde also einem Lügen-Detektor vergleichbar arbeiten. Nach der bisherigen Entwicklung der liberalen Variante des Kriteriums zur Feststellung einer personalen Präferenz wirft Pauen noch einmal die Frage auf, ob eine personale Präferenz, die extern entstanden ist, tatsächlich von einer externen Determination trennscharf unterschieden werden kann. Diese Frage war eigentlich schon positiv beantwortet worden.62 Jetzt stellt Pauen fest, dass es ein sehr gravierender Vorwurf wäre, wenn sich zeigen ließe, dass eine extern entstandene personale Präferenz gegen das Autonomieprinzip verstoße. Im Wesentlichen verweist er bei der Diskussion dieses Vorwurfes auf seine spätere Behandlung des sogenannten Konsequenz-Argumentes.63 Interessanterweise beendet Pauen seine „Verteidigung der liberalen Variante“, die bisher mit theoretischen Argumenten vertreten wurde, mit einer intuitiven Plausibilisierung. Es scheint ihm „nicht nur theoretisch, sondern auch intuitiv plausibel“ zu sein, dass Personen personale Präferenzen haben, die „Korrekturprozessen unterworfen werden können, und zwar unabhängig davon, ob die Person die Präferenz faktisch auf die Dauer beibehält oder irgendwann einmal aufgibt“.64 In diesem Zusammenhang werden keine weiteren Zusatzargumente zugunsten der Intuition genannt, sondern lediglich der Satz aufgestellt, dass die bisherige rationale Entwicklung auf der Ebene der Intuition Unterstützung finde.
60 Ähnlich argumentiert Schälike, Spielräume, 88 f. Grundsätzlich teilt er aber Pauens kompatibilistischen Standpunkt, vgl. aaO. 14 f. 61 Vgl. Pauen, Illusion, 86 f. 62 Vgl. o. 31 f. 63 Vgl. u. 43–46. 64 Pauen, Illusion, 90. Pauen denkt dabei an den Fall, dass eine Person zum Beispiel politische Präferenzen revidiert, die sie in ihrer Jugend entwickelt hat. Hier liegt aber eine rationale Entscheidung vor, die ohnehin keine Schwierigkeiten bei der Identifikation macht. Dieses Argument erlaubt es also nicht, die emotionalen Präferenzen als personale zu identifizieren.
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2.5.1.4.3 Die identifikatorische Variante von personalen Präferenzen Die identifikatorische Variante hält Pauen für weniger plausibel als die liberale. Während das Kriterium für das Vorliegen einer personalen Präferenz bei der liberalen Variante in der Möglichkeit zur einer selbstbestimmten Distanzierung liege, stelle die identifikatorische Variante als Erkenntniskriterium für eine personale Präferenz die Bereitschaft einer Person auf, sich mit ihr vorbehaltlos zu identifizieren. Eine personale Präferenz läge in dieser Variante auch dann vor, wenn die betreffende Person sich nicht mehr gegen die Präferenz entscheiden könnte. Als Beispiel für eine solche Präferenz gibt Pauen mit Harry Frankfurt die Elternliebe.65 Unter dieselbe Kategorie müssten dann auch weniger sympathische Beispiele fallen. Eine Person könnte etwa die Überzeugung hegen, dass ihre Alkoholabhängigkeit durch sehr schwere Existenzbedingungen verursacht wurde. Wenn sie keine Möglichkeit hat, diese Lebensbedingungen zu ändern, könnte sie als personale Präferenz entwickeln: Ich akzeptiere meine – durch einen Selbstversuch als solche identifizierte – Abhängigkeit und versuche allenfalls, sie nicht zu desaströs für meine restlichen Jahre werden zu lassen, auch wenn dieser Rest durch die Abhängigkeit sich verkleinert. Anders als bei der liberalen Variante gesteht Pauen bei der identifikatorischen ein kaum auszuräumendes Regressproblem zu. Es bleibe bei der identifikatorischen Variante etwa die Frage offen, wie man bei emotionalen Vorlieben, für die sich eine Person faktisch noch nicht identifikatorisch entschieden hat, erkennen könne, ob es sich dabei um eine Abhängigkeit oder um eine personale Präferenz handelt.66 Gegen Pauen liegt hier aber gerade kein Unterschied zur liberalen Variante vor. Denn wir hatten schon dort gesehen, dass eine personale Präferenz erst dann von einem inneren Zwang unterschieden werden konnte, wenn es faktisch zu einer Entscheidung gegen eine Einstellung oder Gewohnheit gekommen war.67 Zusammenfassend ist diese bisherige Gedankenentwicklung so zu beurteilen: In der rationalen Variante lässt sich eine personale Präferenz gut definieren und ihr Vorliegen identifizieren. Aber die Menschen haben nicht nur rein rationale Präferenzen. Diese Variante ist also auf den real existierenden Menschen nicht anwendbar. Bei der liberalen und bei der identifikatorischen Variante kommt es zu erkenntnistheoretischen Problemen. Es lassen sich zwar momentane Präferenzen, personale Präferenzen und innerer Zwang begrifflich gut voneinander unterscheiden. Die momentanen und die personalen Präferenzen könnten durch eine Beobachtung über einen längeren Zeitraum hinweg auch empirisch differenziert werden. Der Unterschied zwischen personalen Präferenzen und innerem Zwang könnte aber erst erkannt werden, wenn eine Person sich entweder gegen eine 65 Vgl. aaO. 91. 66 Vgl. aaO. 92. 67 Vgl. o. 34 f.
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Einstellung oder Gewohnheit selbstbestimmt entschieden hätte und damit gescheitert wäre oder Erfolg gehabt hätte, oder wenn sie sich vorbehaltlos mit einer Einstellung oder Gewohnheit identifizieren würde. Das bedeutet: Zu jedem beliebigen Zeitpunkt vor einer solchen Entscheidung wissen wir nicht, ob unsere Mitmenschen aufgrund personaler Präferenzen oder innerem Zwang handeln. Es ist bedauerlich, dass deswegen aus der Theorie noch keine „Ansatzpunkte für empirische Untersuchungen“68 entwickelt werden können. Vorerst bleibt also nur der Hinweis auf zukünftige Entwicklungen bei der maschinellen Analyse von Hirnvorgängen. Allerdings ist es Pauen gelungen, vom Begriff der Handlungsfreiheit ausgehend einen weitgehenderen Begriff von personaler Freiheit zu entwickeln, der nicht mit der intuitiv erwünschten starken Willensfreiheit identisch ist. Wir verallgemeinern zur Darstellung dieses Sachverhaltes das obige Beispiel des aufgeräumten Zimmers:69 1. Äußerer Zwang (keine Freiheit). 2. Kein äußerer Zwang (Handlungsfreiheit). 3. Momentane Präferenzen, die entweder schnell wieder verschwinden oder sich zu Fall 4. oder 5. weiterentwickeln. 4. Personale Präferenzen = personale Freiheit nach Pauen (die Person könnte sich auch dagegen entscheiden). 5. Innerer Zwang (keine Freiheit). Alle diese Handlungsweisen vollziehen sich deterministisch. Man wird wohl das Urteil aussprechen können, dass die verschiedenen Handlungsarten sich in der Wertbarkeit bzw. Wünschbarkeit unterscheiden. Sicher entspricht es nicht einem humanen Menschenbild, wenn ein Mensch nach der Art von 1. oder 5. handeln muss. Entsprechend könnte man auch überlegen, ob es wünschenswerter sei, möglichst weitgehend nach der Art von 4. zu handeln. Dann lägen die Handlungen der Art 2. und 3. irgendwo dazwischen. Ist man mit dieser Unterscheidung aber auch dem intuitiven Bedürfnis nach dem Mehr an Freiheit entgegen gekommen? Bedenkt man, dass auch ein Mensch, der stets nur Handlungen der Art 4. vollziehen würde, dies erstens in völlig determinierter Weise tun würde; dass er zweitens niemals anders handeln könnte, als er faktisch handelt; und dass drittens alle seine zukünftigen Handlungen jetzt schon feststehen, – müsste die Intuition die gestellte Frage dann nicht verneinen? Mit dieser Frage setzt sich Pauen auseinander, indem er sich mit einigen Argumenten beschäftigt, die im Zentrum der Willensfreiheitsdebatte stehen und die mit starken Freiheitsintuitionen verbunden sind. Er will diese Intuitionen als Ar 68 Pauen, Illusion, 25, vgl. dazu auch aaO. 86 f. 69 Vgl. o. 32.
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gumente für eine Konzeption von maximaler Freiheit zurückweisen, aber auch „zeigen, dass man den genannten Intuitionen auf der Basis der vorgestellten Minimalkonzeption auch in einer determinierten Welt gerecht werden kann.“ Eine anspruchsvollere Freiheitskonzeption als diejenige der personalen Freiheit sei weder möglich noch notwendig.70
2.5.1.5 Pauens Diskussion von klassischen Freiheitsintuitionen Zur Schärfung des Profils seiner eigenen Konzeption der personalen Freiheit setzt sich Pauen intensiv mit dem Prinzip der alternativen Handlungsmöglichkeiten und dem Konsequenz-Argument auseinander. Wir stellen diese Auseinander setzung im Folgenden dar. 2.5.1.5.1 Alternativismus Das Prinzip der alternativen Möglichkeiten besagt: Eine Person ist nur dann frei, wenn sie unter den gegebenen Umständen auch anders hätte handeln können, als sie faktisch gehandelt hat.71 Auch der Alternativismus muss nach Pauen mit dem Autonomieprinzip und dem Urheberprinzip vereinbar sein. So wie eine einzelne Handlung, um frei zu sein, weder durch äußeren Zwang noch durch Zufall verursacht sein dürfe, müsse auch eine mögliche Handlungsalternative auf die Person selbst zurückgeführt werden können und nicht auf Zufall oder Zwang. Dafür führt Pauen den Begriff der „Symmetriebedingung“ ein. Diese Bedingung fordert: „Der Vollzug der faktisch ausgeführten Handlung muss genauso vom Urheber abhängen wie der Nichtvollzug der nicht ausgeführten Handlungsalternative.“72 Hier erhebt sich schon die Frage: Ist nicht der Vollzug der faktisch ausgeführten Handlung das logische Korrelat für den Nichtvollzug der nicht ausgeführten Handlungsalternative? Dann wäre hier aber auch überhaupt keine Bedingung zu stellen, weil das eine mit dem anderen schon immer notwendig gegeben wäre. Um den Alternativismus in sein eigenes System integrieren zu können, schließt sich Pauen sodann der so genannten Konditionalanalyse an. Dieser Analyse zufolge hätte eine Person genau dann anders handeln können, als sie faktisch gehandelt hat, wenn sie anders gewollt hätte. Unter diesen Voraussetzungen gibt es alternative Handlungsmöglichkeiten auch in einer determinierten Welt: Selbst wenn es determiniert war, dass ich die Waren in meinem Einkaufskorb bezahlen würde, kann es doch wahr sein, dass ich die Waren nicht bezahlt hätte, wenn ich es so gewollt hätte.73 70 Pauen, Illusion, 106. 71 Vgl. aaO. 107; Ijjas, Alte, 182. 72 Pauen, Illusion, 109 f. 73 AaO. 110, vgl. auch 106.
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Nach der Konditionalanalyse hängt Anders-Handeln-Können eng zusammen mit Anders-Handeln-Wollen. Demnach könnte man den von Pauen bisher entwickelten Alternativismus auch umformulieren in: Mein Wille hätte entweder so determiniert sein können, dass ich die Waren bezahle, dann hätte ich auch bezahlt. Oder er wäre so determiniert gewesen, dass ich nicht bezahlen möchte. In diesem Fall hätte ich auch nicht bezahlt. Nach Pauen verletzt die Konditionalanalyse aber unsere Intuitionen nicht weniger als die Vorstellung bloßer Handlungsfreiheit. Insbesondere unterscheide sie nicht zwischen einem psychisch abhängigen Willen und einem intuitionsgemäßen freien Willen.74 Pauen sieht sich deswegen genötigt, die Konditionalanalyse weiter voranzu treiben. Hierzu stellt er sich die Frage, ob man „nur dann von alternativen Handlungsmöglichkeiten sprechen kann, wenn eine andere Handlung unter identischen Bedingungen möglich ist, so dass es alternative Möglichkeiten nur in einer indeterminierten Welt geben könnte?“75 Um diese Frage zu beantworten, untersucht Pauen den Alltagssprachgebrauch von können. Er kommt dabei zu dem Ergebnis, dass man von können dann spricht, wenn einige notwendige Bedingungen für das Eintreten eines Ereignisses vorliegen, aber nicht unbedingt alle. Um ein Beispiel dafür zu geben: Wer sagt, dass es heute Nacht regnen könne, weil bestimmte Witterungslagen vorhanden sind, wird nicht davon ausgehen, dass es auf jeden Fall regnen wird.76 Das Prinzip der alternativen Möglichkeiten legt nach Pauen jedoch eine strengere Lesart von können zugrunde. Ein Mensch, der alternativ handeln kann, müsste demnach über alle Bedingungen verfügen, die für eine bestimmte Handlung notwendig sind.77 Einen solchen intuitionsgemäßen Sprachgebrauch lehnt Pauen aber ab, weil „damit in einer determinierten Welt der Unterschied zwischen ‚können‘ und ‚werden‘ aufgehoben [würde]: Ereignisse, die diesem Verständnis zufolge eintreten können, werden in einer determinierten Welt auch eintreten, gleichermaßen können wir von Ereignissen, die ausgeblieben sind, im Nachhinein nicht sagen, sie hätten eintreten können.“78 So kommt Pauen zu dem Schluss: Das bedeutet, dass wir auch in einer determinierten Welt weiterhin widerspruchsfrei behaupten können, dass nicht gekaufte Karten hätten gekauft, dass nicht erfrorene Blumen hätten erfrieren und dass nicht unternommene Autofahrten hätten unternommen werden können. Behauptet wird damit wie gesagt, dass bestimmte notwendige Bedingungen für das Eintreten eines Ereignisses erfüllt waren. Diese Behauptung wird nicht falsch, wenn andere Bedingungen nicht erfüllt sind und damit das 74 Vgl. aaO. 111. Im Folgenden setzt sich Pauen mit Daniel Dennett und Harry Frankfurt auseinander, die den Alternativismus ganz aufgeben möchten. 75 AaO. 119. Vgl. u. 53. 76 Vgl. Pauen, Illusion, 120–124. 77 Vgl. aaO. 124. 78 AaO. 125.
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Eintreten des Ereignisses verhindern. Wenn dies stimmt, dann könnte man zumindest alltagssprachlich auch in einer determinierten Welt behaupten, dass eine Person anders hätte handeln können, als sie faktisch gehandelt hat.79
In diesem Zusammenhang bedeutet die Aussage – darauf muss an dieser Stelle hingewiesen werden – ‚Etwas anderes hätte geschehen können‘ genauso viel wie: ‚Etwas anderes hätte geschehen können, wenn noch weitere Bedingungen gegeben gewesen wären, die dann auch notwendig zum Eintritt des Geschehen geführt hätten.‘ Da aber diese zusätzlichen Bedingungen nicht gegeben waren, musste notwendig das faktisch eingetretene Ereignis stattfinden und nicht das alternative. Pauen muss selbst zugestehen, dass er mit dem bisherigen Ergebnis seiner Analyse der Freiheitsintuition nicht Genüge tun konnte.80 Diese Verlegenheit versucht er so zu mildern: Wenn intuitiv gefordert würde, dass ein Mensch „unter genau diesen Bedingungen auch die entgegengesetzte Entscheidung“ treffen können müsse, um frei zu sein, dann können es nicht personale Präferenzen sein, die zu den widersprüchlichen Entscheidungen führen. Eine der beiden Entscheidungen müsse vielmehr auf den Zufall zurückgeführt werden, so dass die Freiheitsintuition gleichursprünglich eine indeterministische Welt fordere und gegen das Urheberprinzip verstoße:81 Ein Ereignis kann keine zuschreibungsfähige Handlung sein, wenn es sich nicht auf den Urheber zurückführen lässt, doch genau das ist der Fall, wenn anstelle der faktisch vollzogenen Handlung unter ansonsten identischen Bedingungen ein anderes Ereignis eintritt. Mit anderen Worten: Natürlich ist es richtig, dass eine andere Handlung auch immer ein anderes Ereignis ist, doch die bloße Forderung nach anderen Ereignissen bzw. Handlungen unter identischen Ausgangsbedingungen ist unzulässig, weil sie ausschließt, dass die resultierenden Ereignisse zuschreibungsfähige Handlungen sind. Wenn wir also zeigen wollen, dass wir in einer bestimmten Situation anders hätten handeln können, als wir faktisch gehandelt haben, müssen wir nicht beweisen, dass unser Handeln nicht determiniert war. Zeigen müssen wir, dass die äußeren Umstände uns noch eine andere als die tatsächlich wahrgenommene Handlungsoption ließen und dass es nur an uns lag, zwischen diesen beiden Optionen zu wählen. Nicht determinierte Ereignisse mag es geben82, doch sie helfen uns für die Frage nach alternativen Handlungsmöglichkeiten herzlich wenig, weil Ereignisse, die nicht determiniert sind, auch nicht durch den Handelnden determiniert sein können. Im Prinzip kann man daher in der Willensdebatte auf einen Begriff des Könnens zurückgreifen, der zumindest in Grundzügen dem üblichen alltagssprachlichen und philosophischen Gebrauch entspricht. Die Behauptung, eine Person könne etwas 79 AaO. 126. 80 Vgl. aaO. 127. 81 AaO. 128. Der von Pauen hier in Erwägung gezogene Zufall müsste auf der Ebene der bei der Handlungsentscheidung beteiligten neuronalen Vorgängen angesiedelt sein. 82 Auch an dieser Stelle scheint sich Pauen vom Determinismus distanzieren zu wollen, den er sonst meist ausdrücklich voraussetzt.
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tun, kann daher nicht heißen, dass die Person die Handlung tun wird, schließlich ist es möglich, dass die Person die Handlung nicht vollziehen will. Es kann auch nicht heißen, dass die Handlung unter den gleichen Bedingungen wie eine Alternativhandlung möglich sein muss: Mit dieser Forderung würde man die Handlung vom Eintreten eines Zufalls abhängig machen und damit von einer Bedingung, auf die die Person keinen Einfluss hat. Die einzige plausible Interpretation dieser Forderung kann daher nur lauten, dass die äußeren Bedingungen die Ausführung dieser Handlung gestatten: Dies sind die notwendigen Bedingungen, die wir auch sonst im Blick haben, wenn wir meinen, dass eine Person etwas tun oder ein Ereignis eintreten kann. Sind sie gegeben, dann liegt es nur noch an der Person selbst, ob die Handlung zustande kommt. Sie kann die Handlung vollziehen, doch sie kann es auch unterlassen.83
Auch hier wird die Analyse des Begriffs von können der Intuition nicht gerecht. Denn der zuletzt zitierte Satz bedeutet nichts anderes als: Die betreffende Person kann die Handlung vollziehen, wenn sie es in determinierter Weise will – und wenn sie es will, wird sie sie notwendig vollziehen. Oder die Person wird die Handlung unterlassen, wenn sie dies in determinierter Weise will – und wenn sie dies will, wird sie sie notwendig unterlassen. Auch an dieser Stelle ist kein „Mehr“ an Freiheit nachgewiesen worden, welche den intuitionistischen Bedürfnissen Genüge tun könnte. Schließlich verknüpft Pauen den Alternativismus noch mit einer eigenen Unterscheidung von internen und externen Merkmalen des Willens. Das AndersHandeln-Können dürfe sich nicht auf den faktischen Willen einer Person beziehen, „weil dieser Wille im Falle von psychischen oder physischen Abhängigkeiten durchaus fremdbestimmt sein kann.“84 Das Können im Sinne des Alternativismus müsse vielmehr auf eine personale Präferenz zurückgeführt werden können, weil eine solche niemals fremdbestimmt sei. Unter dieser Voraussetzung könnten wir also sagen, dass eine Person x nicht tun kann, wenn die äußeren Umstände einschließlich der nicht-personalen Präferenzen x nicht zulassen. Im Gegensatz dazu würden wir sagen, dass eine Person x nicht tun will, wenn der Vollzug von x durch die personalen Präferenzen der Person ausgeschlossen würde. Wenn dagegen die äußeren Umstände die Handlungsoptionen x und y zulassen, die Person aufgrund ihrer personalen Präferenzen jedoch die Option x wählt, dann würden wir sagen, die Person hätte y zwar tun können, sie habe dies jedoch nicht gewollt. Die Person hätte also anders handeln können.85
Pauen hält seine Minimalkonzeption also mit dieser Interpretation des Alternativismus für vereinbar:
83 Pauen, Illusion, 130 f. 84 AaO. 131. 85 AaO. 132.
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Eine Person ist dieser Konzeption zufolge nur dann frei, x statt y zu tun, wenn ihr sowohl die Option x wie auch die Option y offen steht. Anders ausgedrückt: Es muss an der Person bzw. ihren personalen Merkmalen liegen, ob x oder y realisiert wird. Und wenn es an der Person liegt, ob sie x oder y tut, dann kann man nach dem Vollzug von x sagen, dass die Person y hätte tun können – auch wenn sie y nicht gewollt hat. Wenn eine Handlung also frei im Sinne des obigen Minimalkriteriums ist, dann kann man auch sagen, die Person hätte anders handeln können, als sie tatsächlich gehandelt hat. Ausgeschlossen wird mit dieser Aussage nicht nur, dass die Handlung von externen Determinanten einschließlich psychischer und physischer Abhängigkeiten bestimmt war, ausgeschlossen wird damit auch, dass die Handlung zufällig zustande kam, schließlich entziehen sich Zufälle dem Einfluss einer Person ebenso wie extern determinierte Ereignisse.86
Ausgeschlossen ist damit aber auch das Interesse der Intuitionisten an einem stärkeren Begriff von Alternativismus und Freiheit. Pauen hat hier lediglich eine Sprachregelung getroffen, die zwar von der Alltagssprache ausgeht, aber keiner Freiheitsintuition wirklich näher kommt. Denn er hat auch bei dieser Analyse nur die beiden negativen Freiheitsbedingungen expliziert, ohne zu einer weitergehenden positiven Bestimmung von Freiheit zu kommen als bisher. Der Alternativismus gilt soweit, dass man sagen kann: Wenn ein Mensch in einer bestimmten Situation weder zur Handlung x noch zur Handlung y gezwungen ist (und auch nicht an einer von ihnen gehindert wird), und wenn er diejenige der beiden Handlungen ausführt, die sich notwendig aus seinen personalen Präferenzen ergibt, dann ist er frei.87
86 AaO. 132 f. 87 Zu dieser Art von Freiheit bemerkt Fuchs, Personale Freiheit 219 f.: „Können wir uns damit beruhigen, dass wir im universellen Determinationszusammenhang gewissermaßen einen eigenen Strang uns selbst zurechnen können? Offenbar nur dann, wenn dieser Strang selbst noch einmal unserer eigenen möglichen Beeinflussung unterliegt. Pauen und Roth betonen daher, dass die personalen Präferenzen grundsätzlich Gegenstände wirksamer Entscheidungen werden können: Ich könnte zu dem Entschluss kommen, meine Überzeugung von der Unrechtmäßigkeit des Stehlens aufzugeben, da ich sie nur meiner konventionalistischen Erziehung zuschreibe, und mich demgemäß in Zukunft frei zu einem Diebstahl entscheiden. Doch damit wird das Problem des Anderskönnens wiederum in die Vergangenheit verschoben: Wie sollte ich mir eine Überzeugung als frei gewählte zuschreiben können, wenn die Determinanten dieser Wahl sich ihrerseits meinem Einfluss entzogen haben? Dass ich meine von anderen übernommenen Präferenzen, meine Überzeugungen und Charaktereigenschaften kritisch zu reflektieren vermag, ändert nichts an meiner Unfreiheit ihnen gegenüber, solange ihre Veränderung nur entweder zufällig oder deterministisch zustande kommt. Die vermeintliche Freiheit der Selbstwahl endet in einer letztlich deterministischen Sicht des Selbst. Die Freiheit des Anderskönnens wird durch den Rekurs auf die personalen Präferenzen nicht vor dem Determinismus gerettet, wenn die Freiheit des Anderssein-Könnens nicht plausibel gemacht werden kann. Es bleibt dabei: Der universale deterministische Kausalzusammenhang macht den Begriff der alternativen Möglichkeiten sinnlos.“
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2.5.1.5.2 Das Konsequenz-Argument Das Konsequenz-Argument wurde von Peter van Inwagen, einem Libertaristen, formuliert. Er wollte damit den Kompatibilismus zurückweisen, indem er mit seinem Argument zu zeigen versuchte, dass in einer determinierten Welt Freiheit nicht möglich sei. Das Konsequenzargument lautet: Wenn der Determinismus zutrifft, dann sind unsere Handlungen die Konsequenzen von Naturgesetzen und Ereignissen in der fernen Vergangenheit. Aber es hängt nicht von uns ab, was vor unserer Geburt passierte, und es hängt ebenfalls nicht von uns ab wie die Naturgesetze sind. Dies bedeutet, dass die Konsequenzen dieser Umstände (einschließlich unserer gegenwärtigen Handlungen) nicht von uns abhängen.88
Pauen sieht zwei Möglichkeiten, das Konsequenz-Argument zu interpretieren. Es könne sich dabei um „eine Variante der üblichen inkompatibilistischen Argumente gegen die Existenz alternativer Handlungsmöglichkeiten in einer determinierten Welt“ handeln, welches die Unvereinbarkeit von Freiheit und Determinismus beweisen wolle. In dieser Interpretation hält er das Argument schon durch seine bisherigen Erörterungen für widerlegt. Denn „durch die Natur gesetze und die Ereignisse in der Vergangenheit [würden] nur solche Alternativen ausgeschlossen, die ohnehin nicht als Handlungen des Urhebers zählen würden, nämlich zufällige Variationen.“89 Pauen hat hier insoweit Recht, als durch einen Indeterminismus tatsächlich nur solche zusätzlichen Handlungsalternativen möglich werden, die zufällig sind und daher dem Urheber-Prinzip widersprechen. Er übersieht jedoch an dieser Stelle, dass das Konsequenz-Argument in der determinierten Welt jegliche Handlungsalternativen bestreitet. In der determinierten Welt werden damit auch die personalen Präferenzen einer Person und ihre jeweiligen konkreten Entscheidungen alternativlos durch die Naturgesetze und vergangene Ereignisse festgelegt. Vielleicht hält es Pauen auch deswegen selbst wieder für „intuitiv unbefriedigend […], zu akzeptieren, dass das Konsequenz-Argument durch die bereits vorgebrachten Argumente wirklich widerlegt werden soll.“90 Er wendet sich daher einer stärkeren Fassung des Konsequenz-Argumentes von John Martin Fischer zu. Dieser fasst das Argument so: 1.) Ereignisse vor unserer Geburt entziehen sich unserer Kontrolle. 2.) Die Naturgesetze entziehen sich unserer Kontrolle. 3.) Alle unsere Handlungen sind Konsequenzen von Naturgesetzen und Ereignissen vor unserer Geburt. Die Konklusion lautet dann: 4.) Alle unsere Handlungen entziehen sich unserer Kontrolle. 88 Pauen, Illusion, 137. 89 AaO. 138. 90 AaO. 138.
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Diese Fassung des Konsequenz-Argumentes hält Pauen für mehr als nur ein Argument für die Unvereinbarkeit von Determinismus und Freiheitsgedanke. Denn in dieser Form würde es „eine ganz basale Fähigkeit bestreiten, die in der Tat unabdingbar für freies Handeln ist, nämlich das Vermögen des Urhebers, seine Handlung zu steuern.“ Diese Fassung des Konsequenz-Argumentes muss Pauen also widerlegen, um seine eigene Position zu verteidigen. Hierzu weist er zunächst darauf hin, dass zum Wahrmachen des Schlusses noch eine weitere Prämisse vorausgesetzt werden müsse, das so genannte Transferprinzip: Wenn ein Ereignis die Konsequenz von Gesetzmäßigkeiten und Ereignissen ist, die vollständig der Kontrolle durch eine Person oder ein System entzogen sind, dann kann auch das Ereignis selbst nicht durch die Person oder das System kontrolliert werden.91
Um die Wahrheit des Schlusssatzes im Konsequenz-Argument widerlegen und weiterhin Kompatibilist bleiben zu können, möchte Pauen beweisen, dass das Transferprinzip (als eine der Prämissen des Konsequenz-Arguments) ungültig ist. Daher unterzieht er das Transferprinzip einer gründlichen Analyse. Er unterscheidet dazu den alltagssprachlichen Begriff von Kontrolle von einer anspruchsvolleren Variante.92 Bezüglich des alltäglichen Sprachgebrauchs weist er drauf hin, dass ganz unbefangen von der Kontrollfunktion etwa eines Thermostaten gesprochen werde. „Natürlich kann bei Thermostaten […] nicht im Entferntesten von Freiheit die Rede sein.“ Der Begriff der Kontrolle impliziere dreierlei, zum einen die Möglichkeit von Einflussnahme, zum anderen die Fähigkeit, ein Ziel einzuhalten oder zu erreichen, zum dritten müsse eine Überwachung des zu steuernden Prozesses gewährleistet sein sowie die Fähigkeit, Zielabweichungen kausal zu korrigieren.93 Dieser Begriff impliziere auf keine Weise, „dass das kontrollierende System auch die kausale Vorgeschichte eines Steuerungsprozesses kontrollieren“ müsse. Ein Thermostat müsse vielmehr lediglich im fertigen System eine gewünschte Temperatur überwachen und gegebenenfalls der Zielgröße anpassen. Das Transferprinzip sei also im Rahmen der Alltagssprache ungültig.94 Damit wäre der Kompatibilismus gerettet. Interessanterweise gibt sich Pauen damit intuitiv aber selbst nicht zufrieden. Er macht darauf aufmerksam, dass durch seine bisherige Analyse die intuitive Kraft des Prinzips bzw. des Konsequenz-Argumentes allgemein nur schwer zu bestreiten [sei]: Kann man wirklich von Freiheit sprechen, wenn alles 91 AaO. 139. 92 Vgl. aaO. 141. 93 AaO. 142 f. 94 AaO. 143.
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was man tut, von einer Vorgeschichte determiniert wird, die sich vollständig dem eigenen Einfluss entzieht? Nahe liegend ist daher der Verdacht, dass der obige [alltagssprachliche] Begriff von Kontrolle, der sich auch auf Autopiloten und Thermostate anwenden lässt, viel zu schwach ist, sofern es um die Freiheit menschlicher Handlungen geht.95
Aber gibt es denn überhaupt eine andere Definition von Kontrolle, die der Intuition besser gerecht werden könnte? Erforderlich dafür wäre, dass die handelnde Person entweder die relevanten Naturgesetze oder aber die Vorgeschichte der Handlung so zu kontrollieren vermag, dass sich die Entscheidung für x und gegen y direkt und indirekt auf sie selbst und nicht auf externe Umstände zurückführen lässt […]. Bei einer Person, die exklusive Kontrolle darüber hat, ob sie x oder y tun wird, müsste ein Laplacescher Geist, der sämtliche Naturgesetze und alle Ausgangsbedingungen in jedem Detail kennt und außerdem über unendliche Rechenkapazitäten verfügt, prinzipiell mit seiner Prognose der Handlung scheitern, solange er nicht die relevanten Entscheidungen der Person kennt.96
Nun sei eine Kontrolle von Naturgesetzen schon aus begrifflichen Gründen nicht vorstellbar. Also könnte exklusive Kontrolle nur dadurch ermöglicht werden, dass sich „die Vorgeschichte der Faktoren, […] vollständig auf die Person zurückführen lassen. Exklusive Kontrolle bedeutet daher nichts anderes, als dass die Person die ‚Kausalkette‘ der Faktoren initiiert haben muss, die eine ausschlaggebende Rolle für die freie Entscheidung besitzen.“97 Das heißt: Der stärkere Begriff von Kontrolle, der die Intuition befriedigen könnte, setzt die Erstverursachung voraus. Da diese aber weder in einer determinierten noch in einer indeterminierten Welt erfüllbar sei98, gebe es keine weitere Form von Kontrolle als im Sinne des Thermostaten-Beispiels. Pauen folgert aus seiner Untersuchung des Begriffs von Kontrolle: „Offenbar gibt es keinen kohärenten Begriff, der das Transferprinzip gültig machen würde.“99 Wenn das Transferprinzip ungültig ist, ist das Konsequenz-Argument zurückgewiesen. Das würde bedeuten, dass der Schlusssatz des Arguments, wonach sich alle unsere Handlungen unserer Kontrolle (unserer Steuerung) entziehen, ungül 95 AaO. 145 f. 96 AaO. 146. Der Zusatz „solange er nicht die relevanten Entscheidungen der Person kennt“ erscheint merkwürdig. Denn wenn der Geist außer den Naturgesetzen auch alle Ausgangsbedingungen kennt, müsste er auch die relevanten Entscheidungen der Person vorausberechnen können. Oder gehören die personalen Präferenzen einer Person nicht zu den Ausgangsbedingungen? Das könnte jedoch nur im Rahmen eines anthropologischen Dualismus gedacht werden. 97 AaO.147 f. 98 Vgl. aaO. 148 f. AaO. 150 f. diskutiert Pauen einige Seitenzweige der Diskussion um die Möglichkeit des Beginns einer Kausalkette. 99 AaO. 152.
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tig wäre. Im Kompatibilismus könnte man also trotz des Determinismus seine Handlungen steuern. Allerdings zeigt Pauens Analyse des Kontrollbegriffs, dass diese Kontrolle nicht weiter geht, als bei dem Thermostaten in seinem ersten Beispiel. Er selbst weist darauf hin, dass dieser Begriff von Steuerung für die Intuition „viel zu schwach ist, sofern es um die Freiheit menschlicher Handlungen geht.“100 Indem sich Pauen mit diesem Ergebnis zufrieden gibt, ermöglicht dies die Vermutung, dass er selbst derartige Intuitionen nicht teilt, ihnen aber soweit entgegenzukommen versucht, wie es im Rahmen einer rationalen Analyse möglich ist.
2.5.1.6 Zur Beurteilung von Pauens Position Zusammenfassend lässt sich sagen: Pauen hält bloße Handlungsfreiheit intuitiv für unbefriedigend. Das „Mehr“ an Freiheit, das er intendierte, sollte auch innere Zwänge aus dem Bereich der Freiheit ausschließen. Dazu versuchte er, die Entscheidungen an personale Präferenzen zu binden. Die zuverlässige empirische Unterscheidung von personalen Präferenzen und innerem Zwang ist ihm jedoch nicht gelungen. Damit konnte Pauen das intuitive Freiheitsbedürfnis zum Teil befriedigen, nämlich indem er außer äußerem Zwang auch inneren Zwang als Modus von Unfreiheit definierte. Es bleibt jedoch in der determinierten Welt jegliches Geschehen determiniert, auch die Entscheidungen und Handlungen eines Menschen, der rein aus personaler Freiheit handelt. Pauens Analyse des Kontrollbegriffs hat gezeigt, dass die volle Freiheitsintuition mehr möchte als personale Freiheit in einer determinierten Welt. Gemessen an diesen Ansprüchen der Intuition, ist die personale Freiheit wohl doch eher als eine sich nicht ganz so schlimm anfühlende Form von Unfreiheit zu bezeichnen. Beachtenswert ist Pauens Arbeit an der Frage, wie Urheberschaft und Selbstbestimmung begrifflich zu beschreiben seien. Auch wenn kein sicheres Instrument vorliegt, um die faktischen Handlungen eines empirischen Menschen eindeutig den Kategorien von personaler Präferenz und innerem Zwang zuzuweisen, ist das Kategoriensystem als solches doch ein wichtiger Aspekt in der Debatte um Willensfreiheit. Das Konsequenz-Argument hat Pauen auf zwei Ebenen interpretiert. Als libertares Argument gegen den Kompatibilismus fordere es alternative Handlungsmöglichkeiten, die jedoch nur als zufällige Handlungsalternativen denkbar seien. In dieser Hinsicht sei das Konsequenz-Argument zurückzuweisen. In der Fassung von Fischer laufe das Konsequenz-Argument darauf hinaus, dass eine Person die Fähigkeit zur Erstauslösung haben müsse. Auch diese starke libertare Intuition sei rational nicht haltbar. In beiden Punkten ist Pauen zuzustim 100 AaO. 146 f.
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men. Allerdings liegt im Konsequenz-Argument noch eine weitere Intuition verborgen. Denn die Reichweite des Konsequenz-Argumentes umfasst nicht nur die Vergangenheit, die die Gegenwart völlig determiniert. Wäre es so, könnte man sich leicht damit zufrieden geben, an seinen gegenwärtigen Präferenzen zu arbeiten. Aus dem Konsequenz-Argument folgt aber, dass die Vergangenheit sowohl die Gegenwart als auch die Zukunft vollständig festlegt, wenn der Determinismus gilt. An dieser Stelle wird die Freiheitsintuition auf eine Weise frustriert, die über die Negation von Alternativismus und Erstauslösung hinausgeht. Es entsteht hier das Fatalismusproblem, das darum kreist, dass eine Person aus der Ersten-Person-Perspektive heraus ihre Zukunft als Gestaltungsaufgabe vor sich hat, während aus der Dritten-Person-Perspektive heraus gar keine Gestaltungsmöglichkeiten bestehen. Die Person, die aus ihrer Ersten-Person-Perspektive ihre Zukunft bestimmen muss, weiß gleichzeitig, dass die Gestalt ihrer Zukunft schon festliegt. Die Intuition, die sich durch diese Struktur frustriert fühlt, verlangt weniger als Erstauslösung und alternative Handlungsmöglichkeiten. Das Verlangen nach Gestaltungsmöglichkeiten der Zukunft wird im Determinismus genauso enttäuscht wie die Intuition von Erstauslösung und alternativen Handlungsmöglichkeiten. Bezüglich des erstgenannten Verlangens bietet das Modell des illibertaren Indeterminismus eine Lösung. Das Konsequenz-Argument wird im illibertaren Indeterminismus gegenstandslos, ohne dass dadurch Erstauslösung und alternative Handlungsmöglichkeiten gerettet würden. Aber die Zukunft als offener Gestaltungsraum behebt das Fatalismusproblem.
2.5.2 Geert Keil: Inkompatibilismus mit libertarer Willensfreiheit Im Anschluss an die kompatibilistische Position Pauens wenden wir uns nun einer inkompatibilistischen Theorie zu, und zwar aus derjenigen Variante, welche den Determinismus ablehnt und starke Willensfreiheit voraussetzt. Dieser Libertarismus ist heute im deutschen Sprachraum zu einer selten vertretenen philosophischen Position geworden. Geert Keil meint, dies liege an einer Reihe von Missverständnissen und Unterstellungen, die den Libertaristen entgegengebracht werden.101 Seine Konzeption hat er in mehreren Veröffentlichungen vorgestellt. Wir halten uns im Folgenden an die zehn Thesen, mit welchen er seine Position in Willensfreiheit und Determinismus zusammenfasst. Bei der Interpretation dieser Thesen werden auch seine anderen Schriften herangezogen.
101 Ein anderer libertarer Inkompatibilist ist Gottfried Seebaß, vgl. u. 283 f.
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2.5.2.1 Der fähigkeitsbasierte Libertarismus Mit seiner Thesenreihe möchte Keil zunächst angebliche Missverständnisse klären, die einem libertaristischen Freiheitsverständnis entgegenstehen, sodann aber auch ein solches Freiheitsverständnis entwickeln. Auch bei Keil spielen die vorwissenschaftlichen Intuitionen eine wichtige, wenn nicht die entscheidende Rolle bei der philosophischen Theoriebildung. Er beruft sich gleich in seiner ersten These auf die Freiheitsintuition: 1. These: Unsere gewöhnliche vortheoretische Rede über Handlungen und Entscheidungen ist libertarisch imprägniert.
Dies betreffe vor allem den Alternativismus, was sich im Alltag besonders deutlich zeige, wenn sich Personen selbst oder gegenseitig Vorwürfe machen. Wenn wir zu anderen oder zu uns selbst sagen: ‚Das hättest Du nicht tun sollen‘, dann unterstellen wir, dass der Person eine andere Entscheidung auch möglich gewesen wäre. Wenn die Person nicht hätte anders handeln können, ohne die Naturgesetze oder die Vergangenheit zu ändern, wäre ein Vorwurf gegenstandslos und überdies unfair.102
Nach dieser These wäre also unser alltägliches Verhalten in der angegebenen Situation inkonsequent, wenn der Alternativismus nicht gelten würde.103 Der Alternativismus soll aber offenbar damit koexistieren können, dass Naturgesetze gelten. Wir werden sehen, dass an diesem Punkt eine gewisse Inkonsistenz in Keils Argumentation herrscht. Obwohl Keil die Intuition hochhält, zieht er doch nicht einfach eine Schlussfolgerung wie: ‚Weil unsere gewöhnliche Rede libertarisch imprägniert ist, muss der Libertarismus einfach vorausgesetzt werden.‘ Er fühlt sich vielmehr dazu verpflichtet, ihn argumentativ zu stützen. Zu diesem Zweck versucht er zunächst, die Argumente zu entkräften, die ihm entgegenstehen. 2. These: Der Freiheitsannahme stehen bei näherer Betrachtung keine Tatsachen entgegen, sondern nur fehlinterpretierte Befunde und unhaltbare philosophische Doktrinen.104
Diese These lässt erwarten, dass Keil zunächst die „Befunde“ und „Doktrinen“ auflöst, die gegen die Freiheitsintuition stehen, um danach die Willensfreiheit positiv zu begründen. Bezüglich der Freiheitsbegründung werden wir aber ent 102 Keil, Determinismus, 107. 103 Pauen versuchte, eine Interpretation des Alternativismus zu finden, die sowohl mit dem Determinismus als auch mit der Intuition vereinbar wäre. Wir haben seine Überlegungen als nicht plausibel charakterisiert, insoweit sie die Befriedigung der Intuition nicht gewährleisten dürften. Vgl. o. 39–42. Mit dieser Charakterisierung stimmt Keil offenbar überein. 104 Keil, Determinismus, 107.
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täuscht. Den Alternativismus hingegen versucht Keil dadurch zu rechtfertigen, dass er die Wahrheit des Determinismus bestreitet. Dieser sei lediglich eine philosophische Doktrin, die nicht überprüft werden könne. Außerdem stehen noch drei weitere Hindernisse dem Prinzip der alternativen Möglichkeiten entgegen und müssen deswegen von einem Libertarier überwunden werden. Dies sind die freiheitsunverträglichen Befunde der Hirnforschung, die konditionale Analyse des Könnens und das Zufallsproblem.105 Der Widerlegung des Determinismus hat Keil eine lange Passage in seiner ausführlicheren Monographie über Willensfreiheit gewidmet.106 Der Kern seiner Argumentation besteht in der These, dass die lückenlose Gültigkeit der Naturgesetze nicht empirisch verifizierbar sei: „Um den Determinismus wirklich auf den Prüfstand zu stellen, müsste man das Universum zweimal in exakt denselben Zustand versetzen können. Solange man dies nicht kann, lässt sich das unterschiedliche Verhalten eines Systems bei der Wiederholung eines Experimentes stets den minimal unterschiedlichen Anfangs- oder Randbedingungen zuschreiben.“107
An dieser Stelle wird also die faktische Nichtbeherrschbarkeit eines Groß experimentes gegen die Möglichkeit einer empirischen Bestätigung des Determinismus ins Feld geführt. Allerdings gesteht Keil zu, dass er dadurch „mit der Frage, ob der Laplace-Determinismus wahr ist, […] nur wenig weitergekommen“ sei. Er meint allerdings gezeigt zu haben, dass der Determinismus eine metaphysische Doktrin sei, „die sich durch empirische Belege weder definitiv widerlegen noch als wahr erweisen“ lasse. Es stellt sich hier die Frage, ob aus der Beobachtung von immens vielen einzelnen determinierten Ereignissen nicht doch zu folgern sei, dass der Determinismus eine empirisch sehr gut begründete Hypothese sei, die man daher besser bei philosophischen Argumentationen voraussetze als dass man sie ablehne. Interessanterweise erklärt Keil den einzigen empirischen Beleg für indeterministische Vorgänge in der Welt, nämlich diejenigen im Quantenbereich, für irrelevant, „weil sie nur Eigenschaften physikalischer Gesetze und Theorien betreffen, nicht den Weltlauf als ganzen.“108 Was aber ist der Weltlauf anderes als das System einzelner physikalischer Elemente und der sie regulierenden Gesetze und Theorien? Wenn man davon ausgeht, dass es im kritischen Rationalismus ohnehin keine absolut wahren Theorien gibt, dann bliebe der Determinismus die bislang am besten begründete Hypothese über die Welt, so lange man – wie Keil – den Quantenindeterminismus für irrelevant erklärt. Wollte man 105 Vgl. aaO. 108. 106 Vgl. Keil, Willensfreiheit, 15–42. Dasselbe gekürzt in Keil, Determinismus, 35–72. Ähnlich argumentiert Rohs, Libertarianische Freiheit, bes. 54–59. 107 Keil, Willensfreiheit, 34. 108 AaO. 35. Anders Ijjas, vgl. u. 176 f.
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den Determinismus widerlegen, wäre es sinnlos, auf die ohnehin nicht mögliche vollständige Induktion in der Empirie zu verweisen. Vielmehr müsste man die empirischen Indeterminismen zur Widerlegung des Determinismus aufbieten und zu einer neuen Theorie synthetisieren. Die Zurückweisung des Determinismus erscheint damit insgesamt als wenig überzeugend. Denn ohne Berücksichtigung des Quantenindeterminismus bleibt noch immer, trotz Keils triumphierender Pose, der Determinist der bessere „Freund[…] der Wissenschaften, der die Empirie auf seiner Seite hat“.109 Von den drei weiteren genannten Hindernissen für den Libertarismus behandelt Keil das Zufallsproblem in These neun, die Ergebnisse der Hirnforschung in These zehn. Zur konditionalen Analyse des Könnens nimmt er in seinem Buch Willensfreiheit Stellung. Er lehnt dabei die kompatibilistischen Versuche von Moore, Pauen und Jescheck ab, weil sie „schlicht kurzsichtig“ seien. Denn wenn im Determinismus die Naturgesetze alles festlegen, können auf der Ebene der menschlichen Handlungssteuerung keine echten Alternativen mehr entstehen: Allein indem man sich auf einen in der normalen Sprache etablierten Sinn von ‚können‘ beruft, hebelt man nicht den Umstand aus, dass naturgesetzliche Unmöglichkeit andere, schwächere Möglichkeiten verschließt. In unserer gewöhnlichen Rede über Fähigkeiten ist schon präsupponiert, also stillschweigend unterstellt, dass sich unsere Fähigkeiten im Bereich der Naturgesetze und der logischen Gesetze bewegen. Dass es nicht immer eigens erwähnt wird, zeigt nur, wie selbstverständlich diese Unterstellung ist.“110 In der nächsten These geht es mit der Analyse bzw. Konstruktion des Freiheitsbegriffs weiter. 3. These: Dass der menschliche Wille frei sei, bedeutet vernünftigerweise, dass Menschen bestimmte Fähigkeiten haben.111
Keil übersetzt den Freiheitsbegriff an dieser Stelle in einen Fähigkeitsbegriff. Er stellt fest, dass der Freiheitsbegriff sowohl einen positiven als auch einen negativen Aspekt enthalte. Unter der negativen Freiheit verstehe man die Freiheit von etwas, beispielsweise Zwanglosigkeit, unter der positiven Freiheit dagegen die Freiheit zu etwas. Bei der negativen Freiheit handle es sich um Handlungsfreiheit, bei der positiven dagegen um Willensfreiheit.112 Welche Fähigkeiten vorhanden sein müssen, damit man von Willensfreiheit sprechen könne, erläutert Keil in der darauffolgenden These. 4. These: Willensfreiheit ist die Fähigkeit zur hindernisüberwindenden Willens bildung. 109 Keil, Willensfreiheit, 38. 110 AaO. 60 f. Zu Pauen vgl. o. S. 39–41. 111 Keil, Determinismus, 108. 112 Vgl. aaO. 108 f.
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Die Frage, ob ein Mensch anders wollen kann, als er gerade will, beantwortet Keil mit dem Hinweis auf die menschliche Fähigkeit des Abwägen-Könnens. Denn bei der Willensfreiheit gehe es „um die Fähigkeit, innezuhalten, vorhandene Wünsche zu überprüfen und sie gegebenenfalls nicht in die Tat umzusetzen.“113 Keil bezeichnet, in Anlehnung an John Locke, diese Fähigkeit als das Suspensionsvermögen. Dieses sei erst im Erwachsenenalter vollständig ausgebildet und bei psychisch kranken Menschen entweder beeinträchtigt oder gar nicht mehr vorhanden. Das deutsche Strafrecht berücksichtige diese Tatsache, indem es solche Personen strafrechtlich für schuldunfähig erkläre. Persönliche Merkmale wie Gewohnheiten, Affekte oder charakterliche Schwächen schränken dagegen das Suspensionsvermögen nicht ein, sondern stellen lediglich eine Herausforderung für dessen Ausübung dar: Es obliegt der Person, das Vermögen angesichts dieser Erschwernisse auszuüben. Willensfreiheit ist deshalb nicht ‚hinderungsfreie Willensbildung‘ (Seebaß), denn ein Vermögen, keinen Hinderungen ausgesetzt zu sein, gibt es nicht. Willensfreiheit ist die Fähigkeit zur hindernisüberwindenden Willensbildung.114
Die hier vorgeschlagene Definition erstaunt. Soll dies der gesuchte Libertarismus sein, der dem Determinismus entgegen steht? Denn die Fähigkeit zur hindernisüberwindenden Willensbildung lässt sich im deterministischen Weltbild ebenso leicht unterbringen wie in einem nicht-deterministischen. Als Fähigkeit würde sie angeboren oder erlernt, mithin auf deterministische Weise erzeugt und wirksam sein. Im indeterministischen Weltbild würde sie möglicherweise auch zufallsbedingt entstanden und wirksam sein. Insgesamt betrachtet lässt sich diese Fähigkeit also auf determinierende Ursachen oder auf glückliche Zufälle zurückführen. Damit ist aber kein starker Begriff von Willensfreiheit bezeichnet. Es müsste erst gezeigt werden, dass es noch eine besondere Entstehungsweise von Hindernisüberwindungsvermögen gibt, welche starke Willensfreiheit erzeugen könnte. Das Hindernisüberwindungsvermögen an sich begründet keine starke Willensfreiheit im Sinne eines Dritten neben Zufall und Notwendigkeit. Hier liegt also ein Regressproblem verborgen. Denn das Hindernisüberwindungsvermögen, das Freiheit jenseits von Zufall und Notwendigkeit erzeugen soll, müsste auf eine bestimmte Weise hervorgebracht worden sein, die ihrerseits jenseits von Zufall und Notwendigkeit liegt. Damit ist das Problem nur verlagert. Ein weiteres Gegenargument gegen Keils Beschreibung von libertarer Freiheit liegt in der folgenden Überlegung: Keil begründet die Willensfreiheit mit dem Moment des Innehalten-Könnens. Andererseits besteht der Libertarismus auf das Anders-Handeln-Können unter denselben gegebenen Bedingungen.115 Nun 113 AaO. 109. 114 AaO. 110. 115 Vgl. aaO. 74.
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bildet aber das innehaltende Überlegen in einer Situation (schon alleine durch das Voranschreiten der Zeit) eine neue Bedingung im Vergleich mit der Situation ohne Innehalten. Von Anders-Handeln-Können unter denselben Bedingungen kann hier also nicht die Rede sein. Der Sachverhalt wird besser so erklärt: Ein Mensch ist in einer Situation durch bestimmte innere und äußere Gründe determiniert. Wenn diese Gründe ihn dazu bestimmen, wird er kurz vor einer Entscheidung noch einmal innehalten und möglicherweise einen ersten Handlungsimpuls korrigieren. Wenn die Gründe ihn nicht zum Innehalten bestimmen, wird er nicht innehalten. Ob es zum einen oder anderen Fall kommt, hängt vom gesamten Bedingungsgefüge ab.116 Keil stellt sich dem hier beschriebenen Problem an anderer Stelle, nämlich bei These neun, kann es jedoch, wie wir noch sehen werden, nicht lösen. Im Übrigen entspricht Keils Fähigkeit zur Hindernisüberwindung weitgehend den Personalen Fähigkeiten, wie Pauen sie entwickelt hat: Dieser forderte, dass eine Person „die Konsequenzen ihres Tuns abschätzen können muss“ und die Fähigkeit hat, „konkurrierende Präferenzen gegeneinander abzuwägen“.117 Dies zeigt, dass der Fähigkeitsbegriff in verschiedenen Weltbildern verankert sein kann. Erscheint es in Anbetracht dessen als sinnvoll, den Freiheitsbegriff in einen Fähigkeitsbegriff zu übersetzen? 5. These: Der fähigkeitsbasierte Freiheitsbegriff enthält ein normatives Element. Ob die fragliche Fähigkeit vorhanden ist, ist eine empirische Frage; von der Fähigkeit Gebrauch zu machen, ist eine normative Forderung an den Akteur.118
Wenn man zugeben würde, dass mit These vier tatsächlich ein libertarer Freiheitsbegriff gegeben worden sei, erschiene die darauffolgende These fünf als plausibel. Dies ist aber, wie wir gesehen haben, nicht möglich. Das in These vier beschriebene Suspensionsvermögen kommt nach Keil dann zum Einsatz, wenn sich der Akteur moralisch nicht korrekt verhalten habe. Das Prinzip der alternativen Möglichkeiten sei also vor allem im Kontext eines Vorwurfes entscheidend. Da das Suspensionsvermögen eine normative Forderung an den Akteur darstelle, reiche es nicht aus, „sich auf das psychologische Faktum zu berufen, ihm sei der fragliche Gesichtspunkt einfach nicht in den Sinn 116 In determinismus-kompatibler Weise analysiert auch Ernst Tugendhat das Suspensionsvermögen: „Man kann zwar nicht beweisen, dass das Ichgeschehen kausal bestimmt ist, aber es scheint auch keinen Grund zu geben, die Art, wie das Ichgeschehen abläuft, als nicht in sich kausal bestimmt anzusehen. Warum soll die Art, wie ich zwischen den Gründen abwäge, also welches Gewicht ich dem gebe, was ich für gut halte im Gegensatz zu meinen unmittelbaren Motiven, nicht bestimmt sein, und ebenso die Ichstärke, die mir im Festhalten an einem Ziel zur Verfügung steht? Warumstopp [Tugendhats Begriff für Willenssupension] und Determiniertsein widersprechen sich also nicht.“ (Tugendhat, Willensfreiheit, 25 f.). 117 Pauen, Minimalkonzeption, 87. Vgl. o. 29. 118 Keil, Determinismus, 110.
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gekommen.“119 Dementsprechend komme es auch nur darauf an, ob die Person mit dem Vermögen ausgestattet sei. Ob sie es in der fraglichen Situation zum Einsatz bringe oder nicht, sei irrelevant, da nur die normative Forderung zähle.120 6. These: Wohlverstandene libertarische Freiheit ist keine ‚tiefere‘ Freiheit, die zu gewöhnlichen, auch von Kompatibilisten anerkannten Freiheiten noch hinzukäme.121
Keil macht an dieser Stelle deutlich, dass die Vereinbarkeitsfrage nicht der Kern der Freiheitsdebatte sei. Vielmehr gehe es um die Frage, welcher Freiheitsbegriff der korrekte sei. Da für Keil der Alternativismus das entscheidende Kriterium für einen richtigen Freiheitsbegriff ist, weist er das kompatibilistische Freiheitsverständnis entschieden zurück. Da Kompatibilisten das Prinzip des Anders-Handeln-Könnens ablehnen, sollten sie besser von „Quasientscheidungen, Quasihandlungen, Quasiüberlegungen, Quasifähigkeiten und Quasifreiheit sprechen.“122 Nach Keil unterschätzen kompatibilistische Entwürfe allgemein, wie stark der Determinismus in unser Selbst- und Weltverständnis eingreife. Darin ist ihm zweifellos zuzustimmen. Allerdings meint Keil, dass die kompatibilistischen Theorien ihre Überzeugungskraft dadurch erhalten, „dass sie zumeist mit einem blassen, unkonturierten Determinismusbegriff arbeiten.“123 Besser wäre es, so zu urteilen, dass die Kompatibilisten den Determinismus nur auf die Situation der Entscheidungsfindung beziehen, aber nicht darauf reflektieren, welche Konsequenzen diese Ontologie für das menschliche Selbstverständnis hat, wenn man über einen gesamten Lebensweg in der deterministischen Welt nachdenkt. Auch diese These basiert auf Keils problematischer Widerlegung des Determinismus und einer nicht vorhandenen alternativen Theorie über den Zusammenhang der Welt. Damit teilt sie auch deren Schwächen. 7. These: Wohlverstandene libertarische Freiheit bedeutet nicht, dass Personen keinerlei Bedingungen unterworfen wären und losgelöst von ihren Wünschen Beliebiges wählen können.124
Mit seiner siebten These möchte Keil herausstellen, dass der libertarisch freie Wille nicht losgelöst vom Charakterprofil einer Person sei. Der entscheidende Unterschied zum kompatibilistischen Freiheitsverständnis bestehe jedoch darin, dass typische persönliche Einstellungen die Entscheidungen nicht alternativlos determinieren, sondern lediglich „disponieren“. Keil verbindet diesen Gedanken des Geneigtseins mit dem Konsequenzargument: 119 AaO. 110 f. 120 Vgl. aaO. 111. 121 AaO. 111. 122 AaO. 112. 123 Ebd. 124 Keil, Determinismus, 112.
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Weil das Verhältnis zwischen mentalen Einstellungen und Entscheidungen kein deterministisches ist, entfällt auch der Grund für die Annahme, wir müssten unsere Einstellungen und unseren Charakter selbst gewählt haben, um in unseren Entscheidungen frei zu sein. Libertarier räumen durchaus ein, dass kein Mensch als Tabula rasa auf die Welt kommt. […]. Entscheidend ist nicht, ob ich mir meine Wünsche und meinen Charakter selbst ausgesucht habe, sondern dass sie sich nicht mit naturgesetzlicher Notwendigkeit in Verhalten umsetzen.125
Auch dieses Argument lebt von Keils Voraussetzung der Unwahrheit des Determinismus und leidet unter dem gleichzeitigen Fehlen einer ausformulierten Alternativtheorie. Er bezieht sich hier lediglich auf seine in These vier vorgetragene Definition von Willensfreiheit: Die Fähigkeit des Innehaltens um abzuwägen, und eine Entscheidung eventuell nicht handlungswirksam werden zu lassen. Denn: „Willensfreiheit zeigt sich im vernünftigen Umgang mit vorfindlichen Kontingenzen, die eigenen Dispositionen eingeschlossen.“ 8. These: Das Erstauslösermodell des Handelns ist unhaltbar. Handelnde sind keine unbewegten Beweger.126
Keil distanziert sich mit dieser These von Erstverursachungsmodellen wie Akteurskausalität.127 Die Freiheit des Libertaristen bestehe nicht in der Akausalität seiner Entscheidungen und Handlungen, sondern im So-oder-anders-Können unter gegebenen Bedingungen. Mit der kausalen Einbettung unserer Handlungen ist das Anderskönnen genau dann vereinbar, wenn Verursachtsein nicht dasselbe ist wie determiniert sein. Ein wohlverstandener Libertarismus muss also mit einer nichtdeterministischen Theorie der Kausalität verbunden werden.128
Damit bezieht sich Keil auch hier wieder auf seine vierte These, welche das Suspensionsvermögen als Grundlage des Alternativismus bezeichnet. Die dort vorgetragenen Gründe gegen die Plausibilität einer möglichen Bedingung des Libertarismus auf dem Suspensionsvermögen gelten also auch hier. 9. These: Nichtdeterminierte Entscheidungen und Handlungen sind etwas anderes als Zufallsereignisse.129
In diesem Zusammenhang ist auf Keils Versuch einzugehen, das unter These vier beschriebene Regressproblem zu lösen. Das Problem lautet: Das Weiterüberlegen in einer gegebenen Situation als Kern des Alternativismus erscheint im deterministischen Weltbild als notwendige Folge einer Ursache, im Indeterminismus 125 AaO. 113. 126 Ebd. 127 Eine solche wird etwa von Kane und Chisholm vertreten. 128 Keil, Determinismus, 115. 129 Ebd.
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ebenfalls als notwendige Folge einer Ursache oder als zufälliges Ereignis. These neun leugnet diese einfache Alternative und behauptet die Möglichkeit von etwas Drittem neben Zufall und Notwendigkeit, worauf libertarische Freiheit begründet werden könnte. Keils nähere Ausführungen zu diesem Punkt lauten: „Die Antwort auf den Einwand, dass der Indeterminismus die Freiheit nicht verständlich mache, muss lauten, dass er auch nicht diese Aufgabe hat.“ Denn es sei klar, dass durch den Indeterminismus lediglich der negative Aspekt der Freiheit erläutert werde, nämlich das Nicht-Determiniertsein. Es liege aber „auf der Hand, dass der bloße Indeterminismus für eine positive Erläuterung“ nicht ausreiche.130 Dem Beharren eines Nicht-Libertaristen auf einem positiven Aufweis der Freiheit stellt Keil im Grunde nur die Behauptung entgegen, „dass der Fragende sich ein nicht deterministisch verursachtes Geschehen“ – wir müssen ergänzen: welches auch noch nicht einfach zufällig sein soll – „einfach nicht vorstellen kann.“131 Keil weigert sich hartnäckig, den Vorgang des Weiterüberlegens kausal zu analysieren und verweist lediglich darauf, dass das Weiterüberlegen ein „Anderskönnen unter gleichen Bedingungen“ ermögliche. Denn in der gegebenen Situation müssen „weder die Naturgesetze noch die Vorgeschichte der tatsächlichen Handlung geändert werden.“ Hier erhebt sich in der Tat die Frage, „wie es denn dazu hätte kommen können, dass die Person weiterüberlegt.“ Keil behauptet, dass diese Frage, falls sie nach einer Ursache für das Weiterüberlegen sucht, den Determinismus voraussetze. Mit dieser Abfertigung kann man sich aber nicht zufrieden geben. Denn in der empirischen Welt gibt es hinreichende Beispiele für determinierte Ereignisse sowie einige Beobachtungen von Zufallsereignissen. Wer jedoch auf der Grundlage der Intuition sich der Frage verweigert, wie echte Freiheit jenseits von Zufall und Notwendigkeit zumindest begrifflich gedacht werden könne, dreht ohne Berechtigung die Pflicht zur Plausibilisierung (um nicht zu sagen die Beweislast) um. „Mehr muss an dieser Stelle nicht gezeigt werden“, behauptet Keil.132 Das dürfte dann doch zu vorschnell geurteilt sein. 130 AaO. 87. 131 AaO. 90. 132 AaO. 91. In seiner Habilitationsschrift über Handeln und Verursachen hat Keil zahlreiche Voruntersuchungen zu einer nichtkausalen Handlungstheorie durchgeführt, die jedoch an derselben Stelle abbrechen wie in dem späteren Band über Willensfreiheit und Determinismus. AaO. 174–240 entwickelt er, ausgehend von der sehr skeptizistischen Erkenntnistheoretikerin Nancy Cartwright, eine recht einschneidende Kritik an der Reichweite der Geltung von Naturgesetzen. Auf dieser Grundlage konstruiert er aaO. 431–473 eine Handlungstheorie, die über die Analyse von kontrafaktischen Konditionalen auf die These zuläuft, dass es mindestens in manchen Fällen wahr sei, dass verschiedene Möglichkeiten des Weltverlaufs in ein und derselben Situation bestehen (vgl. aaO. 451). Das Ergebnis der sprachanalytischen Arbeit lautet: „Wir sind nicht nur überzeugt davon, daß bestimmte Veränderungen ohne unsere Eingriffe nicht vorgekommen wären, wir haben auch recht damit.“ Darin liege aber kein Freiheitsbeweis, „denn einen solchen zu liefern ist nicht eine besonders schwierige Aufgabe, sondern eine unerfüllbare“ (aaO. 472).
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10. These: Die Hirnforschung hat aus eigenen Mitteln nichts Relevantes zum philosophischen Freiheitsproblem beizutragen.133
Zur Erläuterung dieser These schreibt Keil, dass die Hirnforschung „keine neuen Argumente für die Wahrheit der Determinismusthese, auch keine für oder gegen die Vereinbarkeit von Willensfreiheit und Determinismus“ liefere. Bisher könne die Neurobiologie lediglich die Möglichkeit einer „Einwirkung einer immateriellen Seele auf die Körperwelt oder das wundersame Vermögen, Naturgesetze zu ändern“ problematisieren. Davon sei aber der Libertarismus nicht betroffen. „Die einzige Bedrohung für einen fähigkeitsbasierten Libertarismus bestünde darin, dass die fraglichen Fähigkeiten mit dem, was wir über den Aufbau und die Arbeitsweise des menschlichen Gehirns wissen, unvereinbar wären.“134 Keil hat damit Recht, dass ein solcher Widerspruch bisher noch nicht aufgewiesen werden konnte. Aber in Wirklichkeit stellt sich der Sachverhalt noch einmal anders dar. Denn die naturwissenschaftliche Untersuchung hat bisher einerseits kausal determinierte Zusammenhänge im neuronalen System nachgewiesen, andererseits Spekulationen über vielleicht mögliche Zufallsereignisse im Nervensystem entwickelt.135 Wie aber sollte sich das Muster von libertarischer Freiheit neurobiologisch wiederspiegeln? Es sollte sich vom Muster der determinierten Hirnvorgänge und vom Muster eventueller zufälliger Hirnvorgänge spezifisch unterscheiden. Hier läge die Möglichkeit vor, eine empirische Falsifikationsbedingung für den Libertarismus aufzustellen. Insofern wäre die Hirnforschung relevanter für das philosophische Freiheitsproblem als Keil dies annimmt.
2.5.2.2 Zur Beurteilung von Keils Position Zunächst einmal ist festzustellen, dass die Zurückweisung des Determinismus durch Keil sehr problematisch ist. Die Wahrheit des Determinismus wird durch seine Art der Widerlegung nicht stärker und nicht schwächer bestritten als die Wahrheit eines beliebigen empirischen Naturgesetzes. Schließlich hat schon das Induktionsproblem dazu geführt, dass auf der Grundlage eines kritischen Rationalismus überhaupt keine empirischen Aussagen, auch nicht die Naturgesetze, als absolut wahr gelten können. Dennoch ist es praktisch und theoretisch ratsam, von der Geltung der Naturgesetze einstweilen auszugehen, so lange sie sich noch weiterhin bewähren. Insofern wäre es auch angeraten, entweder die Wahrheit des Determinismus bei der 133 Keil, Determinismus, 116. Zu den neurobiologischen Beiträgen zur Willensfreiheitsdebatte hat sich Keil ausführlich geäußert in Keil, Willensfreiheit, 154–191. Davon ist nur wenig eingegangen in Keil, Determinismus. 134 Keil, Determinismus, 117. 135 Vgl. u. S. 183–190. (Eccles/Beck).
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Theoriebildung vorauszusetzen oder aber die Argumente, die gegen ihn gelten, wenigstens zur Kenntnis zu nehmen und gegebenenfalls zur Konstruktion eines starken Freiheitsbegriffs heranzuziehen. Es würde sich dann aber auch zeigen, dass die bislang empirisch gewonnenen Einsichten in indeterministische Zusammenhänge in der Natur gerade nicht zu einem konsistenten Begriff von starker Willensfreiheit führen.136 Insofern Keils Ablehnung des Determinismus unzureichend ist, stellt er auch keine Theorie des Alternativismus zur Verfügung. Mit seiner Definition von Willensfreiheit als die Fähigkeit zur hindernisüberwindenden Willensbildung soll das Prinzip der alternativen Handlungsmöglichkeiten positiv ausgedrückt werden. Aber eine Willensregung, welche durch ein Moment des Innehaltens an der Realisierung der Handlung gehindert wird, und eine anschließende weitere Überlegung, die dann zu einer (alternativen) Handlung führt, ist ein Vorgang, der ohne weiteres in einem deterministischen System stattfinden kann. Die Suspension eines ersten Wunsches und der Vollzug einer anderen Handlungsoption begründen also keinen Begriff von Willensfreiheit. Es müsste hier vielmehr gezeigt werden, ob die, während der Suspension stattfindende, Entscheidungsbildung auf eine dritte Weise vollzogen wird, nämlich weder durch Zufall noch durch Notwendigkeit, sondern durch die noch immer undefinierte Willensfreiheit. Die sonst an dieser Stelle von Libertariern vorgebrachte Akteurskausalität lehnt Keil ausdrücklich ab. Indem er in These neun definiert, dass nicht determinierte Entscheidungen und Handlungen auch nicht zufällig seien, aber keine wirkliche Alternative zu Zufall und Notwendigkeit aufzeigen kann, ist es ihm auch nicht gelungen, das Zufallsproblem zu lösen. Ferner ist eine Handlung, welche an die Stelle einer kurz zuvor reflektierten anderen Handlung tritt, kein Handeln unter gleichen Bedingungen. Denn gerade die Suspension stellt eine Bedingung dar, die beim ersten Handlungsimpuls noch nicht gegeben war, während sie die endgültige Handlung hervorrief. Weiter wollte Keil bestreiten, dass die Hirnforschung einen relevanten Beitrag zur Diskussion des Freiheitsproblems leisten könne. Doch auch wenn die Neurobiologie selbstverständlich kein vollständiges Bild vom Menschen liefern kann, so stößt sie doch auf zahlreiche einzelne Zusammenhänge zwischen neuronalen Strukturen untereinander und mit mentalen Phänomenen. Mit jedem dieser Zusammenhänge bewährt sie die Determinismus-Hypothese von Neuem (ohne sie damit in den Rang einer absoluten Wahrheit im Sinne des Positivismus zu rücken). Insgesamt betrachtet, erscheint Keils Versuch, der Freiheitsintuition zu ihrem rationalen Recht zu verhelfen, nicht recht überzeugend. Allerdings hat er zurecht darauf aufmerksam gemacht, dass die Intuitionen bei den Kompatibilisten viel weniger befriedigt werden als diese es im Allgemeinen beteuern.
136 Vgl. u. 4.3.
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2.5.3 Bettina Walde: Epistemischer Libertarismus Als dritte Position folgt der Entwurf von Bettina Walde. Sie beansprucht, aus kompatibilistischen und inkompatibilistischen Argumenten eine neue Theorie entwickelt zu haben. Ihr Ausgangspunkt ist das deterministische Weltbild137, doch sie versucht auf eigentümliche Weise, damit einen erkenntnistheoretischen Indeterminismus zu verbinden, der dann doch „genau genommen gar kein ‚nur‘ epistemisches Modell der Willensfreiheit mehr ist, da er ontologische Folgen nach sich zieht“.138 Genau an dieser Stelle liegt auch das Grundproblem dieser Position, die im Folgenden dargestellt wird.139 Auch Walde will der vorwissenschaftlichen Intuition zu ihrem Recht verhelfen. Sie bezeichnet ihre Position als epistemischen Libertarismus, der auf folgende kurze Formel gebracht werden kann: Wir leben zwar in einer deterministischen Welt, so dass die gesamte Zukunft tatsächlich schon feststeht, aber da wir unsere eigene Zukunft nicht kennen, können wir uns getrost frei fühlen. Ihre zentrale These, die Existenz von Willensfreiheit, stützt Walde, indem sie aus kompatibilistischen und inkompatibilistischen Freiheitskonzepten drei Bedingungen konstruiert, die für die Annahme von Willensfreiheit notwendig und hinreichend seien. Dabei legt sie Einsichten über das Leib-Seele-Problem zugrunde und differenziert außerdem zwischen einer ontologischen und einer epistemischen Lesart der Begriffe von Determinismus und Indeterminismus.140
137 Walde kennt die quantenphysikalischen Einsichten in die Zufälligkeiten im mikrophysikalischen Bereich. Bedauerlicherweise lässt sie sich auf die Meinung ein, dass „die Frage, ob eine der deterministischen Interpretationen der Quantenmechanik oder eine indeterministische Interpretation richtig ist, […] nach wie vor offen“ sei (Walde, Willensfreiheit, 36). Sie bezieht sich für diese Meinung hauptsächlich auf ein lediglich als Preprint publiziertes Manuskript aus dem Graduiertenkolleg „Mathematik im Bereich ihrer Wechselwirkung mit der Physik“: Martin Daumer, Quantenmechanik und Determinismus 1995. Der Autor vertritt eine Außenseiterposition innerhalb der Physik. Charakteristisch ist sein Schlusssatz: „Das bemerkenswerte an dieser Geschichte ist aber meines Erachtens, daß selbst in einer gesellschaftlich so hoch angesehenen Naturwissenschaft wie der Physik (auch der Mathematik, als ‚Königin‘ aller Wissenschaften) subjektive Elemente wie Autoritätenhörigkeit, Axiomengläubigkeit und die Bereitschaft, Regeln zu befolgen, ohne sie mit ‚gesundem Menschenverstand‘ zu hinterfragen, selbst wenn sie jedem guten Geschmack und Gefühl widerstreben, eine derart beachtliche Rolle spielen. Dies sollte sowohl den Naturwissenschaftler als auch den Laien nachdenklich [stimmen]“ (Das letzte Wort fehlt im Preprint und wurde sinngemäß ergänzt, vgl. aaO. 24). – Zur weiteren Diskussion der quantenphysikalischen Zusammenhänge vgl. u. 164–183. 138 Walde, Willensfreiheit, 204, Druckfehler korrigiert. 139 Die folgenden Ausführungen gehen zurück auf: B. A. Weinhardt, Jenseits, 269–275. 140 Vgl. Walde, Willensfreiheit, 17.
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2.5.3.1 Exkurs: Das Leib-Seele-Problem Das Leib-Seele-Problem war bei den bisher dargestellten Positionen noch nicht im Mittelpunkt gestanden. Deswegen sollen, bevor wir uns Waldes Theorie zuwenden, einige Grundbegriffe und Grundprobleme dieser Thematik vorangestellt werden, die in der Philosophie unter der Rubrik theory of mind abgehandelt werden. Beim Leib-Seele-Problem geht es um die Fragen, wie leiblich-materielle Strukturen und geistig-mentale Zustände kategorial zu begreifen sind und wie sich beide zueinander verhalten. Als Ausgangspunkt der Diskussion dieser Fragen wird üblicherweise der traditionelle Substanz-Dualismus gewählt. Demnach sind Körper und Seele zwei verschiedene Substanzen. Körper sind ausgedehnt und haben Eigenschaften wie Masse, Volumen und andere mehr. Seelen hingegen sind immaterielle (geistige) Substanzen, die wahrnehmen, denken und fühlen. Wenn der menschliche Körper im Tod von der Seele verlassen wird, verändert er sich und löst sich schließlich in seine Bestandteile auf. Die Seele hingegen ist unsterblich, verfügt über keine Bestandteile und kann auch ohne Körper ihre Fähigkeiten ausüben. Das Problem dieser Konzeption besteht darin, dass nicht plausibel dargelegt werden konnte, wie die beiden so verschiedenen Substanzen aufeinander wirken können, insbesondere, wie die immaterielle Seele den materiellen Körper leiten könne. Dieser Substanz-Dualismus wird heute nur noch selten vertreten, weil in der empirischen Naturwissenschaft kein Raum für eine immaterielle Seele besteht. Michael Pauen ordnet die heute vertretenen Ansätze der nicht substanz- dualistische Geistphilosophie drei Hauptpositionen zu: dem Eigenschaftsdualismus, dem Interaktionistischen Dualismus und der Identitätstheorie. Bei allen drei Positionen liegt eine feste Korrelation von neuronalen bzw. körperlichen Zuständen und geistigen bzw. mentalen Zuständen vor. Durch ihren Gegensatz zum Substanz-Dualismus handelt es sich hier um drei Spielarten eines SubstanzMonismus. Allerdings bezeichnet Pauen nur die Identitätstheorie als Monismus. Auf dieser Position wird behauptet, dass mentale Vorgänge und neuronale Prozesse miteinander identisch seien. Ohne groß auf die Problematik des Identitätsbegriffs im allgemeinen einzugehen, beschreibt Pauen die Geist-Gehirn-Identität als eine perspektivische Aussage: Neuronale und mentale Prozesse sind insofern identisch, als ein und derselbe Vorgang mir in der Ersten-Person-Perspektive als mentaler Zustand zugänglich wird, während er in der Dritten-Person-Perspektive als neuronaler Zustand beobachtet werden könnte.141 Pauen geht davon aus, dass bei den Identitätstheorien die geistigen Prozesse kraft ihrer Identität mit
141 Vgl. aaO. 91 f.
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neuronalen Vorgängen auch selbst wieder auf die neuronale Ebene kausal zurückwirken können.142 Beim Eigenschaftsdualismus sind die mentalen Zustände lediglich Eigenschaften der neuronalen Vorgänge, die ihrerseits nicht kausal auf die neuronale Ebene zurückwirken können.143 Andere Autoren bezeichnen diese Position auch als Epiphänomenalismus, weil die mentalen Phänomene nur als sekundäre Effekte an der Oberfläche der neuronalen Vorgänge auftreten.144 Den interaktionistischen Dualismus beschreibt Pauen so, dass sowohl neuronale Zustände als auch mentale Zustände physische Zustände seien, dass sich aber neuronale Zustände von mentalen Zuständen unterscheiden. So sieht er die im Rahmen des Substanz-Dualismus ungeklärte Frage als prinzipiell beantwortbar an, wie die beiden Eigenschaftsgruppen der einen physischen Substanz überhaupt interagieren können.145 Da es sich bei beiden um physische Zustände handelt, liegen sie auf einer gemeinsamen Ebene, wie etwa auch Tiere und Pflanzen kategorial verschieden sind und doch als Organismen miteinander interagieren können. Man könnte diese Position als monistischen interaktionistischen Perspektiven-Dualismus bezeichnen, um die Nähe zur Identitätstheorie zu betonen. Denn auch hier wird Mentales und Neuronales bzw. Körperliches unter den beiden verschiedenen Perspektiven zugänglich. Nach dieser kurzen Begriffsklärung aus der Philosophie des Geistes wenden wir uns den drei Bedingungen für Willensfreiheit nach Walde zu.
2.5.3.2 Die Relevanzbedingung Die Relevanzbedingung besagt, dass das Mentale im Bereich des Physikalischen wirksam werden können müsse. Denn nur wenn ein Gedanke sich direkt auf die eigene Handlung und damit auf die physische Welt auswirken könne, sei damit die vorwissenschaftliche Intuition von Willensfreiheit im Sinne von Urheberschaft und Selbstbestimmung erfüllt. Denn sowohl Urheberschaft als auch Selbstbestimmung setzen voraus, dass die Person selbst mit den für sie charakteristischen Merkmalen auf irgendeine Weise in die physikalische Welt eingreife. Da Walde den Anspruch erhebt, ihr Modell müsse auch den neurobiologischen und kognitionswissenschaftlichen Einwänden standhalten können, spricht sie sich gegen eine dualistische Ausformulierung der Relevanzbedingung aus. Denn eine dualistische Sichtweise berge stets die Gefahr, dass die naturwissenschaftliche empirische Argumentationslinie dem Mentalen die kausale Relevanz ab-
142 Vgl. aaO. 93. Vgl. aber u. 62. 143 Vgl. Pauen, Grundprobleme, 86 f. 144 So etwa Ansgar Beckermann, Analytische Einführung, 46–49. 145 Vgl. Pauen, Grundprobleme, 89.
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spreche146, indem das Mentale als ein Epiphänomen betrachtet werden könne. Gedanken wären dann nur Ergebnisse von Hirnvorgängen und könnten ihrerseits nicht weiter wirksam werden.147 Doch kann der Epiphänomenalismus wirklich zurückgewiesen werden, indem man die dualistische Ontologie einfach gegen eine monistische austauscht? Walde versucht dies zu begründen, indem sie ihre Argumentation mit der klassischen Leib-Seele-Debatte verbindet und dazu folgende Alternativen diskutiert: Bei der ersten Alternative (A) gehe man von der Annahme aus, dass das Mentale nicht grundsätzlich an physische Faktoren gekoppelt sei. Diese Annahme gründe auf einem ontologischen Dualismus, also auf der Ansicht, dass es sich bei Geist und Gehirn um zwei unterschiedliche, voneinander getrennte Entitäten handle. Da derzeit keine Erklärung in Sicht sei, wie das Mentale, als getrennte und eigenständige Größe, auf das Physische einwirken könne, werde in der Regel bestritten, dass eine gegebenenfalls vorhandene geistige Substanz überhaupt den Körper steuern könne. Damit sei dem Geistigen die kausale Relevanz abgesprochen. Diesen Epiphänomenalismus lehnt Walde ab, da auf seiner Grundlage die Relevanzbedingung der Willensfreiheit nicht erfüllbar sei. Bei der zweiten Alternative (B) müsse man davon ausgehen, dass zwischen Geist und Gehirn eine Interaktion stattfinde. Doch stelle sich hier die Frage, wie diese Verbindung zwischen Mentalem und Physischem aussehen könnte. Walde formuliert zwei Antwortmöglichkeiten auf diese Frage: Die erste (B1) setze auf der naturalistischen Ebene ein. Bewusste Zustände werden dann durch physikalische Vorgänge erklärt. Die zweite Antwort (B2) sei auch hier wieder eine Spielart des Dualismus. Sie gründe auf der hypothetischen Möglichkeit psycho-physischer Gesetze und erkläre das Zustandekommen einer Handlung durch die Annahme eines Akteurs, der nicht der physikalischen Ereigniskausalität unterliege. Dies sei aber mit einem physikalischen Weltbild nicht in Einklang zu bringen. Ziehe man aus dieser Erklärungsnot die Konsequenz, dem Mentalen die kausale Relevanz abzusprechen, folge daraus wieder der Epiphänomenalismus. Die Relevanzbedingung der Willensfreiheit könne somit nicht erfüllt werden. Walde kommt infolgedessen (mit B1) zu dem Ergebnis, dass bewusste, geistige Zustände monistisch aufgefasst werden sollten: Man könnte beispielsweise annehmen, dass jedes Vorkommnis eines bewussten, mentalen Zustandes mit einem im weitesten Sinne physikalischen Zustand identisch ist. In diesem Fall kommt den bewussten, mentalen Zuständen bereits kraft ihrer Identität mit bestimmten physikalischen Zuständen eine kausale Rolle bei der Hand 146 Dass dies auch in einer monistischen Position möglich wäre, scheint Walde nicht klar zu sein. Vgl. o. 59 f. Die Relevanzbedingung hat Walde noch einmal gesondert behandelt in Walde, Kausale Relevanz. 147 Vgl. Walde, Willensfreiheit, 138 f.
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lungsselektion und Handlungssteuerung zu – auch wenn diese unbewusst abläuft. Die epiphänomenalistische Argumentationslinie hätte so keinen Ansatzpunkt mehr. Die Ausformulierung der Relevanzbedingung zur Monismusbedingung bringt demnach zwei Vorteile mit sich […]: Zum einen erlaubt sie eine Erwiderung auf die epiphänomenalistische Argumentationslinie. Zum anderen ermöglicht sie es auch, mit der deterministischen Argumentationslinie umzugehen. Denn die Monismusbedingung ist mit dem Determinismus vereinbar – sie zieht den Indeterminismus nicht in jedem Fall nach sich wie es bei einem interaktionistischen, dualistischen Ansatz der Fall wäre.148
Aber hier argumentiert Walde etwas zu schnell. Denn der Monismus ist keineswegs sofort die monistische Identitätstheorie, wonach das Mentale „kraft seiner Identität mit bestimmten physikalischen Zuständen“ eine kausale Rolle für Handlungen zugeschrieben bekommen kann. Denn wie wir oben bei Pauen gesehen haben, gibt es vom Monismus auch noch die Spielarten des interaktionistischen Dualismus, den Walde ablehnt, und den Eigenschaftsdualismus (= Epiphänomenalismus), den sie gerne loswerden möchte. Sie könnte also höchstens so argumentieren, dass man sich auf den Monismus beziehen solle, um die Probleme des Substanz-Dualismus hinter sich lassen zu können, und dass man dann Gründe für die identitätstheoretische Variante des Monismus finden müsste, um die Theorie zu untermauern. Prüfen wir nun Waldes zweite Bedingung.
2.5.3.3 Die Bedingung der geeigneten Determination Diese Bedingung lautet: Freie Willensentscheidungen sind nicht nicht-determiniert, sondern auf bestimmte Weise determiniert.149
Diese Bedingung übernimmt Walde aus den kompatibilistischen Ansätzen. Wir sind schon bei Pauen auf ähnliche Überlegungen gestoßen.150 Die Bedingung der geeigneten Determination soll, gemeinsam mit der Relevanzbedingung, das Zufallsproblem verhindern, mit dem sich inkompatibilistische Konzeptionen auseinanderzusetzen haben.151 Denn freie Entscheidungen seien nicht durch das Fehlen von Determinanten gekennzeichnet, sondern durch eine bestimmte Art der Determination. Bei dieser „bestimmten Art der Determination“ spiele das Konzept des „Bereichsdeterminismus“ im Unterschied zum „physikalischen Determinismus“ eine entscheidende Rolle. Wie sieht dieser Unterschied aus? 148 AaO. 141 f. Hier bezieht sie sich auf die Identitätstheorie, vgl. o. 59 f. 149 AaO. 157. 150 Pauens personale Präferenzen sind ebenfalls bestimmte Determinanten der Handlungssteuerung. Vgl. o. 29–38. 151 Vgl. o. 54 f.
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Während die Hypothese des physikalischen Determinismus eine Hypothese über den Zusammenhang zwischen den Ereignissen des Universums als Ganzes betrachtet darstellte, bezog sich der Bereichsdeterminismus jeweils auf deterministische Zusammenhänge in mehr oder weniger klar umgrenzten Gegenstandsbereichen (etwa der Psychologie) oder in einer bestimmten Beschreibungsperspektive oder epistemischen Zugangsweise. Diese Unterscheidung kommt nun zum Tragen – die Bedingung der geeigneten Determination ist gerade nicht im Sinne des physikalischen Determinismus zu interpretieren, sondern im Sinne des Bereichsdeterminismus.152
Nun geht Walde der Frage nach, ob mit dieser Lesart etwas für die Freiheitsthematik gewonnen werden könne. Den wichtigsten Punkt sieht sie darin, dass sich die verschiedenen Gegenstandbereiche einer vollständigen deterministischen Beschreibung im physikalischen Sinne entziehen können. Denn: Eine deterministische Beschreibung im Sinne des Bereichsdeterminismus bezieht sich auf einen klar umgrenzten Gegenstandsbereich – das kann auch beinhalten, dass dort wo die Grenzen liegen bzw. wo ein Wechsel zu einem anderen Gegenstandsbereich stattfindet (oder wo auch nur die Beschreibungsebene hin zu einer feinkörnigeren Ebene gewechselt wird), sich Lücken in dem deterministischen Gefüge ergeben, wenn eben die Beschreibungsperspektive oder der Gegenstandsbereich erweitert werden oder sonst wie verändert werden.153
Doch eignet sich das Konzept des „Bereichsdeterminismus“ tatsächlich, wenn es um die Frage nach freien Entscheidungen und Handlungen geht? Es scheint so, als ermögliche dieses Konzept eher einen ersten Schritt der Verdrängung des deterministischen Weltbildes. Denn tatsächlich schreibt Walde, dass sich durch dieses Konzept „Lücken im deterministischen (!) Gefüge ergeben“, doch dies kann wohl kaum der Fall sein, wenn der physikalische Determinismus ernsthaft vorausgesetzt werden soll. Wenn nämlich der physikalische Determinismus die Grundlage eines Modells darstellt, können sich auch durch die Fokussierung des Blicks auf einen eingeschränkten Bereich der Welt keine ontischen Lücken ergeben. Es kann höchstens geschehen, dass durch diese Einschränkung die kausalen Beziehungen zwischen dem Bereich und seiner Umgebung nicht mehr erkennbar sind. Als lückenhaft kann also lediglich die epistemische Ebene betrachtet werden. Betrachtet man die Forderung, dass Entscheidungen und Handlungen auf eine bestimmte Art zustande kommen müssen, steht man nach Walde vor der Aufgabe, diese „geeignete Art“ plausibel zu durchdenken. In diesem Kontext bekommt bei ihr wieder das Konsequenzargument ein entscheidendes Gewicht. Sie fasst es so, dass
152 Walde, Willensfreiheit, 157. 153 AaO. 158. Hervorhebung durch mich.
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Personen keinerlei Kontrolle über Ereignisse haben, die vor ihrer Geburt liegen – vielmehr sind diese Ereignisse vollständig durch frühere Ereignisse determiniert. Die Ereignisse vor der Geburt einer Person bestimmen aber auch die Ereignisse, die nach der Geburt der Person stattfinden. Zu diesen Ereignissen gehören auch die Entscheidungen und Handlungen der Person, und somit kann eine Person auch keine Kontrolle über ihre Entscheidungen und Handlungen haben.154
Walde kommt zu dem Schluss, dass die Bedingung der geeigneten Determination dem Konsequenzargument nicht standhalten könne. Denn schließlich könne eine Person ihre Wünsche und Ziele nicht aus dem Nichts entwickeln. Die geeignete Determination sei dennoch eine notwendige Bedingung der Willensfreiheit, da sie Willensentschlüsse von Zufallsereignissen abgrenzen könne. Für ein plausibles Modell von Willensfreiheit sei sie jedoch noch nicht hinreichend. Hier hatte Pauen noch anders argumentiert. Er glaubte, das Konsequenzargument zurückweisen zu können, ohne über den Determinismus hinausgehen zu müssen.155 Walde nimmt dagegen an, dass erst eine weitere Bedingung das Konsequenzargument zurückweisen könne, welche sich von der Bindung an den Determinismus ablöst. Erst eine solche Bedingung stelle nicht nur eine notwendige Bedingung für Willensfreiheit dar, sondern auch eine hinreichende. Es handelt sich dabei um die epistemische Offenheit der Zukunft. Die Ablösung der Theoriebildung vom Determinismus findet an dieser Stelle vorerst nur auf der erkenntnistheoretischen Ebene statt.
2.5.3.4 Die Bedingung der epistemisch offenen Zukunft Diese Bedingung soll der vorwissenschaftlichen Intuition, dass man alternative Entscheidungsmöglichkeiten habe, eine Grundlage bieten. Freie Entscheidungen sind solche, von denen die Person glaubt, dass sie auch eine andere Entscheidung hätte treffen können. Voraussetzung ist der epistemische Indeterminismus aus der Perspektive der Person.
Die dritte Bedingung gebe dem Prinzip der alternativen Möglichkeiten, das für inkompatibilistische Konzeptionen charakteristisch sei, eine neue Lesart: Die alternativen Entscheidungsmöglichkeiten werden nicht mehr ontisch interpretiert, sondern rein epistemisch. Die Annahme, dass alternative Entscheidungsmöglichkeiten bei gleicher kausaler Vorgeschichte auch in einem ontischen Sinne be stehen, sei hingegen nicht gültig. Den epistemischen Indeterminismus begründet Walde so: Da Personen nicht allwissend sind und dementsprechend keine vollständigen Vorhersagen bezüglich ihrer Zukunft machen können, sei es für eine Person vorstellbar, sie könnte 154 AaO. 172. 155 Vgl. o. 43–46.
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jeweils anders entscheiden und damit eine andere Zukunft herbeiführen, als es tatsächlich der Fall ist. Der epistemische Indeterminismus gründet also auf dem Argument der nicht vorhandenen Einsicht in die Zukunft, die trotz dieses Mangels doch jetzt schon feststeht. Diese bloß epistemische Offenheit der Zukunft soll das Konsequenzargument durchbrechen können.156 Wie stellt Walde sich das vor? Zunächst erklärt sie, dass zwei Voraussetzungen eine Person befähigen, eine Entscheidung zu treffen: Erstens, die Person muss glauben, dass es tatsächlich etwas zu entscheiden gebe. Zweitens, die Person muss simulierte Zukunftsszenarien bewusst abwägen können. Seien beide Gegebenheiten erfüllt, könnten Faktoren, die die Entscheidung bislang festgelegt haben, durch eine bewusste Überlegung gewissermaßen überstimmt werden.157 Diese Vorstellung ähnelt Keils These von Willensfreiheit als Suspensionsvermögen.158 Die so vollzogene Handlung gehe letztendlich auf die Überlegung der Person zurück, die sich daher als Urheber der Handlung betrachten könne. Der Regress des Konsequenzargumentes soll nach Walde dadurch gestoppt werden, dass die neuen Determinanten, die die Handlung festlegen, interne sind, also solche, die sich daraus ergeben, dass die Person überhaupt über Alternativen reflektiert hat. Auf der personalen Beschreibungsebene sei also die Person selbst für ihre Entscheidung verantwortlich und nicht die Rahmenbedingungen des Universums zu jedem beliebigen Zeitpunkt vor ihrer Geburt und die Naturgesetze. Es ist offensichtlich, dass damit das Konsequenzargument nicht wirklich ausgeräumt ist. Denn tatsächlich geht die Annahme, dass für den Handelnden die Zukunft epistemisch offen sei, auch auf den Zustand der Welt vor der Entscheidung und die Naturgesetze zurück. Sodann ist die epistemisch offene Zukunft genauso determiniert wie das bewusste Abwägen verschiedener Optionen mit der anschließenden „Überstimmung“ bereits bestehender Determinanten. Das Ergebnis des Abwägungsprozesses stand also seit jeher fest und geht damit nicht auf die Person, sondern auf die Naturgesetze zurück. Doch dieser Problematik stellt sich Walde nicht. Der Übergang von ihrer Ausgangshypothese des ontologischen Determinismus zu ihrer dritten Bedingung, der epistemischen Offenheit der Zukunft, scheint somit nicht plausibel. Eines der größeren Probleme sehe ich dabei darin, dass sie Argumente von der epistemischen Ebene einfach auf die ontische überträgt. Dies wird besonders an der Stelle deutlich, an der sie ihr Modell zwischen konstruktivistischen und naturalistischen Freiheitskonzeptionen ansiedelt.
156 Walde, Willensfreiheit, 197. 157 Vgl. aaO. 186 f. 158 Vgl. o. 50–52.
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[…] die konstruktivistische Idee, dass Personen sich letztlich ihre Willensfreiheit entwerfen (anstatt dass sie sie naturgegeben vorfinden), [führt] letztlich dazu […], dass Willensfreiheit auch im naturalistischen Sinne entsteht – die konstruktivistische Annahme zeigt also ganz handfeste Konsequenzen, die sich naturalistisch erfassen lassen.159 Teilt man die Überzeugung, dass die zu treffende Entscheidung ohnehin feststeht und dass man keine Alternativen hat, so macht man sich auch keine Gedanken über die Folgen der ohnehin nicht verfügbaren Alternativen. (Was der Person fehlt, ist zunächst nichts weiter als so etwas wie ein Konstrukt von Willensfreiheit.)160
Mit dem letzten Zitat stoßen wir wieder auf das Phänomen, dass aus dem deterministischen Weltbild existenzielle Frustrationen entstehen können. Wir stehen damit vor dem mit dem Determinismus verbundenen Fatalismusproblem, auf das wir noch ausführlich zu sprechen kommen werden.161
2.5.3.5 Zur Beurteilung von Waldes Position Bettina Walde hat ein Augenmerk auf die naturwissenschaftlich-metaphysische Dimension der Willensfreiheitsfrage gerichtet. Allerdings wird man nicht sagen können, dass sie das Problem des Epiphänomenalismus abschließend gelöst hat. Sehr problematisch ist ihr Übergang vom ontischen Determinismus zum epistemischen Indeterminismus und von dort auf eine ontisch gewordene Willensfreiheit. Hier dürfte ein Kategorienfehler vorliegen. Der wahre Kern ihres Argumentes besteht darin, dass Personen, die von einer noch nicht feststehende Zukunft ausgehen, sich möglicherweise mehr anstrengen werden, diese Zukunft mit zu bestimmen. Was aber, wenn die Person weiß, dass die Zukunft schon feststeht? Denn so lange der ontische Determinismus gilt, muss eine aufgeklärte Person ja von der determinierten Zukunft ausgehen. Um in Waldes Gedankenentwicklung einzutreten, müsste sie beschließen, die Wahrheit des Determinismus zu verdrängen. Nur so kommt die Freiheitsintuition zu ihrem Recht. Kognitiv gesehen handelt es sich aber um einen Selbstwiderspruch der betreffenden Person. Auch wenn wir einen Perspektivenwechsel vornehmen und eine Person betrachten, die von einer offenen Zukunft ausgeht, kommen wir nicht zu einer naturalistisch gewordenen Form von Willensfreiheit. Denn so lange wir als die Beobachter den Determinismus voraussetzen, können wir nur die Person beobachten, die fälschlicherweise vom Indeterminismus ausgeht und in ihrem Bemühen um sinnvolle Handlungen solche Entscheidungen trifft, die wir selbst als
159 Walde, Willensfreiheit, 200. 160 AaO. 203. 161 Vgl. u. 202–210.
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vollständig determiniert betrachten müssen. Auch hier kommt die Freiheitsintuition nicht wirklich zu ihrer rationalen Befriedigung.162 Es scheint also bisher, dass die Vernunft die Bedürfnisse der Freiheitsintuition nicht stillen kann. Sollte also der bessere Kompromiss zwischen den beiden anthropologischen Grundstrukturen darin bestehen, dass nicht die Vernunft, sondern die Intuition zurückstecken muss? Der nächste und letzte Philosoph, dem wir uns hier zuwenden, beschreibt, wie dies aussehen könnte.
2.5.4 Ted Honderich: Konsequenzen einer deterministischen Weltanschauung Auch der kanadisch-britische Philosoph Ted Honderich bezieht sich bei seiner Analyse der Freiheitsfrage auf die klassische Debatte zwischen Kompatibilismus und Inkompatibilismus. Er bestreitet den Wahrheitsanspruch beider Positionen, doch Marco Stier bezweifelt163, dass Honderich tatsächlich eine Alternative zu Kompatibilismus und Inkompatibilismus entdeckt habe, und bezeichnet ihn als Kryptokompatibilisten.164 Auf der anderen Seite wird er auch gelegentlich dem Lager des harten Determinismus zugeordnet.165 Wir versuchen im Folgenden, diese widersprüchlichen Beurteilungen einer weiteren Klärung zuzuführen. Honderich fasst die Positionen der beiden entgegengesetzten Lager von Kompatibilisten und Inkompatibilisten so zusammen:
162 Eine andere Form von epistemischen Indeterminismus liegt bei Lüke vor. Er vergleicht das Leben mit einem Schachspiel, das vollständig durch die Regeln determiniert ist, aber dennoch eine Menge von Zugmöglichkeiten enthält. Da das Leben noch viel komplexer sei als ein Schachspiel, könne man niemals alle möglichen determinierten Varianten durchleben. „Dann verfüge ich über eine riesengroße, unter Umständen astronomisch anmutende Dimension relativer Wahlfreiheit. Ist der Mensch nicht frei, zumindest relativ frei, der unter einer die Handlungsmomente seines Lebens in unvorstellbarer Weise überschreitenden Anzahl von im Einzelnen determinierten Lebensvarianten wählen kann? Die ihm vorgegebenen Determinanten wären die Bedingung der Möglichkeit für die Realisierung von individueller Freiheit.“ (Lüke, Säugetier, 235). Abgesehen von der nicht vorhandenen Korrelation von Komplexität und Freiheit suggeriert diese Ansicht doch auch noch, dass man eine freie Wahl zwischen verschiedenen Möglichkeiten habe, was Lüke aber eigentlich nicht möchte. 163 Stier, Verantwortung, 156. 164 Vgl. aaO. 111. 165 So etwa Kane, Significance, 9; 218. Honderich kennt die quantentheoretische Indeterminiertheit bzw. Zufallswahrscheinlichkeit der subatomaren Vorgänge. Deswegen spricht er von einem „Beinahedeterminismus“ (near determinism) der Welt, weil er sich der Ansicht anschließt, dass die Zufälle der Mikroebene sich nicht im Gehirn des Menschen und um seiner Erfahrungswelt auswirken. Die Philosophie könne deswegen von einem Determinismus ausgehen. (Honderich, Determinismus-Problem, 11). – Zur weiteren Diskussion der quantenphysikalischen Zusammenhänge vgl. u. 164–183.
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1. Beide Positionen gehen davon aus, dass es eine konstante Vorstellung von Freiheit gebe, welche aus unserer Sprache erhoben werden könne. 2. Die Kompatibilisten verstehen unter freien Entscheidungen solche Entscheidungen, die auf die Wünsche der betreffenden Person zurückgehen. Die Inkompatibilisten fordern zusätzlich die Erstauslösung. 3. Beide Parteien gehen von dem notwendigen Zusammenhang von Verantwortung und freier Entscheidung aus. Nur für freie Entscheidungen kann man zur Verantwortung gezogen werden. 4. Daher gibt es für die Inkompatibilisten nur dann Verantwortung, wenn der Determinismus falsch ist, während Kompatibilisten auch im Determinismus die Möglichkeit für Verantwortung annehmen. 5. Vertreter beider Positionen halten das Freiheitsproblem für eine theoretische Angelegenheit, bei der es lediglich darum gehe, Widersprüche zu eliminieren. Dies sei hauptsächlich daran geknüpft, den alltäglichen Gebrauch des Wortes „frei“ gründlich zu analysieren.166 Sein Hauptargument dafür, beide Positionen zurückzuweisen, besteht in einer Analyse der Freiheitsintuitionen von Personen. In Übereinstimmung mit seiner fünften These sieht er sowohl bei den Kompatibilisten als auch bei den Inkompatibilisten die große Rolle der Intuition nicht hinreichend berücksichtigt. Dieses Urteil erscheint merkwürdig, wenn man bedenkt, wie sehr sich Pauen, Keil und Walde um eine argumentative Rechtfertigung der Intuitionen bemüht haben. Dennoch geht Honderichs Intuitionsanalyse über die bisher schon dargestellten hinaus. Er will nämlich zeigen, dass in ein und derselben Person jeweils zwei widersprüchliche Einstellungen zur Freiheitsfrage vorliegen. Weil der Kompatibilismus und der Inkompatibilismus dies nicht wahrnähmen, seien beide abzulehnen.
2.5.4.1 Die gegensätzlichen Freiheitsintuitionen: Hoffnungen, Gefühle, Erkenntnis Honderich geht davon aus, dass jeder Mensch in Bezug auf den Determinismus bzw. auf die Freiheitsfrage grundsätzlich zwei Einstellungen habe, zwischen denen er jeweils hin und her schwanke: Das Gefühl der Erstauslösung und das Gefühl der Selbständigkeit. Auf der Grundlage dieser zwei Einstellungen gebe es zwei mögliche Verhaltensweisen, womit auf den Determinismus reagiert werden könne. Während das Gefühl der Erstauslösung auf den Determinismus stets mit Bestürzung reagiere, löse der Determinismus am Gefühl der Selbständigkeit die Reaktion der Unnachgiebigkeit aus. Wie sich Honderich diese Reaktionen kon-
166 Honderich, Determinismus-Problem, 145–147.
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kret vorstellt, wollen wir im Folgenden genauer betrachten. Er wendet die Gefühlsdialektik zwischen Erstauslösung und Selbständigkeit auf drei Bereiche an, die er als besonders relevant betrachtet, wenn man nach den Konsequenzen des Determinismus fragt. Diese drei Konsequenzbereiche bezeichnet er als Lebenshoffnungen, persönliche Gefühle und Erkenntnis. 2.5.4.1.1 Konsequenzen des Determinismus für die Lebenshoffnungen Bei den individuellen Lebenshoffnungen eines Menschen unterscheidet Honderich zwei verschiedene Arten. Beide Arten richten sich auf die Zukunft, jedoch in unterschiedlicher Weise. Die erste Art impliziere die Vorstellung einer ontolo gischen Offenheit der Zukunft: Was die Lebenshoffnungen der ersten Art betrifft, kann man in einer Hinsicht folgendes sagen: Sie setzen unter anderem voraus, daß wir unsere Zukunft als etwas Offenes, etwas Nicht-Feststehendes oder Veränderungsfähiges ansehen. Wenn ich eine derartige Hoffnung hege, gehe ich davon aus, daß die Fragen mit Bezug auf meine Zukunft noch nicht beantwortet sind. Dabei kommt es nicht so sehr darauf an, daß die Fragen nicht schon entschieden und registriert, sondern daß sie noch gar nicht gestellt sind. Mir ist eine Chance gegeben. Es liegt an mir. Vielleicht gelingt es mir.167
Die erste Art der Lebenshoffnung gehe stets mit dem Gefühl der Erstauslösung einher und stehe eng mit dem Gedanken von Willensfreiheit in Verbindung. Diese Intuition widerspreche jedoch der deterministischen Weltanschauung. Werde der Determinismus nun als gegeben vorausgesetzt, zerbreche die Lebenshoffnung zwangsläufig, und die Person reagiere darauf mit Bestürzung.168 Lebenshoffnungen der zweiten Art beruhten dagegen auf der Vorstellung von „selbständigen“ Handlungen. Was Honderich unter einer selbständigen Handlung versteht, wird von ihm eher umschrieben als definiert. Aus den folgenden Äußerungen lässt sich aber erheben, dass er mit dem Begriff „Selbständigkeit“ etwas ähnliches bezeichnet wie Walde mit der „geeigneten Determination“ oder Pauen mit seinen „Personalen Präferenzen“. Bei allen drei Begriffen geht es darum, dass eine Handlung nicht nicht-determiniert ist, aber durch eine bevorzugte Art der Determination zustande kommt. Diese bevorzugte Art von Handlungsdeterminanten steht im Zusammenhang mit dem Charakterprofil einer Person. Honderichs Selbständigkeit nähert man sich am besten über seinen Begriff der anverwandelten Wünsche. Dies sind Wünsche, für die man sich wirklich engagiert, z. B. der Wunsch, beruflich tätig zu sein, im Gegensatz zu widerstrebenden Wünschen, die auf einen enttäuschenden 167 AaO. 120. 168 Vgl. aaO. 123.
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Umstand zurückgehen, wie z. B. der Wunsch des Arbeitslosen, der widerstrebend fernsehen will, um die Zeit totzuschlagen.169
In diesem Sinne könne eine selbständige Lebenshoffnung darin bestehen, daß ich vor allem einer persönlichen Schwäche entrinnen will, einer Nachgiebigkeit oder einer Gewohnheit, die mir die Zuversicht nimmt. Ich selbst habe womöglich Wünsche, die meinem anverwandelten Wunsch entgegenstehen und ihn besiegen. […] Indem wir auf frühere Ausführungen zurückkommen, können wir auch sagen, daß eine derartige Handlung wirklich von der betreffenden Person herrührt; sie steht nicht in Widerspruch zu den Wünschen oder dem wahren Wesen des Betreffenden. Um ein Etikett einzuführen: Die Anbahnung einer solchen Handlung beruht auf Selbständigkeit.170
Anders als die Lebenshoffnungen nach Art der Erstauslösung, können die selbständigen Lebenshoffnungen mit dem Determinismus in Einklang gebracht werden. Denn nach der deterministischen Lesart gelten diejenigen Handlungen als selbständig, die auf eine bestimmte Art von kausaler Entstehungsgeschichte zustande kommen. Diese Lebenshoffnungen bleiben dementsprechend auch in einer deterministischen Weltanschauung unangetastet.171 Deswegen führen Lebenshoffnungen der zweiten Art, im Gegensatz zu denen der ersten Art, auch nicht zur Bestürzung. Nach Honderich gibt es Personen, die sich ausschließlich auf die zweite Art der Lebenshoffnungen zurückziehen können und die erste Art als belanglos beurteilen. Diese abweisende Haltung gegenüber der Bestürzung bezeichnet er als „befriedigte Unnachgiebigkeit“.172 Ursprünglich hege aber jeder Mensch beide Arten von Lebenshoffnungen bezüglich der Zukunft: Sowohl solche, die mit der Vorstellung der Erstauslösung zusammenhängen, als auch andere, die an die Vorstellung von Selbständigkeit geknüpft sind. Dementsprechend könne jeder Mensch auch grundsätzlich mit Bestürzung oder Unnachgiebigkeit reagieren. Honderich hält keine dieser beiden Reaktionsweisen für einen Irrtum, da es sich bei beiden um natürliche Reaktio nen handle. Sie wurzeln nicht in theoretischen Überzeugungen alleine, sondern auch in intuitiven Annahmen, die nicht den logischen Kategorien von wahr oder falsch unterliegen.173 Neben den Lebenshoffnungen betreffe die Gefühlsdialektik von Erstauslösung und Selbständigkeit auch die persönlichen Gefühle.
169 AaO. 193. Anhand dieser Umschreibung könnte man vermuten, dass sich Honderich hier gedanklich in der Nähe der von Pauen beschriebenen, aber abgelehnten identifikatorischen Variante zur Erkenntnis von geeigneten Determinationen bewegt. Vgl. o. 36 f. 170 Honderich, Determinismus-Problem, 124–126. 171 Vgl. aaO. 126 f. 172 Vgl. aaO. 127. 173 Vgl. aaO. 127 f.
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2.5.4.1.2 Konsequenzen des Determinismus für die persönlichen Gefühle Die persönlichen Gefühle untergliedert Honderich in positive, anerkennende Gefühle und negative, entrüstete Gefühle. Die persönlichen Gefühle müssen nicht durchweg moralische Gefühle sein, können aber mit solchen vermischt werden: Ich kann dem anderen für eine Handlung dankbar sein, ohne die Tat als gut oder böse zu beurteilen oder sie dem Betreffenden als moralischen Plus- oder Minuspunkt anzurechnen. […] Ebenso verhält es sich mit meinen entrüsteten Gefühlen. Es mag zwar sein, daß es mir trotz meiner Bemühungen nicht gelingt, dem anderen daraus, daß er mir geschadet hat, einen moralischen Vorwurf zu machen, doch das ist keine Garantie dafür, daß ich ihm wohlgesinnt bin.174
Honderich verdeutlicht dies mit einem Beispiel: Eine Person A möchte ihrem Kollegen B bewusst schaden. Zu diesem Zweck erzählt A einem gemeinsamen Bekannten eine abfällige Äußerung, die B über diesen Bekannten in unbedachter Weise gemacht hatte. B ist daraufhin über A empört und kommt zu dem Entschluss, dass dieser auch anders hätte handeln können. Das Prinzip des Alternativismus könne dabei entweder mit dem Gefühl der Erstauslösung oder mit dem Gefühl der Selbständigkeit in Verbindung gebracht werden. Honderich erläutert zunächst, wie das Prinzip der alternativen Möglichkeiten mit dem Gefühl der Selbständigkeit zusammen passe: Indes ich meiner Bitterkeit Luft mache, sage ich vielleicht, er hätte anders handeln können, und diese Feststellung kann ich durch verschiedenen Aussagen ergänzen: Er wußte, was er tat; seine Lästergeschichte war kein bloßes Versehen. Außerdem war er keineswegs zu dieser Handlung gezwungen, etwa weil er die Selbstbeherrschung verloren hätte und sich von seinen Leidenschaften hätte mitreißen lassen. Drittens glaube ich nicht, daß die Handlung nicht mit seinem Charakter übereinstimmte und im Grunde im Widerspruch zu seiner Persönlichkeit stand. Er ist, wie ich sage, von sich aus bösartig oder rachgierig, jedenfalls alles andere als ein Ehrenmann. Dem füge ich vielleicht noch hinzu, daß er auch nicht schwachsinnig, sondern durchaus normal ist und ein recht gutes Gespür für das hat, was anderen Menschen weh tut. Schließlich weise ich vielleicht noch darauf hin, daß außer dem Betreffenden selbst niemand an der Handlung beteiligt war. Es war nicht so, als hätte ihn jemand anders für seine eigenen Zwecke benutzt oder dergleichen. Dies sind durchweg Voraussetzungen oder Annahmen über die Anbahnung der Handlung meines Widersachers. […]. Was wir dabei vor uns haben, entspricht dem oben eingeführten Etikett ‚Selbständigkeit‘ und geht nicht darüber hinaus. Hier ist klar, daß alle diese Voraussetzungen mit dem Determinismus zu vereinbaren sind.175
174 AaO. 129. 175 AaO. 129 f.
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Honderich macht aber weiter darauf aufmerksam, dass jemand keineswegs bei dem Gefühl der Selbständigkeit stehen bleiben müsse, sondern auch zum Gefühl der Erstauslösung fortschreiten könne: Es kann sein, daß man mir Entschuldigungen und Erklärungen entgegen hält, die das Handeln meines Widersachers betreffen. Man wird sagen, er habe kaum der Versuchung widerstehen können, mir durch Weitererzählen dieser Geschichte eins auszuwischen. An diesem Punkt habe ich sicher das Gefühl, daß es eine grundlegende Hinsicht gibt, in der er der Versuchung hätte widerstehen können, und das werde ich auch sagen. Selbst wenn die Versuchung stark gewesen wäre, hätte er ihr widerstehen können. Er hätte anders handeln können, und das heißt nicht bloß soviel wie: er wußte, was er tat, er hatte die Selbstbeherrschung nicht verloren usw. Er hätte in dem Sinne anders handeln können, daß er auch unter den gegebenen Umständen und trotz der starken Versuchung usw. etwas anderes hätte tun können. Diese und ähnliche Überlegungen können mich dazu bewegen, seine Handlung anders zu beurteilen. Ich halte sie nun nicht mehr nur für eine selbständige Handlung, sondern erachte sie für etwas, was auf sein Ich, sein Selbst zurückgeht. Meine Erbitterung geht mit dem Bild einher, das ihn als Ersturheber seines Tuns zeigt.176
Das erbitterte Gefühl lasse sich mit dem Determinismus nicht vereinbaren. Es müsse daher preisgegeben werden, wenn man den Determinismus für wahr halte. Leider betreffe dies nicht nur die unangenehmen Gefühle wie Erbitterung oder Enttäuschung, sondern auch andere. Auch die Dankbarkeit, und zwar womöglich die nach meiner Auffassung eigentliche Dankbarkeit, muß verschwinden. Dies ist die Reaktion der Bestürzung auf persönliche Gefühle. Dabei kann es sein, daß ich mich hin- und herbewege zwischen dieser Bestürzung und der Unnachgiebigkeit.177
2.5.4.1.3 Konsequenzen des Determinismus für die Erkenntnis Der dritte wesentlich betroffene Konsequenzbereich der deterministischen Weltanschauung ist die Erkenntnis. Denn auch in der Forschung könne man eine Entdeckung entweder als erstausgelöste oder als selbständige Handlung betrachten. Diesen Zusammenhang entfaltet Honderich leider recht kurz und begrifflich unscharf. Er spielt dabei auf den epikureischen Einwand gegen den Determinismus an,178 den er schon an anderer Stelle ausführlicher reflektiert hatte, wenn auch in einem anderen Zusammenhang. Es ging an dieser Stelle darum, dass der Determinismus als wissenschaftliche Theorie sich selbst ad absurdum führe. Nach Epikur müsse ein Determinist zugeben, dass er auf deterministische Weise zu der Ansicht gekommen sei, der Determinismus sei wahr. Seine Ansicht 176 AaO. 131 f. 177 Ebd. 178 Vgl. aaO. 132 f.
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sei also nur die notwendige Folge von vorangegangenen Wirkungen. Deswegen beruhe seine Ansicht nicht auf Wahrheit, sondern auf Ursachen. Wären die Ursachen andere gewesen, so wäre er, ebenfalls in notwendiger Weise, ein Indeterminist geworden. Honderich kann diesen Einwand leicht entkräften. Er verweist darauf, dass auch notwendig zustande gekommene Meinungen sich kritisch überprüfen lassen. Mit anderen Worten: Eine deterministisch zustande gekommene Meinung kann durch eine (im deterministischen Wissenschaftsbetrieb) zustande gekommene Falsifikation widerlegt werden, wodurch auf determinierte Weise eine andere Meinung gefasst werden kann.179 Im Zusammenhang mit dem nächsten Zitat zeigt sich, wie Honderich auch die Erkenntnis in Verbindung mit den beiden Intuitionen von Selbstständigkeit und Erstauslösung bringen möchte. Er schreibt: Unter jeder Untersuchung kann ich mir ein Unternehmen vorstellen, bei dem es um die Entdeckung der in keinem ihrer Sektoren abgeschotteten Realität geht. Das ist keine geführte Reise, sondern eine echte Entdeckungsfahrt. Zu diesem Bild gehört auch die Vorstellung von der Erstauslösung. Die Alternative ist eine Vorstellung von der Forschung als einer Untersuchung, zu der nichts weiter nötig ist, als dass mein Wissensdurst ebensowenig wie der der anderen enttäuscht wird […]. Kurz, man kann sich zwei verschiedene Vorstellungen von der Freiheit des Forschens zurechtlegen.180
Die beiden Forschungsfreiheiten, von denen Honderich spricht, scheinen mir am besten so interpretiert werden zu können: Zum einen gibt es ein ingeniöses Entdeckertum, wobei der Entdecker eine zündende Idee hat, die völlig unabhängig von vorangegangenen Diskussionen ist (Erstauslösung181). Zum anderen erarbeiten etwa in einer großen Forschungsgruppe viele Menschen eng begrenzte Ergebnisse und tragen sie zusammen. Dabei bildet das Endergebnis eine determiniert zusammengesetzte Summe der Einzelergebnisse. Jedes Gruppenmitglied hat selbständig gearbeitet, aber keines hat im Sinne des genialen Einfalls einen singulären Anspruch auf das Resultat (Selbständigkeit). Nachdem wir nun Honderichs Entwicklung der Gefühlsdialektik von Erstauslösung und Selbständigkeit verfolgt haben, sind wir imstande, seine Zurückweisung gleich beider Positionen, des Kompatibilismus und des Inkompatibilismus, in der Argumentation nachzuvollziehen.
179 Vgl. aaO. 112–115. 180 AaO. 133. 181 Menschen, die die Intuition von Forschung als Erstauslösung haben, könnten vielleicht an Newtons Erleuchtung beim Fall des Apfels denken. Ein Determinist wird diese Intuition natürlich auch deterministisch erklären können.
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2.5.4.2 Honderichs Zurückweisung von Kompatibilismus und Inkompatibilismus Honderich vollzieht seine Widerlegung der beiden gängigen Positionen entlang seiner zusammenfassenden Thesen der beiden Lager.182 Wir folgen ebenfalls dieser Reihenfolge. 2.5.4.2.1 Widerlegung von These 1 und 2: Wir alle haben eine feste Vorstellung von Freiheit, entweder die von Selbständigkeit oder die von Erstauslösung mit Selbständigkeit.183 Die Widerlegung dieser Thesen fällt Honderich leicht, indem er auf seine Analyse verweist, wonach alle Menschen zumindest ursprünglich von zwei verschiedenen Freiheitsvorstellungen geleitet werden: Von Erstauslösung (mit Selbständigkeit) und Selbständigkeit (ohne Erstauslösung). 2.5.4.2.2 Widerlegung von These 3: Freie Entscheidungen sind notwendig dafür, um einen Handelnden zur Verantwortung ziehen zu können. Gegen These 3 argumentiert Honderich folgendermaßen: Erstens, die These beschreibe als theoretische Aussage einen notwendigen Zusammenhang zwischen zwei Begriffen: Eine Entscheidung sei notwendig, um jemanden zur Verantwortung ziehen zu können. Zweitens, wenn wirklich jemand zur Verantwortung gezogen werde, geschehe dies jedoch aufgrund eines Werturteils bezüglich des Handelnden. Mit einer theoretischen Aussage alleine könne kein praktisches Urteil begründet werden. Mit dieser Ausführung will Honderich den naturalistischen Fehlschluss abwehren: Wird jemand für etwas verantwortlich gemacht, so beinhaltet das unter anderem, daß ein bestimmtes Werturteil über ihn gefällt wird, bei dem er schlecht abschneidet. Doch wie die Moralphilosophen schon seit langem behaupten, gibt es offenbar keine logischen Beziehungen irgendeiner Art zwischen Tatsachen und Werten, also zwischen ‚ist‘- Aussagen und ‚soll‘- Aussagen.184
Dabei begeht Honderich aber selbst einen logischen Fehler. Denn wie soll der Beweis konkret gebaut sein, mit welchem er Inkompatibilisten und Kompatibilisten widerlegen will? Offenbar schwebt ihm ein Argument vor, das die Aussage 182 Vgl. o. 68. 183 Weil Erstauslösung Selbständigkeit impliziert, lautet der Gegensatz nicht „Erstauslösung“ oder „Selbständigkeit“, sondern „Erstauslösung mit Selbständigkeit“ oder „Selbständigkeit alleine“. 184 Honderich, Determinismus-Problem, 150.
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enthält: ‚Eine freie Entscheidung ist notwendig dafür, um jemanden zur Verantwortung zu ziehen.‘ Diese Aussage soll widerlegt werden. Also kann sie entweder als Prämisse fungieren, die zu einer falschen Konklusion führt und damit widerlegt ist; oder sie soll selbst widerlegt werden, indem die Konklusion aus zwei anderen Prämissen lautet: „Eine freie Entscheidung ist nicht notwendig dafür, dass jemand zur Verantwortung gezogen wird.“ Außerdem muss der naturalistische Fehlschluss in dem Argument berücksichtigt werden. Um Honderichs Argument zu rekonstruieren, versuchen wir, einen Schluss aus den folgenden zwei Prämissen zu ziehen: 1. Ein praktisches Werturteil über die Qualität einer Handlung, und nicht nur eine theoretische Beschreibung dafür, wie die Handlung verursacht wurde, ist notwendig, um jemanden zur Verantwortung ziehen zu können (andernfalls läge ein naturalistischer Fehlschluss vor). 2. Der Begriff einer freien Entscheidung ist ein theoretisches Konstrukt (und kein Werturteil). Was folgt daraus? Offenbar nicht die von Honderich intendierte Konsquenz: 3. Also ist eine freie Entscheidung nicht notwendig dafür, dass jemand zur Verantwortung gezogen werden kann. sondern lediglich: 3. Also ist eine freie Entscheidung alleine nicht hinreichend dafür, dass jemand zur Verantwortung gezogen werden kann. Wenn die Freiheit einer Entscheidung jedoch nicht hinreichend dafür ist, um jemanden für sie zur Verantwortung zu ziehen, dann könnte sie noch immer eine notwendige Voraussetzung dafür sein – und genau dies behauptet auch sowohl das kompatiblistische als auch das inkompatibilistische Lager, unbeschadet ihrer differierenden Freiheitsdefinition. Die Widerlegung von These 3 ist also nicht gelungen. 2.5.4.2.3 Widerlegung von These 4: Nach den Inkompatibilisten gibt es nur moralische Verantwortung, wenn der Determinismus falsch ist, nach den Kompatibilisten reichen auch selbständige Entscheidungen zur Verantwortungszuschreibung aus. Die Widerlegung dieser These fällt Honderich wieder leicht. Er muss lediglich darauf verweisen, dass die beiden unterschiedlichen Freiheitsintuitionen in manchen Fällen die Verantwortung nur auf der Vorstellung der Selbständigkeit begründen, während in anderen Fällen zusätzlich die Erstauslösung als eine not-
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wendige Voraussetzung für eine moralische Beurteilung gedacht werde, mit welcher eine Verantwortungszuschreibung an den Handelnden begründet werden könne.185 Honderichs Gegenthese zu These 4 könnte also etwa lauten: Jeder Mensch knüpft Verantwortung gelegentlich an echte Willensfreiheit, gelegentlich aber auch lediglich an Selbständigkeit. 2.5.4.2.4 Widerlegung von These 5: Das Willensfreiheitsproblem ist ein theoretisches Problem. Es kann durch die Analyse des Sprachgebrauchs von „Freiheit“ gelöst werden. In der Widerlegung dieser These dürfte wohl eine Stärke von Honderichs Ansatz liegen. Er hat die Rolle der leitenden Gefühle in der Freiheitsdebatte stärker herausgearbeitet als die meisten anderen Autoren, auch wenn er diese Aufgabe nicht abschließend gelöst haben mag.186 Der Bearbeitung der emotionalen Aspekte der Freiheitsthematik wendet sich Honderich im neunten Kapitel seines Buches unter der Überschrift „Bejahung“ zu.
2.5.4.3 Die Bejahung des Determinismus und der Umgang mit den widersprüchlichen Einstellungen Nachdem Honderich die zwei grundlegenden Reaktionsmöglichkeiten auf den Determinismus herausgearbeitet hat, Bestürzung und Unnachgiebigkeit, kommt er zu dem Schluss, dass beide Einstellungen zu einer unbefriedigenden Situation innerhalb des deterministischen Weltbilds führen. Erstens sei schon das Gefühl bzw. die Reaktion der Bestürzung „etwas durchaus Unerfreuliches. Wenn Hoffnungen zerstört und persönliche Gefühle gehemmt werden, […] so ist das alles unerträglich.“187 Zweitens sei die Reaktion der Unnachgiebigkeit lediglich für selbständige Handlungen plausibel, führe aber zu Selbsttäuschungen, wenn man in Situatio nen, in welchen Erstauslösung eine Rolle spielt, lediglich mit Unnachgiebigkeit zu reagieren versuche.188 Drittens gerate man dadurch in einen Gefühlswiderspruch, dass man sich niemals in plausibler Weise dafür entscheiden könne, lediglich mit einer der beiden Reaktionen auf alle Anlässe und Situationen zu antworten. Honderich kommt also zu diesem Schluss: „Da unsere Situation derart unbefriedigend ist, müssen wir etwas unternehmen. Was sollen wir tun?“189
185 Vgl. aaO.152. 186 Vgl. aaO. 153 f. 187 AaO. 156. 188 Vgl. aaO. 157. 189 AaO. 159.
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Seine Frage beantwortet Honderich mit der Forderung, eine befriedigende Reaktion auf den Determinismus zu finden. Im Gegensatz zu den kompatibilistischen und inkompatibilistischen Konzeptionen erkenne sein neuer190 Ansatz „die Existenz zweier Arten von Einstellungen mit jeweils unterschiedlichen Auffassungen rückhaltlos an, während der Kompatibilismus und der Inkompatibilismus behaupten, daß wir nur eine einzige feststehende Überzeugung hätten.“191 Honderich betrachtet seine Lösung als eine Lebensphilosophie, die sich ein Mensch zu Eigen machen könne. Ihr Ziel sei, eine bejahende Reaktion auf den Determinismus zu finden.192 Er überlegt im Folgenden, wie man zu dieser Haltung gelangen könne: Um den Vorschlag ganz knapp zusammenzufassen, sollten wir bei unserer neuen Reaktionsweise mit Hilfe verschiedener Strategien den Versuch machen, uns an die Lage, in der wir uns befinden, anzupassen; wir sollten mit ebendem vorliebnehmen, was wir im Falle der Wahrheit des Determinismus wirklich unser eigen nennen können, und wir sollten uns auf den Teilbereich unseres Lebens einstellen, der nicht auf der Illusion Willensfreiheit beruht. Dabei können wir uns überlegen, wie begrenzt der Wert dessen, was wir preisgeben müssen, vielleicht ist; wir können den möglichen Nutzen in Betracht ziehen, den die deterministische Überzeugung zum Ausgleich bieten mag; wir können uns davor hüten, das Ausmaß des Verfügbaren zu unterschätzen; und wir können bedenken, daß das echte und beständige Vertrauen in den Determinismus auch mit bestimmten Chancen einhergeht.193
Bei der Bejahung gehe es letztendlich darum, die Empfindungen und die Anschauungen bezüglich des eigenen Lebens zu revidieren. Honderichs Lebens philosophie erstrebt die Entwicklung von Gefühlen, die ein Mensch ein Leben lang durchhalten könne und die ihn in dem Maß befriedigen, wie es die Wahrheit des Determinismus erlaube.194 Honderich ist sich dessen bewusst, dass Lebensphilosophien in der Gegenwart unter dem Schatten von Unwissenschaftlichkeit, wenn nicht Schlimmerem stehen. Er stellt deswegen sofort klar, dass die von ihm gesuchte Lebensphilosophie nichts mit der Frage nach dem letzten Zweck unseres Daseins und auch nichts mit Religion zu tun habe.195 Nach Honderich nutzt es für die Entwicklung der gesuchten Lebensphilosophie nicht, den Beweis dafür zu verstärken, dass sich Willensfreiheit im Sinne von Erstauslösung überhaupt nicht befriedigend denken lasse. Denn „Gefühle seien nicht davon abhängig, daß ihr Inhalt klar und ausformuliert“ sei.196 Viel mehr 190 Vgl. aaO. 156. Ob es sich dabei wirklich um einen neuen Ansatz handelt, wird weiter unten diskutiert. Vgl. u. 81 f. 191 Honderich, Determinismus-Problem, 161. 192 Vgl. aaO. 162. 193 AaO. 161. 194 Vgl. aaO. 162. 195 Ebd. 196 AaO. 163.
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verspricht er sich davon, sich in den Gedanken einzufühlen, dass wir „irgendwie mit der Natur Verbindung aufnehmen, uns irgendwie mit ihr identifizieren oder verbünden oder uns zumindest von ihr leiten lassen“ sollten.197 Genau dies ermögliche der Determinismus. „Wir sind nicht von der Natur getrennt, sondern wir befinden uns mehr oder weniger in ihr.“198 Dass aber der Determinismus „tatsächlich einen Weg zur Seelenruhe“ sei, bezweifelt Honderich dann doch wieder. Denn anders als bei den Romantikern sei unser Determinismus nicht mehr von der vergeistigten Art. Der Verzicht auf Erstauslösungsvorstellungen sei mit dem Argument der Naturnähe des Determinismus nicht zu erleichtern.199 Als vielversprechender betrachtet Honderich seinen eigenen Ansatz. Dieser besteht darin, die Bejahung mit den drei Konsequenzbereichen, die er herausgearbeitet hat (Lebenshoffnung, persönliche Gefühle, Erkenntnis), in Verbindung zu bringen. Honderich überlegt dabei, welche Vorteile in den jeweiligen Bereichen entstünden, wenn die deterministische Weltanschauung zugrunde gelegt werde. Wir werden im Folgenden seine Argumentation in den drei Konsequenzbereichen nachvollziehen.200 2.5.4.3.1 Lebenshoffnung Honderich plädiert dafür, dass man sich auf diejenigen Lebenshoffnungen besinnen solle, die mit dem Determinismus vereinbar seien. Die Lebenshoffnungen, die ausschließlich auf der Vorstellung der Selbständigkeit beruhen, erachtet er „in einem gewissen Sinne ebenso unbeschränkt und unbegrenzt“, wie diejenigen, die die Vorstellung der Erstauslösung enthalten. Dies betreffe vor allem die Gegenstände des Hoffens: Jeder Gegenstand, auf den sich eine Hoffnung der zweiten Art bezieht, kann auch Gegenstand einer Hoffnung der ersten Art sein. Der Sachverhalt, der mir vorschwebt, mag noch so großartig, personengebunden oder ausgefallen sein – ich kann ihn mir auch weiterhin erhoffen, und zwar in der einzigen Weise, die mir möglich bleibt.
Honderich scheint an dieser Stelle selbst noch nicht ganz von seinem Vorschlag überzeugt zu sein. Er spricht nämlich gleich danach das Fatalismusproblem an und überlegt, ob eine bereits feststehende Zukunft Anlass für weniger Hoffnung sei. Er kommt jedoch zu dem Schluss, dass dies nicht der Fall sei und verweist zur Begründung auf die faktische Unvorhersagbarkeit innerhalb eines determinis 197 AaO. 164. 198 AaO. 165. 199 AaO. 165 f. 200 Interessanterweise verändert Honderich die Reihenfolge seiner erarbeiteten Konsequenz bereiche. Hatte er zuvor stets mit den Lebenshoffnungen begonnen, fängt er nun mit den persönlichen Gefühlen an. Um der Systematik willen, halten wir uns an die ursprünglich eingeführte Reihenfolge.
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tischen Weltbildes. Mit der Berufung auf Spinoza versteht er Hoffnung als berechtigt, solange man im Unklaren über den Ausgang des Ereignisses sei.201 Hier bewegt sich seine Überlegung in der Nähe von Walde.202 2.5.4.3.2 Persönliche Gefühle Eine besondere Bedeutung räumt Honderich den persönlichen Gefühlen innerhalb eines deterministischen Weltbildes ein, da diese gleich zwei Vorteile in Aussicht stellen. Zum einen spricht Honderich die negativen Gefühle wie Selbstverachtung oder Gefühle des Versagens an. Werden diese Gefühle besonders heftig empfunden, stecke meist das Bild der Erstauslösung dahinter. Da der Determinismus dieses Bild jedoch ausschließe, biete er damit zugleich einen Weg, diesen negativen Gefühlen zu entkommen.203 Dasselbe gelte laut Honderich jedoch nicht für die positiven Gefühle, die wir gegenüber anderen Personen hegen. Diese müsse man nicht aufgeben, da hier das Bild der Erstauslösung nicht so dominant sei. Honderich versucht diesen Gedanken anhand des Gefühls der Dankbarkeit zu plausibilisieren: Die Art von Dankbarkeit, an der wir wirklich festhalten können, brauchen wir nicht als schwach oder unbefriedigend anzusehen. Wenn mir ein liebevolles Geschenk meiner Schwester in den Sinn kommt, ist das kein bedeutungsloses Gefühl, weil kein Bild von Erstauslösung im Brennpunkt steht, sondern Vorstellungen von ihren Gefühlen für mich. Ebenso verhält es sich mit meiner Reaktion auf positive Urteile über mich. Ich werde keineswegs die Möglichkeit einbüßen, mich an der mir von anderen gezollten Verehrung zu erfreuen. Die Welt braucht also nicht vor Kälte zu erstarren.204
2.5.4.3.3 Erkenntnis Wie schon an anderen Stellen seines Buches205, handelt Honderich auch in diesem Zusammenhang den Konsequenzbereich der Erkenntnis relativ kurz, ja fast kryptisch ab. Er argumentiert damit, dass die platonische Vorstellung von Erkenntnis als Einsicht in transzendente Realitäten verloren gehen müsse, wenn man mit dem Determinismus ernst mache. Unter Berücksichtigung von Honderichs oben dargestellten Äußerungen über die Erkenntnis interpretiere ich die Anspielung auf Platon so: Die intelligible Welt kann nach Platon nicht methodisch beherrschbar erkannt werden, sondern nur durch einen intuitiven Geistes-
201 Honderich, Determinismus-Problem, 168. 202 Auch Walde begründet die epistemische Offenheit der Zukunft damit, dass aufgrund der Komplexität der deterministischen Welt eine Vorhersage zwar prinzipiell möglich ist, aber faktisch nie erreicht werden kann. 203 Vgl. Honderich, Determinismus-Problem, 166 f. 204 Aao. 169. 205 Vgl. aaO. 132 f.
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blitz.206 Das entspricht dem Gefühl der Erstauslösung bezüglich der Erkenntnis. Erstauslösung gibt es aber nicht im Determinismus, daher ist auch auf eine Erleuchtung des Geistes nicht zu warten. Sondern die Erkenntnis ist ein mehr oder weniger zähes, langsames Voranschreiten von Arbeitsgruppen, ohne dass ein Einzelner mit einer genialen Idee blitzartig zur neuen Erkenntnis gekommen wäre. Aber auch eine solche deterministische Wissenschaft liefere uns keineswegs der „Ahnungslosigkeit oder dem Agnostizismus“ aus.207 Es könne sich jeder der Meinung anschließen, dass auch auf naturalistischem Wege gewonnene Erkenntnisse wahre Erkenntnisse sein können. Abschließend stellt sich Honderich die Frage, ob er es sich mit seinem Ansatz etwa ein wenig zu leicht gemacht habe: Wie ein Kritiker vielleicht sagen würde, läuft das alles im Endergebnis darauf hinaus, daß man die Dinge von der heiteren Seite betrachtet, daß man ihnen das Beste abgewinnt oder sogar gute Miene zum bösen Spiel macht. Das ist zwar nicht sonderlich wohlwollend und vielleicht auch nicht ernsthaft genug formuliert, verfehlt die Wahrheit aber nur um ein geringes.208
Leider zeigt Honderich hier nicht weiter auf, warum dieser Einwand dann doch nicht ganz den Kern der Wahrheit treffe. Damit versäumt er es, plausibel zu machen, dass er nicht doch einfach nur eines der beiden Gefühle, in der von ihm nachgewiesenen Dialektik, ausblendet. Damit hätte er auch das von ihm selbst formulierte Programm, den neuen Ansatz, noch nicht eingelöst. Für diejenigen, die sich bisher nicht überzeugen ließen, weist Honderich abschließend noch auf zweierlei hin: Erstens, in unserer Kultur sei die Ablehnung des Determinismus fest verwurzelt. Deswegen falle es schwer, die von ihm entwickelte Position anzunehmen, selbst wenn man sie für die richtige halte. Zweitens appelliert er noch einmal an die Affekte des Lesers, wenn er „abschließend und […] schlicht“ feststellt, daß nicht Beruhigungen und Tröstungen, sondern nur das überzeugte Vertrauen in den Determinismus uns in die Lage versetzen wird, die bejahende Reaktion wirklich zum Erfolg zu führen. Nichts anderes kann sicher sein.209
Wie ist diese Schlussaussage zu verstehen? Honderich sieht, dass all seine kogniti ven Argumente dafür, die bejahende Lebensphilosophie anzunehmen, durch emotionale Faktoren unwirksam gemacht werden können. So weit war er schon an einer früheren Stelle seiner Gedankenentwicklung.210 Nun appelliert er am 206 Vgl. Platon, 7. Brief, 341cd; 344b. 207 Honderich, Determinismus-Problem, 169. 208 AaO. 170. 209 AaO.171. 210 Vgl. oben die Widerlegung von These 5 auf S. 64.
Ausgewählte philosophische Entwürfe zur Willensfreiheitsthematik
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Ende in nur wenig verhüllter religiöser Weise daran, sein Vertrauen in den Determinismus zu setzen, um ein zufriedenes Leben führen zu können. Nur als Appell an die Affekte kann diese Schlussaussage als eine über die vorgetragenen Argumente kategorial hinausgehende Rede aufgefasst werden. Kann man aber dem Determinismus tatsächlich vertrauen? Wäre ein solches Vertrauen nicht nur dann gerechtfertigt, wenn es der Determinismus auch mit meinem je individuellen Leben gut meint? Andernfalls wäre es doch sehr unwahrscheinlich, die Hoffnung für meine Zukunft im Sinne der Erstauslösung so leicht aufgeben zu können. Denn empirisch betrachtet, meint es die Welt nicht mit allen Personen gut. Woher also soll ich das Vertrauen nehmen, dass ich zu den von dem Naturlauf Auserwählten gehöre?
2.5.4.4 Ein neuer Ansatz? Zur Beurteilung von Honderichs Position Handelt es sich bei Honderichs Theorie nun tatsächlich um einen neuen Ansatz, jenseits von Kompatibilismus und Inkompatibilismus? Oder vertritt er doch einen Kryptokompatibilismus, wie Stier211 meint? Man kann Honderichs Theorie ja so zusammenfassen: 1. Der Determinismus ist die wahre Weltanschauung. 2. Menschen haben lebenspraktische Einstellungen, die sowohl theoretische Vorstellungen von Erstauslösung als auch von Selbständigkeit ohne Erstauslösung implizieren. 3. Die Erstauslösungsvorstellungen lassen sich mit dem Determinismus nicht vereinbaren. 4. Dadurch entsteht ein emotionales Problem, welches sich nicht auf rein begriffliche Weise auflösen lässt. 5. Wir müssen uns irgendwie von unseren Erstauslösungsempfindungen befreien, um glücklich werden zu können – aber nicht nur durch theoretische Überlegungen. Wie unschwer festzustellen ist, deckt sich diese Position, soweit es die theoretischen Aussagen über Determinismus und Selbständigkeit betrifft, mit dem Kompatibilismus. Ferner berücksichtigt auch der Kompatibilismus – wie fast alle philosophischen Positionen zur Willensfreiheit – die Intuitionen, also die Empfindungen. Er prüft, welche vorwissenschaftlichen Intuitionen bestehen bleiben können und welche nach der theoretischen Reflexion der Freiheitsfrage aufgegeben werden müssen. Auch hierin liegt eine Verwandtschaft des Kompatibilismus mit Honderichs Theorie. 211 Vgl. Stier, Verantwortung, 156.
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Der einzige größere Unterschied liegt also darin, dass die Kompatibilisten im Allgemeinen die philosophische Aufgabe als gelöst betrachten, wenn die theoretische Reflexion abgeschlossen ist. Honderich hingegen sieht, dass die theoretische Reflexion die Empfindungen kränkt.212 Er geht deswegen über zur Entwicklung einer Lebensphilosophie. Diese besteht in „Gefühlen, die uns eine Stütze sind“.213 Im Vergleich zum Kompatibilismus verzichtet Honderich auf die theoretische Analyse der gängigen Argumente in der Freiheitsdebatte. Es wäre deswegen zu überprüfen, ob seine Zusammenstellung der kompatibilistischen und inkompatibilistischen Thesen unterbestimmt ist, weil er sich lediglich auf die Voraussetzungen der beiden Positionen konzentriert und nicht selbst in die Diskussion etwa des Urheberschaftsprinzips oder des Konsequenzargumentes eingreift. Unser Nachweis, dass Honderich die dritte gemeinsame These von Kompatibilismus und Inkompatibilismus nicht widerlegen konnte, gibt Grund zur Annahme, dass seine Auseinandersetzung mit diesen beiden Positionen in theoretischer Hinsicht noch weitergeführt werden müsste. Als Lebensphilosophie hingegen behandelt Honderichs Theorie auch therapeutische Gesichtspunkte. Er möchte den Menschen helfen, die Reaktion bzw. Empfindung von Bestürzung zu ersetzen durch eine bejahende Haltung. Er schließt sich dabei ausdrücklich den existenzphilosophischen Denkern Epikur und Spinoza an.214 Darin geht er über die theoretischen Ansätze des Kompatibilismus und Inkompatibilismus hinaus. Nun gehören aber die theoretische Philosophie und die existenzielle Philosophie in unterschiedliche Fächer. Auf dem Boden der theoretischen Philosophie bildet Honderichs Theorie daher keine Alternative zum Kompatibilismus. Um dem Gesamtentwurf eine artbildende Differenz zuzuordnen, könnte man vielleicht von therapeutisch gewendetem Kompatibilismus sprechen. Damit beenden wir die Reihe der philosophischen Positionen in der Willensfreiheitsdebatte und stellen einige Beobachtungen zusammen, die für die Entwicklung des in Kapitel vier vorzuschlagenden Modells des illibertaren Indeterminismus relevant sind.
212 Vgl. Freud, Vorlesungen, 294 f. 213 Honderich, Determinismus-Problem, 162. 214 Vgl. aaO. 164 f.
Aufzunehmende Ergebnisse aus der Analyse der philosophischen Positionen
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2.6 Aufzunehmende Ergebnisse aus der Analyse der philosophischen Positionen 2.6.1 Das zugrundeliegende Weltbild Von den hier exemplarisch vorgestellten Philosophen gehen Pauen, Walde und Honderich vom deterministischen Weltbild aus, obwohl sie die Zufälligkeiten der Quantenphysik, und damit ein wichtiges Indiz für ein indeterministisches Weltbild, durchaus zur Kenntnis genommen haben. Dies erscheint erklärungsbedürftig. Pauen betont immer wieder, dass der Zufall keinen konstruktiven Beitrag zu einem sinnvollen Begriff von Willensfreiheit leisten kann. Bei seiner Definition von Urheberschaft schließt er zuerst aus, dass eine freie Handlung durch Zufälle verursacht werde. Für eine nur zufällig verursachte Handlung könne man nicht verantwortlich gemacht werden. Warum diese Forderung, wenn es doch gar keine Zufälle in der deterministischen Welt gibt? Denn trotz seines Wissens von der Existenz von Quantenzufällen hält er ja ihre Auswirkungen auf die menschliche Lebenswelt und auf die biochemischen Vorgänge im menschlichen Gehirn für vernachlässigbar. Darum kann er wie Honderich von einer Quasi-Determiniertheit der Welt für seine Theoriebildung ausgehen.215 Worauf es Pauen über den Ausschluss von handlungswirksamen Zufällen hinaus vor allem ankommt, ist eine weitere Differenzierung von nicht-zufällig verursachten Handlungen. Hier kommt der Unterschied zwischen personalen Präferenzen und nicht-personalen Präferenzen zum Tragen. Pauen unterscheidet also anfangs – zufällig entstandene Handlungen, (die es aber seiner Auffassung nach nicht gibt) – nicht-zufällige Handlungen, die auf nicht-personale Präferenzen zurückzuführen sind und – nicht-zufällige Handlungen, die auf personale Präferenzen zurückzuführen sind.
Nun könnten zufällig entstandene Handlungen überhaupt nur in einer indeterministischen Welt vorkommen, und die beiden anderen Handlungsweisen lassen sich in einer indeterministischen Welt ebenfalls voneinander unterscheiden. Was immer durch Pauens weitere Differenzierung also gewonnen sein mag, lässt sich auch auf der Grundlage eines indeterministischen Weltbildes denken. In einer deterministischen Welt dagegen müsste Pauens erste Differenzierung zwischen zufällig entstandenen und nicht-zufällig entstandenen Handlungen überhaupt nicht vorgenommen werden. Denn im Determinismus steht man nicht vor der Aufgabe, zufällig entstandene Handlungen von anderen Handlungsverursachungen 215 Vgl. o. 27 Anm. 38.
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zu unterscheiden. Diese Aufgabe müsste lediglich in einem indeterministischen Weltbild berücksichtigt werden.216 Walde schließt sich Pauens Argumentation bezüglich des Weltbildes an, der gemäß Zufälle in der Entscheidungsfindung die Zurechenbarkeit der entsprechenden Handlung beeinträchtigen.217 Honderich schließt sich ohne weitergehende Reflexion auf die Möglichkeit von quantenzufälligen Ereignissen dem Determinismus an.218 Keil hingegen lehnt den Determinismus energisch ab, weil seine starke Freiheitsintuition mit dem Determinismus nicht kompatibel sei. Interessanterweise vernachlässigt er den einzigen empirischen Tatbestand, welcher den von ihm gewünschten Indeterminismus begründen könnte. Stattdessen bemüht er die Hume’sche Kritik am Induktionsbeweis und andere erkenntnisskeptische Einwände gegen die Plausibilität des Determinismus. Dabei verkennt er, dass der Determinismus, solange man vom Quantenindeterminismus absehen will, im Vergleich mit dem Indeterminismus immer noch die sehr viel stärker bewährte Hypothese ist, auch wenn sie sich nicht zur absoluten Wahrheit erhärten lässt.219 Im Modell des illibertaren Indeterminismus wird ein indeterministisches Weltbild zugrunde gelegt. Es beruht auf den Zufälligkeiten der Quantentheorie. Damit scheint der illibertare Indeterminismus zunächst in eine gewisse Nähe zu Keils Position zu geraten. Die Bestreitung von Willensfreiheit in diesem Modell distanziert es aber sofort wieder von libertaren Vorstellungen.
2.6.2 Differenzierungen im Freiheitsbegriff Es ist Pauen gut gelungen, die verschiedenen Weisen der Handlungsverursachung zwischen (1) äußerem Zwang, (2) Handlungsfreiheit, (3) momentaner Präferenz, (4) personaler Präferenz (= personale Freiheit) und (5) innerem Zwang begrifflich voneinander abzugrenzen. Wenig zufriedenstellend ist die Tatsache, dass man weder in der Dritten-Person-Perspektive noch auch immer zuverlässig in der Ersten-Person-Perspektive mit Bestimmtheit sagen kann, welche der fünf möglichen Verursachungsweisen bei einer konkreten Handlung vorliegt. Diese Schwierigkeit dürfte sich vor allem bei juristischen Einschätzungen als misslich herausstellen.220 Bei allen Autoren spielt der Alternativismus eine große Rolle. Pauen schwächt das Prinzip dahingehend ab, dass es lautet: Ein Mensch hätte anders handeln kön 216 Vgl. u. 214–217. 217 Vgl. Walde, Willensfreiheit, 36 f. 218 Vgl. o. 67 Anm. 165. 219 Vgl. o. 48–50. 220 Vgl. o. 31–37.
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nen, wenn er anders gewollt hätte. Walde hingegen sieht den Alternativismus dadurch gewahrt, dass wir noch nicht wissen, für welche Handlungsalternative wir uns entscheiden werden. Keil reichen diese schwachen Interpretationen des Alternativismus nicht aus. Sein starker Freiheitsbegriff ergibt sich aus der Fähigkeit des Abwägens (Suspensionsvermögen) und einer starken Lesart des Alternativismus. Wegen der Willensfreiheit habe man die volle Verfügungsfähigkeit über alle faktisch denkbaren Alternativen. Bei Honderich ist der Determinismus so fest verankert, dass er sich über den Alternativismus keine Gedanken mehr macht. Die einzige Freiheitsform, die Honderich zugesteht, ist die der Selbständigkeit (voluntariness).221 Im illibertaren Indeterminismus wird es eine Art von Alternativismus geben, aber keine alternativen Handlungsmöglichkeiten bei der persönlichen Entscheidung, sondern einen Alternativismus in der Außenwelt. Mit Pauen/Roth gesprochen: „Alternative Ereignisverläufe mag es hier geben, aber alternative Handlungsmöglichkeiten sicherlich nicht.“222 Dennoch werden manche Emotionen etwas mehr befriedigt werden können als im klassischen Kompatibilismus.
2.6.3 Die Notwendigkeit einer zweifachen analytischen Perspektive: Einzelne Entscheidungsprozesse und der gesamte Lebenslauf Beim Vergleich der verschiedenen philosophischen Entwürfe haben wir wiederholt bemerkt, dass manche Autoren hauptsächlich den Prozess der Entscheidungsfindung bzw. der Handlungsverursachung im Zusammenhang mit dem jeweiligen Weltbild analysieren. Dies gilt etwa von Pauen, der den Determinismus voraussetzt und aufzeigt, dass man in seinem Rahmen verschiedene Handlungsverursachungen unterscheiden kann, von denen eine besondere mit einiger Plausibilität als personale Freiheit bezeichnet werden kann. Die Intuition wird von ihm so behandelt, dass er ihr diese Freiheit als befriedigend präsentiert und sie darüber aufklärt, dass sie aus rationalen Gründen nicht mehr erwarten kann. Er lässt sich aber nicht auf die Diskussion der Frage ein, ob man wirklich von Freiheit sprechen dürfe, wenn man bei der Gesamtbetrachtung eines menschlichen Lebens zugeben muss, dass sein Verlauf in allen Einzelheiten von personaler Freiheit bestimmt sein könnte und dennoch seit vor der Geburt ebenfalls in allen Einzelheiten schon festgestanden hat. Etwas mehr lässt sich Walde auf die zweite Aufgabe ein, indem sie erkennen lässt, dass sie einen ontologischen Determinismus als Rahmen einer menschlichen Biographie nicht für attraktiv hält. Sie versucht, diesen Determinismus in ein erträglicheres Licht zu stellen, indem sie auf die epistemische Offenheit 221 Honderich, Determinismus-Problem, 130; ders., How free, 89. 222 Pauen/Roth, Freiheit, 50.
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der Zukunft verweist, die trotz ontischer Geschlossenheit festgehalten werden könnte. Das Problem dabei besteht darin, dass eine Person den ontischen Determinismus verdrängen muss, um den Gedanken der epistemischen Offenheit festhalten zu können. Honderich hingegen macht sich Gedanken darüber, wie sich ein Individuum hinsichtlich seiner Lebenshoffnungen und seiner persönlichen Gefühle verhalten müsse, um den Determinismus mit seinem Lebensgefühl versöhnen zu können. Er betrachtet also vorwiegend das Ganze eines zu lebenden Lebens angesichts des deterministischen Weltbildes. Dafür verzichtet er darauf, die einzelnen Entscheidungs- und Handlungsverursachungen zu diskutieren. Möglicherweise hat er sich dadurch die Erkenntnis verstellt, dass er hinsichtlich dieser Theorieelemente im Großen und Ganzen den kompatibilistischen Standpunkt vertritt. Auch Keil setzt mit der zweiten Perspektive ein, indem er, im Gegensatz zu Honderich, den Determinismus als anthropologische Rahmentheorie ablehnt. Sein Hauptanliegen besteht demnach in der Widerlegung des Determinismus, und für die Entscheidungs- und Handlungsverursachung setzt er den Erfolg dieser Widerlegung einfach voraus. Wie Honderich verzichtet er auf eine ausführliche Analyse des Entscheidungsprozesses und verschließt sich dadurch die Einsicht, dass durch die Annahme eines Nicht-Determinismus noch lange keine Willensfreiheit im libertaren Sinne gewährleistet ist. Man sieht also: Erst wenn beide Aufgaben zusammen gelöst sind, die Analyse des Entscheidungsprozesses und die Reflexion auf den Zusammenhang von Lebensführung und Ontologie, ist der Themenkomplex Willensfreiheit in vollem Umfang bearbeitet worden. Das setzt voraus, dass bei beiden Lösungen dieselbe Hintergrundtheorie über die Welt angenommen wird.
2.6.4 Intuition und Rationalität Es wurde in der Einleitung zu diesem Kapitel behauptet, dass die verschiedenen philosophischen Positionen sich auch über das Gegensatzpaar Intuition und Rationalität gut voneinander absetzen lassen. Wenn wir dieses Begriffspaar auf die vier vorgestellten Positionen beziehen, so kommen wir zu diesem Ergebnis: Wenn wir als Vergleichspunkt die Position von Pauen heranziehen, so können wir feststellen, dass er sich große Mühe gibt mit der begrifflichen Differenzierung von verschiedenen Arten der Handlungsverursachung. Er räumt ein, dass die starke Freiheitsintuition, die nach Erstauslösung trachtet, nicht befriedigt werden kann. Er versucht jedoch, im Zuge seiner Differenzierungsarbeit, die mit der Intuition verbundenen Argumente so umzuinterpretieren, dass sie ihr wenigstens anteilmäßig akzeptabel erscheinen. Ob diese Akzeptanz tatsächlich stattfindet, hängt wohl von der Persönlichkeit eines Individuums ab. Auf jeden Fall können wir feststellen, dass Pauen der Intuition nur insoweit entgegenkommt, als sie
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sich rational rechtfertigen lässt. Er mutet also der Intuition die Konsequenzen zu, die sich aus der rationalen Analyse ergeben. Bei seiner Interpretation des Konsequenz-Argumentes haben wir gesehen, dass sich eine starke Spannung ergibt zwischen der Analyse der Entscheidungssituation und den Blick auf eine gesamte Biographie. Hierdurch kann die Intuition frustriert werden. Im Vergleich dazu kommt Walde der Intuition mehr entgegen. Sie konstruiert eine Abfolge von deterministischem Weltbild, epistemisch offener Zukunft und naturalistisch gewordener Willensfreiheit. Die zweifellos größere Befriedigung der Intuition scheint jedoch den Preis zu haben, dass die Schlüssigkeit der Gesamtargumentation beschädigt wird. Im epistemischen Indeterminismus muss eine Person in der Ersten-Person-Perspektive bei der Entscheidungsfindung vergessen, was sie in der Dritten-Person-Perspektive über sich und die Welt weiß. Unter dem hier behandelten Aspekt könnte man Keil als den Philosophen bezeichnen, der der Intuition den größten Raum gewährt, ja ihr sogar voll zu entsprechen versucht. Das einzige, was er zurückweist, ist die Erstverursachung. Allerdings weigert er sich, den von ihm behaupteten Nicht-Determinismus überhaupt zu definieren. Er schiebt vielmehr die Beweislast den Deterministen zu. Angesichts der tatsächlich nicht möglichen absoluten Beweisbarkeit des Determinismus, aber auch seiner viel größeren empirischen Evidenz (so lange man wie Keil die quantenphysikalischen Argumente ausblendet), erscheint seine Position als argumentativ eher schwach begründet. Allerdings hat er den Mut, die in der Ersten-Person-Perspektive vorhandene Intuition von Willensfreiheit als Postulat einer Philosophie anzusetzen. Doch weigert er sich, eine Theorie der Freiheit zu entfalten, welche dieser Intuition Genüge tut. Honderich versucht erst gar nicht, der Intuition von Freiheit mehr oder weniger viele Schritte entgegen zu kommen. Sein Bestreben ist es vielmehr, die Intuition zu verwandeln. Er spricht es klar aus, dass die Intuition von Erstauslösung stets unbefriedigt bleiben werde und dass sich ein Mensch auf die Selbständigkeit (Handlungsfreiheit) zurückziehen müsse. Die damit verbundenen Schmerzen (etwas das Fatalismusproblem) kuriert er damit, dass er andere positive Emotionen an ihre Stelle zu pflanzen versucht: Das Gefühl des Einsseins mit der Natur, die Milde gegenüber eigenen Fehlern und gegenüber Fehlern von anderen Personen. Mit dem Appell an ein Vertrauen in den Determinismus bekommt der Entwurf eine quasireligiöse Dimension. Unabhängig davon erscheint die Theorie in sich konsistent und logisch spannungsfrei. Das Vertrauen in den Determinismus, das er seinen Lesern empfiehlt, kann in einer Person aber wohl auch nur dann entstehen, wenn sie ausblendet, dass der Determinismus nicht unbedingt vertrauenswürdig ist. Der illibertare Indeterminismus wird sich um eine rationale Gedankenentwicklung bemühen. Er zielt darauf ab, sowohl die Erste-Person-Perspektive von Personen und die Dritte-Person-Perspektive auf Personen miteinander in Einklang zu bringen als auch bei der Analyse des Entscheidungsprozesses nicht den
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gesamten Verlauf eines Lebens aus dem Blick zu verlieren. Das Fatalismusproblem muss allerdings umfassender behandelt werden, als dies bei den vorgestellten Positionen der Fall ist. Es wird sich zeigen, dass die indeterministische Zukunftsperspektive das handelnde Subjekt und seine Intuition von vorneherein nicht so stark kränkt wie der Determinismus.
3. Willensfreiheit aus neurobiologischer Perspektive
3.1 Einleitung Die Debatte um die Willensfreiheit wurde im 20. Jahrhundert durch neurobiologische Beiträge mit neuen Argumenten angestoßen.1 Allerdings muss gleich zu Beginn darauf hingewiesen werden, dass es sich im Grunde um zwei verschiedene Fäden im Gewebe des Freiheitsdiskurses handelt, die erst noch miteinander verbunden werden mussten. Wie wir gesehen haben, war die Leitfrage der philosophischen Willensfreiheitsdiskussion, ob die Ontologie des Determinismus oder des Indeterminismus es erlaube, die These von der Willensfreiheit aufrecht zu erhalten. Die neurobiologische Debatte beginnt, naturgemäß, nicht mit ontologischen, sondern mit anthropologischen Größen. Dies lässt sich gut anhand Benjamin Libets Arbeiten aufzeigen, dessen Experimente zur Willensfreiheitfrage dem Diskurs besonderen Schwung verliehen hatten. Libet (1916–2007) arbeitete 1956/57 mit dem britischen Hirnforscher John Eccles zusammen. Dieser war einer der letzten, die den traditionellen anthropologischen Dualismus von Körper und körperunabhängiger Seele naturwissenschaftlich zu begründen suchten. Seit 1979 veröffentlichte Libet seine eigenen Studien.2 In ihnen zeigt sich kein expliziter substanzdualistischer Hintergrund mehr, dafür aber eine andere dualistische Grundstruktur des Menschen. Libet fragt sich, ob bewusste mentale Vorgänge unser Verhalten steuern oder ob unbewusste Gehirnvorgänge unsere Handlungen bestimmen. Mit Pauens Terminologie ausgedrückt:3 Libet möchte wissen, ob Geist und Körper des Menschen im Verhältnis des Eigenschaftsdualismus zueinander stehen, so dass also das Bewusstsein ein bloßes Epiphänomen wäre, das nicht in der materiellen Welt kausal wirksam werden kann. In diesem Falle wäre der Mensch nach Libet nicht willensfrei. Stünde Bewusstsein und Gehirn dagegen im Verhältnis des interaktionistischen Dualismus oder der Identitätstheorie, wäre Willensfreiheit möglich (wenn auch nicht alleine dadurch schon gegeben). 1 Vgl. etwa Wuketits, Franz M., Der freie Wille, 127–136. Eine kurze Einführung in die neurobiologische Arbeitsweise findet sich bei Draguhn, Einführung. Vgl. zur Übersicht auch Markowitsch, Gene. 2 Libets frühe Arbeiten sind nachgewiesen bei Libet, Haben wir, 288 f. Seine Ergebnisse werden beschrieben in seinem Buch Mind time, 165–193. Vgl. auch Herrmann/Dürschmid, Von Libet. 3 Vgl. o. 59 f.
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Wir haben schon bei Walde gesehen, dass sie ihren Entwurf zur Willensfreiheitsfrage in einen Zusammenhang mit der Bewusstseinsfrage brachte. Ihre Begründung dafür war, dass ihre aus der klassischen philosophischen Diskussion entwickelte Position den neurobiologischen Einwänden standhalten können sollte.4 Daran zeigt sich deutlich, dass in der Neurobiologie die Frage der Willensfreiheit unter einer Perspektive verhandelt wird, die in der Philosophie ein ganz anderes Arbeitsgebiet darstellt, nämlich die theory of mind bzw. die Philosophie des Geistes.5 Weil Libet an der Existenz von Willensfreiheit festhalten wollte, versuchte er in einer starken Spannung gegen seine eigenen Befunde, dem bewussten Willen wenigstens ein Vetorecht gegen die unbewusste Initiierung von Handlungen einzuräumen. Wird die Willensfreiheitsfrage auf dieser Ebene lokalisiert, gerät vollständig aus dem Blick, dass sich das Freiheitsproblem auch dann stellt, wenn eine Handlung alleine durch bewusste Willensakte ausgelöst wird. Das Neue an den Experimenten Libets und seiner Nachfolger besteht darin, dass die Neurobiologie in den unbewussten Schichten des Gehirns freiheitseinschränkende Strukturen identifizieren kann, die in der abstrakteren philosophischen Diskussion vorher nicht berücksichtigt worden waren. Dafür stellte sich aus philosophischer Perspektive schon länger die Frage, ob man denn von der Freiheit des Willens sprechen könne, wenn er von Gründen bestimmt werde, die sich das Subjekt zu einem bestimmten Zeitpunkt angeeignet hatte – auch wenn der Aneignungs- und die daran anschließenden Reflexionsprozesse ausschließlich bewusst von statten gingen.6 Die damit zusammenhängenden Fragen werden in diesem Kapitel ausführlich behandelt. Dazu skizzieren wir zunächst wichtige Experimente, Ergebnisse und Methoden der neurobiologischen Forschung zur Willensfreiheitsfrage (3.2). Anschließend wird das aktuelle anthropologische Modell von Gerhard Roth ausführlich dargestellt (3.3). Neben den Arbeiten von Wolf Singer, Antonio Damasio, John-Dylan Haynes und anderen zeitgenössischen Autoren hat Roths Modell den Vorteil, dass es sich um eine breit entfaltete Anthropologie handelt, die schon ihrerseits den Anschluss an philosophische Fragestellungen sucht. Das Modell des illibertaren Indeterminismus möchte die Synthese von Neurobiologie und Philosophie, die von Roth auf der Grundlage des Determinismus vollzogen wurde, auf der alternativen Ontologie des Indeterminismus rekonstruieren. 4 Vgl. o. 60. 5 Auf den Zusammenhang der beiden Themengebiete Willensfreiheit und Philosophie des Geistes verweist auch Quante, Philosophische Freiheiten, 24–34. Aber nicht jede Darstellung der Philosophie des Geistes beschäftigt sich mit der Frage der Willensfreiheit. Vgl. Beckermann, Analytische Einführung; Pauen/Schütte/Staudacher, Begriff. 6 Vgl. dazu Draguhn, Willensfreiheit, 105: „Die Erkenntnis, dass ein starkes Konzept von Willensfreiheit dem Kausalitätsprinzip widerspreche, ist in der Philosophie seit mehreren hundert Jahren bekannt und etabliert […]. Neu scheint lediglich, dass wir beginnen, die kausalen Determinanten unseres Handelns präziser zu sehen.“
Methoden und Einsichten der Neurobiologie im Überblick
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3.2 Methoden und Einsichten der Neurobiologie im Überblick Wir beginnen diesen Überblick mit dem schon erwähnten Benjamin Libet (*1916). Er untersuchte, in welchem zeitlichen Verhältnis die bewusste Willensentscheidung zu unbewussten Hirnvorgängen steht, welche durch frühere Forschungen identifiziert worden waren. Es handelt sich dabei um das so genannte symmetrische Bereitschaftspotential, einem negativen elektrischen Potenzial, das im supplementär-motorischen Areal der beiden Hirnhälften gemessen werden kann und das auf eine damals noch nicht näher bekannte Weise mit willkürlichen Bewegungsvorgängen verknüpft ist. Um sein Ziel zu erreichen, führte Libet dieses Experiment aus: Versuchspersonen wurden dazu aufgefordert, zu einem bestimmten Zeitpunkt ihre Hand zu heben. Diesen Zeitpunkt sollten sie frei wählen. Dabei wurde durch eine Elektrode am Schädel der Probanden das elektrische Bereitschaftspotential abgeleitet. Gleichzeitig zeichnete Libet von der Handmuskulatur der Versuchspersonen ein Elektromyogramm auf, das den Zeitpunkt der Handbewegung protokollierte. Schließlich hatten die Versuchspersonen noch die Aufgabe, sich anhand einer Oszilloskop-Uhr den Zeitpunkt zu merken, an dem sie ihren Entschluss zur Handbewegung gefällt hatten.7 Libets Ergebnis war, dass das Bereitschaftspotential schon bis zu 550 ms vor der Bewegung auftrat, der Zeitpunkt der Entscheidung aber nur ca. 200 ms vorher. Mit anderen Worten: Das unbewusste Bereitschaftspotential ging der bewussten Entscheidung voraus.8 Obwohl dieser Befund gegen die Möglichkeit einer bewussten Bewegungsauslösung sprach, entwickelte Libet die Hypothese von der Vetomöglichkeit des bewussten Willens. Um diese Hypothese zu begründen, konnte er jedoch keine experimentellen Daten mehr vorlegen, sondern sich lediglich auf subjektive Eindrücke einzelner Probanden beziehen.9 Die von Libet benutzten Methoden der Messung von Hirnströmen (EEG: Elektroenzephalogramm), von Muskelkontraktionen (EMG: Elektromyogramm) und von Zeitpunkten durch eine Uhr sind relativ altertümlich im Vergleich mit den bildgebenden Verfahren, die in der Folgezeit entwickelt wurden. Doch schon mit diesen Methoden konnten Libets Experimente verfeinert werden. Patrick Haggard und Martin Eimer (*1959) maßen bei ihren Versuchsteilnehmern nicht nur das symmetrische Bereitschaftspotential, sondern auch das laterale, welches nur an der Körperseite auftritt, an der die Handbewegung ausgeführt wird. Die beiden Experimentatoren nahmen auch die philosophische Kritik an
7 Vgl. Libet, Haben wir, 270 f., 274. 8 Vgl. aaO. 275 f. 9 Vgl. aaO. 277 f.
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Libet10 auf, die dahingehend lautete, dass Libet überhaupt nicht den Zeitpunkt der Entscheidung gemessen habe, sondern lediglich den Zeitpunkt ihrer Umsetzung. Bei Haggard/Eimer mussten die Probanden nicht nur entscheiden, wann sie die Hand heben, sondern auch, welche der beiden Hände sie benutzen wollen. Hier zeigte sich nun, dass auch das asymmetrische Bereitschaftspotential der bewussten Entscheidung für die rechte oder linke Hand vorausging.11 Dennoch wurde auch nach Haggard/Eimer bezweifelt, dass die libet-artigen Experimente wirklich beweisen, dass der bewusste Wille lediglich eine sekundäre Folgeerscheinung unbewusster neuronaler Vorgänge sei und damit nicht der eigentliche Auslöser von Handlungen. Denn schon bei Libet ging durchaus nicht bei allen Testteilnehmern das elektrische Bereitschaftspotential der bewussten Entscheidung voraus, sondern lediglich bei der Mehrzahl von ihnen. Das oben dargestellte zeitliche Verhältnis von Bereitschaftspotential, bewusster Entscheidung und Handlungsausführung ergab sich lediglich durch die Überlagerung der Daten aller Teilnehmer. Diese methodische Unsicherheit wurde von Judy Arnel Trevena und Jeff Miller ausführlicher analysiert. Sie kamen zu dem Schluss, dass das zeitliche Vorher des Bereitschaftspotentials vor der bewussten Entscheidung nicht als gesicherte Erkenntnis betrachtet werden dürfe.12 Inzwischen hat sich die Situation jedoch noch einmal erheblich gewandelt. Mit verbesserten experimentellen Methoden und differenzierterer Versuchsanordnung konnte der deutsch-britische Hirnforscher John-Dylan Haynes (*1971) nachweisen, dass sogar eine deutlich größere Zeitspanne, nämlich von sieben bis acht Sekunden, zwischen unbewusst einleitenden Hirnpotentialen und bewussten Entscheidungen liegt. Er benutzte bei seinen Experimenten die neueren bildgebenden Verfahren13 und stellte den Probanden folgende Aufgabe: Sie sollten entscheiden, ob sie zwei Zahlen, die ihnen nach einer gewissen Zeit am Bildschirm gezeigt würden, addieren oder subtrahieren wollen. Nach der Präsentation der Zahlen sollten sie die gewählte Rechenart dann durchführen. Haynes konnte in 60 Prozent aller Fälle anhand der Hirnaktivitäten voraussehen, welche Rechenart gewählt würde, noch bevor die Versuchsperson sich selbst bewusst für Addition oder Subtraktion entschieden hatte. Der Wert von 60 Prozent liegt zwar 10 Vgl. etwa Pauen, Illusion, 200–202; Helmrich, Wir können; Mayer, Ach, das Gehirn, 205–209; Rösler, Verraten, 161. 11 Vgl. Haggard/Eimer, Relation. 12 Vgl. Trevena/Miller, Cortical Movement. 13 Die Positronenemissionstomographie (PET), die funktionelle Magnetresonanztomographie (fMRT) und die Magnetenzephalographie (MEG) erlauben es, die Aktivität relativ kleinräumiger Hirnregionen bzw. neuronaler Zellverbände zu visualisieren, und übertreffen in ihrer Auflösung das klassische EEG (Elektroenzephalogramm) bei weitem. Allerdings hinken die neueren Verfahren zeitlich gesehen den abgebildeten Vorgängen hinterher, während das EEG die Hirnströme fast in Echtzeit wiedergibt. Die verschiedenen Verfahren werden daher miteinander kombiniert. Vgl. Elger u. a., Manifest, 77 f.
Methoden und Einsichten der Neurobiologie im Überblick
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nur 10 Prozent über der erwarteten Zufallswahrscheinlichkeit, ist aber dennoch signifikant.14 Der portugiesische, in den USA lehrende Antonio Damasio (*1944) hat ebenfalls wichtige Beiträge zur Hirnforschung erarbeitet, die mit der Frage nach der Möglichkeit von Willensfreiheit in Zusammenhang gebracht werden können. Seine Einsichten, zuerst veröffentlicht in den Jahren 1983–198915, entstammen Untersuchungen von Menschen mit bestimmten Hirnverletzungen und der Analyse von historischen Krankenakten entsprechender Personen (etwa des 1823 geborenen und 1861 gestorbenen Phineas Gage). Auf Damasio geht die Theorie der somatischen Marker zurück.16 Sie besagt, dass wir unsere Entscheidungen nicht nur durch die Abwägung rationaler Gründe treffen, sondern dass dabei auch emotionale Bewertungen der verschiedenen Handlungsoptionen wesentlich mitbeteiligt sind. Grundlage der emotionalen Bewertungen von Personen, Gegenständen oder Situationen sind die Erfahrungen, die wir schon einmal oder mehrmals mit ihnen gemacht haben. Im Gehirn, speziell in der Amygdala, sind Erinnerungen gespeichert, die fest mit bestimmten positiven oder negativen Emotionen gepaart sind. Diese neuronalen Paarverbindungen sind die somatischen Marker, die in das Bewusstsein gelangen, sobald über eine Handlung entschieden werden soll, die mit früheren Erfahrungen vergleichbar ist.17 Damasios Hauptstoßrichtung in philosophischer Hinsicht ist die Zurückdrängung des abendländischen Rationalismus, der durch Platon, Descartes und Kant charakterisiert ist. In seinem Buch mit dem Titel Descartes’ Irrtum möchte Damasio darlegen, daß die Vernunft möglicherweise nicht so rein ist, wie die meisten Menschen denken oder wünschen, daß Gefühle und Empfindungen [engl.: emotions, feelings] vielleicht keine Eindringlinge im Reich der Vernunft sind, sondern, zu unserem Nach- und Vorteil, in ihre Netze verflochten sein könnten.18
Wie man sieht, beschäftigt sich Damasio mit dem Gegensatzpaar Gefühl und Vernunft19, während Libet und seine Nachfolger sich auf das Verhältnis von Bewusstsein und Unbewusstem konzentrierten. Diese Gegensatzpaare sind nicht geradezu identisch, stehen aber in einem starken Zusammenhang, wie wir bei Roth noch stärker ausgearbeitet finden werden (3.3.4.1). Wolf Singer (*1943) leitete seit 1981 die Abteilung für Neurophysiologie am Max-Planck-Institut für Hirnforschung in Frankfurt am Main. Außer für die dortigen Forschungen mit einem Schwerpunkt zur visuellen Wahrnehmung und ih 14 Vgl. Soon/He/Bode/Haynes, Predicting. 15 Diese Arbeiten sind bibliographiert bei Damasio, Descartes’ Irrtum, 358 f. 16 Zu Damasio vgl. etwa Mayer, Ach, das Gehirn, 213–215; Seidel, Das ethische Gehirn, 72–76. 17 Vgl. Damasio, Descartes’ Irrtum, 243–251. 18 AaO. 12. 19 Vgl. dazu auch Damasio, Ich fühle.
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rer weiteren neuronalen Verarbeitung, ist Singer bekannt für seine profilierten Äußerungen in deutschen Leitmedien zur Frage der Willensfreiheit. Aufgrund des naturwissenschaftlichen Determinismus der Hirnvorgänge plädiert er dafür, den Gebrauch des Begriffes Willensfreiheit aufzugeben. Seine Position entspricht also philosophisch betrachtet dem harten Determinismus.20 Sein Aufsatz mit dem sprechenden Titel Verschaltungen legen uns fest: Wir sollten aufhören, von Freiheit zu sprechen ist einer der längsten Texte, der seine anthropologische Gesamtanschauung enthält. Singer verweist auf die gängige Vorstellung, daß Motive, die wir ins Bewußtsein heben und einer bewußten Deliberation unterziehen können, dem freien Willen unterworfen sind, während Motive, die nicht bewußtseinsfähig sind, offenbar nicht dem freien Willen unterliegen.
Diese Vorstellung sei aber falsch, weil sowohl die bewusst werdenden als auch die unbewusst bleibenden Hirnvorgänge an naturwissenschaftliche Gesetze gebunden seien, die deterministisch ablaufen. Daher solle man auf die Rede von Freiheit verzichten.21 Singer verbindet die neurobiologische Wahrnehmungstheorie auch eng mit einer konstruktivistischen Erkenntnistheorie, die er jedoch nicht eigens präzisiert.22 Wenn wir die im Philosophiekapitel erarbeiteten Ergebnisse in einen ersten Zusammenhang mit der neurobiologischen Forschung bringen, soweit sie in diesem Abschnitt skizziert wurde, können wir feststellen: Erstens, sowohl die Philosophie als auch die Hirnforschung sprechen vom Menschen als einem in seiner Welt handelnden Subjekt. Die Handlungen, um die 20 Bei der Vorbereitung von Handlungen „begleitet uns das Gefühl, daß wir es sind, die diese Prozesse kontrollieren. Dies aber ist mit den deterministischen Gesetzen, die in der dinglichen Welt herrschen, nicht kompatibel.“ (Singer, Verschaltungen, 36). Zahlreiche Interviews, Gespräche, Feuilletonartikel und andere Texte sind zusammengestellt bei Singer, Beobachter; ders. Ein neues Menschenbild? 21 Singer, Verschaltungen, 51 f. Der Kompatibilist Beckermann kommt zu einem anderen Urteil: „Manche Philosophinnen und Philosophen scheinen zu glauben, dass ich nur dann frei sein kann, wenn ich bei genau denselben Gründen anders hätte entscheiden können. Doch das scheint mir nicht weniger fragwürdig. Welches Interesse sollte ich an einer solchen Form von Freiheit haben? Woran mir liegt, ist, dass meine Wünsche und meine Überlegungen einen Einfluss auf meine Entscheidungen haben, dass das geschieht, was ich will, und dass ich nicht durch andere manipuliert werde. Aber ich habe kein Interesse daran, meine eigenen Wünsche und Überlegungen zu manipulieren […] alles, woran mir liegt, ist also durchaus damit vereinbar, dass die Wünsche, die ich habe, und die Überlegungen, die ich anstelle, vollständig biologisch determiniert sind.“ Beckermann, Schließt, 30. 22 Vgl. Singer, Verschaltungen, 31 f., 46–49. Es handelt sich aber insofern um keinen radikalen Konstruktivismus, insoweit sich Singer auch auf die evolutionäre Erkenntnistheorie stützt. Vgl. auch Singer, Neurobiologische Anmerkungen zum Konstruktivismus-Diskurs, in ders., Beobachter, 87–111. Zum neurobiologischen Konstruktivismus vgl. auch Roth, Gehirn, 314–363. Einen Überblick über die neurobiologischen Forschungen an seinem Institut gibt Singer in seinem Text 50 Jahre Hirnforschung in der Max-Planck-Gesellschaft (abgedruckt bei Singer, Beobachter, 9–34). Zur Kritik an Singer vgl. Buchheim, Wer kann; Geyer, Hirn.
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es in beiden Wissenschaften jeweils geht, unterscheiden sich kategorial nicht so sehr. Diskutiert werden Alltagsverrichtungen, aber auch Lebensplanungen. Zweitens: Der Mensch kommt in beiden Wissenschaften jedoch in spezifischer Weise in den Blick. Die philosophischen Kategorien sind die der Tradition: Denken, Handeln, Wollen, Gründe, Kausalität usw. In der Perspektive der Neurobiologie ist der Mensch vorwiegend ein materielles Wesen. Sie untersucht physiologische Vorgänge, die mit den philosophischen Begriffen korrelieren, ohne identisch mit ihnen zu sein. Sie möchte den philosophischen Begriffen einen konkreten Ort im anatomischen Gewebe zuordnen und die Entstehung der Gedanken in ein zeitliches Verhältnis zueinander und zu den verschiedenen Schichten des Gehirns bringen. Was die Neurobiologie an konkreten Kenntnissen über den Menschen als biologischen Organismus erarbeitet, steht also im Verhältnis zum philosophischen Menschenbild. Wie schon in der philosophischen Anthropologie der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts (Scheler, Plessner, Gehlen) sichtbar wurde, kann eine philosophische Rede vom Menschen nicht mehr von den Einsichten in seine biologische Natur absehen. Im Gegenzug gewinnen die abstrakteren Begriffe eine neue Tiefenschärfe, wenn sie nicht womöglich auch einmal vollständig aufgegeben werden müssen. Die beiden fachwissenschaftlichen Linien der Anthropologie hat Gerhard Roth, auf den wir im nächsten Abschnitt zu sprechen kommen, zu integrieren versucht. Drittens, beide Wissenschaften beziehen sich auf ein allgemeines Weltbild, nämlich den Determinismus. Dabei kann es auch sein, dass ein Autor sich im Modus des Widerspruchs auf den Determinismus bezieht, bei den Philosophen zum Beispiel der hier behandelte Keil. In der Neurobiologie wird heute der naturgesetzliche Determinismus fast überall akzeptiert, und wenn ausnahmsweise doch nicht, dann wird der Indeterminismus nicht mehr zur Begründung von Willensfreiheit angesetzt wie es früher beispielsweise bei John Eccles der Fall war.
3.3 Gerhard Roths neurobiologische Anthropologie und ihr Bezug zur Willensfreiheitsdebatte 3.3.1 Einleitung Gerhard Roth (*1942) promovierte in Philosophie23 und Zoologie24. 1976 wurde er Professor für Verhaltensphysiologie an der Universität Bremen, wo er von 1989–2008 das von ihm gegründete Institut für Hirnforschung leitete. 23 Vgl. Roth, Gramscis Philosophie. 24 Vgl. Roth, Experimentelle Untersuchungen zum Beutefang von Hydromantes italicus Dunn (Amphibia, Plethodontidae), Münster 1974. (Nicht veröffentlicht).
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Neben den rein naturwissenschaftlichen Arbeiten veröffentlichte Roth auch mehrere Bücher, welche die neurobiologischen Erkenntnisse philosophisch fruchtbar machen sollten. Zu nennen ist hier an erster Stelle: Das Gehirn und seine Wirklichkeit. Kognitive Neurobiologie und ihre philosophischen Konsequenzen (1994/19976). In diesem Band geht es vorwiegend um Erkenntnistheorie, und Roth entwickelt in ihm einen gegen die evolutionäre Erkenntnistheorie gerichteten neurobiologischen Konstruktivismus.25 Die vorliegende Untersuchung basiert auf Roths Arbeiten, in denen er die Neurobiologie mit dem Thema Willensfreiheit vermittelt. 2001 veröffentlichte er das Werk Fühlen, Denken, Handeln. Wie das Gehirn unser Verhalten steuert. Schon 2003 erschien eine neue, vollständig überarbeitete Ausgabe. Hier ist das vorletzte Kapitel dem Thema Willensfreiheit, Determinismus und Autonomie gewidmet. Im lediglich noch zusammenfassenden und ausblickenden Schlusskapitel stellt Roth die Frage nach einem neuen Menschenbild. In diesem Buch möchte er dem Menschen zwar eine Form von Autonomie zusprechen, die aber nicht mit der Willensfreiheit identifiziert werden dürfe.26 Wie wir noch sehen werden, sympathisiert Roth hier mit dem Determinismus und vertritt den philosophischen Standpunkt des Inkompatibilismus. Den Kompatibilismus weist er explizit zurück.27 2003 erschien Roths Buch Aus Sicht des Gehirns. Darin geht es ihm jetzt zentral um die in dem früheren Buch gegen Ende angestoßene Diskussion um eine grundlegende Änderung des Bildes, das der Mensch von sich selbst entworfen hat, nämlich des Bildes von einem Wesen, das sich aufgrund von Geist, Bewusstsein, Vernunft, Moral und freiem Willen weit über alle anderen Lebewesen erhebt. Diese Diskussion versetzt viele Menschen in große Unruhe. Abhilfe können hier nur sachliche Information und nüchterne Interpretation schaffen.28
Dieser Band enthält außer einem Kapitel zur Willensfreiheit, das sich inhaltlich nicht von seiner Monographie Fühlen, Denken, Handeln unterscheidet, auch noch eines zu religiösen Themen (Kapitel 11: Über die letzten Dinge) und eines zur Erkenntnistheorie.
25 Vgl. Roth, Gehirn6, 339–362. Zur Kritik dieses Standpunktes vgl. Dettmann, Widersprüche, 58, 61, 63, 74–85. In Roth, Gehirn6, gibt es einen Abschnitt mit der Überschrift: Ist der Wille frei? (aaO. 303–311). Dieser Abschnitt lautete in der ersten Auflage noch: Ist der Geist autonom? (Roth, Gehirn1, 262.265). Hier geht es noch vorwiegend um die Kritik am interaktionistischen Substanzdualismus von Eccles. 26 Vgl. Roth, Fühlen, 535. AaO. 564: „Wir können nicht aus eigener Kraft unsere Persönlichkeitsstruktur ändern, wir können uns aber diejenigen gesellschaftlichen Verhältnisse suchen, die am besten zu dieser Struktur passen. Hierin besteht die Autonomie des Menschen.“ 27 Vgl. aaO. 533–535 und u. 3.3.5.1. 28 Roth, Aus Sicht1, 7.
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Die zweite Auflage von Aus Sicht des Gehirns (2009) zeigt einen philosophisch gewandelten Roth. Er hat jetzt den kompatibilistischen Standpunkt übernommen und entsprechend das ganze Buch vollständig überarbeitet. Als Grund für diese Wandlung gibt er die Zusammenarbeit mit Michael Pauen an.29 Die Zusammenarbeit von Pauen und Roth ist schon in einem gemeinsam herausgegebenen Band über Neurowissenschaften und Philosophie30 dokumentiert (2001). Noch wichtiger aber ist das von ihnen gemeinsam verfasste Buch über Freiheit, Schuld und Verantwortung (2008). Hier wird von den beiden Autoren die Theorie Pauens von der personalen Freiheit mit Roths neurobiologisch fundierter Anthropologie verbunden. Ein Jahr vor dem gemeinsam autorisierten Buch hatte Roth noch seine Monographie mit dem Titel Persönlichkeit, Entscheidung und Verhalten. Warum es so schwierig ist, sich und andere zu ändern (2007) veröffentlicht. Hier stellt er ebenfalls seine neurobiologische Persönlichkeitstheorie vor und führt sie auf die Bereiche von Lern-, Motivations-, und Kommunikationspsychologie hin aus. Das Schlusskapitel lautet hier Persönlichkeit und Freiheit. Von 2011 stammt das Buch Bildung braucht Persönlichkeit. Wie Lernen gelingt. Hier ist Roths neurobiologisches Menschenbild ausführlich auf die Lernpsychologie angewendet worden. Wie schon dieser kurze Überblick zeigt, hat Roth die aktuelle neurobiologische Forschung in einen umfassenden anthropologischen Zusammenhang gestellt. Weil das hier vorgelegte Modell des illibertaren Indeterminismus (Kapitel 4) nicht nur eine Aussage über die Grundstruktur der Welt und der menschlichen Freiheit enthält, sondern auch eine Theorie der Lebensführung skizziert, werden in diesem Kapitel nicht lediglich Roths Aussagen über die menschliche Freiheit herauspräpariert. Vielmehr soll hier seine naturwissenschaftlich begründete Persönlichkeits- und Handlungstheorie relativ ausführlich dargestellt werden, um mit ihr im folgenden Kapitel in einen Dialog treten zu können. Es könnte sein, dass Roths Werk für die philosophische Anthropologie und die sich darauf stützenden anderen Wissenschaften einmal eine ähnliche Rolle einnehmen wird wie einst die Entwürfe von Helmuth Plessner und Arnold Gehlen. Die Darstellung von Roths Theorie gliedert sich in vier Hauptabschnitte. Dabei verlagert sich der Schwerpunkt immer stärker von der Biologie auf die Philosophie hin. Wir beginnen mit Roths anatomisch verankerter Theorie der Persönlichkeitsentwicklung (3.3.2) und schreiten dann fort zu seinem Modell der neuronalen Handlungs- und Entscheidungssteuerung (3.3.3), welches mit der Persönlichkeitstheorie in einem engen Zusammenhang steht. Im dritten Hauptabschnitt soll gezeigt werden, wie die traditionellen anthropologischen Grund 29 Vgl. Roth, Aus Sicht2, 7; vgl. u. 150 f. In der ersten Auflage von Aus Sicht des Gehirns ist Roth noch kein Kompatibilist, vgl. Roth, Aus Sicht1, 166–181. 30 Vgl. Pauen/Roth, Neurowissenschaften.
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begriffe, z. B. Verstand, Vernunft, Gefühl, Bewusstsein, Subjekt etc., in Roths Theorie modifiziert und profiliert werden (3.3.4). Schließlich wenden wir uns seinen sich wandelnden Beiträgen zur Frage der Willensfreiheit zu (3.3.5).
3.3.2 Das Gehirn und die Persönlichkeitsentwicklung als Grundlage von Roths Freiheitsverständnis In den folgenden Abschnitten kann nicht direkt von den neurobiologischen Befunden aus eine Brücke geschlagen werden zu den philosophischen Aspekten der Freiheitsfrage, wie der Leser dies aus der Darstellung der Libetschen Experimente vielleicht erwarten könnte. Wir müssen stattdessen Roths vorwiegend induktiven Weg nachzeichnen, der von den neurobiologischen Ergebnissen aus zunächst eine Theorie der individuellen Persönlichkeit entwirft und daraus ein Modell der persönlichen Entscheidungs- und Handlungssteuerung entwickelt. Erst auf der Grundlage dieses konkreten Entscheidungsmodells kommt er dazu, die traditionellen anthropologischen Grundbegriffe der Philosophie neurobiologisch zu rekonstruieren. Am Ende dieses Weges nimmt Roth Stellung zur Freiheitsfrage. Die Verankerung der Freiheitsthematik in einem neurobiologischen Modell des Menschen hat Roth selbst so beschrieben: In den bisherigen Kapiteln dieses Buches habe ich dargestellt, in welcher Weise Entscheidungen von den überwiegend unbewussten Anteilen der Persönlichkeit gesteuert werden und dass es diese unbewussten Anteile sind, die eine Veränderung des Verhaltens nur in engen Grenzen zulassen und Selbsterkenntnis und Selbstveränderung fast unmöglich machen. Das Goethe-Wort ‚Werde, der du bist!‘ erhält durch die neuen Erkenntnisse der Hirnforschung, Psychologie und Psychotherapieforschung über die frühe Verfestigung der Grundzüge unserer Persönlichkeit eine ganz neue Bedeutung […] In diesem Zusammenhang stellt sich fast zwangsläufig die Frage, wie frei wir in unseren Entscheidungen und unserem Handeln überhaupt sind. Gibt es so etwas wie Willensfreiheit, oder sind wir durch Gene, frühkindliche Prägung und spätere Sozialisation vollkommen determiniert?31
Aus diesem Zitat wird deutlich, dass Roth einerseits wie Libet, und andere unter dessen Nachfolgern, die Freiheitsfrage anhand des Gegensatzes von bewussten und unbewussten Hirnvorgängen thematisiert. Darüber hinaus bleibt er aber nicht stehen bei einzelnen momentanen Vorgängen, die im Experiment direkt untersucht werden können, sondern bezieht auch andere Faktoren mit ein, die eine Persönlichkeit in ihrer Entwicklung bestimmen und festlegen. Auch die Auswirkungen von Genom, frühkindlicher Prägung, späterer Sozialisation und Welterfahrung überhaupt auf die Persönlichkeit sind neurobiologisch vermittelt. Die Frage nach der Vereinbarkeit von Willensfreiheit und Determinismus stellt sich 31 Roth, Persönlichkeit, 314.
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für Roth also in einer spezifisch anderen Weise als für die in Kapitel 2 dargestellten Philosophen. Während diese einen ontologischen Determinismus im Blick haben, geht Roth von einem neurobiologischen Determinismus aus. Im Folgenden werden wir uns also ausführlich mit der individuellen Persönlichkeitsentwicklung und deren prägenden Faktoren beschäftigen.
3.3.2.1 Anlage oder Umwelt? Die vier Hauptfaktoren der Persönlichkeitsprägung Die Frage, ob die Persönlichkeit eines Menschen eher genetisch oder durch die Umwelt geprägt wird, hält Roth für nicht eindeutig beantwortbar. Denn die enge Wechselwirkung von Genen und Umweltbedingungen erschwere eine saubere methodische Trennung dieser beiden Faktoren, so dass man kaum zu endgültigen Aussagen gelangen könne. Roth geht davon aus, dass die Persönlichkeit des Menschen im Wesentlichen durch vier Hauptfaktoren geprägt werde. Bevor wir diese Hauptfaktoren im Einzelnen betrachten und in diesem Zusammenhang auch der Frage nachgehen, wie Roth zu seiner Anschauung von Anlage und Umwelt kommt, klären wir zunächst, was Roth unter dem Begriff „Persönlichkeit“ versteht: Menschen zeigen in dem, was sie tun, ein zeitlich überdauerndes Grundmuster, und dies nennen wir eben ihre Persönlichkeit. Diese ist eine Kombination von Merkmalen des Temperaments, des Gefühlslebens, des Intellekts und der Art zu handeln, zu kommunizieren und sich zu bewegen, und Personen unterscheiden sich gewöhnlich untereinander in der Art dieser Kombination. Zur Persönlichkeit gehören insbesondere die stabilen Handlungsdipositionen oder Gewohnheiten, d. h. die Art und Weise, wie sich eine Person normalerweise verhält.32
Unter den persönlichkeitsprägenden Hauptfaktoren sind an erster Stelle die genetischen Prädispositionen zu nennen. Die Variabilität der einzelnen Gene und Genkomponenten sei so groß, dass sich alle Individuen durch unterschiedliche Kombinationen voneinander unterscheiden. Durch epigenetische Prozesse werde die Vielfältigkeit der Individuen, die schon auf der genetischen Ebene bestehe, noch weiter gesteigert.33 32 Pauen/Roth, Freiheit, 99. Nach Roth sind Persönlichkeitsveränderungen im Erwachsenenalter nur durch starke emotionale Zustände möglich (vgl. Roth, Persönlichkeit, Entscheidung und Verhalten, 306 f.). Auch wenn man die Möglichkeit von Persönlichkeitsänderungen großzügiger einschätzt, bleibt Roths Definition brauchbar, wenn man den Terminus „zeitlich überdauerndes Grundmuster“ nicht versteht als „ein das gesamte Leben überdauerndes Grundmuster“. 33 Während die Gene bestimmen, welche Eiweiße als Grundbausteine des Organismus gebildet werden können, bestimmen die so genannten epigenetischen Prozesse, wann, wo und wie viele der genetisch vorgesehenen Eiweiße tatsächlich synthetisiert werden. Die epigenetischen
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Die individuelle Entwicklung des Gehirns ist der zweite Hauptfaktor der Persönlichkeitsprägung. Dies betreffe vor allem diejenigen Hirnareale, die für die psychische Verfassung ausschlaggebend seien. Darüber hinaus zählt Roth zur Hirnentwicklung noch die Stärke der Ausbildung derjenigen Faserbahnen, die einerseits zwischen den einzelnen limbischen Zentren untereinander bestehen, andererseits aber auch zwischen den limbischen und den kognitiven Zentren. Die Entwicklung dieser Faserverbindungen werde sowohl durch Gene als auch durch individuelle Erfahrungen beeinflusst. Die ersten beiden Hauptfaktoren werden von Roth besonders schwer gewichtet. Er geht davon aus, dass sie 50 Prozent unserer Persönlichkeit ausmachen. Sie repräsentieren die „angeborenen“34 Merkmale des Psychischen wie das Tempera ment eines Menschen, seine besonderen Begabungen und den Intelligenzgrad. Als dritten Hauptfaktor betrachtet Roth die vorgeburtlichen und frühen nachgeburtlichen affektiv-emotionalen Erlebnisse. Diesen Faktor veranschaulicht er durch folgende Beispiele: Es gibt inzwischen sehr gute Belege dafür, daß vorgeburtliche Erlebnisse direkt oder über den Körper und das Gehirn der Mutter einen Einfluß auf das limbische System des Ungeborenen ausüben, insbesondere was Streßzustände betrifft, z. B. im Zusammenhang mit Alkohol-, Nikotin- und Drogenmißbrauch der Mutter, schwerer körperlicher Mißhandlung oder schweren psychischen Belastungen. Von besondere Bedeutung sind die Bindungserfahrungen zwischen Säugling bzw. Kleinkind und Mutter (oder einer anderen Bezugsperson) und die ersten Erfahrungen mit dem sonstigen engeren sozialen Umfeld (Vater, Geschwister, Großeltern usw.). Hier kommt es zum einen darauf an, daß der Säugling bestimmte ‚Basiskompetenzen‘ besitzt, die ihn in die Lage versetzen, auf die Mutter so einzuwirken, daß sie dasjenige Verhalten zeigt, das für die weitere psychische Entwicklung des Säuglings unabdingbar ist. Zum anderen muß die Mutter ihrerseits über die Kompetenzen zu diesem Verhalten verfügen. Dies ist oft nicht der Fall, sofern die Mutter selbst über keine genügende Bindungserfahrung verfügt. Trifft das eine oder andere (oder gar beides) nicht zu, dann kann dies in der weiteren Entwicklung zu schweren Persönlichkeitsstörungen führen […].35
Prozesse sind diejenigen, die zwischen dem Ablesen der genetischen Information in der DNA und der Herstellung der Eiweiße stattfinden müssen. Sie hängen nicht nur von der DNA selbst ab, sondern werden auch von Bedingungen beeinflusst wie dem Umweltklima oder dem physischen und psychischen Gesundheitszustand. Vgl. Pauen/Roth, Freiheit, Schuld und Verantwortung, 100; Roth, Persönlichkeit, Entscheidung und Verhalten, 103. 34 An dieser Stelle sollte beachtet werden, dass Roth den Begriff „angeboren“ nicht rein genetisch bedingt versteht, sondern als „bei der Geburt bereits vorhanden“. Er geht davon aus, dass Umwelteinflüsse bereits vorgeburtlich wirksam werden. Vgl. Roth, Persönlichkeit, 19. 35 Pauen/Roth, Freiheit, 101 f. Dies ist sinngemäß derselbe Text, mit dem Roth in seinem früheren Werk Aus Sicht des Gehirns den Begriff der emotionalen Konditionierung im Mutterleib erklärt hatte. Vgl. u. 104 f.
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Ein Säugling stehe vor der Herausforderung, die Spannung zwischen Unabhängigkeit und Nähe aufzulösen. Gelinge dies nicht, könne es zu Fehlentwicklungen kommen, die entweder in Narzissmus oder in einer Verkümmerung des Ichs münden.36 Während Narzissmus in Form einer starken Ich-Bezogenheit zum Ausdruck komme, zeichne sich die Ich-Verkümmerung durch große Hilflosigkeit und durch Abhängigkeit von anderen Personen aus. Den Einfluss dieser frühkindlichen affektiv-emotionalen Erlebnisse schätzt Roth auf 30 Prozent.37 Die ersten drei Hauptfaktoren bilden nach Roth die unbewussten Anteile unserer Persönlichkeit.38 Der vierte Hauptfaktor besteht schließlich in der Sozialisation im weiteren Sinne, die im späten Kindesalter und in der Jugend einsetze. Hier spiele vor allem die Ausrichtung an sozialen Wert- und Normvorstellungen die entscheidende Rolle. Der vierte Faktor, der etwa 20 Prozent unserer Persönlichkeit ausmache, repräsentiere den bewussten Anteil unserer Persönlichkeit, der sich aber stets im Rahmen der Vorgaben durch die ersten drei Faktoren entwickle. Zusammengefasst ergebe die Persönlichkeitsprägung durch die vier Haupt faktoren folgendes Bild: Im strengen Sinne genetisch determiniert scheint die Persönlichkeit zu 40 bis 50 Prozent zu sein; ca. 30 bis 40 Prozent gehen auf das Konto von Prägungs- und Erlebnisprozessen im Alter zwischen 0 und 5 Jahren. Nur etwa 20 bis 30 Prozent scheint die Persönlichkeitsstruktur durch spätere Erlebnisse und durch elterliche und schulische Erziehung beeinflusst zu werden. Allgemein scheint zu gelten, dass eine Person in ihrer Persönlichkeit eher „ausreift“, als dass sie sich aufgrund von Umwelterfahrungen in ihrem Kern ändert, und dass sie sich eher die Umwelt sucht (bzw. einrichtet), die zu ihr emotional passt, als dass sie sich an eine Umwelt anpasst.39
Roth betont, dass es bei dem komplexen Phänomen „Persönlichkeit“ nicht ausreiche, eine reine Merkmalszusammensetzung zu beschreiben, sondern dass dabei beachtet werden müsse, „dass alle diese Merkmale – wenngleich in ganz unterschiedlicher Weise – von den Einflüssen der Gene, der Gehirnentwicklung, der frühen Bindungserfahrung und der frühen Sozialisation geformt werden“40. Die Persönlichkeit hat also nicht nur ein bestimmtes Profil, sondern dieses ist auch noch durch eine Geschichte bedingt. Auf der Grundlage der vier Hauptfaktoren der Persönlichkeitsprägung kann Roth die eingangs gestellte Frage nach dem Verhältnis von Anlage und Umwelt nunmehr so beantworten: 36 Vgl. Pauen/Roth, Freiheit, 102. 37 Vgl. Roth, Persönlichkeit, 104. 38 Vgl. Pauen/Roth, Freiheit, 102. 39 Roth, Fühlen, 411. 40 Roth, Persönlichkeit, 105.
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Das hier vorgestellte Modell beendet endgültig die alte Kontroverse zwischen ‚Anlage‘ und ‚Umwelt‘ ebenso wie diejenige zwischen ‚Individualität‘ und ‚Sozialität‘ des Menschen. Unsere Persönlichkeit ergibt sich aus einer Wechselwirkung der vier genannten Faktoren. Diese Faktoren durchdringen sich gegenseitig und sind, wenn überhaupt, nur mit einem erheblichen methodischen Aufwand voneinander zu trennen. Ihre Wechselwirkung ist allerdings auf den einzelnen Ebenen höchst individuell: Wir sind genetisch, entwicklungsmäßig, in unserer frühkindlichen Prägung und Sozialisierung einmalig.41
3.3.2.2 Das neurobiologische Vier-Ebenen-Modell der Persönlichkeit Nachdem Roth die Frage nach dem Verhältnis von Anlage und Umwelt bei der Persönlichkeitsentwicklung beleuchtet hat, wendet er sich der anatomischen Verortung der Persönlichkeitseigenschaften im Gehirn zu. In diesem Kontext entwickelt er ein neurobiologisches Modell der Persönlichkeit, mit dem er zeigen möchte, dass die Persönlichkeit eines Menschen eine „multi-zentrale“ Leistung des Gehirns sei. Roth geht dabei in den späteren Büchern von vier funktionellen Ebenen aus, die jeweils zu unterschiedlichen Zeitpunkten im menschlichen Entwicklungsprozess entstehen. Die Funktionen dieser vier Ebenen charakterisiert er anhand der drei Dimensionen unbewusst/bewusst, emotional/rational und egoistisch/sozial. Eine der wichtigsten Erkenntnisse dieses Ansatzes sei, dass wichtige Anteile der individuellen Persönlichkeit bereits in früher Kindheit und damit unbewusst ausreifen, so dass ein wesentlicher Teil der Persönlichkeit der Selbsterkenntnis stets verschlossen bleibe.42 Wie Roth nun die unterschiedlichen Ebenen charakterisiert und deren Wechselverhältnis untereinander beschreibt, wollen wir im Folgenden genauer betrachten. Als erste funktionelle Ebene beschreibt Roth die vegetativ-affektive Ebene, die sich bereits ab der siebten Schwangerschaftswoche entwickelt. Anatomisch ordnet Roth diese Ebene der limbischen Grundachse des Gehirns43 zu. Die „vegetativ-affektive-Ebene“ gewährleiste wichtige Funktionen, die der Organismus zum Leben benötige. Hierzu zähle die „Kontrolle des Stoffwechsels, des Kreislauf-, Temperatur-, Verdauungs- und Hormonsystems, die Regelung von Nahrungsund Flüssigkeitsaufnahme sowie die Steuerung des Schlaf-Wach-Rhythmus und der damit verbundenen Bewusstseinszustände“. Darüber hinaus sei die vegetativaffektive Ebene für „spontan affektive Verhaltensweisen und Empfindungen zuständig wie das Angriffs- und Verteidigungsverhalten, Dominanz- und Paarungs 41 Ebd. 42 Vgl. aaO. 90. 43 Die limbische Grundachse besteht aus dem „Hypothalamus einschließlich der präoptischen Region und der Hirnanhangsdrüse (Hypophyse), der zentralen Amygdala, Teilen des basalen Vorderhirns (bzw. der septalen Region), dem zentralen Höhlengrau und den vegetativen Zentren des Hirnstamms“. AaO. 90.
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verhalten, Flucht und Erstarren sowie Aggressivität und Wut“. Außer für die lebensermöglichenden Funktionen sei diese Ebene aber auch für das grundlegende Temperament eines Menschen und dessen Triebstruktur verantwortlich.44 Die zweite Ebene bezeichnet Roth als Ebene der emotionalen Konditionierung. Sie entwickle sich bereits vorgeburtlich und bestehe aus weiteren Anteilen des limbischen Systems. Roth ordnet dieser Ebene das mesolimbische System zu sowie Teile der Amygdala. Bei der Amygdala handelt es sich um ein „funktional sehr heterogenes Gebilde“, das sich aus verschiedenen Teilbereichen zusammensetzt. Der Zentralkern der Amygdala ist der ersten Ebene zugeordnet. Auf der zweiten limbischen Ebene siedelt Roth drei weitere Teilbereiche der Amygdala an: den corticalen, den medialen und den basolateralen Kernbereich. Auf der Ebene der emotionalen Konditionierung gehe es, im Gegensatz zur unteren Ebene, nicht mehr primär um die „Sicherung der biologischen Existenz“ durch angeborene Affekte, sondern um einen Bereich, in dem individuell emotionales Lernen stattfinde. Der Begriff emotionale Konditionierung wird von Roth in diffuser Weise verwendet. Bevor wir auf diesen komplexeren Sachverhalt genauer eingehen, betrachten wir zunächst die neuronalen Zentren der zweiten Ebene, die letztendlich das emotionale Konditionieren realisieren. Hier spielen vor allem die verschiedenen Teilbereiche der Amygdala und das mesolimbische System die entscheidende Rolle: Die basolaterale Amygdala ist der Ort der erfahrungsgeleiteten, d. h. auf Konditionierung beruhenden Verknüpfung emotionaler, überwiegend negativer oder überraschender, aber auch positiver Ereignisse mit den angeborenen Grundgefühlen der Furcht, Angst, Abwehr und Überraschung. Hierzu gehört auch das Erkennen der Bedeutung von emotional-kommunikativen Signalen wie Mimik, Gestik, Sprach intonation und Körperhaltung. Die mediale und corticale Amygdala verarbeitet Geruchs- und Geschmackspräferenzen sowie soziale Geruchssignale, Pheromone genannt, die bei den individuellen Sympathien und Antipathien eine wichtige Rolle spielen. Diese Präferenzen sind teils genetisch bestimmt, teils erfahrungs- bzw. prägungsbedingt.45
Das mesolimbische System betrachtet Roth als „Interaktionspartner“ bzw. als „gleichzeitigen Gegenspieler“ der Amygdala. Es dominiert bei der Registrierung und Verarbeitung natürlicher Belohnungsereignisse (‚das ist gut gelaufen‘ bzw. ‚das hat Spaß gemacht‘) und stellt über die Ausschüttung hirneigener lusterzeugender Stoffe (der sogenannten Opioide) das zerebrale Belohnungssystem dar. Dies bedeutet, dass alles, was Befriedigung, Lust und Freude in uns erzeugt, in direkter oder indirekter Weise an die Ausschüttung bestimmter Stoffe im Gehirn gebunden ist. Zum anderen ist das mesolimbische System das grund
44 Vgl. aaO. 90–92. 45 Roth, Bildung, 44. Hervorhebungen durch mich.
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legende Motivationssystem, das über die Ausschüttung des Neuromodulators Dopamin Belohnungen ‚in Aussicht stellt‘ und damit unser Verhalten motiviert […].46
Bei der emotionalen Konditionierung sei vor allem die basolaterale Amygdala wichtig, denn: Sie ist der Ort der emotionalen Konditionierung; die basolaterale Amygdala erhält Erregungen aus dem visuellen, somatosensorischen und auditorischen System und gleichzeitig Eingänge von denjenigen Systemen, die ‚gut‘ und ‚schlecht‘ melden, d. h. vom mesolimbischen System, vom Hypothalamus und von den Systemen, die mit Schmerzwahrnehmung zu tun haben (Zentrales Höhlengrau, insulärer Cortex).47
Die Konditionierung werde schließlich durch eine „synaptische Paarung“ stabili siert: Diese Konditionierung stellt man sich so vor, dass die neuronale Repräsentation des Erlebnisses oder des Objekts und eines bestimmten emotionalen Zustands (Furcht, Freude bzw. Lust) über spezielle synaptische Kontakte so eng miteinander verbunden werden, dass sie regelmäßig zusammen auftreten. Manchmal, wenn ein Objekt oder ein Ereignis mit einem sehr starken emotionalen Erleben verbunden ist, kann eine feste ‚Assoziation‘ von Reiz und Emotion sofort erfolgen, aber in aller Regel bedarf es mehrerer solcher Erfahrungen, bis diese synaptische Paarung stabil wird. Diese Stabilität kann so groß werden, dass spätere gegenteilige Erfahrungen daran gar nichts oder nur über sehr lange Zeit hinweg etwas korrigieren.48
Wie oben bereits angesprochen, gebraucht Roth den Begriff der emotionalen Konditionierung in unterschiedlicher Weise. Zum einen spricht er von einer emotionalen Konditionierung, die bereits im Mutterleib stattfinde. Wie diese Form der Konditionierung funktioniert, beschreibt er so: Es besteht kein Zweifel daran, dass das ungeborene Kind direkt oder über neuro chemische Signale die emotionalen Reaktionen der Mutter miterlebt und hierdurch beeinflusst wird. Wie stark – das ist unklar, aber es sollte uns nicht wundern, dass neben Rauchen, Alkohol und Drogenmissbrauch der Mutter auch starker psychischer Stress während der Schwangerschaft einen sehr negativen Einfluss auf das ungeborene Kind hat.49
Dass die Mutter mit ihrem Verhalten das ungeborene Kind beeinflussen kann, klingt plausibel. Allerdings wird an dieser Stelle nicht deutlich, worin die Kondi 46 AaO. 44 f. 47 Roth, Aus Sicht, 157. 48 Roth, Persönlichkeit, 145 f. 49 Roth, Aus Sicht, 159. Dies ist die ausführlichste Passage zur vorgeburtlichen emotionalen Konditionierung. Aussagen, dass bereits im Mutterleib konditioniert werde ohne genauere Beschreibung dieses Phänomens finden sich auch in Fühlen, Denken, Handeln, 373 und in Persönlichkeit, Entscheidung und Verhalten, 146.
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tionierung besteht. Denn der Begriff Konditionierung fordert, im Gegensatz zu einer bloßen Beeinflussung der kindlichen Entwicklung, die Verbindung eines emotionalen Zustandes mit einem Objekt. Was dieses Objekt im Mutterleib sein könnte, bleibt an dieser Stelle aber offen. Zum anderen betrachtet Roth den Begriff der emotionalen Konditionierung als die erfahrungsbedingte Kopplung von „Gefühlen im engeren Sinne“ (angeborene Grundgefühle wie „Furcht, Freude, Glück, Verachtung, Ekel, Neugierde, Hoffnung, Enttäuschung und Erwartung“) mit bestimmten Objekten oder Erlebnissen.50 Diese Betrachtungsweise weist noch einmal ein mehrschichtiges Verständnis auf: Erstens betont Roth, dass es Konditionierungen gebe, die vollkommen ohne Bewusstsein vollzogen werden. Eine Erklärung hierfür könnte folgende Textstelle liefern, in der Roth verdeutlicht, dass bereits in einer Zeit emotional konditioniert werde, in der das erinnerungsfähige Bewusstsein noch gar nicht entwickelt sei: Viele dieser emotionalen Konditionierungen passieren also in der Weise, die uns nicht ganz oder erst nachträglich bewusst ist. Zum Teil finden sie in einer Zeit statt, in der wir noch gar kein oder kein erinnerungsfähiges Bewusstsein haben, nämlich im Mutterleib oder in den ersten Tagen, Wochen und Monaten nach unserer Geburt. Während unser deklaratives, zu bewusster Erinnerung fähiges Gedächtnis (Cortex und Hippocampus) noch gar nicht ausgebildet ist, lernt unser limbisches, emotionales Gedächtnis aufgrund der Aktivität der Amygdala und des mesolimbischen Systems bereits, was in unserer Umgebung und an eigenen Handlungen gut oder schlecht, lustvoll oder schmerzhaft, angenehm oder unangenehm ist.51
Zu der unbewussten Konditionierung in den ersten Monaten rechnet Roth vor allem die frühkindlichen Bindungserfahrungen. Die später ausgebildeten Bezie hungsmuster seien stark von diesen emotionalen Konditionierungen abhängig.52 Zweitens geht Roth davon aus, dass bei den emotionalen Konditionierungen auch das Bewusstsein beteiligt sein könne. Denn bei der emotionalen Konditionierung handle es sich nicht um eine einmalige Entwicklungsphase in der frühen Kindheit, sondern um einen fortlaufenden Prozess innerhalb der Lebensspanne. Wenn sich also das Bewusstsein zu entwickeln beginne, können der Person die emotionalen Begleitzustände der Konditionierung durchaus bewusst sein.53 Roth schildert hierzu folgendes Beispiel: Nehmen wir ein Beispiel, das wir alle kennen, nämlich eine Prüfungssituation. Eine Prüfung in der Schule, der Universität, beim Führerscheinerwerb oder in der Berufsausbildung ist von ihrem bloßen Ablauf her erst einmal ein neutrales Geschehen. 50 Vgl. Roth, Aus Sicht, 156. 51 Roth, Persönlichkeit, 146 f. 52 Vgl. Roth, Bildung, 45. 53 Vgl. Roth, Aus Sicht, 158.
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Klappt alles ganz prima, dann fühlen wir uns als Prüfling sehr gut, und dies hängt mit dem Ausstoß von endogenen Opiaten im Gehirn zusammen. Bei einem schlechten Verlauf werden andere Stoffe ausgeschüttet, und wir sind enttäuscht, niedergeschlagen, verbittert, wütend usw. Diese Verknüpfung von an sich neutralen Geschehnissen und positiven oder negativen emotionalen Zuständen, die sich in der basolateralen Amygdala vollzieht, ist offenbar sehr stabil, und zwar umso mehr, je stärker die mit der Prüfungserfahrung verbundenen positiven oder negativen Gefühlen waren. Einen großartigen Erfolg, bei dem alle uns umjubelten, und eine schmachvolle Niederlage, oft verbunden mit der Schadenfreude der anderen, werden wir nur noch schwer vergessen.54
Dieses Beispiel scheint auf den ersten Blick einleuchtend: Die zunächst neutrale Prüfungssituation wird mit den Emotionen verbunden, die der Prüfling während des Prüfungsverlaufes durchlebt hat, so dass die Prüfungssituation zu einer emotional besetzten Situation wird. Auf den zweiten Blick wirft dieses Beispiel allerdings weitere Fragen auf. Denn in welchem Zusammenhang sind hier die frühkindlichen, unbewussten emotionalen Konditionierungen einzuordnen? Gibt es in dem Alter, in dem eine Person Prüfungen ablegt, überhaupt noch so etwas wie „neutrale“ Ereignisse? Oder legt das Temperament eines Menschen, das sich bereits vorgeburtlich entwickle (unterste limbische Ebene) zusammen mit den unbewussten frühkindlichen Erfahrungen schon fest, wie die späteren Konditionierungen ausfallen werden? Diese Annahme lässt sich durch eine frühere Verwendung des Prüfungsbeispiels durch Roth begründen: Ein konstitutionell oder aufgrund frühkindlicher Konditionierung ängstlicher Mensch kann sich nur wenig damit beruhigen, dass er sich sagt, von der anstehenden Prüfung hänge ‚eigentlich‘ gar nichts ab; angstfrei wird er durch diese Erkenntnis bestimmt nicht. Auch ein erfolgreicher Verlauf von Prüfungen wird ihn entweder überhaupt nicht oder nur ganz langsam von seiner Prüfungsangst befreien.55
Roth selbst geht es zwar an dieser Stelle vor allem darum, die Wirksamkeit von topdown Mechanismen bei der Verhaltenssteuerung einzuschränken. Darüber hinaus zeigt sich aber auch sehr schön, dass Menschen schon mit Vorprägungen in ihrem Verhalten, zum Beispiel in eine Prüfungssituation hineingehen. Diese ist also nicht „neutral“. Zusätzlich erschwert wird die Interpretation dieses Beispiels noch durch die Tatsache, dass Roth in seinen früheren Werken das Prüfungsbeispiel sowohl für die emotionale Konditionierung im engeren Sinne als auch für die bewusste so genannte Kontextkonditionierung verwendet. Dabei gelingt es ihm nicht, die Aspekte der beiden Konditionierungsarten präzise gegeneinander abzugrenzen.56 54 Ebd. 55 Roth, Fühlen, 375. 56 Für die Kontextkonditionierung, die durch die obere limbische Ebene gewährleistet wird, führt Roth sein Prüfungsbeispiel dahingehend weiter aus, dass er einzelne Details der Prüfung
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Der Begriff Kontextkonditionierung ist in den späteren Werken nicht mehr zu finden. Insgesamt betrachtet Roth die erste und die zweite Ebene als die „unbewusste Grundlage unserer Persönlichkeit und des Selbst“. Unter dem Begriff des Selbst versteht er „die Grundweisen der Interaktion“ einer Person mit sich selbst und mit ihrer „unmittelbaren, persönlichen Umwelt“. Roth charakterisiert diese zwei Ebenen als das Kleinkind in uns, das stets die egoistisch-egozentrische Perspektive einnehme.57 Die dritte Persönlichkeitsebene, die obere limbische Ebene, umfasst die lim bischen Areale der Großhirnrinde. Diese Cortexareale der oberen limbischen Ebene bestehen aus dem orbitofrontalen, dem ventromedialen, dem anterioren cingulären und dem insulären Cortex. Der limbische Cortex zählt zu den stammesgeschichtlich älteren Teilen der Großhirnrinde und steht durch afferente und efferente Faserbahnen mit den subcorticalen limbischen Zentren in Verbindung. Diese Faserverbindungen ermöglichen einerseits, dass Informationen aus der Amygdala und dem mesolimbischen System bewusst werden können. Die efferenten Faserverbindungen gewährleisten dagegen eine hemmende bzw. zügelnde Funktion gegenüber diesen Antrieben. Im Gegensatz zu den ersten beiden Ebenen, die ja auf lebenserhaltende und egoistische Funktionen ausgerichtet seien, stelle die obere limbische Ebene eine Art soziale Instanz dar: Es geht bei den Funktionen des limbischen Cortex generell um soziales Lernen, Sozialverhalten, Einschätzung der Konsequenzen des eigenen Verhaltens, ethische Überlegungen (orbitofrontaler und ventromedialer Cortex), um Aufmerksamkeitssteuerung, divergentes Denken, Risikoabschätzung, Belohnungserwartung (anteriorer cingulärer Cortex), um affektive Schmerz- und Verlustbewertung (insulärer Cortex) und allgemein um das bewusste Gefühlsleben. Die limbischen Cortexareale, besonders die rechtshemisphärischen, sind auch der Ort der emotionalen Gesichtserkennung […] und in diesem Zusammenhang die Grundlage von Empathie.58
Im Unterschied zu den ersten beiden Ebenen entwickle sich die obere limbische Ebene meist sehr spät. Dies betreffe vor allem die ventromedialen und orbitofrontalen Cortices, da deren Entwicklung sich von der Kindheit bis ins Erwachsenenalter hineinziehe. Die obere limbische Ebene stelle die Grundlage unserer „bewussten individuellen“ und „sozial vermittelten ‚Ich-Existenz‘“59 dar. Roth siedelt hervorhebt: Die Kontextkonditionierung sei somit dafür verantwortlich, dass wir uns nach der Prüfung auch noch genau an einzelne Details erinnern könnten, wie beispielsweise das Prüfungszimmer aussah oder wann die Prüfungszeit war. Vgl. Roth, Aus Sicht, 158 f. Dass eine Prüfung an sich bereits auch schon einen Kontext darstellt, in dem uns entweder „alle umjubelten“ oder mit „Schadenfreude“ belächelten, problematisiert Roth nicht weiter. 57 Vgl. Roth, Persönlichkeit, 92 f. 58 AaO. 93. 59 Ebd.
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auf dieser Ebene auch den Bereich an, in dem Erziehung wirksam werden könne. Dies liege vornehmlich daran, dass wir auf dieser Ebene lernten, uns den Bedingungen der natürlichen und gesellschaftlichen Umwelt anzupassen. Wir lernen, dass kurzfristige Belohnungen nicht immer auch langfristig positiv sind, dass Anstrengungen, Opfer und Durststrecken sich manchmal auszahlen, dass Kompromisse geschlossen und Rangfolgen von Handlungszielen erarbeitet werden müssen.60
Den drei limbischen Ebenen der Persönlichkeit steht die kognitiv-kommunikative Ebene gegenüber.61 Diese Ebene durchlaufe eine Entwicklung, die in den späten vorgeburtlichen Phasen beginne und sich durch das Jugendalter hindurch bis ins Erwachsenenalter ziehe. Sie entwickle sich parallel zu der obersten limbischen Ebene und sei durch den Sitz des Arbeitsgedächtnisses, des Verstandes, der Intelligenz62 und der Sprachzentren63 gekennzeichnet. Diese Ebene ermögliche uns Fähigkeiten wie Problemlösungsfindung und zweckrationale Handlungsplanung. Außerdem sei die kognitiv-kommunikative Ebene der Ort, an dem die Darstellung und Rechtfertigung des bewussten Ichs vor sich selbst und vor anderen stattfinde. Laut Roth ist die kognitiv-kommunikative Ebene allerdings diejenige, die am weitesten von der Persönlichkeit und der Handlungssteuerung entfernt ist, denn „Reden ist etwas anderes als Fühlen und Handeln“.64
3.3.2.3 Persönlichkeit und Neuromodulatoren Das Vier-Ebenen-Modell beschreibt die Persönlichkeit eines Menschen aus hirnatomischer und funktioneller Perspektive (welche Funktionen sind an welcher Stelle im Gehirn lokalisiert?). Damit stellt es das „Grundgerüst“ der Persönlichkeit dar, das allen Menschen gemein ist. Mit der Berücksichtigung der neuromodulatorischen Systeme kann Roth hingegen erklären, wie die zahlreichen individuellen Unterschiede einer Persönlichkeit auf der neuronale Stoffwechselebene zustande kommen. Neuromodulatoren sind diejenigen chemischen Substanzen, die für die Er regungsübertragung von einer Nervenzelle auf die andere zuständig sind (Neurotransmitter). Sie wirken als Signalbrücke im synaptischen Spalt, dem flüssigkeits 60 AaO. 94. 61 Sie besteht aus den assoziativen Arealen des Neocortex. Vgl. aaO. 94. 62 Arbeitsgedächtnis, Verstand und Intelligenz sind im präfrontalen Cortex realisiert. Vgl. aaO. 94. 63 Die Sprachzentren liegen im Wernicke-Areal und im Broca-Areal. Im Wernicke-Areal sind einfache Wortbedeutungen und Satzstrukturen gespeichert. Das Broca-Areal ist „für alle Wort- und Satzbedeutungen (Syntax) [zuständig], die sich aus Grammatik und Satzstellung ergeben“. AaO. 94. 64 AaO. 95.
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gefüllten Bereich zwischen den einzelnen Nervenzellen.65 Im Einzelnen legen die Neuromodulatoren fest, (1) wie die beteiligten limbischen und kognitiven Zentren arbeiten, (2) in welcher Weise (z. B. erregend oder hemmend) sie miteinander wechselwirken, und (3) in welchem Maße die Aktivität der Zentren und die Art ihrer Wechselwirkung genetisch oder durch die Umwelt – oder beides – bestimmt werden.66
Die Neuromodulatoren als „psychisch wirksame Signalträger im Gehirn“ formen unseren individuellen psychischen und mentalen Grundzustand. Ist eine der Wechselwirkungen zwischen den Neuromodulatoren in ihrer Funktion eingeschränkt oder liegt ein Mangel an einem neuromodulatorischen Stoff vor, verursache dies leicht eine psychische oder mentale Störung.67 Roth geht von sechs „neurobiologisch-psychischen Grundsystemen“ aus, „die durch ein spezifisches Zusammenwirken neuromodulatorischer Substanzen in bestimmten limbischen und kognitiven Hirnzentren charakterisiert sind“. Hierbei handelt es sich um das Stressverarbeitungssystem (1), die Selbstberuhigung (2), das Selbstbewertungs- und Motivationssystem (3), die Impulskontrolle (4), das Bindungs- und Empathiesystem (5) sowie um den Realitätssinn und die Risikowahrnehmung (6). Die Systeme 1–3 bilden die Grundlage für die weiteren Systeme (4–6) und sind durch einen „egozentrischen Kern“ gekennzeichnet. Die Systeme 4–6 stellen eine Art „sozial vermittelten Mantel“ dar, der sich um den egozentrischen Kern legt.68 An dieser Stelle gilt es zu beachten, dass Roth hier unter dem Begriff egozentrisch nicht in erster Linie ein moralisch deviantes Verhalten versteht, sondern vielmehr die biologische Grundsicherung der Existenz im Blick hat, also die Selbsterhaltung. Die ersten drei Systeme stellen damit die Bedingungen bereit, die ein Organismus benötigt, um lebensfähig zu sein. Die sozial mantelnden Grund-
65 Vgl. u. 185 Abb. 16. 66 Roth, Bildung, 49. 67 Vgl. aaO. 49 f. Detaillierter kann die Wirkung der Neuromodulatoren so beschrieben werden: »[…] [Es] hat sich herausgestellt, dass die drei genannten neuromodulatorischen Systeme, d. h. das dopaminerge, serotonerge und noradrenerge und in begrenztem Maße auch das cholinerge System sowie die mit der Stressverarbeitung zusammenhängenden Substanzen […] bereits in sich viel komplexer sind als bisher angenommen und z. T. aufgrund unterschiedlich wirkender ‚Andockstellen‘ (Rezeptoren) unterschiedliche und sogar gegenteilige Wirkungen haben. Zum zweiten ist wichtig, ob diese Substanzen pulsartig (‚phasisch‘) oder längerfristig (‚tonisch‘) wirken. Drittens haben die limbischen Zentren des Gehirns als ‚Zielorgane‘ dieser Substanzen teilweise ganz unterschiedliche Wirkung; so ist die Amygdala, anders als früher angenommen, auch an der Registrierung positiver Ereignisse beteiligt, und der Nucleus accumbens reagiert auch auf negative Ereignisse. Viertens schließlich wechselwirken die genannten Stoffe in verstärkender oder hemmender Weise miteinander.“ (AaO. 50). 68 Vgl. aaO. 55.
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systeme (4–6) liefern hingegen die Voraussetzungen, die den Menschen zu einem gruppenfähigen Wesen werden lassen. Wie diese psychischen Grundsysteme im Einzelnen funktionieren und wie sie sich auf die Persönlichkeit eines Menschen auswirken, wird in den nächsten Abschnitten beschrieben. 3.3.2.3.1 Stressverarbeitung Das Stressverarbeitungssystem dient dem Organismus dazu, körperliche und psychische Herausforderungen bewältigen zu können. Seine Entwicklung setzt bereits in den ersten Wochen der Schwangerschaft ein. Voll ausgereift ist es jedoch erst am Ende des ersten Lebensjahres. Das Stressverarbeitungssystem reagiert entlang der „Stressachse“ (der „Hypothalamus-Hypophysen-Nebennierenrinden-Achse“) auf bedrohlich wirkende Situationen in zwei Schritten.69 Bei der ersten, schnellen Reaktion werden die beiden Neuromodulatoren Adrenalin (in der Nebennierenrinde) und Noradrenalin (im Hirnstamm) gebildet. Diese beiden Neuromodulatoren bewirken eine Erhöhung des Muskeltonus und damit der Leistungsfähigkeit des Körpers. Die zweite Reaktion erfolgt langsamer. Hier bewirken das Adrenalin und das Noradrenalin in den Zellen des Hypothalamus die Freisetzung des Polypeptids CRF (Corticotropin Realising Factor). Das CRF wandert dann zur Hypophyse und verursacht dort die Ausschüttung von ACTH (Adrenocorticotropes Hormon), welches über die Blutbahn zur Nebennierenrinde gelangt. Dort löst es die Bildung von Cortisol aus, welches nun wieder über die Blutbahn in den Körper und das Gehirn gelangt. Das Cortisol löst eine zweifache Wirkung sowohl im Gehirn als auch in anderen Körperorganen aus. Im Körper bewirkt es erstens eine Erhöhung des Glucoseund Fettsäurespiegels, was den Stoffwechsel stimuliert und somit die körperliche Leistungsfähigkeit steigert. Zweitens unterdrückt Cortisol das Immunsystem und wirkt damit entzündungshemmend. In zu hohen Dosen kann es somit zu einer Schwächung des Immunsystems führen. Im Gehirn aktiviert Cortisol entweder die Mineralocorticoid-Rezeptoren oder die Glucocorticoid-Rezeptoren, je nachdem, wie stark der Stress ist. Liegt eine geringe Stresssituation und eine niedrige Dosis von Cortisol vor, aktiviert es die Mineralocorticoid-Rezeptoren. Starker Stress führt dagegen zu einer Aktivierung der Glucocorticoid-Rezeptoren, was eine erhöhte Aktivität derjenigen Hirnzentren mit sich bringt, die für das richtige Verhalten in einer Gefahrensituation zu sorgen haben. Roth nennt hier als Beispiel „Flucht, Abwehr, Kampf oder komplexe Maßnahmen“. Daneben kann Cortisol über die Glucocorticoid-Rezeptoren auch eine hemmende Funktion auf die
69 Vgl. aaO. 50 f.
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Grafik zum Stressverarbeitungssystem_Abb. 1_S. 111.pdf 1 05.12.2017 15:50:09
Die zwei Reaktionen entlang der Stressachse und deren negative Rückkopplung:
Stresssituation
1. Schnelle Reaktion: Die Neuromodulatoren Noradrenalin (Hirnstamm) und Adrenalin (Nebenniere) werden aktiviert. Dies bewirkt eine sofortige Reaktionsbereitschaft in einer Gefahrensituation. Adrenalin und Noradrenalin lösen die zweite, langsamere Stressreaktion aus.
2. Langsame Reaktion: Adrenalin und Noradrenalin bewirken die Freisetzung von CRF in den Zellen des Hypothalamus.
CRF wandert zur Hypophyse und bewirkt dort die Freisetzung von ACTH.
ACTH gelangt über die Blutbahn zur Nebennierenrinde und regt dort die Bildung von Cortisol an.
Das Cortisol gelangt über die Blutbahn in den Körper und in das Gehirn, wo es jeweils unterschiedliche Wirkungen auslöst:
Wirkungen des Cortisols im Körper:
Wirkungen des Cortisols im Gehirn:
1.) Erhöhung des Glucose- und Fettsäurespiegels im Blut. Dies führt zu einer Mobilisierung des Stoffwechsels und erhöht damit die körperliche Leistungsbereitschaft.
1.) Aktivierung der MineralocorticoidRezeptoren (bei geringem Stress und niedrigen Dosen Cortisol).
2.) Unterdrückung des Immunsystems. Dies hat eine entzündungshemmende Wirkung. In hohen Dosen führt Cortisol zu einer Schwächung des Immunsystems.
Negative Rückkopplung: Die Aktivierung der GlucocorticoidRezeptoren löst eine hemmende Wirkung auf die Bildung von CRF und ACTH aus. Die Hemmung von CRF und ACTH hemmt wiederum die Bildung von Cortisol.
2.) Aktivierung der GlucocorticoidRezeptoren (bei starkem Stress). Dies führt zu einer Erhöhung der Aktivität derjenigen Hirnzentren, die für das angemessene Verhalten in einer Gefahrensituation zu sorgen haben.
Abb. 1: Überblick über das Stressverarbeitungssystem
Bildung von ACTH und CRF ausüben, welche über den Hippocampus und den orbitofrontalen Cortex läuft.70 70 Diese negative Rückkopplung beschreibt Roth folgendermaßen: „Es liegt hier also eine negative Rückkopplung zwischen Cortisol einerseits und CRF und ACTH andererseits vor, die verhindern soll, dass bei einer Stressaktion zu viel CRF und ACTH und damit Cortisol erzeugt werden. Eine besondere Rolle bei dieser negativen Rückkopplung des CRF – ACTH – Cortisol – Systems spielt der Hippocampus, der mit Corticosteroid-Rezeptoren vollgepackt ist und besonders sensibel auf starken Stress reagiert. Das Zurückfahren der stressbedingten Aufregung wird unterstützt durch die gleichzeitige Ausschüttung von endogenen Opioiden und anderen ‚hirneigenen Drogen‘ sowie von Serotonin, die in diesem Zusammenhang einen beruhigenden und angstdämpfenden Effekt haben.“ Vgl. aaO. 51 f.
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Die Stärke des Stresses hat unterschiedliche Auswirkungen auf den Organismus. Leichter Stress ist durchaus als positiv einzustufen, da er Körper und Gehirn dazu befähigt, Probleme und bedrohliche Situationen zu bewältigen. Auch starker Stress ist kurzfristig vorteilhaft, da er dem Organismus zu Höchstleistungen verhilft. Wird die starke Form des Stresses jedoch zu einem chronischen Zustand, führt dies zu gesundheitlichen Beeinträchtigungen. Denn bei einer lang anhaltenden, starken Stresssituation versagt die negative Rückkopplung der Stressachse. Dies führt zur permanenten Überproduktion von CRF, ACTH und Cortisol und damit zum Hypercortisolismus. Dieser Zustand ist schädlich für den Hippocampus. Außerdem führt langfristiger Stress zu Symptomen wie „physischem und psychischem Leistungsabfall, Schlaflosigkeit, Überreiztheit, Depression, Magen- und Kopfschmerzen, Vergesslichkeit, und starkem Absinken sexueller Aktivität“.71 Wie hängt nun das Stressverarbeitungssystem mit Roths Persönlichkeitsannahmen zusammen? Roth betont in diesem Zusammenhang, dass sich Menschen darin unterscheiden, wie sie mit Stress umgehen bzw. wie viel Stress sie ertragen können, kurz: welche „Stress-Resilienz“ sie zeigen. Die Stress-Resilienz ist ein Maß dafür, wie schnell und effektiv Menschen negative und bedrohliche Dinge erkennen können, wie schnell die Stressachse den Körper und das Gehirn aktiviert und wie schnell sie die Aufregung auch wieder herunterregulieren kann.72 3.3.2.3.2 Selbstberuhigung Das zweite psychische Grundsystem ist die Selbstberuhigung, deren Entwicklung bereits vorgeburtlich einsetzt. Hier spielt der Neuromodulator Serotonin (5-Hydroxytryptamin, abgekürzt 5-HT) die entscheidende Rolle. Serotonin wird in den Raphe-Kernen des Gehirns gebildet und verteilt sich von dort über verschiedene Nervenbahnen im gesamten Gehirn. Es wirkt über verschiedenartige Rezeptoren auf die Nervenzellen, an denen sie sitzen. Serotonin kann ebenfalls ganz unterschiedlich wirken, je nachdem, an welche Rezeptorenart es andockt. Bei einer Gruppe von Rezeptoren führt Serotonin zu einer Hemmung nachgeschalteter Gehirnareale, was sich als Antriebslosigkeit, Schlaf- und Nahrungsbedürfnis niederschlägt, bei einer anderen Rezeptor-Gruppe wirkt Serotonin anregend auf dieselben Areale, was sich als Schlaflosigkeit, reaktive Aggression, Impulsivität, Ängstlichkeit oder Depression zeigt.73 Entscheidend ist also, dass eine ausgeglichene Wechselwirkung zwischen Hemmung und Anregung vorliegt. Eine Störung in diesem Wechselverhältnis tritt im 71 Vgl. aaO. 52. 72 Vgl. aaO. 52 f. 73 Im Detail geht es hier um die 5-HT–1A-Rezeptoren und die 5-HT–2A-Rezptoren (im Folgenden nur noch als 1A bzw. 2A-Rezeptoren abgekürzt). Die 1A-Rezeptoren bewirken die oben beschriebene Hemmung, die 2A-Rezeptoren die entsprechende Anregung. Vgl. aaO. 53 f.
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Übrigen nicht nur auf, wenn eine der beiden Rezeptor-Gruppen zu schwach ausgeprägt ist, sondern auch, wenn ein Mangel an Serotonin vorliegt oder die Wirkung des Serotonins im synaptischen Spalt durch den Serotonintransporter beeinträchtigt ist.74 Für die volle Funktionsfähigkeit des Selbstberuhigungssystems müssen demnach drei Voraussetzungen erfüllt sein: 1. Eine ausgeglichene Wechselwirkung zwischen hemmenden und anregenden Rezeptor-Gruppen, 2. eine ausreichend hohe Menge von Serotonin und 3. die volle Funktionsfähigkeit des Serotonintransporters im synaptischen Spalt. Auch im Selbstberuhigungssystem verortet Roth mögliche Unterschiede zwischen verschiedenen Persönlichkeiten. Die Individuen unterscheiden sich in der „Fähigkeit, mit Belastungen umzugehen, durch den Grad an Zuversicht oder Ängstlichkeit, Ausgeglichenheit oder innerer Unruhe, Frustrationstoleranz und Bedrohtheitsgefühl“. Das serotonerge Selbstberuhigungssystem steht in einer engen Wechselbeziehung mit dem Stressverarbeitungssystem, da Serotonin mit den endogenen Opioiden wechselwirkt.75 Sowohl Serotonin als auch die Opioide sind bei der negativen Rückkopplung der Stressachse daran beteiligt, eine Überproduktion von Cortisol zu vermeiden. Besteht ein Defizit im Stressverarbeitungssystem, so hängt dies also auch mit dem Selbstberuhigungssystem zusammen.76 3.3.2.3.3 Selbstbewertung und Motivation Als drittes psychisches Grundsystem beschreibt Roth das Selbstbewertungssystem, aus dem später auch das interne Motivationssystem erwächst. Das Bewertungssystem ermöglicht die emotionale Konditionierung, die Roth bereits im Vier-Ebenen-Modell beschrieben und auf der zweiten limbischen Ebene lokalisiert hat.77 Dementsprechend sind im internen Bewertungssystem die Amygdala und das mesolimbische System aktiv. Diese beiden Hirnzentren bewerten sämtliche Konsequenzen einer Handlung, die eine Person vollzogen hat. Das Ergebnis dieser Bewertung wird im emotionalen Erfahrungsgedächtnis gespeichert. Die Bewertungen stehen stets im Hintergrund, wenn es darum geht, positive oder negative Ereignisse zu registrieren. Wird eine Situation positiv eingestuft, werden hirneigene Opioide in den Zentren des Hypothalamus ausgeschüttet. Diese wirken dann auf die Rezeptoren im mesolimbischen System und in der Amygdala ein, sowie auf den orbitofrontalen, cingulären und insulären Cortex. Die Person erlebt diesen Zustand als lustvoll und verspürt dementsprechend ein Gefühl von 74 Vgl. u. 185 Abb. 16. 75 Außerdem besteht eine Wechselwirkung zwischen Serotonin und dem Bindungshormon Oxytocin. Roth, Bildung, 54. 76 Vgl. ebd. 77 Vgl. o. 102–108.
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Freude und Vergnügen. Wird ein Ereignis dagegen als negativ bewertet, ist dies mit einer Ausschüttung der „Substanz-P („P“ für „pain“), Arginin-Vasopressin und Cholezystokinin“ verbunden. Diese Hirnvorgänge korrelieren mit Gefühlen wie Unlust, Schmerz, Bedrohung oder Panik. Mit diesem Zustand eng verbunden sind auch ein Mangel im Serotoninhaushalt (vgl. o. Selbstberuhigung) sowie eine erhöhte Menge von CRF, ACTH und Cortisol (vgl. o. Stressverarbeitung). Von diesem Bewertungssystem hängt schließlich ab, wie stark eine Person auf Belohnung oder Strafe reagiert. Auch dadurch ergeben sich individuelle Unterschiede im persönlichen Verhalten. Im Zusammenhang bildet das Selbstbewertungssystem die Basis für das Motivationssystem. Denn Personen streben danach, die jenigen Handlungen zu wiederholen, die positive Konsequenzen nach sich zogen. Dahinter steht die unbewusste oder bewusste Erwartung, dass sich mit der Wiederholung der Handlung auch wieder die Belohnung einstelle. Auf der hirnanatomischen Seite wird dieses Verhalten durch das Dopamin-System hervorgerufen. Handlungen jedoch, die negative Folgen für die Person hatten, werden in Zukunft vermieden.78 An dieser Stelle stoßen wir auf einen starken Faktor, der die Willensentscheidungen von Menschen beeinflusst. 3.3.2.3.4 Impulskontrolle Die Aufgabe des Impulskontrollsystems ist die Hemmung der egoistischen Antriebe aus den unteren beiden limbischen Ebenen. Es entsteht gleichzeitig mit den limbischen Arealen der Großhirnrinde und deren hemmenden Bahnen zu den subcorticalen limbischen Ebenen. Angeregt wird die Impulskontrolle durch das Dopamin-System, eine Hemmung erfährt es dagegen durch das Serotonin- System.79 Konkret wirkt sich die Impulskontrolle so aus: Im unteren und medialen Frontalhirn sind viele Serotonin-Rezeptoren vorhanden, und eine Aktivierung des Frontalhirns über diese Rezeptoren verstärkt die Hemmung der Nervenbahnen auf die genannten subcorticalen limbischen Zentren (über dort vorhandene inhibitorische Neuronen). Dies gilt sowohl für appetitive wie aversive Reaktionen, d. h. den Drang nach sofortiger Belohnung als auch die Tendenz zu sofortiger Flucht, Abwehr oder sofortigem Angriff. Dies erklärt, warum ein Mangel an Serotonin und damit eine Unteraktivität im Frontalhirn sowohl bei Angststörungen und gewalttätigem antisozialem Verhalten als auch bei Erlebnissucht, Spielsucht und hochriskantem Verhalten gehäuft auftritt.80
Auch die Unterschiede bei der Impulskontrolle wirken sich also auf die Persönlichkeit eines Menschen aus, und damit auf seine Willensregungen.
78 Vgl. Roth, Bildung, 54 f. 79 Vgl. aaO. 55 f. 80 AaO. 56.
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3.3.2.3.5 Bindung und Empathie Das Bindungssystem entsteht in den ersten Monaten nach der Geburt, wenn der Säugling mit seiner Mutter und anderen Bezugspersonen zu interagieren beginnt. Es verstärkt zum einen die emotionale Beziehung zwischen dem Säugling und seiner Umwelt, zum anderen wird durch diese soziale Interaktion auch die Gefühlswelt des Kleinkindes ausdifferenziert. Nach Roth wird ein Säugling auf die Emotionalität der Mutter geprägt, was bedeutet, dass die Mutter ihre emotionale Gestimmtheit auf ihr Kind überträgt (etwa eine depressive Verstimmtheit). Genetische Prädispositionen für eine Erkrankung können also durch das Verhalten der Mutter noch verstärkt werden. Beim Bindungsverhalten spielt das Neuropeptid Oxytocin die entscheidende Rolle, das unter anderem die Einleitung von Geburtswehen und den Beginn des Milchflusses reguliert. Außerdem ist Oxytocin beteiligt bei der Eltern-Kind- Beziehung, bei Partnerbeziehungen inklusive des Sexualverhaltens und ganz allgemein bei der Vertrauensbildung in sozialen Kontexten. Oxytocinunterstützend wirken die körpereigenen Opioide (Endorphine) und Serotonin, welche zu einer freudigen Stimmung beitragen und dadurch die Bindung zwischen Sozialpartnern verstärken.81 Aus dem Bindungssystem wächst später das Empathiesystem heraus, das im Wesentlichen durch zwei Fähigkeiten gekennzeichnet ist. Bei der Empathie im weiteren Sinne geht es zunächst nur um das Erkennen von Gefühlen, Gedanken und Absichten anderer Menschen. Empathie im engeren Sinne bezeichnet dagegen die Fähigkeit des aktiven Mitleidens mit einer anderen Person. Das Empathiesystem hat seinen Ort in subcorticalen und corticalen Hirnarealen. Während die unbewussten Zentren (Amygdala und mesolimbisches System) für das Erkennen eines Gesichtsausdruckes zuständig sind, ermöglicht es der limbische Cortex, den Schmerz eines anderen Menschen zu empfinden. Der Cortex im Bereich des Scheitel- und Schläfenlappens ist zuständig für das Erkennen von Mimik und Gebärden.82 3.3.2.3.6 Realitätssinn und Risikowahrnehmung Das System des Realitätssinns und der Risikowahrnehmung entsteht verhältnismäßig spät, und zwar im dritten Lebensjahr, wenn sich auch die kognitiven Fähigkeiten herausbilden. Hier kommt dem Neuromodulator Acetylcholin eine tragende Funktion zu. Acetylcholin ermöglicht mentale Vorgänge wie Aufmerksamkeit und Konzentration, indem es das Arbeitsgedächtnis (im Stirnhirn) und das deklarative Gedächtnis stimuliert. Fehlt Acetycholin, kann dies bei betroffenen Personen bis zur Demenz führen.
81 Vgl. aaO. 56 f. 82 Vgl. aaO. 57.
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Eine besondere Aufgabe dieses Systems besteht in der Erkenntnis von potentiellen Risiken und ihrer negativen Handlungskonsequenzen. Verantwortlich dafür sind der anteriore cinguläre, der präfrontale und der orbitofrontale Cortex. Insgesamt entwirft das System passende Verhaltensweisen, etwa die Unterdrückung von riskanten Optionen in gefährlichen Situationen. Ist eines der genannten Cortexareale beschädigt, funktioniert ihre Zusammenarbeit nicht mehr. Personen mit einer Schädigung am anterioren cingulären Cortex sind nicht mehr in der Lage, Risiken zu erkennen. Liegt dagegen eine Schädigung des orbitofrontalen Cortexes vor, ist die Risikowahrnehmung zwar voll ausgebildet, es gelingt den Betroffenen jedoch nicht mehr, die riskanten Impulse zu unterdrücken. Die kognitiven Fähigkeiten können die zu schwache Impulshemmung nicht ausgleichen.83 Bei dem von Damasio analysierten Fall von Phineas Gage handelt es sich etwa um einen derartigen Patienten.84
3.3.2.4 Roths neurobiologisches Modell der Persönlichkeit Das Vier-Ebenen Modell und die durch die Neuromodulatoren bestimmten Grundsysteme der Persönlichkeit bilden die Basis der Rothschen Persönlichkeitstypen.85 Ausgangspunkt ist die „normale Persönlichkeit“, die Roth folgendermaßen charakterisiert: Ein solcher Mensch erkennt gut Risiken und Gefahrenquellen, regt sich entsprechend auf und wieder ab, hat eine mittlere Frustrationstoleranz, d. h. er überreagiert nicht auf tatsächliche oder potentiell negative Situationen mit Flucht, Abwehr, Panik oder Angriff, ist längerfristig und nicht nur kurzfristig ziel- und belohnungsorientiert und nicht von einem einzigen Ziel „besessen“, kann seine kurzfristigen affektiven Impulse kontrollieren, verfügt über ein gutes Bindungspotential und über Empathiefähigkeit, ohne seine eigenen Interessen aus den Augen zu verlieren, ist gesellig und offen für neue Erfahrungen. Diese psychische Ausgeglichenheit wird über eine teils genetisch, teils über Umwelteinflüsse und eigene Erfahrungen bedingte höchst komplexe, aber recht stabile Interaktion vieler Botenstoffe und Hirnzentren bewirkt, die als Gesamtergebnis ein stabiles, sozial ausgewogenes Selbstgefühl und einen hohen Grad an Selbstwirksamkeit liefern.86
Von dieser „normalen“ Persönlichkeit unterscheidet Roth die neurotizistischen und extravertierten Persönlichkeitstypen in jeweils schwächerer und stärkerer Ausprägung. 83 Vgl. aaO. 58 f. 84 Vgl. Damasio, Descartes’ Irrtum, 25–85. 85 Im Hintergrund steckt hier Roths Kritik an den so genannten „big five“ der Persönlichkeit aus der Psychologie. Roth bemängelt, dass dieses Modell aus rein statischen Mittlungen entstanden sei. Es fehle dabei die Klärung des Verhältnisses von Anlage und Umwelt, sowie die anatomische und hirnphysiologische Verankerung. Vgl. Roth, Bildung, 37–41. 86 AaO. 60.
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Roth zufolge ist für den „leicht neurotizistischen Typ“ eine seelische Unausgeglichenheit charakteristisch, die durch eine defizitäre Hemmung des Stress systems entstehe. Neben einer negativen Weltwahrnehmung seien folgende Persönlichkeitsmerkmale für diesen Persönlichkeitstyp kennzeichnend: [Er] ist […] immer aus tausend Gründen besorgt, häufiger erschüttert, betroffen, beschämt, unsicher, verlegen, nervös, ängstlich oder traurig. Er ist aufgrund einer erhöhten Risikowahrnehmung und Bestrafungsempfänglichkeit gewissenhaft bis pingelig, mäßig risikoscheu, eher kontaktarm und gehemmt. Dies resultiert aus einer Kombination eines leicht defizitären Stressverarbeitungs- und Selbstberuhigungssystems, einer starken Impulshemmung, einer ausgeprägten Realitäts- und Risikowahrnehmung und einer geringen Belohnungssensibilität. Abhängig von der Ausprägung seines Bindungssystems ist er eher auf enge Bindung (‚Klammern‘) aus oder hält die Anderen auf Distanz zu sich.87
Die spezifischen Eigenschaften des „leichten neurotizistischen Typs“ finden sich in zugespitzter Form beim „stark neurotizistischen Typ“ wieder: [Er] ist getrieben von einer diffusen Sorge und Angst, ist risikoscheu, kontaktarm bis zur Sozialphobie, zwanghaft ordnungsliebend, phobisch, depressiv und sehr gehemmt. Hier liegt eine Kombination eines stark defizitären Stressverarbeitungs-, Selbstberuhigungs- und Bindungssystems mit einer starken Impulshemmung und einer pathologischen Risikowahrnehmung vor, die wiederum in der Regel durch ein Zusammenspiel genetischer Defizite (meist im Cortisol-, Serotonin- und Oxytocinhaushalt) und frühkindlicher Traumatisierung verursacht ist.88
Den leicht bzw. stark neurotizistischen Typen stehen die entsprechenden extravertierten Typen gegenüber. Der „leicht extravertierte Typ“ weise die gegenteiligen Eigenschaften des „leicht neurotizistischen Typs“ auf: [Er] ist optimistisch, deutlich belohnungsorientiert, offen, kreativ, selbstsicher, aktiv, gesprächig, energisch, heiter, gesellig, liebt Aufregungen, zeigt Wagemut, gleichzeitig eine gewisse Sorglosigkeit und Unzuverlässigkeit. Hier liegt eine leichte Dominanz des dopaminergen Systems und des Bindungssystems bei leichter Schwächung der Impulshemmung und Risikowahrnehmung vor.
Beim „stark extravertierten Typ“ liegen diese Eigenschaften in übersteigerter Form vor: [Er] ist stark belohnungsorientiert, zeigt eine hohe Impulsivität und oft auch eine Rücksichtslosigkeit bei der Durchsetzung seiner Ziele, geht häufig hohe Risiken ein, hat deutliche Empathiedefizite, ist gewissenlos, ist oft drogen- und alkoholabhängig, neigt zum Glücksspiel und riskanten Beschäftigungen. Gleichzeitig berichten diese 87 AaO. 60 f. 88 AaO. 61.
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Stressverarbeitung (Notadrenalin, Cortisol)
Selbstberuhigung (Serotonin)
Selbstbewertung und Motivation (Dopamin)
Stark neurotizitistischer Typ
stark defizitär
stark defizitär
Leicht neurotizitistischer Typ
leicht defizitär
leicht defizitär
Normaler Typ
normal ausgeprägt
normal ausgeprägt
normal ausgeprägt
Leicht extravertierter Typ
leicht defizitär
leicht defizitär
Stark extravertierter Typ
stark defizitär
stark defizitär
stark erhöhte Bestrafungsempfänglichkeit/ geringe Belohnungssensibilität leicht erhöhte Bestrafungsempfänglichkeit/ geringe Belohnungssensibilität
Impulskontrolle
stark ausgeprägt
Bindung und Empathie
Risikowahrnehmung und Realitätssinn
stark defizitär (kontaktarm bis zur Sozialphobie)
pathologisch starke Risikowahrnehmung
je nach Ausprägung entweder „klammernd“ oder distanziert
erhöhte Risikowahrnehmung
normal ausgeprägt
normal ausgeprägt
normal ausgeprägt
belohnungsorientiert
leicht geschwächt
leicht dominant (Bindung)
leicht geschwächt
stark belohnungsorientiert
defizitär
stark defizitär (Empathie)
schwach ausgeprägt
stark ausgeprägt
Abb. 2: Die Persönlichkeitstypen nach Roth in Zusammenhang mit den Neuromodulatoren. Personen eine ständige innere Unruhe, die durch Glückserlebnisse kurzfristig beseitigt wird. Hier liegt eine emotionale Überreaktivität vor, verursacht durch einen erhöhten Cortisol- und Noradrenalinspiegel unter Stress, eine starke Dominanz des dopaminergen Systems und der Belohnungsempfänglichkeit, verbunden mit deut lichen Defiziten in der Impulshemmung, der Selbstberuhigung und des Empathiesystems. Auch dies ist meist verursacht durch genetische Defizite vornehmlich im Dopamin- und Noradrenalinsystem, kombiniert mit frühkindlicher Traumatisierung, die sich hier ‚nach außen‘ und nicht ‚nach innen‘ wendet, wie beim stark neurotizistischen Typ.89
Roths Persönlichkeitsmodell fußt also auf den beiden Grundpolen Extraversion versus Neurotizismus. Diese beiden Grundpole sind durch die ersten drei psychischen Grundsysteme (Stressverarbeitung, Selbstberuhigung und Belohnung bzw. Motivation) bestimmt. Die weiteren drei Systeme, die sich später entwickeln, „modulieren und erweitern diese Grundzustände, z. B. in Richtung auf die Persönlichkeitsmerkmale „Verträglichkeit (Bindung, Sozialität, Empathie), Gewissenhaftigkeit (Angst vor dem Versagen, vor Risiken) und Offenheit gegenüber Neuem“90.
89 AaO. 61 f. 90 AaO. 62. Wie ein solches zweidimensionales Persönlichkeitsmodell in die gegenwärtige Forschungsdebatte einzuordnen ist, diskutiert Roth selbst ausführlich. Vgl. dazu Roth, Bildung, 36–41.
Gerhard Roths neurobiologische Anthropologie
119
Die folgende Übersicht zeigt die fünf Rothschen Persönlichkeitstypen im Vergleich. Interessant ist dabei, dass ein leicht bzw. stark defizitäres Stressverarbeitungs- bzw. Selbstberuhigungssystem sowohl bei neurotizistischen als auch extravertierten Persönlichkeitstypen vorliegt. Dasselbe gilt für das Bindungs- und Empathiesystem. Ob eine Person in die neurotizistische Richtung oder in die extravertierte tendiert, hängt von den neuromodulatorischen Systemen der Selbstbewertung, der Impulskontrolle und der Risikowahrnehmung ab. Bis zu diesem Abschnitt haben wir dargestellt, wie der individuelle Mensch nach Roth zu seiner Persönlichkeit kommt: Er hat angeborene und erworbene Merkmale, die in verschiedenen Hirnarealen codiert sind und die sich in besonderen Persönlichkeitsmerkmalen ausprägen. In den folgenden Abschnitten soll gezeigt werden, wie eine Person zu einer Entscheidung kommt und wie sich ihre Handlungssteuerung vollzieht.
3.3.3 Neuronale Handlungs- und Entscheidungssteuerung 3.3.3.1 Das neuronale Modell der Handlungssteuerung Nach Roth haben bewusste Handlungsintentionen, also Handlungen, die wir als willentlich verursacht empfinden, stets mit Aktivität in der Großhirnrinde (Cortex) zu tun. Die bewusste Handlungsplanung vollziehe sich im hinteren parietalen und im präfrontalen Cortex, wo zunächst der Wunsch nach einer bestimmten Tätigkeit entstehe. Der entscheidende Punkt sei dabei die Tatsache, dass der parietale und präfrontale Cortex alleine keine Bewegung bzw. Handlung auslösen können. Hierfür müssen zusätzlich zwei neuronale Rückkoppelungskreise durchlaufen werden, die dorsale und die ventrale Schleife. In der dorsalen Schleife finde die Aktivierung der Basalganglien statt. Bei den Basalganglien handelt es sich um eine größere Anzahl von Kerngebieten, die tief im Inneren des Großhirns liegen (also nicht auf der bewusstseinsfähigen Großhirnrinde). Diese Kerngebiete gewähren vor allem den reibungslosen Ablauf der motorischen Leistungen, weswegen Roth die Basalganglien auch als Handlungsgedächtnis eines Menschen bezeichnet. In ihm ist gespeichert, welche Bewegungsabläufe früher zu einem befriedigenden Ergebnis führten und welche nicht. In vergleichbaren aktuellen Situationen können sie daher die entsprechenden motorischen Abläufe auslösen.91 Entscheidend ist nach Roth, dass die 91 Diese Auslösung findet im Wechselspiel von Hemmung und Enthemmung einzelner Zellbereiche innerhalb der Basalganglien statt: „Der gesamte Erregungsfluss durch die Basalganglien im Zusammenhang mit Handlungsplanung und Handlungssteuerung wird durch ein komplexes Wechselspiel zwischen erregenden und hemmenden Verbindungen bestimmt, bei denen allerding die Hemmung überwiegt. Es kommt nämlich bei der Bewegungssteuerung darauf an, aus einem riesigen Vorrat möglicher Alternativen einen ganz bestimmten Ablauf gezielt zu enthemmen und alle unerwünschten alternativen Bewegungen zu unterdrücken.
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Willensfreiheit aus neurobiologischer Perspektive
Abb. 3: Verschaltung der Basalganglien mit der Großhirnrinde.92
Basalganglien92völlig unbewusst arbeiten und wir keinen willentlichen Einfluss auf sie nehmen können. Entsprechend sei es für eine Handlung nicht maßgeblich, ob wir sie gewollt, sondern dass die Basalganglien sie freigegeben haben. Roth stützt diese These mit dem Verweis auf Parkinson-Patienten. Das Charakteristische der Parkinsonschen Krankheit besteht darin, dass die Patienten zwar eine bestimmte Handlung ausführen möchten, dies aber aufgrund eines Mangels an Dopamin in den Basalganglien nicht können. Da die Dopamin produzierenden Zellen bei dieser Erkrankung absterben, kann es nicht mehr zu dem notwendigen Dopamin-Freischaltungssignal kommen.93 Für die Ausschüttung des Dopamins und damit für die Freischaltung passender Handlungen ist nach Roth ebenfalls das limbische System zuständig. Diese Diese selektive Freigabe geschieht über den Neuromodulator Dopamin. Dopamin wird innerhalb der Basalganglien durch Neurone der Substantia nigra pars compacta produziert und über Faserverbindungen in das Corpus striatum ausgeschüttet. Dort bewirkt es die Aufhebung der Hemmung, die auf die geplante Bewegung einwirkt, so dass die motorischen thalamischen Umschaltkerne im Zusammenwirken mit dem prämotorischen und parietalen Cortex nunmehr den supplementärmotorischen, prämotorischen und motorischen Cortex so erregen können, dass die Bewegung ausgeführt werden kann. Ohne die Freischaltung der Basalganglien und der thalamischen Kerne können keine Willkürbewegungen ausgeführt werden, und diese Freischaltung wird durch die Ausschüttung von Dopamin durch die Substantia nigra bewirkt.“ Roth, Aus Sicht, 190. 92 Nach Carter u. a., Gehirn, 115. 93 Vgl. Roth, Aus Sicht, 190 f.
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Abb. 4: Längsschnitt entlang der Mittellinie des Gehirns mit den wichtigsten Zentren des limbischen Systems: Orbitofrontaler Cortex, Gyrus cinguli/anteriorer cingulärer Cortex (Orte der Entstehung von bewussten Gefühlen); Nuccleus accumbens, tegmentales Areal (unbewusste positive Gefühle); Amygdala (unbewusste negative Gefühle); Hippocampus (Gedächtnisorganisation); Gyrus cinguli, basales Vorderhirn, Thalamus, Raphe-Kerne (Aufmerksamkeits- und Bewusstseinssteuerung); Hypothalamus, Hypophyse (Kontrolle vegetativer Funktionen).94
Funktion94übt es über die ventrale Schleife aus. Im Verlauf dieser Schleife kontrolliert der Teil des limbischen Systems, der das emotionale Erfahrungsgedächtnis enthält, ob die intendierte Handlung bisher schon positive oder negative Konsequenzen für den Organismus hatte. Das Ergebnis dieser Überprüfung teilt es dem Cortex mit. Sind positive Vorerfahrungen vorhanden, springt die Erregung auf die dorsale Schleife über. In Roths Handlungsmodell ist also das limbische System der Initiator einer Handlung, indem es „über die ‚ventrale‘ Schleife teils direkt, teils indirekt auf die exekutiv-motorische ‚dorsale‘ Schleife ein[wirkt].“95 Zunächst wirken die Amygdala und das mesolimbische System (beides Teile des limbischen Systems) auf die ventrale Schleife ein. Aus der Sicht des Handelnden führe dies zu einem Auftauchen von Wünschen, Intentionen oder Plänen im Bewusstsein. In der zweiten 94 Quelle: Roth, Persönlichkeit, 44. 95 Pauen/Roth, Freiheit, 95.
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Willensfreiheit aus neurobiologischer Perspektive
Phase finde ein rational-emotionales Abwägen dieser Wünsche statt, was durch einen kürzeren oder längeren Kreisprozess zwischen Cortex und subcorticalen limbischen Zentren auf neuronaler Ebene gekennzeichnet sei. Hier nun setzt die oben geschilderte Interaktion zwischen Cortex und Basalganglien ein, die kurz vor dem intendierten Handlungsbeginn die bewußten Absichten mit den unbewußten Inhalten des limbischen Erfahrungsgedächtnisses abgleichen soll. Im positiven Fall beeinflußt dann das limbische System die dorsale Schleife, und es kommt zur Ausschüttung von Dopamin durch die Substantia nigra in das Striatum, was zu einer ‚Freischaltung‘ der dorsalen Schleife führt. Über die thalamischen Umschaltkerne wird dann der prämotorische und der supplementärmotorische C ortex so aktiviert, daß sich zusammen mit den vom präfrontalen Cortex kommenden Erregungen ein hinreichend hohes Bereitschaftspotential aufbauen kann. Dies führt schließlich zur Aktivierung des motorischen Cortex und über die Pyramidenbahn zur Initiierung einer Willkürbewegung. Dem folgen die Ausführung der Handlung und schließlich die Bewertung der Konsequenzen der Handlung durch das limbische System.96
Anhand dieser neuronalen Abfolge entwickelt Roth drei Phasen der Handlungsvorbereitung: 1. Das Auftauchen von Wünschen und Plänen im Bewusstsein. Auf der neuronalen Ebene entspricht dies einer Erregung der Großhirnrinde durch Amygdala und mesolimbisches System. 2. Bewusstes rational-emotionales Abwägen dieser Wünsche und Pläne, was auf der neuronalen Seite durch einen kürzeren oder längeren Kreisprozess zwischen Großhirnrinde und subcorticalem limbischen System gewährleistet wird. 3. Einleitung der Handlung und Bewertung der Handlungskonsequenzen. Roths Anliegen ist es, bei seinem Modell der Handlungssteuerung den Stellenwert der emotionalen Faktoren zu betonen: Das limbische System und damit emotionale Faktoren haben also das ‚erste Wort‘, nämlich beim Entstehen der Wünsche und Pläne, und das ‚letzte Wort‘ bei der Entscheidung darüber, ob das, was an Handlungsabsicht gereift ist, tatsächlich jetzt und so und nicht anders getan werden soll. Personale Motive spielen eine entscheidende Rolle in der zweiten Phase des Abwägens; indirekt sind sie zudem insofern wirksam, als die Emotionen hier als eine Art unbewußtes Erfahrungsgedächtnis wirken, in dem sich auch frühere Bewertungen bestimmter Handlungsoptionen wieder finden.97
In seiner früheren Publikation Fühlen, Denken, Handeln hat sich Roth noch nicht ganz so entschieden dafür ausgesprochen, dass die emotionalen Faktoren die 96 AaO. 96. 97 AaO. 97.
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Erst- und Letztinstanz für die Handlungssteuerung seien. Hier sind Gefühl und Verstand eher in einer Art gleichberechtigter Partnerschaft vorgestellt.98
3.3.3.2 Der Zusammenhang des Vier-Ebenen-Modells der Persönlichkeit mit der Steuerung von Willkürhandlungen Die emotionalen Faktoren spielen sowohl in Roths Persönlichkeitsmodell als auch in seinem Modell zu Steuerung von Willkürhandlungen die Hauptrolle. Doch wie hängen diese beiden Modelle miteinander zusammen bzw. wie beeinflussen die Persönlichkeitsebenen die Steuerung der Willkürmotorik? Nach Roth ist für beide Modelle entscheidend, dass es kein oberstes Zentrum gibt, das alles kontrolliert, sondern dass es sich dabei um ein heterarchisch organisiertes Netzwerk handelt. Es setze sich aus mehreren Zentren zusammen, die sich auf den verschiedenen Ebenen fast über das gesamte Hirn erstrecken. Die Zentren werden durch drei Achsen strukturiert, die durch die Polaritäten „bewusst/unbewusst“, „rational/emotional“ und „individuell/sozial“ gekennzeichnet sind. Das bedeute, dass es „bewußte und unbewußte rationale und emotionale Entscheidungen im Rahmen rein individueller und sozialer Ziele“ gebe. Roth arbeitet anhand dieser funktionellen Achsen drei Entscheidungstypen heraus: 1. Spontan-affektive Entscheidungen, 2. individuell-egoistische Entscheidungen und 3. emotional-sozial-rationale Entscheidungen. Spontan-affektive Entscheidungen, so genannte Bauchentscheidungen, seien durch starke unbewusste Anteile gekennzeichnet. Hier setze sich die untere limbische Ebene am stärksten durch. Solche Entscheidungen treffe man vor allem in Situationen, in denen man unter starkem emotionalem Stress stehe und in denen man keine Gelegenheit habe, Handlungsalternativen zu reflektieren. Roth charakterisiert diesen Entscheidungstyp durch den fight-or-flight-Reflex. Bei den individuell-egoistischen Entscheidungen dominiere die zweite limbische Ebene, auf welcher die emotionale Konditionierung stattfindet. Derartige Entscheidungen können sowohl bewusst als auch unbewusst gefällt werden. Sie streben nach sofortigem Lustgewinn bzw. nach Unlustvermeidung. Wie die spontan-affektiven Entscheidungen seien auch die individuell-egoistischen Entscheidungen typisch für kindliches Verhalten. Bei den emotional-sozial-rationalen Entscheidungen sei schließlich die obere limbische Ebene in Wechselwirkung mit der kognitiv-rationalen Ebene am aktivsten: 98 Vgl. Roth, Fühlen, 491. Andererseits gibt es auch schon in dieser Veröffentlichung Ansätze zur späteren Überordnung von Emotionen über den Verstand, vgl. aaO. 375.
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Willensfreiheit aus neurobiologischer Perspektive
Wir wägen bewußt oder zumindest halbbewußt die mittel- und längerfristigen Konsequenzen unseres Handelns für uns selbst und unsere engere soziale Umgebung (Familie, Freunde, Arbeitskollegen usw.) ab, daneben spielen in abnehmendem Maße die Konsequenzen für die entferntere soziale Umgebung (die Kommune, den Staat usw.) eine Rolle.99
Normen und Konventionen spielen bei dieser Art der Entscheidung also eine wichtige Rolle. An dieser Stelle betont Roth erneut, dass „rationale Prozesse alleine nicht unmittelbar handlungswirksam“ werden können. Die Betonung liegt dabei auf dem alleine, denn dass rationale Überlegungen in die Entscheidung letztendlich doch mit eingehen, leugnet Roth nicht. Allerdings sei die Wirksamkeit der kognitiv-rationalen Prozesse nur gewährleistet, wenn sie mit der oberen limbischen Ebene korrelieren. Roth schlussfolgert daraus, dass rationale Argumente in der Regel nur insoweit handlungswirksam werden, als ihre Befolgung individuell-emotional oder sozial-emotional gesehen wünschenswerte Konsequenzen hat bzw. negative Konsequenzen vermeidet. Jemand kann uns mit noch so klaren logisch-rationalen Argumenten zu überzeugen versuchen – wenn dabei nicht Vorstellungen in uns geweckt werden, die uns emotional anrühren und dadurch motivieren, dann werden wir unser Verhalten nicht an ihnen ausrichten.100
Es wurde schon oben darauf hingewiesen, dass Roth anhand seiner Ergebnisse das von der Aufklärung geprägte Menschenbild korrigieren möchte. Auch hier kritisiert er wieder heftig den Zustand der zeitgenössischen Anthropologie, die die entscheidende Bedeutung von emotionalen und unbewussten Handlungsmotiven normalerweise völlig verkenne. Nach wie vor werde die Vorstellung aufrechterhalten, dass Menschen ihre Handlungen in erster Linie durch ihre Vernunft steuern. Dies sei genauso falsch „wie die Annahme, wir könnten spontan in unsere Handlungsdispositionen eingreifen und beliebige Aktivitäten unter beliebigen Umständen tun oder unterlassen.“ Und selbst wenn wir diese Fähigkeiten hätten – sie wären nicht einmal von Vorteil. Denn wenn wir uns bei unseren Entscheidungen von den wertvollen Inhalten unseres Erfahrungsgedächtnisses befreien wollten, wäre lediglich zu befürchten, dass wir zu Handlungsentscheidungen kommen, deren Ergebnisse negativ für unseren Organismus ausfielen.101 Im Rahmen einer Willenstheorie ausgedrückt: Es wäre nicht wünschenswert, wenn unsere Willensentscheidungen nicht möglichst durch gute Gründe determiniert wären.
99 Pauen/Roth, Freiheit, 107. 100 AaO. 108. 101 Vgl. aaO. 108 f. Mit diesem Akzent nimmt Roth ein Hauptinteresse Damasios auf, was sich schon an dessen Buchtitel Descartes’ Irrtum ablesen lässt.
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Entscheidungen und Vier Ebenen Modell Grafik_Abb. 5_S. 125.pdf 1 05.12.2017 15:52:14
Emotional-sozial-rationale Entscheidungen
Kognitiv-kommunikativ Ebene Beratung: Aufzeigen der Handlungskonsequenzen
Bei diesen Entscheidungen findet ein bewusstes Abwägen der mittel- und längerfristigen Handlungskonsequenzen für die Person selbst und für ihr soziales Umfeld statt. Die Orientierung an Werten und Normen spielt hier eine wichtige Rolle.
Obere limbische Ebene
BEWUSST Individuell-egoistische Entscheidungen Diese Entscheidungen beruhen auf emotionalen Konditionierungen und können bewusst oder unbewusst ablaufen. Sie sind von starken Handlungsmotiven getrieben und zielen auf den unmittelbaren Lustgewinn bzw. auf Unlustvermeidung.
Mittlere limbische Ebene
UNBEWUSST Spontan-affektive Entscheidungen Untere limbische Ebene
Diese „Bauchentscheidungen“ werden in der Regel bei starker emotionaler Belastung (zum Beispiel „fight or flight“) getroffen.
Abb. 5: Die vier Ebenen der Persönlichkeit im Zusammenhang mit den Entscheidungstypen.
3.3.3.3 Libets Ergebnisse im Kontext des Rothschen Modells und die Frage des Epiphänomenalismus Nachdem Roths Modell zur Entscheidungsfindung und Handlungssteuerung dargestellt wurde, wollen wir kurz der Frage nachgehen, in welchem Verhältnis die Rothschen Überlegungen mit den Messergebnissen Libets stehen. Roth stellt selbst zwar keinen ausführlicheren Zusammenhang zwischen sich und Libet her, kommentiert ihn aber verschiedentlich in seinen Büchern nebenbei. Bei dieser Gelegenheit kommt auch ein wiederholt schon angeklungenes Thema aus der Geistphilosophie zur Sprache, der Epiphänomenalismus.102 In seinem früheren Werk Fühlen, Denken, Handeln stellt sich Roth die Frage, ob durch Libet „die Willensfreiheit […] empirisch widerlegt“ worden sei. Er bejaht diese Frage implizit unter dem Vorbehalt, dass bei den Experimenten keine methodischen Fehler unterlaufen seien.103 Roth geht hier auch auf den philosophischen Einwand gegen Libets Versuchsdesign ein, nach welchem dieser über-
102 Vgl. o. 60. 103 Roth, Fühlen, 524.
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Willensfreiheit aus neurobiologischer Perspektive
haupt keine Willensentscheidung gemessen habe. Nach dieser Ansicht müsse einer echten Willensentscheidung ein mehr oder weniger langes Abwägen von Argumenten und Gegenargumenten vorausgehen.104 Dazu schreibt Roth, dass auch eine theoretische Reflexion von Gründen nicht wirklich als Freiheit bezeichnet werden dürfe. „Das rationale Abwägen geschieht nämlich nicht weniger determiniert als das affektiv emotional bestimmte Entscheiden; wir erleben es nur anders.“ Schon ob wir bei einer Entscheidung überhaupt abwägen oder nicht, sei durch unser Temperament, unsere Persönlichkeit, unsere Erziehung und durch unsere Erfahrungen bestimmt. Auch welche Argumente uns beim Abwägen in den Sinn kommen, wenn wir überhaupt abwägen, hänge „nicht von unserem bewussten Denken ab, sondern wird von unserem unbewusst arbeitenden Erfahrungsgedächtnis bestimmt, über das wir keine willentliche Macht haben.“105 Mit dieser Argumentation will Roth zwar einerseits die Kritik an Libet zurückweisen, aber gleichzeitig fordert er auch eine Erweiterung des ursprünglichen Rahmens von Libets Experiment. Denn bei diesem sei es überhaupt nicht um einen Abwägungsprozess gegangen (und bei Haggard/Eimer nur ganz rudimentär), während Roth komplexe Situationen mit vielfältigen Handlungsoptionen in den Mittelpunkt stellt. In Fühlen, Denken, Handeln brachte Roth sein Entscheidungsmodell also in Anschlag, um die von Libet gestellte Frage nach der Willensfreiheit negativ zu beantworten. In seinem neuerem Werk Freiheit, Schuld und Verantwortung (in der Zusammenarbeit mit Pauen) hingegen, hat Roth inzwischen das kompatibilistische Denkmodell adoptiert106 und schreibt, dass man „eine Widerlegung der Fähigkeit zur Selbstbestimmung […] aus den ‚Libet-artigen‘ Experimenten sicherlich nicht ableiten“ könne.107 Er kommt also bezüglich der Existenz von Willensfreiheit zu einem gegensätzlichen Urteil, obwohl sich seine Anthropologie mit ihrem Entscheidungsmodell überhaupt nicht geändert hat. Damit hängt auch eine geänderte Beurteilung in Bezug auf das Bewusstsein zusammen: In dem frühen Buch Fühlen, Denken, Handeln hatte Roth darauf hingewiesen, dass nach Libet und anderen Bewusstsein erst auftrete, nachdem das
104 Vgl. etwa Pauen, Illusion, 202. 105 Roth, Fühlen, 525 f. Dieser Satz könnte eventuell epiphänomenalistisch interpretiert werden. An anderen Stellen hat sich Roth jedoch ausdrücklich gegen den Epiphänomenalismus ausgesprochen, vgl. u. 129 f. Demnach muss der obige Satz so interpretiert werden: Welche Bewusstseinsinhalte uns in einer Situation einfallen, hat unbewusste Ursachen. Das Ergebnis des bewussten Überlegungsprozesses kann dann aber zusammenwirken mit den unbewussten Gehirnprozessen. 106 Dieser Wechsel in das kompatibilistische Lager wird ausführlicher auf S. 147–151 beschrieben. 107 Pauen/Roth, Freiheit, 80.
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Bereitschaftspotential eine Mindeststärke erreicht habe, und dass dann „allerdings bereits feststeht“, was passiert.108 Das Bewusstsein ist damit nicht aktiv beteiligt an der Handlungsauslösung, sondern lediglich eine Folge des Handlungsauslösungsprozesses, die selbst nicht kausal wirksam wird. Diese Theorie von der Wirkungslosigkeit des Bewusstseins wird in der Philosophie, wie wir gesehen haben, unter dem Stichwort Epiphänomenalismus diskutiert.109 In der späteren Veröffentlichung Freiheit, Schuld, Verantwortung gesteht Roth im Dreiphasenmodell der Handlungsvorbereitung den unbewussten Anteilen des limbischen Systems zwar die Initiierung und den Abschluss zu („erstes und letztes Wort“)110. Doch in einer mittleren Phase findet ein bewusstes rational-emotionales Abwägen statt, so dass eine notwendige Funktion des Bewusstseins – zumindest für die oben beschriebenen emotional-sozial-rationalen Entscheidungen – vorgesehen ist. Damit wäre der Epiphänomenalismus ausgeschlossen. Wenn dies stimmt, dann könnte das Rothsche Modell der Entscheidungsfindung nicht auf das Experiment von Libet übertragen werden. Dies gilt schon insofern, als Roths Modell viel komplexer ist als das Variablensystem, das Libet untersuchte. Libet maß am Gehirn lediglich das symmetrische Bereitschaftspotential und verknüpfte diese Messung mit einer Zeitwahrnehmung des Probanden (dem Zeitpunkt der bewussten Entscheidung) und einer Messung von Muskelkontraktionen. Im Vergleich dazu berücksichtigt Roth viel mehr neuronale Komponenten als nur das symmetrische Bereitschaftspotential. Wenn nun das Bewusstsein auf der kognitiv-rationalen Ebene und auf der oberen limbischen Ebene einen essentiellen Beitrag zur Entscheidungsfindung leistet, müssten sich sein Modell und Libets Befund als inkompatibel erweisen. Man kann dies mit der folgenden Tabelle veranschaulichen. Links sind die Abläufe von Roths Modell aufgelistet, rechts die von Libet untersuchten Vorgänge: Mit der Grauschattierung ist das Problem der Vergleichbarkeit von Roth und Libet angezeigt. Wenn Libet das Bereitschaftspotential misst, ist die Entscheidung für die Handlung schon unbewusst getroffen. Bewusst fällt Libets Proband die Entscheidung erst danach. Bei Roth ist das Bewusstsein schon beteiligt, bevor die Erregung von der ventralen auf die dorsale Schleife überspringt. Also müsste bei ihm das Bewusstsein schon vor dem Bereitschaftspotential gemessen werden können. Roths Modell würde nur dann nicht im Widerspruch zu den libetartigen Befunden stehen, wenn man zeigen könnte, dass seine Entscheidungstypen sich von Libets Entscheidungsaufgabe wesentlich unterscheiden. In Fühlen, Denken, Handeln hatte Roth geschrieben, dass Libets Experiment mit seiner eigenen Theorie übereinstimme. Im späteren Freiheit, Schuld und Verantwortung nahm er diese Aussage zurück – Libet habe zumindest nicht einen 108 Roth, Fühlen, 524. 109 Vgl. dazu Waldes Versuche, den Epiphänomenalismus zurückzuweisen, o. 60–62. 110 Vgl. o. 122 Anm. 97.
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Willensfreiheit aus neurobiologischer Perspektive
Abfolge bei Roth
Abfolge bei Libet
Unbewusster Impuls Bewusster Wunsch: „Ich möchte trinken“ (Erste-Person-Perspektive) Bewusstes Abwägen: „Was soll ich tun?“ (Erste-Person-Perspektive)). Ventrale Schleife wird durchlaufen, BP baut sich auf (Dritte-Person-Perspektive). Entscheidung (Erste-Person-Perspektive). BP hinreichend hoch zur Freischaltung der Bewegungssequenz durch die Basalganglien, Erregung springt von ventraler Schleife auf dorsale Schleife über. Dopaminsignal löst Handlung aus (Dritte-Person-Perspektive).
Bereitschaftspotential hinreichend hoch (Dritte-Person-Perspektive). Diesen Zeitpunkt misst Libet.
Libets Proband trifft die bewusste Entscheidung (Erste-Person-Perspektive). Handlungsausführung
Handlungsausführung: Libets Proband hebt die Hand.
Abb. 6: Entscheidung und Handlung bei Roth und Libet im Vergleich.
komplexen Vorgang der Selbstbestimmung gemessen.111 Auf dieser Linie differenziert Roth in der Studie Aus der Sicht des Gehirns zwischen kurzfristigen Entscheidungsprozessen, die nach dem Libetschen Schema verlaufen, und längerfristigen Handlungsplanungen. Bei letzteren sei „das bewusste Ich selbstverständlich beteiligt und mag diesen Planungen eine völlig neue Richtung geben.“ Allerdings wird diese Aussage gleich wieder dahingehend eingeschränkt, dass nicht das bewusste Ich, sondern das limbische System entscheidet, ob die vom Ich vorgegebene Handlungsrichtung auch in die Tat umgesetzt werde.112 111 „So wird diskutiert, ob es sich bei dem von Libet und anderen Forschern gemessenen Willensakt wirklich um eine echte Entscheidung und nicht vielmehr nur um das bloße Auslösen eines längst gefassten Handlungsplans handelt. Die Frage nach der Selbstbestimmung betrifft aber genau diesen Handlungsplan“. Pauen/Roth, Freiheit, 79 f. 112 Roth, Aus Sicht, 194. In seinem Aufsatz über die Frage Lässt sich Willensfreiheit empirisch überprüfen? wiederholt Roth das obige Zitat, interpretiert es aber so, dass die Rolle des bewussten Ichs weniger stark eingeschränkt wird: Es ist „die häufig zitierte Aussage ‚das Gehirn hat bereits entschieden, ehe ich entschieden habe!‘ nur für diese kurzfristigen Entscheidungsprozesse richtig. Bei längerfristigen Handlungsplanungen ist das bewusste Ich selbstverständlich beteiligt und mag diesen Planungen eine völlig neue Richtung geben. Welche Gedanken, Wünsche oder Intentionen mir aber während dieses Abwägeprozesses kommen und was sie bewirken, verläuft
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Das Ergebnis von Libets Experiment kann nur epiphänomenalistisch gedeutet werden: Das Bewusstsein tritt einmal auf, aber erst nachdem die Entscheidung durch unbewusste Vorgänge bereits feststand. Bei Roth wird der bewusste Abwägungsprozess (ventrale Schleife) in die emotional-rational-sozialen Entscheidungen miteinbezogen. Dadurch alleine wird Roths Modell nicht anti-epiphänomenalistisch, weil jeder einzelne Abwägungsschritt lediglich Reflex unbewusster Vorgänge sein könnte, der nicht kausal verursachend am gesamten Entscheidungsprozess beteiligt ist. Da aber die Entscheidung erst gefällt wird, nachdem durch das bewusste Abwägen ein Handlungsplan gereift ist, bleibt das Rothsche Modell offen für eine nicht-epiphänomenalistische Philosophie des Geistes. Selbstverständlich handelte es sich dann trotzdem um ein deterministisches Modell. Roth selbst hat sich an verschiedenen Stellen gegen den Epiphänomenalismus ausgesprochen. In Fühlen, Denken, Handeln (2001/2003) beschreibt er die Interaktion der oberern bewusstseinsfähigen Ebene des limbischen Systems und der beiden unteren Ebenen so, „dass eine bewusste Kontrolle ‚von oben nach unten‘ (top-down) […] nur beschränkt wirksam ist […] Generell können wir also sagen, dass die Wirkungen von unten nach oben stärker sind als die in umgekehrter Richtung.“113 Damit lehnt schon der frühe Roth den Epiphänomenalismus ab, auch wenn er den Zugriff des Bewusstseins auf unbewusste psychische Instanzen nicht für allmächtig hält, sondern ihn stark einschränkt. Auch sein Hinweis darauf, dass sich die Faserbahnen zwischen der oberen, bewusstseinsfähigen limbischen Ebene und den beiden unteren, unbewussten Ebenen teilweise erfahrungsbedingt ausbilden, beschreibt eine gewisse, individuell unterschiedliche Möglichkeit des Bewusstseins, bottom-up-Impulse zu hemmen.114 In Aus der Sicht des Gehirns (20092) weist Roth den Epiphänomenalismus explizit zurück: Für einen Neurobiologen und Neuropsychologen klingt ein solcher Epiphänomenalismus absurd, denn warum sollte das Gehirn einen solchen stoffwechsel- und neurophysiologischen Aufwand treiben für etwas, was nutzlos ist? So etwas hätte sich sehr wahrscheinlich in der Evolution gar nicht ausgebildet.115
genauso wie die letztendliche Entscheidung im Zusammenspiel bewusster corticaler und unbewusster subcorticaler Prozesse, und dieses Zusammenspiel unterliegt nach allem, was wir wissen, dem Prinzip der neuronalen Kausalität – so komplex sie sein mag. Auch hier gibt es keine ‚rein geistige‘ Verursachung.“ (AaO. 161). 113 Roth, Fühlen, 375. 114 Vgl. Pauen/Roth, Freiheit, 101 f.; Roth, Persönlichkeit, 103 f. 115 Roth, Aus Sicht, 141. Vgl. auch Roth, Einzigartig, 15: Hier schreibt er, der Epiphänomenalismus sei „aus evolutionsbiologischer Sicht interessant“ weil er die Frage aufwerfe, „warum sich geistige Zustände evolutionär herausbilden konnten, ohne eine Funktion zu haben.“ Hier ist die Distanzierung vom Epiphänomenalismus nicht so scharf wie im oben zitierten Text.
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Roth relativiert aber sofort die Überzeugungskraft dieser Einwendung. Mög licherweise ist ihm bewusst, dass das Argument keine durchschlagende Instanz gegen den philosophischen Gegner darstellt. Im Folgenden will er dann „die Sache einfacher angehen und schlicht fragen, ob es denn Dinge gibt, die wir nicht ohne Bewusstsein tun können“116. Diese Frage muss nach dem Kontext dahingehend verstanden werden: „Was tun wir faktisch nicht ohne Bewusstsein?“ Daraufhin gibt Roth diese Definition des Bewusstseins: Wir können also aus neurobiologischer und psychologischer Sicht Bewusstsein als eine besondere Art der Informationsverarbeitung ansehen, die dann erforderlich ist, wenn komplexe und umfangreiche Daten schnell und auf neue Art miteinander verknüpft bzw. verglichen werden sollen, und wenn dies für das Gehirn in irgendeiner Hinsicht wichtig ist. Dies ‚bezahlt‘ das Gehirn mit hohen Stoffwechselkosten. Deshalb wird auch verständlich, dass das Gehirn dazu tendiert, Routinen auszubilden, deren Ausführung stoffwechselphysiologisch billig sind. Damit verlieren die Prozesse der Informationsverarbeitung aber auch ihre Flexibilität.117
In der hier zitierten Textpassage wird nun doch nicht nur die schwächere Frage beantwortet, was wir faktisch nicht ohne Bewusstsein tun, sondern eine Erklärung für die Notwendigkeit des Bewusstseins für bestimmte komplexe Vorgänge gegeben. Denn Roths Definition impliziert die These: Bewusstsein ist notwendig, wenn komplexe Daten verarbeitet werden müssen. Aber damit ist die These des Epiphänomenalisten noch immer nicht widerlegt, welche besagt, „dass unser Gehirn all das ausführen kann, was es leistet, ohne dass es dabei Bewusstsein haben muss“118. Es ist bedauerlich, dass Roth hier mit wenig geschärfter Begrifflichkeit ein Problem der Bewusstseinsforschung einerseits umgehen will, andererseits dann doch einen nicht durchgeführten Lösungsvorschlag macht.119 116 Roth, Aus Sicht, 141. 117 AaO. 142. Auch dieser Text erklärt die oben (vgl. S. 125 f.) festgestellte Diskrepanz zwischen Libets Experimenten und dem Rothschen Entscheidungs- und Handlungssteuerungsmodell. Denn Libets Probanden mussten eine sehr routinierte Handlung ausführen, während Roth die komplexeren Entscheidungssituationen berücksichtigt. Pauens Einwand gegen die Aussagekraft von Libets Experimenten lautete, dass die einzige wirkliche Entscheidung von Libets Probanden darin bestanden habe, sich zu entscheiden, ob sie am Experiment teilnehmen wollten oder nicht (Vgl. Pauen, Illusion, 202). 118 Roth, Aus Sicht, 141. 119 In den Zusammenhang von Roths Zurückweisung des Epiphänomenalismus gehört auch die folgende Stelle gegen den Reduktionismus: „Das ärgerlichste ist, daß man Hirnforschern hartnäckig, aber fälschlich unterstellt, sie wollten das Mentale und Psychische auf das Feuern von Neuronen reduzieren oder gar aus unserer Redeweise eliminieren. Hier zeigt sich, daß solche Kritiker die kritisierten Texte nicht gelesen haben. Ich habe mehrfach ausführlich gezeigt, daß meine Auffassung, bewußtseinsbegleitete Hirnzustände hätten gegenüber unbewußten Hirnprozessen besondere Funktionen, mit einem reduktionistischen und erst recht eliminativen Ansatz unvereinbar ist.“ Roth, Wir sind determiniert, 222.
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3.3.4 Roths neurobiologische Interpretation von Grundbegriffen der philosophischen Anthropologie Roth kommt in seinen neurobiologischen Monografien immer wieder auf die philosophisch- anthropologische Diskurstradition der westlichen Geistesgeschichte zu sprechen. Er versucht, die neurobiologischen Erkenntnisse der letzten Jahrzehnte auf traditionelle philosophische Begriffe abzubilden. So soll im neurobiologischen Sprachspiel ausgedrückt werden, was die Tradition unter Begriffen und Begriffsgruppen wie „Vernunft/Verstand/Gefühl“, „Bewusstes/Vorbewusstes/Unbewusstes“ und „Ich-Zustände/autonomes Subjekt“ verstand. In den folgenden Abschnitten sollen diese Übersetzungs- bzw. Anknüpfungsversuche vorgestellt werden.
3.3.4.1 Verstand, Vernunft und Gefühle In den frühen Werken Fühlen Denekn Handeln (2001, 20032) und Aus Sicht des Gehirns (2003, 20092) differenziert Roth zwischen Gefühlen im weiteren Sinne (Müdigkeit, Durst, Hunger, Geschlechtstrieb usw.), Affekten (Wut, Zorn, Hass und Aggressivität) sowie Emotionen im engeren Sinne wie Furcht, Angst, Enttäuschung, Glück u. a. m.120 Diese Gefühle haben ihren Ursprung im limbischen System, sind aber auch „mit Aktivitäten in der Großhirnrinde verbunden“.121 Den Gefühlen stehen Verstand und Vernunft gegenüber. Den Verstand definiert Roth als „die Fähigkeit zum Problemlösen mit Hilfe von erfahrungsgeleitetem und logischem Denken […]. Der Verstand ist somit weithin identisch mit dem Begriff der Intelligenz“. Unter Vernunft versteht er „die Fähigkeit zu mittel- und langfristiger Handlungsplanung aufgrund übergeordneter zweckrationaler und ethischer Prinzipien.“122 Auch diese beiden Seelenfunktionen, Verstand und Vernunft, ordnet Roth bestimmten Gehirnregionen zu: Die Verstandesfunktion gehöre „vornehmlich dem dorsolateralen präfrontalen Cortex“ an, während die Vernunft „vornehmlich eine Funktion des unteren, über den Augen liegenden Stirnhirns, des orbitofrontalen und ventromedialen Cortex“123 sei. Diese drei Seeleninstanzen werden in dieser Zeit einem anatomisch-funktionalem Drei-Ebenen-Modell zugeordnet.124 Die „bewusste[n] kognitive[n], emotionale[n] und exekutive[n] Zustände“ befinden sich auf ein und derselben Ebene, welche dem dorsolateralen und orbitofrontalen präfrontalen Cortex sowie dem cingulären, parietalen und 120 Vgl. Roth, Aus Sicht, 168 f. 121 AaO. 170. 122 AaO. 168. 123 AaO. 169. 124 Vgl. Roth, Fühlen, v. a. 373–376, und 490–493.
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Willensfreiheit aus neurobiologischer Perspektive
Bewusste kognitive, emotionale und exekutive Zustände Dorsolateraler, orbitofrontaler PFC, cingulärer, parietaler und temporaler Cortex
LANGSAMES, IMPLIZITES, NACHHALTIGES LERNEN UND UMLERNEN
Emotionale positive und negative Konditionierung Basolaterale Amygdala, mesolimbisches System, limbische thalamische Kerne, Insel
SCHNELLES, EXPLIZITES LERNEN UND UMLERNEN DETAILS
Episodisch-autobiografisches Gedächtnis, nicht emotional Cortex – Hippocampus
Angeborene Affektzustände Autonomes NS, Hypothalamus, retikuläre Formation, PAG, mesolimbisches System, zentrale Amygdala
Abb. 7: Grafik des Drei-Ebenen-Modells aus Fühlen, Denken, Handeln. Obere Ebene: Bewusste Zustände; Mittlere Ebene: Emotionale Konditionierung und episodischautobiographisches Gedächtnis; Untere Ebene: Angeborene Affektzustände.125
temporalen Cortex zugeordnet sind. Das bedeutet: Es gibt hier noch keine Ebenentrennung zwischen der späteren oberen limbischen Ebene und der kognitivkommunikativen Ebene, erst recht keine Ebenentrennung zwischen Rationalität und Emotionalität.126 Das Vier-Ebenen-Modell begegnet uns in seiner ausgereiften Form in dem Buch Persönlichkeit, Entscheidung und Verhalten (2007). Hier beschreibt Roth die vegetativ-affektive Ebene (die untere limbische Ebene) so, dass auf ihr die Affekte stattfinden, wie es schon im Drei-Ebenen-Modell der Fall war. Auch die Gefühle und Emotionen im engeren Sinn befinden sich wie früher auf der mittleren limbischen Ebene (Ebene der emotionalen Konditionierung).127 Die ehemals obere Ebene wird jetzt aber aufgeteilt in eine obere limbische Ebene und in eine kognitiv-kommunikative Ebene, die den limbischen Ebenen gegenüber steht. Die obere limbische Ebene ist jetzt nur noch der Ort von sozialem Lernen, Sozialverhalten, Einschätzung der Handlungskonsequenzen und ethischer Überlegungen. Dies sind genau die Funktionen, die Roth in dem früheren Werk als Vernunft bezeichnet hatte. Was Roth im Drei-Ebenen-Modell als Verstand definierte, 125
125 Nach Roth, Fühlen, 374. 126 AaO. 374. 127 Vgl. Roth, Persönlichkeit, 90–92.
Gerhard Roths neurobiologische Anthropologie KOGNITIVKOMMUNIKATIVES ICH Linker assoziativer Neocortex Broca-Wernicke-Areal
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INDIVIDUELLSOZIALES ICH Rechter assoziativer Neocortex OFC, VMC, ACC, IC
UNBEWUSSTES SELBST Emotionale Konditionierung, Belohnung, Motivation BI Amy, VTA, NAcc, Basalgang Vegetativ-affektives Verhalten Hyth, Z Amy, PAG, Yeget. Hirnst.
Abb. 8: Grafik des Vier-Ebenen-Modells aus Persönlickeit, Entscheidung und Verhalten. Obere limbische Ebene: Rechter assoziativer Neocortex; Kognitiv-kommunikative Ebene: Linker assoziativer Neocortex; Darunter mittlere und untere limbische Ebene.128
wird im späteren Buch auf der kognitiv-kommunikativen Ebene verankert.129 In der Konsequenz dieser Einsicht liegt die Annahme, dass die unteren limbischen Ebenen nicht-rational, die obere limbische Ebene hingegen (mit der Vernunft) und die kognitiv-kommunikative Ebene (mit dem Verstand) Orte der Rationalität sind. Roth äußert sich in Persönlichkeit, Entscheidung und Verhalten (2007) zwar nirgends explizit in diesem Sinne. Doch seine Beschreibung der Handlungssteuerung ist so gehalten, dass man von einem harmonischen Zusammenspiel bewusst rationaler, bewusst emotionaler und unbewusster Hirnareale ausgehen kann.130 Eine noch weitere Entwicklungsstufe von Roths Denken finden wir in dem mit Pauen verfassten Werk über Freiheit, Schuld und Verantwortung (2008). Das Vier-Ebenen-Modell131 entspricht der Darstellung in Persönlichkeit, Entscheidung und Verhalten. Die interessantesten Handlungssteuerungsmechanismen betreffen hier die so genannten emotional-sozialen-rationalen Entscheidungen. Sie finden im Zusammenspiel von oberer limbischer Ebene und kognitiv-rationaler Ebene statt. Mit der Einführung des Synonyms ‚kognitiv-rationale 128
128 Nach Roth, Persönlichkeit, 91. 129 Vgl. aaO. 93 f. 130 Vgl. aaO.176–179. Allerdings könnte die Grafik aaO. 91 („Dicke der Pfeile“) darauf hinweisen, dass Roth doch schon von einem leichten Übergewicht der emotionalen Funktionen ausgeht. Eine schlüssige Klärung dieses Sachverhaltes findet sich in diesem Buch nicht. 131 Vgl. Pauen/Roth, Freiheit, 103–105.
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Willensfreiheit aus neurobiologischer Perspektive
Ebene‘ für die ‚kognitiv-kommunikative Ebene‘ wird deren Unterscheidung von der oberen limbischen Ebene, die nur noch als emotional erscheint, noch stärker betont. Dies wird durch Roths Formulierung noch verstärkt, „daß rationale Prozesse alleine nicht unmittelbar handlungswirksam“ werden können, bzw. dass „die Verstandes- und Intelligenzebene […] sich […] vollständig abkoppeln [kann] von den drei anderen Ebenen“, also den drei limbischen. Dass auf der oberen limbischen Ebene aber die Vernunft mit ihrer Rationalität angesiedelt war, wird in diesem Kontext nicht mehr erkennbar.132 Nimmt man noch hinzu, dass nach Roth jetzt die emotionalen Faktoren das erste und das letzte Wort bei der Entscheidungsfindung haben133, so erscheint hier der Beitrag der theoretischen Vernunft zur Handlungssteuerung als vollständig marginalisiert. Dieser Befund steht damit im Einklang, dass Roth an dem Bestreben teilnimmt, das Verhältnis von Verstand und Gefühl gegen den kulturgeschichtlichen Mainstream in Europa zu korrigieren und den Emotionsbegriff zu rehabilitieren. Seit Platon und Aristoteles sei der edle Verstand den mehr oder weniger niedrigen Gefühlen entgegengesetzt worden. Die Stoa und Immanuel Kant haben diese Linie fortgesetzt, so dass die „‚Diktatur des Verstandes und der Vernunft‘ […] bis in unsere Zeit hinein ihre pädagogischen Auswirkungen gehabt [habe], insbesondere in der Vorstellung, dass Selbstbeherrschung, Tugend und Unterdrückung der Gefühle der Kern jeglicher Erziehung seien.“134 Gegenbewegungen gegen diese Diktatur, wie etwa der Epikureismus, der Sturm und Drang und die Romantik konnten nicht viel ausrichten, bis, angestoßen durch Sigmund Freud, die Emotionsforschung in den achtziger Jahren zu einem ersten Höhepunkt gelangte.135 Roths Kritik an der Dominanz der theoretischen Vernunft über die Emotionen ist völlig berechtigt. Aber möglicherweise läuft er in dem Buch Freiheit, Schuld und Verantwortung Gefahr, nun seinerseits die Vernunft zu stark an den Rand zu drängen, zumindest in seiner Begrifflichkeit. Wenn man hingegen eine seiner Kapitelüberschriften als zusammenfassende These seiner Anschauung zum Thema Gefühl und Verstand/Vernunft nehmen dürfte, so wäre dem berechtigten Interesse an der Korrektur der Begriffsgeschichte volles Genüge getan, ohne gleichzeitig andere problematische Weichenstellungen vorzunehmen. Diese These lautet: „Kognition ist nicht ohne Emotion möglich“.136
132 Und dies, obwohl die funktionale Beschreibung der oberen limbischen Ebene sich im Vergleich zu früher nicht geändert hat. Vgl. aaO. 106 f. 133 Vgl. aaO. 97. Oben zitiert auf Seite 106. 134 Vgl. Roth, Persönlichkeit, 106 f.; Zitat 108. 135 Vgl. aaO. 108–110. 136 Roth, Das Gehirn, 211.
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Roth schreibt also dem Gefühl und der Vernunft im Lauf seines Werkes wechselnde Kompetenzen zu. Damit hängen auch die verschiedenen Verhältnisbe stimmungen zwischen diesen beiden Größen zusammen, die man in seinen einzelnen Veröffentlichungen findet. In der folgenden Stelle aus Aus Sicht des Gehirns (2009) stehen Gefühl und Vernunft in einer sehr engen Beziehung zueinander. Es „wird das soeben Wahrgenommene (ein Gegenstand, eine Person, eine Entscheidungssituation) unbewusst identifiziert, und es wird das Vertrautheitsgedächtnis abgefragt, ob uns dies bereits bekannt ist, und das emotionale Gedächtnis wird nach eventuell vorliegenden emotionalen Bewertungen durchsucht. Wenn uns das Wahrgenommene dann bewusst wird, ist auch gleich ein bestimmtes Gefühl vorhanden, sofern wir bereits über entsprechende Erfahrungen verfügen. Dasselbe gilt für Vorstellungen, die unbewusst in uns aufgerufen werden und dann von Gefühlen begleitet sind. Insbesondere Letzteres ist bei unserer Handlungsplanung wichtig. Wir überlegen uns, ob wir dies oder jenes tun sollen, und Gefühle werden in uns spürbar, die uns zu- oder abraten. Ist noch keine emotionale Erfahrung vorhanden oder ist das Ganze völlig neu, dann heißt das ‚Kommando‘: ‚Tue irgendetwas, das sinnvoll erscheint, schau, was dies für Folgen hat und merk dir diese Folgen!‘137
Gefühle nehmen somit eine Beraterfunktion ein. Dabei sei es belanglos, ob sie unbewusst oder bewusst erlebt werden. Ihr Rat könne entweder spontan affektiv erfolgen, indem uns die Affekte in Hinblick auf Dinge zu- oder abraten, die angeborenermaßen als positiv oder negativ bewertet werden, oder die Beratung beruhe auf den emotional bewerteten Erfahrungen von Handlungskonsequenzen, die wir im Laufe unseres Lebens gemacht haben. Roth betrachtet diese emotionale Verhaltenssteuerung als die vernünftigste Form überhaupt.138 Er identifiziert mit diesem Urteil in fast paradoxer Weise das Gefühl mit der höchsten Stufe der Vernunft, während in der Tradition diese beiden Größen im Gegensatz zueinander stehen. Weiterhin liegt auch eine Verkehrung der Rangfolge beider Größen vor, insofern das Gefühl den Verstandesfunktionen jetzt übergeordnet wird. Andere Aussagen Roths zum Verhältnis von Gefühl und Verstand/Vernunft können nicht in dieser Weise interpretiert werden. So fragt er beispielsweise, wozu der Verstand überhaupt noch notwendig sei, wenn Gefühle schon derart hilfreich bei der Verhaltenssteuerung seien. Die Antwort auf diese Frage lautet, dass die limbischen Zentren zwar in der Lage seien, Dinge, Personen und Geschehnisse schnell und nachhaltig zu bewerten, jedoch nicht dazu, komplexe Sachverhalte zu verarbeiten und langfristige Handlungsplanung zu betreiben. Das limbische System wisse,
137 Roth, Aus Sicht, 172 f. 138 Vgl. aaO. 173.
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dass es beim Vorliegen einer komplexen Situation gut daran tut, die Großhirnrinde und damit Verstand und Vernunft heranzuziehen. Dadurch werden wir zu vernünftigen Personen, die in der Lage sind, die Folgen ihres Handelns ruhig abzuwägen, anstatt impulsiv zu reagieren.139
Hier erscheinen Verstand und Vernunft als Größen, die einen Mangel des Gefühls auszugleichen haben. Es ist zwar die emotionale Ebene, die (fast im sokratischen Sinne) ‚weiß‘, dass sie Verstand und Vernunft nötig habe. Aber doch mache erst der Vernunftgebrauch die Person wirklich vernünftig. Hier könnte man die traditionelle Auffassung von der Überordnung der Vernunft über die Gefühle durchscheinen sehen. Eine dritte Verhältnisbestimmung lässt sich aus einer wichtigen Stelle erschließen, die schon oben im Kontext der Handlungssteuerung bzw. Entscheidungsfindung herangezogen wurde: Das limbische System hat gegenüber dem rationalen corticalen System das erste und das letzte Wort. Das erste beim Entstehen unserer Wünsche und Zielvorstellungen, das letzte bei der Entscheidung darüber, ob das, was sich Vernunft und Verstand ausgedacht haben, jetzt und so und nicht anders getan werden soll. Der Grund hierfür ist, dass alles, was Vernunft und Verstand als Ratschläge erteilen, für den, der die eigentliche Handlungsentscheidung trifft, emotional akzeptabel sein muss. Es gibt also ein rationales Abwägen von Handlungen und Alternativen und ihren jeweiligen Konsequenzen, es gibt aber kein rein rationales Handeln. Am Ende eines noch so langen Prozesses des Abwägens steht immer ein emotionales Für und Wider. Die Chance der Vernunft ist es, mögliche Konsequenzen unserer Handlungen so aufzuzeigen, dass damit starke Gefühle verbunden sind, denn nur durch sie kann Verhalten verändert werden.140
Hier arbeiten Vernunft und Gefühl so zusammen, dass beide notwendige Beiträge zur Entscheidungsfindung leisten. Es geht also weder ohne Vernunft noch ohne Gefühl, was sich als gegenseitig ergänzendes Verhältnis verstehen ließe. Dennoch spricht Roth dem Gefühl das erste und letzte Wort zu. Damit wird doch eine Dominanz des Gefühls suggeriert. Aber ist diese sachlich gerechtfertigt, wenn es doch ohne das „mittlere Wort“ der Vernunft zu keiner angemessenen Entscheidungsfindung kommt? Zusammenfassend lässt sich also feststellen, dass in Roths Sprachgebrauch die Begriffe Vernunft, Verstand und Gefühl in verschiedenen Verhältnissen zueinander erscheinen. Diese Verhältnisse sind nicht endgültig definiert worden.
139 AaO. 173. 140 AaO. 175. Oben zitiert auf Seite 106.
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3.3.4.2 Das Bewusste, das Vorbewusste und das Unbewusste Wir haben schon in der Einleitung zu diesem Kapitel darauf hingewiesen, dass in der Neurobiologie, anders als in der Philosophie, die Willensfreiheitsthematik eher an dem Begriffspaar bewusst/unbewusst diskutiert wird, das in Verbindung steht zu dem Paar Vernunft/Gefühl, ohne sich vollständig mit ihm zu decken. Daher stehen wir an dieser Stelle vor Begriffen, die zentral für die philosophische Aufbereitung neurobiologischer Theoriebildung sind. 3.3.4.2.1 Das Bewusste Nach Roth handelt es sich beim Bewusstsein nicht um ein einheitliches Phänomen, sondern um ein Bündel inhaltlich sehr verschiedener Zustände. Ihnen sei gemeinsam, dass sie von einem Individuum erlebt und sprachlich berichtet werden können.141 Die allgemeinste Form von Bewusstsein sei der Zustand von Wachheit. Diese so genannte Vigilanz sei meist mit konkreten Inhalten verbunden. Dabei handle es sich um: 1.) Sinneswahrnehmungen von Vorgängen in der Umwelt und im eigenen Körper, 2.) mentale Zustände und Tätigkeiten wie Denken, Vorstellen und Erinnern, 3.) Selbst-Reflexion, 4.) Emotionen, Affekte, Bedürfniszustände, 5.) Erleben der eigenen Identität und Kontinuität, 6.) „Meinigkeit“ des eigenen Körpers, 7.) Autorschaft und Kontrolle der eigenen Handlungen und mentalen Akte sowie Willenszustände, 8.) Verortung des Selbst und des Körpers in Raum und Zeit, 9.) Realitätscharakter von Erlebtem und Unterscheidung zwischen Realität und Vorstellung.142
Grundsätzlich sei zu unterscheiden zwischen Zuständen des Aktualbewusstseins (Zustände 1–4) und des Hintergrundbewusstseins (Zustände 5–9).143 Für das Aktualbewusstsein seien ständig wechselnde Inhalte charakteristisch, die deutlich mit dem Ich-Erleben zusammenhingen. Hier spiele vor allem das sensorische Erlebnisbewusstsein eine Rolle, das unsere sinnliche Welt und unser Körpererleben in mannigfacher Form zum Inhalt habe. Dazu zählen die Sinneswahrnehmungen wie Sehen, Hören, Tasten, Riechen und Schmecken und die gefühlten Zustände und Bewegungen unseres Körpers. Diese Inhalte seien durch Detailreichtum und Lebhaftigkeit gekennzeichnet, und wir empfinden sie als von unserem Ich, das diese Wahrnehmungserlebnisse habe, verschieden.144 Von diesen Zu 141 Vgl. Roth, Persönlichkeit, 76. 142 Roth, Bildung, 135 f. 143 Vgl. aaO.136. 144 Vgl. Roth, Aus Sicht, 132.
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ständen des sensorischen Erlebnisbewusstseins unterscheide sich die Wahrnehmung von Affekten, Gefühlen, Wünschen, Vorstellungen, Absichten und Erinnerungen. Aufmerksamkeit bilde eine dritte Form des Aktualbewusstseins. Sie stelle eine Steigerung des einfachen Aktualbewusstseins dar, insofern sie dieses schon voraussetze.145 Roth unterscheidet die Zustände von reaktiver Aufmerksamkeit und aktiver Aufmerksamkeit. Während die reaktive Form durch äußere, überraschende und auffallende Ereignisse hervorgerufen werde, sei die aktive Aufmerksamkeit stets nach innen gelenkt und verstärke Wahrnehmungen, Gefühle und Schmerzen sowie geistige Tätigkeiten.146 Im Unterschied zum Aktualbewusstsein umfasse das Hintergrundbewusstsein (Zustände 5–9) länger anhaltende Bewusstseinszustände, die eine Art Rahmen für das Aktualbewusstsein bilden.147 Bewusstseinszustände seien an Aktivitäten der Großhirnrinde gebunden. Dementsprechend verschwinde das Bewusstsein, wenn die Großhirnrinde nicht mehr tätig sei. Doch auch wenn die Großhirnrinde der entscheidende Ort für das Bewusstsein sei, bedeute dies im Umkehrschluss nicht, dass alle corticalen Vorgänge bewusst abliefen. Eine Erregung könne „unterschwellig“ (und damit unbewusst) bleiben, wenn eine zu geringe Zahl corticaler Neurone erregt werden oder wenn die Aktivität der Neurone nicht hoch genug sei. Das gelte für viele Prozesse, die in den primären und sekundären sensorischen Arealen der Großhirnrinde ablaufen, bevor etwas sinnlich bewusst werde. Von dieser unbewussten Vorverarbeitung von Sinnesdaten bemerke man nichts. Das Gehirn ermögliche uns die Annahme, dass wir die Dinge in der Welt ohne Verzögerung wahrnehmen können. Roth betont an dieser Stelle nachdrücklich, dass alle Vorgänge, die außerhalb der Großhirnrinde ablaufen, vollkommen unbewusst seien. Allerdings sei nicht klar, woran dies liege. Roth vermutet jedoch, dass die Bewusstseinsfähigkeit der assoziativen Areale der Großhirnrinde mit ihrem gleichförmigen Aufbau, mit ihrer umfassenden Speicherkapazität und mit ihrer Fähigkeit zur sehr schnellen Umverknüpfung ihrer Netzwerke zusammenhänge. All diese Eigenschaften können von den Hirnteilen, die außerhalb der Großhirnrinde liegen, nicht erbracht werden.148 145 Vgl. Roth, Persönlichkeit, 77. 146 Vgl. Roth. Aus Sicht, 132. 147 Vgl. aaO. 133. Dass eine Unterscheidung der verschiedenen Bewusstseinszustände vorgenommen werde, liege vor allem an den Erkenntnissen der Neurologie und der Neurobiologie. Es habe sich herausgestellt, dass es Patienten gebe, die in einem bestimmten Bewusstseinszustand gestört seien, in den anderen aber völlig normal agierten. Beispielsweise könne das Identitätsbewusstsein gestört sein, so dass man glaube, mehr als eine Person zu sein. Zudem habe nachgewiesen werden können, dass die Aktivität unterschiedlicher Teile des Gehirns mit unterschiedlichen Bewusstseinszuständen verbunden sei und dass Verletzungen dieser Teile entsprechende Beeinträchtigungen der unterschiedlichen Bewusstseinszustände mit sich bringen. 148 Vgl. aaO. 137.
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In den assoziativen Arealen werden schließlich sinnvolle und bedeutungshafte Zusammenhänge gebildet. Genau in diesem Moment werden wir uns der Wahrnehmungsinhalte bewusst. Der Bewusstwerdungsprozess von Inhalten sei vergleichsweise langsam, er vollziehe sich in einem Zeitraum von 300 Millisekunden bis zu einer Sekunde (bei komplexen Wahrnehmungen).149 Warum aber hat man überhaupt ein Bewusstsein? Bei der Beantwortung dieser Frage kann zunächst festgehalten werden, dass es uns das Bewusstsein ermögliche, mit komplexen Situationen zurecht zu kommen. Dies betreffe alle Dinge, die ungewohnt, kompliziert und von Bedeutung seien, wie beispielsweise ungewohnte Bewegungsabläufe oder das Erfassen des Sinnes einer komplizierten Äußerung.150 3.3.4.2.2 Das Vorbewusste Das Vorbewusste stellt eine Art Übergang zwischen dem Bewussten und dem Unbewussten dar. Es handle sich dabei um den Speicher von sämtlichen Inhalten, die einem Menschen im Laufe seines Lebens schon einmal bewusst waren und die durch aktives Erinnern oder bestimmte Hinweisreize wieder bewusst werden können. Roth gibt dafür dieses Beispiel: Ich will am Automaten Geld von meinem Konto abheben und erinnere mich in diesem Augenblick (hoffentlich) an die Geheimnummer; ich werde in einer Prüfung oder in einem Gespräch nach etwas gefragt, und es fällt mir (hoffentlich) sofort ein. Ich lese einen bestimmten Namen, und da fällt mir ein, dass ich einer Person gleichen oder ähnlichen Namens unbedingt eine Nachricht schicken muss. Kurz zuvor waren diese Inhalte nicht in meinem Bewusstsein, manche Dinge fallen spontan ein, und manche Dinge kann ich auch gar nicht aus meinem Bewusstsein verdrängen (z. B. bestimmte Dinge, die mir Sorge machen).
Das Vorbewusste sei identisch mit dem sprachlich zugänglichen, dem deklarativen Gedächtnis. Ob bzw. wie leicht ein vorbewusster Inhalt bewusst werden könne, hänge von der Art seiner Speicherung im deklarativen Gedächtnis ab und von so genannten „Zensoren“. Das sind Kräfte, die die Bewusstwerdung kontrollieren und ggf. auch verhindern können.151
149 Vgl. aaO. 138. 150 Vgl. aaO. 141. 151 Roth, Persönlichkeit, 80. Roth bezieht sich hier auf den „Zensor“, der an dem von Sigmund Freud beschriebenen Prozess der Verdrängung beteiligt sei.
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3.3.4.2.3 Das Unbewusste Im Gegensatz zum Bewusstsein seien unbewusste Inhalte nicht sprachlich berichtbar. Unbewusste Vorgänge verlaufen mit größerer Geschwindigkeit und führen zu keinen so auffälligen Konsequenzen wie bewusste. Oft fielen sie kaum auf, weshalb sie auch gelegentlich völlig geleugnet würden.152 Das Unbewusste umfasst nach Roth diese Vorgänge153: (1) Vorgänge in Gehirnregionen außerhalb der assoziativen Großhirnrinde; (2) vorbewusste Inhalte von Wahrnehmungsvorgängen; (3) unterschwellige (subliminale) Wahrnehmungen154; (4) Wahrnehmungsinhalte außerhalb des Fokus unserer Aufmerksamkeit; (5) alle perzeptiven, kognitiven und emotionalen Prozesse, die im Gehirn des Fötus, des Säuglings und des Kleinkindes vor Ausreifung des assoziativen Cortex ablaufen155; 152 Vgl. Roth, Fühlen, 226. 153 AaO. 227. Die einzelnen Kategorien dieser Liste werden aaO. 227–236 anschaulich erläutert. Eine verkürzte Darstellung findet sich bei Roth, Persönlichkeit, 78 f. 154 Die so genannte subliminale Wahrnehmung mache den größten Teil unserer laufenden Wahrnehmungsprozesse aus und sei besonders für Lernen, Gedächtnis, Emotionen und Verhaltenssteuerung von Bedeutung. Durch Experimente konnte etwa gezeigt werden, dass Buchstaben oder Zahlen, die in so schwacher Form dargeboten wurden, dass sie in ihrer Bedeutung nicht mehr bewusst erfahrbar waren, dennoch ihr späteres Wiedererkennen deutlich unterstützten (Vgl. Roth, Fühlen, 229). Ein solcher Vorgang wird auch als „priming“ oder „Bahnen“ bezeichnet. – Die subliminale Wahrnehmung spiele vor allem dann eine Rolle, wenn es sich um emotionales oder handlungsrelevantes Priming handle. Es können jedoch nur bei einfachen Reizmerkmalen Effekte auftreten und zudem nur Handlungen betreffen, die mehr oder weniger automatisiert sind bzw. schnell ablaufen müssen und deshalb keinen besonderen Aufwand an Bewusstsein und Aufmerksamkeit verlangen. Roth nennt als Beispiel die im Kino als subliminal dargebotene Coca-Cola-Flasche, die die Zuschauer veranlassen soll, in der Pause eine Cola zu kaufen. Eine solche unterschwellige Reiz-Reaktion ist laut Experten jedoch nicht möglich, da subliminale Hinweisreize nur bei einfachen Wahlaufgaben eine Auswirkung haben können. Die Probanden können also höchstens bei einer spontanen Entscheidung zwischen Pepsi-Cola und Coca-Cola beeinflusst werden, nicht aber beim Starten einer solch komplexen Handlungskette wie Aufstehen, Hinausgehen, Bestellen und Bezahlen. Darüberhinaus sei es auch nicht möglich, den Wunsch nach einem bestimmten Produkt durch subliminale Wahrnehmung zu erzeugen, sondern lediglich ein bereits vorhandenes Bedürfnis, wie etwas zu trinken, zu verstärken. (Vgl. Roth, Fühlen, 234). 155 Die Ausreifung des bewusstseinsfähigen assoziativen Cortex sei meist mit dem dritten bis vierten Lebensjahr erreicht. Roth betont in diesem Zusammenhang: „Das soeben Gesagte bedeutet nicht, dass Neugeborene oder Kleinkinder vor dem vierten Lebensjahr kein Bewusstsein hätten; jedenfalls zeigen sie Zeichen von Aufmerksamkeit und kurzfristigen Erinnerungen, die ohne Aktualbewusstsein nicht denkbar sind. Diese scheinen aber nicht in das Langzeitgedächtnis einzugehen oder zumindest nicht so, dass sie später bewusst abgerufen werden können. Grund hierfür ist offenbar, dass das cortico-hippocampale System sowie der frontotemporale Cortex, die beide für das autobiographische Gedächtnis zuständig sind, noch nicht genügend ausgereift sind, um den Strom des Ich-Bewusstseins zu konstituieren, der für unsere bewusste psychische Existenz unabdingbar ist. Ausgereift sind hingegen all diejenigen subcorticalen Zentren, die dem emotionalen, limbischen Gedächtnis zugrunde liegen, d. h. vor allem
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(6) konsolidierte Inhalte des prozeduralen Gedächtnisses156; (7) Inhalte des deklarativen Gedächtnisses, die ins Unbewusste abgesunken sind („vergessen“ wurden) und unter günstigen Bedingungen wieder bewusst gemacht („erinnert“) werden können; (8) „verdrängte“ Gedächtnisinhalte des autobiografischen Gedächtnisses. Vergleicht man die Elemente (2) und (7) in dieser Liste mit der Definition des Vorbewussten, so wird anschaulich, dass sich Unbewusstes und Vorbewusstes nicht scharf voneinander unterscheiden lassen. Wichtig ist aber ohnehin das Zusammenspiel von Bewusstsein auf der einen Seite und Vorbewusstem und Unbewusstem auf der anderen.
3.3.4.2.4 Unbewusste Automatismen und bewusste Kontrolle Wie wir gesehen haben, hat sich die neurobiologische Diskussion des Themas Willensfreiheit stark verschoben auf das Verhältnis von bewusst entschiedenen und unbewusst angebahnten Handlungen. Nach Roth ist das Unbewusste für automatisierte bzw. implizite Prozesse zuständig. Diese sind durch folgende Merkmale gekennzeichnet: 1.) Sie sind unabhängig von der Begrenzung kognitiver Ressourcen; 2.) ihre willentliche Kontrolle ist schwach oder nicht vorhanden; 3.) Aufmerksamkeit und Bewusstsein sind nicht notwendig oder stören bei ihnen sogar; 4.) sie laufen schnell und mühelos ab; 5.) sie sind meist unimodal; 6.) ihre Fehleranfälligkeit ist gering; 7.) sie verbessern sich durch Übung, sind aber gleichzeitig schwer veränderbar, wenn sie erst einmal eingeübt bzw. konsolidiert sind; 8.) sie sind in ihren Details sprachlich nicht berichtbar.157
Bei diesen unbewusst ablaufenden Prozessen könne die Informationsverarbeitung als überwiegend „flach“ betrachtet werden. Das bedeutet, dass sich die Prozesse an einfachen bzw. hervorstechenden Merkmalen orientieren und lediglich einfache Bedeutungen verarbeiten. Heute könne man davon ausgehen, dass ihnen eine überwiegend parallele Informationsverarbeitung zugrunde liege.158 Amygdala und mesolimbisches System. Das in dieser Zeit Erlebte prägt sich tief in das emotionale Gedächtnis ein und formt dasjenige, was man Persönlichkeit und Charakter nennt.“ (Roth, Fühlen, 236). 156 Das prozedurale Gedächtnis enthalte alles, was wir beherrschen, ohne dass wir uns darüber im Klaren seien, wie wir diese bestimmten Fertigkeiten überhaupt genau ausführen. Hierzu gehören beispielsweise Fahrradfahren, Klavierspielen oder Schnürsenkel zubinden. Sobald diese Fertigkeiten richtig eingeübt wurden, benötige man kein Bewusstsein für die Details mehr; vgl. Roth, Persönlichkeit, 79. 157 Vgl. Roth, Fühlen, 237 f. 158 Ebd.
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Im Gegensatz dazu fallen kontrollierte bzw. explizite Prozesse in die Zuständigkeit des Bewusstseins. Sie sind durch folgende Faktoren bedingt: 1.) Sie „hängen stark von der Bereitstellung kognitiver Ressourcen ab […]; 2.) sie benötigen Aufmerksamkeit und Bewusstsein; 3.) sie laufen langsam ab […] und sind häufig mühevoll; 4.) sie benötigen einen intensiven Zugriff auf das Langzeitgedächtnis; 5.) sie sind sehr störungsanfällig; 6.) sie zeigen nur geringe Übungseffekte; sie sind jedoch 7.) schnell veränderbar und 8.) sprachlich berichtbar.
Explizite Prozesse weisen im Allgemeinen eine multimodale, auf Verarbeitung komplexer und bedeutungshafter Inhalte ausgerichtete Informationsverarbeitung auf. Im Gegensatz zu den impliziten Prozessen beruhen sie, nach Auffassung der meisten Autoren, auf serieller Informationsverarbeitung.159 Roth beschreibt die unterschiedliche Arbeitsweise des bewussten und unbewussten Systems so: Die oben genannten spezielleren, von Aufmerksamkeit begleiteten Bewusstseinszustände treten in all den Fällen auf, in denen sich das kognitiv-emotionale System mit Geschehnissen und Problemen konfrontiert sieht, die zum einen (aus welchen Gründen auch immer) hinreichend wichtig und zum anderen hinreichend neu sind. Dies setzt ein un- bzw. vorbewusst arbeitendes System voraus, welches alles, was unser Gehirn wahrnimmt, nach den Kriterien wichtig versus unwichtig sowie bekannt versus unbekannt klassifiziert. Dies geschieht durch einen sehr schnellen Zugriff auf die verschiedenen Gedächtnisarten. Sachverhalte, die unbewusst als unwichtig eingestuft wurden, treten entweder überhaupt nicht oder nur sehr oberflächlich in unser Bewusstsein, gleichgültig ob sie bekannt oder unbekannt sind. Sachverhalte hingegen, die als wichtig und bereits bekannt klassifiziert wurden, führen zur Aktivierung von Verarbeitungsinstanzen, die sich bereits früher mit ihnen befasst hatten. Entsprechend erleben wir derart eingestufte Wahrnehmungen als „mühelos“, falls sie überhaupt bewusst werden, und führen bestimmte Handlungen automatisch und unbewusst aus oder höchstens mit begleitendem Bewusstsein ohne Wissen um die Details.160
Das langsam arbeitende Bewusstseins- und Aufmerksamkeitssystem werde erst eingeschaltet, wenn eine Aufgabe als neu und wichtig eingestuft wurde. Solche Aufgaben stellen sich im Zusammenhang mit 159 AaO. 238. Die nicht von besonderer Aufmerksamkeit begleitete bewusste Wahrnehmung, die weitgehend erinnerungslos bleibt, betrachtet Roth als eine Zwischenform der Informationsverarbeitung. Dies sei beispielsweise der Fall, wenn uns Dinge ohne jegliche Mühe auffallen durch starke Kontraste, schnelle Bewegungen oder laute Geräusche. Dies stelle eine wichtige Grundlage dafür dar, dass auch ohne höhere Konzentration ein „Monitoring“ unserer Umwelt durch unser Gehirn gewährleistet sei. 160 AaO. 238 f.
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dem Erfassen neuartiger Sachverhalte, neuer Bedeutungen von Objekten, Geschehnissen, Sätzen, dem Erlernen neuer motorischer Fertigkeiten, dem Vorstellen und Erinnern neuer, komplexer Inhalte, dem Aussprechen neuer, komplizierter Sätze, dem Ausführen neuer Bewegungen, dem Lösen schwieriger Probleme, einer verwickelten Handlungsplanung, dem aktiven Erinnern von Wissensfakten.161
Das explizite, deklarative Bewusstseinssystem werde als „besonderes Werkzeug des Gehirns“162 eingesetzt, wenn es um neuartige kognitiv oder motorisch schwierige und bedeutungsvolle Probleme gehe, weil die subcorticalen Zentren aus vielerlei strukturellen und funktionalen Gründen solche Aufgaben nicht bewältigen können. Roth nimmt an, dass dies an ihrer nicht hinreichend hohen synaptischen Plastizität liege. Zudem können subcorticale Zentren multimodale Eingänge nicht gut integrieren und haben außerdem eine mangelnde Speicherkapazität. Der Cortex hingegen verfüge über all diese Fähigkeiten und außerdem über eine schier unbegrenzte Speicherkapazität.163 Doch auch der Cortex, insbesondre der assoziative, habe einen entscheidenden Nachteil. Er sei nämlich langsam und fehleranfällig, dazu auch energetischstoffwechselphysiologisch sehr teuer. Daher gelte die Regel: Je automatisierter eine Funktion ablaufe, desto schneller, verlässlicher, effektiver und billiger sei dies für das Gehirn. Roth kommt deswegen zu folgendem Schluss: Daher ist es nicht verwunderlich, dass das Gehirn immer danach trachtet, Dinge aus der assoziativen Großhirnrinde auszulagern. Bewusstsein ist für das Gehirn ein Zustand, der tunlichst zu vermeiden und nur im Notfall einzusetzen ist. Wir Menschen leben jedoch in einer Umwelt, besonders einer sozialen Umgebung, die uns ständig neue, wichtige und komplizierte Probleme stellt, so dass es ratsam ist, das Bewusstsein mehr oder weniger durchgehend ‚eingeschaltet‘ zu lassen, auch wenn dies energetisch kostspielig ist. Der damit erkaufte Vorteil, nämlich eine sofortige Handlungsbereitschaft, wiegt diese Kosten ganz offensichtlich auf.164
Welche Rolle spielen nun Bewusstes, Vorbewusstes und Unbewusstes beim Entscheidungsprozess? Wir haben im vorherigen Abschnitt gesehen, dass Roth die 161 Vgl. aaO. 239. Diese bewusst erbrachten Leistungen erleben wir als besonders mühevoll und äußerst arbeitsintensiv. Das komme dadurch zustande, dass geistige Arbeit besonders viel Stoffwechselenergie verbrauche. Je mehr diese Leistungen dann eingeübt werden, desto automatisierter und damit müheloser können sie ablaufen. Allerdings schwinde in diesem Fall dann auch der Aufwand an Bewusstsein und Aufmerksamkeit wieder, bis schließlich nur ein begleitendes oder gar kein Bewusstsein übrig bleibe. 162 AaO. 239. 163 Vgl. aaO. 239 f. 164 AaO. 240.
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Reichweite der Vernunft im Entscheidungsprozess zugunsten des Gefühls einschränkt. Dasselbe ist nun hier der Fall: Manche Situationen seien so komplex, dass die unbewussten Automatismen nicht zureichend seien, um eine situationsgemäße Handlung auszulösen. Dann sei das Bewusstsein notwendig, um dem Organismus eine lebensdienliche Reaktion zu ermöglichen. Aber so wie der Verstand notwendig an der Handlungssteuerung beteiligt sei, ohne dabei die letztlich entscheidende Instanz zu sein, so sei auch das Bewusstsein von vielen Vorentscheidungen und Filtervorgängen der unbewussten neuronalen Systeme abhängig. An dieser Stelle finden wir auch einen Grund dafür, dass Roth den Epiphänomenalismus zurückweisen kann. Denn wenn zumindest in komplexen Situationen keine Entscheidung gefällt werden kann, ohne das Bewusstsein aufzurufen und seine Analyseergebnisse in die Entscheidung miteinzubeziehen, dann handelt es sich beim Bewusstsein auch nicht um ein bloßes Echo unbewusster Hirnvorgänge, das seinerseits völlig wirkungslos bliebe.165
3.3.4.3 Das Ich – einheitliches Subjekt oder Bündel unterschiedlichster Zustände? Auch bei der Diskussion des Ich-Begriffs will Roth das abendländische Menschenbild von der Neurobiologie her einer Kritik unterziehen. Noch immer sei dieses Menschenbild und das daraus resultierende Gesellschafts- und Rechtssystem durch zwei Grundannahmen geprägt. Erstens sei das Ich als Subjekt geistiger und emotionaler Zustände der Kern des menschlichen Wesens und der Menschenwürde. Zweitens gelte das Ich als der Verursacher des Handelns, abgesehen von Reflexen und Affekthandlungen. Nach neusten neurobiologischen Erkenntnissen stehe das „Ich“ aber nicht für ein einheitliches Subjekt, sondern stelle ein bisweilen lockeres Bündel unterschiedlichster Zustände dar.166 Die Ich-Empfindung könne man drei verschiedenen Erlebnisbereichen zuordnen – dem Geist-Gefühl, dem Körper und der Umwelt. Während wir die Umwelt mit unseren Sinnesorganen erfassen und durch unser Verhalten auf sie einwirken, empfinden wir den Körper als Quelle von Lust oder Schmerz und können uns entweder mit ihm verbunden oder von ihm getrennt fühlen. Am einheitlichsten fühlen wir uns jedoch in unseren geistige Zuständen und Gefühlen. Im Gegensatz zu Gedanken, Erinnerungen und Vorstellungen, die relativ unabhängig vom Körper empfunden werden, stehen Wünsche und Gefühle in enger Verbindung mit diesem. Beispielsweise hüpfe das Herz vor Freude oder unsere Hände werden feucht, wenn wir Angst verspüren. In all die-
165 Vgl. o. 129 f. 166 Vgl. Roth, Fühlen, 379.
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sen verschiedenen Erlebniszuständen empfinden wir schließlich das Ich als die Einheit gebende Konstante. Wenn wir jedoch die Frage stellen, wer oder was dieses Ich eigentlich sei, werden wir nach Roth nicht fündig.167 Denn es sind Fetzen von Selbsterkenntnis, vermischt mit Aussagen von anderen über uns. Wir reflektieren über unsere Gefühle, Wünsche, Gedanken, Vorstellungen, Erinnerungen und Verhaltensweisen und scheinen uns dabei im Kreise zu drehen, denn diese Bereiche sagen uns jeweils etwas Verschiedenes über uns, aber nichts eigentlich Fassbares. Nach langem Nachdenken und in der Nachfolge des Nachdenkens vieler berühmter Leute über sich selbst kommen wir zu zwei wichtigen Erkenntnissen: Wir sind nicht ein Ich, sondern mehrere Ich-Zustände, die sich aufeinander beziehen. Und: Wir sind uns selber undurchdringlich. Das Ich kann sich nicht oder nicht gründlich (d. h. auf den Grund) durchschauen!168
Wir stoßen bei der Analyse des Ich wieder auf einen Unterschied zwischen den frühen Werken Roths und den neueren. In Fühlen, Denken, Handeln (2001/2003) schrieb Roth, dass das Ich und das Bewusstsein phänomenal und funktional zwar eng miteinander zusammenhängen, aber nicht miteinander identisch seien. Zur Begründung dieser Nicht-Identität wies er darauf hin, dass „durch Meditation, Drogen oder im Zustand heftiger Verliebtheit“ bewusste Zustände mit Ich-Entgrenzung vorkämen.169 Später fallen Bewusstsein und Ich zusammen: In Persönlichkeit, Entscheidung und Verhalten (2007) beschreibt Roth die Ich-Zustände genauso wie die Bewusstseinszustände in Bildung braucht Persönlichkeit (2011)170. Ich-Zustände sind: (1) die Wahrnehmung von Vorgängen in der Umwelt und im eigenen Körper (‚ich nehme wahr bzw. empfinde gerade das und das‘); (2) mentale Zustände wie Denken, Vorstellen und Erinnern (‚ich denke, erinnere mich, stelle mir gerade dies oder jenes vor‘); (3) Bedürfniszustände, Affekte, Emotionen (‚ich habe Hunger, bin müde, fürchte mich‘); (4) das Erleben der eigenen Identität und Kontinuität (‚ich bin der, der ich gestern war‘); (5) die ‚Meinigkeit‘ des eigenen Körpers (‚dies ist mein Körper‘); (6) die Autorschaft der eigenen Handlungen und mentalen Akte (‚ich will bzw. habe gewollt, was ich gerade tue‘); (7) die Verortung des Selbst und des Körpers in Raum und Zeit (‚es ist Samstag, der 20.1.2007, und ich befinde mich gerade in X.‘); 167 Vgl. Roth, Persönlichkeit, 71 f. 168 AaO. 72. Der Autor weist hier etwas schnell die idealistischen Philosophien an den Rand, die in der Analyse des transzendentalen Ich und des phänomenologischen Subjekts doch ein beträchtliches Stück weit gekommen sind. Vgl. Korsch, Subjektivismus; Stolzenberg, Deutscher Idealismus; Ders., Ich. 169 Vgl. Roth, Fühlen, 379. 170 Vgl. dazu auch die Ausführungen von Zunke, Kritik, 37–43.
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(8) die Unterscheidung zwischen Realität und Vorstellung (‚was ich sehe, existiert tatsächlich und ist kein Traum oder Wahn‘); (9) das selbst-reflexive Ich (‚wer oder was bin ich eigentlich? Was tue ich da, und warum?‘).171
Die Uneinheitlichkeit des Ichs könne aus der Beobachtung gefolgert werden, dass bei Patienten einzelne bewusste Ich-Zustände ausfallen, ohne dass andere dadurch beeinträchtig werden. So gebe es Patienten, die nicht wissen, wer sie seien, ansonsten aber keinerlei psychische oder physische Störungen aufweisen. Anstatt eines einheitlichen Ichs bilden die verschiedenen Ich-Zustände vielmehr funktionale Untereinheiten bzw. Module. Der Grund für die Modularität der Ich-Zustände bestehe darin, dass unterschiedliche Gehirn-Systeme ihre Träger seien.172 Das Ich ist also gar keine einheitliche Instanz, sondern ein Attribut, ein Etikett, das sich an unterschiedliche Bewusstseinsoperationen anheftet: ‚das bin ich, der dies oder jenes gerade denkt, fühlt oder tut‘, wobei dieses Ich-Bündel im Wesentlichen durch das autobiographische Gedächtnis erzeugt wird. Dies wiederum geht nach dem bekannten gestaltpsychologischen Prinzip des ‚gemeinsamen Schicksals‘ vor: Alles bildet eine ‚Gestalt‘, was unter den verschiedenen Bedingungen eine Einheit, etwas mit einem gemeinsamen Schicksal bildet. In der Tat: Was auch immer mit mir passiert, es handelt sich um einen ganz bestimmten – nämlich meinen – Körper, der in einer individuellen Weise wahrnimmt, denkt, fühlt und handelt. Schließlich gibt es auch einen wichtigen psychosozialen Grund für das Entstehen des Ich: Wir werden von unserer Mutter, unseren anderen Familienangehörigen, Freunden, Schulkameraden als ein Individuum, eine ‚ungeteilte Einheit‘ behandelt und angeredet, und zwar mit einem Du, das jeweils mit einem Ich korrespondiert. So lernen wir uns selbst als eine Einheit zu betrachten und zu benennen. Das Ich ist also eine Gestalt, eine Vielheit mit einem gemeinsamen Schicksal, und diese Gestalt ist dynamisch, nicht statisch. Das Ich wandelt sich und erzeugt zugleich ein Kontinuum, und nur bestimmte Erkrankungen des Gehirns oder der Psyche (die letztlich auch auf Gehirnerkrankungen zurückgehen) können dieses Kontinuum zerstören.173 171 Roth, Persönlichkeit, 72 f. Vgl. mit dieser Liste der Ich-Zustände die Liste der Bewusstseinszustände bei Roth, Bildung, 135 f. (abgedruckt oben Seite 137). 172 Vgl. Roth, Persönlichkeit, 73. 173 AaO. 74. Roth nimmt an, dass die unterschiedlichen bewussten Ich-Zustände mit bestimmten Großhirnarealen verknüpft seien. Das Körper- Ich und das Verortungs-Ich hängen vor allem mit Aktivitäten im hinteren bzw. unteren Parietallappen zusammen. Dieser CortexTeil habe wesentlich mit der Raum- und Körperwahrnehmung zu tun. Das Ich als vorstellende Instanz werde ebenfalls von den Arealen im Parietallappen und zudem im Temporallappen hervorgerufen, je nachdem, ob es sich um eine räumliche oder bildliche Vorstellung handle oder um eine Kombination davon. Das Ich als Träger von Emotionen werde durch Aktivitäten im orbitofrontalen, ventromedialen, anterioren cingulären und insulären Cortex und im rechten unteren Temporallappen verursacht, und zwar durch die Zusammenarbeit mit Amygdala und anderen subcorticalen limbischen Zentren. Das Autorschafts- und Zurechnungs-Ich gehe mit
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Nimmt man nun die Beobachtungen zusammen, dass das Ich bzw. die separierbaren Ich-Zustände mit dem Bewusstsein identisch sind, und dass das Bewusstsein abhängig ist von unbewussten Hirnprozessen, so können wir feststellen, dass das Ich im Sinne des autonomen Subjekts der Aufklärung auf neurobiologische Weise entthront wurde, so wie es Freud schon auf psychoanalytische Weise entthront hatte. An dieser Stelle sind Roths Ausführungen direkt anschlussfähig an den Subjektdiskurs der Postmoderne. In diesem Zusammenhang ist erwähnenswert, dass Roth die Freudschen Instanzen „Es“ und „Über-Ich“ seinem Persönlichkeitsmodell zuordnet, und zwar das „Es“ den unteren beiden limbischen Ebenen, das „Über-Ich“ der oberen limbischen Ebene.174 Eine Zuordnung des „Ich“ unterlässt er jedoch. So wie er die Ich-Zustände beschreibt, gehören sie wohl teilweise der oberen limbischen Ebene an, teilweise der kognitiv-kommunikativen. Dieser Zusammenhang ist von einer ganzen Reihe von Autoren verkannt worden. Sie unterstellen Roth, dass bei ihm das „Es“ der eigentliche Akteur sei, in der Gestalt des limbischen Systems. Diese Aussage wird der hier analysierten Komplexität von Roths Menschenbild nicht gerecht.175 Im folgenden Abschnitt sollen nun schließlich die Argumente, die Roth in die Willensfreiheitsdebatte einbrachte, vor ihrem neurobiologischen Hintergrund präzise dargestellt und beurteilt werden.
3.3.5 Roths Anthropologie im Kontext der Willensfreiheitsdebatte 3.3.5.1 Die Wandlung in Roths Freiheitsverständnis: Vom harten Deterministen zum Kompatibilisten An diesem Punkt der Darstellung treffen wir auf die gewichtigste Wandlung in Roths Anschauungen, auf welche er auch selbst aufmerksam gemacht hat. In seiner frühen Veröffentlichung Fühlen, Denken, Handeln (2001/2003) sprach er sich gegen einen starken Willensfreiheitsbegriff aus176 und lehnte auch den KomAktivitäten im cingulären Cortex und im supplementär-motorischen Areal einher. Während das autobiographische Ich aufgrund von Aktivitäten im vorderen Pol des Temporallappens im Zusammenwirken mit dem Hippocampus entstehe, beruhe das reflexive Ich auf einer Funktion des präfrontalen Cortexes. Das ethische Ich, und damit das Gewissen, sei an Funktionen des orbitofrontalen und ventromedialen präfrontalen Cortexes gebunden. „Allgemein gilt, dass emotionale Ich-Zustände eher rechtshemisphärisch, kognitive und sprachvermittelte Komponenten eher linkshemisphärisch angesiedelt sind“. AaO. 74–76. 174 Vgl. aaO. 104 f. 175 Vgl. etwa Petzoldt, Gehirn, 67 f. mit Bezug auf Körtner, Lasset uns, 98 f., Lenk, Kleine Philosophie, 108–110, 128. 176 Dass Roth eine starke Form der Willensfreiheit als das gängige Freiheitsverständnis annahm, hat Bruder in seiner Dissertation gezeigt. Konkret setze Roth Willensfreiheit mit Willkürfreiheit gleich. Vgl. Bruder, Versprochene Freiheit, 68–71. Auch Gräb-Schmidt bezieht sich
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patibilismus ab. Das heißt, er wäre in dieser Zeit am ehesten der Gruppe der harten Deterministen zuzuordnen: Nach all den Befunden, die in diesem Buch präsentiert wurden, müssen wir von Folgendem ausgehen: Menschen können im Sinne eines persönlichen Verschuldens nichts für das, was sie wollen und wie sie sich entscheiden, und dies gilt unabhängig davon, ob ihnen die einwirkenden Faktoren bewusst sind oder nicht, ob sie sich schnell entscheiden oder lange hin und her überlegen. Sie werden in dem jeweils einen oder anderen Fall eventuell völlig unterschiedliche Dinge tun, aber sie tun dies nicht frei. Die Gene, die vor- und nachgeburtlichen Entwicklungen und Fehlentwicklungen, die frühkindlichen Erfahrungen und Traumatisierungen, die späteren Erfahrungen aus Elternhaus, Freundeskreis, Schule und Gesellschaft –, all dies formt unser emotionales Erfahrungsgedächtnis, und dessen Auswirkungen auf unser Handeln unterliegen nicht dem freien Willen.177
Den Kompatibilismus lehnte er ab, weil er den Freiheitsbegriff lediglich dahingehend verschiebe, dass er alles dem Selbst zuschreibe, was vorher dem freien Willen zugesprochen wurde: Wie wir eingangs gehört haben, setzen einige Philosophen, zu denen auch Michael Pauen und Volker Gerhardt gehören, Willensfreiheit und Autonomie gleich. Sie sind beide Kompatibilisten, d. h. sie sehen in einer vollständigen Determiniertheit allen Geschehens auf dieser Welt einschließlich des Gehirns und seiner Leistungen einerseits und der Willensfreiheit andererseits keinen Widerspruch. Sie ermöglichen einen solchen Standpunkt dadurch, dass sie Willensfreiheit in einer Weise definieren, die von der genannten starken Bedeutung in wesentlichen Punkten abweicht. D. h. sie nehmen keine spezifisch mentale Verursachung des Handelns durch den Willen an und akzeptieren auch nicht den Alternativismus, d. h. den Glauben, wir könnten zumindest in manchen Situationen anders handeln. Für sie – ebenso für mich – ist klar: Ich handle immer aus bestimmten Gründen, von denen mir keineswegs alle bewusst sein müssen, und wenn ich anders handle, dann aus anderen Gründen. Eine wirkliche Wahlfreiheit wäre nur möglich, wenn es ‚Lücken‘ im Wirkungszusammenhang meines Gehirns gäbe und hier ein metaphysischer freier Wille auf nicht-natürliche Weise einwirken würde. Für Pauen und Gerhardt ist Freiheit dann gegeben, wenn Selbstbestimmung vorliegt, wenn mein Selbst, als Kern meiner Person, und sonst niemand der Urheber meines Handelns ist. Bei Pauen wird diese personale Freiheit in folgender Weise bestimmt: (1) Personale Freiheit ist die Fähigkeit eines Subjektes, so zu handeln, wie es der Gesamtheit seiner personalen Merkmale entspricht. (2) Eine faktisch vollzogene in einem Aufsatz auf Roths Freiheitsverständnis und versucht es zu bestreiten. Dabei kommt sie jedoch nicht über Freiheitsumschreibungen hinaus, die sich im Rahmen der Pauenschen personalen Freiheit halten. Zirkulär ist ihr Ergebnis, wonach „Freiheit […] ein Vollzugsphänomen“ sei. Aber „für die Ermöglichung des Vollzugs […] seiner Wirklichkeit“ bedürfe das Vollzugsphänomen Freiheit „der Begegnung mit Freiheit“. (Gräb-Schmidt, Aufgabe, 293; zur Roths Freiheitsverständnis aaO. 278 f.). 177 Roth, Fühlen, 541.
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Handlung entspricht der personalen Freiheit, wenn der Handelnde sie hätte unterlassen können, sofern sie der Gesamtheit seiner personalen Merkmale widersprochen hätte (Pauen, 2001). […]. So sehr auch in vielen Stücken dieser Argumentation zuzustimmen ist, so ist sie doch nur dann schlüssig, wenn es tatsächlich das Selbst ist, das unser Handeln bestimmt. Dies ist aber in meinen Augen nicht der Fall. Natürlich gibt es in uns ein Selbst – wir sind das ja! Dieses Selbst hat vielerlei Funktionen, […] aber eine Funktion hat es gewiss nicht, nämlich Handlungen zu entscheiden und zu steuern, zumindest nicht, was die bewussten Anteile des Ich betrifft.178
Roth hielt also früher die Annahmen des Kompatibilismus mit seinen neurobiologischen Erkenntnissen für nicht vereinbar. Das Hauptargument war schon damals, dass sich das Ich aus verschiedenen Faktoren zusammensetze: Aus genetischen, die die Persönlichkeit in erheblichem Maße festlegen, aus vorgeburtlichen und frühen nachgeburtlichen Erfahrungen und aus Erfahrungen, die man als junger Mensch und schließlich als Erwachsener gemacht habe. Diese Ausformung des Selbst betrachtete Roth schon als überaus komplexen Vorgang, der jedoch als völlig determiniert angesehen werden müsse. Nirgendwo gebe es darin Lücken von Freiheit, und die Ausformung des Selbst unterscheide sich auch nicht vom Wachstum des Gehirns. Letztendlich seien es aber die unbewussten Anteile des Selbst, die das Handeln wesentlich lenken und nicht die bewussten.179 Roth kam bei seiner Auseinandersetzung mit dem Kompatibilismus damals zu diesem Ergebnis: Diese Situation Freiheit zu nennen, widerspricht dem herkömmlichen und weithin akzeptierten Begriff von Willens- oder Handlungsfreiheit. Von den meisten Vertretern der Willensfreiheit wird als Kern dieser Freiheit gerade die Dominanz bewusster Überlegungen über die unbewussten Antriebe gesehen […], das Walten von Vernunft, Verstand und Einsicht. […] Wir haben also das Dilemma vor uns, dass die Gleichsetzung von Autonomie und Freiheit zwar verbal den Begriff der menschlichen Freiheit rettet, aber nur um den Preis, dass dem Selbst all das zugeschrieben wird, was zuvor dem ‚Freien Willen‘ zugewiesen wurde, nämlich ‚aus sich heraus‘ zu entscheiden und zu handeln. Das scheint mir aber aus den soeben genannten Gründen nicht eine überzeugende Lösung des Problems der Willensfreiheit zu sein […].180
Später wechselte Roth aber, nach der Zusammenarbeit mit Michael Pauen (im Jahr 2008), dem er vorher widersprochen hatte, in das Lager der Kompatibilisten.181
178 Roth, Fühlen, 533 f. Roth bezieht sich hier auf Pauens Werk Illusion Freiheit. 179 Vgl. aaO. 534. 180 AaO. 534 f. 181 Bei dem gemeinsamen Werk von Pauen und Roth handelt es sich um Pauen/Roth, Freiheit.
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Möglicherweise war Pauens direkte Zurückweisung der Rothschen Kritik einer der Gründe für dessen Umdenken. In seinem Buch Illusion Freiheit (2004/2005) schrieb Pauen: Wie kann man noch von einer freien Entscheidung sprechen, wenn unser Handeln unter dem Einfluss weitgehend unbewusster emotionaler Einflüsse steht? Vor allem Gerhard Roth, der die neuere Debatte um die Konsequenzen der Neurowissenschaften maßgeblich mitgeprägt hat, vertritt diese Auffassung. Roth argumentiert, dass die bewusstseinsfähigen höheren Areale vor allem im präfrontalen Kortex, also in den an der Stirn gelegenen Bereichen der Hirnrinde, nur einen begrenzten Einfluss auf die Bewegungs- und Handlungssteuerung haben. Notwendig sei hier immer eine ‚Freischaltung‘ durch das Limbische System, also durch die Areale, die unserer emotionalen Erfahrung zugrunde liegen. Roth bestreitet nicht, dass wir in der Lage sind, rational zwischen unterschiedlichen Handlungsoptionen abzuwägen; letztlich komme es jedoch darauf an, ob eine Entscheidung ‚emotional akzeptabel‘ sei. Freiheit ist daher auch in Roths Augen eine reine Illusion. Dies mag so erscheinen, wenn man Freiheit mit der traditionellen, inkompatibilistischen Konzeption von Willensfreiheit gleichsetzt und gleichzeitig fordert, dass ein frei Handelnder sich seiner Handlungsmotive vollständig bewusst sein müsse. Diese Voraussetzungen erscheinen mir jedoch aus den bereits genannten Gründen unzulässig: Natürlich ist es nicht notwendig, dass ich mir aller meiner Motive bewusst bin, es ist nur erforderlich, dass es wirklich meine Motive sind. Legt man daher die hier vertretene Konzeption von Selbstbestimmung zugrunde, dann folgt aus den von Roth vorgelegten Befunden keine Widerlegung der Freiheit. Natürlich spricht nichts dagegen, emotionale Bewertungen unterschiedlicher Handlungsoptionen als personale Präferenzen zu bezeichnen, sofern die entsprechenden Kriterien erfüllt sind. Dies gilt umso mehr, als sich hinter den emotionalen Bewertungen bei Roth wie auch bei Damasio frühere Erfahrungen und Lernprozesse des Individuums verbergen […] Letztlich ist es daher kein Zufall, wenn der Begriff der Autonomie, den Roth an die Stelle des traditionellen Begriffs der Willensfreiheit setzt, eine Reihe von Berührungspunkten mit dem hier vertretenen Begriff der Selbstbestimmung besitzt. Zu den Gemeinsamkeiten zählt insbesondere die Bindung der Handlung an den Urheber: ‚Autonomie ist die Fähigkeit unseres ganzen Wesens, innengeleitet, aus individueller Erfahrung heraus zu handeln, und zwar gleichgültig, ob bewusst oder unbewusst.‘182
Roth schreibt über seine Wandlung in der vollständig überarbeiteten Neuauflage von Aus Sicht des Gehirns: Kommen wir zur zweiten Frage, nämlich ob wir angesichts der zahlreichen philo sophischen und empirischen Argumente gegen das traditionelle Willensfreiheitskonzept den Begriff von Willensfreiheit überhaupt aufgeben müssen? Dies ist – ehrlich gesagt – eine Geschmacksfrage. Man könnte als Purist argumentieren, dass dieser Begriff eine zu große Nähe zum metaphysischen Dualismus hat, als dass man ihn weiterhin benutzen sollte. Ich habe einen solchen Standpunkt für einige Zeit 182 Pauen, Illusion, 220 f. Er zitiert am Ende Roth, Fühlen, 533.
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vertreten, bin aber inzwischen – auch aufgrund meiner Zusammenarbeit mit dem Philosophen Michael Pauen – zu der Auffassung gekommen, dass man den Begriff durchaus weiter verwenden kann, nämlich in dem Sinne, den David Hume bereits wesentlich vorweggenommen hat: Ich handle willensfrei, wenn ich meinem eigenen Willen folgen kann. Dieses Gefühl, aus eigenem Willen heraus zu handeln, kommt, wie geschildert, unter ganz bestimmten Bedingungen auf, nämlich wenn ich keinem äußeren oder innerem Zwang unterliege […].183
Seine Theorie von 2001 unterscheidet sich von der Theorie 2008 unter biologischen Gesichtspunkten nicht wesentlich. Die Wandlung vom inkompatibilistischen Roth zum Kompatibilisten ist also nicht durch einen naturwissenschaftlich veränderten Standpunkt verursacht. Wohl deswegen erklärt Roth die Frage, ob man „den Begriff von Willensfreiheit überhaupt aufgeben“ müsse, „ehrlich gesagt“ zu einer „Geschmacksfrage“.184 In der Tat liegt hier wohl der greifbarste Unterschied zwischen dem harten Determinismus und dem Kompatibilismus. Möchte man die Selbstbestimmung, die im Großen und Ganzen aus äußerer Handlungsfreiheit und innere personaler Freiheit besteht, wobei letztere aber kaum konkret identifiziert werden kann, wirklich noch als Willensfreiheit bezeichnen? Ein Argument, das diese Frage über die Ebene des bloßen Geschmacks hinaushebt, könnte lauten: Die Rede von Willensfreiheit verursacht bei den Hörenden zumeist die starken libertaren Intuitionen und Assoziationen. Da schon aus pragmatischen Gründen nicht bei jeder Gelegenheit zuerst ein allgemeines Vorverständnis im Sinne des Kompatibilismus erzielt werden kann, sollte man auf den Begriff Willensfreiheit wohl doch eher verzichten. Anders als die Polemik gegen den Kompatibilismus, die Roth im Lauf der Zeit eingestellt hat, zieht sich seine Abweisung der libertaren Intuition, wonach wir frei seien, weil wir uns doch frei fühlen, durch sein Werk hindurch.
3.3.5.2 Die Zurückweisung der Freiheits-Intuition Roth argumentiert nicht nur in allen seinen Werken gegen eine starke Theorie der Willensfreiheit, sondern versucht auch zu erklären, wie es zu einer derart starken Intuition kommen kann.
183 Roth, Aus Sicht, 197. Interessanterweise bezieht sich Roth hier zwar auf Pauen, fasst die Willensfreiheit aber lediglich als Abwesenheit von äußerem und innerem Zwang auf. Die weitgehendere Differenzierung, die Pauen am Präferenzbegriff durchführt, spielt bei Roth keine Rolle. Außerdem – und dies dürfte noch wichtiger sein – nimmt er nicht wahr, dass es Pauen nicht gelungen ist, den inneren Zwang zuverlässig von einer personalen Präferenz zu unterscheiden. Vgl. o. 2.5.1.4.3. 184 Roth, Aus Sicht, 197.
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3.3.5.2.1 Neurobiologische Grundlagen des Freiheitsgefühls Roth stellt fest, dass aus der Empfindung von Freiheit keineswegs der Schluss gezogen werden könne, dass wir tatsächlich frei in unseren Entscheidungen und Handlungen seien. Damit widerspricht er grundsätzlich dem Recht der Intuition, bei der Theoriebildung maßgebend berücksichtigt zu werden, so wie es in weiten Teilen der Philosophie üblich ist.185 Er zählt vier Faktoren auf, die zum Erleben von Freiheit und zur Selbstzuschreibung von Handlungen beitragen. Beim ersten Faktor handelt es sich um das Gefühl der Urheberschaft. Dies komme dadurch zustande, dass wir bei unseren Handlungen nicht immer die Determinanten bemerken, die diese Handlungen letztendlich bestimmen. Also setzen wir kurzerhand unser Bewusstsein als die Ursache der in Frage stehenden Handlung an. Aber auch wenn uns die Determinanten unseres Handelns nicht immer bewusst seien, bedeute dies nicht, dass solche Determinanten nicht vorliegen.186 Unbewusste Determinanten sind: (1) Vorbewusste Inhalte von Wahrnehmungsvorgängen; (2) unterschwellige (subliminale) Wahrnehmungen; (3) Wahrnehmungsinhalte außerhalb des Fokus der Aufmerksamkeit; (4) Inhalte des deklarativen Gedächtnisses, die ins Unbewußte abgesunken sind („vergessen“ wurden); (5) konsolidierte Inhalte des prozeduralen Gedächtnisses; (6) Inhalte des emotionalen Gedächtnisses, welches die Grundstruktur unseres Charakters und unserer Persönlichkeit bestimmen.187
Bevor ein Gedanke in unser Bewusstsein aufsteige, finde eine komplexe Aktivität im limbischen System, im Thalamus und in der Großhirnrinde statt. Da diese Vorverarbeitungsprozesse aber stets unbewusst ablaufen, entstehe das Gefühl, ein Gedanke komme aus dem Nichts. Und „in der Regel neigen wir dazu, uns selbst die Urheberschaft dieser Prozesse zuzuschreiben.“188 Der zweite Faktor, der dazu führe, dass wir uns bei unseren Handlungen frei fühlen, sei der Eindruck, unser Wollen bedinge unser Handeln direkt. Aus der Erfahrung, dass wir etwas tun wollen und dieses Wollen in der Regel auch in die Tat umsetzen, folgern wir fälschlicherweise, dass zwischen Wollen und Handlung ein kausaler Zusammenhang bestehe. Dabei übersehe man aber gleich vier Dinge: Die komplizierte Umsetzung von Willensvorstellungen in neuromuskuläre Vorgänge könne man weder bewusst erleben noch bewusst steuern.
185 Vgl. o. 86–88. 186 Vgl. Pauen/Roth, Freiheit, 127. Eine neurobiologisch noch nicht ganz so tief begründete Kritik der Freiheitsintuition findet sich bei Roth, Fühlen, 495–498. 187 Pauen/Roth, Freiheit, 127 f. 188 AaO. 128.
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Einem Willensakt folge nicht immer die geplante Handlung, ohne dass wir uns dessen bewusst werden. So könne es überhaupt erst zu Fragen kommen wie beispielsweise: „Habe ich eigentlich den Computer ausgeschaltet oder nicht?“189 Es gebe Handlungen, für die ein explizierter Willensakt nicht erforderlich ist. Dazu zählen automatisierte Abläufe wie Gehen, Auto fahren, Mimik oder Gestik.190 Unser Unbewusstes schreibt unser Wollen danach um, welche Handlung tatsächlich ausgeführt wurde. Roth spricht hier von einer „Neigung zur Konsistenz von Absicht und Handlung“. Diese These veranschaulicht er mit einem Beispiel des amerikanischen Psychologen Daniel Wegner: „Käufer haben vor, eine bestimmte Sache zu kaufen, werden dann von unbewußten Reizen dazu gebracht, etwas anderes zu kaufen, behaupten aber anschließend, sie hätten genau das gemacht, was sie ursprünglich geplant hatten.“191 Der dritte Faktor, der das Gefühl der Freiheit verursache, sei der Eindruck des Alternativismus. Zum Zeitpunkt der Handlungsplanung scheint noch nicht festgelegt zu sein, wie die Handlung konkret ausfallen werde. Dadurch entstehe der Eindruck, man könne mit den bewussten Willensakten beliebig über die Handlungsalternativen verfügen. Man fühle sich umso freier, je mehr Verhaltensoptionen zur Verfügung stehen. Allerdings dürfen es auch nicht zu viele Alternativen sein, da durch die daraus resultierende Überforderung das Gefühl der Freiheit abnehmen könne. Roth beschreibt diesen Zustand folgendermaßen: Bin ich sehr hungrig und habe nur eine Speise zur Auswahl, die ich vielleicht nicht einmal besonders mag, dann esse ich sie wider-willig, d. h. gegen meinen ‚Willen‘. Sich frei fühlen heißt also, aus subjektiver Sicht realisierbare Ziele und Verhaltensoptionen zu haben. Dabei ist es irrelevant, ob alle diese Optionen tatsächlich bestehen. Für die Entstehung des Gefühls reicht die realistische Vorstellung aus, man könnte auch anders handeln.192
Beim vierten Faktor, der das Freiheitsgefühl erzeuge, nimmt Roth schließlich Bezug auf sein Vier-Ebenen-Modell der Persönlichkeit. Das Gefühl der Freiheit sei besonders ausgeprägt, wenn alle Ebenen der Persönlichkeit miteinander übereinstimmen. In solchen Fällen passen die Handlungsmotive der unbewussten unteren limbischen Ebenen (individuell-egoistisch) mit den Handlungsmotiven der 189 AaO. 129. 190 An dieser Stelle denkt Roth offensichtlich nicht an den bewussten Entschluss, mit dem Auto von A nach B zu fahren, sondern an die Fahrtätigkeit an sich. Dafür sind keine einzelnen Willensakte nötig wie ‚Zuerst die Kupplung durchdrücken, dann in den ersten Gang schalten, von der Kupplung runter gehen und Gas geben‘. 191 AaO. 129. 192 AaO. 131. Roth, als Anhänger des Determinismus, möchte an dieser Stelle deutlich machen, dass es sich bei den unterschiedlichen Handlungsoptionen nicht um echte Handlungsalternativen im inkompatibilistischen Sinne handelt, sondern lediglich um rein kognitiv vorstellbare Verhaltensoptionen.
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oberen limbischen Ebene (sozial-emotional) und den Handlungsmotiven der kognitiv-kommunikativen Ebene zusammen. Roth verdeutlicht dies so: Ich sitze vormittags während intensiver Arbeit an meinem Schreibtisch und möchte jetzt eine Tasse Kaffee trinken; dieser Wunsch ist sozial korrekt, mein Verstand sagt mir, daß das eine gute Idee ist, da ich hoffen kann, durch den Kaffee angeregt zu werden und ich überdies heute noch keinen Kaffee getrunken habe, und schließlich legt auch mein Unbewusstes kein Veto ein. Also trinke ich Kaffee und fühle mich dabei frei. Oder: Ich habe einen Ruf nach München erhalten. Dieser ist sehr ehrenvoll und befriedigt meinen Ehrgeiz (die unbewußt-bewußte individuell-egoistische Ebene). Meine Familie freut sich auf ein Leben in München, meine Freunde schwärmen davon, daß sie mich dann häufig dort besuchen (die sozial-emotionale Ebene), und rational gesehen ist die Sache klar: ich erhalte in München sehr gute Arbeitsbedingungen, ein höheres Gehalt und hervorragende Kollegen. Also unterschreibe ich den Vertrag mit großer innerer Zustimmung.193
Weniger frei fühle man sich dagegen, wenn eine der Ebenen mit den andern in Konflikt gerate. Roth variiert zur Veranschaulichung dieser Situation seine vorherigen Beispiele: Ich habe im Laufe des Vormittags schon mehrere Tassen Kaffee getrunken und weiß aus Erfahrung, daß ich mich bei weiterem Kaffeetrinken ‚ganz rappelig‘ fühlen werde. Würde ich dann noch aus Höflichkeit mit einem Gast eine Tasse Kaffee trinken, dann geschähe dies nur noch mit schlechtem Gewissen, es gibt also einen Konflikt zwischen der sozial-emotionalen und der kogntitiv-rationalen Ebene. Im Falle des Rufs nach München ist mein Ehrgeiz angesprochen, die Arbeitsbedingungen sind dort wirklich ideal, aber meine Familie will nicht von Y wegziehen (z. B. weil meine Frau dann ihre Stelle aufgeben müßte). Ich fühle mich dann zerrissen und unfrei, gleichgültig wie ich mich entscheide – ob ich bleibe oder gehe.194
Als Ergebnis hält Roth fest, dass das Gefühl, frei wollen und entscheiden zu können, neurobiologische und psychologische Grundlagen haben. Da der Handelnde aber in der Regel die eigenen Motive nicht als Determinanten erlebe, entstehe das Gefühl der Freiheit. Dagegen empfinde man äußere Einflüsse als Determinanten, vor allem dann, wenn sie den eigenen Wünschen und Bedürfnissen entgegenstehen. Somit könne der Eindruck entstehen, das eigene Tun sei bei freien Handlungen indeterminiert, bei unfreien Handlungen hingegen determiniert. Wie bereits gesehen, ist dieser Eindruck nicht nur faktisch unzutreffend, vielmehr suggeriert er fälschlicherweise, Freiheit sei an das Nicht bestehen von Determination gebunden. Dies ist jedoch nicht der Fall: Auch eine determinierte Handlung kann frei sein, sofern sie durch die Person determiniert ist.195 193 AaO. 131 f. 194 AaO. 132. 195 AaO. 132 f.
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Mit dem zuletzt zitierten Satz vertritt Roth die typisch kompatibilistische Position zur Frage der Vereinbarkeit von Freiheit und Determinismus. 3.3.5.2.2 Roths Plädoyer für den kompatibilistischen Determinismus Roth wendet sich seit 2008 vehement gegen die Auffassung, dass der Determinismus und die menschliche Freiheit sich gegenseitig ausschlössen. Damit gibt er sich als Kompatibilisten zu erkennen. Er bestreitet insbesondere die Behauptung, dass aus seinen Anschauungen der Schluss gezogen werden könne, es gebe keine Freiheit, da die Persönlichkeit durch individuelle Motive und damit durch Gene, Hirnentwicklung, Prägung und Lebenserfahrung determiniert sei. Nur wenn es Lücken in diesem deterministischen Gefüge gebe, sei Willensfreiheit möglich. Diese Schlussfolgerung hält Roth jetzt in doppelter Weise für falsch: Zum einen entstehe ein sehr ernstes Problem, wenn man Lücken im Kausalzusammenhang annehme. Denn in diesem Fall sei das Handeln der Person nicht mehr auf sie selbst zurückzuführen, sondern auf den Zufall. Nehmen wir noch einmal an, mein Handeln sei nicht völlig (motiv-)determiniert, sondern lasse Lücken zu. Dies könnte in der Weise geschehen, dass ich ein Verbrechen begehen will, weil mich niedere Motive wie Geldgier, Rachsucht, Neid oder sexuelle Begehren kausal dazu treiben. Im letzten Augenblick überkommt mich aber das Rechtsbewusstsein, und ich trete von der Tat zurück. Dieser Akt darf […] nichts mit meiner bisherigen Persönlichkeit zu tun haben, denn dann unterläge er deren determinierenden Bedingungen und es gäbe keine Kausallücke. Hat das plötzliche Auftauchen des Rechtsbewusstseins tatsächlich nichts mit meiner bisherigen Persönlichkeit zu tun, dann kann mir dies auch nicht zugeschrieben werden, sondern es handelte sich um reinen Zufall oder höhere Fügung. Ebenso kann ich als Straftäter nichts dafür, dass mir das Rechtsbewusstsein nicht im entscheidenden Augenblick gekommen ist! Der Vorsitzende Richter könnte höchstens sagen: Sie haben eben Pech gehabt, dennoch sind Sie schuldig.196
Roth stellt damit, in Übereinstimmung mit Pauen, fest, dass Kausallücken lediglich zu zufälligen Verhaltensvariationen führen, aber nicht zu willensfreien Handlungen. Dasselbe gelte für die Variante der oben zitierten Annahme, wonach das sorgfältige Abwägen der unterschiedlichen Handlungskonsequenzen zu einer Lücke im Kausalgefüge führen. Denn entweder wäge man die Motive im Rahmen seiner Persönlichkeit ab, dann sei das Abwägen aber durch die Persönlichkeit bestimmt, oder das Abwägen werde nicht durch die Persönlichkeit festgelegt, dann könne der Person aber auch nicht die Verantwortung für die Tat zugeschrieben werden.197
196 Roth, Persönlichkeit, 319 f. 197 Vgl. aaO. 320 f.
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Willensfreiheit aus neurobiologischer Perspektive
Roths zweites Argument gegen die Inkompatibilität von Freiheit und Determinismus ist mit dem Problem der Vorhersagbarkeit gekoppelt. Roth meint, dass für die Zuschreibung von Willensfreiheit eine gewisse Bandbreite von Vorhersag barkeit und Nichtvorhersagbarkeit des zukünftigen Verhaltens notwendig sei. An den Rändern dieses Spektrums stehe völlig vorhersagbares, damit zwanghaftes Verhalten, bzw. völlig unvorhersagbares und damit völlig zufälliges Verhalten. Roth veranschaulicht dies mit dem Beispiel eines langjährigen guten Freundes. Bei einem solchen glaube man in etwa vorhersagen zu können, wie seine Entscheidungen ausfallen werden. Wäre dies nicht so, wäre alles falsch, was man bisher über seine Persönlichkeitsstruktur angenommen habe, denn es gehe ja bei der Persönlichkeit des Freundes um die überdauernde Existenz bestimmter Motive und Verhaltensmuster. Andererseits würden wir uns aber auch wundern, wenn wir das Verhalten unseres Freundes immer exakt voraussagen könnten. Dies sei aus mehreren Gründen nicht möglich. Zum einen sei ein hinreichend komplexes System selbst dann niemals genau vorhersagbar, wenn man alles wüsste, was man über es wissen könnte. Zum anderen wissen wir über einen Freund schon faktisch nicht einmal alles, was man theoretisch über ihn wissen könnte. Drittens spielen uns unsere eigenen Erwartungen und Vorurteile einen Streich beim Versuch der Vorhersage, weil wir niemals objektive Beobachter der Gegenwart seien, was für eine gelingende Prognose aber notwendig sei.198 Das Gleiche gelte für die Vorhersage unseres eigenen Verhaltens: Ich kenne ganz gut meine Dispositionen und Neigungen sowie die Einschränkungen meines Handelns, aber trotzdem erscheint mir mein zukünftiges Handeln nicht bereits in diesem Moment festgelegt. Ich kann mir vorstellen, was ich heute Abend machen werde: Ich kann zuhause bleiben und an einem Aufsatz weiterschreiben oder Musik hören, ich kann heute Abend mit meiner Frau ins Kino gehen, oder wir treffen uns mit Freunden zum Abendessen in einem Restaurant. Das alles ist mir physisch, psychisch, zeitlich und finanziell möglich. Welche von diesen Möglichkeiten ich später auswählen werde, hängt von Dingen ab, die zum Teil jetzt noch gar nicht feststehen. Zum Beispiel kann es sein, dass meine Frau plötzlich keine Lust mehr hat, ins Kino zu gehen, oder unsere Freunde keine Zeit zum Restaurantbesuch haben. Es kann auch sein, dass ich mich im Abgabetermin für den Aufsatz vertan habe und ich folglich heute Abend unbedingt daran arbeiten muss, damit er übermorgen fertig ist. Meine Zukunft erscheint mir einerseits offen, und zum Teil zumindest hängt das, was heute Abend mit mir passieren wird, von mir selbst ab, d. h. von meiner Willensentscheidung (sogar den Abgabetermin könnte ich einfach ignorieren). Ich kann aber meine eigene Willensentscheidung nicht schon jetzt vorhersagen, und diejenigen anderer genauso wenig.199
198 Vgl. aaO. 321 f. 199 AaO. 322 f.
Gerhard Roths neurobiologische Anthropologie
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In diesem Zitat wird bei Roth nicht ganz ersichtlich, ob er das Noch-Nicht-Feststehen der Dinge nur auf die epistemische Ebene bezieht oder ob diese Aussage auch ontologische Gültigkeit hat. Als Verfechter des Determinismus müsste Roth die Meinung vertreten, dass der Ausgang des Abends faktisch tatsächlich schon feststeht und wir lediglich noch nicht wissen, wie er ausgehen wird. Aber die Weise, wie er einen Einwand von Seiten des Inkompatibilismus zurückweist, zeigt ein gewisses Zurückzucken vor dieser Konsequenz: Ein philosophischer Inkompatibilist, der die Determiniertheit all unserer Handlungen für unvereinbar mit der Willensfreiheit hält, wird entgegnen, dass die von mir beschworene Offenheit meiner Entscheidung hinsichtlich des Abends allein darauf zurückzuführen ist, dass ich bestimmte Dinge nicht weiß, die man aber im Prinzip wissen kann und die natürlich schon längst festgelegt sind. Durch Gene, Hirn entwicklung, frühkindliche Bindungserfahrung, kindlich-jugendliche Sozialisation und alle späteren Erfahrungen sind mein Verhalten und das aller anderen Personen, die möglicherweise am Ablauf des heutigen Abends beteiligt sind, festgelegt ebenso wie alle Ereignisse, die noch bis heute Abend passieren können (z. B. dass mein Auto kaputt geht). Wenn dies aber so ist, gibt es in Wirklichkeit nichts zu entscheiden, und das Gefühl der Freiheit in mir beruht auf einer Illusion der Unkenntnis. Nur wenn dies nicht so ist, d. h. wenn es einen tatsächlichen Freiraum der Entscheidung gibt, kann es Freiheit geben! Ein solches pan-deterministisches Szenario impliziert letztlich, dass das Schicksal aller Dinge und Geschehnisse unseres Universums bereits bei dessen Entstehung festgelegt ist.200
Dieser Einwand ist durchaus berechtigt, denn wenn ein deterministisches Weltbild zugrunde liegt, ist die fatalistische Folgerung naheliegend. Roth will den fatalistischen Einwand zurückweisen, gerät an dieser Stelle jedoch selbst ins Schleudern. Denn seine Antwort auf den Einwand zeigt, dass er den Determinismus relativiert: Ob dies [scl. das pan-determinstische Szenario] aus Sicht der Naturwissenschaft der Realität entspricht, ist unklar. Wir können zwar in Einzelfällen durch quantenphysikalische Experimente nachweisen, dass es den ‚objektiven Zufall‘ tatsächlich gibt, aber ob und in welchem Maße solche quantenphysikalische Zufälligkeiten etwa beim Wetter, bei kosmischen Ereignissen oder im Gehirn des Menschen eine entscheidende Bedeutung haben (d. h. darüber bestimmen, ob ich A oder B tue), ist völlig offen.201
Nun könnte man aus diesem ersten Teil seiner Erwiderung den Eindruck gewinnen, Roth sei zum Indeterminismus als dem derzeit plausibelsten physikalischen Weltbild konvertiert. Aber im Fortgang wird deutlich, dass es ihm doch darum geht, den Determinismus zu retten. Dies versucht er, indem er die Reichweite der 200 AaO. 323 f. 201 AaO. 324.
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Willensfreiheit aus neurobiologischer Perspektive
Quantenzufälle marginalisiert. Zum einen weist er darauf hin, dass man überhaupt noch nicht sagen könne, welche Auswirkungen diese Zufälle etwa beim Wetter oder im Gehirn des Menschen haben. Zweitens verwischt er die Grenzen zwischen ontologischer und epistemischer Ebene, indem er behauptet, dass ein komplexes deterministisches System sich von einem System mit objektiven Zufällen „nicht verlässlich“ unterscheiden lasse. Drittens weist er darauf hin, dass selbst die Mitwirkung von objektiven Zufällen im neuronalen Netzwerk keine Willensfreiheit erzeugen könne, sondern lediglich zufällige Entscheidungen verursache. Im letzten Punkt ist ihm sicherlich zuzustimmen. Ebenso ist zuzugeben, dass ein komplexes deterministisches System (ein deterministisches Chaos) sich von einem System mit zufälligen Elementen nur sehr schwer unterscheiden lassen würde. Aber aus dieser epistemischen Schwierigkeit heraus auf eine indeterministische Ontologie zu verzichten, ist eine Entscheidung, die schwerwiegende philosophische Konsequenzen hat. Ich werde auf diesen Punkt bei der Entwicklung des illibertaren Indeterminismus ausführlich eingehen. Ontisch jedenfalls ist ein deterministisches Chaos kein indeterministisches System. Ähnlich wie oben äußert sich Roth auch in seinem Buch Aus Sicht des Gehirns: Nun gibt es in der Quantenphysik nach Meinung der Experten Ereignisse, die grundsätzlich und nicht nur aufgrund von Unzulänglichkeiten unseres Wissens und unserer Methoden nicht vorhersagbar bzw. berechenbar sind, und zwar eben auch dann, wenn alle relevanten Bedingungen bekannt sind. Ein Beispiel hierfür ist der radioaktive Zerfall eines Atomkerns, der als Einzelereignis nicht vorhergesagt werden kann. Deshalb wurden in der Quantenphysik die deterministischen Gesetze der ‚normalen‘, d. h. makroskopischen Physik durch statistische Gesetze ersetzt. Die meisten Physiker sind sich darin einig, dass die statistischen Gesetze der Quantenphysik genauso gesetzmäßig gelten wie die klassischen Gesetze und keinerlei indeterministische Lücken im strengen Sinne zulassen. Die einzige Einschränkung besteht eben darin, dass das Einzelereignis (z. B. beim radioaktiven Zerfall) nicht präzise vorausgesagt werden kann, sondern eben nur statistisch.202
Diese Beschreibung von zufälligen Quantenereignissen enthält die Aussage, die statistischen Gesetze der Quantenphysik lassen „keinerlei indeterministische Lücken im strengen Sinne“ zu. Dies ist aber ein unterbestimmtes Urteil. Denn was soll eine Determinationslücke im strengen Sinne von einer solchen im schwachen Sinne überhaupt unterscheiden? In den subatomaren Dimensionen bestehen jedenfalls Lücken im eigentlichen Sinne des Wortes im Kausalgefüge der Ereignisse. Die Einzelereignisse sind nicht determiniert, auch wenn es für eine ganze Klasse von gleichartigen Quantenereignissen statistische Vorhersagen gibt. Ein Atom kann zum Beispiel in einem gegebenen Zeitraum zerfallen oder auch nicht. Es
202 Roth, Aus Sicht, 184.
Aufzunehmende Ergebnisse aus der neurobiologischen Theoriebildung
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lässt sich nicht vorhersagen, ob es dies tun wird, oder nicht. Ein zufälligeres Ereignis als dieses lässt sich nicht denken. Fernerhin suggeriert Roth in diesem Text, dass es unter den Physikern eine Mehrheit von solchen gebe, die den Determinismus auch in der Quantenwelt vertreten.203 Auch diese Äußerung ist unscharf. Denn tatsächlich sind sich alle Physiker darin einig, dass die statistischen Gesetze deterministisch gelten, dass also die Wahrscheinlichkeiten für die Einzelereignisse nicht zufällig wechseln. Woran Roth mehr Interesse haben dürfte ist die Tatsache, dass einige Außenseiter den Determinismus auch für die Einzelereignisse retten wollten (David Bohm, nach einer Anregung Albert Einsteins, und einige wenige Bohm-Schüler).204 Sowohl aus dem hier zitierten Abschnitt aus dem Buch Aus Sicht des Gehirns als auch aus dem weiter oben zitierten Text Persönlichkeit, Entscheidung und Verhalten wird jedoch deutlich, warum sich Roth überhaupt so vehement gegen die Annahme von echtem, ontologischem Zufall wehrt. Es sind die „viele[n] Physiker, Philosophen und Theologen“, die zu dem zugegebenermaßen fehlerhaften quantenspekulativen Schluss neigen: Sieh da, nicht alles in der Natur ist determiniert! Also kann dies auch in deinem Gehirn so sein! Also ist Willensfreiheit möglich!205
Für Roth ist die Kopplung von Freiheit und Zufall demnach wesentlich problematischer als die Kopplung von Determinismus und Freiheit. Der mögliche Fatalismus, der aus der Kopplung von Determinismus und Freiheit entstehen kann, scheint für Roth nicht weiter von Belang zu sein. Dies ist insofern beachtlich, als er den Fatalismus-Einwand doch zurückweisen wollte, ohne dass dies auf dem Boden des Determinismus gelingen kann.
3.4 Aufzunehmende Ergebnisse aus der neurobiologischen Theoriebildung 3.4.1 Deterministisches Gehirn und die Frage nach der Ontologie Während die Philosophie im Allgemeinen den ontologischen Determinismus voraussetzt oder bestreitet, wenn sie sich über die Möglichkeit von Willensfreiheit vergewissern will, haben wir es bei der Neurobiologie zunächst mit dem Determinismus biochemischer Vorgänge im Gehirn zu tun. Zwar ist erkennbar, dass Roth schon in Fühlen, Denken, Handeln auch von einem Determinismus der Welt 203 Bedauerlicherweise nennt Roth hier keine Quellen für seine Aussage. 204 Vgl. u. 174–178. 205 Roth, Persönlichkeit, 324. Auch hier nennt Roth keine Personen, die die bezeichnete Haltung vertreten. Vgl. zu Roths Freiheitstheorie auch Felder, Kämpfe, 45–51.
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Willensfreiheit aus neurobiologischer Perspektive
insgesamt ausgeht, doch liegt sein Hauptinteresse auf der Frage, ob das menschliche Gehirn deterministisch arbeitet oder nicht.206 Dies ist insofern nicht ohne Interesse, weil sich der illibertare Indeterminismus von der These aus entwickelt, dass die Außenwelt indeterministisch sei. Für dieses Modell macht es keinen Unterschied, ob das Gehirn deterministisch arbeitet oder ob es auch in ihm manche Zufallsereignisse gibt. Unter mancherlei Hinsicht wäre es im Rahmen des illibertaren Indeterminismus sogar wünschenswert, dass das Gehirn deterministisch arbeitet und keine Zufälle in ihm stattfinden.
3.4.2 Empirische Erkenntnisse aus der Neurobiologie Die konkreten Erkenntnisse über die Handlungssteuerung aus der Neurobiologie können als Theorieelemente in den illibertaren Indeterminismus integriert werden, soweit sie empirisch belastbar sind. Als solche Erkenntnisse erscheinen: Erstens, die Persönlichkeit eines Individuums ist festgelegt durch Gene, epigenetische Prozesse, frühkindliche Prägungen und spätere Sozialisation. Diese Faktoren bilden das Bündel der konkreten Determinanten der menschlichen Willensbildung. Es kann als Bildungsaufgabe formuliert werden, seine eigenen Prägungen so weit wie möglich kennen zu lernen und zu reflektieren. Zweitens, nicht nur die Vernunft und der Verstand bestimmen unser Handeln, sondern auch die Emotionen und unbewusste neuronale Vorgänge. Weil der illibertare Indeterminismus die neurobiologische Kritik an der Überbetonung der theoretischen Vernunft akzeptiert, versteht er sich auch als ein Modell der rationalemotionalen Lebensführung. Drittens, der Abwägungsprozess bei der Entscheidungsfindung ist seinerseits wieder von unbewussten Vorgängen bestimmt und begrenzt. Das widerspricht Keils Theorie vom Suspensionsvermögen als Kern einer libertaren Freiheitstheorie.
3.4.3 Offene Frage: Epiphänomenalismus? Die Frage des Epiphänomenalismus taucht immer wieder in der neurobiologischen Diskussion um die Willensfreiheit auf. Diese Frage ist noch nicht soweit geklärt wie die unter 3.4.2 genannten Themen. Es ist evident, dass das Menschenbild auf der Grundlage des Epiphänomenalismus deutlich pessimistischere Farben bekommt als durch die bloße Bestreitung der libertaren Willensfreiheit. Dies gilt auch in einer indeterministischen Außenwelt. Deswegen schließe ich mich Roths Option gegen den Epiphänomenalismus an, auch wenn man ihn bis jetzt noch nicht abschließend zurückweisen kann. 206 Vgl. Roth, Fühlen, 504–511.
Aufzunehmende Ergebnisse aus der neurobiologischen Theoriebildung
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Daniel M. Wegner vertritt als Wahrnehmungspsychologe eine epiphänomenalistische Sichtweise, obwohl er sich im Vorwort davon zu distanzieren versucht: The experience of will is therefore an indicator, one of those gauges on the control panel to which we refer as we steer. Like a compass reading, the feeling of doing tells us something about the operation of the ship. But also like a compass reading, this information must be understood as a conscious experience, a candidate for the dreaded ‚epiphenomenon‘ label. Just as compass readings do not steer the boat, conscious experiences of will do not cause human actions.207
Im Gegensatz dazu benennt Brigitte Falkenburg mentale Phänomene, die kaum epiphänomenalistisch gedeutet werden können, nämlich Patienten, die etwa eine Armprothese mit Gedankenkraft steuern können.208 Wenn aber zumindest beim Erlernen der Fähigkeit, eine Armprothese bewusst zu steuern, der Epiphänomenalismus zurückgewiesen werden kann, scheint es höchst plausibel zu sein, dass auch das Erlernen von neuen Fähigkeiten mit Hilfe von bewusst gesteuerter Aufmerksamkeit bei gesunden Menschen ein starkes Indiz gegen den Epiphänomenalismus und für einen monistischen interaktionalistischen Perspektiven-Dualismus bilden.209
207 Wegner, Illusion, IX, 317–342. AaO 317 f. 208 Vgl. Falkenburg, Mythos, 411. 209 Vgl. o. 59 f.
4. Das Modell des Illibertaren Indeterminismus: Lebensführung jenseits von Willensfreiheit und Fatalismus 4.1 Einleitung Im folgenden Kapitel schlage ich ein Modell zur Lösung der Willensfreiheitsproblematik vor, das an die dargestellte philosophische und neurobiologische Diskussion anknüpft. Aus der philosophischen Debatte ziehe ich die Konsequenz, dass kein Begriff von Willensfreiheit konstruiert werden kann, der allen drei Bedingungen (Alternativismus, Urheberschaft, Intelligibilität) entspricht und der die starken Intuitionen, die mit ihm verbunden sind, voll befriedigt. Denn der menschliche Wille fällt seine Entscheidungen auf der Grundlage von notwendigen Gründen oder, sollte es tatsächlich Zufallsereignisse in entscheidungsrelevanten Gehirnarealen geben, gelegentlich auch auf der Grundlage von Zufällen, oder einer Kombination beider Faktoren. Selbst wenn man eine dualistische Anthropologie voraussetzen würde, bei welcher geistige Gründe und materielle Ursachen strikt voneinander getrennt werden könnten, gälte diese Feststellung noch immer. Intuitiv befriedigende Willensfreiheit müsste etwas kategorial Verschiedenes von Zufall und Notwendigkeit sein, und diese dritte Kategorie hat noch niemand gefunden. Bei den dargestellten Kompatibilisten zeigt eine scharfe Betrachtung ihrer Arbeit an den Grundbegriffen, dass das Subjekt doch alleine bleibt mit seiner frustrierten Einsicht, dass alles Denken, Suspendieren und Gestalten doch nichts daran ändert, dass im Determinismus alle zukünftigen Handlungen und Weltzustände jetzt schon feststehen. Aber auch die Alternative erscheint problematisch. Keils und anderer Optionen für eine indeterministische Ontologie und eine daraus resultierende starke Willensfreiheit laufen ins Leere, konkret ins Unsagbare. Entweder begnügen sich die libertaren Indeterministen mit der offenen oder impliziten Appellation an starke Willensfreiheit, oder sie bleiben bei einem negativ bestimmten Freiheitsbegriff stehen. Die Neurobiologie beschreibt konkrete Wege, auf welchen die Willensentscheidungen einer Person zustande kommen. Es handelt sich bei ihr um eine relativ junge Wissenschaft, die dennoch schon erstaunlich tiefe Einblicke in die neuronalen Vorgänge im Gehirn und in die mit ihnen korrelierten mentalen Prozesse erarbeitet hat. Wir schauen mit ihrer Hilfe auf das physische Netzwerk, das die biologische Seite der Determination bildet, denen wir als Menschen unterworfen sind. Der große Einfluss, den unsere Gene, unsere bewussten und verdrängten Erfahrungen, sowie unsere Emotionen auf unser Handeln haben, wurde
Einleitung
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allerdings schon vor der Ära der modernen Neurobiologie von Naturphilosophen, Naturwissenschaftlern und Ärzten beschrieben. Mithilfe der neuen Methoden zeigt die Neurobiologie jetzt im Detail, wie die seelisch-leiblichen Zusammenhänge anatomisch und physiologisch verankert sind. Diese Einsichten können im illibertaren Indeterminismus ohne weiteres übernommen werden. Das hier auszuführende alternative Modell zur Willensfreiheitsproblematik weicht indessen von der Grundannahme des ontologischen Determinismus ab, die von den meisten Philosophen und Neurobiologen geteilt wird. Ich schlage vor, an seine Stelle einen Indeterminismus zu setzen, und zwar den Zufallsindeterminismus, der in der Quantenphysik wurzelt. Dabei verfolge ich aber nicht dieselbe Absicht wie die wenigen anderen Autoren, die ebenfalls für den Indeterminismus plädieren. Denn soweit ich sehe, ist der quantenphysikalische Indeterminismus bislang stets nur dafür in Anspruch genommen worden, doch noch einen starken Begriff von Willensfreiheit zu ermöglichen. Es steht dabei wohl die richtige Einsicht im Hintergrund, dass sich starke Willensfreiheit mit dem Determinismus nicht vereinbaren lässt. Aber die betreffenden Gelehrten folgen der Annahme, dass die Verwerfung des Determinismus konsequent zur Entdeckung einer starken Form von Willensfreiheit führen müsse. Das Modell des illibertaren Indeterminismus stellt also eine neue Kombination von bereits vorhandenen Theorieelementen dar. Die Möglichkeit von starker Willensfreiheit wird verneint (deswegen illibertar), ebenso aber die Wahrheit des Determinismus. Diese doppelte Negation führt zur Lösung einer Reihe von schweren Problemen, die die Bestreitung der Willensfreiheit im Rahmen des Determinismus mit sich bringt. Der illibertare Indeterminismus, so lautet die These, ermöglicht eine Art der Lebensführung, in der die Interessen eines vom Humanismus und von der Aufklärung geprägten Menschenbildes innerhalb bestimmter Grenzen gewahrt bleiben. Auch im illibertaren Indeterminismus wird der Mensch nicht seines Glückes Schmied. Aber er wird selbständig beteiligt sein können an seiner Biographie, wenn er weiß, dass die Zukunft nicht nur epistemisch, sondern ontisch offen ist – wenn es ihm gegeben ist, aus dieser Einsicht die richtigen Konsequenzen zu ziehen. Unter Selbständigkeit soll hier das aktive Beteiligtsein des Menschen an seiner Lebensführung verstanden sein, worin die Differenz zu einem fatalistischen Bewusstsein und Gefühl von Getriebensein besteht. Das hier vorgestellte Modell wird anhand der schon wiederholt angesprochenen doppelten Analyseperspektive entwickelt. Es soll nicht nur eine einzelne Entscheidungssituation betrachtet werden, sondern auch der gesamte Verlauf einer Lebensgeschichte. Bei der Entscheidungssituation selbst gehe ich von einer Willensunfreiheit aus. Das bedeutet, um es klar zu benennen, dass eine Person ihre Entscheidungen stets in determinierter Weise vollzieht.1 Kompatibilistische 1 Auf die Frage, ob exakt im Vorgang der Entscheidung ein Zufallsereignis im Gehirn eintreten könnte, komme ich noch zu sprechen. Vgl. u. 193.
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Das Modell des Illibertaren Indeterminismus
Einsichten über unterschiedlich determinierte Entscheidungs- bzw. Handlungsverursachungen können hier ohne weiteres angeschlossen werden. Es erschien bei der Analyse der philosophischen Positionen jedoch nicht als überzeugend, eine Person noch als willensfrei zu bezeichnen, wenn die starke Intuition von alternativen Handlungsmöglichkeiten und Erstauslösung vollständig zurückgewiesen werden muss. Unter der zweiten Analyseperspektive reflektieren wir darauf, wie es sich anfühlt, wenn eine Person ihren Lebenslauf in einer deterministischen bzw. indeterministischen Welt betrachtet. Solange man im Kompatibilismus auf einzelne Entscheidungen blickt, kann eventuell ein Problem verborgen bleiben, das unter der zweiten Analyseperspektive sofort ins Auge fällt. Dies ist der Fatalismus, der zumindest für manche Menschen intuitiv zum Problem werden kann. Unter dieser Perspektive kann gezeigt werden, dass es einen großen Unterschied machen kann, ob man ohne Willensfreiheit in einer deterministischen oder in einer indeterministischen Welt lebt. Dieses Kapitel gliedert sich demnach in acht Abschnitte. Im Anschluss an diese Einleitung (4.1) soll zunächst begründet werden, warum der quantenphysikalische Indeterminismus eine plausiblere Ontologie darstellt als der Determinismus (4.2). Darauf folgt ein kurzer Überblick über die Versuche, auf der Basis des Quantenzufalls eine Theorie von starker Willensfreiheit zu konstruieren, und deren Kritik. Hier wird unter der ersten Analyseperspektive aufgezeigt, dass willensfreie Entscheidungen (im starken, intuitiven Sinne) weder im Determinismus noch im Quantenindeterminismus möglich sind (4.3). Im Anschluss daran werden einige kompatibilistische Argumente gegen die Relevanz des Quantenindeterminismus zurückgewiesen, die unberechtigt sind (4.4). Nach einem Zwischenresümee (4.5) entwerfe ich unter der zweiten Analyseperspektive das Modell des illibertaren Indeterminismus. Es wird sich zeigen, dass in diesem Modell das Fatalismusproblem gelöst werden kann (4.6). Anschließend werden wichtige kompatibilistische Theorieelemente diskutiert, modifiziert und in das neue Modell integriert (4.7). Zum Schluss wird der illibertare Indeterminismus als Rahmen einer Theorie der Lebensführung in einer Welt mit ontisch offenen Lebensläufen skizziert (4.8).
4.2 Der Indeterminismus als die plausiblere ontologische Hypothese Die klassische Physik hat wesentlich zum deterministischen Weltbild der Neuzeit beigetragen, nach dem das Universum wie ein mechanisches Uhrwerk abläuft, dessen zukünftige Zustände schon gegenwärtig feststehen und berechnet werden könnten, wenn man alle notwendigen Informationen hätte. Einen anderen Vergleich für dieses Weltbild stellt das Billardspiel dar. Wenn ein geübter Spieler ent-
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schieden hat, in welcher Tasche eine Kugel landen soll, so kann er den Winkel und die Stärke seines Stoßes so berechnen, dass die Kugel selbst nach häufigem Abprallen an der Bande genau an der vorausberechneten Stelle landet. Nachdem der Stoß geführt wurde, läuft die Kugel exakt so wie sie soll. Wer entsprechend den Anfangszustand des Universums kennen würde und die Geometrie des kosmischen Billardtisches, könnte genau berechnen, wie die Welt sich weiterhin entwickelt. Im Gegensatz zu diesem deterministischen Weltbild hat die Quantenphysik den echten Zufall in der Welt zu denken gelehrt. Damit haben die Väter der Quantenmechanik aber nicht nur Widerhall, sondern auch Widerspruch gefunden. Kein Geringerer als Albert Einstein wehrte sich vehement gegen die Annahme, dass es im Weltlauf Zufälle geben soll. Damit inspirierte er eine kleine Schar von Physikern, eine alternative Interpretation der quantenphysikalischen Zufallsphänomene zu finden, die den Determinismus in der Welt retten sollte. Im Folgenden werden zuerst einige Experimente dargestellt, welche die Einbruchstellen des Zufalls in die Welt zeigen. Daran schließt sich eine Diskussion der Argumente, die den Zufall aus der Quantenwelt schaffen und den Determinismus retten wollen. Nach der Plausibilisierung des tatsächlichen Zufalls in der Welt der kleinsten Teilchen soll gezeigt werden, wie solche kleinmaßstäbigen Zufallsereignisse so in die alltägliche Lebenswelt der Menschen hineinwirken können, dass Lebensläufe von ihnen mitbestimmt werden.
4.2.1 Der Zufall bei Quantenereignissen Quantenvorgänge sind physikalische Vorgänge, die sich im subatomaren Bereich abspielen. Beim Übergang von der mit den Sinnen wahrnehmbaren Alltagswelt in die kleinmaßstäbige Welt der Atome und ihrer „Bestandteile“ verändern sich die Zusammenhänge der beobachteten bzw. erschlossenen Objekte. Die physikalischen Gesetzmäßigkeiten auf der Mikroebene sind andere als die in den Größendimensionen menschlicher Erfahrung.2 Der in der menschlichen Erfahrungswelt von den frühneuzeitlichen Naturwissenschaften entdeckte Determinismus gilt auf der Quantenebene nicht mehr.3 Ein relativ einfaches Beispiel für den Indeterminismus der Quantenwelt kann man am Phänomen des Lichtes aufweisen. Zu diesem Zweck muss aber zuerst etwas breiter ausgeholt werden, um eine merkwürdige Eigenschaft des Lichtes dar‑
2 Vgl. zum Folgenden: Bauberger, Welt, 141–149; Beck, Quantenprozesse 142–146; Börner, Universum, 151–156. 3 Und weil der Determinismus auf der Quantenebene nicht gilt, muss er auch in der Alltagswelt eingeschränkt werden, wie ich unten zeigen werde.
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Das Modell des Illibertaren Indeterminismus
Abb. 9: Doppelspaltexperiment: Versuchsaufbau. Blick von oben auf die Versuchsanordnung (eigene Grafik).
zustellen. Wir beginnen mit einem Experiment aus dem Jahr 1802, dem später so genannten Doppelspalt-Experiment. Der englische Arzt und Naturwissenschaftler Thomas Young (1773–1829) setzte sich mit der Theorie des Lichtes auseinander, die sein Landsmann Isaak Newton aufgestellt hatte. Nach Newton bestand Licht aus einem Strom von kleinsten Teilchen. Young konnte jedoch nachweisen, dass das Licht Eigenschaften einer Welle hat. Teilcheneigenschaften und Welleneigenschaften schließen sich aber nach dem damaligen Stand der Wissenschaft gegenseitig aus. Teilchen sind durch die Grundeigenschaften gekennzeichnet, dass sie eine bestimmte Masse haben und einen bestimmten Ort, an dem sie sich befinden. Sie können diesen Ort zwar ändern, aber nicht gleichzeitig an verschiedenen Orten sein. Wellen hingegen breiten sich im ganzen Raum aus, wie etwa die elektromagnetischen Wellen eines Radiosenders. Sie haben also keinen definierten Ort. Außerdem tragen sie keine Masse. Das Experiment, mit welchem Young den Wellencharakter des Lichts nachwies, war so aufgebaut: Sonnenlicht wird auf einen lichtundurchlässigen Schirm gelenkt, der einen schmalen Spalt hat. Durch diesen Spalt hindurch kann sich das Licht hinter dem Schirm ausbreiten. Der Strahl fächert sich in der abgebildeten Weise auf und trifft nach einem gewissen Abstand auf einen zweiten lichtundurchlässigen Schirm. Dieser hat nun aber zwei schmale Spalte, die parallel zueinander verlaufen. Der Beweis für den Wellencharakter des Lichts wird durch das Verhalten des Strahls erbracht, das er nach dem Durchgang durch den Doppelspalt zeigt. Die in Abb. 9 dargestellte Auffächerung nach dem einfachen Spalt würde sowohl zu Lichtteilchen als auch zu Lichtwellen passen: Bestünde das Licht aus kleinen Teilchen, dann wären diese mit Fußbällen vergleichbar, die durch eine
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Abb. 10: Doppelspaltexperiment: Lichtverlauf hinter dem Doppelspalt, falls das Licht aus Teilchen bestünde.
Torwand geschossen werden. Diejenigen Bälle, die ein Loch in der Torwand passieren, berühren meist die Kante des Torwandloches an irgendeiner Stelle. Dadurch werden sie in leicht unterschiedlicher Weise von ihrer ursprünglichen Flugrichtung abgelenkt, so dass sie nicht alle an derselben Stelle hinter der Torwand auftreffen. Sie verteilen sich vielmehr auf einen größeren Bereich – so wie der Lichtstrahl auf dem zweiten Schirm in Youngs Versuchsaufbau. Wäre das Licht hingegen eine Welle, dann wäre die Auffächerung des Strahls nach dem einfachen Spalt noch leichter zu erklären. Denn es ist eine Grundeigenschaft von Wellen, dass sie sich um Hindernisse herum ausbreiten. Ein Steinwurf in ein Gewässer mit kleinen Felseninseln oder vergleichbaren Hindernissen zeigt diese Eigenschaft bei Wasserwellen sehr anschaulich. Beim Durchgang durch den Doppelspalt hingegen muss es sich zeigen, ob das Licht eine Welle oder ein Teilchenstrom ist. Wenn es ein Teilchenstrom wäre, müsste es sich nach dem zweiten Schirm ungefähr so ausbreiten (Abb. 10). Die Lichtteilchen, die durch die beiden Spalte hindurchgehen, würden zusammen weniger hell erscheinen als der ursprüngliche Strahl. Denn ihre Anzahl und damit ihre Dichte wäre nach dem Durchgang durch den Doppelspalt geringer als in dem Strahl, der direkt aus dem Sonnenlicht gewonnen wurde. Auch diese beiden weniger hellen Strahlen würden sich aber auffächern und sich nach einer ge-
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Abb. 11: Doppelspaltexperiment: Erwartetes Helligkeitsmuster auf dem Beobachtungsschirm, falls Licht aus Teilchen bestünde.
wissen Distanz überlagern. In dem Bereich, in dem sie sich überlagern, erschiene das Licht dann heller, weil sich dort Lichtteilchen aus beiden Teilstrahlen befinden, ihre Dichte also höher wäre als an den Rändern. Wenn man die Lichteffekte nicht von oben betrachtet (wie in den vorherigen beiden Bildern), sondern auf einen dritten Bildschirm (observing screen, s. o.) von vorne blickt, auf dem das teilweise überlagerte Licht auftrifft, würde man also dieses Lichtmuster sehen (Abb. 11). Rechts und links erzeugen die Lichtteilchen ein schwaches Lichtband. Das schwache Lichtband auf der rechten Seite wird durch Teilchen erzeugt, die durch den rechten Spalt kamen, auf der linken Seite entsprechend. Im Zentrum hingegen befinden sich Teilchen, die aus dem linken und dem rechten Spalt kamen. Die Teilchendichte ist hier deswegen größer als an den Rändern, so dass ein hellerer Lichtfleck entsteht. Wenn das Licht hingegen eine Welle wäre, müsste es sich hinter dem Doppelspalt anders verhalten. Auf dem Beobachtungsschirm wäre ein Lichtmuster zu erwarten, das ungefähr so aussieht wie in Abb. 12. Es gäbe dann auf dem Beobachtungsschirm ein Streifenmuster. In der Mitte wäre der hellste Lichtstreifen zu sehen, zu den Rändern hin würden die Lichtstreifen immer weniger hell sein und schließlich verschwinden. Dieses Lichtmuster entsteht durch den Vorgang der Interferenz (Überlagerung). Interferenz tritt bei allen Arten von Wellen auf. Man kann das Phänomen wiederum am anschaulichsten an Wasserwellen erklären. Wirft man einen Stein in einen Teich, entsteht vom Eintauchpunkt aus eine kreisförmige Welle, die sich bis an die Teichränder verbreitet. Wirft man zwei Steine gleichzeitig ins Wasser, entsteht eine solche Wellenstruktur: An den beiden Mittelpunkten von Abb. 13 oben wurden die zwei Steine gleichzeitig in den Teich geworfen (eine größere Schüssel erlaubt dieselben Beobachtungen). An den beiden Punkten entstehen kreisförmige Wellen, die sich zunächst auch als einfache Kreise ausbreiten. Sobald sie sich aber treffen, überlagern sie sich. An den Stellen, wo ein Wellenberg der linken Welle auf einen Wellenberg der rechten Welle trifft, verstärken sich die Wellen gegenseitig, die Wellenberge
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Abb. 12: Doppelspaltexperiment: Erwartetes Helligkeitsmuster auf dem Beobachtungsschirm, falls Licht eine Welle wäre.
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Abb. 13: Überlagerung zweier kreisförmiger Wellen.4
4 Nach Walter Le Conte Stevens, Sensitive Flames and Sound-Shadows, in: Popular Science Monthly, Vol. 36, 1889, (36–48) 47.
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werden höher (weiß). Dasselbe gilt für die Stellen, wo Wellentäler aufeinander treffen: Das Wasser sinkt dort für einen Moment noch tiefer ab (schwarz). Wo aber ein Wellental auf einen Wellenberg trifft, dort löschen sich die Wellen gegenseitig aus (grau). Die Wasseroberfläche liegt an solchen Stellen auf dem Niveau, das der Teich ohne Wellen hätte. Insgesamt entsteht durch diese Überlagerung ein komplexes Oberflächenmuster auf dem Wasser, das die einfachen Kreise durchkreuzt. Wenn sich Lichtwellen überlagern, zeigen sich die Interferenzphänomene nicht als Höhenunterschiedsmuster wie bei Wasserwellen, sondern als Helligkeitsmuster. In Youngs Versuchsaufbau wäre das oben abgebildete Streifenmuster von hell und dunkel zu erwarten. Und tatsächlich erscheint dieses Muster auch auf dem Beobachtungsschirm. Damit hatte Young bewiesen, dass das Licht eine Welle ist. Das ist aber nur die halbe Wahrheit über das Licht. Denn in manchen anderen Experimenten zeigt es keine Welleneigenschaften, sondern solche von Teilchen. Die Physik des 20. Jahrhunderts musste damit leben lernen, dass ein und dasselbe Objekt – Licht – sich mit Eigenschaften zeigen kann, die sich gegenseitig eigentlich ausschließen. In manchen Versuchsaufbauten zeigt Licht Teilcheneigenschaften wie Masse und Ortsbestimmtheit, in anderen Welleneigenschaften wie Masselosigkeit und Ortsunbestimmtheit. Nach diesen Vorbemerkungen kann nun anhand des Lichtes der Indeterminismus der Quantenwelt veranschaulicht werden. In den modernen Doppelspalt-Experimenten werden anstelle des Sonnenlichtes künstliche Lichtquellen benutzt, etwa Laser. Dadurch kann man sowohl zeitlich andauernde Lichtstrahlen erzeugen, so wie Young das Sonnenlicht nutzte. Es ist aber auch möglich, den Lichtstrahl stärker herunterzuregulieren. Genau dabei werden Zufälle sichtbar. Wenn der Laser einen zeitlich andauernden Lichtstrahl erzeugt, zeigt sich auf dem Beobachtungsschirm das Interferenzmuster (hell-dunkle Streifen, Abb. 12). Wird die Energie des Lasers gedrosselt, wird der Lichtstrahl und damit das Interferenzmuster zunächst schwächer. Dann aber, ab einer gewissen Schwelle, löst sich das Streifenmuster auf. Statt dessen zeigen sich einzelne Lichtpunkte, die kurz aufblitzen und dann erlöschen. Je nachdem, wie stark der Laser unterhalb der Schwelle noch arbeitet, verstreicht eine kürzere oder längere Zeit zwischen den einzelnen Lichtpunkten. Die Lichtpunkte selbst treffen nicht immer an derselben Stelle auf dem Beobachtungsschirm auf, sondern verteilen sich auf Gebiete mit größerer Häufigkeit und mit geringerer Häufigkeit. Die folgende Abbildung veranschaulicht dieses Phänomen: Das Ergebnis dieser Versuchsvariante ist unter drei Aspekten interessant. Erstens, indem das Licht nicht mehr als Interferenzmuster erscheint, sondern als Lichtblitz, hat es eine Teilcheneigenschaft angenommen, nämlich die Ortsbestimmtheit. Der Blitz erscheint an einem einzigen Punkt, während das Interferenzmuster einen ganzen Bereich füllt. Licht kann also seine Doppelnatur in ein und demselben Versuchsaufbau zeigen, es muss lediglich die Energiezufuhr bei der Lichtquelle variieren.
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Abb. 14: Doppelspaltexperiment: Einzelne Lichtpunkte auf dem Beobachtungsschirm5
Zweitens, die Lichtpunkte sind nicht vollständig beliebig. Wie Abb. 14 zeigt, liegen die Lichtpunkte stets an einem Ort auf dem Schirm, der beim vollen Interferenzmuster hell wäre. Es gibt keine Lichtpunkte an Stellen, die im Interferenzmuster dunkel wären (vgl. Abb. 12). Wo genau aber die Lichtblitze auf den möglichen Stellen des Schirmes erscheinen, ist völlig zufällig. Damit stehen wir jetzt vor der Zufälligkeit der Quantenereignisse: Man kann für jeden Punkt auf dem Schirm eine Wahrscheinlichkeit dafür angeben, mit welcher an ihm ein Lichtteilchen (ein Photon) erwartet werden kann. Für manche Stellen ist diese Wahrscheinlichkeit 0, für andere Stellen hat sie höhere Werte. An welcher der Stellen, für welche die Auftreff-Wahrscheinlichkeit nicht bei 0 liegt, das einzelne Lichtteilchen sich faktisch zeigt, ist zufällig. Der Quantenindeterminismus unterliegt also statistischen Wahrscheinlichkeitsgesetzen für eine Klasse von Ereignissen. Im Rahmen dieser statistischen Gesetze fällt das einzelne Ereignis aber zufällig aus. Drittens, ob das Licht seine Wellen- oder seine Teilcheneigenschaften zeigt, hängt davon ab, ob man eine Ortsmessung durchführt oder nicht. Misst man den Ort, zeigt es eine Teilcheneigenschaft; misst man den Ort nicht, verhält es sich wie eine Welle. Dieser Punkt ist wichtig für die Interpretation der Quantenphysik, deswegen müssen wir noch kurz bei ihm verharren. Nicht nur das Licht zeigt eine Doppelnatur von Welle und Teilchen, sondern auch andere Strukturen in den kleinsten Raumdimensionen. Elektronen, Pro5
5 Diese Grafik wurde vom Autor unter Wikimedia-Commons zur freien Verfügung, Bearbeitung und Weitergabe unter gleichen Bedingungen eingestellt. Ich bedanke mich an dieser Stelle bei ihm. Abruf unter http://commons.wikimedia.org/wiki/File:Doubleslitexperiment.svg am 12. Dez. 2014.
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tonen und andere Elementarteilchen zeigen den Welle-Teilchen-Dualismus genauso wie Wärmestrahlung, Lichtstrahlung, Röntgen- und andere elektromagnetische Strahlung. Das bedeutet, dass auch im Zusammenhang mit diesen physikalischen Objekten die geschilderten Zufallsereignisse auftreten können. Mathematisch wird dieser Eigenschaftsdualismus im Rahmen der Kopenhagener Deutung6 der Quantentheorie so interpretiert: Alle Quantenobjekte können durch eine Wellengleichung beschrieben werden, die so genannte Schrödingergleichung. Diese Gleichung gibt an, mit welcher Wahrscheinlichkeit ein Quantenteilchen an einem bestimmten Ort gemessen werden könnte, wenn man eine Ortsmessung durchführen würde. Dies führt zu folgender Schwierigkeit: Nehmen wir für Abb. 14 der Einfachheit halber an, die Schrödingergleichung für ein einzelnes Photon gebe 100 Orte an, an welchem es mit 1 %iger Wahrscheinlichkeit gemessen werden könnte, für alle anderen Orte die Wahrscheinlichkeit 0. Wenn wir nun den Beobachtungsschirm an der üblichen Stelle anbringen, wird sich das Photon an einem der möglichen 100 Orte zeigen. Dann ist es aber definitiv nur an diesem Ort nachgewiesen, die Wahrscheinlichkeit für seine Anwesenheit an dieser Stelle beträgt 100 %. Darin besteht das so genannten Messproblem: Die Schrödingergleichung sagt zum Zeitpunkt t1 voraus, an welchen Punkten das Quantenobjekt mit welchen Wahrscheinlichkeiten gemessen werden kann. Wird zum Zeitpunkt t1 nicht gemessen, kann in die Schrödingergleichung ein beliebiger Zeitpunkt t2 eingesetzt werden, und wieder erhalten wir die Werte für die Wahrscheinlichkeit, mit der wir an verschiedenen Orten das Quantenobjekt finden können, wenn wir eine Ortsmessung durchführen würden. Nun ist aber der Wahrscheinlichkeitswert für die Messung des Teilchens an einem bestimmten Ort zum Zeitpunkt t2 ein anderer, je nachdem ob zum Zeitpunkt t1 auch schon gemessen wurde oder nicht. Das heißt, wenn wir ein Photon zum Zeitpunkt t1 messen, ist die Wahrscheinlichkeit, es zum Zeitpunkt t2 an einem bestimmten Ort messen zu können, eine andere als die, die sich für den Fall ergibt, dass wir es zum Zeitpunkt t1 nicht gemessen hätten. Die Messung zum Zeitpunkt t1 verändert also den zukünftigen Zustand des gemessenen Objekts. Das ist bei einem makroskopischen Objekt, etwa einem Fußball, nicht der Fall. Wenn der Ball abgeschossen wurde und wir ihn nach einigen Sekunden (= t1) mithilfe einer Lichtschranke an einem bestimmten Ort messen, wird durch diese Messung sein weitere Bahn zu allen Zeiten t2, t3 usw. nicht beeinflusst. Bei Quantenobjekten aber verändern Messungen die Eigenschaften des gemessenen Objekts. 6 Dass die Kopenhagener Deutung keine eindeutige Interpretation der empirischen Phänomene darstellt, hat etwa Ijjas, Alte, 60–77, ausführlich dargestellt. Sie bevorzugt deswegen auch den Ausdruck Kopenhagener Formulierung. Die Kopenhagener Deutung liegt nirgends als Text vor, sondern muss aus den verschiedenen Äußerungen Nils Bohrs und Werner Heisenbergs rekonstruiert werden. Diese Rekonstruktionen unterscheiden sich von Autor zu Autor, unter anderem auch deswegen, weil Bohr und Heisenberg bei ihrer Interpretation der empirischen Befunde nicht vollständig übereinstimmten.
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Dieser Sachverhalt ist für unseren Zusammenhang deshalb wichtig, weil das Zufallsereignis bei den beschriebenen Experimenten durch die Messung bedingt ist. Die Messung verursacht, dass sich das Photon zufällig an einem der ihm möglichen Orte zeigt. Werden die einzelnen Photonen im Doppelspalt-Experiment nicht durch den Beobachtungsschirm gemessen, zeigen sie sich auch nicht zufällig an einem der möglichen Orte. Die Schrödingergleichung beschreibt die Messerwartungs-Wahrscheinlichkeiten für ein Quantenobjekt für jedes Zeit/Ort-Paar in völlig deterministischer Weise. Es gibt in dieser Gleichung keine unbestimmten Werte. Erst wenn tatsächlich gemessen wird, stürzen die Wahrscheinlichkeitswerte für jeden Ort auf 0 %, außer für den Ort, an dem das Objekt tatsächlich gemessen wurde. Dort beträgt er jetzt 100 %. Man spricht hier von dem Zusammenbruch der Wellenfunktion. An welchem der möglichen Orte das Quantenteilchen gemessen wird, ist zufällig. Quantenindeterminismus bedeutet demgemäß (in verallgemeinerter Ausdrucksweise): Einzelne Quantenereignisse sind nicht völlig chaotisch, denn sie haben keine völlig beliebigen Ausgänge. Aber sie sind zufällig, weil sich für einzelne Ereignisse nur Wahrscheinlichkeiten für die Realisierung eines bestimmten Ausgangs angeben lassen. Bettina Walde bezeichnet dies als einen probabilistischen Determinismus7, was jedoch keine sinnvolle Bezeichnung darstellt. Denn wenn man bestimmte Ereignisse nur noch mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit erwarten kann, liegen sie eben nicht mehr fest, bzw. sind sie nicht mehr determiniert. Dennoch sind Quantenereignisse als ontisch indeterminierte Vorgänge nicht völlig regellos, sondern gehorchen statistischen Gesetzmäßigkeiten. Einzelne Quantenereignisse sind also nicht determiniert, sondern zufällig innerhalb gewisser Rahmenwerte. Nun müsste als nächstes gezeigt werden, wie solche Ereignisse, die in kleinsten räumlichen Dimensionen stattfinden, sich im Alltagsbereich menschlicher Existenz bemerkbar machen können. Aber bevor wir uns dieser Frage zuwenden, müssen wir noch kurz auf alternative Interpretationen der Quantentheorie eingehen. Denn nicht nur Einstein missfiel eine Welt, die nicht durchgängig determiniert ist. Er hat auch Nachfolger gefunden, die sich um eine deterministische Korrektur der Kopenhagener Deutung bemühten. 7 Walde, Fingerschnipsen, 148. Auch Beck geht bei ihrem naturalistischen Freiheitskonzept von einem probabilistischen Kausalitätsverständnis aus anstelle „eines universellen Laplace-Determinismus“. Vgl. Beck, Menschenbild, 144. Sie vertritt ein naturalistisches Freiheitsverständnis, das sie so definiert: „Freiheit als personale Fähigkeit besteht in dem graduellen Vermögen, selbstbestimmte Entscheidungen zu treffen und Handlungen auszuführen, welche mit den kontingenten, flexiblen personalen Eigenschaften und Dispositionen eines Individuums in Einklang stehen, und somit einen Unterschied im weiteren Weltverlauf ausmachen.“ (korr. aus „auszumachen“). Damit will sie den „Dissens zwischen kompatibilistischen und libertarischen Freiheitstheoretikern […] als ‚phoney war‘“ aufgelöst haben. Allerdings verbindet ihre Freiheitsdefinition Pauensche Begriffe mit der Vorstellung einer Änderung des Weltlaufs, also Determinismus mit Akteurskausalität, ohne diese Verbindung zu erläutern.
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4.2.2 Alternative Quantentheorien ohne Zufall und Indeterminismus Bei der Suche nach deterministischen Varianten der Quantentheorie wirkte vor allem Albert Einsteins Kritik an der noch jungen Theorie nach. Zwar kann sein berühmtes Diktum „Der Alte [scl.: Gott] würfelt nicht“ möglicherweise nicht in einem allgemein-deterministischen Sinne interpretiert werden8. Einsteins Schüler David Bohm versuchte jedoch, den Zufall aus der Quantenwelt zu eliminieren, indem er nach „verborgenen Parametern“ (hidden variables) suchte. Bohm nahm an, dass die von den Begründern der Quantenmechanik als zufällig angesehenen Phänomene nur scheinbar zufällig seien. Dieser Schein entstehe dadurch, dass wir noch nicht alle Größen kennen, die in die Schrödingergleichung für die zeitliche Entwicklung eines Quantensystems eingehen. Man könnte dies mit der Aussage vergleichen, dass uns das tägliche Wetter auch mehr oder weniger zufällig vorkommt (innerhalb eines gewissen Wahrscheinlichkeitsrahmens, der durch die Jahreszeiten gegeben ist), aber nur deswegen, weil wir noch nicht genau wissen, welche Faktoren es insgesamt bestimmen. Wenn wir aber die verborgenen Wetterfaktoren einmal gefunden haben würden, könnten wir das Wetter exakt vorausberechnen. Die tägliche Witterung wäre dann nicht mehr zufällig, sondern würde sich notwendig gemäß den dann vollständig erkannten Faktoren einstellen. In dieser Weise postuliert Bohm auch für die Quantentheorie bisher noch unbekannt gebliebene Größen in den Formeln, die das Verhalten der Quantenteilchen dann doch bis ins Einzelne genau festlegen (determinieren). Solche hidden variables wurden aber in den letzten sechs Jahrzehnten nicht gefunden, und die meisten Physiker akzeptieren heute den Zufall in der Quantendimension der physischen Wirklichkeit: So schreibt etwa Jürgen Audretsch: „Es gibt bisher keine Situation, in der die […] alte Standard-Quantentheorie versagt hätte“.9 An anderer Stelle führt er dieses Urteil weiter aus: In der Quantenphysik, so wie sie sich in der Standard-Quantentheorie zeigt, gibt es keinen Bereich, in dem die Quantenobjekte sich deterministisch verhalten. Sie zeigen stets Zufall einschließlich der festen Regeln für die relativen Häufigkeiten. Man kann daher den quantentheoretischen Zufall als nicht weiter rückführbaren, absoluten oder genuinen Zufall bezeichnen.10
Der britische Physiker und Theologe John Polkinghorne äußert sich im gleichen Sinne: Wir werden an späterer Stelle noch sehen, dass eine deterministische Interpretation der Quantentheorie möglich ist, in der sich Wahrscheinlichkeiten als Folge unserer 8 Vgl. Mühling, Einstein, 296–299. 9 Audretsch, Welt, 139. 10 Audretsch, Zufall, 45 f.
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Unkenntnis von Details ergeben. Wir werden jedoch auch sehen, dass die Theorie, die auf diese Weise ihr Ziel erreicht, andere Eigenschaften hat, die sie für die Mehrheit der Physiker wenig attraktiv erscheinen lässt.11
Speziell zu Bohm vertritt er die Einschätzung: Man hätte vermuten können, dass eine deterministische und anschauliche Version der Quantentheorie große Anziehungskraft auf Physiker ausübt. Tatsächlich haben sich nur wenige Bohms Ideen zu Eigen gemacht […] Sie wirkt gekünstelt, und das macht sie unattraktiv […] Woher stammt […] diese Gleichung? Die ehrliche Antwort müsste lauten, dass sie eigentlich aus der Luft gegriffen ist […] Sie stellt also nichts anderes als eine ad hoc-Strategie mit dem Ziel dar, empirisch akzeptable Antworten liefern zu können.12
Derartige Äußerungen ließen sich noch leicht vermehren. An dieser Stelle soll jedoch nur noch eine Bemerkung Raum finden für den Fall, dass Bohms Projekt der verborgenen Variablen in der Außenwahrnehmung auch von der persönlichen Autorität Albert Einsteins unterstützt wird. Dieser beurteilte nämlich später das Unternehmen seines Schülers sehr kritisch. 1952 schrieb Einstein an Max Born: Hast Du gesehen, daß der Bohm (wie übrigens vor 25 Jahren schon de Broglie) glaubt, daß er die Quantentheorie deterministisch umdeuten kann? Der Weg scheint mir zu billig. Aber Du kannst das natürlich besser beurteilen.13 11 Polkinghorne, Quantentheorie, 68. 12 AaO. 84 f.; Ähnlich Schmidt, Quantenphysik, 262: „Die Reichweite der Aussage dieses wichtigen Experiments [scl. von Alain Aspect 1982] kann gar nicht genügend betont werden. Damit ist allen Versuchen der Boden entzogen, die zu einer kausal geschlossenen Welt zurückkehren wollen […]. Der Vollständigkeit halber muss erwähnt werden, dass nichtlokale Theorien von der allgemeinen Widerlegung durch die Bell’sche Ungleichung ausgenommen sind. Bei denen gibt es dafür andere schwerwiegende Probleme, vor allem bei der Konstruktion relativistischer Invarianten, ohne die sich physikalisches Geschehen nicht objektivieren lässt.“ 13 Einstein/Born, Briefwechsel, 258. Borns Antwort ist leider nicht überliefert. Aber in seiner Ausgabe des Briefwechsels kommentiert er die Äußerung seines Briefpartners so: „Mein Bericht über Freundlichs Zweifel an den astronomischen Bestätigungen der Relativitätstheorie ließ Einstein völlig kühl. Er hielt die logische Grundlage seiner Gravitationstheorie für unerschütterlich. Die neueren Beobachtungen haben ihm recht gegeben. Merkwürdig ist, daß er die Analogie der Lage mit der in der Quantenmechanik nicht anerkennt. Er verwirft den Begriff ‚Inertialsystem‘ als ‚Gespenst, das auf alles wirkt, auf das aber die Dinge nicht zurückwirken‘; was doch heißt: als eine ad hoc gemachte, nicht kontrollierbare Hypothese. Aber er wollte nicht zugeben, daß dasselbe für die Annahme zutrifft, die Vorgänge in der atomaren Welt ließen sich durch in Raum und Zeit fixierbare Dinge beschreiben, die nach dem Vorbild der Alltagswelt handfest und wirklich sind und deterministischen Gesetzen gehorchen. Hiermit hängt seine Bemerkung über die Theorie von David Bohm zusammen. Obwohl diese ganz in der Linie seiner eigenen Gedanken lag, schien ihm eine einfache deterministische Umdeutung der quanten-mechanischen Formeln ‚zu billig‘. Heute ist von diesem Versuch Bohms wie von ähnlichen De Broglies kaum noch die Rede.“ AaO. 258 f. Zum Verhältnis Einsteins zu Bohms Theorie vgl. aaO. 266, 270–277.
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Ein weiterer Versuch, den Indeterminismus der Quantenmechanik zu überwinden, liegt in der so genannten many worlds theory von Hugh Everett vor14. Everett nahm an, dass bei jeder Messung eines Quantenobjektes nicht nur ein möglicher Ausgang realisiert werde, der dann als zufällig erscheint, sondern dass alle möglichen Ausgänge tatsächlich verwirklicht werden – allerdings in verschiedenen Welten, die voneinander völlig isoliert sind. Auf das oben aufgestellte vereinfachte Rechenbeispiel angewendet würde das heißen: Wir nehmen wieder an, dass die Schrödingergleichung für ein Quantenobjekt angebe, dass es sich zum Zeitpunkt t an 100 Orten mit einer Wahrscheinlichkeit größer als 0 messen lassen würde. An allen anderen Orten wäre diese Wahrscheinlichkeit exakt gleich Null. Wenn nun zum Zeitpunkt t tatsächlich gemessen wird, wird nach Everett das Quantenobjekt auch an allen 100 möglichen Orten nachgewiesen. Aber gleichzeitig spaltet sich das Universum auch in 100 Parallelwelten auf. In jedem dieser Universen wird das Quantenobjekt an jeweils einem Ort gemessen, so dass für jeden Beob achter dieser Ort als zufällig erscheint. Wer aber die Universen von außen beobachten könnte, würde sehen, dass alle möglichen Orte realisiert würden. Dadurch wäre der Zufall ausgeschlossen. Obwohl sich zeitweilig auch führende Physiker dieser Theorie anschlossen, gilt sie heute als eine eher exotische Ansicht. John Polkinghorne schrieb 2006: In letzter Zeit scheint die Zahl der Physiker, die der Viele-Welten-Theorie zuneigen, angewachsen zu sein. Für die meisten von uns ist sie nach wie vor ein metaphysischer Vorschlaghammer, mit dem man eine zugegebenermaßen harte Quantennuss zu knacken versucht.15
Auch Audretsch urteilt, dass „die Viele-Welten-Interpretation […] von Physikern zumeist abgelehnt“ wird.16 Die Physikerin und Theologin Anna Ijjas befasst sich in ihrer Dissertation mit dem sprechenden Titel Der Alte mit dem Würfel ausführlich mit der Frage nach der Bedeutung der Quantentheorie für die Ontologie und kommt dabei zu dem Schluss: Die Wahrscheinlichkeitsaussagen der Quantenmechanik epistemisch zu deuten, um so dem Programm des metaphysischen Determinismus zu genügen, gelingt […] offenbar nicht. Sowohl die Viele-Welten-Theorie als auch die Bohmsche Mecha nik müssen als Reformulierungen schon allein wegen der Inkonsistenzen des jeweils verwendeten Wahrscheinlichkeitskonzeptes zurückgewiesen werden. Auf den Punkt gebracht: Der Versuch, den Standard-Formalismus in einen deterministischen Kontext einzubetten, erzeugt eine Reihe von Widersprüchen. Die Einbettung desselben Formalismus in einen indeterministischen Kontext liefert diese Para 14 Es ist hierbei zu beachten, dass es in der kosmologischen Theoriebildung ebenfalls zu Hypothesen über die Existenz von vielen Universen gekommen ist. Diese kosmologischen Hypothesen haben aber keinen Zusammenhang mit Everetts Deutung der Quantentheorie. 15 Polkinghorne, Quantentheorie, 82. 16 Audretsch, Welt, 151; vgl. Börner, Universum, 161.
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doxa nicht. Bereits aus (1)17 folgt nach dem Kriterium der Voraussagbarkeit, dass die Quantenmechanik als Indiz für die Wahrheit des Indeterminismus aufgefasst werden kann. (2)18 bestätigt dieses Resultat und schwächt weiter die philosophische Position des metaphysischen Determinismus. Folglich erscheint die Haltbarkeit desselben mehr als fraglich. Denn als metaphysische Hypothese ist der Determinismus zwar empirisch unwiderlegbar. Ein stärkeres Gegenargument als die Unvereinbarkeit mit einer experimentell bestens bestätigten naturwissenschaftlichen Theorie gibt es jedoch kaum.19
Ebenfalls unter Berufung auf die Quantenphysik (aber auch auf andere physikalische Theorien) bestreitet Brigitte Falkenburg den Determinismus in der Welt, der von manchen Neurobiologen (sie nennt Wolf Singer und Gerhard Roth) als Voraussetzung ihrer mechanistischen Menschenbilder veranschlagt werde.20 Auch wenn der Quantenindeterminismus noch nicht zum allgemeinen ontologischen Paradigma geworden ist, rechtfertigen die hier referierten Urteile von Vertretern der Physik, im Vorgriff auf einen Paradigmenwechsel eine indeter ministische Ontologie als Rahmen eines Handlungs- und Entscheidungsmodells anzusetzen. Ich schließe mich hier Markus Mühling an: „Das Vorhandensein ontischer Ursachenlosigkeit auf der Ebene der Quantenwelt kann naturphilosophisch als gesichert gelten.“21 Auf einzelne Argumente von Autoren, die sich in der Willensfreiheitsdebatte entweder für den Determinismus oder für den Indeterminismus plus Willensfreiheit ausgesprochen haben, werde ich an späterer Stelle noch eingehen. Vermutlich sträuben sich viele nicht-libertare Autoren deswegen gegen die Aufgabe des deterministischen Weltbildes, weil sie den Indeterminismus stets als Grundlage für die Konstruktion eines problematischen
17 Das Zwischenergebnis (1), auf das sich Ijjas hier bezieht, lautet: „Keine der (Re)Formulierungen ist imstande, der Forderung der exakten Berechenbarkeit zu genügen. Der Systemzustand ist nach wie vor durch |ψ) gegeben, Messergebnisse können lediglich mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit vorausgesagt werden.“ (Ijjas, Alte, 144). 18 Zwischenergebnis (2) lautet: „Zwischen der jeweiligen Wahrscheinlichkeitsdeutung und dem metaphysischen Forschungsprogramm besteht ein enger Zusammenhang; dieser lässt sich unten stehender Tabelle entnehmen: Reformulierungen mit dem metaphysischen Determinismus als Programm (D) müssen die Möglichkeit einer ontischen Begriffsdeutung (O) von Vornherein ausschließen. Sofern nämlich ein jedes Ereignis (durch die gegebenen Anfangs- und Randbedingungen) zu jeder Zeit eindeutig festgelegt wird, können Wahrscheinlichkeitsaussagen nur epistemischer Natur sein (E), sie gründen stets in Unkenntnis bzw. Informationsmangel. Reformulierungen ohne Vorentscheidung für den metaphysischen Determinismus (¬D) bleibt dagegen grundsätzlich offen, eine der beiden Begriffsdeutungen (O/E) zu wählen. Ohne eine a priori vertretene Position ist es möglich, zunächst nach der Vereinbarkeit des Formalismus mit unterschiedlichen Wahrscheinlichkeitskonzepten zu fragen und im Falle eines negativen Befunds auf eines der Konzepte zu verzichten.“ (AaO. 144 f.). 19 AaO. 145 f. 20 Vgl. Falkenburg, Mythos, VII, 319–326. 21 Mühling, Liebesgeschichte, 147, vgl. 143–146.
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Begriffs von Willensfreiheit in Anspruch genommen sehen.22 Im folgenden Abschnitt soll jedoch zunächst dargestellt werden, wie der Zufall im Quantenbereich der Wirklichkeit in die menschliche Erfahrungswelt gelangt. Das ist notwendig, weil zum Beispiel Ted Honderich zugesteht, dass es in der Größendimension der Quantenereignisse echte Zufälle gebe. Seiner Meinung nach haben aber diese Zufälle keinerlei Auswirkung auf die menschliche Lebenswelt. Deswegen bezeichnet er sich an manchen Stellen auch nicht als Deterministen, sondern als BeinaheDeterministen.23
4.2.3 Quantenzufall und menschliche Lebenswirklichkeit Der Zufall entsteht in den quantenphysikalischen Experimenten durch die Messung einer Eigenschaft des Quantenobjekts. Er ist also an eine artifizielle Umgebung gebunden. Daher stellt sich die Frage, ob es sonst auch zufällige Quantenereignisse gibt, die ohne die Messung durch eine technische Apparatur auftreten und die sich zudem auch noch auf die Mesowelt24 menschlicher Lebensführung auswirken können. Um dieses Problem zu diskutieren, kommen wir zunächst auf Erwin Schrödingers berühmtes Gedankenexperiment zu sprechen (Abb. 15). Bei diesem Experiment wird eine radioaktive Substanz in einen geschlossenen Behälter gebracht. Die Zerfallsprozesse der instabilen Atomkerne dieser radioaktiven Substanz unterliegen der Quantenmechanik, sind also im Einzelnen zufällig, gehorchen aber statistischen Wahrscheinlichkeiten. So wie das einzelne Photon beim Doppelspalt-Experiment im Augenblick der Messung sich an einer zufälligen Stelle zeigte, so zerfallen radioaktive Atomkerne zu zufälligen Zeitpunkten. Aber so wie die Photonen einer räumlichen Verteilungsstatistik unterworfen sind, so unterliegen die instabilen Atome einer zeitlichen Zerfallsstatistik. Die statistische Wahrscheinlichkeit für den atomaren Zerfall eines Atoms beträgt in Schrödingers Gedankenspiel 50 % im Zeitraum von einer Stunde. Das heißt: Die Chance, dass im Zeitraum einer Stunde ein Atom zerfällt, ist 1 : 1. Falls der Zerfall eintritt, registriert ihn ein Geigerzähler anhand der Strahlung, die bei dem Zerfall freigesetzt wird. Mit dem Geigerzähler ist ein Auslösemechanismus verbunden, und zwar so, dass der Mechanismus ausgelöst wird, wenn der Geigerzähler den Zerfall registriert. Der Auslösemechanismus wiederum ist so angebracht, dass er ein Glasgefäß zerschlägt, in dem sich tödlich giftiger Zyanwasserstoff befindet. Die Katze, die sich mit in dem Behälter befindet, atmet das Giftgas ein und 22 So etwa G. Roth, vgl. o. 159. 23 Vgl. Honderich, Determinismus-Problem, 11. 24 Ich übernehme im Folgenden die von der Evolutionären Erkenntnistheorie eingeführte Unterscheidung von Mikrowelt (atomare Dimensionen), Mesowelt (Dimensionen des menschlichen Alltagslebens) und Makrowelt (astronomische Dimensionen). Vgl. Vollmer, Evolutionäre Erkenntnistheorie, 161–165: Die Welt der mittleren Dimensionen.
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Abb. 15: Schrödingers Katze (Gedankenexperiment).25
stirbt dabei – wenn ein radioaktiver Zerfall stattgefunden hat. Schauen wir nach einer Stunde in den Behälter, liegt die Wahrscheinlichkeit bei jeweils 50 % dafür oder dagegen, die Katze lebendig anzutreffen. Schrödinger hat sich dieses Experiment ausgedacht, um die Frage zu diskutieren, wodurch der radioaktive Zerfall ausgelöst wird. Im Doppelspalt-Experiment war es die Ortsmessung, die das zufällige Erscheinen des Photons erzwungen hat. Wodurch aber wurde der zufällige Zerfall bei Schrödingers Katze hervorgerufen? Zur Lösung dieses Problems wurden unterschiedlichste Vorschläge gemacht: 25
(1) Die Messung bzw. das Eintreten oder Nicht-Eintreten des zufälligen Zerfalls innerhalb einer Stunde wurde durch den Geigerzähler verursacht. Denn dieser ist die Messvorrichtung für radioaktive Zerfälle. (2) Die Wahrnehmung der Katze hat das Eintreten bzw. Nichteintreten des Zerfalls hervorgerufen. (3) Der Experimentator hat zu dem Zeitpunkt, an dem er nach einer Stunde den Behälter öffnete, das Eintreten bzw. Nichteintreten des Zerfalls bedingt. Vorher habe sich die Katze und das ganze System im Behälter in einem wellenförmigen Überlagerungszustand befunden, so wie nicht gemessene Photonen im Doppelspalt-Experiment keine bestimmten Orte haben, sondern sich im wellenartigen Überlagerungszustand befinden. Die Katze wäre also vor dem Blick in den Behälter im Überlagerungszustand (tot + lebendig). 25 Diese Grafik wurde von dem Autor Dhatfield unter Wikimedia-Commons zur freien Verfügung, Bearbeitung und Weitergabe unter gleichen Bedingungen und mit Nennung seines Namens eingestellt. Ich bedanke mich an dieser Stelle bei ihm. Abruf unter http://commons.wikimedia.org/wiki/File:Schrodingers_cat.svg?uselang=de am 12. Dez. 2014.
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Das hier dargestellte Problem wird unter Physikern und Erkenntnistheoretikern lebhaft diskutiert. Jedoch zweifelt kaum jemand daran, dass die Katze in Schrödingers Experiment tatsächlich schon tot oder lebendig ist, bevor der Versuchsleiter nachschaut. Die Mehrzahl der Physiker geht heute im Rahmen der Dekohärenztheorie26 davon aus, dass beim Zusammenspiel von einzelnen Quantenobjekten mit vergleichsweise größeren Strukturen (wie etwa dem Versuchsapparat) das Gesamtsystem einen eindeutigen Wert annimmt, der von den Wahrscheinlichkeitswerten her möglich ist. Der Zerfall oder Nichtzerfall eines radioaktiven Atoms findet also deswegen statt, weil es in die Atomaggregate seiner Umgebung verflochten ist. Die Messung von einzelnen Quantenobjekten geschieht immer dann, wenn sie mit kompakteren Gegenständen in Kontakt kommen. Schrödingers Katze ist also nicht das hybride Wesen, als das sie durch die Literatur geistert. Innerhalb einer Stunde zerfällt in ihrem Gefängnis ein radioaktives Atom, und zwar zufällig, mit einer Wahrscheinlichkeit von 50 %. Das ontisch (und nicht nur epistemisch) zufällige Zerfallen des Atoms hat sich in diesem Gedankenexperiment also zu einem ontisch zufälligen Sterben oder Überleben der Katze aufgeschaukelt. Die Auswirkungen von Quantenzufällen in die größer dimensionierte Erfahrungswelt von Katzen und Menschen findet auch nicht nur bei einer experimentellen Messung in einem artifiziellen Versuchsaufbau statt. Der Zusammenbruch der Wellenfunktion für Quantensysteme stellt sich dort ein, wo immer einzelne Quantenteilchen mit größeren, komplexen Strukturen interagieren. Wir entgehen also nicht der Anerkennung objektiver Ereignisse, die nicht deterministisch aus der Schrödingergleichung folgen und die auch nicht durch einen menschlichen Beobachtungsakt erzeugt sind. Im obigen Fall entstehen sie zwar in einem von Menschen gebauten Apparat, aber ehe ein Mensch das Resultat betrachtet hat. Erkennen wir dies an, so haben wir keinen Grund, Ereignisse auf Beobachtungen zu beschränken. Im Grunde geschieht mit dieser Anerkennung nichts anderes als die Anerkennung des allgemeingültigen Indeterminismus der Quantentheorie.27 26 Dekohärenz bedeutet im Grunde die Unterdrückung der Welleneigenschaften von Quantenobjekten, so dass sie sich wie normale Objekte der klassischen Physik verhalten. Dekohärenz findet statt, wenn einzelne Quantenobjekte mit Gegenständen aus ihrer Umgebung interagieren. „Wenn […] ein geladenes Teilchen durch Luft fliegt, tritt es ständig in Wechselwirkung mit Luftmolekülen, die die Bahn des Teilchens ‚messen‘, auch wenn nie jemand diese Informationen über die Bahn des Teilchens zur Kenntnis nimmt.“ (Bauberger, Welt, 180). Vgl. auch Kiefer, Quantentheorie, 68–76. 27 Von Weizsäcker, Zeit, 338. Vgl. Polkinghorne, Quantentheorie, 76 f.: „Die ursprüngliche Kopenhagener Deutung ging nicht auf das Problem ein, wie determinierende Apparate aus einem undeterminierten Quantensubstrat hervorgehen konnten […]. Ich glaube, dass die Mehrzahl der heute arbeitenden Quantenphysiker sich zu einer Interpretation bekennen würde, die man als ‚Neue Kopenhagener Deutung‘ bezeichnen könnte. Nach dieser Deutung ermöglichen die Größe und Komplexität der makroskopischen Apparate es ihnen irgendwie, die determinierende Rolle zu übernehmen“. Es geht hier um die Tatsache, dass die Experimental
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Damit sind wir an dem Punkt angekommen, über schrödingers-katze-ähnliche Phänomene nachzudenken, die den echten Quantenzufall in die menschliche Lebenswelt einführen können. Eine makabre Möglichkeit wäre natürlich, Schrödingers Katzenexperiment im realen Leben im Selbstversuch durchzuführen. Dann würde ein echter Zufall über Leben und Tod entscheiden, während bei anderen „Spielen“ mit der Lebensgefahr (wie etwa bei russischem Roulette) nur ein epistemischer Zufall wirkt. Ein anderes Beispiel mit größerer Lebensnähe stammt von dem englischen Philosophen John Dupré28. Er konstruiert einen quantenmechanisch induzierten echten Zufall im Zusammenhang mit einem Münzwurf. Dazu ist zu bemerken, dass ein Münzwurf – ebenso wie ein Würfelwurf – grundsätzlich ein deterministischer Vorgang ist. Er kann nur deswegen im Alltagsleben als Zufallsgenerator benutzt werden, weil der Werfer nicht die feinmotorische Geschicklichkeit und auch nicht die notwendige Sehfähigkeit hat, um die Münze zielgerichtet werfen zu können. Dupré nimmt an, dass ein Luftzug bei einer bestimmten Stärke den Flug der Münze beeinflussen kann, und zwar deterministisch. Die Münze würde noch immer notwendig so landen, wie es die Gesetze der Physik festlegen – allerdings mit dem Luftzug anders als ohne ihn. Um das Gedankenexperiment noch raffinierter zu machen, führt Dupré schließlich noch ein Quantenereignis ein, etwa ein Quantum Höhenstrahlung, welche ein einzelnes Luftmolekül zufällig so beeinflusst, dass der Luftzug insgesamt genau die Stärke bekommt, dass er zum Kippen der Münze ausreicht. Dabei ist vorausgesetzt, dass die meisten Münzwürfe so „wuchtig“ sind, dass Quantenzufälle keinen Einfluss auf das Ergebnis haben. Bei einer besonders instabilen deterministischen Flugbahn könnte jedoch sehr wohl ein einzelner Quantenzufall über das Ergebnis Kopf oder Zahl entscheiden. An diesem Beispiel lässt sich gut veranschaulichen, dass der illibertare Indeter minismus davon ausgeht, dass sehr viele, vielleicht sogar die meisten Ereignisse in der Meso- und Makrowelt deterministisch verlaufen. Allerdings gibt es auch einen gewissen, noch ungeklärten Prozentsatz von echten Zufallsereignissen, welche die durchlaufenden Determinationsketten durchbrechen. Wem Duprés Beispiel bisher noch nicht existentiell genug ist, mag noch erfahren, dass sein Münzwerfer sein gesamtes Familienvermögen auf das Ergebnis gesetzt hat. Ein noch weniger artifizielles Beispiel ergibt sich aus der folgenden Überlegung: Jede Form von ionisierender Strahlung kann quantenzufällige Ereignisse apparatur, in welcher die undeterminierten Quantenobjekte ihre zufälligen und bestimmten Werte annehmen, selbst aus Quantenobjekten (Elementarteilchen, Atomen) bestehen. Die Apparatur ist determinierend, weil sie bestimmt, dass die einzelnen Quantenobjekte einen bestimmten Wert annehmen. Dieser Wert ist dann aber zufällig (im Rahmen der Wahrscheinlichkeitsfunktion, die dem Quantenobjekt zugeordnet ist); vgl. auch aaO. 80 f.; Bauberger, Welt, 179 f.; Audretsch, Welt, 142–144. 28 Vgl. Dupré, Solution, 392 f.
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z. B. im Zusammenspiel mit organischer Materie auslösen. So kann etwa Höhenstrahlung in einer lebenden Zelle zu Veränderungen der DNA führen, die schlimmstenfalls bösartiges Zellwachstum verursacht. Die Veränderung von Muttermalen zu Melanomen wäre ein Beispiel für einen solchen Vorgang. Das bedeutet ganz alltagspraktisch, dass nicht nur eine zu hohe Anzahl von Sonnenstunden auf ungeschützter Haut gefährlich ist, sondern dass quantenzufällig schon das erste Sonnenbad tödlich wirken kann.29 Damit stehen wir vor einem Szenario, das Schrödingers Katze strukturell gleicht. Tatsächlich ist der Aufenthalt in der Sonne genauso ein Spiel mit dem Risiko wie es Schrödingers Experiment als Selbstversuch wäre. Allerdings stehen die Chancen, nur mit einem Sonnenbrand davonzukommen, deutlich höher als 1: 1. Aber das Risiko, zufällig zu sterben, ist höher als Null. Für das Modell des illibertaren Indeterminismus wäre es hilfreich, wenn Untersuchungen darüber vorlägen, welche Quellen und Wahrscheinlichkeiten es für Quantenzufälle gibt, die in die Alltagswelt hineinreichen. Das hier angeführte, fast triviale, wenn auch existentiell katastrophale Beispiel lässt aber damit rechnen, dass es noch einige weitere Einfallstore für den echten Zufall in die Mesowelt geben dürfte.30 Außer an Strahlungsschäden31 könnte man auch an chemische Wirkungen auf organische Strukturen (also u. a. auf Menschen) denken, bei denen minimale Anzahlen von Wirkstoff-Molekülen dazu ausreichen, einen weiter reichenden Folgeeffekt auszulösen. Als Zwischenergebnis können wir festhalten: Erstens, eine ontisch indeterministische Interpretation der Quantentheorie ist, nach der gegebenen Darstellung der physikalischen Debatte, die derzeit in der Physik verherrschende. Zweitens kann man annehmen, dass der ontische Indeterminismus, also der Zufall auf der Mikroebene, sich als Zufall auf der Meso- und Makroebene auswirkt. Diese Annahme ist ein Grundelement des illibertaren Indeterminismus. Es soll damit zwar keine Willensfreiheit begründet werden, jedoch ermöglicht es eine ontisch offene Zukunft, sich vom bedrückenden Gefühl des Fatalismus befreien zu können. An die Stelle des passiven Getrieben-Werdens in einer deter 29 Zu stochastischen Strahlenschäden vgl. Reiser/Kuhn/Debus, Radiologie, 57; Michalczak/ Reinöhl-Kompa, 1–15 („Zusammenfassung der Ergebnisse“). 30 Ein weiteres Gedankenexperiment mit einer photonengetriggerten Bombe stammt von Avshalom Elitzur und Lev Waidman. Roger Penrose entwickelt daraus einen nicht ganz ernst zu nehmenden, dafür aber friedfertigeren Vorschlag, wie man ohne Energieaufwand am Sabbat das elektrische Licht löschen könnte: Penrose, Shadows, 239 f., 268–270. 31 Höhenstrahlung wirkt oft schädlich auf Lebewesen, ist aber auch an der biologischen Evolution des irdischen Lebens beteiligt. Die genetischen Mutationen, die zum Artwandel beitragen, werden zum Teil durch Höhenstrahlung ausgelöst. Die meisten dieser Mutationen wirken sich schädlich auf ihre Träger aus, aber manche erlauben auch eine bessere Anpassung an die Umwelt und damit einen höheren Fortpflanzungserfolg.
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ministischen Welt tritt eine aktivere Haltung in der individuellen Lebensführung. Dieser Gedanke wird weiter unten noch ausgeführt.32 Drittens, dass im Rahmen des illibertaren Indeterminismus nicht wieder die Willensfreiheit durch die Hintertüre eingeführt werden soll, ist deswegen besonders zu betonen, weil einige libertare Autoren in der Quantentheorie eine Möglichkeit zu sehen glauben, um ein intuitionistisches starkes Verständnis von Willensfreiheit zu begründen. Die entsprechenden Überlegungen dieser Autoren werden im folgenden Abschnitt vorgestellt.
4.3 Zur Kritik der Konstruktion von libertarer Willensfreiheit auf der Grundlage von hypothetischen Quantenzufällen im menschlichen Gehirn Die Gallionsfigur des heute kaum noch vertretenen interaktionistischen Substanzdualismus33 ist der australische Physiologe und Nobelpreisträger John Carew Eccles (1903–1997).34 Er versuchte, den Substanzdualismus und damit verbunden auch eine libertare Form von Willensfreiheit, mit Hilfe des Quantenindeterminismus zu begründen. 1977 veröffentlichte er zusammen mit Karl Popper (1902–1994) das Buch The Self and its Brain. Darin vertraten die beiden Autoren die These, dass das materielle Gehirn vom menschlichen Geist gesteuert werde wie etwa ein Computer vom Programmierer. Im hohen Alter (1992) publizierte Eccles zusammen mit dem deutschen Physiker Friedrich Beck (1927–2008) eine Theorie, nach welcher der menschliche Geist über quantenphysikalische Effekte das Gehirn steuern könne. Beck und Eccles bezogen sich in ihrer Arbeit auf philosophierende Überlegungen von Physikern, wonach der Zusammenbruch der Wellenfunktion durch einen Akt des Bewusstseins hervorgerufen werde.35 Dieser Vorstellung wollten sie eine neuroanatomische Grundlage verschaffen.36 Als Ort eines quantenmechanischen Ereignisses kam für sie der synaptische Spalt in Frage, weil nur
32 Vgl. u. 4.6.1 und 4.8.1. 33 Vgl. o. 59. 34 1963 erhielt Eccles zusammen mit zwei Kollegen den Nobelpreis für ihre Forschungen zur Reizübertragung am synaptischen Spalt, die sie in den 50er Jahren in Oxford durchgeführt hatten. Libets Interpretation seiner eigenen Experimente im Sinne eines Vetorechts des Bewusstseins angesichts neuronaler Impulse im Gehirn gewinnt durch die Erkenntnis seiner Zusammenarbeit mit Eccles, auf die oben schon hingewiesen wurde, einen weiteren Deutungshorizont, nämlich die Theorie des interaktionistischen Substanzdualismus. 35 So konnte auch die Hypothese entstehen, dass bei Schrödingers Gedankenexperiment das Bewusstsein der Katze den Zerfall bzw. Nichtzerfall der radioaktiven Substanz bewirkte. Vgl. o. 179. 36 Beck/Eccles, Quantum aspects, 11357a.
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hier kurze Distanzen und kleine Wirkungseinheiten eine Rolle für die neuronale Impulsweiterleitung spielen. Die Übertragung von Nervenimpulsen von einer Nervenzelle auf die andere erfordert jeweils die Umwandlung eines elektrischen Signals in ein biochemisches und zurück. Entlang ein und derselben Nervenzelle verläuft das elektrische Signal, das am synaptischen Spalt zunächst angehalten wird. Die nachgeschaltete Nervenzelle übernimmt das am Spalt ankommende Signal nicht in jedem Fall, sondern nur, wenn die elektrisch-biochemische Übersetzung gelingt. Dieser Übersetzungsprozess läuft folgendermaßen ab: Ein elektrischer Impuls erreicht das Axon, also den Teil der Nervenzelle, der den elektrischen Impuls auf die nachgeschaltete Nervenzelle zuführt. Mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit, die deutlich unter 100 % liegt, bewirkt der elektrische Impuls, dass ein synaptisches Bläschen die in ihm enthaltenen Neurotransmitter in den synaptischen Spalt freisetzt. Dazu öffnet sich das Bläschen an der präsynaptischen Membran. Die Neurotransmitter-Moleküle wandern durch den Spalt an die postsynaptische Membran. Dort befinden sich Rezeptoren, an die diese Moleküle andocken. Daraufhin bewirken die Rezeptoren die Durchlässigkeit der postsynaptischen Membran, so dass in der postsynaptischen Zelle wieder ein elektrischer Impuls aufgebaut wird. Dieser setzt sich dann über die nachgeschaltete Nervenzelle fort bis zum nächsten synaptischen Spalt, wo die Umsetzung von einem elektrischen Impuls in einen biochemischen erneut stattfinden kann (oder auch nicht). Die Neurotransmitter-Moleküle, die an die Rezeptoren angedockt haben, lösen sich nach einiger Zeit von ihnen und werden von einer Pumpe wieder in die präsynaptische Zelle eingeschleust, so dass sich auch hier der Kreislauf schließt. Beck & Eccles stellten erstens die Hypothese auf, dass die Exocytose, das ist die Entleeerung des synaptischen Bläschens in den synaptischen Spalt hinein, durch einen Quantenmechanismus verursacht werde. Dazu postulierten sie zweitens ein Quantenobjekt, das als Teilchen etwa die Größe eines Wasserstoffatoms hat. Als Welle habe es die Eigenschaft, dass es mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit hingegen die Exocytose hervorruft, mit einer anderen Wahrscheinlichkeit nicht.37 Das entspricht dem Verhalten von Licht im Doppelspaltexperiment: Es hat die Eigenschaft, sich mit gewissen Wahrscheinlichkeiten an diesem oder jenem Ort als Teilchen messen zu lassen – wenn es gemessen wird. Entsprechend hat das von Beck & Eccles postulierte Quantenobjekt die Eigenschaft, dass es mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit die Exocytose auslöst, mit einer anderen nicht – wenn es dazu gebracht wird, seinen Wellenzustand aufzugeben. Die Hypothese von Beck & Eccles erfordert also drittens die Annahme, dass es reine Ideationen (pure ideations) seien, die zum Zusammenbruch der Wellenfunktion des postulierten Objekts führen und damit zur Exocytose und zur Weiterleitung der neuronalen Er-
37 Vgl. Beck/Eccles, Quantum aspects, 11358b–11359a.
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Abb. 16: Synaptischer Spalt: Axon (Ende einer Nervenzelle), Dendrit (reizaufnehmender Teil einer Nervenzelle), Synaptische Bläschen (gefüllt mit Transmitterstoffen), Transmitter-Rezeptoren, Transmitter-Wiederaufnahme-Pumpen.38
regung. Unter den reinen Ideationen sind kognitive Ereignisse ohne Bezug auf aktuelle Wahrnehmungs- oder Bewegungsvorgänge zu verstehen.39 Damit die Ideationen aber nicht nur zum Zusammenbruch der Wellenfunktion des synaptischen Quantenobjekts überhaupt führt, sondern auch zu der für die Realisierung der Ideation notwendigen Exocytose, müssten Beck und Eccles auch noch viertens nachweisen, dass die Ideation den konkreten Wert bestimmen kann, den das Quantenobjekt nach dem Zusammenbruch der Wellenfunktion annimmt. Wie man sieht, handelt es sich hier um ein mehrdimensionales Postulat nicht nur eines unbekannten Quantenobjekts (das vielleicht ein Wasserstoffatom sein könnte), sondern auch noch verschiedener Fähigkeiten des immateriellen Geistes. Das Ziel dabei ist es, einen körperunabhängigen Geist als Befehlsgeber des Gehirns und damit des ganzen Körpers denkbar zu machen. Die Frage nach der Willensfreiheit wird in dem Artikel von Beck & Eccles nicht berührt. Fast gleichzeitig mit dieser Veröffentlichung urteilte Eccles aber an anderer Stelle: „Der deterministische Einwand gegen den freien Willen ist jetzt dank der eingehenden Untersuchung durch Beck und mich […] widerlegt.“40 Die Zusammenarbeit mit Beck hielt er für „den Höhepunkt meiner lebenslangen Suche nach der wissenschaftlichen Erklärung des Dualismus“.41 38
38 Mit Genehmigung zitiert aus Wikipedia, Art.: Synaptischer Spalt, http://commons.wiki media.org/wiki/File:Synapse_Illustration_unlabeled.svg#/media/File:SynapseIllustration2. png, Abruf am 06.05.2015. 39 Vgl. Beck/Eccles, Quantum aspects, 11360b. 40 Eccles, Selbst, 79. 41 AaO. 216.
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Beck hat in einem späteren Aufsatz die Hypothetizität seiner Gemeinschaftsarbeit mit Eccles sehr klar herausgestellt: Erst weitere experimentelle Untersuchungen (Ultra-Kurzzeit-Spektroskopie auf der oben abgeleiteten Zeitskala) können Aufschluss darüber geben, ob der hier als Hypothese entwickelte Mechanismus auch für den synaptischen Transfer verantwortlich ist. Die Aussage ist jedoch: falls Quantenprozesse in der Gehirnaktivität eine Rolle spielen, die ihre Quanteninterferenz und damit prinzipielle Unbestimmbarkeit wirksam werden lassen, ist dies nur auf der hier abgeleiteten Zeit- und Frequenz skala möglich.42
Beck unterstützt in seiner späteren Veröffentlichung jedoch auch Eccles’ Hoffnung auf eine quantentheoretische Begründbarkeit der Willensfreiheit: In der Quantenmechanik sei „das Einzelereignis […] nicht vorhersagbar. Damit qualifizieren sich Quantenprozesse als steuernde Elemente der Gehirnprozesse für ein Verständnis der nicht determinierten Bewusstseinsakte.“43 Das Beck-Eccles Modell wird auch von anderen Autoren vorsichtig aufgenommen und mit Kautelen versehen. So beurteilt etwa Ijjas das interaktionalistische Substanzdualismus-Modell von Eccles und Beck als mögliches theoretisches Konstrukt, das aber keinerlei empirische Plausibilitäten für sich anführen könne: Dass Eccles’ Modell keine zwingende Begründung des interaktionistischen Substanzdualismus darstellt, liegt – allein aufgrund philosophischer Überlegungen – auf der Hand. Um das Modell akzeptieren zu können, muss man nämlich erst einmal die Position des interaktionistischen Substanzdualismus akzeptiert haben. Gerade diese Akzeptanz ist aber alles andere als selbstverständlich, was die bislang vorgebrachte Kritik oder die bloße Anzahl konkurrierender Modelle der Verhältnisbestimmung von Gehirn und Bewusstsein auch verdeutlichen. Allerdings geht es Eccles erst gar nicht darum, einen zwingenden Beweis für den Dualismus zu liefern. Als Verfechter des Kritischen Rationalismus will Eccles nur zeigen, dass die (eventuell falsche) Hypothese des Dualismus aktuell widerspruchslos vertretbar ist und insbesondere nicht aufgrund empirischer Inkohärenzargumente zu verwerfen sei. Die Frage ist aber, ob Eccles der eigenen Zielsetzung gerecht wird. […] Der Versuch, den Dualismus auf dem aktuellen Stand der naturwissenschaftlichen Forschung empirisch zu begründen, ist zu würdigen; für Verfechter des Dualismus ist die Intention mustergültig. Nimmt man überdies sämtliche Prämissen in Kauf, kann man mit einem einigermaßen guten Gewissen Dualist sein. Immerhin widerspricht das Modell aktuell keinem empirischen Befund, was aber natürlich nicht bedeutet, dass es aktuell keine ebenso guten Modelle der Verhältnisbestimmung von 42 Beck, Quantenprozesse, 157. Die Zeitskala, welche durch die bildgebenden Verfahren im Gehirn aufgelöst werden müssten, liegt im Pico- und Femto-Sekunden-Bereich! Vgl. aaO. 160. Die Energie bzw. die Masse des Quantenobjekts, das für den Auslösemechanismus der Exocytose postuliert wird, hat Beck heruntergesetzt: Es kann nicht mehr in der Größe eines Wasserstoffatoms liegen, sondern lediglich einige Elektronenmassen besitzen (aaO. 156 f.). 43 AaO. 159.
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Gehirn und Bewusstsein gibt. Der von Eccles erhobene Anspruch, die Hypothese sei das definitive Wie der menschlichen Großhirnrinde und die endgültige Erklärung des Bewusstseins, ist wiederum eindeutig zurückzuweisen. Das Modell kann angesichts der angeführten Einwände nicht als zufrieden stellende Lösung der GehirnBewusstsein-Problematik bewertet werden.44
Bezüglich einer Begründung von Willensfreiheit durch den Quantenindeterminismus bemerkt sie völlig zutreffend, dass sich zwar für das Alternativismusprinzip durch die Nicht-Determiniertheit eine Denkmöglichkeit zu ergeben scheint, dass sich aber bezüglich der Urheberschaft „die Frage nach der Beschaffenheit eines postulierten Selbst [stelle], das in einer indeterministischen Welt rational begründete Kausalprozesse in Gang setzen sollte.“45 Dennoch resümiert sie: „Im Hinblick auf die Frage nach der Willensfreiheit erscheint der Quantenindeterminismus äußerst bedeutsam. Die von führenden Hirnforschern bereits als erledigt angesehene Diskussion kann nun neu aufgerollt werden.“46 Ähnlich ambivalent äußert sich der Physiker Winfried Schmidt zum BeckEccles Modell. Wenn hier ein immaterieller Agent über die Quantenvorgänge bei der Exocytose auf das materielle Gehirn zugreifen könnte, dann wären die Aktionen dieses Agenten genauso unbestimmt und damit zufällig wie die Quantenvorgänge, über welche sie auf das Gehirn einwirken. Er kommt daher zu seiner „Kernthese“: Die Naturwissenschaft […] kann das Bestehen einer Willensfreiheit weder beweisen noch widerlegen. Sie kann aber plausibel machen und vielleicht irgendwann sogar nachweisen, dass der Mensch in seinen Handlungen unbestimmt ist, trotz aller Naturkausalitäten, die seinen Handlungsspielraum einschränken. Diese Unbestimmtheit ist präzise die zuende [sic!] gedachte Konsequenz der quantenphysikalischen Urform […].47
Nach Schmidt führen also Quantenzufälle in entscheidungsrelevanten Hirnarealen nicht zu Willensfreiheit, sondern zu zufälligen bzw. willkürlichen Handlungen. Auch Armin Kreiner liebäugelt mit dem Quantenindeterminismus als mögliche Voraussetzung für Willensfreiheit.48 Seine Position in der Willensfreiheitsfrage ähnelt weitgehend derjenigen von Geert Keil: Sein erstes Argument für Freiheit liegt in der Selbsterfahrung, das zweite besteht in der Praxis moralischen Urteilens, außerdem will er wie Keil die Beweislast so umkehren, dass bewiesen werden müsse, dass es keine Willensfreiheit gebe.49 44 Ijjas, Alte, 171; 172 f. 45 AaO. 185. Die Quantentheorie begründet zwar einen Alternativismus der Ereignisverläufe, jedoch nicht das Prinzip der alternativen Handlungsmöglichkeiten. Vgl. u. 212–214. 46 Ijjas, Alte, 186. 47 Schmidt, Quantenphysik, 261. 48 Vgl. Kreiner, Willensfreiheit, 155 f. 49 Vgl. aaO. 153; 155 u. o. 48–50; 55.
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John Searle lehnt den Substanzdualismus zwar ab, will aber dennoch den Quantenindeterminismus zur Begründung von starker Willensfreiheit heranziehen: Zuvor habe ich nie die Notwendigkeit sehen können, warum man die Quantenmecha nik in Diskussionen über Bewußtsein einführen sollte. Aber hier haben wir zumindest ein strenges Argument, das die Einführung des Indeterminismus auf der Quantenebene fordert. Prämisse 1: Jeder Indeterminismus in der Natur ist ein Quanten-Indeterminismus. Prämisse 2: Bewußtsein ist eine indeterministische Eigenschaft der Natur. Konklusion: Bewußtsein weist einen Quanten-Indeterminismus auf.50
Allerdings gesteht Searle selbst zu, dass in diesem Syllogismus eher eine Problemexposition liegt als eine Lösung.51 Ein Begriff von Willensfreiheit, die jenseits von Notwendigkeit und Zufall läge, ist nicht in Sicht. Auf völlig anderes Terrain begeben wir uns mit dem US-amerikanischen Physiker Frank Tipler (*1947). Er handelt in seinem abenteuerlichen, aber dennoch (oder deswegen?) viel beachteten Buch über Die Physik der Unsterblichkeit das Thema Willensfreiheit in noch weit spekulativerer Weise ab als Beck & Eccles. Er nimmt an, dass beim Entscheidungsprozess eine neuronale Struktur beteiligt sei, die unbewusste und quantenzufällige Impulse an die deterministisch arbeitenden bewussten Entscheidungszentren leite. Abgesehen von diesem Mechanismus sei es aber sonst „stets die Bewußtseinsebene, die den tieferen Ebenen Befehle erteilt“.52 Jede gefällte Entscheidung sei daher „eine Kombination aus Zufall und Notwendigkeit“.53 Willensfreiheit liegt nach Tipler dann vor, wenn sich ein Subjekt selbst frei fühlt und wenn es einen zufälligen Anteil bei der Entscheidungsfindung gibt54. „Ein Phasenübergang des menschlichen Gehirns“ – und damit die Entscheidung eines Menschen –„wäre in diesem Fall völlig unvorhersagbar. In dieser Situation hätten wir einen ontologisch freien Willen“55. Es ist unschwer einzusehen, wie anstößig diese ad-hoc-Annahmen bei Philosophen und Neurobiologen wirken müssen, die sich lange Zeit ihres Lebens mit der Willensfreiheitsproblematik beschäftigt haben. Dass stets das Bewusstsein den Ausschlag bei der Entscheidungsfindung gebe, lässt sich schon bei minimaler Einsicht in den neurobiologischen Forschungsdiskurs nicht einfach so behaupten.56 Schließlich möchte auch der Neurogenetiker Martin Heisenberg (*1940), der Sohn des Mitbegründers der Quantenmechanik, mithilfe der Quantenphysik den 50 Searle, Freiheit, 57. 51 Vgl. aaO. 62. 52 Tipler, Physik, 250. 53 AaO. 251 f. 54 AaO 253. 55 AaO. 248. 56 Vgl. o. 89–93; 119–130.
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Determinismus zurückweisen. Allerdings meint auch er, damit die Existenz von Willensfreiheit begründen zu können.57 Roger Penrose hingegen, der verschiedentlich ebenfalls dem Kreis der Quanten-Libertarier zugerechnet wird58, hat sich an den einschlägig zitierten Stellen nicht über Willensfreiheit geäußert. Er stellt lediglich vage Vermutungen über den Zusammenhang von Quantenphänomenen und Bewusstseinsvorgängen an, die vor allem eine Kritik an Libets Versuchsdesign begründen sollen59. Solche Kritik haben aber auch schon Philosophen und Neurobiologen geäußert.60 Die Versuche, Willensfreiheit auf dem Quantenindeterminismus zu begründen, weisen also schwere argumentative Lücken auf: Erstens, die Existenz von Quantenzufällen im Gehirn lässt sich nicht empirisch begründen, sondern lediglich postulieren. Da die Forschung an diesem Punkt aber noch nicht zu einem definitiven Schlussergebnis gekommen ist, soll die Möglichkeit von Zufällen im Gehirn in der vorliegenden Untersuchung auch nicht vollkommen ausgeschlossen werden. Dabei gilt jedoch: Zweitens, würden sich Quantenzufälle im Gehirn nachweisen lassen, so würden sie sich als Willkür in der Handlungssteuerung niederschlagen, nicht aber als Willensfreiheit. Gegen den Substanzdualismus gilt ferner drittens: Selbst wenn es einen immateriellen Geist gäbe, wäre völlig unklar, wie er dem materiellen Quantenzufall hervorrufen und gar noch in seinem Sinne steuern könnte. Viertens, selbst wenn es gelingen sollte, einen solchen Geist-Quantenzufalls-Steuerungsmechanismus zu konstruieren, müsste sich der Geist bei seinen Steuerungsprozessen entweder auf seine Gründe stützen, also determiniert agieren, oder willkürlich, was beides nicht im Sinne der Substanzdualisten sein dürfte. Damit sind wir am Ende des Argumentationsgangs angelangt, auf welchem gezeigt werden sollte, dass es der ontische Indeterminismus nicht erlaubt, auf der Basis von Zufällen im Gehirn einen Begriff von Willensfreiheit zu konstruieren. Der illibertare Indeterminismus ist jedoch nicht nur daran interessiert, die Existenz von Willensfreiheit zu negieren. Zwar wurde bisher plausibel zu machen versucht, dass erstens der ontologische Indeterminismus die empirisch besser begründete Hypothese darstellt und dass er zweitens keine Möglichkeit eröffnet, doch noch Willensfreiheit denken zu können. Der illibertare Indeterminismus will aber drittens die durch den Zufall geöffnete Zukunft dazu nutzen, eine Reihe von Problemen des menschlichen Selbstverständnisses zu lösen, die sich auf dem Boden des Determinismus einstellen und die von kompatibilistischen Theorien der Willensfreiheit nur unzureichend bearbeitet werden können. Bevor das Konzept des illibertaren Indeterminismus entfaltet wird, muss aber noch der ontolo 57 Vgl. M. Heisenberg, Freier Wille, 37 f. Ähnlich argumentiert Suhm, Anormaler Interaktionismus, 79 f. 58 Vgl. Tipler, Physik, aaO. 248; Mutschler, Physik, 254. 59 Vgl. Penrose, Shadows, 376, 385–388, 401. 60 Vgl. o. 92 Anm. 10.
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gische Indeterminismus dadurch gestärkt werden, dass die gegen ihn angeführten Argumente von kompatibilistischer Seite zurückgewiesen werden.
4.4 Zur Kritik der kompatibilistischen Argumente gegen die Relevanz des Quantenindeterminismus 4.4.1 Argument 1: Der Indeterminismus stellt unter den Physikern eine Außenseiterposition dar; bzw. Determinismus und Indeterminismus sind zwei völlig gleichberechtigte Interpretationen der quantenmechanischen Phänomene. Unter den bisher schon behandelten Positionen finden sich bei Roth und Walde derartige Argumente. Bei letzterer wurde schon gezeigt, dass sie sich auf eine nicht repräsentative Quelle bezieht.61 Auch bei Claus Kiefer, ihrer zweiten Autorität, findet sich lediglich die Aussage, dass es „bis auf Weiteres aussichtslos zu sein [scheint], zwischen diesen verschiedenen Interpretationen [scl. der Quantenphysik] eine experimentelle Unterscheidung herbeizuführen.“62 In der Folge aber erklärt Kiefer „die Annahme eines Kollapses“ der Wellenfunktion im Rahmen der Dekohärenztheorie63 für gerechtfertigt. Damit ist auch die Annahme der Zufälligkeit gerechtfertigt. Roths Aussage, dass nach den „meisten“ Physikern die statistischen Gesetze „genauso gesetzmäßig gelten“ wie die klassischen und dass sie „keinerlei indeterministische Lücken“ zulassen außer den nur statistisch vorhersagbaren Einzelfällen,64 ist im Grunde eine Paradoxie. Denn die nicht vorhersagbaren zufälligen Einzelfälle stellen genau jene indeterministischen Lücken dar, die im selben Satz negiert werden. Der Psychiater, Hirnforscher und Philosoph Henrik Walter kommt in seiner philosophischen Dissertation zu dieser erstaunlichen Aussage: Oft ist die Rede davon, daß der Ort eines Elektrons nur mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit angegeben werden kann und darin die Quelle des quantenphysikalischen Indeterminismus liege. Manchmal ist von indeterministischen Ereignissen auf der Quantenebene die Rede. Doch diese Darstellung führt in die Irre. Entgegen einem weitverbreiteten Mißverständnis gibt es keine indeterministischen Quantenereignisse. Die Vorgänge auf der Quantenebene selbst sind streng deterministisch!65
Mit einem kurzen Verweis auf Roger Penrose und Albert Einstein („Gott würfelt nicht!“) betont Walter, dass er „lediglich festhalten [wolle], daß es keine allgemein 61 Vgl. o. 58 Anm. 135. 62 Kiefer, Quantentheorie, 79 (Hervorhebung durch mich). 63 Vgl. o. 180 Anm. 27. 64 Vgl. o. 158. 65 Walter, Neurophilosophie, 43.
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akzeptierte Interpretation der Quantentheorie gibt, und sich sogar die Größen des Faches nicht einig sind.“66 Im weiteren Verlauf seines Buches nimmt er dann doch an, dass „die Quantentheorie […] absolut zufällige Ereignisse“ zulasse.67 Den Alternativismus möchte er aber nicht indeterministisch, sondern chaostheoretisch begründen.68 Es ist schwierig, Walters Äußerungen zum Determinismus miteinander zu vereinbaren. Seine Betonung des deterministischen Aspekts der Quantentheorie (ohne den es sich bei ihr auch um keine wissenschaftliche Theorie handeln könne) hat jedenfalls Nachfolger gefunden. Denn auch Andreas Klein hat in seiner Habilitationsschrift als „überraschendes Ergebnis“ formuliert: Bleibt man lediglich auf der Quantenebene, läßt also zunächst das Problem der Messung unberücksichtigt und referiert hier auf die Schrödinger-Gleichung bzw. Schrödinger-Dynamik als Universalkonzept, ist zunächst gar nicht zu sehen, an welcher Stelle ein Indeterminismus ins Spiel kommen sollte, da diese deterministisch und linear ist. ‚Die Zustandsentwicklung von Quantensystemen gemäß der SchrödingerGleichung ist deterministisch. Wenn die Dynamik gemäß der Schrödinger-Gleichung die einzige Dynamik von Quantensystemen ist, dann ist die Quantentheorie deterministisch.‘ Der Zustandsvektor im unendlich-dimensionalen Hilbertraum bewegt sich deterministisch. Das Problem ist also auf der Quantenebene nicht, daß es sich hier um indeterministische Prozesse handelt […].69
Auch hier vermisst man einen Hinweis darauf, dass die Schrödinger-Gleichung tatsächlich in deterministischer Weise Voraussagen macht, allerdings für die Wahrscheinlichkeiten, ein Quantenobjekt zu einer bestimmten Zeit an einem bestimmten Ort durch eine Messung zu lokalisieren. Das Quantenobjekt kann man bei einer Messung zu einer bestimmten Zeit an verschiedenen Orten mit verschiedenen Wahrscheinlichkeiten erwarten. Da es dann aber nur an einem Ort tatsächlich gemessen wird, zeigt es sich an diesem Ort zufällig, obwohl es sich noch immer auf der „Quantenebene“ befindet. Deswegen ist auch in Kleins Darstellung der deterministische Charakter der Quantentheorie völlig verkannt. Nach einer kurzen Darstellung des Messproblems und den verschiedenen Interpretationen der Quantentheorie kommt er zu dem Schluss: Bislang gibt es keine sich hinlänglich durchsetzende kanonische Interpretation der mit der Quantentheorie zusammenhängenden Probleme. Nichtsdestoweniger spricht viel dafür, daß der Determinismus durch die Quantenmechanik nicht per se widerlegt oder ausgehebelt wird.70 66 AaO. 44 f. 67 AaO. 194. 68 Vgl. aaO. 205–236. 69 Klein, Willensfreiheit, 133 f. 70 AaO. 138. In der Anmerkung zu diesem Text schreibt Klein: „Es ist durchaus erhellend und auch beruhigend, wenn führende (Natur-) Wissenschaftler, wie etwa Richard Feynman, be-
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Dieselbe Meinung vertritt er auch noch in seinem jüngeren Buch über die Freiheitsfrage. Es lasse sich aus der wohl auch verwirrenden […] Vielfalt von Zugangsweisen zur Quantentheorie […] leicht ersehen, dass der Determinismus durch die Quantentheorie noch keineswegs widerlegt ist. Darum ist es voreilig oder sogar verfehlt, sich aus strategischen Gründen bei der Quantentheorie zu bedienen. Diese Beispiele [scl. Einstein, Bohm, Everett] illustrieren, dass man allererst in die verzweigten Interpretationen der Quantenmechanik eintauchen müsste, um hieraus indeterministisches Kapital für die Willensfreiheit schlagen zu können. Zudem müssten diejenigen, die für Willensfreiheit einen Indeterminismus behaupten oder voraussetzen, das profunde Problem lösen, wie ein Indeterminismus überhaupt in der Diskussion um Willensfreiheit weiterhelfen könnte.71
In diesen Voten liegen zwei bemerkenswerte Punkte. Zunächst dürfte in Abschnitt 4.2.1 f. hinlänglich gezeigt worden sein, dass es eher begründungsbedürftig ist, den Determinismus als ontologische Hypothese weiterhin vorauszusetzen. Ferner zeigt sich bei Klein, dass die Aversion gegen den Indeterminismus gekoppelt ist mit der Einsicht seiner Irrelevanz für die Konstruktion von libertarer Willensfreiheit. Darin ist ihm zuzustimmen. Durch die vorzeitige Abweisung des Indeterminismus verstellt man sich aber auch den Blick für die mit ihm verbundenen Chancen.
4.4.2 Argument 2: Der Quantenzufall wirkt sich nicht im Weltprozess aus Ted Honderich spricht sich für eine deterministische Ontologie aus, gesteht aber zu, dass es noch eine verwandte Anschauung gebe, „die vielleicht allgemeinere Anerkennung findet als der Determinismus“, nämlich den „Beinahedeterminismus“. Dieser räume ein, „daß der Indeterminismus in gewissem Maße zwar zutrifft oder zutreffen kann, aber nur auf der sogenannten Mikroebene unserer Existenz, also auf der Ebene jener winzigen Körperteilchen, die von der Physik untersucht werden.“ Auf der Ebene unserer Entscheidungen und Handlungen, ja selbst auf der Ebene der Stoffwechselvorgänge im Gehirn „werde das Geschehen von Kausalgesetzen bestimmt.“72 Hätte Honderich damit Recht, dass sich Zufallsereignisse auf die Mesowelt nicht auswirken, wäre der illibertare Indeterminismus nicht möglich. Es ist zu-
kennen: Ich kann ‚mit Sicherheit behaupten, daß niemand die Quantenmechanik versteht‘ (R. P. Feynman, Wesen, 160).“ 71 Klein, Ich bin, 18 f. 72 Honderich, Determinismus-Problem, 11.
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zugestehen, dass es noch keine breite Forschung über die Konsequenzen von Zufallsereignissen in der Mesowelt gibt, aber in Abschnitt 4.2.3 dürfte hinreichend plausibel gemacht worden sein, dass mit solchen Auswirkungen von Zufällen zu rechnen ist.
4.4.3 Argument 3: Der Quantenzufall findet nicht im Gehirn statt Schon in der oben zitierten Aussage von Honderich wurde bestritten, dass es im Gehirn Zufallsereignisse gebe. Michael Pauen und Gerhard Roth gestehen zu, dass es vielleicht mikrophysikalische Indeterminiertheiten an den Synapsen geben könnte. Diese würden sich dann aber vermutlich gegenseitig „ausmitteln“. Das bedeutet, dass Mikrozufälligkeiten an einzelnen Synapsen bei der großen Anzahl von Transmitterausschüttungen keinen wesentlichen Einfluss auf die Handlungssteuerung haben. Deswegen sei es für die Willensfreiheitsfrage auch nicht von Belang, „ob das Gehirn streng deterministisch oder quasideterministisch arbeitet.“73 Bernulf Kanitscheider unterstützt diese Position: Ich bin überzeugt, dass die Quantenphysik zur Lösung des Problems der Freiheit nichts beitragen kann. Handelnde Menschen sind makroskopische Systeme, Willensentscheidungen werden im limbischen System gefällt. Das besteht zwar auf der Mikroebene aus Quarks und Gluonen, aber die Quanteneffekte mitteln sich schon auf der molekularen Ebene durch thermisches Rauschen völlig weg. Das Gehirn ist ein klassisches System, das dem klassischen Determinismus unterworfen ist.74
Während die hier zitierten Autoren sich mehr oder weniger vehement gegen die Möglichkeit von Zufallsereignissen im Gehirn wenden, muss für den illibertaren Indeterminismus lediglich festgestellt werden, dass er den Quantenzufall im Gehirn nicht benötigt. Für ihn sind nur die Auswirkungen der Zufälle in der Außenwelt wichtig. Allerdings möchte ich angesichts der Komplexität des Gehirns und der Tatsache, dass zur Zeit noch keine endgültigen Aussagen über die kleinstdimensionalen Vorgänge im Gehirn gemacht werden können, die Möglichkeit von Zufallsereignissen bei neuronalen Prozessen nicht vollkommen ausschließen.
73 Pauen/Roth, Freiheit, 110 f. Ebenso Roth, Persönlichkeit, 324 f. 74 Kanitscheider, Forscher-Porträt, 76.
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4.4.4 Argument 4: Quantenzufälle im Gehirn ermöglichen keine Willensfreiheit Dieses Argument ist schon bei den Abschnitten 4.4.1 bis 4.4.3 verschiedentlich angeklungen. Der illibertare Indeterminismus unterstützt diese These, wie oben schon ausführlich gezeigt wurde.75
4.5 Zwischenresümee der bisherigen Analyse Aus den in diesem Kapitel bisher durchgeführten Klärungen sollen die folgenden Theorieelemente in den illibertaren Indeterminismus überführt werden: Erstens, der Indeterminismus ist die plausiblere ontologische Hypothese als der Determinismus. Es ist zwar richtig, dass eine Minderheit von Physikern noch mit alternativen Hypothesenbildungen beschäftigt ist, aber nach Ausweis der Lehrbücher ist der Indeterminismus das weit überwiegend geteilte Paradigma. Zweitens, dass der Determinismus so zahlreiche Befürworter unter Geisteswissenschaftlern findet, ist erklärungsbedürftig. Vermutlich wird der Indeterminismus wenigstens teilweise deswegen abgelehnt, weil er oft für spekulative oder kurzschlüssige Konstruktionen von Willensfreiheit benutzt wird. Diese Vermutung wird durch Gerhard Roths oben schon zitierte süffisante Äußerung gestützt: Viele Physiker, Philosophen und Theologen glaubten im Zusammenhang mit der Quantenphysik einen solchen Schluss ziehen zu können: ‚Sieh da, nicht alles in der Natur ist determiniert! Also kann dies auch in deinem Gehirn so sein! Also ist Willensfreiheit möglich!‘76
Drittens, obwohl die Autorin Theologin ist, wendet sie sich gegen die Versuche, aus dem Indeterminismus die Willensfreiheit herzuleiten, auch wenn sie jenen als gültig annimmt. Viertens, Quantenzufälle können Konsequenzen haben, die sich auf die Mesowelt auswirken.77 Derartige Vorgänge sind zwar noch nicht ausführlich erforscht, weil bisher kein starkes erkenntnisleitendes Interesse dafür vorlag. Fünftens, Kompatibilisten versuchen, auf der Grundlage des Determinismus eine intuitiv befriedigende Freiheitskonzeption zu konstruieren, was jedoch nicht restlos überzeugend gelingt, wie wir in Kapitel 2 gesehen haben. Die Intuition
75 Vgl. o. Abschnitt 4.2.3 (Ende) und 4.3 (Ende). 76 Roth, Persönlichkeit, 324. 77 Vgl. o. 178–183.
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bleibt zumindest teilweise frustriert. Der illibertare Indeterminismus hingegen verzichtet von Vornherein auf die Willensfreiheit, versucht aber, die dadurch zunächst noch mehr frustrierte Intuition aufzufangen, indem er ein aktives Konzept der Lebensführung entwickelt. Dieses Konzept soll in den folgenden Abschnitten entfaltet werden. Zunächst werden dabei die Konsequenzen einer indeterministischen Ontologie für das menschliche Selbstverständnis im Gegensatz zu einem solchen im Determinismus reflektiert (4.6). Danach wird der illibertare Indeterminismus in den Kontext der klassischen Argumente der Freiheitsdebatte gestellt (4.7). Im Anschluss daran wird der illibertare Indeterminismus als Theorie der Lebensführung vorgestellt (4.8).
4.6 Der illibertare Indeterminismus: Ansatz und Entfaltung Der illibertare Indeterminismus unterscheidet sich vom Determinismus zunächst einzig und allein durch die Annahme, dass die Zukunft der Welt noch nicht feststeht, weil es hier und da Zufallsereignisse mindestens in der Außenwelt gibt. Alle anderen libertaren Vorstellungen wie Erstauslösung und das Prinzip der alternativen Handlungsmöglichkeiten spielen im illibertaren Indeterminismus keine Rolle. Es soll aber später gezeigt werden, dass die einschlägigen Freiheitsintuitionen auf dieser Grundlage zum Teil doch besser befriedigt werden können als im kompatibilistischen Determinismus.
4.6.1 Die zeitliche und räumliche Reichweite von Zufällen in der Erfahrungswelt Der illibertare Indeterminismus nimmt natürlich nicht an, dass es nur Zufälle in der Welt gebe. Selbstverständlich vollziehen sich viele, vermutlich sogar die meisten Vorgänge deterministisch. Der Weltprozess ist demnach ein Geflecht von Determinationsketten, die hin und wieder von Zufällen durchsetzt sind. Im Vergleich zum Determinismus gibt es immer wieder alternative Ereignisverläufe. Das bedeutet: Eine bestimmte Determinationskette könnte an einer bestimmten Stelle diesen oder jenen Verlauf nehmen, und nur der Zufall bestimmt dabei, welcher Verlauf eintritt. Deswegen steht die Zukunft noch nicht fest. Dies gilt auch dann, wenn im Entscheidungsprozess keine Zufallsereignisse stattfinden sollten. Auch im illibertaren Indeterminismus kann die Entscheidungsfindung in der Person streng deterministisch ablaufen. Genau genommen wäre es sogar wünschenswert, wenn in der Entscheidungsfindung keine Zufälle stattfänden. Es wäre dann einfacher, einem Menschen die Intelligibilität für seine Handlungen zuzuschreiben.
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Als empirisch am besten gesicherte Zufallsereignisse in der Außenwelt gelten bisher strahleninduzierte Veränderungen am biologischen Gewebe, die meist negative Auswirkungen für den betroffenen Träger haben. Es ist aber leicht einzusehen, dass derartige Zufälle weitreichende Auswirkungen haben können: Eine Frau stirbt oder sie stirbt nicht. Dieses Zufallsereignis wird, vielleicht in streng deterministischer Weise, dazu führen, dass ein Kind geboren wird oder nicht, dass eine tüchtige Ärztin weiter praktiziert oder nicht usw. Daran kann man sehen, dass unzählige Rahmenbedingungen unseres eigenen Lebens möglicherweise auf Zufälle zurückgehen, die in der Kausalkette weit von uns entfernt sind. Wir könnten etwa ein Patient der Ärztin sein, die nur deswegen geboren werden konnte, weil ihre Mutter nicht zufallsbedingt vor ihrer Geburt gestorben ist. Natürlich sind weder jene auslösenden Zufälle für uns erkennbar, noch können wir den unmittelbaren Rahmenbedingungen unseres Lebens ansehen, von welchen Zufällen sie möglicherweise herstammen. Dies bedeutet: Nichts was uns umgibt, kann als eine notwendige Randbedingung unseres Lebens identifiziert werden. Von jedem Menschen in unserer Umgebung und von jedem Artefakt, das auf Menschen zurückgeht, gilt: Er bzw. es könnte auch nicht existieren, und dies aufgrund einer Zufallsursache, die in lang vergangenen Zeiten eintraf. Zur Veranschaulichung dieses Sachverhalts dient Abb. 17. Die linke Seite von Abb. 17 zeigt die Lebensdaten von drei Generationen der Familie Miller. Großvater John, Sohn Frank und Enkel Charles betrieben bzw. betreiben eine Schaffarm in Australien. In der hier skizzierten Familiengeschichte sterben John und Frank nicht, bevor sie ihre Söhne gezeugt haben. Wenn der Zufall sich in ihren Biographien ungünstig ausgewirkt hätte, wäre Charles nicht zur Welt gekommen. An jedem raumzeitlichen Ort eines Zufallsereignisses verzweigt sich der Ereignisverlauf. Das bedeutet: Von zwei oder mehren Möglichkeiten realisiert sich eine bestimmte. Die Lebenslinie von Menschen oder die Weltlinie von Dingen, die durch einen Zufall betroffen sind, können sich am Ort des Zufalls auf verschiedene Weise fortsetzen. In unserem Beispiel verzweigt sich die Lebenslinie der Millers an jedem raumzeitlichen Punkt, an welchem sie zufallsbedingt tödlich erkranken oder nicht. Bezüglich einer strahleninduzierten Hautkrankheit ist im Grunde jeder Zeitabschnitt, den sie unter der australischen Sonne verbringen, eine Anreihung von raumzeitlichen punktuellen Zufallsereignissen. Im Jahr 2015 reist Charles nach England. Sein Eintreffen in Heathrow am bestimmten Tag und zur bestimmten Stunde hätte also, wenn der Zufall seinen Vorfahren ungünstig gewesen wäre, nicht stattgefunden. Aus der Perspektive einer jeden beliebigen Person, mit der er am Flughafen direkt oder indirekt interagiert hat, bedeutet Charles’ Eintreffen eine Determinante, die ihr Geschick mehr oder weniger stark mitbestimmt. Charles könnte etwa jemanden das Taxi wegschnappen und so verhindern, dass die Person noch rechtzeitig zu einem wichtigen Treffen kommt. Die punktierten Linien auf der rechten Seite der Grafik stehen für Le-
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Abb. 17: Die Reichweite des Quantenzufalls in der Mesowelt
benslinien verschiedener Personen, die mit Charles in Heathrow Kontakt hatten. Diese Lebenslinien werden in den folgenden Minuten, Stunden und Tagen die Lebenslinien vieler weiterer Menschen kreuzen. An diesem Beispiel zeigt sich, dass ein zeitlich und örtlich weit entferntes Zufallsereignis Teil des gegenwärtigen Determinationsgefüges werden kann. Natürlich kann man feststellen, dass bei diesem Beispiel möglicherweise spätestens seit Charles’ Geburt feststand, dass er in Heathrow zu Tag und Stunde eintreffen und seine Wirkungen ausüben würde. Je nachdem, welche Einfallstore der Quantenzufall sonst noch in die Mesowelt hat, rücken die zufälligen Unterbrechungen der deterministischen Kausalketten aber immer näher an die Gegenwart heran. Selbst wenn wir immer noch bei dem bedauernswerter Weise bis jetzt einzig einschlägig bekannten Eintrittspunkt des Zufalls bleiben, also bei den strahleninduzierten Krankheiten, können wir den Fall konstruieren, dass sich ein Zufall auf uns auswirkt, der sich erst wenige Tage oder Wochen zuvor ereignet hat. Im vorliegenden Beispiel können wir annehmen, dass Charles kurz nach seiner Landung in Heathrow per SMS einen malignen Befund bezüglich seines vor kurzer Zeit entstandenen Melanoms erfahren hat. Aufgrund dieses Befundes wird er sich sehr wahrscheinlich anders verhalten als wenn die Diagnose negativ gewesen wäre. Es ist auch nicht so, dass in diesem Beispiel lediglich die Alternative bestünde, dass Charles entweder in Heathrow eintrifft oder nicht. Denn Charles’ Geburt
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in Australien ist ja von vielen verschiedenen Ereignissen abhängig, unter denen auch direkte oder vermittelte Zufallsereignisse sind. Wäre Charles nicht geboren worden, hätte dies nicht nur sein Nicht-Eintreffen in England verursacht, sondern noch viele andere Änderungen von Welt- und Lebenslinien, die mit Charles zusammenhingen. Der Flugzeugsitz von Charles wäre also nicht lediglich entweder von ihm besetzt gewesen oder leer geblieben, sondern es hätten an seiner Stelle völlig verschiedene andere Personen in Heathrow eintreffen können, die dann auch völlig verschiedene Änderungen in den Lebenslinien von Personen verursacht hätten, die auf die ankommende Person getroffen wären.78 Von jedem Element unserer Umgebung gilt also, dass es zufallsbedingt sein könnte. In jeder zukünftigen Minute können sich Ereignisse einstellen, von denen (noch) nicht (lange) feststand, dass sie sich einstellen werden. Durch unser Wissen über diese Struktur der Zeit können wir allerdings unsere Lebensumstände nicht verändern. Auch wenn die Zukunft sich immer wieder in kontingenter Weise einstellen wird, ermöglicht uns dies nicht, unsere Zukunft zu beherrschen. Die Relevanz einer offenen Zukunft für die Lebensführung liegt an einer anderen Stelle. Dies soll anhand eines Gedankenexperiments veranschaulicht werden, das im Unterschied zu dem von der australischen Farmerdynastie eher eine biographische Standardsituation darstellt.
4.6.2 Lebensläufe in einer deterministischen und in einer indeterministischen Welt Die folgende Situation wird sich wohl in den meisten Biographien einstellen, unabhängig vom jeweiligen Weltbild. Irgendwann in den Jugendjahren taucht die Frage auf, was für ein Leben man in Zukunft führen möchte. Lässt man diese Frage ernsthaft zu, müsste man folgende Überlegungen anschließen: Zum einen, welche beruflichen, sozialen und finanziellen Rahmenvorstellungen hat man für sein zukünftiges Leben? Sodann, welche Mittel muss man anwenden, um diese Vorstellungen mit Aussicht auf Erfolg zu verwirklichen versuchen? Ferner, welche Kompetenzen muss man erwerben, um in den Besitz dieser Mittel zu kommen? Selbstverständlich können sich die Lebenswünsche im Laufe eines Lebens ändern: Eine erfolgreiche Geschäftsfrau wünscht sich etwa in einer Midlife-Crisis den Ausstieg aus der bisherigen Karriere und den Anfang eines ganz anderen Lebensabschnittes. In solchen Fällen würde die oben geschilderte Situation einfach häufiger im Laufe eines Lebens eintreten. Veranschaulichen wir uns diese allgemeinen Überlegungen an einem Beispiel, zunächst unabhängig von den beiden alternativen Weltbildern: Paul kommt gegen Ende seiner Schulzeit zu dem Wunsch, einmal in einem Haus mit einem sehr 78 Vgl. Keil, Handeln, 223–240.
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großen Garten zu wohnen. Er weiß, dass der Erwerb eines solchen Objekts und seine Unterhaltung relativ teuer sein werden. Deswegen versucht er, seine Berufswahl diesem Wunsch anzupassen. Pauls Abiturzeugnis fällt nicht besonders gut aus. Er ist auch eher ein praktisch veranlagter Mensch, der nicht so gerne hinter den Büchern sitzt und lernt. Von seiner Neigung her würde er gerne eine Schreinerlehre machen, aber er weiß, dass er sich damit seinen Haus- und Gartentraum nicht erfüllen können wird. Um Geld zu verdienen, so hat er gehört, wäre ein Studium der Betriebswirtschaftslehre besser geeignet. Also entschließt er sich zu dem anstrengenderen Weg, der den größeren Erfolg verspricht. Mühsam, aber doch mit einem durchaus annehmbaren Abschluss absolviert er sein Studium. Nun sucht er seine erste Arbeitsstelle. Ein großer Autozulieferer würde Paul einstellen, mit dem üblichen Einstiegsgehalt und den gängigen Aufstiegsmöglichkeiten. Ein Bekannter erzählt ihm von einer Firma in Liechtenstein, die ein deutlich höheres Gehalt bietet. Paul informiert sich über diese Firma und stößt dabei auf Gerüchte von Geldwäsche und anderen illegalen Geschäften. Darauf will er sich nicht einlassen, und dies nicht nur aus Ängstlichkeit, sondern auch aus dem Wunsch, ein anständiger Mensch zu bleiben. Deswegen entscheidet er sich für die Stelle des Autozulieferers. Er hat dort hart zu arbeiten, aber es lohnt sich auch. Sein Portfolio wächst, der Traum vom Gartenparadies rückt nahe. Doch im Alter von 35 Jahren erfährt er, dass er eine unheilbare, tödliche Krankheit hat. Es bleiben ihm nur noch wenige Monate. An dieser Stelle soll nun der Unterschied zwischen einer deterministischen und einer indeterministischen Ontologie berücksichtigt werden. Im Determinismus hätte seit der Geburt von Paul – nennen wir ihn ab jetzt Paul D – festgestanden, welche Berufsentscheidung er treffen, welches Leben er führen und natürlich auch, dass er mit 35 sterben würde. Wie stellt sich Pauls Leben dem Betrachter in einer indeterministischen Welt dar? Nehmen wir der Einfachheit halber an, der einzige Zufall, der ihn betroffen hätte, sei der Ausbruch seiner Krankheit. Paul I hätte also in allem dasselbe Leben geführt wie Paul D, außer dass er mit 35 nicht notwendig stirbt, sondern aufgrund eines Zufallsereignisses.79 Dasselbe Zufallsereignis hätte auch so ausgehen können, dass er nicht erkrankt. Nun überlegen wir, wie sich der Unterschied der beiden Weltbilder aus der Ersten-Person-Perspektive von Paul D bzw. Paul I darstellt. Dabei können wir eine doppelte zeitliche Perspektive unterscheiden, einmal den Rückblick auf die Vergangenheit, das andere Mal den Vorausblick auf die Zukunft. Diese doppelte Erste-Person-Analyse hat nichts mit Willensfreiheit zu tun. Denn weder Paul D 79 Die strenge Parallelität der beiden Lebensläufe von Paul D und Paul I außer der zufälligen oder notwendigen Krankheit erfordert, dass Paul D an derselben Krankheit stirbt, durch die Paul I zufällig ums Leben kommt. – Selbstverständlich gibt es auch in einer indeterministischen Welt Krankheiten, die man sich in notwendiger Weise zuzieht.
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noch Paul I treffen freie Entscheidungen im libertaren Sinne. Vielmehr sind alle ihre Entscheidungen entweder durch Notwendigkeit alleine oder durch das Zusammenspiel von Zufall und Notwendigkeit bestimmt.
4.6.2.1 Lebensrückblick in einer deterministischen und in einer indeterministischen Welt Im Determinismus müsste sich Paul D sagen, dass schon von Anfang an feststand, dass sich sein Lebenstraum nicht erfüllen wird. Wie würde er wohl die anderen Weichenstellungen in seinem Leben rückblickend beurteilen? Er müsste sich sagen, dass es sich nicht gelohnt hat, das anstrengendere Studium auf sich genommen zu haben anstatt Schreiner zu werden. Gleichzeitig weiß er aber auch, dass er gar nicht die Alternative hatte, die im Rückblick angenehmer erscheinende Schreinerlehre zu machen. An diesem Punkt wäre es denkbar, dass in Paul D negative Gefühle wie Ärger oder Verbitterung aufkommen.80 Er könnte es bedauern, dass seine Berufswahl unglücklich war und dass er, wenn er sein zukünftiges Schicksal schon gekannt hätte, besser nach seiner Neigung Schreiner geworden wäre. Aber auch hier müsste er sich sagen: Selbst wenn es einen Supercomputer gäbe, der seine Zukunft vorausberechnen könnte, würde im Determinismus schon festgestanden haben, dass niemand ihm, Paul D, die Kenntnis des Supercomputers zugänglich gemacht hat. Insgesamt wird sich Paul D mit einiger Wahrscheinlichkeit als eine tragisch gescheiterte Person fühlen. Der Lebensrückblick von Paul I unterscheidet sich nicht diametral von dem seines Doppelgängers. Er wird in seiner indeterministischen Welt mit derselben Bestürzung und Enttäuschung auf seine Diagnose reagieren wie Paul D. Auch er könnte zu der Meinung kommen, dass seine Berufswahl unglücklich war und dass er, wenn er sein zukünftiges Schicksal schon gekannt hätte, besser nach seiner Neigung Schreiner geworden wäre. In seiner Welt kann es aber keinen Supercomputer geben, der seine Zukunft vorausberechnen könnte. Denn es entschied sich erst in seinem 35. Lebensjahr zufällig, dass er sterben würde. Er müsste sich also nicht wie Paul D sagen, dass seine Anstrengungen zwischen dem 20. und 35. Lebensjahr von vornherein sein intendiertes Ziel nicht verwirklichen konnten. Ein Determinist wird an dieser Stelle vielleicht einwenden, dass überhaupt kein Unterschied zwischen Paul D und Paul I bestehe: Beide wussten nicht, dass 80 Der Fokus unseres Interesses liegt hier nur auf dem nicht verwirklichten Lebenstraum. Die Beurteilung anderer Entscheidungen könnte jeweils unterschiedlich aussehen. Möglicherweise würde Paul z. B. meinen, dass er nach dem Studium doch lieber in das risikobehaftete Liechtensteiner Unternehmen gegangen wäre, weil er dann vielleicht doch noch, wenn auch für kurze Zeit die Erfüllung seines Traumes hätte erleben können. Vielleicht würde er aber auch immer noch denken, dass es ihm auch angesichts des frühen Todes lieber sei, ehrlich durch sein Leben gegangen zu sein.
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sie mit 35 sterben würden. Beide haben ihre Entschlüsse immer notwendig getroffen und beide sind sie gescheitert. Ich meine jedoch, dass sich schon im Rückblick der Grad der Frustration bei beiden unterscheidet. Das Schicksal fühlt sich grausamer an, wenn man sich sagen muss, dass schon bei der Entscheidung für den mühsameren Weg feststand, dass er nicht zum Ziel führen würde, als wenn man erkennen muss, dass das Ziel hätte erreicht werden können, wenn der Zufall sich nicht so, sondern anders eingestellt hätte. Im Rückblick hatte Paul D keine Chance, Paul I hingegen eine solche von > 0 %.81 Auf andere Weise zeigt sich der Unterschied zwischen den beiden Weltbildern bei der vorausblickenden Zukunftsplanung.82
4.6.2.2 Zukunftsplanung in einer deterministischen und in einer indeterministischen Welt Stellen wir uns jetzt vor, Paul D und Paul I hätten schon von Anfang an gewusst, dass sie in einer deterministischen bzw. in einer indeterministischen Welt leben, und stünden gerade vor ihrer Entscheidung für die Berufswahl. Paul D müsste sich zunächst sagen, dass seine Berufsentscheidung schon seit vor seiner Geburt feststeht, auch wenn er selbst sie noch nicht kennt. Je schwerer er sich mit der Entscheidungsfindung tut, desto ärgerlicher könnte er diesen Zustand empfinden. Wenn er sich fragt, ob er überhaupt noch weiter überlegen oder einfach eine Münze werfen soll, wird ihm sofort klar, dass auch die Entscheidung für oder gegen den Münzwurf schon feststeht, bevor er sie getroffen haben wird. Verfügt Paul über ein gewisses Maß an Phlegma, könnte er erleichtert die Münze entscheiden lassen und sich angenehmeren Gedanken zuwenden. Hat er einen anderen Charakter, steht er vor dem Fatalismusproblem, welches zunächst darin besteht, dass er eine Entscheidung treffen muss, die ihm einerseits schwerfällt, die aber andererseits schon feststeht. Dieses Problem wird sich 81 Zur Erinnerung: Wir gingen davon aus, dass in der Welt von Paul I nur ein einziges Zufallsereignis stattfindet. 82 Man könnte hinsichtlich des Lebensrückblicks das Fallbeispiel auch noch auf den Unterschied der beiden Weltbilder hin analysieren, wenn das Leben von Paul zum erstrebten Ziel geführt hätte. In beiden Weltbildern hätten sie Glück gehabt, dass alle Determinanten (und Zufälle, im Falle von Paul I) zum Gelingen beigetragen haben. Das Fatalismusproblem würde sich vermutlich in dieser Variante nicht einstellen. Ferner könnte man überlegen, wie die Vergangenheitsreflexion bei Paul ausfallen könnte, wenn er nicht an einer zufällig entstandenen Krankheit stürbe, von der er weiß, dass sie zufällig entstanden ist, sondern wenn er in hohem Alter mit entsprechender Altersschwäche seinem natürlichen Ende entgegensieht. Wenn Paul D seinen Traum nicht verwirklichen konnte, muss er sich sagen, dass er geboren wurde, um in seinen Hoffnungen zu scheitern. Paul I kann und muss sich sagen, dass er zwar keinen einzelnen Punkt seines Lebens benennen kann, wo ein Zufall ihn gehindert hat, sein gesetztes Ziel zu erreichen. Aber er weiß, dass es solche Zufälle gegeben hat, und dass er deswegen zumindest über eine lange Zeit hinweg ein offenes Rennen gelaufen ist.
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noch verstärken, wenn er auch noch darauf reflektiert, dass seine Zukunftsplanung sich entweder in deterministischer Weise verwirklichen wird, aber auch in genauso deterministischer Weise scheitern könnte. Er weiß also, dass er sich jetzt unter Umständen notwendigerweise zu einer schweren Entscheidung durchringt, die sich eventuell nicht auszahlen wird. Die existentiell empfundene Ambivalenz, eine wichtige Entscheidung treffen zu müssen, die jedoch schon feststeht, ohne dass er sie kennt, und von der jetzt schon feststeht, dass sie zu einem Misslingen führen könnte, kann die Intuition so stark kränken, dass daraus eine vollkommene Handlungsdemotivation resultiert, wenn nicht Schlimmeres. Vermutlich muss Paul D die handlungstheoretische Selbstreflexion verdrängen und sich auf die praktische Seite seiner Situation fokussieren. Reflexion und Lebensvollzug treten auseinander. Paul I muss sich sagen, dass seine Berufsentscheidung nicht schon seit vor seiner Geburt feststeht. Denn auf seine Biographie haben sich bis zum Moment der Berufswahl mehr oder weniger viele Zufälle ausgewirkt. Seine Entscheidung steht erst fest, wenn er sich entscheidet, denn bei jeder Suspension der Entscheidung könnten weitere Zufälle auf die Entscheidungssituation einwirken. Im Moment der Entscheidung selbst entscheidet er sich aber in deterministischer Weise.83 Es gibt für ihn also ebenfalls keine völlig gleichartigen alternativen Handlungsoptionen zu diesem Zeitpunkt. Paul I weiß aber, anders als Paul D, dass im Moment seiner Entscheidung noch nicht feststeht, ob seine Zukunftsplanung sich verwirklichen wird. Er kann sich daher (wie Paul D) sagen, dass er sich jetzt unter Umständen notwendigerweise zu einer schweren Entscheidung durchringt, von der (anders als bei Paul D) noch nicht feststeht, ob sie sich auszahlen wird oder nicht. Egal also, wie er sich entscheidet (er weiß, dass er sich unfrei entscheidet!), es besteht die Hoffnung, dass sich seine Pläne erfüllen werden, auch wenn es dafür keine Garantie gibt. Seine Entscheidungsfindung und sein Wissen über die Welt treten an dieser Stelle nicht auseinander.
4.6.3 Das Fatalismusproblem An dieser Stelle soll nun das schon verschiedentlich berührte Fatalismusproblem eingehender analysiert werden. Es soll die Hypothese begründet werden, dass der illibertare Indeterminismus das Fatalismusproblem lösen kann, das sich im De 83 Zur Erinnerung: Wir können noch nicht definitiv ausschließen, dass sich Zufälle im Vollzug von Entscheidungen auswirken. Vgl. o. 193. Sollten sie es tatsächlich tun, wird die Analyse der obigen Situation komplexer. An der Theorie des illibertaren Indeterminismus würde sich dadurch aber prinzipiell nichts ändern. Darum gehen wir bei diesen Beispielen der Einfachheit halber davon aus, dass im Gehirnprozess keine Zufälle stattfinden.
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terminismus unweigerlich ergibt. Er muss dabei nicht auf einen libertaren Freiheitsbegriff zurückgreifen, der nicht einmal denkmöglich ist. Fatum ist ursprünglich der Götterspruch, das Orakel. Laios und Iokaste etwa wenden sich wegen ihrer Kinderlosigkeit an das Orakel von Delphi und Laios erhält den Spruch: „Solltest Du es je wagen, einen Sohn zu zeugen, so wird dieser seinen Vater erschlagen und seine Mutter heiraten.“ Als sich ein männliches Kind einstellt, lassen die Eltern den jungen Ödipus im Gebirge aussetzen, um das angekündigte Schicksal zu verhindern. Ödipus wird aber von einem Hirten gerettet und am Königshof von Korinth aufgezogen. Nach einer Anspielung, er sei nicht der leibliche Sohn des Königspaars, wendet sich Ödipus ebenfalls an das Orakel. Dieses verschweigt ihm seine wahre Herkunft, verkündet ihm aber ebenfalls, dass er seinen Vater töten und seine Mutter zur Frau nehmen werde. Auch Ödipus versucht, diesem Schicksal zu entgehen. Aber er gerät in Streit mit seinem leiblichen Vater, den er nicht erkennt, und heiratet später, ebenfalls in Unkenntnis, seine leibliche Mutter.84 Gerade durch den Kampf gegen das Fatum erfüllt es sich. Später werden Ansichten als fatalistisch bezeichnet, die unabhängig von den Göttern eine streng deterministische Weltanschauung vertreten.85 Im Kontext der Willensfreiheitsdebatte versucht Marco Stier, Fatalismus und Determinismus voneinander abzugrenzen:86 Ein Fatalist ist der Ansicht, er könne an der Zukunft nichts ändern, es liege nicht an ihm, was nächstes Jahr, morgen oder im nächsten Moment geschieht. Wer Determinismus und Fatalismus unterschieden wissen will, weist in der Regel darauf hin, dass unsere Handlungen, wenn gleich determiniert, am Lauf der Welt durchaus etwas ändern, dass unser Tun nicht vergebens ist und ins Leere läuft. […] Auf den ersten Blick scheint der Determinismus in der Tat den Fatalismus nach sich zu ziehen, ein einfaches Beispiel illustriert jedoch den erheblichen Unterschied zwischen beiden: Der Fatalist mag über einen Straftäter sagen, es sei eben dessen ‚Schicksal‘, straffällig zu werden, man könne daran nichts ändern; anders kann jemand hingegen der Überzeugung sein, der Täter sei aufgrund dieser und jener Umstände zu den bislang begangenen Taten determiniert gewesen, dabei aber zugleich die Ansicht vertreten, den Betreffenden durch angemessene Interventionen zu einem besseren und moralisch richtigen Verhalten in der Zukunft zu verhelfen.87
Diese Analyse des Verhältnisses von Determinismus und Fatalismus ist jedoch nicht vollständig. Zunächst sind die beiden möglichen Urteile über den Straftäter überhaupt nicht gegensätzlich, bilden also keine Alternative. Denn der Fatalist kann kein einziges bestimmtes Ereignis der Zukunft voraussagen, genauso wenig wie der Determinist. Der Fatalist kann aber behaupten, dass jedes einzelne Er 84 Vgl. Binder, Wörterbuch, 358 f. 85 Vgl. Heesch, Art.: Fatalismus. 86 Vgl. Stier, Verantwortung, 109–110. 87 AaO. 109 f.
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eignis der Zukunft, etwa auch die etwaige Lebensänderung des Straftäters, schon jetzt feststeht, auch wenn man sie nicht vorhersagen kann. Dies muss jedoch auch der Determinist zugeben.88 Der Fatalismus unterscheidet sich vom Determinismus hingegen durch eine individuelle emotionale Differenz. Diese Differenz entsteht aus der Verschränkung der Ersten-Person-Perspektive mit der DrittenPerson-Perspektive vom Standpunkt einer Person aus, die eine schwierige Entscheidung zu treffen hat bzw. auf eine solche Entscheidung zurückblickt. Thomas Nagel beschreibt das fatalistische Erlebnis so: Wäre ich der Ansicht, dass alles, was ich täte, durch die Umstände und meine psychische Verfassung determiniert wäre, so fühlte ich mich gleichsam in einer Falle. Glaubte ich von allen anderen das Gleiche, so wären sie für mich wie Marionetten. Es wäre sinnlos, sie für ihre Handlungen verantwortlich zu machen; man macht auch nicht einen Hund eine Katze oder gar einen Lift für etwas verantwortlich.89
Nicht alle Deterministen entwickeln dieselben Emotionen hinsichtlich der feststehenden Zukunft wie die von Nagel beschriebenen. Der Fatalismus ist also keine theoretische Ableitung aus dem Determinismus, sondern steht mit unterschiedlichen ethischen, emotionalen oder ästhetischen Einstellungen von Personen im Zusammenhang. Ein und dasselbe Weltbild, der Determinismus, wird von verschiedenen Menschen entweder freudig, gleichgültig oder fatalistisch aufgenommen.
4.6.3.1 Das Fatalismusproblem als intuitive Frustration bei lebenswichtigen Entscheidungen Im Folgenden sollen am Fatalismusproblem drei Aspekte unterschieden werden. (Vorausgesetzt ist dabei natürlich immer das deterministische Weltbild.) Wir verallgemeinern dabei das obige Fallbeispiel von Paul D. Der präsentische Aspekt besteht darin, dass ein Subjekt in seiner Ersten-Person-Perspektive eine existentielle Entscheidung für die Zukunft treffen muss. In dieser Perspektive ist ihm selbst seine Entscheidung noch nicht bekannt, sondern es hat Mühe, sich zu einer Entscheidung durchzuringen. Gleichzeitig kann 88 Stier zitiert aaO. 110 Barbara Guckes, die genau auf diesen Punkt hinweist, ohne sich jedoch mit ihr weiter auseinanderzusetzen. Vgl. außerdem aaO. 167. „Abgesehen davon, […] haben verschiedene Autoren darauf hingewiesen, dass unsere Handlungen durchaus am Lauf der Welt etwas ändern und der Fatalismus keineswegs eine zwingende Konsequenz aus der Anerkennung des Determinismus ist. Aber dies könnte man eventuell als eine lediglich pragmatischen Überlegungen geschuldete Perspektive abtun, die ein Laplacescher Dämon nicht überzeugend fände.“ (AaO. 183 f.). 89 Nagel, Was bedeutet das, 63. In der Folge weist Nagel darauf hin, dass nicht determinierte Handlungen ebenfalls keine Verantwortlichkeit begründen. Aber er formuliert zwei Fragen, mit deren Hilfe man dem Impossibilismus möglicherweise entgehen könnte.
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es sich selbst zum Gegenstand der Reflexion machen, also in der Dritten-PersonPerspektive in ein Verhältnis zu sich selbst treten. In dieser Perspektive weiß es, dass seine Entscheidung schon seit vor seiner Geburt feststeht. Wie kann die Person mit dieser Diskrepanz der Perspektiven umgehen? Sie will nicht irgendeine Entscheidung fällen, sondern eine solche, die ihr Lebensglück fördert. Die Entscheidungsfindung vollzieht sich in einem Reflexionsprozess, in welchem natürlich auch emotionale und unbewusste Faktoren eingehen.90 Wann soll sie diese Reflexion beenden und ihre Entscheidung fällen? Sie ringt gleichzeitig um ihre Entscheidung und beobachtet sich aus der Dritten-Person-Perspektive beim Entscheiden. Im positiven Fall erkennt die Person dabei, wie sich die von außen betrachtet schon feststehende Entscheidung innerlich entwickelt. Was geschieht jedoch, wenn sich keine zufriedenstellende Entscheidungsoption abzeichnen will? Dann muss die Person entweder zu irgendeinem Zeitpunkt die Entscheidung unvermittelt fällen, denn man kann nicht dauerhaft nicht entscheiden. Sie könnte sich zwar noch sagen, dass es vielleicht besser wäre, die Entscheidung noch ein wenig zu suspendieren. Aber auch die Entscheidung, noch weiter zu reflektieren oder es sein zu lassen, müsste sie als schon feststehend erkennen, ohne jedoch zu wissen, welche Alternative sich durchsetzen wird. In solchen Fällen könnte sich bei der Person ein fatalistisches Gefühl des ständigen Hinterherhinkens hinter das Wechselspiel der determinierenden Faktoren einstellen. Dieses Gefühl könnte etwa in die Worte gefasst werden: „Ich weiß nicht, wie ich mich entscheiden soll. Dabei weiß ich, dass meine Entscheidung schon feststeht. Ich weiß auch, dass schon feststeht, wann ich meine Entscheidung treffen werde. Dennoch weiß ich nicht, wann ich aufhören soll, über die Entscheidung nachzudenken.“ Diese Analyse zeigt, dass das Suspensionsvermögen, so lange der Determinismus vorausgesetzt wird, keine Quelle von Freiheit bedeutet91, sondern in diese Paradoxie hineinführt: Aus der Selbstreflexion in der Dritten-Person-Perspektive zu mir selbst weiß ich, dass es einen feststehenden Augenblick meiner Entscheidungsfällung gibt und dass das Ergebnis der Entscheidung ebenfalls schon feststeht. Bei der Entscheidungsfindung selbst in der Ersten-Person-Perspektive hingegen befinde ich mich in einem unendlichen Regress, weil ich niemals weiß, ob ich gerade jetzt die Entscheidung fälle, die ich fällen werde. Diese Paradoxie zwingt eine Person zu einer an sich andauernden Schwebe zwischen Reflexion und Entscheidung, die sie aber aus lebenspraktischen Gründen irgendwann doch einmal abbrechen muss. Diesem Paradox versucht sich etwa Bettina Walde zu entziehen. Sie geht davon aus, dass die Welt aus der Dritten-Person-Perspektive betrachtet deterministisch sei. In der Ersten-Person-Perspektive hebt sie sodann die epistemische Ungewiss 90 Vgl. o. 3.3.3. 91 Deswegen muss Geert Keil zusätzlich zum Suspensionsvermögen fordern, dass der Determinismus nicht gültig sei. Vgl. o. 49 f.
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heit der Zukunft heraus sowie die praktische Notwendigkeit, sich entscheiden zu müssen. In all diesen Punkten hat Walde Recht, aber insofern sie aus der epistemischen Ungewissheit „Willensfreiheit […] im naturalistischen Sinne“92 macht, treten die Erste-Person-Perspektive und die Dritte-Person-Perspektive auseinander. Der illibertare Indeterminismus ermöglicht es der Person dagegen, alle Erkenntnisse, die sie in der Dritten-Person-Perspektive von sich haben kann, auch in ihren Lebensvollzug in der Ersten-Person-Perspektive zu integrieren. Wie dies genauer aussieht, werden wir weiter unten darstellen. Zunächst sollen noch die anderen beiden Aspekte des Fatalismusproblems im Determinismus beschrieben werden. Unter dem prospektiven Aspekt weiß die Person, dass sie sich, wenn sie eine Entscheidung fällt, für einen Weg entscheidet, der möglicherweise nicht zu seinem intendierten Ziel führt. Außerdem muss sie sich sagen, dass dann auch schon seit vor ihrer Geburt feststand, dass sie sich für einen zum Scheitern verurteilten Weg entscheidet. In diesem Fall müsste sie entweder dieses Wissen aus ihrer Dritten-Person-Perspektive verdrängen, um ihr Leben in der Ersten-Person-Perspektive unbefangen und energisch führen zu können. Wollte sie sich nicht zu dieser Verdrängung entschließen, wäre sie ständig begleitet durch das Gefühl, möglicherweise von vorneherein ins Leere zu laufen. Beim retrospektiven Aspekt muss sich die Person sagen, dass die inzwischen erkennbaren Folgen ihrer vergangenen Entscheidungen schon feststanden, bevor sie sich entschieden hatte. Sind die Folgen diejenigen, die sie sich beim vergangenen Entscheidungsprozess erhofft hatte, kann sie vermutlich gut damit leben. Sind ihre Hoffnungen hingegen gescheitert, wird sie sich sagen müssen, dass sie sich in determinierter Weise zu einem vielleicht mühevollen Leben entschieden hat, dessen Ziele von vorneherein nicht verwirklicht werden konnten. Je nach Persönlichkeitsmerkmalen wird sie durch diese Erkenntnis möglicherweise verbittert werden. Offenbar reagieren aber nicht alle Menschen fatalistisch auf den Determinismus. Immerhin lautet der letzte Satz von Marco Stiers Buch über Verantwortung und Strafe ohne Freiheit: „Determinismus macht glücklich.“93 Daher wollen wir für die weiteren Überlegungen eine Fallunterscheidung treffen, indem wir davon ausgehen, dass es diese Menschengruppen geben könnte: Erstens solche Menschen, die im Determinismus fatalistisch im dargestellten Sinne reagieren, und zweitens andere, für die der Determinismus nicht zum Fatalismusproblem führt. Im folgenden Abschnitt stellen wir die Frage, wie sich für die fatalismusanfälligen Menschen die Situation im illibertaren Indeterminismus ändern würde.94 92 Vgl. o. 66. 93 Stier, Verantwortung, 281. 94 Peter Bieri versucht den Fatalismus so zu überwinden, dass er ihm zunächst den Wunsch einer unbedingten (libertaren) Freiheit zuschreibt. Dann erklärt er dem Fatalisten rational: „Was
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4.6.3.2 Die Entschärfung des intuitiven Fatalismusproblems durch den illibertaren Indeterminismus Auch bei der Frage nach den analogen Reflexionen im Rahmen eines ontologischen Indeterminismus arbeiten wir die drei Aspekte des Fatalismusproblems im Determinismus ab. Beginnen wir beim präsentischen Aspekt. Wie im Determinismus ist auch der Person im illibertaren Indeterminismus noch nicht bekannt, welche Entscheidungen sie treffen wird. Sie hat aber andere Erkenntnisse von sich selbst als ein Determinist. Sie weiß nämlich, dass ihre Entscheidung nicht schon seit vor ihrer Geburt feststand. Denn ihre Persönlichkeit, die sie jetzt, am Anfang ihres Entscheidungsfindungsprozesses ist, wurde durch eine nicht bekannte Anzahl von Zufällen mitgeprägt. Allerdings weiß sie auch, dass ihr Entscheidungsprozess, vor dem sie steht, durch ihre aktuelle Persönlichkeit und die äußere Situation festgelegt ist. Es könnten sich höchstens während des Entscheidungsprozesses noch äußere Zufälle ereignen. Natürlich kann die Person nicht erkennen, welche Vorgänge und Ereignisse während ihres Entscheidungsfindungsprozesses auf Zufälle zurückgehen und welche nicht. Sie muss aber damit rechnen, dass es solche Fälle geben könnte. Wenn sich während der Entscheidungsfindung keine zufallsbedingten Ereignisse einstellen, wird die Entscheidung der Person in deterministischer Weise stattfinden, bezogen auf ihre Persönlichkeit am Anfang und auf die Situation während der Entscheidungsfindung. In solchen Fällen unterschiede sie sich subjektiv nicht von einer Person im Determinismus. Im anderen Fall würde dieser potentiell deterministische Entscheidungsprozess durch Zufälle unterbrochen bzw. auf ein alternatives Ende hingelenkt. In der Ersten-Person-Perspektive könnte eine Person sich sagen: „Meine Entscheidung liegt bis jetzt fest durch meine aktuelle Persönlichkeit und durch die aktuelle Situation, welche durch Zufälle mitbestimmt worden sein kann.“ Was ergibt sich hier aus der Verschränkung von Erster- und Dritter-PersonPerspektive für das reflexive Selbstbewusstsein? Ein Subjekt muss sich sagen, dass seine Entscheidung umso weniger durch die Anfangsbedingungen des Entscheidungsprozesses festgelegt sein wird, je mehr Ereignisse in seinem Erfahrungshorizont auf Zufälle im Weltgeschehen zurückzuführen sind.95 Das bedeutet, dass jede Entscheidung, die sich aufgrund der Ausgangsbedingungen determidu dir vorstellst, geht […] überhaupt nicht.“ (Bieri, Handwerk, 317). „Der Fatalismus ist, so wissen wir jetzt, eine gedanklich unstimmige Einstellung.“ (AaO. 318). Diese Widerlegung trifft zwar die Vorstellung einer unbedingten Freiheit, aber nicht die emotionale Lage des Fatalisten, wie sie oben beschrieben wurde. 95 Zur Reichweite von Zufallsereignissen in der Außenwelt vgl. o. 4.6.1.
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nistisch anbahnt, durch zufallsbedingte Ereignisse überlagert werden kann. Dies hätte im Determinismus nicht geschehen können, weil es keine zufallsbedingten Änderungen eines Entscheidungsfindungsprozesses gibt. Was hat aber die Person von diesem Unterschied? Sie ist sich dessen bewusst, dass jede Suspension ihrer Entscheidung ihr möglicherweise Faktoren für ihre Entscheidung zuspielt, die ohne die Suspension nicht zur Verfügung gestanden hätten. Solche Faktoren sind unter anderem Informationen, die zielführende Entscheidungen begünstigen, etwa von Menschen, die mit uns kommunizieren, oder Büchern, die wir lesen. Unsere Person entwickelt also die Maxime: Suche möglichst lange nach neuen Faktoren, die in deine Entscheidung eingehen können. Ein Determinist wird gegen diese Überlegung einwenden wollen, dass es auch im Determinismus eine solche Maxime geben kann.96 Aber eine in einer deterministischen Welt lebende Person müsste sich sagen: „Egal, wie lange ich meine Entscheidung suspendiere, ich werde am Ende genau die Entscheidung treffen, die schon seit vor meiner Geburt feststand.“ Aus der Dritten-Person-Perspektive muss der Person ihr Abwägungsprozess also als sinnlos erscheinen. Er macht keine Differenz an dem schon feststehenden Ergebnis.97 Die Person im illibertaren Indeterminismus muss sich hingegen sagen: „Es steht jetzt noch nicht fest, welche Entscheidung ich treffen werde, falls Konsequenzen aus einem Zufallsereignis in meine gegenwärtige Situation hineinwirken. Ich könnte jederzeit noch eine Person treffen oder ein Buch finden, die mir entscheidungsrelevante Informationen liefern. Mein Abwägungsprozess ist damit epistemisch und ontisch ergebnisoffen.“ Die Dritte-Person-Perspektive und die Erste-Person-Perspektive fallen hier nicht auseinander: In der Ersten-PersonPerspektive kann ich mir zunächst unmittelbar sagen, dass ich überlegen muss, um zu einer Entscheidung zu kommen (hier besteht keine Differenz zum Determinismus). Aus der Dritten-Person-Perspektive kann ich sodann über mich wissen, dass meine Entscheidung nicht nur durch die Anfangsbedingungen des Entscheidungsprozesses festgelegt sein wird, sondern auch noch durch zufallsbedingte Ereignisse während der Entscheidung. Das Ergebnis der Entscheidung liegt also noch nicht unbedingt fest (anders als im Determinismus). Dieses Wissen kann ich wiederum in meine Erste-Person-Perspektive übernehmen. Ich muss mir jetzt nicht mehr wie im Determinismus sagen, dass ich meine Entscheidung suspendieren könnte, dass aber eben diese Suspension schon durch die Anfangsbedingungen festgelegen hätte, und dass ich durch die Suspension gerade zu der Entscheidung kommen würde, die ebenfalls schon festgestanden hätte. Allerdings entsteht hier ebenfalls ein Regressproblem, das demjenigen im Determinismus analog ist. Denn auch im Indeterminismus weiß eine Person nicht, welche Entscheidung sie treffen wird, bevor sie diese getroffen hat. Selbst wenn sie 96 So etwa Stier, Verantwortung, 275. 97 Diese Verschränkung der Perspektiven blendet Stier aaO. aus.
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Wert darauf legte, weitere Zufälle in die Entscheidung einwirken zu lassen, etwa Kommunikationen mit Personen, die für die Entscheidungsfindung hilfreich sein könnten, könnte sie nie wissen, wann sie die Entscheidung abschließend fällen soll. Wie im Determinismus muss also auch im Indeterminismus die Entscheidung zu einem bestimmten Punkt gefällt werden, der sich jedoch nicht als der richtige identifizieren lässt. Beim prospektiven Aspekt wird der Unterschied zwischen den beiden Weltbildern viel bedeutender. Im illibertaren Indeterminismus weiß die Person, dass sie in jedem Fall eine ontische Chance hat, ihr Ziel zu erreichen, solange es sich um ein logisch und praktisch mögliches Ziel handelt. Sie muss sich, anders als im Determinismus, nicht sagen, dass vielleicht schon seit vor ihrer Geburt feststeht, dass sie sich für einen Weg entscheidet, der von vornherein nicht zum Ziel führen wird. Auch wenn sie ebenfalls weiß, dass es keine Garantie dafür gibt, ihr Ziel zu erreichen, kann sie sich doch energisch und vorbehaltlos dafür einsetzen, ohne jeden fatalistischen Schatten. Ihre Erste-Person-Perspektive und ihre Dritte-Person-Perspektive fallen nicht auseinander. Der retrospektive Aspekt stellt sich im illibertaren Indeterminismus so dar: Die Person muss sich sagen, dass die inzwischen erkennbaren Folgen ihrer vergangenen Entscheidungen noch nicht feststanden, als sie sich entschieden hatte. Vielmehr ist der jetzige Zustand die Folge des Determinationsgefüges zu Beginn ihres Entscheidungsprozesses und der zufallsbedingten Faktoren, die während ihres Entscheidungsprozesses und danach in ihrem Leben wirksam geworden sind. Auch sie wird mit dieser Erkenntnis vermutlich gut leben können, wenn ihr aktueller Zustand mit ihren damaligen Hoffnungen übereinstimmt. Aber selbst wenn ihre Hoffnungen gescheitert sind, muss sie sich nicht sagen, dass sie sich zu einem vielleicht mühevollen Leben entschieden hat, das von vorneherein sein Ziel nicht verwirklichen konnte. Sie kann vielmehr wissen, dass zumindest eine Zeit lang ihre damaligen Ziele erreichbar waren und dass sie daher nicht von vorneherein zum Scheitern verurteilt war. Auch diese Person wird möglicherweise eine Verbitterung empfinden, aber diese wird nicht unbedingt so stark sein wie bei ihrem deterministischen Doppelgänger. Wie man sieht, wird der Mensch auch im illibertaren Indeterminismus nicht zum freien Gestalter seiner eigenen Zukunft. Der illibertare Indeterminismus entlastet lediglich die Menschen von dem Fatalismusproblem in den beschriebenen Grenzen. Diejenigen, die ohnehin leicht und optimistisch durch das Leben gehen, dürfte das bezeichnete Fatalismusproblem existentiell kaum betreffen. Doch wen das Leben schon hart gestreift hat, dem könnten andere Gefühle aus dem deterministischen Weltbild erwachsen. So könnte der straffällig Gewordene in Stiers Beispiel sich sagen, dass er schon irgendwie auf bürgerliche Bahnen kommen werde. Wenn er Wiederholungstäter war, könnte er aber auch pessimistisch werden und den Aufwand, den er für eine Resozialisation betreiben müsste, gegen die Möglichkeit aufrechnen, dass sich die Mühe vielleicht doch nicht loh-
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nen wird. Dadurch könnte er die einzige noch notwendige Anstrengung unterlassen, die ihn auf einen gelingenden Lebensweg führen würde. Natürlich hat auch diese Unterlassung im Determinismus schon seit jeher festgestanden. Ted Honderich scheint solche Situationen im Blick zu haben, wenn er, begrifflich nicht ganz deutlich, in Bezug auf Zukunftshoffnungen schreibt, diese implizierten gelegentlich, daß wir unsere Zukunft als etwas Offenes, etwas Nicht-Feststehendes oder Veränderungsfähiges ansehen. Wenn ich eine derartige Hoffnung hege, gehe ich davon aus, daß die Fragen mit Bezug auf meine Zukunft noch nicht beantwortet sind […] Mir ist eine Chance gegeben. Es liegt an mir. Vielleicht gelingt es mir.98
Honderich sieht sich gezwungen, solche Hoffnungen aufzugeben, weil der Determinismus wahr sei. Im illibertaren Indeterminismus muss diese Hoffnung nicht fallengelassen werden, auch wenn es keine libertare Willensfreiheit gibt. Der Satz „Es liegt an mir“ gilt aber im Indeterminismus genauso, wie Honderich ihn einschränkend gerahmt hat. Es kann damit nicht gemeint sein: „Ich habe es völlig in meiner Hand, was aus mir wird“, sondern exakt: „Mir ist eine Chance gegeben […] Vielleicht gelingt es mir.“ Damit dürfte plausibel geworden sein, dass sich der illibertare Indeterminismus in manchen Lebenssituationen besser anfühlt als der Determinismus. Mindestens ein Teil der in einer deterministischen Welt fatalismusanfälligen Menschen dürfte das Weltbild des illibertaren Indeterminismus mit seiner offenen Zukunft als eine intuitive Erleichterung empfinden. Die Entlastung der Intuitionen ist aber nicht der einzige Unterschied für das menschliche Selbstverständnis im Vergleich mit dem Determinismus.
4.6.4 Bildungsmotivation im illibertaren Indeterminismus Bisher haben wir die Bedeutung des Zufalls im Modell des illibertaren Indeterminismus untersucht. Jetzt kommen wir darauf zu sprechen, dass in diesem Modell auch deterministische Theorieelemente vorhanden sind. Der Zufallsindeterminismus ist kein völlig regelloses Chaos, sondern eine Kombination von Zufall und Notwendigkeit. Wer sein Leben führt, sollte die Regelmäßigkeiten kennen, in deren Rahmen es verläuft. Dabei handelt es sich um soziale, medizinische, wirtschaftliche, berufliche und andere Regeln und Zusammenhänge. Ohne groß auf den Bildungsbegriff und die Literatur, die ihn umrankt, einzugehen, kann man Bildung in einem weiten Sinne charakterisieren als reflektierte Erfahrung und reflektiertes Wissen von sich selbst, seiner Welt und dem Verhältnis von Subjekt und Welt. 98 Honderich, Determinismus-Problem, 120.
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Idealerweise trägt der institutionalisierte Bildungsgang zum Erwerb derartiger Erfahrung bzw. derartigen Wissens bei. Unabhängig vom Weltbild gilt in der aufgeklärten Gesellschaft die Korrelation von Bildung und, zumindest beruflichen, Erfolg als vorausgesetzt. Wer über mehr Wissen verfügt, auf mehr Erfahrung zurückblicken kann und wer das Leben weise reflektiert, hat statistisch gesehen größere Chancen, dass seine Handlungsabsichten erreicht werden. Dieser Zusammenhang gilt also auch im Determinismus. Auch in seinem Rahmen kann man annehmen, dass höhere Bildungsabschlüsse statistisch gesehen zu höherem Einkommen führen. Damit verfügen gebildete Personen über mehr Ressourcen, um ihre individuellen Interessen zu verfolgen. Der Appell, sich um schulischen Erfolg zu bemühen, erscheint daher als gerechtfertigt. Im Determinismus könnte an dieser Stelle wieder das Fatalismusproblem auftreten, wenn der Bildungserfolg einigermaßen schwer erreichbar scheint. Wer sich sagen muss, dass es schon seit vor der Geburt feststehen könnte, dass der Bildungserfolg für ihn bzw. sie selbst nicht erreichbar ist, wird sich oft wenig Mühe geben, ihn zu erwerben. Dieser Sachverhalt bildet einen Spezialfall des allgemeinen Fatalismusproblems unter dem prospektiven Aspekt. Daher gilt die These, dass sich auf dem Boden des neuen Modells die Bildungsmotivation von Personen leichter entwickeln lässt als auf dem Boden des Determinismus. Im illibertaren Indeterminismus lohnt es sich, in der Gegenwart und unmittelbaren Zukunft seine Kompetenzen so zu erweitern, dass man mit einem möglichst großen Reaktionsrepertoire in die fernere Zukunft eintritt. Es gibt in der offenen Zukunft die Chance, dass Ziele sich verwirklichen. Diese positive Perspektive kann dazu führen, seine Chancen noch zu erhöhen, indem man sich bildet. Damit setzt der illibertare Indeterminismus ein prinzipielles Bildungsmotiv frei. Ob dieser Impuls von einer Person tatsächlich umgesetzt wird, ist natürlich keine Sache einer libertaren Entscheidung. Aber wenn die Person durch die Einsicht in diesen Zusammenhang motiviert wird, erhöht sich dadurch die Wahrscheinlichkeit, dass sie in Zukunft zielführendere Entscheidungen trifft. Anders als bei Bettina Walde muss eine Person auch wiederum keine theoretischen Erkenntnisse aus der Dritten-Person-Perspektive bei der Entscheidungsfindung und der Vorbereitung darauf in der Ersten-Person-Perspektive vergessen. Sie zieht vielmehr die richtigen Konsequenzen aus der zugrunde gelegten Ontologie. Der von Walde vermutete evolutionäre Zusammenhang von Abwägungsprozessen und Verhaltensflexibilität käme hier zu seinem vollen Recht.99 Nach den hiermit vorgelegten Erläuterungen des illibertaren Indeterminismus soll er im nächsten Abschnitt mit klassischen philosophischen Argumenten in Zusammenhang gebracht werden, um sein Profil noch weiter zu schärfen.
99 Vgl. Walde, Willensfreiheit, 198.
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4.7 Der illibertare Indeterminismus im Kontext einiger klassischer Argumente der Willensfreiheitsdebatte 4.7.1 Der Entscheidungsprozess: Zum grundlegenden Unterschied zwischen Zufallsereignissen in der Person und Zufallsereignissen in der Außenwelt Kompatibilistische Autoren weisen früher oder später darauf hin, dass durch Zufälle, die sich im Gehirn einer Person bei der Entscheidungsfindung einstellen, keine irgendwie gearteten freien Entscheidungen begründet werden, sondern willkürliche (zufällige).100 Dieses Argument wird nicht bestritten. Das Zufallsereignis in Pauls Leben hat sich in der Außenwelt, wenn auch am Körper der Person ereignet. Wir sind davon ausgegangen, dass die neuronalen Vorgänge und mit ihnen die Gedanken, die durch die Diagnose hervorgerufen wurden, mit naturwissenschaftlicher bzw. psychologischer Notwendigkeit voranschritten. Der illibertare Indeterminismus stützt sich lediglich auf Zufälle in der Außenwelt und ist damit auch vollständig kompatibel mit einem neurobiologischen Determinismus. Es wurde schon darauf hingewiesen, dass auch der Körper einer Person in diesem Sinne zu seiner Außenwelt gehört. Die Außenwelt könnte sogar noch etwas näher an den neuronalen Entscheidungsprozess heranreichen. Es könnte etwa ein peripherer Nervenimpuls zufällig weitergeleitet werden oder auch nicht. Der Zufall würde dann dazu führen, dass die betreffende Person zufällig eine andere äußere Situation wahrnimmt. Die Verarbeitung dieser Wahrnehmung verliefe dann wieder deterministisch. Sitzt etwa eine Frau in ihre Studien vertieft an ihrem Schreibtisch, könnte ein Zufall im Wahrnehmungsprozess darüber entscheiden, ob sie ihren Mann erblickt, der schräg hinter ihr das Zimmer betritt. Wenn sie ihn wahrnimmt, wird sie sich – je nach Zustand der Ehe – notwendig darüber freuen oder ärgern. Wenn sie ihn zufällig nicht wahrnimmt, wird ihre Reaktion notwendig ausbleiben. Der Zufall liegt also hier in der subjektiven Wahrnehmung der Außenwelt, und nicht in der subjektiven Reaktion auf dieselbe. Auch im illibertaren Indeterminismus gelten daher zufallsunabhängige Entscheidungen als die wünschenswerteren. Er votiert ebenso wie der Kompatibilismus für Rationalität und damit für Regelmäßigkeit in der Reizwahrnehmung und -verarbeitung bis hin zur Entscheidungsfindung. Das heißt auf der anderen Seite aber nicht, dass sich der illibertare Indeterminismus der großen Bedeutung von Emotionen bei der Entscheidungsfindung verschließt. Er geht also davon aus, dass sich auch die irrationalen Faktoren in
100 So etwa Pauen, Illusion, 62; 128 f.
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der menschlichen Persönlichkeitsstruktur determinierend auf die Entscheidung auswirken. Der illibertare Indeterminismus verwendet allerdings in seiner eigenen Theoriebildung solche Intuitionen nicht, die nur durch Begriffe und Theorien befriedigt werden könnten, welche sich nicht theoretisch rechtfertigen lassen (wie etwa der Begriff von Willensfreiheit als Drittes zwischen Zufall und Notwendigkeit). Der illibertare Indeterminismus beansprucht deswegen, im Spektrum zwischen Intuition und Rationalität der letzteren näher zu stehen als der ersteren.101 Gleichwohl ist er wohl auch emotional akzeptabler als der Kompatibilismus. Denn im Rahmen des deterministischen Kompatibilismus wird die Intuition leicht dadurch gekränkt, dass eine Person in der Dritten-Person-Perspektive immer wissen kann, dass ihre Zukunft schon im Einzelnen feststeht, und auch, ob und wie sie ihre Präferenzen ändern wird. Im illibertaren Indeterminismus stimmen dagegen Erste- und Dritte-Person-Perspektive überein, weil eine Person dann, wenn sie an ihren Präferenzen arbeitet, auch wissen kann, dass die zukünftige Entwicklung ihrer Präferenzen noch nicht festliegt. Unter dem Stichwort Emotionen enthält der illibertare Indeterminismus außerdem einen Antrieb dafür, dass sich Menschen eine theoretische Einsicht in ihre emotionale Befindlichkeit verschaffen sollen, ohne sich von ihrer Emotionalität verabschieden zu müssen und zu einem reinen Verstandesmenschen zu werden. Die Unmöglichkeit einer solchen stoischen Emotionslosigkeit wurde von der modernen neurobiologischen Forschung ohnehin aufgezeigt.102 Aber Emotionen prägen unsere Persönlichkeit gelegentlich auf eine Weise, die uns zwar kaum, unseren Kommunikationspartnern aber sehr deutlich bewusst werden. Wer also sich selbst auch in seiner Emotionalität kennen lernt, wird manches besser deuten und in manchen Situationen gelingender kommunizieren können. Besonders wichtig ist eine solche emotionale Selbsterkenntnis auch deswegen, da unsere personalen Präferenzen nicht nur rational, sondern auch emotional bestimmt sind.
4.7.2 Der indeterministische Alternativismus begründet keine Willensfreiheit Im Weltbild des illibertaren Indeterminismus gibt es an manchen Stellen einen Alternativismus in der Außenwelt. Das Zufallsereignis kann im Rahmen statistischer Wahrscheinlichkeiten bei gleicher Vorgeschichte der gesamten Welt so oder auch anders ausfallen. Dadurch wird keine Willensfreiheit erzeugt, lediglich die
101 Vgl. o. 2.6.4. 102 Vgl. o. 93; 3.3.3.2.
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Menschen dürfen und müssen wissen, dass sie in Situationen geraten werden, die erst dann feststehen werden, wenn sie in ihnen stehen. Sollte es auch Zufallsereignisse in der Entscheidungsfindung einer Person geben, würde die Person willkürliche Handlungen vollziehen (und dies dann ebenfalls im Rahmen statistischer Wahrscheinlichkeiten). Der libertare Wunsch, dass sich aus der Kreuzung von Zufalls-Alternativismus und Notwendigkeit Willensfreiheit im starken Sinne ergebe, kann nicht erfüllt werden. Der illibertare Indeterminismus schließt sich hier der kompatibilistischen Lesart von Alternativismus an. Alternativen stehen dabei lediglich hypothetisch zur Wahl. Eine Person ist handlungsfrei, eine dieser Alternativen zu ergreifen.103 Beispielsweise ist eine Person handlungsfrei, zwischen Bier und Wein zu wählen. Sie wird aber auf jeden Fall ihre Wahl so treffen, wie Ursachen und Gründe es festlegen. Außerdem könnte in diesem Gefüge noch ein Zufallsereignis stattfinden. Handlungsalternativen im libertaren Verständnis gibt es hingegen nicht in der Person.
4.7.3 Urheberschaft im illibertaren Indeterminismus Ein typischer gegnerischer Einwand gegen den ontologischen Indeterminismus lautet, dass der Zufall eine zuverlässige Form der Urheberschaft ausschließe. So schreibt etwa Pauen: Frei Handlungen müssen […] von zufälligen Ereignissen abgegrenzt werden. Sollten wir erfahren, dass eine zufällige neuronale Aktivität im Motorkortex einer Person dafür verantwortlich war, dass die Person einen Schuss abgegeben hat, dann könnten wir […] nicht mehr von einer freien Handlung sprechen. Der Grund besteht offenbar darin, dass sich die fragliche Aktivität unter diesen Umständen völlig unabhängig von dem Handelnden ereignet hat. Der entscheidende Unterschied zwischen einem zufälligen Ereignis und einer freien Handlung scheint mithin darin zu bestehen, dass die freie Handlung eine Person zum Urheber hat.104
Wie schon erwähnt, sind für den illibertaren Indeterminismus nicht solche Zufälle interessant, die sich im Gehirn der Person abspielen, sondern solche in der Außenwelt. Dennoch ist nicht auszuschließen, dass sich auch ein Zufall wie der hier von Pauen beschriebene einstellen könnte. Wir müssen also auch einen solchen Fall diskutieren. Zunächst können wir dabei einfach darauf verweisen, dass Pauens Kategoriensystem zur Verursachung von Handlungen im Determinismus auch in den illibertaren Indeterminismus übernommen werden kann. Pauen hatte diese fünf Fälle unterschieden: 103 Vgl. o. 2.5.1.5.1 v. a. S. 41 f. 104 Pauen, Illusion, 62.
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1. Äußerer Zwang (keine Freiheit). 2. Kein äußerer Zwang (Handlungsfreiheit). 3. Momentane Präferenzen, die entweder schnell wieder verschwinden oder sich zu Fall 4. oder 5. weiterentwickeln. 4. Personale Präferenzen = personale Freiheit nach Pauen (die Person könnte sich auch dagegen entscheiden). 5. Innerer Zwang (keine Freiheit).105 Nach Pauen besitzen Menschen personale Freiheit, wenn sie solche Entscheidungen treffen, die auf personale Präferenzen zurückgeführt werden können. Solange es keinen Zufall im Gehirn einer Person gibt, kann dieses Kategoriensystem auch für Handlungen im illibertaren Indeterminismus angewendet werden. Es gibt also in diesem Weltbild dieselbe Möglichkeit von personalen Präferenzen wie im Determinismus. Die Frage ist, ob für zufallsbedingte Entscheidungen bzw. Handlungen, also solche, die durch einen Zufall im Gehirn bei der Entscheidungsfindung stattfinden, eine sechste Kategorie eingeführt werden muss. Pauen diskutiert den hypothetischen Fall eines Zufallsereignisses im Gehirn eines Menschen anhand seines Beispiels des im Allgemeinen friedliebenden Menschen.106 Sollte dieser zufällig zur Waffe greifen, müsste sich in seinem Cortex ein Quantenereignis abspielen, das eine chemische Kettenreaktion auslöst, wodurch die üblichen Hirnaktivitäten völlig überrollt werden. Es erscheint aber extrem unwahrscheinlich, dass eine einzelne zufällige Exocytose an einer Synapse dazu ausreicht, die eingespielten synaptischen Verbindungen so zu überlagern, dass ein für die Person geradezu atypisches Verhalten ausgelöst wird. Sollte dies doch der Fall sein, würde man selbstverständlich diese Person nicht als Urheber ihrer Tat ansehen können. Hypothetisch wären aber eher solchen Zufallsereignisse im Gehirn einer Person zu erwarten, die bei einer Pattsituation von handlungswirksamen Gründen als Zünglein an der Waage wirken. Nehmen wir etwa an, eine Person geht schon immer gerne zu bestimmten Konzerten, ist aber auch ein Fan der örtlichen Fußballmannschaft. Nun findet gleichzeitig sowohl ein Konzert der von ihm bevorzugten Art und ein Fußballmatch statt. Die Person muss sich also entscheiden, welcher der beiden Vorlieben sie den Vorzug gibt. Wenn beide sich genau die Waage halten (wie bei Buridans Esel), könnte es eine durch einen Zufall herbeigeführte Entscheidung für das Konzert oder das Fußballspiel geben. In der Realität dürfte ein solcher hypothetischer Fall wohl eher nicht vorkommen. Denn die Neurobiologie zeigt, dass es außer bewussten Gründen, die sich vielleicht wirk-
105 Vgl. o. 37. 106 Vgl. Pauen, Illusion, 62.
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lich einmal die Waage halten könnten, auch eine Mannigfaltigkeit von unbewussten Ursachen gibt, die handlungswirksam werden können.107 Da Pauen die Vereinbarkeit von Freiheit und Determinismus vertritt, sollte bei ihm eine zufallsbedingte Entscheidung überhaupt nicht vorkommen. Interessanterweise bezeichnet er aber als Voraussetzung für die Urheberschaft eine hinreichend robuste Verbindung zwischen der Person und ihrer Handlung; dies bedeutet jedoch nicht, dass hier eine deterministische Beziehung erforderlich ist. Infrage kommen hier auch starke probabilistische Erklärungen.108
Um einen Menschen im Determinismus Friedensliebe und Gewaltlosigkeit als personale Präferenz zuschreiben zu können, fordert Pauen also nicht, dass diese Person immer, also deterministisch, diese Eigenschaften zeigt. Es reicht aus, wenn er sich meistens so verhält und es eine hohe Wahrscheinlichkeit dafür gibt, dass er auch in einer zukünftigen Situation entsprechend handelt. Wenn eine solche Person im Determinismus zur Waffe greifen würde, müsste man urteilen, dass sie in diesem Moment entweder durch eine auffällige momentane Präferenz oder durch einen plötzlichen inneren Zwang angetrieben wurde. Im illibertaren Indeterminismus könnte ein solcher Zwischenfall ebenfalls so erklärt werden. Als dritte Erklärungsmöglichkeit käme noch das Zufallsereignis im Gehirn in Betracht. Das bedeutet: Eine Handlung, die im illibertaren Indeterminismus durch ein Zufallsereignis im Gehirn verursacht wird, unterscheidet sich aus der Dritten-PersonPerspektive empirisch nicht und aus der Ersten-Person-Perspektive epistemisch nicht von einer Tat, die im Determinismus durch eine momentane Präferenz oder einen inneren Zwang ausgelöst wurde. Aus diesem Grund ist es ein Irrtum, wenn Kompatibilisten behaupten, dass man durch den Ausschluss von Zufallsereignissen im Entscheidungsprozess mehr Kontrolle über seine eigenen Handlungen erhalte. Sowohl mit als auch ohne zufällige Entscheidungen gibt es in beiden Weltbildern nur begrenzt die Möglichkeit, wünschenswerte Handlungsverursachungen (etwa personale Präferenzen) zu garantieren.109 Weil sich die aus der Dritten-Person-Perspektive nicht als zufallsbedingt erkennbare Handlung in der Ersten-Person-Perspektive ebenfalls so anfühlen würde wie eine momentane Präferenz oder ein innerer Zwang, bildet sie auch keine zusätzliche sechste Kategorie. Denn man kann vermuten, dass sich der Zufall im Gehirn in manchen Fällen durch das Aufblitzen eines Gedankens manifestiert, der zur Entscheidung beiträgt. In solchen Fällen würde der Zufall im Gehirn identisch sein mit einer Zwangshandlung im Rahmen etwa einer Psychose. Sollte es sich doch herausstellen, dass sich der Zufall in der Ersten-Person-Perspektive
107 Vgl. o. 3.3.3.1 u. 3.3.3.3. 108 Pauen, Illusion, 63. 109 Gegen Stier, Verantwortung, 274.
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in manchen Fällen anders anfühlt als eine innere Abhängigkeit bzw. Zwang oder als eine momentane Präferenz, dann würde er tatsächlich eine sechste Kategorie von Handlungsverursachung darstellen.
4.7.4 Das Konsequenz-Argument im illibertaren Indeterminismus Das Konsequenzargument110 wurde von Libertaristen vorgebracht, um die Unvereinbarkeit von Freiheit und Determinismus zu beweisen. Da der illibertare Indeterminismus nicht darauf abzielt, einen libertaren Freiheitsbegriff zu entwickeln, könnte das Konsequenzargument schon alleine deswegen auf sich beruhen bleiben. Allerdings gälten ja schon die deterministischen Prämissen dieses Arguments nicht im Rahmen eines ontologischen Indeterminismus. Denn im illibertaren Indeterminismus sind die Entscheidungen der Person nicht ausschließlich durch die Ereignisse vor der Geburt einer Person mitbestimmt. Sie hängen vielmehr auch von Ereignissen ab, die seit ihrer Geburt eingetreten sind und die bis zum Zeitpunkt der Entscheidung noch eintreten werden. Die Abhängigkeit von Ereignissen, die schon lange vergangen sind, ist eine andere als die Abhängigkeit von Ereignissen, die erst in der Zukunft eintreten werden und zu denen man sich noch aktiv, wenn auch nicht willensfrei, verhalten kann. Pauen, der ebenfalls keinen libertaren Freiheitsbegriff intendierte, sah sich gezwungen, das Konsequenzargument zu widerlegen, um seinen Begriff von personaler Freiheit im Rahmen des deterministischen Weltbildes zu plausibilisieren. Der illibertare Indeterminismus schließt sich zwar Pauens Analyse von unterschiedlichen Entscheidungstypen an (personale Präferenz, momentane Präferenz usw.), lehnt es aber ab, den Begriff von personaler Freiheit zu verwenden. Dafür hat er zwei Gründe: Erstens ist es nicht möglich, personale Präferenzen von inneren Zwängen und von momentanen Präferenzen empirisch sicher zu unterscheiden.111 Zweitens, die Rede von personaler Freiheit birgt die große Gefahr in sich, dass das Substantiv in dieser Wendung immer wieder zu intuitionistischen libertaren Assoziationen führt. Konsequenterweise sollte der Begriff Freiheit nur noch in der Form von Handlungsfreiheit, Meinungsfreiheit, Religionsfreiheit und anderen konkreten Begriffen verwendet werden, die nicht mit Willensfreiheit konnotiert werden.
110 Vgl. o. 2.5.1.5.2 u. S. 66–64. 111 Vgl. o. 34 f.
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4.8 Lebensführung im illibertaren Indeterminismus 4.8.1 Lebensführung als langfristige Lebensplanung auf der Grundlage von Wissen, Erfahrung und Selbstreflexion Die hier vorgestellte Position steht unter dem Stichwort Lebensführung. Dieser Begriff hat, ausgehend von Max Weber, inzwischen eine weite Verbreitung gewonnen. Vor allem Arbeiten aus den Sozialwissenschaften führen diesen Begriff im Titel112. Es geht in diesen Veröffentlichungen fast immer um die Möglichkeiten und Grenzen der alltäglichen Lebensführung für besondere Gruppen der gegenwärtigen Gesellschaft. Dabei geht aber ein bedeutender Aspekt des Begriffs von Lebensführung verloren, der für Webers Theorie maßgeblich war. Der Sozialwissenschaftler Gregor Fitzi beschreibt den Umfang des Weberschen Begriffs so: Die Lebensführung stellt für Weber die Art und Weise dar, wie das alltägliche Leben organisiert ist. Je nachdem, ob sie durch ökonomischen Traditionalismus, innerweltliche Askese oder weltflüchtige Mystik bestimmt wird, gestaltet sich auch der Alltag anders und führt zu einer unterschiedlichen Rationalisierung der verschiedenen Lebenssphären.113
Für Weber ist die Lebensführung also konstituiert durch die religiöse Orientierung der Subjekte.114 Diese religiöse Dimension fehlt in den genannten sozialwissenschaftlichen Untersuchungen zumeist. Aber auch in andere Wissenschaftsbereiche, etwa in die Philosophie, ist der Begriff Lebensführung eingedrungen, ohne dass die Webersche Bedeutung des Wortes noch eine Rolle spielt.115 Der Übergang von Webers Begriff zum heute weitgehend am Alltagsleben bestimmter Schichten und Gruppen orientierten Terminus wird jedoch durch eine Beobachtung erklärbar, die der Heidelberger Nationalökonom und Religionssoziologe gemacht hatte: In der modernen Gesellschaft finde die Lebensführung enge Grenzen an den Eigengesetzlichkeiten von wirtschaftlichen, politischen und wissenschaftlichen Strukturen. Wo diese Eigengesetzlichkeiten herrschen, könne der 112 Vgl. etwa Behringer, Lebensführung; Allwelt, Lebensführung; Schimank, Statusarbeit; Karafyllis, Leben; Kampmeier, Budget; Endres, Jung; Sahin-Klinserer, Grenzüberschreitungen. – Diese Liste ließe sich fast beliebig erweitern. 113 Fitzi, Max Weber, 183. 114 Vgl. Weber, Wirtschaft, 321–348: »§ 10. Die Erlösungswege und ihr Einfluß auf die Lebensführung.“ AaO. 326: „Die Entwicklung zur Systematisierung und Rationalisierung der Aneignung religiöser Heilsgüter richtete sich aber gerade auf die Beseitigung dieses Widerspruchs zwischen alltäglichem und außeralltäglichem religiösen Habitus […] Die Gnadengewißheit mochte nun mehr mystische oder mehr aktiv ethische Färbung haben – wovon sehr bald zu reden sein wird –, in jedem Fall bedeutete sie den bewußten Besitz einer dauernden einheitlichen Grundlage der Lebensführung.“ 115 Vgl. etwa Rabinow, Anthropologie; Ammann, Ethiker; Gantschow, Selbst.
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Mensch sein Leben nicht mehr aktiv führen im Sinne einer aktiven Lebensgestaltung, sondern werde in passiver Weise getrieben.116 Es ist nun leicht zu sehen, dass das deterministische Weltbild eine Zuspitzung der Weberschen Eigengesetzlichkeiten darstellt. Denn auch in den von wirtschaftlichen und anderen äußeren Zwängen freien Sphären menschlichen Lebens kann höchstens von Handlungsfreiheit bzw. kompatibilistischer Freiheit gesprochen werden. Trutz Rendtorff spricht in seiner theologischen Ethik ebenfalls von Lebensführung, indem er die Ethik geradezu als „die Theorie der menschlichen Lebensführung“ definiert: Ethik ist die Theorie der menschlichen Lebensführung. Der Mensch ist verantwortlich für sein Leben, als einzelner wie in der Gemeinschaft mit anderen Menschen, im Kleinen persönlicher Lebensverhältnisse wie im Großen gesellschaftlicher Strukturen, im praktischen Handeln wie im planenden Gestalten. Der Mensch ist verantwortlich als Subjekt der Lebensführung. Das ist Thema und Gegenstand der Ethik.117
In Rendtorffs Buch ist die volle Bedeutung des Weberschen Begriffsverständnisses von Lebensführung wieder erreicht. Die christlich-religiöse Orientierung bildet die Grundlage für jegliches Handeln der Personen. Aber die hier zitierte Definition des Ethikbegriffs impliziert die religiöse Dimension noch nicht. Deswegen kann der Begriff der Lebensführung auch schon im illibertaren Indeter minismus, der an sich keinen theologischen, sondern einen philosophischen Theorieansatz darstellt, als Bezeichnung für eine anthropologische Grundhaltung verwendet werden. Auch bei der weiteren Entfaltung dieses Begriffs können wir Rendtorff noch ein Stück folgen. Abgesehen davon, dass für ihn die „Freiheit des Menschen […] ein für die Ethik unverzichtbares Postulat“ ist118, bestimmt Rendtorff die Lebensführung als einen „Prozeß der Steigerung ethischer Verbindlichkeiten. Sein Ziel ist die ‚moralische Reife‘ […] als die Versöhnung von Prinzipien und Entscheidungen. Das ist wesentlich ein biographischer Prozeß.“ Als solcher ist er kein einliniger Fortschrittsprozess, aber doch ein „das Ganze des eigenen Lebens“ umfassender Vorgang.119 Gelingende Lebensführung ziele auf einen Lebensplan ab.120 Auch dieser ist bei Rendtorff ethisch bestimmt, hat aber auch „den Zweck des Nutzens als Maxi-
116 Vgl. Schluchter, Religion, Bd. 2, 502–504; Hennis, Fragestellung, 100, 105–107, 110. 117 Rendtorff, Ethik, 1. 118 Nach Rendtorff ist jedoch fraglich, ob der Mensch von Natur aus frei, „also in einem ontologischen Sinne“ frei sei. Er selbst begreift die Freiheit im theologischen Sinne als Gabe. Auf diesen Zusammenhang kommen wir im Theologiekapitel ausführlich zu sprechen. Vgl. u. 5.3.3.4. 119 Rendtorff, Ethik, 178. 120 Vgl. aaO. 179 f.
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mierung des Lebenserfolges“ im Auge.121 Unter den möglichen Gründen für das Handeln sind diejenigen die besseren, „bei deren Befolgung ich auf Dauer damit rechnen kann, daß sie meinem eigenen Wohlergehen zugute kommen. In einem langfristigen Sinne sind die moralischen Gründe die besseren Gründe, weil sie die Identität und Stabilität einer eigenen Lebensführung zu sichern vermögen, in verschiedenen und wechselnden Situationen“.122 Außerdem könne niemand sein Leben führen ohne Rücksicht auf die Anderen, so dass sich im Interesse des eigenen Wohlergehens die Regel ableiten lasse: „Bilde deinen Lebensplan so, daß deine eigene Lebensführung mit der anderer zusammen zu bestehen vermag. Die ethische Bestimmtheit der Lebensführung ist besser als ein am unmittelbaren Vorteil orientiertes Leben.“123 An dieser Stelle verlassen wir Rendtorffs weitere Entwicklung seines theologischen Entwurfs und versuchen, die bis hierher genannten Stichworte Lebensplan, Dauer, Identität und Stabilität der Lebensführung in einen allgemeineren anthropologischen Zusammenhang zu stellen. Damit befinden wir uns in der Mitte zwischen einem sozialwissenschaftlichen, pragmatischen Begriff von Lebensführung und dem Weberschen Verständnis dieses Begriffs: Es geht hier nicht vorwiegend um Alltags-Bewältigungsstrategien, sondern um die langfristige Lebensplanung auf der Grundlage von Selbstreflexion und philosophischen Erkenntnissen, aber ohne Bindung an eine konkrete Religion bzw. Weltanschauung. Den illibertaren Indeterminismus verstehen wir als ein bestimmtes Weltbild, aber nicht als eine Weltanschauung, die immer schon handlungsleitende Prinzipien enthält. Der illibertare Indeterminismus enthält kein höchstes Gut und keinen höchsten Wert, sondern umreißt den Rahmen der Welt, innerhalb derer jeder Mensch seine Güter und Werte verwirklichen muss, wenn er dies überhaupt möchte. Der Begriff Lebensführung steht also zunächst für ein menschliches Selbstverständnis, das sich sowohl von dem entspannten Sich-Treiben-Lassen der fröhlichen Deterministen abgrenzt als auch von dem mit Widerwillen begleiteten Getrieben-Werden der Fatalisten. Im Einzelnen erfordert das Konzept der Lebensführung die folgenden Elemente: 1. Die Kenntnis der Rahmenbedingungen menschlichen Lebens im Sinne der anthropologischen Konstanten wie Geboren-Werden, Zusammenleben, Gesundheit und Krankheit, Sterben und Tod; 2. Die Kenntnis der gesellschaftlichen Rahmenbedingungen des individuellen Lebens wie Bildung, Beruf, politische Teilhabe, Wirtschaft;
121 AaO. 180. 122 AaO. 181. 123 AaO. 182.
Lebensführung im illibertaren Indeterminismus
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3. Die Kenntnis von verschiedenen weltanschaulichen Entwürfen des Menschseins sowie die Bereitschaft, sich den ethischen Fragen zu stellen, welche Präferenzen man im Umgang mit anderen Menschen und den lokal und global vorhandenen Ressourcen verantwortet; 4. Die Kenntnis der ontologischen Rahmenbedingungen menschlicher Existenz wie Determinismus oder Indeterminismus; 5. Die Bereitschaft, sich selbst soweit es geht zu reflektieren124, zum Beispiel um die biographischen und sonstigen Ursachen zu erkennen, welche die eigenen ethisch-anthropologischen Grundsätze haben, von denen man geleitet wird;125 6. Die Fähigkeit, Zukunftsperspektiven für das eigene Leben zu entwerfen, die eine Person kurz-, mittel- und langfristig leiten sollen; 7. Die Bereitschaft, solche Perspektiven von Zeit zu Zeit kritisch zu reflektieren und zu evaluieren; 8. Die Fähigkeit, aus den gewählten Zukunftsperspektiven eine Lebenspraxis herzuleiten, die die gewählten Ziele begünstigt. Diese Auflistung sollte zeigen, dass das Ideal einer aufgeklärten Lebensführung auch unter der Voraussetzung der Willensunfreiheit möglich ist. Anders als im Kompatibilismus muss nicht einmal der Begriff der Willensfreiheit umdefiniert werden. Man kann einfach auf ihn verzichten. Willensunfreiheit im Zusammenhang mit dem Indeterminismus frustriert die naive Freiheitsintuition weniger als die kompatibilistische Einschränkung der Willensfreiheit und die Verdrängung der harten Konsequenz einer determinierten Zukunft. Das hier vorgestellte Modell von Lebensführung stellt hohe Ansprüche an eine Person – an ihre Auffassungsgabe, an ihre Bereitschaft zur Selbstreflexion und anderes mehr. Aber wollte man diese Schwierigkeit gegen das Konzept der Lebensführung ins Feld führen, so gälte dieses Argument auch gegen die Versuche, Menschen über gelingende Partnerschaft oder pädagogisch verantwortbare Kindererziehung etc. aufzuklären.
4.8.2 Selbstvorwürfe oder Lebenserfahrung? Es besteht bei manchen philosophischen Autoren eine Wechselbeziehung zwischen dem jeweiligen Weltbild und der Plausibilität von Vorwürfen. Geert Keil vertritt die Meinung, dass man eine Form von Alternativismus brauche, um sich 124 Vgl. o. 145 Anm. 168. 125 In Punkt fünf müsste ein persönlichkeitsanalytisches Instrument einfließen, wie es etwa die Persönlichkeitstheorie von Roth darstellt, die wir in Kapitel 3 ausführlich entfaltet haben. Da solche Instrumente jeweils einen vorwiegend heuristischen Wert haben, wäre eine entsprechend elaborierte alternative Persönlichkeitstheorie ebenfalls geeignet.
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Das Modell des Illibertaren Indeterminismus
und anderen zu Recht Vorwürfe machen zu können.126 Honderich zieht aus dem Determinismus ebenfalls den Schluss, dass man sich selbst keine Vorwürfe mehr machen müsse, und akzeptiert dies.127 Wie stellt sich dieser Zusammenhang im illibertaren Indeterminismus dar? Der Vorwurf: „Es wäre besser für mich gewesen, wenn ich damals anders gehandelt hätte“, kann in seinem Rahmen gemacht werden, jedoch nicht im alternativistischen Sinne. Denn damals traf ich meine Entscheidung nach Maßgabe der vorhandenen und beurteilten Gründe. Ich hätte also nicht anders handeln können. Eine retrospektive Analyse kann also nicht den Zweck haben, sich Vorwürfe über die vergangene, „falsche“ (in Wirklichkeit: aus heutiger Perspektive für mich nicht die beste) Entscheidung zu machen. Die Reflexion auf die Vergangenheit kann lediglich die Funktion haben, die Lebenserfahrung zu erweitern und daraus eventuell Konsequenzen für die Lebensführung zu ziehen. Auch wenn ich anderen einen Vorwurf mache, ist das für ihn keine moralische Abkanzelung, sondern die Aufforderung, stärker zu reflektieren und daraus für Gegenwart und Zukunft zu lernen. Honderich hat mit seinem Verzicht auf Vorwürfe insoweit Recht, dass es keine moralische Schuld vorzuwerfen gibt. Aber im Sinne des vorigen Gedankens wäre es geradezu schlecht, sich und anderen keine Vorwürfe im Sinne von Problematisierungen mehr zu machen. Denn durch diesen Verzicht stagniert der Lernprozess bei mir selbst und auch bei anderen, denen ich Vorwürfe mache bzw. Probleme nahezubringen versuche.
4.8.3 Illibertarer Indeterminismus macht möglicherweise glücklich In seiner Monographie über Verantwortung und Strafe ohne Freiheit kommt Marco Stier zu der Auffassung, dass der Determinismus glücklich mache.128 Diese, für manche Leser sicher provokant wirkende Aussage, ist an dieser Stelle nicht mehr allzu überraschend, da wir bereits gesehen haben, dass es eine Gruppe unter den Deterministen gibt, die nicht dem Fatalismusproblem unterliegen und die dem Sich-Treiben-Lassen positive Möglichkeiten abgewinnen können. Vielleicht steckt hinter dieser Gelassenheit auch die emotionale Überzeugung, dass die individuelle Zukunft doch eine positiv bestimmte sei. Dagegen dürfte wohl für diejenigen, die den Determinismus mit dem Fatalismusproblem in Verbindung bringen, Stiers Aussage eher zynisch klingen. Wir müssen ja der Vollständigkeit halber annehmen, dass es im Determinismus auch solche Biographien gibt, die durchweg leidvoll sind, und dass solche Personen sich dementsprechend im 126 Vgl. o. 48. 127 Vgl. o. 2.5.4.3.2. 128 Vgl. Stier, Verantwortung, 281.
Zusammenfassung
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Großen und Ganzen unglücklich fühlen. Wer ein solches Leben ertragen muss, wird sich vermutlich auch dann nicht glücklich schätzen, wenn er weiß, dass der Determinismus gilt. Nun haben wir an Pauls Beispiel gesehen, dass es auch im illibertaren Indeterminismus trotz kluger Lebensführung scheiternde Biographien geben kann. Der illibertare Indeterminismus ist keine Garantie für Glück. Trotzdem empfiehlt er sich deswegen, weil er das intuitive Verlangen nach einer offenen Zukunft129 und nach der Relevanz unserer Entscheidungsfindung unterstützt, also diejenigen Intuitionen, deren Frustration im Determinismus zum Fatalismusproblem führen können. Außerdem ist der illibertare Indeterminismus auch sachlich die besser begründete Theorie, da sie die empirisch besser begründete ontologische Hypothese enthält, als der Determinismus es ist. Insofern sollte er sowohl Menschen, die sich von ihren Intuitionen nicht vollständig lossagen wollen, als auch Andere, die ein kohärentes Weltbild bevorzugen, glücklicher machen als der Kompatibilismus bzw. Determinismus.
4.9 Zusammenfassung Der in diesem Kapitel erläuterte Ansatz des illibertaren Indeterminismus ließe sich bei Bedarf in eine ausführliche Theorie der Lebensführung überführen, was jedoch die vorliegende Arbeit sprengen würde. Dies liegt nicht daran, dass die gesamte Theorie völlig neu entwickelt werden müsste. Denn im Rahmen des illibertaren Indeterminismus können viele Theorieelemente ihren Ort finden, die bisher in einem anderen ontologischen Rahmen oder ganz ohne Berücksichtigung der Willensfreiheitsdebatte erarbeitet wurden. Um jedoch das Modell im nächsten Kapitel theologisch zu interpretieren, fassen wir hier lediglich seine Grundzüge noch einmal zusammen: Erstens, das in der deterministischen Ontologie entstehende Fatalismusproblem wird im Indeterminismus aufgelöst. Dieser stellt also nicht nur die empirisch besser begründete Hypothese dar, sondern wirkt sich auch positiv auf die Intuition aus. Die Einsicht in die zufallsbedingte Offenheit der Zukunft führt in der Dritten-Person-Perspektive zu der Erkenntnis, dass Ziele, die man sich vornimmt, eine ontische Chance haben, erreicht werden zu können. Im Determinismus können Ziele selbstverständlich auch erreicht werden, aber man kann aus der Dritten-Person-Perspektive wissen, dass möglicherweise schon von vornherein feststeht, dass man sein konkretes Ziel nicht erreichen wird. Gälte der Determinismus, bliebe einem also nur die Möglichkeit, sich auf die Erste-Person-Perspektive zurückzuziehen, wenn man mit Optimismus sein Leben auf das gewählte Ziel hin führen möchte. Man muss dann in der Ersten-Person-Perspek 129 Vgl. o. 64; 69; 4.6.2.
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Das Modell des Illibertaren Indeterminismus
tive vergessen, was man in der Dritten-Person-Perspektive über die Welt weiß. Nach Ausweis der Literatur gibt es wohl einige Personen, die mit dem Auseinanderklaffen der Perspektiven keine Schwierigkeiten haben. Für diese Gruppe wird der illibertare Indeterminismus emotional nicht attraktiv sein. Er dürfte aber sowohl Menschen ansprechen, die entweder im Determinismus fatalistisch werden würden oder die aus rationalen Gründen die Übereinstimmung der beiden Perspektiven bevorzugen oder die von der Wahrheit der indeterministischen ontologischen Hypothese überzeugt sind. Wer weiterhin an der vollen libertaren Freiheitsintuition festhalten will, wird sich von dem neuen Modell wohl auch nicht angezogen fühlen. Zweitens, wenn sich eine Person in der Überzeugung von der Offenheit ihrer Zukunft, also von der ontischen Chance, ihre Ziele zu erreichen, auf den Weg gemacht hat, sollte sie alle handlungs- und entscheidungstheoretischen Erkenntnisse beherzigen, die von neurobiologischer, philosophischer, psychologischer und ökonomischer Seite erarbeitet wurden. Die betreffende Person unterscheidet sich in dieser Hinsicht nicht von einem Kompatibilisten, der sich in der deterministischen Welt darum bemüht, besondere Präferenzen zu entwickeln und zu seinen Zielen passende Handlungen auszuwählen und durchzuführen. Allerdings besteht auch auf dieser Ebene die Übereinstimmung der Perspektiven bzw. ihr Auseinanderfallen wie unter Punkt eins beschrieben. Auch die Motivation eines Menschen, sich – im weitesten Sinne – zu bilden, lässt sich emotional auf dem Boden des illibertaren Indeterminismus leichter entwickeln als auf dem Boden des Determinismus. Drittens, der Begriff Lebensführung bringt die zufallsbedingte Offenheit der Zukunft zusammen mit der deterministisch verlaufenden Kunst, Ziele auszuwählen und Wege zu finden, die auf sie zuführen. Der illibertare Indeterminist weiß, dass eine bestimmte Wahrscheinlichkeit dafür besteht, seine Ziele zu erreichen, – aber auch, dass es keine Garantie dafür gibt. Er ist nicht fatalistisch, aber auch nicht optimistisch verblendet.
5. Der illibertare Indeterminismus als ontologischer Bezugsrahmen der evangelischen Theologie 5.1 Einleitung Das Hauptinteresse dieser Untersuchung besteht darin, die paulinisch-reforma torische These des servum arbitrium als notwendiges Korrelat der Rechtferti gungslehre innerhalb der aktuellen theologisch-interdisziplinären Diskussion zu entfalten. Im vorangehenden Kapitel wurden bislang der naturwissenschaftliche und der philosophische Diskurs zueinander in Beziehung gesetzt. Dabei entstand ein philosophisch-anthropologischer Ansatz, der eine empirisch plausibilisierte metaphysische Hypothese (den Indeterminismus) mit Einsichten der Philosophie und der Neurobiologie verbindet. Dieses Modell soll es ermöglichen, trotz der Negation von Willensfreiheit ein Menschen- und Weltbild zu entwerfen, das frei von fatalistischen Emotionen ist. In diesem Kapitel soll der illibertare Indeterminismus mit der evangelischen Dogmatik in Zusammenhang gebracht werden. Dabei nehmen wir auf eine Reihe von neueren theologischen Studien Bezug, die sich ebenfalls mit der Freiheitsthematik und ihrer naturwissenschaftlichen und philosophischen Behandlung beschäftigen, während in der älteren Theologie das Thema der Willensunfreiheit meist ohne ausführliche ontologische Reflexionen behandelt wurde.1 Die zu vermittelnden Größen waren dabei das Handeln Gottes (die Reichweite seiner Macht und seiner Gnade) und das Vermögen des Menschen (die Reichweite seiner Willenskraft). Um das philosophische Modell des illibertaren Indeterminismus für die theologische Theoriebildung fruchtbar zu machen, muss also der in Kapitel 4 ausgeführte ontologische Aspekt in die aktuelle theologische Diskussion eingebracht werden. So wie in der Philosophie der Kompatibilismus die am weitesten verbreitete Ansicht ist, sympathisieren auch viele neuere evangelisch-theologische Willensfreiheitstheoretiker vorwiegend mit einer deterministischen Ontologie. Andreas Klein, Michael Roth und Friedrich Hermanni wären demnach als theologische Kompatibilisten zu bezeichnen. Dementsprechend müsste von ihnen das ganze 1 Die Leibniz-Wolffsche Theologie des 18. Jahrhunderts hat im Zusammenhang der Lehre von der prästabilierten Harmonie ontologisch-deterministische Züge, die von ihren Vertretern allerdings selbst zurückzudrängen versucht wurden. Vgl. Leinkauf, Leibniz, 212–216; Rieger, Bilfinger, 165–173.
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Der illibertare Indeterminismus als ontologischer Bezugsrahmen
System der Dogmatik mit einer deterministischen Ontologie ausgeglichen werden, was, soweit ich sehe, noch nicht geschehen ist. Hier scheint also ein Forschungsdesiderat vorzuliegen, das von theologisch-kompatibilistischer Seite eingelöst werden müsste. Denn wenn Luthers Auffassung von der Willensunfreiheit des Menschen einfach in einen theologischen Determinismus umgesetzt würde, blieben die alten Probleme der Prädestinationslehre (alternativ: einer infralapsarischen Erwählungslehre), vor allem das Theodizee-Problem bestehen, die dazu geführt haben, dass sowohl der Pietismus als auch die Aufklärung sich beim Thema Willensfreiheit von der reformatorischen Auffassung abgewendet haben. Würde ein lediglich ontologischer Determinismus von der Dogmatik voraus gesetzt, stellte sich die Frage nach der Gerechtigkeit Gottes kaum weniger scharf: Denn wer nur durch den Weltlauf daran gehindert wird zu glauben, und nicht durch Gottes Verweigerung der Gnade, wird sich in der Hölle nicht weniger ungerecht behandelt fühlen. In einem solchen ontologischen Determinismus, in dem die Menschen über kompatibilistische Willensfreiheit verfügen, beispielsweise über die Pauensche personale Freiheit, entwickelt sich das eschatologische Geschick so: Eine Person kommt bzw. kommt nicht zum Glauben, weil ihre personalen Präferenzen gerade so sind, wie sie sind. Diese Präferenzen haben seit jeher festgestanden, so dass auch seit jeher feststand, dass die Person in das Gottesreich bzw. in die Hölle kommen wird. So wie ein kompatibilistischer Theologe eigentlich die deterministische Ontologie mit allen dogmatischen Themen vermitteln müsste, darf natürlich auch der illibertare Indeterminismus nicht lediglich als Hintergrund für die Rechtfertigungslehre angesetzt werden. Auch diese Ontologie muss mit der gesamten Dogmatik in Zusammenhang gebracht werden, um zu sehen, welche Folgen, erwünschte oder unerwünschte, sich hieraus ergeben würden. Aus diesen Überlegungen heraus gliedert sich das folgende Kapitel so: Zunächst wird die klassische Willensunfreiheits-Theorie Martin Luthers kurz dargestellt, weil dieser nach Augustin2 die paulinische These von der Willensunfreiheit des Menschen bezüglich der göttlichen Gnade besonders wirkmächtig entfaltet hat. Dabei werden auch schon die Autoren berücksichtigt, die sich der Frage stellen, ob Luthers theologische Lehre vom unfreien Willen mit einem theologischen Determinismus einhergehe oder nicht (5.2). Danach wird die Frage nach den systematisch theologischen Konsequenzen des Indeterminismus im Ganzen diskutiert (5.3). Dabei gehe ich zunächst auf das Thema von Gottes Handeln in der Welt ein (5.3.1–5.3.2). Zum Schluss wird ein Entwurf der theologischen Anthropologie im Rahmen einer evangelischen Dogmatik vorgestellt, der das philosophische Modell des illibertaren Indeterminismus integriert hat. Dabei wird der Mensch als Geschöpf, als Sünder, als Versöhnter, als Liebender 2 Augustins Kehrtwendung bei der Frage nach der Willensfreiheit beschreibt kurz und prägnant Kahnert, Augustin.
Die klassische Position Martin Luthers
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und als Erlöster behandelt, so dass auch die entsprechenden dogmatischen Themen in Rahmen des illibertaren Indeterminismus skizzenhaft rekonstruiert werden (5.3.3).
5.2 Die klassische Position Martin Luthers: Das geknechtete Willensvermögen Sieht man sich in der Theologiegeschichte des Christentums nach der Thematisierung des freien Willens um, so trifft man schnell auf die Namen des Apostels Paulus, Augustinus’ und auf die Reformatoren des 16. Jahrhunderts. In evangelisch-dogmatischer Perspektive sind Paulus und Luther die maßgeblichen Bezugsgrößen der theologischen Tradition. Sowohl Paulus als auch die nachfolgenden Theologen behandelten das Thema von Willensfreiheit bzw. Unfreiheit nicht auf der allgemein-anthropologischen Ebene, sondern unter der speziellen Fragestellung, welche Rolle der menschliche Wille bei der Konstituierung desjenigen Gottesverhältnisses spielt, welches zum ewigen Heil führt. Die Hauptargumente des Humanisten Erasmus von Rotterdam für den freien Willen werden in der Darstellung von Luthers Position berücksichtigt. Eine ausführlichere Entfaltung der Argumente des Erasmus halte ich mit Rochus Leonhardt an dieser Stelle nicht für notwendig, da Luther „sie als in sich widersprüchlich und für eine Klärung der Sachfrage mindestens [als] irrelevant zurückgewiesen“3 hat. Luthers Schrift über das servum arbitrium hat im Laufe der Theologiegeschichte die unterschiedlichsten Reaktionen hervorgerufen. Während Calvin die Anschauung vom unfreien Willen weiter zur expliziten Prädestinationslehre entwickelte, bewegte sich bereits Melanchton wieder stärker auf die Anschauung des Erasmus zu. Dieser Trend hat eine große Erfolgsgeschichte im Laufe der protestantischen Dogmatik verbuchen können. Am Ende des 19. Jahrhunderts konnten dann auch solche ausgesprochenen Lutherverehrer wie Albrecht Ritschl und seine Schüler die Schrift über den geknechteten Willen nur als einen partiellen Rückfall in die spätmittelalterliche Scholastik abqualifizieren.4 Erst der Reformierte Karl Barth5 und der mit ihm durch den Kirchenkampf verbundenen Lutheraner Hans Joachim Iwand6 behaupten wieder die Wahrheit und Notwendigkeit der Lehre vom unfreien Willen. Die Beurteilung des Freiheitsgedankens in der zeitgenössischen Dogmatik wird weiter unten dargestellt.7
3 Leonhardt, Servum arbitrium, 148. 4 Vgl. Ritschl, Studien, 66–89; Kattenbusch, Luthers Lehre, 77, 88, 91. 5 Barth, Schriftprinzip, 544. 6 Vgl. u. 228 Anm. 10. 7 Vgl. u. 5.2.6.
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Der illibertare Indeterminismus als ontologischer Bezugsrahmen
Luther selbst hat seine Schrift vom geknechteten Willensvermögen neben dem Großen Katechismus als seine wichtigste erachtet.8 Er hält dieses Thema für den „Dreh- und Angelpunkt“9 der Auseinandersetzungen um seine Theologie. Die Lehre vom unfreien Willen ist für ihn das notwendige anthropologische Korrelat zum theologischen Sola-Gratia-Gedanken. Hans Joachim Iwand hat deswegen zu Recht darauf aufmerksam gemacht, dass mit dieser Schrift die protestantische Identität stehe und falle.10 In den folgenden Abschnitten skizzieren wir Luthers Lehre vom geknechteten Willen in ihren Grundzügen. Dabei stellen wir uns zunächst die Frage nach der existentiellen Bedeutung der Willensunfreiheit für den Reformator.
5.2.1 Luthers existentielles Interesse an Heilsgewissheit Luthers vehementes Eintreten für die Unfähigkeit des menschlichen Willens, das Gute zu wollen, ist vor allem gnadentheologisch motiviert. Hier kommt Luthers Biographie eine nicht zu unterschätzende Bedeutung zu. Lange Zeit war er von der Frage getrieben, wie sich göttliche Gnade und menschliche Werke zueinander verhalten und welches menschliche Werk groß genug sei, um vor Gott bestehen zu können. Er scheiterte an dieser Aufgabe aber kläglich. Ich war ernsthaft bei der Sache als einer, der den jüngsten Tag schrecklich fürchtete und dennoch aus tiefsten Herzen wünschte, selig zu werden.11 Ich aber, der ich, so untadelig ich auch als Mönch lebte, mich vor Gott als Sünder mit ganz unruhigem Gewissen fühlte und nicht darauf vertrauen konnte, durch mein Genugtun versöhnt zu sein, liebte Gott nicht, ja, ich hasste vielmehr den gerechten und die Sünder strafenden Gott und empörte mich im Stillen gegen Gott, wenn nicht mit Lästerung, so doch mit ungeheurem Murren und sagte: Als ob es nicht genug sei, dass die elenden und durch die Ursünde auf ewig verlorenen Sünder durch jede Art von Unheil niedergedrückt sind durch das Gesetz der Zehn Gebote, vielmehr Gott nun auch durch das Evangelium noch Schmerz zum Schmerz hinzu 8 Vgl. Luther an Wolfgang Capito am 9. Juli 1537, WA BR 8,99 f. 9 „Dann lobe und preise ich dich auch deswegen außerordentlich, dass Du als einziger von allen die Sache selbst angegangen bist, das heißt: den Inbegriff der Verhandlung, und mich nicht ermüdest mit jenen nebensächlichen Verhandlungen über das Papsttum, das Fegfeuer, den Ablass und ähnliche Verhandlungsgegenstände – oder vielmehr: dummes Zeug –, mit denen mich bisher fast alle vergeblich verfolgt haben. Nur Du allein hast den Dreh- und Angelpunkt der Dinge gesehen und den Hauptpunkt selbst angegriffen, wofür ich Dir von Herzen Dank sage.“ Luther, DSA, 659. 10 „Wer diese Schrift nicht aus der Hand legt mit der Erkenntnis, daß die evangelische Theologie mit dieser Lehre vom unfreien Willen steht und fällt, der hat sie umsonst gelesen.“ (Iwand in der theologischen Einleitung zu Luther, DSA, 253, in der Münchner Ausgabe). 11 Luther, Vorrede 1545, 495 (WA 54, 179).
Die klassische Position Martin Luthers
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fügt und uns mit seiner Gerechtigkeit und seinem Zorn zusetzt! So wütete ich mit wildem und verwirrtem Gewissen.12
Seine Entdeckung in Römer 1,16 („Der Gerechte wird aus Glauben leben“) ermöglichte ihm schließlich die Erkenntnis, dass der Glaube als Geschenk des barmherzigen Gottes ausreiche, um gerettet zu werden, und eröffnete ihm damit einen Ausweg aus der Angst hin zur subjektiven Heilsgewissheit.13 Um der Heilsgewissheit willen darf nach Luther daher nicht ein noch so geringer Beitrag von menschlichem Wirken am Heil beteiligt sein. Denn bei diesem geringen Beitrag, und sei es nur eine freie Hinwendung des Willens zu Gottes Wort, bestehe wieder die Gefahr, dass man sich nicht gewiss sein könne, genug getan zu haben. Dieser Gedanke verbindet Luthers Wiederentdeckung der paulinischen Rechtfertigungslehre mit der Schrift vom geknechteten Willen. Ich würde nicht wollen, dass mir ein freies Willensvermögen gegeben wird oder irgendetwas in meiner Hand belassen würde, wodurch ich nach dem Heil streben könnte. Nicht nur deshalb, weil ich in so vielen widrigen Umständen und Gefahren und weiter bei so vielen angreifenden Dämonen nicht im Stande wäre, zu bestehen und es zu behaupten, denn ein einziger Dämon ist mächtiger als alle Menschen und nicht ein Mensch würde gerettet; sondern weil ich auch dann, wenn es keine Gefahren, keine widrigen Umstände, keine Dämonen gäbe, dennoch gezwungen würde, mich andauernd ins Ungewisse hinein anzustrengen und Lufthiebe zu machen. Denn mein Gewissen wäre, und wenn ich auch ewig lebte und wirkte, niemals gewiss und sicher, wie viel es tun muss, damit es Gott Genüge getan wäre. Denn wie vollkommen auch immer ein Werk wäre, es bliebe ein Skrupel, ob Gott dies gefiele oder ob er irgendetwas darüber hinaus erforderte. Das beweist die Erfahrung aller Werkgerechten, und ich habe das zu meinem großen Leidwesen in so vielen Jahren zur Genüge gelernt. Aber weil jetzt Gott mein Heil meinem Willensvermögen entzogen und in seines aufgenommen und zugesagt hat, mich nicht durch mein Werk und mein Laufen, sondern durch seine Gnade und seine Barmherzigkeit zu retten, bin ich sicher und gewiss, dass er treu ist; er wird mich nicht belügen.14
Erasmus hingegen betrachtete die Heilsgewissheit als gefährdet, wenn dem Menschen nicht eine Möglichkeit zur Mitwirkung am Heilsgeschehen zur Verfügung steht. Nach Erasmus führt es zur Verzweiflung, wenn der Mensch überhaupt keinerlei Willensfreiheit besitzt, um sich Gott zuzuwenden.15 Beide Gegner verteidigen also ihre Theorie um der Heilsgewissheit willen. Als Entgegnung auf Erasmus’ intuitiv plausibles Argument verweist Luther auf eigene Erfahrungen: 12 Luther, Vorrede 1545, 505 (WA 54, 185 f.). Druckfehler berichtigt. 13 Ob man in diesem Zusammenhang von echter Heilsgewissheit sprechen kann, wird an späterer Stelle diskutiert. Vgl. u. 240. 14 Luther, DSA, 649 f. 15 Vgl. Erasmus, De libero arbitrio, IV 16, (S. 191).
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Der illibertare Indeterminismus als ontologischer Bezugsrahmen
Gott hat mit Gewissheit den Gedemütigten, das heißt, den völlig Verzweifelten seine Gnade zugesagt. Der Mensch kann aber erst dann vollständig gedemütigt werden, wenn er weiß, dass sein Heil gänzlich außerhalb seiner Kräfte, Absichten, Bemühungen und seines eigenen Willens, seiner Werke liegt und ganz und gar von der Entscheidung, der Absicht, vom Willen und Werk eines anderen abhängt, nämlich Gottes allein. Solange er sich nun einredet, dass er auch nur ein klein wenig zu seinem Heil beitragen kann, bleibt er im Vertrauen auf sich selbst und verzweifelt nicht vollständig an sich, demütigt er sich nicht vor Gott […] Wer aber in keiner Weise daran zweifelt, er hänge ganz vom Willen Gottes ab, der verzweifelt gänzlich an sich selbst, der wählt nichts, sondern erwartet den wirkenden Gott. Der ist der Gnade am nächsten, dass er heil wird.16
Für Luther hat die Verzweiflung etwas Heilsames, da durch sie erst das absolute Vertrauen in Gott möglich werde. Dies betont Luther auch in der Auseinandersetzung mit dem erasmischen Argument, dass die Gerechtigkeit Gottes auf dem Spiel stünde, wenn es alleine an Gottes Willen läge, ob ein Mensch das Heil erlange oder der ewigen Verdammnis ausgeliefert werde: Freilich, das erregt in höchstem Grade Anstoß bei jenem allgemeinen Empfinden oder der natürlichen Vernunft, dass Gott aus seinem bloßen Willen die Menschen im Stich lässt, verstockt, verdammt. So, als erfreue er sich an den so großen und ewigen Sünden und Qualen der Elenden, wo doch von ihm gepredigt wird, er sei von so großer Barmherzigkeit und Güte usw. Das scheint ungerecht, grausam, unerträglich zu sein, so von Gott zu denken. Daran haben auch so viele und so große Männer jahrhundertelang Anstoß genommen. Und wer sollte nicht Anstoß nehmen? Ich selbst habe nicht nur einmal Anstoß genommen bis hin zum tiefsten Abgrund der Verzweiflung – bis ich sogar wünschte, dass ich niemals als Mensch geschaffen worden wäre. Das war, bevor ich wusste, wie heilsam diese Verzweiflung ist und wie nahe der Gnade.17
Es war also Luthers religiöse Biographie, die ihn nicht nur zur reformatorischen Entdeckung führte, sondern die ihn auch um der Heilsgewissheit willen zu einem Gegner eines noch so geringen Spielraumes der menschlichen Freiheit in Angelegenheiten von Heil oder Unheil machte. Wie aber hat er seine Erfahrungen und die Schlussfolgerungen daraus sachlich begründet?
16 Luther, DSA, 285. 17 AaO. 487.
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5.2.2 Luthers Konkretisierung der Streitfrage Luther ist in seiner Schrift vom geknechteten Willen zunächst darum bemüht, das Diskussionsthema, um das es geht, genau zu bestimmen. Entscheidend ist für ihn die Frage, wie sich der menschliche Wille zur Gnade Gottes verhält und was das Willensvermögen ohne die göttliche Gnade vermag.18 Luther bestreitet nicht, dass der Mensch ein Willensvermögen (voluntas) besitze, sondern dass es in dem freien Wahlvermögen (liberum arbitrium) des Menschen liege, ob dieses nach dem Guten oder nach dem Bösen strebt.19 Luther verdeutlicht das anhand des berühmten Bildes vom Reittier, das je nachdem, welcher Reiter aufsitzt, in die eine oder in die andere Richtung strebt: So ist der menschliche Wille in die Mitte gestellt, wie ein Zugtier. Wenn Gott darauf sitzt, will und geht es, wohin Gott will, wie der Psalm sagt: ‚Ich bin gemacht wie ein Lasttier und ich bin immer mit dir.‘ Wenn Satan darauf sitzt, will und geht es, wohin Satan will. Und es liegt nicht an seinem Willensvermögen, zu einem von beiden Reitern zu laufen oder ihn zu suchen. Vielmehr streiten die Reiter selbst darum, es in Besitz zu nehmen und in Besitz zu behalten.20
Im Gegensatz zu Erasmus, der von einer Neutralität des Willens ausgeht, hält Luther es für unmöglich, dass der menschliche Wille frei von einem bestimmten Motiv sein könne.21 Der menschliche Wille ist bei ihm nicht primär durch die Vernunft bestimmt, sondern stark affektiv gedacht. Wolfgang Achtner spricht in diesem Zusammenhang auch von „der Unhintergehbarkeit der Intentionalität des menschlichen Willens“, zu welcher auch Emotionen wie Liebe und Hass gehören.22 Es dürfte damit deutlich geworden sein, wie Luther zu seiner Spitzenaussage gelangt, ohne die göttliche Gnade könne das menschliche Willensvermögen nichts, außer notwendigerweise sündigen. Wenn es kein neutrales Wollen im 18 Vgl. dazu bspw. aaO. 247; 571. 19 „Denn darauf sind wir aus, dass das freie Willensvermögen [arbitrium] nichts ist, das heißt: in sich, wie du ausführst, unnütz vor Gott. Denn von dieser Art Sein sprechen wir, wohl wissend, dass der gottlose Wille irgendetwas ist und nicht überhaupt nichts.“ (AaO. 567). Selbstverständlich kann die voluntas auch gottgeleitet sein, wobei sie jedoch auch nicht liberum arbitrium wird. 20 AaO. 291. 21 „Weiter ist das eine bloße dialektische Erfindung, es gebe im Menschen ein neutrales und schlichtes Wollen, und diejenigen, die das als Wahrheit behaupten, können es nicht beweisen. […] Weder Gott noch Satan lassen ein bloßes und schlichtes Wollen in uns zu.“ (Luther, aaO. 365). 22 Achtner, Willensfreiheit, 170, mit Bezugnahme auf Melanie Beiner. Angesichts der Hinwendung der Neurobiologie zu den Emotionen als entscheidungsbestimmenden Faktoren erscheint Luther hier als recht moderner Denker.
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Der illibertare Indeterminismus als ontologischer Bezugsrahmen
Menschen gibt und entweder Gott Gutes oder Satan Schlechtes in ihm bewirkt, folgt daraus, dass der Mensch nicht in der Lage ist, das Gute zu tun, wenn nicht der Geist Gottes in ihm wirkt. Luthers Präzision der Streitfrage lässt sich also so darstellen: 1. Nur wenn der Geist Gottes im Menschen wirkt, handelt der Mensch gut. 2. Der Geist Gottes wirkt nicht in dem Menschen N. N. 3. Der Mensch N. N. handelt nicht gut (sündigt). Bei der Verteidigung dieser Anschauung gegen Erasmus spielt auch die Theorie von der Heiligen Schrift eine wichtige Rolle, der wir uns im folgenden Abschnitt zuwenden.
5.2.3 Luthers Umgang mit der Schrift Luther will seine Überzeugungen sachlich begründen, d. h. für ihn: exegetisch. Die Methode der Exegese ist zwischen ihm und Erasmus jedoch strittig. Des wegen kommen sie auch zu ganz unterschiedlichen Ergebnissen bei den gleichen Bibelstellen. Erasmus behauptet, dass es in der Bibel Themen gebe, die so erhaben seien, dass man sie nicht verstehen könne. Bei den Äußerungen zur Willensunfreiheit handle es sich um solche ‚dunklen‘ Stellen.23 Für Luther steht dagegen fest, dass die Inhalte der Schrift selber nicht unklar sind, sondern dass lediglich manche Worte bzw. grammatikalische Unklarheiten zu Verständnisschwierigkeiten führen: Freilich bekenne ich, dass viele Stellen in der Schrift undeutlich und dunkel sind, und zwar nicht wegen der Erhabenheit der Dinge, sondern wegen der Unkenntnis der Vokabeln und der Grammatik. Aber das hindert nicht die Kenntnis aller Dinge in der Schrift. […] Was in den Schriften enthalten ist, liegt aber alles offen zu Tage, auch wenn manche Stellen bis jetzt wegen unbekannter Worte undeutlich sind. Töricht aber ist es und gottlos, wenn man weiß, dass die Dinge der Schrift ganz klar zu Tage liegen, und dann behauptet, wegen weniger undeutlicher Worte seien die Dinge selbst undeutlich. Wenn die Worte an einer Stelle undeutlich sind, sind sie doch an einer anderen Stelle klar. Ein und dieselbe Sache aber, ganz deutlich der ganzen Welt erklärt, wird in der Schrift mal mit klaren Worten ausgesagt, mal verbirgt sie sich bisher hinter undeutlichen Worten. Nun macht es nichts, wenn die Sache am Licht ist, ob irgendein Zeichen in Dunkelheit liegt, weil ja unterdessen viele andere ihrer Zeichen am Licht sind.24
23 Vgl. Erasmus, De libero arbitrio, Ia 7, (S. 11). 24 Luther, DSA, 235 f.
Die klassische Position Martin Luthers
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Luther geht von einer doppelten Klarheit der Schrift aus. Er unterscheidet dabei zwischen der äußeren und der inneren Klarheit. Die äußere Klarheit bestehe darin, dass der theologisch gebildete Pfarrer in der Predigt die Bedeutung der Bibel herausstellt. Die äußere Klarheit führe aber noch nicht dazu, dass der Mensch die Bedeutung in seinem Herzen erfasse und wahrhaftig verstehe und glaube, was ihm verkündigt wird. Dieses Verstehen, die innere Klarheit, werde erst durch den Geist ermöglicht. Deswegen betrachtet Luther den Heiligen Geist als eine notwendige Voraussetzung für ein ganzheitliches Verständnis der Schrift.25
5.2.4 Die Allwirksamkeit Gottes Einer der wohl wichtigsten Gedanken in Luthers Theologie ist die Allmacht Gottes. Denn dieses Gottesprädikat mache die Gottheit Gottes aus. Das bedeutet, jeder Versuch, die Allmacht Gottes zu begrenzen, „wäre gleichbedeutend mit dem Wunsch, Gott möge wegen der Gottlosen aufhören, Gott zu sein.“26 Bei der Präzisierung des Allmachtgedankens verschärft ihn Luther zunächst zum Gedanken der Allwirksamkeit. Gottes Allwirksamkeit schließe jegliche Form des Zufalls aus, so dass sämtliche Ereignisse aus reiner Notwendigkeit geschehen. Ein freier Wille des Menschen sei deswegen nicht denkmöglich: Und auch dies also ist für einen Christen vor allem notwendig und heilsam zu wissen, dass Gott nichts zufällig vorherweiß, sondern dass er alles mit unwandelbarem, ewigem und unfehlbarem Willen vorhersieht, beschließt und ausführt. Durch diesen Blitzschlag wird der freie Wille vollständig zur Strecke gebracht und vernichtet. Diejenigen, die das freie Willensvermögen als Wahrheit behaupten wollen, müssen daher eben diesen Blitzschlag leugnen oder verheimlichen oder auf eine andere Art und Weise von sich schaffen.27
Luther scheint sich darüber im Klaren zu sein, dass sich mit dieser Anschauung zwangsläufig die Fragen stellen, wie der Mensch für seine Sünden verantwortlich gemacht werden könne oder wer der eigentliche Urheber des Bösen sei. Deswegen nimmt er immer wieder eine andere Perspektive ein, aus der er das Verhältnis von göttlicher Allwirksamkeit und das Wirken des Menschen beschreibt. Wilfried Härle hat dabei drei wesentliche Unterscheidungen Luthers herausgearbeitet, an die wir uns im Folgenden anlehnen.28 25 „Denn der Geist wird erfordert zum Verständnis der ganzen Schrift und jedes ihrer Teile.“ Luther, aaO. 239. Zur späteren Verhältnisbestimmung von Bibel und Heiligem Geist im Luthertum vgl. Elert, Morphologie, 168–176. 26 Luther, DSA, 471. 27 AaO. 251. 28 Vgl. Härle, Unvereinbarkeit, 2–13.
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Der illibertare Indeterminismus als ontologischer Bezugsrahmen
5.2.4.1 Die Unterscheidung des Wirkens in den superiora und den inferiora Eigentlich plädiert Luther zunächst dafür, dass die Bezeichnung des freien Willens ganz aufgegeben werden müsse. Er richtet sich damit ausdrücklich gegen Erasmus, den er schlicht und ergreifend die Vokabeln verdrehen sieht, damit er ein freies Willensvermögen behaupten kann: Wer würde den nicht verlachen oder gar hassen, der rücksichtslos die [Bedeutung der] Vokabeln erneuert, der gegen den allgemeinen Gebrauch sich bemüht, eine solche Sprechweise einzuführen, die einen Bettler als Reichen bezeichnet. Nicht, weil er irgendeinen Reichtum hätte, sondern weil vielleicht irgendein König ihm seinen schenken könnte. […] Genauso klingt es auch hier: Der Mensch hat ein freies Willensvermögen – freilich [nur] dann, wenn Gott ihm das seine überließe. […] Am sichersten und frömmsten wäre es, dieses Wort ganz aufzugeben.29
Luther fordert, wenn man sich schon nicht dazu entschließen könne, den Begriff des freien Willensvermögens aufzugeben, dass man zumindest seine Begrenztheit aufzeigen müsse. In den superiora, dem Bereich, der über dem Menschen liegt, gebe es kein freies Willensvermögen. Im Gegensatz dazu könne der Mensch in den weltlichen Dingen, den inferiora, sein Willensvermögen frei gebrauchen. So könne er etwa seinen Besitz regeln. Die Frage des Heils ordnet Luther aber in den Bereich der superiora ein, so dass der Mensch wegen seiner Unfreiheit nichts zu seinem Heil beitragen könne: Ansonsten hat der Mensch gegenüber Gott und in den Dingen, die sich auf Heil oder Verdammung beziehen, kein freies Willensvermögen. Hier ist er vielmehr ein Gefangener, ein Unterworfener und ein Knecht entweder des Willens Gottes oder des Willens Satans.30
Die inferiora unterteilt Luther noch einmal in zwei Bereiche. Er unterscheidet dabei den gebotsfreien Raum von dem Raum, für den Gott durch das Gesetz seinen Willen offenbart hat. Die Allwirksamkeit Gottes wirke jedoch auch in dem gebotsfreien Raum, so dass auch an dieser Stelle nicht von einem freien Willen gesprochen werden könne. Die einzige Form der Freiheit besteht hier also in „Gebotsfreiheit“: Nicht dass Gott ihn [den Menschen] so im Stich ließe, dass er nicht in allem mit ihm zusammenwirkte. Sondern dass er den Gebrauch der Dinge jenem frei nach dem Willensvermögen zugestanden hat und ihn nicht durch irgendwelche Gesetze oder Vorschriften hinderte.31 29 Luther, DSA, 297. 30 Ebd. 31 AaO. 371.
Die klassische Position Martin Luthers
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Für Luther steht der gebotsfreie Raum aber nicht im Fokus des Interesses. Wichtiger ist der Bereich, der durch Gottes Willen geregelt ist. Hier beleuchtet Luther das Verhältnis von Gottes Wirken und dem Wirken des Menschen unter einem weiteren Gesichtspunkt.
5.2.4.2 Die Unterscheidung von creatio und cooperatio Die Unterscheidung von creatio und cooperatio steht in einem engen Zusammenhang mit Luthers Vorstellung von der Allwirksamkeit Gottes. Gleichzeitig kommt an dieser Stelle auch wieder die Unterscheidung von superiora und inferiora zum Tragen. Luther versteht die Allwirksamkeit in den superiora als Alleinwirksamkeit Gottes. Das alleinige Handeln Gottes bezeichnet er als creatio. Im Gegensatz dazu gibt es in dem Bereich der inferiora, der durch Gottes Willen bestimmt sei, ein Zusammenwirken von Gott und Mensch. Diese Zusammenwirkung nennt Luther cooperatio. Den Unterschied von creatio und cooperatio veranschaulicht er folgendermaßen: Denn das bezeugen wir als wahr und streiten dafür: Wenn Gott jenseits der Gnade des Geistes wirkt, wirkt er alles in allen, auch in den Gottlosen, indem er alles, was er allein geschaffen hat, auch allein bewegt, treibt und fortreißt durch die Bewegung seiner Allmacht; diese Bewegung kann [all] dieses weder vermeiden noch verändern, sondern es folgt und gehorcht notwendigerweise, jedes nach dem Maß seiner Tüchtigkeit, die ihm von Gott gegeben ist. So wirkt mit ihm auch alles Gottlose zusammen. Dann: Wo er mit dem Geist der Gnade in denen regiert, die er gerechtfertigt hat, das heißt: in seinem Reich, treibt und mahnt er diese in ähnlicher Weise. Und sie, wie sie eine neue Kreatur sind, folgen und wirken mit ihm zusammen, oder vielmehr, wie Paulus sagt, sie werden getrieben. […] Der Mensch vor seiner Erschaffung zum Menschen tut oder unternimmt nichts, wodurch er ein Geschöpf wird; ferner: Auch der gewordene und geschaffene Mensch tut oder unternimmt nichts, um Geschöpf zu bleiben. Sondern beides geschieht einzig durch den Willen der allmächtigen Kraft und Güte Gottes, der uns ohne uns erschafft und erhält, aber nicht in uns wirkt ohne uns, die er uns dazu geschaffen und errettet hat, dass er in uns wirke und wir mit ihm zusammenwirken.32
In dem Bereich der inferiora, der nicht gebotsfrei ist, stellt sich Luther demnach eine Art Zusammenarbeit zwischen Gott und Mensch vor. Diejenigen Handlungen von Gott und Mensch, die sich in Form der cooperatio vollziehen, sind stets von Gott gewollte Handlungen. Luther führt exemplarisch an, dass es hier um Dinge gehe, wie etwa: sich den Armen zuzuwenden, Angefochtene zu trösten, aber auch die frohe Botschaft des Evangeliums zu verkünden.33 Nun gilt es aber zu beachten, dass die cooperatio keine Partnerschaft auf Augenhöhe zwischen 32 AaO. 571 f. 33 Vgl. aaO. 573.
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Gott und Mensch bedeutet, denn nur Gott alleine bewirkt das Gute. Während Gott also die Ursache für das Gute ist, hat der Mensch insofern daran Anteil, als er mitwirkt. Dies ist insofern möglich, als Gottes Geist im Menschen wirkt. Fehle der göttliche Geist dagegen, sei der Mensch zu einer guten Tat nicht mehr im Stande. Er handelt dann entweder durch Gottes Allmacht in dem gebotsfreien Bereich der inferiora, tut also Dinge, die für Gott nicht relevant sind. Oder er handelt, was den nicht gebotsfreien Bereich der inferiora betrifft, notwendigerweise (wegen der göttlichen Allwirksamkeit) sündhaft. Dass der Mensch ohne die göttliche Gnade notwendigerweise sündigt, ist wohl eine der Spitzenaussagen Luthers in De servo arbitrio. Aus diesem Grund betonen auch die meisten Systematiker, dass Luthers Schrift nicht nur in der Gnadenlehre, sondern auch in der Sündenlehre zu verorten sei.34
5.2.4.3 Verursachung oder Zulassung des Bösen durch Gott Die Fragen, wie das Böse in Gottes gute Schöpfung kommt und wer dafür die Verantwortung trägt, kann anhand der Schrift De servo arbitrio nicht eindeutig beantwortet werden. Luther vertritt hier zwei konträre Standpunkte, so dass man an der einen Stelle vermuten könnte, dass Luther Gott als den Urheber des Bösen annimmt. An anderen Stellen negiert er aber diese Aussage. Zunächst müssen wir wahrnehmen, dass Luther auch beim Thema Sünde nicht bereit ist, die Allwirksamkeit Gottes als eingeschränkt zu denken. Jedoch gibt es im nicht gebotsfreien Bereich der inferiora einen entscheidenden Unterschied zwischen der cooperatio und der Sünde: Während die guten Taten in Form der cooperatio durch Gott eindeutig bewirkt werden, Gott also die Ursache des Guten ist, sieht dies beim sündhaften Verhalten des Menschen ganz anders aus. Hier bewirkt Gott nicht die Sünde, sondern lässt sie lediglich zu: Die Allmacht Gottes bewirkt, dass der Gottlose dem Antrieb und dem Wirken Gottes nicht entkommen kann, sondern ihm unterworfen notwendigerweise gehorcht. Die Verderbnis aber oder die Abkehr seiner selbst von Gott bewirkt, dass er nicht zum Guten angetrieben und fortgerissen werden kann. Gott kann seine Allmacht nicht aufgeben wegen dessen Abkehr; der Gottlose aber kann nicht seine Abkehr ändern. So kommt es, dass er fortdauernd und notwendigerweise sündigt und irrt, bis er vom Geist Gottes zurechtgebracht wird.35 […] Niemand denke also, wenn gesagt wird, Gott verstocke oder wirke Böses in uns (denn Verstocken heißt Böses tun), er wirke so, als ob er von neuem das Böse in uns schaffe […]. Sie bedenken nicht genug, wie Gott ohne Unterlass in allen seinen Geschöpfen wirkt und nicht zulässt, dass eines müßig geht. Aber genau das muss bedenken, wer solches überhaupt verstehen will: ‚In uns‘, das heißt, dass Gott durch 34 So bspw. Michael Roth, Willensfreiheit, 145. 35 Luther, DSA, 465.
Die klassische Position Martin Luthers
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uns Böses wirkt, nicht durch Gottes Schuld, sondern durch unseren Fehler. Denn wir sind von Natur aus böse, Gott aber ist gut, er reißt uns durch sein Wirken nach der Natur seiner Allmacht fort und kann nicht anders handeln, als dass er, der selbst gut ist, mit einem bösen Werkzeug Böses wirkt.36
Wir sehen also, dass Luther in seiner Schrift vom unfreien Willen ein Verständnis von der Allwirksamkeit Gottes entwickelt, das in dreierlei Hinsicht differenziert werden muss: 1.) Allwirksamkeit in den superiora: Creatio (Gott ist die alleinige Ursache). 2.) Allwirksamkeit in den inferiora 1: Cooperatio zum Guten (Gott ist die Ursache des Guten, wirkt hier aber mit dem Menschen zusammen). 3.) Allwirksamkeit in den inferiora 2: Zulassung der Sünde (Gott ist nicht die Ursache). Nun können wir auch die beiden gegensätzlichen Aussagereihen analysieren, die Luther zum Verhältnis von Gott und Sünde aufstellt. Zunächst fällt schon auf, dass der Begriff Allwirksamkeit auf den drei genannten Ebenen nicht im gleichen Sinne gebraucht wird. Auf Ebene eins und zwei bedeutet Allwirksamkeit die alleinige Verursachung von etwas durch Gott. Auf Ebene drei ist Gott aber nur insofern eine Ursache, als er bewirkt, dass das Geschöpf handelt, aber nicht, wie das Geschöpf handelt. Die Qualität des geschöpflichen Handelns geht hier gerade nicht auf Gott zurück. Gott „findet […] den bösen Willen Satans vor. Er schafft ihn aber nicht.“37 Woher der böse Wille Satans kommt, lässt Luther unbeantwortet. Man könnte eine mögliche Antwort mit Augustinus darin finden, dass der Satan und die Stammeltern ursprünglich willensfrei waren, sich aus freiem Willen von Gott abwendeten und dadurch böse wurden. Dann hätte Gott die Welt samt Satan, Adam und Eva alleinwirksam erschaffen und seine Allmacht anschließend zugunsten der Willensfreiheit seiner Geschöpfe eingeschränkt. Dann gäbe es also einen Punkt, an dem Gott nicht allwirksam gewesen wäre, und er wäre darum auch nicht die Ursache des Bösen. Gegen diesen Zusammenhang lässt sich aber von Luthers Begriff der Allwissenheit aus argumentieren. Denn nach zahlreichen Stellen in seiner Schrift muss man mit Luther annehmen, dass alles, was Gott vorherweiß, notwendig, wenn auch nicht unter Zwang, geschieht.38 Nun weiß Gott aber alles vorher, also auch den Fall Satans und der Stammeltern: 36 AaO. 467, 469. 37 AaO. 469. Peter Koslowski möchte den Gedanken des Sündenfalls im Anschluss an Augustin, Baader, Leibniz und Kant philosophisch fruchtbar machen. Sündenfall sei „zwar ein Begriff, der in der Theologie und nicht in der Philosophie seinen Ursprung hat, aber man kommt, wie Kants Religionsschrift zeigt, auch in der Philosophie kaum ohne diesen Begriff aus, wenn man die menschliche Freiheit verstehen will.“ (Koslowski, Der freie Wille, 147). 38 Vgl. dazu Härle, Der (un-)freie Wille, 277 f.
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Dies also ist für einen Christen vor allem notwendig und heilsam zu wissen, dass Gott nichts zufällig vorherweiß, sondern dass er alles mit unwandelbarem, ewigem und unfehlbaren Willen vorhersieht, beschließt und ausführt.39
Nimmt man diese Allaussagen ernst, so wäre auch der Teufels- und Menschenfall von Gottes ewigem Willen beschlossen und nicht nur vorhergesehen. Nach dieser Lesart wäre Gott also auch der Urheber des Bösen. Man wird Luthers Schrift an diesem Punkt nicht dazu pressen dürfen, eine begrifflich geschlossene und ausgeführte Argumentation abzugeben. Die Frage nach der ursprünglichen Willensfreiheit Satans, Adams und Evas kann so oder so beantwortet werden, ohne die Theologie nach dem Fall zu verändern. Aber es gibt einen anderen Gegensatz in Luthers Gottesbild, der zu einem schwerwiegenderen Problem führt. Es handelt sich dabei um den berühmten Gegensatz von Deus absconditus und Deus revelatus, dem wir uns nun zuwenden.
5.2.5 Deus absconditus und Deus revelatus Zunächst ist mit Stefan Volkmann darauf hinzuweisen, dass der Begriff der Verborgenheit Gottes bei Luther je nach Kontext Unterschiedliches bedeutet. So finde sich beim jungen Luther ein Begriff von der Verborgenheit Gottes, der in die später von ihm abgelehnte areopagitische Aufstiegsmystik gehöre.40 Später bezeichne Luther mit Gottes Verborgenheit die Tatsache, dass sich Gott in seiner Offenbarung verbirgt, d. h. die Herrlichkeit Gottes ist unter ihrem Gegenteil des Kreuzes verborgen […]. Die Verborgenheit Gottes bezeichnet hier einen Aspekt des Deus revelatus: Gottes Liebe ist für die Glaubenden hinter Gottes Zorn verborgen, und so ist die Beziehung von Zorn und Liebe Gottes begreifbar […]. Dies bedeutet aber, dass in Gottes Verborgenheit schon seine Liebe präsent ist. Dieses Verständnis der Verborgenheit Gottes kann sich nur im Glauben an das Evangelium erschließen. Die Vernunft kann die Verborgenheit Gottes unter seinem Gegenteil nicht durchdringen.41
In De servo arbitrio hingegen spreche Luther von einem verborgenem Gott, dessen Liebe – und damit auch dessen Identität mit dem in Christus offenbaren Gott – auch nicht im Glauben erkannt werden könne. Der Reformator setze etwa „der gepredigten und dargebotenen Barmherzigkeit Gottes“ einen „verborgenen und zu fürchtenden Willen Gottes“ entgegen, dem gemäß er anordne welche [Menschen] und was für welche nach seinem Willen der gepredigten und dargebotenen Barmherzigkeit fähig und teilhaftig sind. Dieser Wille ist nicht zu 39 Luther, DSA, 251. 40 Vgl. Volkmann, Luthers Lehre, 40. 41 AaO. 41.
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erforschen, sondern mit Ehrfurcht anzubeten als ein in höchstem Grade verehrungswürdiges Geheimnis der göttlichen Majestät, ihm allein vorbehalten und uns verboten.42
Dass keiner dieser beiden Willen in Gott dem anderen untergeordnet wird, so dass etwa die offenbare Barmherzigkeit am Ende die einzige Bestimmung Gottes wäre, zeigen andere Äußerungen Luthers: Vieles tut Gott, was er uns durch sein Wort nicht anzeigt. Vieles auch will er, von dem er in seinem Wort nicht anzeigt, dass er es will. So will er nicht den Tod des Sünders, im Wort nämlich. Er will ihn aber in seinem unerforschlichen Willen. […] Es ist genug, nur zu wissen, dass es in Gott einen gewissen unerforschlichen Willen gibt. Was aber, warum er und inwiefern er will – danach zu fragen, das zu wünschen, sich darum zu sorgen oder daran zu rühren, ist überhaupt nicht erlaubt, sondern nur zu fürchten und anzubeten.43
Wer sich mit diesem Gegensatz in Gott nicht zufrieden geben will, bekommt von Luther lediglich dass Zitat entgegengehalten, mit welchem auch Paulus in Römer 9, 20 eine ähnliche Kritik am unerforschlichen Gott zurückweist: „Wer bist du, der du mit Gott rechtest?“ Zwar versucht Luther, am Ende von De servo arbitrio mit seiner Drei-Lichter-Lehre die Härte seines paradoxen Gottesbildes zu mildern. Nach dieser Lehre war es zur Zeit des alten Testamentes nicht zu verstehen, warum gerechte Menschen nicht immer Gottes Segen in diesem Leben empfangen, sondern schmerzhaft leiden. Im Licht der Gnade werde dieser Widerspruch dadurch aufgelöst, dass die unschuldig Leidenden auferstehen werden zu einem ewigen Leben in Freude. Analog zu dieser Erweiterung des Erkenntnisbereiches nimmt Luther in Aussicht, dass die jetzt auch im Licht der Gnade unlösbare Frage, wie es zur Gerechtigkeit Gottes passe, dass er den einen den Glauben schenke, der selig mache, den anderen aber nicht, sich im Licht der Herrlichkeit – also im Reich Gottes – lösen lassen werde.44 Mildert aber diese Denkfigur tatsächlich den Widerspruch im Gottesbegriff? Man könnte sie so interpretieren: Im Licht des Gesetzes wussten die Menschen noch nichts davon, dass Gott auch noch an den Toten handelt, indem er sie ins ewige Leben führt. Durch die Kenntnis dieses neuen Aspektes des göttlichen Handelns löste sich jenes Problem unter dem Licht der Gnade. So könnte auch im Licht der Herrlichkeit ein neuer Aspekt göttlichen Handelns erkennbar werden, so dass die Verdammung der Ungläubigen in die Hölle zwar die letzte Erkenntnis ist, die das Licht der Gnade ermöglicht, dass aber im Licht der Herrlichkeit sichtbar wird, dass Gott auch an den Verdammten noch einmal neu
42 Luther, DSA, 403; 405. 43 AaO. 407. 44 Vgl. aaO. 653; 655; 657. Vgl. dazu auch Reinhuber, Kämpfender Glaube.
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handelt, wie es dem deus revelatus und seiner Liebe entspricht. Damit würde die Lichterlehre auf die Allerlösungslehre abzielen. De servo arbitrio insgesamt zeigt aber deutlich, dass diese Interpretation nicht in Luthers Sinne wäre. Zu selbstverständlich steht eine dualistische Eschatologie im Hintergrund. So kann man Luthers Lichter-Lehre nur so verstehen, dass dem Menschen im Licht der Herrlichkeit lediglich einsichtig wird, warum die Ungerechtigkeit Gottes in Wirklichkeit doch Gerechtigkeit sei. Damit würde aber eine extreme Umwertung des Gerechtigkeitsbegriffes stattfinden, so dass uns dann nicht so sehr Gott verständlicher, sondern seine Offenbarung im Licht der Gnade unverständlicher würde. Abgesehen davon gerät Luther selbst unbewusst in einen Widerspruch zu seinem existentiellen Interesse an der Unfreiheit des Menschen. Denn wenn um der Heilsgewissheit willen nur Gott alleine die Ursache für den Glauben sein darf, so bleibt zu befürchten, dass Gott den Glauben auch wieder entziehen könnte – durch seinen unerforschlichen Willen nämlich. Luther müsste denn zeigen können, dass sein subjektiver Glaube so beschaffen sei, dass es gewiss sei, dass Gott ihn ihm nicht mehr entziehen werde. Damit geriete er in einen Widerspruch: Einerseits will er die Subjektivität aus der Heilskonstitution ausschließen, andererseits müsste er das Vorhandensein einer besonderen subjektiven Haltung um des Heiles Willen nachweisen können. Dieses Zusammenhanges wurde sich Luther nirgends bewusst, soweit man sehen kann. Aber er markiert genau das Problem, das die frommen Reformierten mit der Prädestinationslehre hatten und das in beiden reformatorischen Kirchen letztendlich zum Verschwinden der Lehre vom unfreien Willen führte. Wir werden auf diesen Punkt später noch einmal zurückkommen müssen.45
45 Vgl. u. 319 f. Susanne Hausammann sieht in Luthers verborgenem Gott eine „dunkle, gewalttätige Seite“, die noch völlig dem späten Mittelalter verhaftet sei. Der Dualismus im Gottesbegriff mache „bei konsequentem Nachdenken das Heil wieder ungewiss“ und erinnere „an den Dualismus markionitischer und manichäischer Sekten“. Sie verweist darauf, dass Luther ab 1535 das sola gratia nicht mehr durch die Allwirksamkeit Gottes, sondern durch die göttlichen Verheißungen in Jesus Christus begründe. (Hausammann, Spiegel, 33 f.). – Benedikt Bruder will den Gegensatz zwischen Deus revelatus und Deus absconditus weder auflösen noch zementieren. Er argumentiert: Die Schrift DSA entspricht völlig der Grundanschauung Luthers, wonach das Heil des Menschen alleine durch Gott verursacht sein darf, um den Menschen von der Angst um sein Heil zu befreien. Diese Annahme habe die Kehrseite, dass auch der Nichtglaube der Ungläubigen auf Gott zurückzuführen sei. Man dürfe diesen logisch korrekten Gegensatz nur so verstehen, dass es Luther eigentlich mehr um das Heil der Gläubigen als um das Unheil der Ungläubigen gehe. Streng genommen dürfe man nicht sagen, dass Gott manche Menschen verdammen wird, sondern nur dass man sich davor fürchten müsse, dass Gott Menschen verdammen könnte. Dieser Sachverhalt „ist dem Glauben als Anfechtung präsent und nur im Modus der Klage auszusagen. Aufgrund dieses modalen Charakters der Rede vom Deus absconditus ist
Die klassische Position Martin Luthers
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5.2.6 Vertritt Luther einen theologischen Determinismus? Während die Debatte zwischen Luther und Erasmus bei den meisten Philosophen, welche über Willensfreiheit schreiben, keine Rolle spielt,46 hat sich die Frage nach einem theologischen Determinismus bei Luther als ein stehendes Thema in der Theologie etabliert. So hält etwa Wilfried Härle den Reformator deswegen für keinen Deterministen, weil er das Böse in der Welt nicht kausal auf Gott zurückführe.47 Friedrich Hermanni hingegen sieht bei Luther theologischen Determinismus vorliegen, weil nach ihm der Wille Gottes der zureichende Grund für alle Ereignisse sei, also auch für die freien Entscheidungen des Menschen.48 Dieser Einschätzung schließen sich auch Andreas Klein49, Rochus Leonhardt50, es sowohl unangemessen, diesen zu einer eigenen Entität zu hypostasieren und somit faktisch ein dualistisches Gottes- oder Weltbild zu vertreten, als auch die angedeutete Spannung im Rahmen einer theoretischen Vereinheitlichung des Gottesbegriffs zu disziplinieren“ (Bruder, Versprochene Freiheit, 318). Das heißt: Der Gegensatz im Gottesbegriff darf weder behauptet noch bestritten werden. Allerdings verweist Bruder auf das Licht der Herrlichkeit, in dem alle Widersprüche aufgelöst bzw. versöhnt werden (oder muss man in Bruders Sinne schreiben: versöhnt werden könnten?). Damit nimmt er nun doch eine, wenigstens eschatologische, Auflösung des Gegensatzes in Gott in den Blick. 46 Eine Ausnahme bildet Michael Pauen, Illusion, 113 f.; 179. 47 Vgl. Härle, Unvereinbarkeit, 9, 13; ders. Der (un-)freie Wille, 279 f. Auch Oswald Bayer stellt heraus, dass Luther sich vehement dagegen ausspricht, Gott als den Urheber der Sünde zu bezeichnen. Dies wäre „der äußerste Grad der Sünde“. (Bayer, Freiheit, 81). Melanie Beiner versucht, in den Spuren von Martin Seils und Wilfried Joest, in Luthers cooperatio-Gedanken einen gewissen Spielraum von menschlicher Autonomie nachzuweisen und bestreitet ebenfalls, dass Luther eine deterministische Weltanschauung vertrete. Die Allmacht Gottes bedeute „nicht zwangsläufig“, dass „die Freiheit des Menschen als Fähigkeit zur Selbstbestimmung“ ausgeschlossen sei, „wie es z. B. bei der Annahme einer Kausalkette geschieht“. (Beiner, Intentionalität, 127). 48 Vgl. Hermanni, Luther, 176. In seiner Habilitationsschrift über die Theodizee lehnt Hermanni die free-will-defense ab und vertritt in der Frage nach der menschlichen Willensfreiheit einen kompatibilistischen Standpunkt. Vgl. Hermanni, Das Böse, 306–314. 49 Vgl. Klein, Ich bin, 122–126. „Nach dem Gesagten erscheint es mir überzeugend, Luthers Freiheitsposition als kompatibilistisches Verständnis zu betrachten.“ (AaO. 126). 50 „Die von Luther hier im Namen der christlichen Heilsgewissheit zum Ausdruck gebrachte Auffassung ist offensichtlich die, dass das gesamte Weltgeschehen durch das Vorauswissen Gottes lückenfrei durchbestimmt ist. Entscheidend ist dabei: Die Notwendigkeit, die Gott kraft seines unwandelbaren, ewigen und unfehlbaren Willens den zukünftigen Ereignissen auferlegt, gilt durchaus nicht nur für das Gnadenhandeln. Zwar wird immer wieder behauptet, dass nach Luther die Alleinkompetenz Gottes in Sachen Gnade nicht auf unsere weltliche Lebenswirklichkeit durchschlage. Aber gegen das vielfach verbreitete Bemühen, den Eindruck eines ontologischen oder theologischen Determinismus zu zerstreuen, macht Luther selbst eindeutig klar, dass die von ihm gegen Erasmus eingeschärfte Alleinkompetenz Gottes beim Gnadenhandeln lediglich ein Sonderfall seiner universalen Alleinkompetenz ist.“ (Leonhardt, Servum arbitrium, 149, mit Kritik an Härle).
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Der illibertare Indeterminismus als ontologischer Bezugsrahmen
Michael Roth51 und Wolfgang Achtner52 an. Ulrich Körtner hält Luther für einen Inkompatibilisten und konkret für einen soteriologischen Deterministen. „Freiheit ist nach Luther keine natürliche Wesensbestimmung des Menschen, sondern eine unverfügbare Gabe. Sie besteht nicht einfach, sondern ereignet sich.“53 Benedikt Bruder hingegen hält den angeblichen Determinismus bei Luther für einen bloßen Schein, ohne jedoch eine alternative Positionsbeschreibung auszuformulieren.54 Bei der Frage nach einem etwaigen Determinismus bei Luther sollten, im Duktus einer stärkeren Differenzierung, folgende Aspekte berücksichtigt werden: Erstens ist mit unauflösbaren Widersprüchlichkeiten in Luthers Schrift zu rechnen. Außer dem Gegensatz von Deus absconditus und Deus revelatus fanden wir auch bei der Zuschreibung der Verursachung des Bösen – damit sind wir beim Determinismusthema – einen Widerspruch in Luthers Gottesbegriff. Nach der einen Aussagereihe ist Gottes Vorsehung identisch mit seinem beschließenden und handelnden Willen, und da Gott alles vorhersieht, sieht er auch das Böse vor und will es. Dies wäre ein theologischer Determinismus. Nach der anderen Aussagereihe hingegen findet Gott den böse gewordenen Willen Satans vor, ohne selbst die Ursache dafür gewesen zu sein. Hier wäre der theologische Determinismus dann durchbrochen, möglicherweise durch eine willensfreie Tat des Satans, so wie Augustin sich das vorgestellt hatte. In diesem Falle müsste Gott aber auch auf seine Vorsehung verzichtet haben, wenn sie, nach Luther, aber nicht nach Augustin, mit dem beschließenden Willen Gottes identisch wäre. Der theologische Determinismus wäre dann nur an wenigen Punkten durchbrochen, nämlich beim erstmaligen Fall von Satan, Eva und Adam. Zweitens, man könnte die Frage nach dem theologischen Determinismus einer Lösung zuführen, wenn man ein zeitliches Schema zugrunde legt. Dann herrscht seit dem Fall der theologische Determinismus, während vor dem Fall sowohl Gottes erschaffendes Handeln als auch der freie Wille der Engel und Menschen 51 „Die Differenz zwischen der scheinbaren Freiheit unserer Handlungen und ihrer tatsächlichen Determiniertheit erklärt Luther in ‚De servo arbitrio‘ ‚mit einer Perspektivendifferenz‘ […] Es gibt keine Lücken in der göttlichen Vorhersehung. Der Mensch tut dieses oder jenes, weil er es will, was er aber will, entzieht sich seiner Verfügungsgewalt, hier ist er schlechthin abhängig.“ (M. Roth, Willensfreiheit, 45). 52 „Luther vertritt […] auf rein dogmatischer Grundlage einen metaphysischen Determinismus.“ (Achtner, Willensfreiheit, 170). „Wieso aber kann Luther zugleich von der Freiheit eines Christenmenschen sprechen? […] Der Wille ist für Luther immer schon gebunden. Stimmt jedoch die Intentionalität des Menschen mit dem Schöpfungswillen Gottes überein, so könnte man im Sinne Luthers sogar von einer Freiheit des Menschen sprechen. Luther wäre dann, philosophisch gesprochen, sogar ein Vertreter der Willensfreiheit unter dem Gesichtspunkt des Kompatibilismus.“ (AaO. 179 f.). 53 Körtner, Vom unfreien Willen, 220. 54 Vgl. Bruder, Versprochene Freiheit, 293. Vgl. dazu auch die Rezension von Dirk Evers von Bruders Buch.
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gleichermaßen ursächlich wirken konnten. Soweit Gott in diesem Zeitschema nicht determinierend handelt, müssten auch hier Luthers Aussagen über die Vorsehung Gottes suspendiert werden. Drittens wäre zu unterscheiden, ob es sich bei Luther um einen theologischen, einen ontologischen oder einen logischen Determinismus handelt. Wenn Luther immer wieder betont, dass alles mit Notwendigkeit geschehe und sich dabei auch auf die heidnischen Vorstellungen von Schicksal oder Gesetz beruft,55 so liegt es für den modernen Leser vielleicht nahe, an den Satz vom zureichenden Grund und damit an einen logischen Determinismus zu denken. Aber schon ein zweiter Blick überzeugt davon, dass Luther mit dem Begriff des Schicksals tatsächlich das von Gott bzw. den heidnischen Göttern dem Menschen zugeteilte Geschick meint. Eine biblische Belegstelle für seine Notwendigkeitstheorie ist Jesaja 46, 10: „Mein Ratschluss wird bestehen und mein Wille geschehen“.56 Ferner, auch wenn sich Luther auf scholastische Distinktionen bezieht, die aristotelisch-ontologische Implikationen haben, legt er stets und ausschließlich Wert auf die theologischen Zusammenhänge.57 Wenn es also deterministische Theorieelemente bei Luther gibt, so handelt es sich um einen ausgesprochenen theologischen Determinismus. Viertens, der theologische Determinismus hat im Unterschied zum ontologischen eine intentionale Dimension. Den rein theologischen Determinismus definiert Härle so: „Alles, was geschieht, geschieht so, wie es geschieht, allein deswegen, weil Gott es so gewollt und bewirkt hat. Und darum ist alles, was ist, so, wie es ist, weil Gott es so gewollt und bewirkt hat.“58 Im Unterschied dazu könnte man den ontologischen Determinismus so ausdrücken: Alles, was geschieht, geschieht aufgrund der Naturgesetze und der Randbedingungen des Universums. Dieser Unterschied wird vor allem bedeutsam, wenn man sich die Frage nach der Kompatibilität von menschlicher Freiheit und dem jeweiligen Determinismus stellt. Da der ontologische Determinismus nicht intentional unterlegt ist, dürfte es leichter sein, eine Art von menschlicher Freiheit als kompatibel mit ihm zu beurteilen – so wie der in Kapitel 2 dargestellte Michael Pauen. Wenn hingegen im theologischen Determinismus Gott beispielsweise einem Menschen, der gerne glauben möchte, die Fähigkeit dazu verweigerte, dann läge hier nicht einmal mehr Handlungsfreiheit vor, weil die Intentionen Gottes der Intention des betreffenden Menschen widersprechen. Im Rahmen der Lutherinterpretation lässt sich aber jetzt schon sagen: Wenn man sich dafür entscheidet, Luther als theologischen Deterministen aufzufassen, obwohl es auch Gründe gibt, dies nicht zu tun, könnte man seine Freiheitsauffassung im Bereich der Adiaphora als kompatibilismus-ähnlich bezeichnen. Denn 55 Vgl. Luther, DSA, 255, 289. 56 Vgl. aaO. 225. 57 Vgl. aaO. 253; 255, 289, 425, 479, 495, 555. 58 Härle, Unvereinbarkeit, 1.
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Der illibertare Indeterminismus als ontologischer Bezugsrahmen
im Bereich der gebotsfreien Adiaphora, in denen Gott keine Intentionen hat, können sowohl Gläubige als auch Ungläubige nach ihren Wünschen handlungsfrei agieren, ohne äußeren Zwang. An dieser Stelle beenden wir die Diskussion des theologischen Determinismus bei Luther. In den folgenden Abschnitten untersuchen wir die Möglichkeiten, die der illibertare Indeterminismus als ontologische Bezugsgröße für die evangelische Dogmatik bietet. Wir behalten also die strenge Gnadenlehre Luthers bei, setzen diese aber in Bezug zu dem ontologischen Indeterminismus. Außerdem berücksichtigen wir auch die weiteren Konsequenzen dieser Rekonstruktion der Rechtfertigungslehre für die weiteren Hauptthemen der Dogmatik.
5.3 Evangelische Dogmatik und illibertarer Indeterminismus Wie in der Einleitung zu diesem Kapitel schon dargestellt wurde, kann die lutherische Position vom servum arbitrium nicht einfach mit dem philosophischen Modell des illibertaren Indeterminismus zusammengestellt werden. Denn der illibertare Indeterminismus ist eine philosophisch und naturwissenschaftlich begründete Hypothese über den Menschen in seiner Welt. Er ist ohne Rücksicht auf die transzendente Wirklichkeit Gottes entwickelt worden. Luthers Lehre von der Willensunfreiheit des Menschen hingegen bildet einen Ausschnitt aus der theologischen Anthropologie, die vorwiegend biblisch begründet ist und Ingredienzien einer spätmittelalterlichen Kausaltheorie enthält, die man als deterministisch bezeichnen kann. Allerdings steht es Gott bei Luther jederzeit frei, in den weltlichen Kausalzusammenhang hineinzuwirken. Die Welt ist also vollständig determiniert durch irdische Kausalität und göttliche Willensakte. Lediglich Satan, Eva und Adam könnten vor dem Fall willensfrei gewesen sein. Luthers Lehre vom servum arbitrium und der illibertare Indeterminismus kommen zwar darin überein, dass der Mensch keinen freien Willen hat. In der Kosmologie hingegen unterscheiden sie sich diametral. Außerdem haben wir heute ein anderes Bibelverständnis als der Protestantismus des 16. Jahrhunderts. Die reformatorische Theologie und der illibertare Indeterminismus kommen daher auf unterschiedliche Weise zu der gleich lautenden Aussage, dass der Wille des Menschen unfrei sei. Der illibertare Indeterminismus kann daher nicht einfach so theologisch gewendet werden, dass man lediglich die ihm fehlenden Gottesbezüge durch die bei Luther vorfindlichen auffüllt. Im Folgenden soll zwar die paulinisch-reformatorische Koppelung der Gnadenlehre mit der Annahme der Willensunfreiheit des Menschen festgehalten werden. Aber Luthers Theorie der Allwirksamkeit, der Erbsünde und der doppelten Prädestination soll auf der Grundlage der heutigen systematisch-theologischen Diskussion abgeändert und der gesamte theologische Komplex im Rahmen des illibertaren Indeterminismus analysiert werden.
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So wie Luther bei der Darstellung des Zusammenwirkens von Gott und Mensch nicht darauf verzichten konnte, Gott als den Schöpfer der Welt sowie sein versöhnendes und erlösendes Handeln in den Blick zu nehmen, müssen auch wir den Zusammenhang der theologischen Anthropologie mit der Schöpfungslehre und der Eschatologie mitbedenken, um eine kohärente und Orientierung bietende christliche Weltanschauung zu gewinnen. Die Gesamtheit von Gottes schöpferischem, weltbegleitendem und -vollendendem Handeln wird heute unter dem Stichwort Gottes Wirken (bzw. Handeln) in der Welt bearbeitet. Wir wenden uns daher in diesem Abschnitt zunächst der 2008 erschienenen Habilitationsschrift von Reinhold Bernhardt zu, welcher die verschiedenen Positionen evangelischer und katholischer Theologen zu diesem Thema zusammengestellt und interpretiert hat. Wir gewinnen dadurch einen Überblick sowohl über die aktuell vertretenen Interaktionsmodelle zwischen Gott und den Menschen als auch über die Qualitäten von Gottes Wirken.
5.3.1 Zeitgenössische Vorstellung vom Handeln Gottes in der Welt außerhalb des illibertaren Indeterminismus (im Anschluss an Reinhold Bernhardt) Bernhardt unterscheidet das „aktuale Modell“, bei welchem „Gott als personal Handelnder“ auftritt59 vom „sapiential-ordinativen Modell“, das um „Gottes wirksame Logizität“ kreist60 und vom „Repräsentationsmodell“, das unter dem Motto „Gott in praesentia operosa“ steht61. Bei der Erläuterung und Abgrenzung dieser Modelle bedient er sich des in der Theologie üblichen Rasters von Theismus, Deismus, Pantheismus und Panentheismus. Diese Begriffe haben in vielen theologischen Themenfeldern dieselbe orientierende Funktion wie etwa die philosophischen Kategorien Determinismus, Indeterminismus, Kompatibilismus und Inkompatibilismus. Deshalb sollen sie an dieser Stelle kurz erläutert werden. Unter Theismus versteht man die Annahme eines persönlichen Gottes, der in der von ihm geschaffenen Welt Ziele verfolgen und entsprechende Handlungen ausführen kann und will. Dieses Gottesbild liegt den meisten Religionen zugrunde.62 59 Vgl. Bernhardt, Handeln Gottes, 274–335. Dabei behandelt er schwerpunktmäßig die Entwürfe von Austin Farrer und Maurice Wiles. Ein ähnliches Schema, um die Entwürfe zum Handeln Gottes zu typologisieren, findet sich, in Anlehnung an Bernhardt, bei Medard Kehl, Gott, 247–256. 60 Vgl. Bernhardt, Handeln Gottes, 335–351. Hier kommt vor allem die Theologie Karl Rahners zur Sprache. 61 Vgl. aaO. 352–389. Für dieses Modell zieht Bernhardt Wolfhart Pannenberg und Peter C. Hodgson heran. 62 Vgl. Weßler, Theismus; Nüssel, Theismus.
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Der Deismus reduziert die Handlungsmöglichkeiten Gottes, indem er zwar an der Erschaffung der Welt durch Gott und der Bestimmung des Menschen zur ewigen Gemeinschaft mit ihm in seinem transzendenten Wirklichkeitsbereich („Himmel“) festhält, aber ein Eingreifen Gottes in den laufenden Betrieb der Welt ablehnt. Epikur vertrat einen solchen Deismus, möglicherweise weil es für ihn zu riskant gewesen wäre, einen offenen Atheismus auszusprechen. Die Aufklärungsphilosophen bestritten Gottes Wirken in der Welt, weil sie darin eine interventionistische Störung des naturgesetzlich geordneten Weltlaufs sahen.63 Der Pantheismus entfernt sich noch weiter vom traditionellen theistischen Gottesbild als der Deismus. Die Differenz zwischen Gott und dem Weltprozess im Ganzen wird negiert. Welt und Gott bezeichnen jeweils die gesamte Wirklichkeit, einmal unter dem Gesichtspunkt des einheitlichen Grundes, das andere Mal unter dem Aspekt der Mannigfaltigkeit der Wirklichkeit. Der Pantheismus ist also im Gegensatz zu Theismus und Deismus eine monistische Weltanschauung.64 Der Panentheismus schließlich möchte vom Pantheismus wieder zurückkehren zu einem volleren Gottesverständnis, ohne jedoch wieder beim Theismus anzukommen. An die Stelle eines äußeren Eingreifens Gottes in die Welt soll ein innerlicheres und kooperativeres Gott-Welt-Verhältnis treten. Die Formel dafür lautet: Alles weltliche Geschehen vollzieht sich in Gott, aber Gott ist größer als die Welt.65 Nach diesen Begriffsbestimmungen wenden wir uns nun Bernhardts Analyse der gängigen Gott-Welt-Interaktionsmodelle zu.
5.3.1.1 Das aktuale Modell (Gott als personal Handelnder) Unter dieses Modell fallen erstens gegenstandsbezogene Handlungen Gottes an Objekten durch eine Krafteinwirkung auf sie und zweitens interpersonalkommunikative Aktionen mit Subjekten. Da diese beiden Handlungsweisen Gott und die Welt stark auseinanderzureißen drohen, werden sie zusätzlich durch das Paradigma des künstlerischen Schaffens modifiziert. Dieses lasse sich sowohl auf das gegenständlich-instrumentelle als auch auf das interpersonalkommunikative Handeln beziehen: Die Analogie eines Bildhauers etwa, der sich in seinem Werkstück vergegenwärtigt, bietet ein Beispiel für eine instrumentelle Aktivität, die dem Gegenstand nicht äußerlich bleibt. Und die Vorstellung eines Dramaturgen, der mit seinem Ensemble ein Stück erarbeitet, veranschaulicht die Repräsentanz des Handelnden im Resultat seiner kommunikativen Wirkweise.
63 Vgl. Byrne, Deismus; Hornig, Deismus. 64 Vgl. Wolfes, Pantheismus. 65 Vgl. Clayton, Panentheismus; Wolfes, Panentheismus.
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Hierzu merkt Bernhardt allerdings an, dass die Eigenständigkeit des Materials bzw. die Eigenwilligkeit der Schauspieler eine souveräne Selbstdurchsetzung Gottes verhindere.66 Aus handlungstheoretischen Überlegungen ergebe sich folgende Anforderungen an die Merkmale von Gottes Handeln: Seine Handlungen müssen ihm erstens zurechenbar sein, was seine Verantwortlichkeit impliziere, und Gott müsse über die Macht verfügen, die entsprechende Handlung durchführen zu können. Zweitens müsse die Handlung durch Rationalität geleitet werden und absichtsvoll geschehen, also mit Intentionalität verbunden sein.67 Drittens werde eine Handlung von einem Organ des Handelnden an den Gegenstand der Handlung vermittelt. Hier stelle sich die Frage nach der Körperlichkeit Gottes, wenn man nicht bei einem rein spiritualistischen Einfluss Gottes auf die Welt enden wolle.68 Viertens sei eine Handlung entweder mittelbar oder unmittelbar, werde also entweder über Instrumente bewirkt oder setze direkt am Gegenstand an, wodurch sich die Gliederung der Handlung in Handlungsbögen ergebe.69 Bei dieser Beschreibung des göttlichen Handelns treten verschiedene Aporien auf. Wenn die Rede von Gottes Handeln wahrheitsfähig sein wolle im Sinne „verifizierbarer oder falsifizierbarer Aussagen“, dann müsse man eine raumzeitliche Lokalisierung für Gottes Handeln angeben können. Die Erschaffung der Welt ex nihilo und die Erhöhung Jesu zur Rechten Gottes entziehe sich jedoch dieser Bedingung und bleibe deswegen unvorstellbar.70 Die Lösung dieser Aporie sucht Bernhardt im Anschluss an Dietrich Ritschl in einem analogischen Sprachgebrauch, in dem die Rede vom Handeln Gottes […] ein gleichnishafter Ausdruck unverrechenbarer Widerfahrnisse des Heiligen [ist]. Sie lässt sich theoretisch nicht erklären und plausibilisieren, sondern nur in einer Art zweiten Naivität im Modus bekennender zeugnishafter (statt beschreibend-explikativer) Sprache zuschreiben, womit nicht unterstellt ist, sie habe keinen kognitiven Inhalt.71
Beim aktualen Handeln Gottes in der Welt stelle sich weiterhin die schwierige Frage, wie „zwei Agenten in einem Akt zusammenwirken“ können. Wenn dabei das göttliche Wirken nicht zu einem „aktualistischen Absolutismus gesteigert werden“ solle, wonach „Gott allein die unmittelbare Ursache aller Wirkungen“ sei,
66 Bernhardt, Handeln Gottes, 275 f. 67 Vgl. aaO. 277–279. Diese beiden Kriterien erinnern an die philosophischen Kriterien für Willensfreiheit. Vgl. o. 16, Urheberschaftsbedingung und Intelligibilitätsbedingung. 68 Vgl. Bernhardt, Handeln Gottes, 281–284. 69 Vgl. aaO. 285 f. 70 AaO. 287. Bernhardt schließt sich hier der sprachanalytischen Kritik der Redewendung vom Handeln Gottes durch Reiner Preul an. 71 AaO. 289.
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stehe das schon in der altprotestantischen Orthodoxie behandelte Thema des concursus divinus wieder zur Verhandlung.72 In diesem Zusammenhang kommt Bernhardt auf Austin Farrers Konzept der double agency zu sprechen. Danach wirke Gott in der und durch die „Weltwirklichkeit und ist dabei in allem Weltgeschehen immer und überall mit am Werk. Doch ist sein Handeln nicht auf der empirisch-wahrnehmbaren Oberfläche der Wirklichkeit, sondern auf der Ebene der Ontologie angesiedelt.“ Diese Ebene sei uns erkenntnistheoretisch nicht zugänglich.73 Genauer betrachtet, postuliere Farrer einen transzendentalen praecursus, wodurch Gott es den Geschöpfen ermögliche, überhaupt eine Eigenwirksamkeit zu entfalten, und einen mediaten concursus, in welchem die Geschöpfe ihre von Gott ermöglichte Eigenwirksamkeit verwirklichen. Bei Menschen vollziehe sich die Eigenwirksamkeit durch den freien Willen, bei den nicht-menschlichen Geschöpfen durch die ihnen je eigentümliche Dynamik. Dabei übe Gottes Mitwirkung „keinen Zwang auf die geschöpflichen Aktinstanzen aus, und sie operiere auf einer von der Wirklichkeit der Welt qualitativ verschiedenen Ebene“. Deswegen stehen Gottes Mitwirkung und die geschöpfliche Wirkung weder in der Relation der Synergie miteinander noch in Konkurrenz zueinander. Beide Agenten bewirken das Geschehen je ganz. Beim Menschen gehe die Initiative zum gemeinsamen Handeln von Gott aus, aber ohne den freien Willensakt des Menschen komme es zu keiner Handlung.74 Farrer denke sich die Gott-Welt-Beziehung nach Analogie der Beziehung von Seele und Leib. Dabei wehre er sich jedoch erstens gegen ein spiritualisierendes Gottesverständnis. Vielmehr intendiere seine Theorie eine aktuale Verleiblichung Gottes als schöpferischer Wille oder als intelligible Handlung in der Welt. Damit sei auch zweitens eine pantheistische Deutung der Gott-Welt-Beziehung ausgeschlossen. Drittens schließe Farrer noch eine deterministische Auslegung der Gott-Welt-Beziehung aus. Die Welt sei zwar als Ganze der Leib Gottes, dürfe aber weder als ontologisch uniformer Organismus noch als funktional prädeterminiertes Strukturganzes aufgefasst werden. Stattdessen interpretiere Farrer das Ganze der natürlichen und geschichtlichen Wirklichkeit als Netzwerk einzelner, aufeinander ausgerichteter hierarchisch stratifizierter Aktivitätszentren, wobei jedes 72 AaO. 290. Die orthodoxe concursus-Lehre behandelt Bernhardt ausführlich aaO. 105–130. 73 AaO. 297. Die Entgegensetzung von wahrnehmbarer Oberfläche der Wirklichkeit und Ontologie erscheint unglücklich. Gemeint ist, wie der Zusammenhang ergibt, die tiefste Schicht der Seinsebenen, die selbst nicht in die Erscheinung tritt. 74 AaO. 298. An anderer Stelle setze Farrer Gottes Handeln mit dem Denken des Menschen in eine Analogie: „Das Handeln Gottes wie die Aktivität des Mentalen vollzieht sich in der ‚Anomalität‘, d. h. sie wirken auf die Welt bzw. auf den Bereich des Neurobiologischen und Physikalischen ein, ohne dass diese Einwirkung nach kausalen Gesetzen beschreibbar wäre.“ AaO. 301.
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von ihnen den je eigenen Fokus eines dynamischen Kraftfeldes von unterschiedlicher Reichweite bildet.75
Bernhardt würdigt an Farrers Theorie, dass er selbst in soteriologischer Hinsicht die menschliche Willensfreiheit zugestehe. Außerdem überwinde der anglikanische Theologe den Gegensatz zwischen dem allgemeinen Handeln Gottes in der Welt und dem speziellen Gnadenhandeln Gottes. Der Preis dafür bestehe jedoch in einer so weit gefassten Ausweitung des Handlungsbegriffes, dass Gott eigentlich gar nicht mehr Akte vollziehe, sondern ständig in Aktivität sei, womit das Moment der Intentionalität des Handelns zurücktrete. Die Hauptproblematik von Farrers Position liegt nach Bernhardt jedoch in seiner Analogietheorie. So sei es prekär, wenn das Verhältnis von menschlichem Geist und menschlichem Körper, das schon auf der anthropologischen Ebene nicht erklärbar sei, auf das Verhältnis Gottes zur Welt übertragen werde. Außerdem setzen Farrers Äußerungen zur unendlichen Differenz zwischen Gott und der erfahrbaren Wirklichkeit die von ihm gebrauchten Vergleiche letztlich wieder außer Geltung.76 Ein großes Manko sieht Bernhardt auch bei Farrers Versuch, bei der double agency die Freiheit beider Akteure vollständig zu erhalten. Dies sei in der Gott-MenschRelation jedoch nicht möglich, weil Gottes Freiheit die Freiheit des Menschen konstituiere.77 Als Gegenentwurf zu Farrer stellt Bernhardt die Position von Maurice Wiles dar. Der Hauptunterschied zwischen den beiden Theologen bestehe darin, dass Wiles die Annahme von einzelnen Handlungen Gottes in der Welt ablehne. Vielmehr agiere Gott immer nur an der Welt als Gesamtstruktur. Seine Ablehnung von partikularem göttlichen Handeln begründet Wiles mit der angeblichen Inkompatibilität dieser Vorstellung mit dem neuzeitlichen Weltbild und mit Problemen im Zusammenhang mit der Theodizee. Denn wenn Gott etwa das Leben Jesu vor dem Kindermörder Herodes rette, wäre es moralisch schwierig, dass er die anderen Kinder dafür preisgebe. Trotzdem will Wiles das Gott-Welt-Verhältnis als ein aktualistisches beschreiben. Nur so könne man die Welt als intentionale Wirkung Gottes verstehen. Nach der von Wiles festgehaltenen creatio ex nihilo vollziehe sich die creatio continua so, dass die Geschöpfe die ihnen von Gott eingeräumten Wirkmächtigkeiten ausüben, ohne dass Gott noch spezifisch bzw. individuell dabei mitwirke.78 Gott schaffe sich „in seiner durch Liebe qualifizierten Allmacht […] ein Gegenüber unabhängiger, frei handelnder Wesen.“ Im Zusammenhang mit der creatio 75 AaO. 301 f. 76 Vgl. 304 f. 77 Vgl. aaO. 306. Wie sich diese letzte Äußerung Bernhardts damit verträgt, dass er Farrers Erhaltung der menschlichen Willensfreiheit auf der soteriologischen Ebene rühmend heraushebt, wird aus seinen Ausführungen nicht klar. 78 Vgl. aaO. 311 f.
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continua bestehe Gottes Macht darin, dass er um die freie Zustimmung der Menschen werbe, um diese für seine eigenen Anliegen zu gewinnen.79 Die einheitliche und universale Intention Gottes richte sich darauf, das Wachstum von personaler Freiheit und Kreativität im Rahmen von liebevollen Beziehungen sowohl auf zwischenmenschlicher Ebene als auch zwischen Menschen und Gott zu maximieren. Diese Gesamtintention vollziehe sich dann aber in einzelnen menschlichen Akten. Denn nicht Gott, sondern die Menschen haben Gottes Intention in konkreten Handlungen zu verwirklichen.80 Auch der master-act der Erschaffung der Welt ex nihilo vollziehe sich, im Anschluss an Gordon Kaufman, in einer Vielzahl von sub-acts, nämlich in den drei qualitativen Hebungen des Seins auf die physische (Kosmogenese), biologische (Biogenese) und geistige Ebene (Noogenese), wie sie sich vollzogen haben (a) bei der Schöpfung und Erhaltung der Naturordnung in einer Weise, daß Leben aus ihr entstehen konnte, (b) bei der Hervorbringung des Lebens und seiner evolutionären Entwicklung über immer vielfältigere Lebensformen bis hin zur selbstbewußten Existenz des Menschen, (c) bei der Erschaffung menschlichen Lebens und seiner sozialen, kulturellen und religiösen Formation.81
Ferner differenziere Wiles verschiedene Ebenen des göttlichen Weltwirkens. Zunächst installiere Gott Strukturen, welche die Naturprozesse gesetzmäßig regeln. Daraus ergebe sich, wenn schon nicht die Unmöglichkeit, so doch die Unwahrscheinlichkeit von Wundern, welche den natürlichen Regelmäßigkeiten widerspächen. Die Begründung für diese Ablehnung liegt wieder in der Theodizeeproblematik. Außerdem bestreite Wiles, im Gegensatz zu Farrer, die Indienstnahme von Menschen seitens Gottes, ohne deren Kenntnis oder Zustimmung. Denn darin läge eine Form von Manipulation, die sich mit der menschlichen Freiheit nicht vereinbaren lasse. Positiv ausgedrückt, stellt sich Wiles das Handeln Gottes in der Welt als „bewußte und willige Mitarbeit von Menschen an der Realisierung der Gesamtintention Gottes“ vor. Zwar teile Gott der Schöpfung inspirativ seinen Gesamtzweck mit und statte sie mit den Möglichkeitsbedingungen zu diesem Zweck aus. Er wirke aber nicht im Menschen dazu mit, dass dieser sich seiner allgemeinen Inspiration zuwende und Gottes Zweck zu seinem eigenen mache. Auch bei der Bekehrung eines Menschen werde nur dieser selbst aktiv. Selbst die Bekehrungen des Paulus oder Augustins seien „rein menschliche Akte“, in welchen sich exemplarisch Gottes Intention realisiere. Auch bei Jesus habe Gott keine singulären „supranaturalen Handlungen“ vollzogen. Die Auferstehung sei keine „miraku-
79 AaO. 313. Damit schließt Wiles sich der Prozesstheologie an. 80 Vgl. aaO. 314. 81 AaO. 315.
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löse Wiederbelebung eines Leichnams, sondern als Transformation in eine neue Art von Leben zu verstehen“.82 Bernhardt fragt sich, ob Wiles’ Position eine neue Form von Deismus darstelle. Im Gegensatz zu Farrers Entwurf hält er den Wiles’schen für schlüssiger.83 Wiles könne die Eigenständigkeit der Schöpfung und die Handlungsfreiheit des Menschen gut miteinander systematisieren. Allerdings gebe es bei ihm keine Garantie mehr auf die Realisierung von Gottes Endzweck mit der Welt.84 „Der Geschichtsverlauf ist nicht prädeterminiert, die Zukunft offen […] – das schließt die Möglichkeit der Verfehlung dieser Intention ein.“ Dennoch kommt Bernhardt zu dem Schluss, dass Wiles kein Deist sei. Denn sein master-act vollziehe sich in den „von Menschen in Freiheit ausgeführten“ Teilakten, so dass Gott auf vermittelte Art und Weise doch in der Welt wirksam werde.85 Hier stellt sich allerdings die Frage, ob tatsächlich eine wesentliche Differenz zum klassischen Deismus vorliegt. Denn auch bei diesem ist die Welt im Sinne Gottes ursprünglich seinem Willen gemäß konstruiert, so dass auch dann, wenn Gott nie mehr auf seine Schöpfung schaut, in jedem Augenblick seine Schöpfungsintention verwirklicht werden könnte, wenn der Mensch dies wollte. Für unseren Zusammenhang sind Bernhardts Ausführungen zu Wiles Freiheitsverständnis wichtig. Dass Gott den Menschen als Wesen der Freiheit erschaffen habe, schließe nicht aus, dass er auf diese Freiheit aktuell Einfluss nehme. Die Menschen erfahren nach Bernhardt in ihren sozialen Beziehungen ohnehin nur relationale Freiheit, während sie von Gott schlechthinnig abhängig seien. Die Abhängigkeit von Gott sei geradezu freiheitskonstitutiv, indem sie von innerweltlichen Abhängigkeiten befreie.86 Als letzten Vertreter des aktualen Handlungsmodells stellt Bernhardt den konstruktivistischen Entwurf von Gordon Kaufman kurz vor. Für ihn sei „Gott“ ein Postulat der historischen Vernunft. Er stehe für den rein immanent-monistisch sich vollziehenden Weltprozess, in dessen Verlauf menschliches Leben entstanden sei und in welchem sich ethische Orientierung einstelle. Ein Welthandeln eines personal gedachten Gottes werde ideologiekritisch verabschiedet, weil es allenfalls ein frommes Beruhigungsmittel sei, „das die aktive Weltverantwortung des Menschen zu lähmen droht“. Indem Bernhardt zurecht urteilt, dass bei Kaufman das gesamte Weltgeschehen ganz in den Händen der Menschen liege und dieser dadurch in die Gefahr des Aktivismus gerate, erscheint es als auffällig, dass er diesen Religionsphilosophen überhaupt als Vertreter des theologischen Aktua 82 AaO. 319 f. 83 Allerdings befindet er auch bei Wiles, dass das Analogieproblem bei der Rede von Gottes Handeln nicht gelöst sei und dass er nicht zwischen intentionalen Aktionen und allgemeiner Aktivität unterscheiden könne. Vgl. aaO. 324 f. 84 AaO. 320. 85 AaO. 321. 86 Vgl. aaO. 324, in expliziten Anschluss an Schleiermacher.
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lismus präsentiert.87 Eher erscheint Kaufman als Pantheist. Auch in Bezug auf Wiles könnte man überlegen, ob er nicht eher ein Vertreter des unten beschriebenen Repräsentationsmodells sei. Schließlich denkt er Gott als einen in der Welt um die Mitwirkung der Menschen werbenden Akteur.
5.3.1.2 Das sapiential-ordinative Modell (Gottes wirksame Logizität) Während im aktualen Modell Gottes Handeln in einer (problematischen) Analogie zum Handeln menschlicher Personen gedacht wird, geht nach Bernhardt das sapiential-ordinative Modell von „physiko-und biomorphen Leitgedanken aus“ und beschreibt Gottes Aktivität als das Wirken „einer transzendenten Kraft in den Prozessen der natürlichen Wirklichkeit“. Die Schöpfung sei die Manifestation des Schöpfer-Logos und bedürfe daher keiner kontingenten Interventionen Gottes über ihre naturgesetzliche Verfasstheit hinaus. Die Tätigkeit Gottes durchdringe den gesamten Weltprozess und komme „gerade in den lebensermöglichenden und -erhaltenden Strukturen alltäglicher Natur- und Geschichtszusammenhänge zum Ausdruck.88 Die klassische Gestalt des sapiential-ordinativen Modells sei die Zweiursachentheorie des Thomas von Aquin. Gott wirke als Erstursache auf seine Geschöpfe, welche als Zweitursachen des Weltprozesses fungieren. Dabei interveniere Gott jedoch nicht, sondern wirke im Einklang mit den Zweitursachen gemäß der spezifischen Möglichkeiten, die diesen eigen seien. „Die Kette der weltlichen Ursachen bleibt unversehrt“. Im Rahmen dieses Modelles könne auf supranaturale Interventionen Gottes verzichtet werden, wenn man davon ausgehe, dass Gott ausschließlich auf die durch die Zweiursachentheorie beschriebene Weise agiere.89 Bernhardt weist nicht ausdrücklich darauf hin, dass Gott bei Thomas selbstverständlich auch auf durchaus interventionalistische Weise in der Heilsgeschichte wirkt. Dadurch muss sein Lob der thomasischen Konzeption eingeschränkt werden auf eine bestimmte Ebene von Gottes Wirken, nämlich auf den natürlichen Verlauf des Weltprozesses. Thomas erreiche mit Hilfe der Zweiursachentheorie eine enge Verklammerung zwischen Gottes Handeln und dem Wirken der Geschöpfe. Damit könne die naturwissenschaftliche Wirklichkeitsbeschreibung anerkannt und durch eine theologische Perspektive unterfangen werden.90 Im Grunde genommen läuft die Konzeption aber lediglich darauf hinaus, die Denkmöglichkeit des Satzes zu ermöglichen: Der Verlauf des Weltprozesses ist von Gott selbst ermöglicht. 87 AaO. 326 f. 88 AaO. 335 f. 89 AaO. 339 f. 90 Vgl. aaO. 341.
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Karl Rahner konstruiere die Zweiursachentheorie als transzendentale Relationalität zwischen Gott und seinen Geschöpfen. Gott sei nicht eine Ursache neben anderen Ursachen in der Welt, sondern der transzendente Grund der Welt. Er trage die Kette der Ursächlichkeiten (der Zweitursachen), sei aber nicht selbst ein Glied in dieser Kette. Gott stehe damit außerhalb der Zeit, des Raumes und der Gegenständlichkeit. Rahners Ziel sei es, die Entstehung des Menschen als eines beseelten Wesens katholisch-theologisch denkbar zu machen. Die Hominisation könne aufgrund der transzendentalen Relation so aufgefasst werden, dass die Beseelung weder durch ein inneres Wesensmoment des Geschöpfes alleine noch durch ein äußeres, transzendentes Eingreifen bewirkt werde.91 Weder verschmelzen beide Ursachen zu einer, noch wirken sie bloß äußerlich koeffizient zusammen. Vielmehr stellt sich zwischen ihnen eine dynamische Beziehungseinheit her, in der sie ineinander agieren; oder anders: in der die Sekundär ursache in der Kraft der absoluten Seinsfülle der Primärursache agiert – so, dass die Primärursache die Selbstüberbietung der Sekundärursache als deren eigene Aktivität ermöglicht.92
Merkwürdigerweise verteidigt Bernhardt einerseits Rahners Interpretation des Zweiursachenkonzepts als transzendentale Theorie, indem er die Differenz von Gottes Ursächlichkeit und seines Grund-Seins unterstützt.93 In seiner Schlussbeurteilung dieses Modells weist er jedoch darauf hin, dass Gott als ein Urgrund der Welt, der nicht selbst Ursache in der Welt sei, nicht plausibel gedacht werden 91 Dadurch soll versucht werden, die Seele des Menschen gleichursprünglich als Ergebnis der natürlichen Evolution und als eine Gabe Gottes zu beschreiben. 92 AaO. 342. Abgesehen davon, dass es unverständlich ist, wie die Ursachenverschmelzung von einem ineinander Agieren begrifflich voneinander unterschieden werden soll, entsteht an dieser Stelle bei Rahner die verhängnisvolle Rede von der Selbsttranszendenz des Geschöpfes. Vgl. aaO. 343. Es ist klar, dass Rahner ausdrücken möchte, dass bei der Entstehung der Menschenseele nicht nur natürliche Prozesse beteiligt waren, sondern dass Gott in distinkter Weise dabei mitwirkt. Was aber soll in diesem Zusammenhang Selbsttranszendenz bedeuten? Zunächst, wenn Gott als Erstursache durch die Zweitursachen wirkt, dann ist jeder Entwicklungsschritt der biologischen Evolution ein Akt der Selbsttranszendenz. Transzendiert also das letzte Reptil sich selbst, wenn es zum Vogel wird (plakativ ausgedrückt)? Gott als Erstursache wäre dann die transzendente Möglichkeitsbedingung für den Mechanismus von Mutation, Selektion und Artbildung. Auf diese Weise müsste dann auch die Entstehung des Menschen aus vormenschlichen Primaten gedacht werden können. Worin besteht nun aber das Selbst, dass in solchen Prozessen transzendiert wird? Die Organismen haben selbst die Eigenschaft, mutierte Nachkommen zu erzeugen. Die Elternorganismen bleiben, was sie sind, die Nachkommen zeigen möglicherweise neue Merkmale. Die Eltern haben sich also nicht selbst transzendiert, und die Nachkommen haben sich nicht transzendiert. Die biologische Art hingegen ist überhaupt nicht als starres „Selbst“ definierbar, dass sich transzendieren könnte, sondern als eine kontinuierliche Dynamik. 93 Vgl. 344 f.
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könne. Mit dem Prozesstheologen John Cobb stellt er fest: „Unless God is understood as a cause of events in the world, we have no reason to speak of him at all“.94 Darin ist ihm zweifellos zuzustimmen.
5.3.1.3 Das Repräsentationsmodell (Gott in praesentia operosa) In diesem dritten Modell von Gottes Handeln ist die leitenden Metaphorik die „Erfahrung überpersonaler, die Personen aber ergreifender und transformierender Energien, wie z. B. dem Erfülltsein von der ‚Macht der Liebe‘“. Das leitende Verb in diesem Metaphernkreis sei ausstrahlen.95 Konkrete Phänomene, die als Analogien zur Verfügung stehen, seien einerseits die biblische Rede von Gottes Herrlichkeit, vom Segen als Lebenskraft oder vom Heiligen Geist, andererseits wissenschaftliche Feldtheorien wie das elektromagnetische Feld oder das Gravitationsfeld, psychosomatische Wirkfelder, soziologische Milieus als persönlichkeitsbildende Umwelten und pädagogische Motivationsfelder, außerdem von Personen ausgehende „Felder“ wie Ausstrahlung, Aura, Gruppenatmosphäre und -klima.96 Das Modell der operativen Präsenz erlaube es, „spezifische Ereignisse der Kraftwirkung Gottes zuzuschreiben, ohne ihre Einbindung in das menschenweltliche Bedingungsgefüge unterzubestimmen“. Nach diesem Modell wirke Gott etwa da, wo die Eigendynamik egozentrischer Orientierungen, die Verfestigung ideologischer Systeme oder die Selbstabschottung sozialer Gefüge aufgebrochen werde. Wo immer etwas geschehe, was dem göttlichen Liebeswillen entspreche, könne „die Wirksamkeit des Gottgeistes [sic!] unterstellt werden“. Solche empirischen Schlüsse können natürlich nur aus der Glaubensperspektive heraus gezogen werden. Dabei dürfe jedoch der von Gottes Geist ausgehende Impuls in der Regel nicht als exklusive oder hinreichende Bedingung des Geschehens aufgefasst werden, sondern lediglich als notwendige.97 Als einen Vertreter des Repräsentationsmodells stellt Bernhardt Wolfhart Pannenberg vor. Er denke das Handeln Gottes in Analogie zu einem physikalischen Kraftfeld.98 Pannenberg wähle die Feldmetaphorik für das Handeln Gottes, weil die biblische Beschreibung der Wirkung des Gottesgeistes dadurch gut 94 Vgl. 350 f. 95 AaO. 352. 96 Vgl. aaO. 356 f. 97 AaO. 359 f. 98 Felder und Körper sind die Grundkategorien der Physik. Felder sind immaterielle Strukturen, die sich im Raum unendlich ausbreiten. Jedem geometrischen Punkt im Raum kann eine Feldstärke zugeordnet werden. Diese Größe quantifiziert das Maß der Kraft, welches dort auf einen Körper ausgeübt wird, der dem Feld zugeordnet werden kann (wie zum Beispiel die Nadel des Kompasses dem Magnetfeld der Erde oder die Antenne des Radiogerätes dem elektromagnetischen Feld des Radiosenders).
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ausgedrückt werden könne.99 Insbesondere ermögliche das Kraftfeldmodell eine analoge Rede von Gott in vierfacher Hinsicht. Erstens, ein Feld stelle primär ein Möglichkeitsfeld von Kraftwirkung an einem Körper dar, der in das Feld hinein gebracht werden könne. So habe auch das Kraftfeld des Gottesgeistes die schöpferische Potenz, „kontingente Ereignisse, Prozesse und Zustände“ hervorzubringen. Zweitens, Pannenberg schließe sich der relativitätstheoretischen Rede von der Raumzeit an und verstehe das Möglichkeitsfeld des Gottesgeistes als von der Zukunft her wirkend. Wo Gottes Geist wirke, werde die gegenwärtige Wirklichkeit eschatologisch ausgerichtet. Drittens, im Geistfeld herrsche eine Priorität der Kreativität vor der Kontinuität. Der Bestand der Schöpfung sei sekundär in Bezug auf die Hervorbringung des Gottesreiches. Die Schöpfung sei lediglich die Vorbedingung der Neuschöpfung. Viertens, das innergöttliche Geistfeld setze sekundär „die trinitarischen Personen als interrelationale Manifestationen“ seiner selbst heraus.100 Alle Wirkungen des göttlichen Kraftfeldes auf den Weltprozess seien als Ausstrahlungen Gottes auf diesen aufzufassen, nicht jedoch als Integration des Weltprozesses in Gott. Damit wende sich Pannenberg gegen das panentheistische Modell Jürgen Moltmanns.101 Die kritische Diskussion Pannenbergs vollzieht sich bei Bernhardt unter vier Gesichtspunkten. Erstens, der physikalische Feldbegriff sei in sich uneinheitlich, und Pannenberg bediene sich in eklektischer Weise disparater Aspekte in verschiedenen theologischen Themengebieten. Zweitens stellt sich Bernhardt die Frage, ob Pannenberg die Theologie physikalisiere oder die Physik spiritualisiere. Das betreffe insbesondere die Analogisierung des Verhältnisses von Körper und Feld zu demjenigen von Materie und Geist. Man könne diese Entsprechung (mit HansDieter Mutschler) als „gelungene Metapher“ gelten lassen, sie aber nicht „zur Identität des Begriffs“ erhärten.102 Drittens stelle sich die Frage, wie sich „Pannenbergs eschatologisch-finalisierende Qualifizierung des Geistwirkens im Konzept des physikalischen Kraftfeldes verorten lasse“. Damit kritisiert Bernhardt einen konkreten Aspekt des Geist-Feld-Vergleichs. Die aus der eschatologischen Zukunft in die Vergangenheit und Gegenwart reichende Wirkung Gottes sei dem physikalischen Feldbegriff fremd. In der Tat sind physikalische Feldtheorien zeitinvariant. Das bedeutet, dass im physikalischen Formalismus keine bevorzugte Zeitrichtung gegeben ist. Beispielsweise ließe die klassische Mechanik es genauso gut zu, dass eine Vase vom Tisch fällt und auf dem Boden zersplittert wie dass die Scherben sich auf dem Boden zusammenfügen und die ganze Vase zurück auf den Tisch 99 Vgl. aaO. 362 f. 100 AaO. 364 f. 101 Vgl. aaO. 366. 102 AaO. 369. Dieser Einwand erscheint als überflüssig. Das Wesen einer Metapher besteht gerade darin, dass keine Identität zwischen den analogisierten Größen besteht, sondern nur ein Vergleich.
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hüpft.103 Da auch die physikalischen Feldformeln zeitinvariant sind, kann man mit ihnen keine Analogie zur eschatologischen Dynamik des Gottesgeistes aufstellen. Gerade deswegen läuft aber Bernhardts weitere Kritik ins Leere, wonach es bei Pannenberg zur Überlagerung zweier entgegengesetzter Zeitpfeile komme, nämlich des aus der Zukunft kommenden Pfeiles der Gotteszeit und des in die Zukunft fließenden Pfeils der Schöpfungszeit. Die Zeitinvarianz der Feldtheorien würde eine solche Reversibilität als Gleichnis eher unterstützen als sprengen.104 Zuletzt problematisiert Bernhardt viertens den Pannenbergschen Entwurf noch dahingehend, dass nicht immer klar sei, ob er vom Kraftfeld des Geistes metaphorisch oder denotativ spreche. Er ertappt ihn an einer Stelle bei einer denotativen Aussage bezüglich der Engel und mahnt an, dass der Feldbegriff lediglich in analoger Weise benutzt werden dürfe, dass er aber unter diesen Vorsichtsmaßnahmen sehr fruchtbar für die Theologie sei.105 Der zweite Autor unter der Rubrik des Repräsentationsmodells ist Peter C. Hodgson. Nach Hodgson ist Gott in der Welt wirksam, aber weder als ein individueller Akteur, der empirische Handlungen vollziehe, noch als eine allgemeine Inspiration oder Verführung. Eher sei er in spezifischen Mustern gegenwärtig, die den Weltprozess in eine bestimmte Richtung bewegen, die Getrenntes vereinigen, menschliche Solidarität verursachen, Unterdrückung aufbrechen, Verwundete heilen und sich um die Natur sorgen. Damit wolle sich Hodgson dem Gegensatz entziehen, der durch den traditionellen Theismus und die Prozesstheologie bezeichnet sei. Unter all diesen Manifestationen des Göttlichen komme einigen eine normative Bedeutung zu, weil sie „die Wirksamkeit der Gottes-Gestalt in relativer Eindeutigkeit repräsentieren und daher als Paradigmen für die glaubende Interpretation geschichtlicher Erscheinungen fungieren können“. Dazu gehöre die Inkarnation Jesu, jedoch „nicht als physische Fleischwerdung Gottes, sondern als Formung eines nicht-individuellen, sondern ‚kommunalen‘ Lebensentwurfs“.106 Da Hodgson „Gott als Primärprinzip dem Prozess der Wirklichkeit vor- und überordnet“, vermeide er den Anschein des Pantheismus. Gott bleibe von der Welt unterschieden, sein immanentes Wesen sei nicht abhängig von der Geschichte, „so sehr es sich andererseits in diesem Verlauf realisiere“, und zwar in abertausenden Gestalten der Freiheit. Gottes Handeln könne dort wahrgenommen werden, wo soziale und politische Freiheit praktiziert oder etabliert werde.107 Im Anschluss an Habermas erkenne Hodgson „in der transformativen freiheits 103 Dieses ungewöhnliche Geschehen wird erst durch den Zweiten Hauptsatz der Thermodynamik ausgeschlossen, nach dem die Entropie (als Maß der Ungeordnetheit eines physikalischen Systems) immer zunimmt. Dadurch ist ein gerichteter Zeitverlauf gegeben: „Später“ ist immer dort, wo die Unordnung größer ist. 104 Bernhardt, Handeln Gottes, 370. 105 Vgl. aaO. 371 f. 106 AaO. 374. 107 AaO. 374 f.
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schaffenden Rationalität“ des Menschen die göttliche Gestalt von kommunikativer Freiheit, von Liebe in Freiheit.108 Hodgsons Entwurf stehe im Rahmen einer offenen Teleologie. Die Realisierung der eschatologischen Befreiung dürfe erhofft werden, stehe jedoch als garantiertes Ziel eines göttlichen Weltenplanes nicht fest. Die Gestalten der Freiheit, die in Gottes Wirken gründen, seien immer wieder durch zerstörerische Strukturen gefährdet.109 Zu Recht bemerkt Bernhardt, dass Gottes Wirksamkeit bei Hodgson zwar den Gesamtprozess der Geschichte umgreife, ihm jedoch keine Gesamtgestalt geben könne.110 Frage man nach dem konkreten Ort des göttlichen Handelns, so weise Hodgson auf die ursprüngliche Schöpferkraft im Bereich der vorbewussten Geschöpfe und auf die befreiende Kraft der Sprache bei den Menschen.111
5.3.1.4 Bernhardts Kritik der drei Modelle und seine Rekonstruktion der göttlichen Handlungsweisen bezüglich der Welt Bei der zusammenfassenden Bilanzierung der drei Modelle durch Bernhardt wird deutlich, dass er sich keinem in Reinform anschließen möchte. Denn jedes der drei Handlungsmodelle habe Vor- und Nachteile. Im aktualen Modell erscheine Gott als „transzendente, personale Aktinstanz“. Problematisch dabei seien die Konnotationen des anthropomorphen Handlungsbegriffs, vor allem in der Vorstellung spontan kausaler, individuell-spezifischer Interventionen, die nach dem Muster der Zweck-Mittel-Relation absichtsvoll konkrete Veränderungen im Weltgeschehen herbeiführen.112
Es wird hier nicht ganz deutlich, ob die Konnotationen in den Elementen der Aufzählung bestehen, oder ob es sich um konkrete Modifikationen dieser Elemente handelt. Im ersten Fall würde sich das aktuale Modell selbst aufheben. Im anderen Fall würde man gerne erfahren, wie ungefährliche Modifikationen vorzustellen sind. Die Gefahr des sapiential-ordinativen Modells liege in der Zurückdrängung des göttlichen Weltwirkens auf die Ebene der Schöpfungskonstitution, wobei der konstitutive Akt nicht temporal als Anfang des Schöpfungswerkes gedeutet werden muß; er läßt sich auch als zeitübergreifende, transzendentale Relation auslegen, die den Gesamtakt der Schöpfung in Kraft setzt und hält und ihm die Richtung gibt. 108 AaO. 376. 109 Vgl. aaO. 377 f. 110 Vgl. aaO. 379. 111 Vgl. aaO. 382. 112 AaO. 389.
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Dieses Modell tendiere einerseits zum Deismus, andererseits zum Pantheismus. Zum Deismus führe das Modell, wenn man die Ordnung der Wirklichkeit so versteht, dass Gott am Anfang der Schöpfung die Naturgesetze so eingerichtet hat, dass der ganze zukünftige Weltlauf ihnen unterworfen ist.113 Pantheismus entstehe, wenn man die Ordnung der Wirklichkeit als das Ergebnis einer ununterbrochenen Aktivität Gottes auffasse.114 In beiden Varianten jedoch bestehe in diesem Modell die Gefahr eines theologischen Determinismus, und zwar dann, wenn es sich mit einem „theonomen Notwendigkeitspostulat“ verbinde.115 Das Modell der operativen Präsenz schließlich tendiere zu einer panentheistischen Interpretation. Anders als beim Pantheismus könne hier die Differenz zwischen Gott und Welt ausgedrückt werden, ohne in das andere Extrem der deistischen Betonung der Transzendenz Gottes zu verfallen. Bernhardt beschreibt aber nur negativ, wie dieses Modell vorgestellt werden könnte: „Die Gott-Welt-Relation ist weder aktual noch seinshaft konstituiert, sie manifestiert sich weder in außerordentlichen Geschichtstaten, noch in der göttlichen Logizität der Seinsordnung. Und sie unterliegt keinem Notwendigkeitspostulat“. Als wesentliches Problem des Präsenzmodells betrachtet Bernhardt eine „Tendenz zu einer impersonal konnotierten Vorstellung vom Wirken Gottes und damit verbunden in einer emanativ gedachten Gott-Welt-Relation“. Dieses Problem will er durch eine „trinitätstheologische Rückbindung des pneumatologisch explizierten Konzepts von Gottes Wirken“ beheben. Das war bei Pannenberg als Vertreter des Repräsentationsmodells ohnehin schon vorgesehen. Nach Bernhardt vereinigt das Repräsentationsmodell „die unverzichtbaren Wahrheitsmomente des aktualen und des sapiential-ordinativen Modells“.116 Seine eigene Rekonstruktion der Vorsehungslehre skizziert er unter Rückgriff auf ausgewählte Theorieelemente der von ihm dargestellten Positionen unter sechs Hauptaspekten: Erstens, er entscheidet sich für einen pneumatologischen Ansatz, welcher trinitätstheologisch präzisiert werden müsse. Dabei möchte er jedoch von der klassischen Trinitätslehre zurückgehen auf das biblische Reden von Gottes Handeln in der Welt. Demnach gehe „alle Wirkung Gottes […] von der trinitarisch strukturierten einen Person Gottes aus, vom Schöpfer, Offenbarer und Vollender aller Wirklichkeit“. Das bedeute, dass die Kraft Gottes durch den Geist wirksam werde, der „nicht Subjekt, sondern Ausführer (‚Effector‘) der wirksamen Gegenwart Gottes“ sei.117 113 In Bernhardts Worten: „Logizität der Wirklichkeit als perfekte initiale Installation“, aaO. 390. 114 Nach Bernhardt: „Manifestation permanenter ordinativer Aktuosität Gottes“, ebd. 115 Ebd. Damit will Bernhardt vermutlich sagen, dass in beiden Varianten des sapiential-ordinativen Modells die von Gott gestiftete Ordnung auch Lücken enthalten könnte, in welchen die menschliche Willensfreiheit zum Zuge kommen könnte. 116 AaO. 391. 117 AaO. 393 f.
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Die Gegenwart Gottes konkretisiere sich als Geist „in partikularen Gestalten“, in „Feldern, in denen sich unterschiedlich ausgerichtete Einwirkungen überlagern“. Dabei dürfe der Gottesgeist nicht auf das Bewusstsein der Menschen beschränkt werden, sondern müsse sich auf das ganze Ökosystem Erde beziehen können.118 Die Grundfigur des Handeln Gottes im Geist sei das Transzendieren. Gott überschreite sich selbst auf das andere seiner selbst hin, wodurch das Geschöpf dazu gebracht werde, sich selbst auf die Mitwelt und auf Gott hin zu überschreiten. „In Jesus Christus kommen beide Bewegungsrichtungen zusammen: das Sich-Überschreiten Gottes auf die Schöpfung und die Transzendierung des Geschöpfs auf den Schöpfer“.119 Gottes Geistwirken ziele auf die „Schaffung, Erhaltung, Förderung, Erneuerung und Vollendung von Leben“. Es dürfe jedoch nicht daraus geschlossen werden, dass Gottes Geist bei misslingendem Leben nicht gegenwärtig sei.120 Zweitens, Bernhardt möchte die Trennung von Welt- und Heilshandeln Gottes aufgeben. Das bedeute, dass jedes Wirken Gottes letztendlich soteriologisch bestimmt sei. Dennoch gebe es keine bruchlose Kontinuität zwischen Schöpfung einerseits und Erlösung bzw. eschatologischer Neuschöpfung andererseits.121 Drittens, Gottes Wirken vollziehe sich als Macht der Schwachheit. Innerzeitlich setze sich die Liebe Gottes immer nur gebrochen an den widerstrebenden Mächten durch, ihre uneingeschränkte Durchsetzung sei Inhalt eschatologischer Verheißung. In der gegenwärtigen Welt sei der Modus der Wirksamkeit von Gottes Handeln „am ehesten in der Analogie persuasiver Sprachakte zu deuten: als freie interpersonale Einflußnahme durch Motivieren, Überzeugen, Zu-Reden, Aufklären, Erleuchten, Begeistern, Vorstellen erstrebenswerter Leitbilder usw., aber auch durch Anklagen und Urteilen und schließlich durch Freisprechen, Vergeben, usw.“122 Allerdings dürfe die Macht der Schwachheit nicht als Ohnmacht Gottes aufgefasst werden. Dem kontrafaktischen Glauben sei die Gewissheit eigen, „daß sich Gottes Heilsherrschaft letztlich durchsetzen“ werde.123 Viertens, Bernhardt versteht Gottes Wirken als postcuratio. Er möchte damit im Verhältnis zur traditionellen Vorsehungslehre die nachsorgende Einflussnahme Gottes verstärken, also ein finales Verständnis derselben betonen. Er veranschaulicht dies gut am Beispiel des Todes Jesu. Gott habe nicht so sehr den Tod Jesu verursacht, sondern nachsorgend diesem eine heilshafte Sinnstiftung verliehen.124
118 AaO. 395. 119 AaO. 396. 120 AaO. 397. 121 Vgl. aaO. 398 f. 122 AaO. 400 f. 123 AaO. 402 f. 124 Vgl. aaO. 404.
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Dadurch sieht Bernhardt die Theodizeeproblematik als etwas erleichtert an, jedoch nicht als aufgelöst.125 Fünftens, die Vorsehungslehre trage eine staurologische Grundstruktur. Gottes Wirksamkeit in der Welt sei immer als kreuzestheologisch gebrochene zu denken. Weder das fine tuning des Universums als kontingente Grundlage für die Entwicklung des Lebens noch der Geschichtsprozess dürfe „als unmittelbares Resultat göttlicher Wirksamkeit verstanden werden“. Erst von der Auferweckung Jesu aus könne die Hoffnung entstehen, dass der Gang der Geschichte auf ein Eschaton zulaufe. Eine christliche Geschichtstheologie dürfe den vergangenen und zukünftigen Lauf der Welt niemals aufgrund geschichtsimmanenter Prinzipien als notwendig rekonstruieren, sondern lediglich wie die israelitischen Propheten kritisch kommentieren.126 Sechstens, die Vorsehungslehre müsse eschatologisch ausgerichtet sein. Daraus folge, dass der christliche Vorsehungsglaube weder eine göttliche Vorbestimmung allen Geschehens postulieren dürfe, noch konkrete notwendende Interventionen Gottes erwarten dürfe. Denn der mit der providentiellen Prädetermination allen Geschehens durch Gott gegebene Fatalismus beeinträchtige die menschliche Freiheit und mache Gott zum Urheber des Bösen.127 Die eschatologische Ausrichtung hingegen vermeide solche Fehler: Eine […] pneumatologisch fundierte und eschatologisch finalisierte Vorsehungsauffassung vermag, die Freiheit des Menschen als Ausdruck der Gottebenbildlichkeit ausreichend zu würdigen. In dieser Freiheit liegt dann allerdings auch die Möglichkeit, die kreatürliche Bestimmung zu verfehlen.128
5.3.2 Der Ertrag der bisherigen Diskussion über Gottes Handeln in der Welt für den illibertaren Indeterminismus: Die Ebenen des göttlichen Handelns In dem folgenden dogmatischen Umriss der Anthropologie schließe ich mich Bernhardts komplexen Handlungsmodell weitgehend an: Gottes Geist ist nicht eine von drei ontologischen göttlichen Subjekten, sondern die Bezeichnung für die wirksame Immanenz Gottes in der Welt. Gottes Geistwirken darf nicht auf einzelne Wirklichkeitsausschnitte beschränkt werden (zum Beispiel Kultur, Subjektivität), sondern kann sich auf die gesamte Welt erstrecken. Auch das Handeln Gottes auf die Welt und auf das Heil der Menschen darf nicht voneinander iso 125 Vgl. aaO. 406. 126 AaO. 407. 127 Vgl. aaO. 408. 128 AaO. 410.
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liert werden. Die Möglichkeit, dass Gott (aktual) an der Welt handeln kann, wo immer er will, darf nicht derart missverstanden werden, dass alles Faktische eine Wirkung Gottes sei. Der Ausgangspunkt für eine christliche Interpretation der Welt, ihrer Grundstrukturen und ihrer Geschichte ist einzig und alleine die Offenbarung Gottes in der Geschichte Jesu. Nur von hier aus kann die Welt als Schöpfung verstanden und ihre Vollendung erhofft werden. Der Rede von der Selbsttranszendenz der Geschöpfe möchte ich mich hingegen nicht anschließen.129 Dass Gottes Wirken in der gegenwärtigen Welt „am ehesten in der Analogie persuasiver Sprachakte zu deuten“130 sei, dürfte nicht gegen Gottes eschatologisches Handeln an Ostern und beim Anbruch des Gottesreiches ausgespielt werden. Schließlich ist die geschöpfliche Freiheit, die Bernhardt dem Menschen zuschreibt und worin auch die Möglichkeit liege, „die kreatürliche Bestimmung zu verfehlen“, im Sinne des illibertaren Indeterminismus kritisch zu modifizieren. Im Einzelnen soll noch einmal explizit darauf hingewiesen werden, dass das sapiential-ordinative Modell unbefriedigend ist. Natürlich wurde in der Dogmatik stets ein solches Handeln Gottes vorausgesetzt, etwa unter dem Titel der allgemeinen Vorsehung. Aber als einziges Handlungsmodell kann es nicht angesetzt werden. Denn weder die creatio ex nihilo noch die eschatologische Neuschöpfung oder Vollendung der Welt kann so gedacht werden, dass alleine die Zweitursachen dazu hinreichend sind, diese Strukturen hervorzubringen:131 Bei der Erschaffung der Welt sind noch keine Zweitursachen vorhanden, und bei der Neuschöpfung reicht ihre Potenz nicht dazu aus, den Handlungszweck zu er reichen. Dasselbe muss nicht unbedingt für die Auferweckung Jesu gelten, wenn man sie lediglich als eine symbolische Ausdrucksweise für das Weitergehen der Sache Jesu auffasst. Aber schon wenn man sie mit Wiles nicht als Mirakel, sondern als „Transformation in eine neue Art von Leben“132 verstehen will,133 gerät man mit dem sapiential-ordinativen Modell an eine Grenze. Wenn diese Transformation im strengen Sinne kein Mirakel, aber auch nicht nur bloße Chiffre sein soll, dann müsste man im Rahmen dieses Modelles annehmen, dass die Natur so beschaffen sei, dass ohnehin alle Menschen aus intrinsischen Gründen nach ihrem Tod auferstehen werden. Jesus wäre dann lediglich der erste, an dem dieser 129 Vgl. o. 253 Anm. 92. 130 Vgl. o. 259. 131 Es könnte ein spekulativer Physiker allerdings auf die Idee kommen, dass die Natur gesetze genau so beschaffen seien, dass sich die bestehende Welt zu irgendeinem Zeitpunkt in eine neue Welt verwandle, die mit dem Gottesreich identisch wäre. Ein Versuch in dieser Richtung liegt von Frank J. Tipler vor. Vgl. Mogk, Auferstehung, 241–247. Dieser Entwurf ist theologisch und physikalisch nicht befriedigend, vgl. aaO. 247 f. 132 Vgl. o. 250 f. 133 Wie etwa Dalferth, Grab.
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Sachverhalt bisher in Erscheinung getreten wäre. Damit würde jedoch entweder der eschatologische Charakter des Ostergeschehens aufgegeben sein, oder auch die eschatischen Ereignisse selbst müssten schon aus naturimmanenten Gründen eintreten, wobei wir wieder am Ausgangspunkt dieser Überlegungen angekommen wären. Wenn Gott also mit John Cobb wirkliche Ereignisse in der Welt bewirken muss, damit es sich überhaupt lohnt, von ihm zu sprechen134, muss das sapiential-ordinative Modell erweitert werden. Nun spricht gegen das aktuale Modell hauptsächlich das anthropomorphe Gottesbild. Allerdings zeigen Bernhardts Ausführungen, dass in jedem der drei Modelle das Problem der Analogizität der menschlichen Sprache auftritt, wenn von Gott die Rede sein soll. Selbst in dem von Bernhardt präferierten Repräsentationsmodell darf das Kraftfeld des Geistes nicht als univoker Begriff, sondern nur als analoger angesetzt werden. Deswegen spricht auch nichts dagegen, Gott als aktual handelnd zu verstehen, wenn hierbei die Analogizität des Handlungsbegriffs gewahrt bleibt. Das aktuale Handlungsmodell ist auch bestens geeignet, konkrete Ereignisse auf Gott zu beziehen, etwa die Auferweckung Jesu als ein echtes eschatologisches Ereignis oder den Anbruch des Gottesreiches. Wenn Gottes Wirken sowohl sapiential-ordinativ als auch aktual bestimmt werden kann, sollte nicht übersehen werden, dass es sich von Fall zu Fall auch in Übereinstimmung mit dem Repräsentationsmodell vollzieht. Schon bevor man an die Ausarbeitung eines pneumatologischen Wirkungsmodells herangeht, kann darauf hingewiesen werden, dass schon die Kultur des Evangeliums, also die Bibel, ihre Auslegung und deren Wirkungsgeschichte, eine Repräsentation Gottes in sich trägt. Auch wenn die Bibel nur eine sekundäre Dokumentation der jüdisch-christlichen Offenbarungsgeschichte darstellt, so setzt sich diese Offenbarungsgeschichte doch auch je und je bei der Lektüre, Auslegung und Nachwirkung der biblischen Texte wirksam durch – und damit auch der, nach christlichem Glauben, hinter ihr stehende Gott. Wir setzen also im Folgenden ein vielschichtiges Wirken Gottes in der Welt an, auf welches der illibertare Indeterminismus im nächsten Abschnitt bezogen werden soll: Erstens, Gott erschafft die Welt ex nihilo (das ist ein aktuales Handeln Gottes); Zweitens, die Strukturen der geschaffenen Welt, aufsteigend von der Natur zur Kultur, sind von Gott so angelegt, dass seine Ziele innerhalb ihres Rahmens erreicht werden können: Die Naturgesetze führen zur Bildung von Sternen, Kohlenstoff und organischem Leben. Die Lebewesen erzeugen Kultur (sapiential- ordinatives Handeln Gottes);
134 Vgl. o. 254.
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Drittens, Gott handelt an einzelnen Menschen berufend und inspirierend, wodurch er auch im größeren geschichtlichen Rahmen wirksam werden kann (aktu ales Handeln Gottes mit sapiential-ordinativen bzw. repräsentativen Folgewir kungen). Viertens, Gott wirkt durch die Kultur der Evangeliumsverkündigung, die auf den Offenbarungsdokumenten basiert (sapiential-ordinativ bzw. repräsentativ). Fünftens, Gott wirkt neuschaffend, d. h. eschatologisch. Dies ist bisher mindestens an seinem Gesandten Jesus von Nazareth geschehen. Auf der Grundlage dieses Glaubens erwartet die Christenheit die eschatologische Aufrichtung des Gottesreiches. Sowohl die Erschaffung der Welt als auch ihre Vollendung setzt voraus, dass Gottes Wirksamkeit nicht auf die bewussten Geschöpfe beschränkt ist (aktuales Handeln). Damit verfügen wir nun über ein universales theologisches Rahmenmodell, das wir im Folgenden mit der Ontologie des illibertaren Indeterminismus kombinieren. Im Zusammenspiel dieser beiden Bezugssysteme, der theologisch reflektierten christlichen Tradition und dem aktuellen wissenschaftlichen Weltbild, soll die theologische Anthropologie in ihren Grundsätzen entfaltet werden.
5.3.3 Der Mensch in seiner Beziehung zu Gott In den Lehrbüchern der Dogmatik wird die Anthropologie häufig in einer chronologischen Reihenfolge behandelt. Der Mensch wird zuerst als Geschöpf Gottes dargestellt, es folgt dann die Lehre von der Sündigkeit des Menschen, seine Versöhnung mit Gott, sein Leben als Glaubender und am Ende die Eschatologie, also die Lehre von der Hoffnung auf ein Leben nach dem Tod im Reich Gottes. Im Hintergrund dieses so genannten heilsgeschichtlichen Schemas steht die noch weit bis ins 19. Jahrhundert hinein vertretene traditionelle Auffassung, dass die ersten Menschen in perfekter Weise in einer perfekten Welt erschaffen worden seien. Durch die erste Sünde sei dieser vollkommene Zustand zerstört worden. Die Mühsal der Arbeit, die Schmerzen und Gefahren von Schwangerschaft und Geburt, der Tod und der Zwang zu immer neuen sündigen Taten seien die Konsequenzen dieses Fehlverhaltens. Um sein Ziel mit der Schöpfung doch noch zu erreichen, musste Gott immer wieder in die Welt eingreifen: Durch die Erwählung Abrahams, die Befreiung Israels, die Botschaft der Propheten, die Sendung Jesu und durch die Gründung der Kirche, welche die Wahrheit über Gott verkündet und es den Menschen so ermöglicht, wieder in Beziehung mit Gott zu treten und am Ende der Zeit in sein Reich aufgenommen zu werden. Die heutige Theologie hat dieses Schema von Abfall und Wiederaufstieg zumeist aufgegeben. Die Entwicklung des naturwissenschaftlichen Weltbildes und die Einsicht in den Charakter der Ursprungsmythen der Genesis haben dazu ge-
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führt, dass der Mensch als evolutionär entstandenes Geschöpf aufgefasst wird und dass die Geschichte vom „Sündenfall“ nach Genesis 3 keine Nachricht eines bestimmten historischen Ereignisses ist, sondern exemplarisch die Geschichte eines jeden Menschen veranschaulichen möchte. Der wichtigste Umbau innerhalb der modernen Offenbarungstheologie im Vergleich mit der traditionellen Theologie besteht ganz allgemein in einer durchgehenden historischen Kontextualisierung der Bibel. Während der mittelalterlichen und altprotestantischen Tradition der Bibeltext als sacra pagina (Heilige Seite) bzw. als von Gottes Geist den Propheten und Aposteln diktierter Text galt, der in einen begrifflich systematischen Zusammenhang gebracht werden musste, versteht die heutige Theologie die Geschichte Israels und das Auftreten Jesu von Nazareth als die eigentliche Gottesoffenbarung. Die biblischen Schriften stellen lediglich den schriftlichen Niederschlag der eigentlichen geschichtlichen Offenbarung dar.135 Durch diesen Umbau bildet jetzt die Person Jesu, seine Verkündigung, sein Verhalten und sein Geschick die Grundlage der gesamten Theologie. Jesus ist zwar fest eingebunden in die Geschichte und die Heiligen Schriften seines Volkes, aber deren Schöpfungsaussagen und eschatologische Vorstellungen werden heute nur in der Weise aufgenommen, wie sie von Jesus selbst in seine Verkündigung eingeschmolzen wurden oder wie sie als hermeneutischer Deutungsrahmen für das Verständnis seiner Person angesetzt werden können. Die Tatsache, dass die Theologie heute auf geschichtliche Offenbarungsereignisse zurückzugreifen versucht und die biblischen Texte nicht mehr als unmittelbare Offenbarung, sondern nur als sekundären Niederschlag der Offenbarung versteht, ermöglicht es im Übrigen auch, dass etwa die Schöpfungserzählungen der Genesis ohne weiteres zusammen mit naturwissenschaftlichen Weltentstehungstheorien in die systematisch-theologische Theoriebildung eingehen können. In Folge dieser methodischen Umorientierung gegenwärtiger Offenbarungstheologie kommt der Mensch als Individuum und als Gattung prinzipiell als das von Gott herstammende und zum Leben im Gottesreich berufene Wesen in den Blick. Die theologische Anthropologie ist also gleichursprünglich auf die Herkunft und auf die Zukunft des Menschen hin orientiert. Der Mensch muss nicht wieder zu dem werden, was er schon einmal war. Sondern dem Menschen wird zugesagt, dass er sich in seiner faktischen Existenz, zu welcher auch Phänomene gehören, die theologisch als Sünde gedeutet werden müssen, als das Geschöpf Gottes verstehen darf, auf welches eine gute Zukunft bei seinem Schöpfer wartet. Dieser Gesamtzusammenhang muss stets beachtet werden, wenn im Folgenden aus pragmatischen Gründen die Aspekte der theologischen Anthropologie doch unter den üblichen Überschriften je für sich abgehandelt werden. Es soll dabei herausgestellt werden, wie der illibertare Indeterminismus in die theolo 135 Vgl. Pannenberg, Offenbarung, V–XV (Vorwort zur 5. Auflage) u.ö.; ders., Systematische Theologie Bd. 1, 207–281.
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gische Anthropologie hereinspielt. Die Relevanz dieser neuen Ontologie für die theologische Anthropologie wird sich unter den einzelnen Aspekten als sehr unterschiedlich erweisen.
5.3.3.1 Der Mensch und seine Welt als Schöpfung Die indeterministische Welt soll in diesem Abschnitt im Rahmen des biblischen Schöpfungsglaubens interpretiert werden. Dass die kosmologische und biologische Evolution der Welt und des Menschen in der heutigen Theologie der klassischen Konfessionen grundsätzlich so leicht integrierbar ist, liegt daran, dass schon im priesterlichen Schöpfungsbericht Gen 1 das theologische Hauptinteresse darauf liegt, dass die Welt in dem Gott ihren Ursprung hat, der aus der geschichtlichen Offenbarung in Israel schon bekannt war. Diese Identität des Weltschöpfers galt es durchzusetzen angesichts der Versuchung, im babylonischen Exil den Hauptgott der Siegermacht, Marduk, als den wahren Weltherrscher anzuerkennen.136 Das theologische Interesse hinter der Schöpfungserzählung liegt also gerade nicht auf solchen Ansichten, die von heutigen christlichen Funda mentalisten vertreten werden. Völlig analog hat auch die heutige Schöpfungstheologie herauszuarbeiten, dass nach Ansicht der Christen der Urgrund der Welt identisch ist mit dem Gott Israels und dem Vater Jesu Christi. Die heutige Alternative dazu besteht weniger in konkurrierenden religiösen Weltentstehungsmy then, sondern in einem naturwissenschaftlich imprägnierten Atheismus. Außer der Identität des Schöpfergottes ist auch die Ansicht von der Gott-Mensch-Beziehung für Genesis 1 konstitutiv. Der Mensch ist Gottes Geschöpf, und als Menschheit ohne hierarchische Gliederung sind diese Geschöpfe Gottes Statthalter auf der Erde.137 In der Zeit des babylonischen Exils verknüpfte Deuterojesaja den Schöpfungsglauben mit der Hoffnung auf ein neues schöpferisches Handeln Gottes in der Zukunft. Hier wurzelt die jüdisch-christliche Eschatologie. Die Welt, in der Gesamtheit von Himmel und Erde am Anfang erschaffen, läuft auf ihre Erneuerung und Vollendung zu, auf den neuen Himmel und die neue Erde.138 Der Schöpfungsglaube im Neuen Testament setzt die alttestamentlichen Grundvorstellungen voraus und sieht in der Auferweckung Jesu Gottes eschatologisches Handeln schon punktuell realisiert. Wenn in der christlichen Dogmatik also gilt, dass Gott der Schöpfer der Welt ist, dann hat er die Welt in der Weise erschaffen, wie sie partiell von den Wissenschaften erkannt werden kann. Naturwissenschaftliche und philosophische Erkenntnisse über den Menschen und seine Welt können also mit dem biblisch begründeten Schöpfungsglauben ins Verhältnis gesetzt 136 Vgl. Albertz, Religionsgeschichte Bd. 2, 415 f., 433–443. 137 Vgl. aaO. 533 f. 138 Vgl. aaO. 466; 486 f.; 551–555; 643–649.
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werden. Dadurch können die traditionellen dogmatischen Aussagen in aktualisierender Weise interpretiert werden. Schon unter dem Aspekt des menschlichen Geschöpfseins hat der illibertare Indeterminismus einige Konsequenzen. Diese Behauptung mag vielleicht auf den ersten Blick verwunderlich erscheinen. Denn schließlich ist ja jeder einzelne Mensch, aber auch die Gattung in die Welt getreten, ohne überhaupt nach seinem bzw. ihrem diesbezüglichen Willen gefragt worden zu sein. Damit erscheint die Frage nach der Willensfreiheit in Zusammenhang mit der Erschaffung des Menschen als gegenstandslos. Wenn wir vom illibertaren Indeterminismus ausgehen, können wir aber auch nicht mehr mit der dogmatischen Tradition behaupten, dass der Mensch als willensfreies Wesen erschaffen worden und erst nachträglich in die Willensunfreiheit gefallen sei.139 Diese Feststellung hat weitreichende Konsequenzen für die theolo gische Anthropologie, was sich in den folgenden Abschnitten sogleich zeigen wird. Doch auch die ontologische Dimension des illibertaren Indeterminismus ist für die theologische Schöpfungslehre von Bedeutung. Denn offensichtlich ist die Welt kein deterministisches Gefüge, wie in der nachnewtonschen Ära viele evangelische Theologen angenommen haben. Auch ihren indeterministischen Charakter können wir also als eine Struktur begreifen, die auf den Schöpfergott zurückgeht. Karl Barth hat die Schöpfung grundsätzlich als eine Wohltat Gottes dargestellt.140 Wir haben in Kapitel vier schon gesehen, dass man auch mit guten Gründen behaupten kann, dass die indeterministische Verfasstheit der Schöpfung wohltuend auf die Menschen wirken kann, wenn man bedenkt, dass als Alternative der Determinismus infrage käme. Der Indeterminismus ermöglicht ein besonderes Konzept menschlicher Lebensführung141, welches in die theologische Anthropologie ebenfalls zu integrieren sein wird. Der illibertare Indeterminismus regt die Schöpfungstheologie außerdem zu weiterer Theoriebildung an: Wenn wir die Evolution als Gottes Methode des Erschaffens betrachten, so steht im Rahmen des illibertaren Indeterminismus weder für die kosmologische noch für die biologische Evolution von vorneherein fest, wie sie im Einzelnen verlaufen wird. Die biologische Evolution beruht auf der Entstehung von zufälligen Mutationen, so dass es für die Entwicklung der Lebewesen zahlreiche Wegkreuzungen gegeben hat und geben wird. Die Frage, ob es nach dem Urknall früher oder später in notwendiger Weise zur Entstehung von homo sapiens kommen musste, ist deswegen offen und zwischen Biologen und Physikern heftig umstritten. Auf letzteres kann an dieser Stelle nicht näher eingegangen werden.142 Es kann die Frage aufgeworfen werden, ob Gott zu Beginn 139 Vgl. o. 237. 140 Vgl. Barth, KD III/1, 377–394. 141 Vgl. o. 218–221. 142 Vgl. dazu etwa Ijjas, Alte, 193–196.
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der Schöpfung schon auf die Menschheit auf dem Planeten Erde abzielte, oder (lediglich) auf gottoffene Lebewesen im Allgemeinen, die sich dann auch in anderer Weise und an einem anderen Ort hätten einstellen können. Diese Frage ist wohl niemals beantwortbar und daher völlig spekulativ. Aber schon sie zu stellen, könnte zu einem demütigeren Umgang mit der außermenschlichen Schöpfung führen. Unsere Existenz wäre dann möglicherweise in noch ganz anderer Weise nicht selbstverständlich als wir es innerhalb der Theologie üblicherweise denken. Daran anschließend stellt sich die weitere Frage, ob die indeterministische Ontologie auch Rückwirkungen auf die Gotteslehre im engeren Sinne hat, genauer gesagt auf die Lehre von den Eigenschaften Gottes. Wenn Gott die Welt so erschaffen hat, dass echte Zufälle in ihr auftreten, so sind (a) diese Zufälle auch für ihn selbst zufällig, wodurch (b) Gottes Allwissenheit eingeschränkt würde. Diese beiden Folgerungen gilt es nun zu analysieren. Sind die Zufälle in der Entwicklung der Schöpfung also tatsächlich auch für Gott selbst zufällig? Man könnte diese Frage verneinen, weil man bei der positiven Antwort voraussetzen müsste, dass Gott erkenntnistheoretisch auf einer vergleichbaren Ebene steht wie die menschlichen Geschöpfe. Diese Vorstellung war aber von dem maßgeblichen Kirchenlehrer Augustinus abgelehnt worden. Er lehrte, dass Gott außerhalb der menschlichen Zeitfolge von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft stehe. Für ihn seien alle Ereignisse gleichzeitig, die für uns schon vergangen oder noch zukünftig sind.143 Diese Argumentation liegt auf der Linie der negativen Theologie, nach welcher Gott alle Beschränktheiten der geschöpflichen Welt abgesprochen werden. Einerseits erscheint dieses doxologische Anliegen der negativen Theologie als schlecht bestreitbar, wenn man ein absolutistisches Gottesbild vertritt. Andererseits muss festgestellt werden, dass die Zufälle, die sich für uns in der Welt zeigen, in Wirklichkeit keine Zufälle wären, wenn Gott, der außerhalb der Zeit stünde, schon in meiner geschöpflichen Gegenwart wüsste, wie meine geschöpfliche Zukunft beschaffen sein würde. Schon Bernhardt hat darauf hingewiesen, dass der naturphilosophische Indeterminismus in einen theologischen Determinismus überführt werden könnte. Dies wäre nun tatsächlich der Fall, wenn für Gott die Zufälle in der Welt nicht zufällig wären.144 Wenn Gott (oder ein Supercomputer) zufällige Ereignisse tatsächlich vorauswissen könnte, dann wären aus der Perspektive des in der Gegenwart lebenden Subjektes diese Ereignisse nicht mehr ontisch, sondern lediglich epistemisch zufällig. Aus diesen Überlegungen folgt, dass Gott die Welt entweder mit echten Zufällen erschaffen hat und diese dann auch für ihn zufällig sind, oder dass er die Welt so erschaffen hat, dass die Menschen eine Dimension von echter Zufälligkeit in ihr entdecken müssen, sich dabei aber täuschen. Die zweite dieser Alterna 143 Vgl. Augustinus, Bekenntnisse, XI, Kap. 17–30 (S. 365–382). 144 Vgl. Bernhardt, Handeln Gottes, 237.
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tiven wäre dann recht ähnlich wie die Aussage, dass Gott die Welt zwar vor circa 6000 Jahren erschaffen habe, aber so, dass sie aussieht, als sei sie durch eine Millionen Jahre lange Evolution entstanden. Ich gehe im Folgenden davon aus, dass die zuerst genannte Annahme die richtige ist. Damit stehen wir vor einem neuen Aspekt der allgemeinen Deszendenz Gottes in die Schöpfung: Er hat nicht nur eine Welt zugunsten der Geschöpfe erschaffen, mit der er Arbeit und Mühe haben wird. Er erschafft auch noch eine konkret indeterministische Welt zugunsten seiner Geschöpfe, deren Struktur ihn selbst in seiner Subjektivität betrifft. Damit kommen wir zu Folgerung (b): Wenn Gott die Zufälle in der Welt nicht vorauswissen kann, dann ist er nicht mehr in jeder Hinsicht allwissend. Hierbei ist zunächst zu bemerken, dass die Einschränkung von Gottes Allwissenheit genau so weit geht, wie sich Zufälle im Weltverlauf einstellen. Es ist also nicht notwendig, Gottes Allwissenheit soweit einzuschränken, dass er über vergangene und gegenwärtige Weltzustände kein vollständiges Wissen habe. Es wäre lediglich seine futurische Allwissenheit eingeschränkt, nicht jedoch seine präsentische.145 Nimmt man hinzu, dass nach dem hier vorausgesetzten Modell Gott jederzeit aktual in den Weltprozess eingreifen kann, so sollte diese Einschränkung keine wesentlichen Folgen für das Gottesbild haben. Markus Mühling weist in diesem Zusammenhang darauf hin, dass Gott die Zukunft außerdem insoweit vorhersehe, als er „alle zukünftigen Möglichkeiten – wenn auch […] nicht als Aktualitäten“ kenne. Auf Zufallsereignisse könne er so reagieren wie ein „Schachgroßmeister, der gegen einen blutigen Anfänger“ spiele.146 Zudem ist Gottes futurische Allwissenheit auch nur so weit eingeschränkt, wie die Reichweite der schöpfungsinhärenten Zufallsereignisse geht. Da Gott das Reich Gottes als Zielgröße des Weltprozesses determiniert hat, weiß er natürlich auch jederzeit, dass das Reich Gottes kommen wird. Da er die Naturkonstanten so eingerichtet hat, dass sich früher oder später gottesbeziehungsfähige Geschöpfe in seiner Schöpfung einstellen werden, umfasst seine futurische Allwissenheit auch diesen Aspekt. Man sieht daran, dass Gott die zukünftige Welt sehr weitgehend strukturieren kann, auch wenn sie Zufälligkeiten enthält, um seine Schöpfungsabsichten zu verwirklichen. Er muss nicht zu jedem Zeitpunkt alle Kausalketten überprüfen und gegebenenfalls intervenieren, um die Schöpfung zu formen. Denn auch hier ist es wichtig, darauf hinzuweisen, dass eine zufallshaltige Welt kein vollständiges Chaos ist, sondern zahlreiche kausale Zusammenhänge und Entwicklungslinien aufweist. 145 Vgl. dazu auch Beutler: „Gott lässt sich ein auf die Unverfügbarkeiten des Lebens, verfügt nicht von vornherein darüber. Seine Führung macht das Beste aus dem, was an Zufällen sich ereignet, er wendet das Geschehen mir zugute, aber er vernichtet weder die Freiheit der Natur noch die meines persönlichen Lebens.“ (Beutler, Gott, 133). Im Sinne des illibertaren Indeterminismus müsste hier aber anstelle von Freiheit besser von Eigenständigkeit die Rede sein. 146 Mühling, Liebesgeschichte, 155.
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Auf die Vorsehungslehre angewendet bedeutet dies: Erstens, Gott konnte die Welt so erschaffen, dass sie mit höchster Wahrscheinlichkeit, also mit Gewissheit Leben erzeugen würde (providentia generalis). Zweitens, Gott weiß stets, wie die Welt gegenwärtig beschaffen ist und könnte ihr orientierende Impulse geben (providentia specialis). Drittens, Gott hat die Zukunft nicht im Einzelnen vorausbestimmt, so dass alles, was geschieht, von ihm gewollt wäre. Manches Geschehen wurde von ihm nicht einmal vorhergewusst (keine omnipraescientia specialis).147 Auf der Grundlage dieser Weichenstellungen muss auch die klassische Prädestinationslehre revidiert werden, die bei den Reformierten und bei Luther immer eng mit der Willensunfreiheit verknüpft war. Auf diesen Sachverhalt wird im Abschnitt über Gottes rechtfertigendes Handeln eingegangen (5.3.3.3). Im Zusammenhang mit der menschlichen Geschöpflichkeit kann hier aber diese Lehre schon insofern zurückgewiesen werden, als zu Beginn der Schöpfung noch nicht festgestanden hat, welche einzelnen Menschen zukünftig auf der Erde vorhanden sein und wie diese sich zum Glauben an Gott verhalten werden.
5.3.3.2 Der Mensch als Sünder Die Sünde gilt in der Dogmatik als besonders problematisches Thema.148 Diese Problematik verschärft sich noch, wenn man von der ursprünglichen Willensunfreiheit des Menschen ausgeht. Auch in der weitverzweigten philosophischen Diskussion dieses Themas wird darauf hingewiesen, dass durch die Bestreitung der Willensfreiheit die moralischen Begriffe von Schuld, Verantwortung und Strafe hinfällig würden oder zumindest mit großem Aufwand neu konstruiert werden müssten.149 Die Lehre von der Sünde ist jedoch, wenn nicht der zentrale, so doch ein substantieller Bestandteil des christlichen Glaubens.150 Der Sündenbegriff muss also rekonstruiert und nicht aufgegeben werden, ohne jedoch dabei auf die Willensfreiheit zu rekurrieren. Ich schließe mich dabei im Folgenden Wolfhart Pannenberg an, wobei ich jedoch ab einem gewissen Punkt zu einer abweichenden Gedankenbildung kommen werde. Pannenberg versucht, die Sünde als natürliche Eigenschaft des Menschen im Anschluss an die philosophische Anthropologie, vor allem Arnold Gehlens zu entwickeln. Diese enge Verzahnung der biologischen und der philosophischen Anthropologie mit der Theologie findet sich vor allem in Pannenbergs Vorträgen 147 Zur altprotestantischen Vorsehungslehre vgl. Schmid, Dogmatik, 117–121. 148 Vgl. bspw. Roth, Michael, Willensfreiheit, 147: „Für einen Theologen gibt es dankbarere Aufgaben als die, über die Sünde zu reden.“ 149 Vgl. etwa Stier, Verantwortung; Pothast, Verantwortlichkeit. 150 Entsprechend ist auch der Schuldbegriff ein substantieller Bestandteil der philosophischen Anthropologie.
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zum Thema Was ist der Mensch? von 1962.151 Bezüglich der allgemeinen Anthropologie entfaltet Pannenberg diese Gedanken: Während die Tiere umweltgebunden und instinktgesteuert sind und daher nur wenige Umweltreize wahrnehmen und verarbeiten müssen, um zu überleben, ist der Mensch ein weltoffenes Wesen. Das bedeutet, dass er „immer neue und neuartige Erfahrungen machen [kann], und seine Möglichkeiten, auf die wahrgenommene Wirklichkeit zu antworten, sind nahezu unbegrenzt wandelbar.“152 Ein derartig variables Verhalten könne nicht mehr durch primitive Instinkte zielsicher gesteuert werden. Das Leben in einer komplexen Welt erfordere eine komplexere Verhaltenssteuerung. Das im Vergleich zu allen anderen Tieren viel leistungsfähigere Gehirn des Menschen ermögliche ihm diese Fähigkeit. Die komplexere Wahrnehmung der Wirklichkeit und die komplexere Verhaltenssteuerung müsse der Mensch im Lauf seiner Sozialisation erst erlernen. Er wachse dadurch in die jeweilige geschichtlich bedingte Kulturwelt hinein, die der Inbegriff aller Techniken ist, mit deren Hilfe eine bestimmte Gruppe ihr Leben in der natürlichen Umwelt bewältigt. Weltoffenheit bedeute nicht, dass die Welt des Menschen nur quantitativ größer sei als die des Tieres. „Die Weltoffenheit, die die moderne Anthropologie im Blick hat, ist nicht nur dem Grade nach, sondern grundsätzlich von tierischer Umweltgebundenheit verschieden.“153 Der Mensch sei auch offen „über die Welt hinaus, nämlich über sein jeweiliges Bild von der Welt“. Pannenberg stimmt Gehlen zu, dass der menschliche Trieb ins Offene auch eine Wurzel der Religion sei.154 Er betont dabei aber, dass die Religion mehr sei als bloß eine Schöpfung des Menschen. Der Mensch schafft sich nicht […] einen phantastischen Gegenstand seiner Sehnsucht und Ehrfurcht über alle in der Welt möglichen Dinge hinaus, vielmehr setzt er in seiner unendlichen Angewiesenheit ein entsprechend unendliches, nicht endliches, jenseitiges Gegenüber immer schon voraus, mit jedem seiner Atemzüge, auch wenn er es nicht zu nennen weiß […] Für dieses Gegenüber, auf das der Mensch in seinem unendlichen Streben angewiesen ist, hat die Sprache den Ausdruck Gott.155
Pannenberg beeilt sich zwar zu beteuern, dass dieser Gedankengang nicht als theoretischer Beweis für die Existenz Gottes angesehen werden dürfe. Es sei auch noch gar nicht ausgemacht, „wer oder was“ dieses Gegenüber eigentlich sei. Aber 151 Pannenberg, Was ist der Mensch?, 1962, 19958. Diese schriftliche Ausarbeitung von Rundfunk-Vorträgen wurde stark erweitert in Pannenbergs Anthropologie in theologischer Perspektive. Der hier relevante Gedankengang tritt aber in dem früheren Werk klarer zu Tage. Auch in Pannenbergs Systematischer Theologie findet er sich wieder, allerdings überwiegen hier exegetische und theologiegeschichtliche Ausführungen. Vgl. Bd. 2, 262 f., 298 f. 152 Pannenberg, Was ist der Mensch, 8. 153 AaO. 9. 154 AaO. 10. 155 AaO. 11.
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indem er auf die Religionsgeschichte und nicht auch zusätzlich auf die Philosophiegeschichte als den Ort verweist, an dem die Menschheit jenes Gegenüber je unterschiedlich zu finden meinte, bleibt diese Behauptung doch in einer gewissen Schwebe. Nur wenn der aus der Weltoffenheit des Menschen abgeleitete Begriff „Gott“ auch als eine nihilistische oder sonst atheistische weltanschauliche Bezugsgröße gebraucht werden könnte, dürften Pannenbergs diesbezügliche Ausführungen akzeptabel sein.156 Auch den Begriff der Sünde leitet Pannenberg letztendlich vom Menschen als dem weltoffenen Wesen ab. Denn bei aller Weltoffenheit sei der Mensch auch ichbezogen. Die Ichbezogenheit zeige sich in Phänomenen wie Selbstbehauptung, Durchsetzungsstreben, Erwerb von jeglichem „Reichtum des Lebens“, Verlangen nach Anerkennung durch die Anderen usw. Solche Ichbezogenheit steht offenbar nicht in selbstverständlicher Harmonie mit der Weltoffenheit des Menschen. Im Gegenteil. Dem Ich wohnt eine Tendenz inne zur Beharrung auf den eigenen Zwecken, Vorstellungen und Gewohnheiten, zu einer gewissen Selbstabschließung also, nicht nur zum Ausbrechen ins Offene.157
Die Spannung zwischen Weltoffenheit und Ichbezogenheit könnte nach Pannen berg nur dann gelöst werden, wenn sich eine Einheit beider finden ließe, die außerhalb des Ichs läge. Aber wie soll ein Mensch auf einen Standpunkt außerhalb seiner selbst kommen können? Dass ein Mensch alles, was er nicht selbst ist, in sich aufnehmen könne (nach Pannenberg ist dies das romantische Bildungsideal), sei unmöglich, weil es Zufälliges, Einmaliges und Unvorhersehbares sowohl in der Natur als auch in der Weltgeschichte gebe.158 Nur in Gott könne diese Einheit von Mensch und Welt gefunden werden, welche den Konflikt zwischen Ichhaftigkeit und Weltoffenheit überwinde. Diese Einheit sei dem Menschen transzendent. Insofern er von seiner Ichhaftigkeit nicht durch sich selbst freikommen könne, sei der Mensch Sünder. Denn „die Ichhaftigkeit, die sich in sich selbst verschließt, das ist die Sünde.“159 Damit ist Pannenberg bei der traditionellen Sündenlehre angekommen. Die verbreitetste Erscheinungsform der Sünde sei die Begierde, diese aber wurzle ih 156 Vgl. aaO. 40: „Dieser unendliche Zug in Offene zielt über alles, was ihm [scl. dem Menschen] in der Welt begegnet, hinaus auf Gott. Darum bedeutet Weltoffenheit im Kern Gottoffenheit. Der Mensch als Mensch ist diese Bewegung durch die Welt hindurch zu Gott hin. In dieser Bewegung ist er unterwegs zu seiner Bestimmung, zur Gemeinschaft mit Gott. Und insofern die Bewegung seines Lebens auf Gott zuläuft, vollzieht sich in ihr selbst schon Gemeinschaft mit Gott.“ In diesen Sätzen kann die Vokabel „Gott“ wohl kaum durch die Vokabel „das Nichts“ oder „der Zufall“ ersetzt werden. Zur Kritik an Pannenbergs Anknüpfung des christlichen Sündenbegriffs an den philosophischen vgl. Gestrich, Peccatum, 143 f., Anm. 7. 157 Pannenberg, Was ist der Mensch?, 40 f. (Zitat: 41). 158 Vgl. aaO. 43 f. 159 AaO. 46.
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rerseits in der menschlichen Selbstliebe. Sie halte den Menschen sowohl davon ab, die anderen Menschen zu lieben, als auch davon, Gott um seiner selbst willen zu lieben. Diese Gedanken, die von Augustin bis Luther und darüber hinaus in der Theologie gängig sind, habe Kierkegaard noch um eine wichtige Vorstellung erweitert. Aus dem mangelnden Vertrauen zu Gott entwickle sich die Angst im Menschen, dass er sich selbst und seine Bestimmung verfehle. Diese Angst könne dadurch noch zur Verzweiflung gesteigert werden, dass der Mensch an seiner Bestimmung verzage oder sie aus eigenen Kräften zu erreichen versuche.160 Der sündige Widerstreit zwischen Weltoffenheit und Ichbezogenheit sei unausweichlich. Die Sünde gehöre zur Vorfindlichkeit des Menschen. Soweit Pannenbergs Versuch, die Sünde als Eigenschaft des Menschen aus seiner biologischen Konstitution abzuleiten. An diesen Ausführungen ist Folgendes zu kritisieren: Erstens, die Art der Einführung des Gottesgedankens ist problematisch. Entweder ist das Wort Gott eine leere Chiffre für jeden beliebigen weltanschaulichen Gehalt. Dann könnte man Pannenbergs Argumentation folgen. Gottoffenheit würde dann bedeuten, dass jeder Mensch sich die großen Fragen nach dem Woher und Wohin stellen und nach Möglichkeit auch beantworten muss. Aber „Gott“ könnte dann nicht in jedem Fall ein Gegenüber sein, von dem her der Mensch aus seiner Ichbezogenheit erlöst werden kann. Alle Ausführungen Pannenbergs, bei denen „Gott“ derartige Funktionen zugeschrieben werden, erfordern schon eine konkrete theistische Füllung dieses Begriffs. Zweitens schlage ich eine einfachere Ableitung des Sündenbegriffs aus der Biologie des Menschen vor, der in seinem Kern auch von einer philosophischen Ethik akzeptiert werden könnte. Ausgehend von dem Begriff eines lebendigen Organismus als selbsterhaltendes System kann die Ichhaftigkeit des Menschen in seiner Sorge um Nahrung und anderer Primärbedürfnisse als ein natürliches Element des Menschseins verstanden werden. Schon in der allgemeinen Evolution der Lebewesen spielt aber der Mangel an Ressourcen und die Konkurrenz danach eine große Rolle.161 Auch die Menschheitsgeschichte zeigt hinreichend Phänomene, bei denen der Selbsterhaltungstrieb in Konkurrenz zu anderen steht, etwa den Verbrauch von Ackerfläche in unterentwickelten Ländern zugunsten der Nahrungsproduktion für sogenannte Erste-Welt-Länder oder den – bislang noch unbewaffneten – Streit um Wasser im Nahen Osten. Aufgrund seiner mit der Weltoffenheit gegebenen Empathiefähigkeit und seines Reflexionsvermögen kann der Mensch aber wissen, dass die Konkurrenten fühlen wie er selbst und dass es zumindest die Möglichkeit gibt, in Konkurrenz- und Konfliktsituationen die Interessen möglichst gerecht auszuhandeln. Auch die Empathiefähigkeit ist Teil unserer genetischen Determinanten, nicht nur die Selbsterhaltung. Die Frage nach Gerechtigkeit im Umgang mit Gütern ist eine allgemeine 160 Vgl. aaO. 46. 161 Vgl. Schuster, Evolution, 136.
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menschliche Frage, und daher könnte die Theologie mit der allgemeinen Philo sophie einen gemeinsamen Aspekt von Sünde bestimmen, nämlich die vorsätzliche Überordnung der eigenen Interessen über die berechtigten Interessen der anderen. Die entwicklungspsychologische Erfahrung zeigt, dass jeder Mensch erst lernen muss, die anderen als gleichberechtigte Artgenossen zu begreifen und in einem weiteren Schritt auch so zu behandeln. Niemandem von uns ist das gute Handeln angeboren, aber jeder von uns hat Anlagen dazu, von Fall zu Fall gut handeln zu können. Damit stehen wir vor einer allgemein menschlichen Struktur, die sowohl die Möglichkeit eröffnet, einen sündigen Habitus der Selbstsucht zu entwickeln, als auch die andere Möglichkeit, aus der Erfahrung einzelner selbstsüchtiger Handlungen und ihren Folgen den Willen zu entwickeln, ein im oben entwickelten Sinne gut handelnder Mensch zu werden. Niemand ist, theologisch gesprochen, ohne einzelne Tatsünden, jeder könnte, wenn die determinierenden Faktoren der Biographie es so bestimmen, zu einem verstockten Sünder werden, aber jeder (zumindest jeder in seiner neuronalen Anlage nicht geschädigte) Mensch kann je nach determinierenden Faktoren auch den Wunsch zur Umkehr entwickeln.162 Im Unterschied zu Luthers aktualistisch-theologischer Auffassung könnte eine Bußhaltung also auch innerweltlich (sapiential-ordinativ) ausgelöst werden, wenn die bei einem Menschen bestimmenden Determinanten und Zufälle entsprechend sind. In Übereinstimmung mit Luther wäre aber auch eine solche natürlich entstandene Bußhaltung nicht das Resultat einer freien Willens entscheidung. Der theologische Sündenbegriff hat allerdings auch eine religiöse Dimension, die durch diesen Gedankengang noch nicht in den Blick gekommen ist. Wir begreifen im Unterschied zu Pannenberg die Ungerechtigkeit, die im Auseinanderklaffen von Weltoffenheit und Ichbezogenheit besteht, nicht schon als ein Missverhältnis gegen eine transzendente göttliche Wirklichkeit. Ein vollgültiger christlicher Gottesbegriff kann nicht aus der Dialektik von Weltoffenheit und Ichbezogenheit hergeleitet werden. Einem Ausbeuter kann vielleicht plausibel gemacht werden, dass er ungerecht handelt, aber die Einsicht, dass er gegen Gottes Willen verstößt, erfordert weitere Annahmen, die erkenntnistheoretisch auf einer anderen Ebene liegen. Die Norm einer gerechten Güterverteilung kann aus prinzipiellen Gründen leichter evident gemacht werden als die Existenz Gottes. Dass ausbeuterisches Verhalten seinerseits erst die ethische Folge einer religiös tiefer liegenden Ursünde, nämlich des Nicht-Vertrauens zu Gott darstellt, ist daher eine spezifisch theologische Deutung eines an sich ambivalenten Phänomens. Die religiöse Tiefendimension des ethisch sündigen Verhaltens erscheint nicht an sich, sondern nur für die Gemeinschaft derer, welche die immanente Wirklichkeit un 162 Zur klassischen theologischen Sündenlehre vgl. Pannenberg, Systematische Theologie Band 2, 274–276; Härle, Dogmatik, 456–492; Wenz, Sünde; Gestrich, Wiederkehr.
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ter der Voraussetzung der Existenz Gottes deuten. Die volle christliche Lehre von der Sünde setzt also die Erkenntnis Gottes voraus. Wir können zusammenfassend feststellen, dass der Mensch von Natur aus zur Selbsterhaltung determiniert ist, dass er aber auch bestenfalls lernen kann, die darin liegende Versuchung zu selbstsüchtigem Verhalten zu zügeln, wenn die ihn bestimmenden, kontingenten Faktoren entsprechend beschaffen sind. Kein Mensch jedoch kann ohne dauerhafte Wirksamkeit des göttlichen Geistes vermeiden, seinen eigenen Sündenfall zu erleiden. Die begangene Sünde wird dann zu einem Bestandteil der eigenen Identität, und sie wird daher im Weiteren individuell je unterschiedliche Fortwirkungen in der Person hervorrufen – sei es, dass die Sünde zum Charakterprofil eines Menschen wird, sei es, dass der Wunsch nach Befreiung aus der Sünde entsteht. Damit ist die Allgemeinheit der Sünde in ihren Grundzügen rekonstruiert. Hier stellt sich nun die Frage, wie jemand verantwortlich sein kann für eine anthropologische Struktur, die biologisch fest verwurzelt ist. Denn Schuld und Verantwortung gehören üblicherweise zusammen, auch in der zeitgenössischen Philosophie. Pannenberg hält es zunächst zwar für eine Zumutung, den Menschen für seine Sünde verantwortlich zu machen. Er versteht diese Zumutung aber als Aufforderung zu dem Mut, „im Lichte der Erkenntnis von der eigentlichen Bestimmung des Menschen die Bedingungen des eigenen Daseins auf sich zu nehmen, und zwar als etwas, das überwunden werden muss. Was diesen Mut so schwierig macht, ist der Umstand, daß die Sünde nicht durch uns selbst überwunden werden kann.“163 In seiner Systematischen Theologie hat Pannenberg die Frage nach der Verantwortung für die Sünde weitgehender analysiert. Seine Antwort läuft darauf hinaus, dass nicht der Mensch, sondern Gott selbst die Verantwortung für die allgemeine Sündhaftigkeit trägt, auch wenn er diesen Sachverhalt nicht so zugespitzt ausdrückt. In diesem Zusammenhang deutet er auch an, welchen Sinn eine Schöpfung mit implizierter Sünde haben könnte. Dabei lehnt Pannenberg zunächst eine moralistische Betrachtungsweise der Sünde ab: Die Allgemeinheit der Sünde verbietet den Moralismus, der jede menschliche Solidarität mit jenen aufkündigt, die zu Werkzeugen der zerstörerischen Gewalt des Bösen wurden. Angesichts der Allgemeinheit der Sünde wird solches moralistische Verhalten als Heuchelei bloßgestellt. Gerade die christliche Lehre von der Allgemeinheit der Sünde hat die Funktion, bei aller Notwendigkeit einer Eindämmung des manifest Bösen und seiner Folgen doch zur Wahrung der Solidarität mit den Tätern beizutragen, in deren Verhalten das in allen latent wirksame Böse offen in Erscheinung trat. Diese antimoralistische Funktion der Lehre von der Allgemeinheit der Sünde ist oft unterschätzt worden.164 163 Pannenberg, Was ist der Mensch?, 47. 164 Pannenberg, Systematische Theologie 2, 273.
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Insbesondere sei unser Verhältnis zu Gott, also unser Glaube oder Unglaube „nicht primär durch eine wählende Stellungnahme unsererseits bestimmt“.165 Bei der Rede von Verantwortung und Schuld gehe es aber „in erster Linie um Handlungen oder Unterlassungen, insofern auch um eine Beziehung zur Wahl und Entscheidung. Zumindest wird in Blick auf Handlungen oder Unterlassungen eine Wahlmöglichkeit unterstellt.“166 Trotzdem komme es im Strafprozess zur Zurechnung von objektiver Schuld, auch wenn der Täter subjektive Gründe für seine Übertretung geltend machen könne. Im Falle einer Verinnerlichung der betreffenden Normen im sittlichen Bewusstsein oder im Gewissen richtet der Handelnde diese Zumutung an sich selbst. Nur dann komme es auch subjektiv zur Annahme von Schuld.167 Für die religiöse Sünde gelte, dass sie „allen Taten des Menschen voraus[gehe] als eine Macht, die in ihm wohnt und die so etwas wie eine eigene Subjektivität besitzt, indem sie den Menschen übermächtigt. Es ist ein Zustand der Entfremdung von Gott.“168 Daher schließt sich Pannenberg auch Augustins Ablehnung der Willensfreiheit der Geschöpfe an. Der Bischof von Hippo habe den Mut gehabt, nicht dem Menschen, sondern Gott selbst die Verantwortung für die Entwicklung in seiner Schöpfung zuzuschreiben.169 Gott habe schon bei der Schöpfung die Sünde des Menschen in Kauf genommen „im Vorblick auf seine künftige Erlösung und Vollendung.“170 Die Theologie müsse bereit sein, in der Zulassung der Sünde den Preis für die Selbständigkeit der Geschöpfe [zu] erkennen, auf die das Schöpfungshandeln abzielt. Der Mensch als das zu voller Selbständigkeit gelangte Geschöpf muß das, was es ist und sein soll, durch sich selber werden und ausbilden. Dabei liegt es nur allzu nahe, daß das in der Form einer Verselbständigung geschieht, in der der Mensch sich selber an die Stelle Gottes und seiner Herrschaft über die Schöpfung setzt.171
Interessanterweise wendet sich Pannenberg in diesem Zusammenhang gegen eine deterministische Missdeutung der Verantwortung Gottes für die Sünde der Menschen, ohne dies jedoch näher zu begründen. Vermutlich denkt er an den Zusammenhang, den wir als Fatalismusproblem diskutiert haben.172 Wenn es das Ziel der Schöpfung wäre, dass der Mensch selbständig (nicht willensfrei!) wird, so könnte dies als sinnlos erscheinen, wenn sich die Entwicklung zur Selbständigkeit hin in automatischer Weise vollziehen würde, ohne dass es darauf ankommt, dass 165 AaO. 298. 166 AaO. 299. 167 Vgl. dazu auch B. A. Weinhardt, Jenseits, 286 f. 168 Pannenberg, Systematische Theologie 2, 301. 169 Vgl. aaO. 302. 170 AaO. 303. 171 Ebd. 172 Vgl. o. 4.6.3.
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der Mensch sich bei der Gestaltung seiner Lebensführung selbständig einbringen kann und muss. Aus diesem Dilemma führt der illibertare Indeterminismus heraus. Er ermöglicht es, dass der Mensch emotional und kognitiv unterscheiden kann zwischen Wohl und Wehe, Gut und Böse, und dass er durch einen solchen Entwicklungsprozess nicht marionettenhaft hindurch gesteuert wird, sondern dass es darauf ankommt, ob und wie er sich auf die offene Welt einlässt und seine Lebensführung danach ausrichtet.173 Aus Pannenbergs Ausführungen zur Verantwortung Gottes für die Sünde der Menschen, denen ich mich hier im Wesentlichen anschließe, ist schon eine wichtige Weichenstellung für die Eschatologie zu entnehmen. Wenn Gott die Sünde so verantwortet, dass er sie im Vorgriff auf die künftige Erlösung und Vollendung der Schöpfung in Kauf nimmt, dürfte eine dualistische Eschatologie mit ewigen Himmel und ewiger Hölle nicht mehr vertretbar sein. Ich komme darauf in Abschnitt 5.3.3.5 ausführlicher zu sprechen. Der nächste Abschnitt betrachtet zuvor noch den gerechtfertigten Menschen.
5.3.3.3 Der durch den Glauben gerechtfertigte Mensch Mit der Rechtfertigung des Sünders durch den Glauben an Gott betreten wir den dogmatischen Bereich, auf dem sich in der Theologiegeschichte immer wieder der Streit um die Willensfreiheit und die Prädestination abgespielt hat. Exemplarisch haben wir dieses Thema anhand der Polemik Luthers gegen die Freiheitsschrift von Erasmus dargestellt. Wie kann man sich nun die Rechtfertigungslehre im Dialog mit dem illibertaren Indeterminismus vorstellen? Insofern dieser die Existenz von Willensfreiheit negiert, ist die paulinisch-reformatorische Auffassung vollständig mit ihm kompatibel. Der Mensch wird alleine durch Glauben und aus Gnade vor Gott gerecht, wobei der Glaube nicht die willensfreie Akzeptanz des göttlichen Gnadenangebotes darstellt. Es ist vielmehr auch der Glaube als subjektiver Akt des Menschen eine göttliche Wirkung, wie es in der Reformationszeit in der lutherischen und reformierten Kirche in den Bekenntnissen formuliert wurde, etwa wie in CA 5 (Vom Predigtamt): Solchen Glauben zu erlangen, hat Gott das Predigtamt eingesetzt, Evangelium und Sakrament geben, dadurch er als durch Mittel den Heiligen Geist gibt, welcher den Glauben, wo und wenn er will, in denen so das Evangelium hören, wirket.174
Allerdings wird diese reformatorische Auffassung in der heutigen Dogmatik nicht mehr allgemein vertreten. Der Heidelberger systematische Theologe Wilfried Härle etwa, der aus methodistischer Tradition stammt, schreibt in seiner Dogmatik einerseits über Die Mitte des reformatorischen Bekenntnisses, dass 173 Vgl. o. 4.6.3.2 u. 4.8.1. 174 BSLK, 58.
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alles verdorben [würde], wenn man ‚Gnade‘ und ‚Glauben‘ durch ein ‚Zwar-Aber‘ miteinander verbände, so als sei der Glaube das Minimum, das der Mensch wenigstens als Antwort auf die Gnade Gottes beizusteuern habe. Das reformatorische ‚sola fide‘ richtet sich nicht einschränkend gegen das ‚sola gratia‘, sondern es steht einerseits gegen den Gedanken der Gerechtigkeit aus Werken, andererseits gegen die Vorstellung einer eingegossenen Gnade (‚gratia infusa‘). Gnade und Glaube sind durch ein ‚WeilDarum‘ miteinander zu verbinden (so schon bei Paulus Röm 4,16). Weil das Heil dem Menschen alleine aus Gottes Gnade zuteil wird, darum kann es ihm nur so zuteil werden, daß in ihm der Glaube geweckt wird, durch den ihm das Heil zuteil wird.175
Diese Ausführungen sehen auf den ersten Blick so aus, als ob Härle die reformatorische Bestimmung von Glaube und Gnade teile. Interessanterweise kommt er aber im Eschatologie-Kapitel seines Buches auf dieselbe Paulus-Stelle so zu sprechen, dass klar wird, dass der erste Leseeindruck täuscht: Eines der Grundprobleme der Apokatastasis panton ist es daher, ob und wie in dieser Lehre nicht nur das ‚sola gratia‘, sondern auch das ‚sola fide‘ zur Geltung kommt […] Wenn ich es recht sehe, gibt es für die Lösung dieses Problems zwei konkurrierende Denkmodelle: Das erste Modell geht mit den Formulierungen, die Luther z. B. in der Vorrede zum Römerbrief gebraucht hat, davon aus, daß nicht nur die Gewißheit, die den Glauben ermöglicht, sondern der Glaube selbst ein Werk Gottes im Menschen sei. Von da aus lässt sich dann sagen: Daß ein Mensch glaubt, ist selbst eine Wirkung der Gnade Gottes. Wenn aber Gott allein aus Gnade im Menschen den Glauben, durch den allein er gerettet wird, schafft, dann gilt beides: das ‚sola gratia‘ ebenso wie das ‚sola fide‘.
Das andere Modell lässt sich gut an Röm 4,16 verdeutlichen: ‚Deshalb muß die Gerechtigkeit durch den Glauben kommen, damit sie aus Gnaden sei‘. Hier gilt der Glaube (d. h.: das die Gnade annehmende und empfangende Vertrauen) als die der Gnade angemessene Weise des Heilsempfangs – im Gegensatz zu den Werken, die einen Anspruch auf Lohn vor Gott erheben (Röm 4,4 f.). Das ‚sola fide‘ korrespondiert hier (anders als im ersten Modell) nicht als Werk der Gnade dem ‚sola gratia‘, sondern als die dem ‚sola gratia‘ entsprechende und angemessene Weise, wie der Mensch Gnade empfängt: Gnade kann man sich durch nichts verdienen, man kann sie nur (als Geschenk) annehmen – oder zurückweisen.“176 Hier gibt Modell 1 wiederum die reformatorische Ansicht vom Verhältnis zwischen Gnade und Glauben wieder, während Modell 2 synergistisch ist und ungefähr die Denkweise des Erasmus wiederspiegelt. Härle lässt in diesem Zusammenhang zwar offen, welche der beiden Modelle er selbst für die Eschatologie präferiert (Modell 1 würde natürlich für die Apokatastasis sprechen). Wie im ersten Zitat beruft er sich auch hier auf Röm 4,16, aber als Schriftbeweis für Modell 2. Das könnte entweder bedeuten, dass Härle Röm 4,16 sowohl als eine Instanz für 175 Härle, Dogmatik, 161 f. 176 AaO. 625 f.
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die Auffassung vom Glauben als einer notwendigen Wirkung der Gnade ansieht als auch für eine mögliche Begründung für die synergistische Auffassung. Oder Härle verrät mit seiner Zitierung der Stelle an den beiden angezogenen Orten, dass er schon an der früheren Stelle die synergistische Ansicht in Die Mitte des reformatorischen Bekenntnisses eingetragen hat. Beide Möglichkeiten erscheinen gleichermaßen als unwahrscheinlich. Allerdings lesen wir auch in einem dritten Kontext, nämlich in seiner Analyse der Wirkung der Offenbarung: „Offenbarung hebt menschliche Entscheidungsfreiheit nicht auf, ja sie führt den Menschen überhaupt erst in die Entscheidung hinein“.177 Man wird insgesamt mindestens zu dem vorsichtig kritischen Urteil kommen, dass die Diskussion des Verhältnisses von Gnade und Glaube in Härles Dogmatik nicht zu einer befriedigenden Klarheit vorgestoßen ist. In seiner aus dem Jahr 1992 stammenden Studie Der Glaube als Gottes-und/ oder Menschenwerk in der Theologie Martin Luthers allerdings hat Härle dem Menschen die Fähigkeit zugesprochen, das Geschenk des Glaubens freiwillig abzulehnen. Interessanterweise beruft er sich dabei auch auf den methodistischen Bischof und Theologen Walter Klaiber.178 In diesem Text stellt Härle anhand von Luthers Operationes in Psalmos fest, dass der Beitrag des Menschen in reiner Passivität bestehe, oder, mit einer Definition aus Luthers großem Galaterkommentar, darin, dass wir „den in uns wirkenden Gott erleiden (pati), der das Wort gibt, durch dessen Ergreifen im Glauben, welchen Gott gibt, wir zu Gottes Söhnen geboren werden“.179 Wenig später kommt er dazu, die Passivität bei der Entstehung des Glaubens als ein „Nichtstun“ zu interpretieren. „Gerade wenn und indem wir nichts tun, lassen wir Gottes Werk an uns geschehen.“ Nach Härle ist das damit bezeichnete „Nichts“ aber auch „genau dasjenige […], was der Mensch tun kann“.180 Und zwar sei das „Nichtstun des Menschen“ insofern gegeben, „als es ein mögliches (anderes) Tun gibt, das im Nichtstun unterlassen wird“. Zwar könne man „das Nichtstun eines Toten oder Bewußtlosen nicht als sein Tun oder verantwortliches Beteiligtsein bezeichnen“. Das Nichtstun beim zum Glauben Kommen sei aber vielmehr mit dem Nichtstun von Zuschauern bei einem Verbrechen zu vergleichen, was sogar strafrechtlich geahndet werden könnte.181 Damit ist bei Härle das Nichtstun zu einer „aktive[n] Passivität“ geworden.182 Diese Interpretation dürfte jedoch nicht zu dem von Härle am Anfang seines Aufsatzes zitierten Satz aus Luthers Vorrede zum Römerbrief passen, wonach der Glaube ein göttliches Werk in uns sei, das uns verwandle und aus Gott neu geboren werden lasse.183 177 AaO. 89. 178 Vgl. Härle, Glaube, 75, Anm. 176. 179 AaO. 72. 180 AaO. 73. 181 AaO. 74. 182 AaO. 75. 183 Vgl. aaO. 38 f.
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Diese göttlichen Aktionen vollziehen sich doch eher so, dass der Mensch dabei weder eine „aktive Passivität“ noch eine „passive Aktivität“ inne hat, sondern, wenn man sich auf diesen fragwürdigen Sprachgebrauch einlassen möchte, eine wahrhaft passive Passivität. Michael Roth, der sich Luthers These vom servum arbitrium zu eigen gemacht hat, wirft auch Eilert Herms vor, dass er eher die Position des Erasmus als diejenige Luthers vertrete. Dabei bezieht er sich unter anderem auf Herms Studie über Glaube184 aus dem Jahr 1992, wo dieser feststellt, dass der Glaube „die freiwillentliche Anerkennung dieser [Gottes-]Gewissheit im Unterschied zu ihrer freiwillentlichen Nichtanerkennung“ sei.185 Die Freiwillentlichkeit bei Herms darf aber an dieser Stelle nicht mit der Willensfreiheit im Sinne der im vorliegenden Buch behandelten Problematik identifiziert werden. Freiwillentlichkeit ist ein stehender Begriff in Herms’ Handlungstheorie bzw. seiner Anthropologie: Der Mensch bestimmt sich selbst durch sein Handeln. Handeln ist der Inbegriff seines freiwillentlichen Wählens von folgeträchtigen leibhaften Verhaltensweisen. Es trägt den Charakter der Selbstbestimmung in dem doppelten Sinne, daß es die handelnde Person zugleich zum Objekt und Subjekt hat, sich auf ihr Sein richtet und durch sie vollzogen wird.186
Im Zusammenhang dieser Anthropologie, wo Herms auch von einer freien Wahl sprechen kann, wird nirgends sichtbar, dass er sich über die philosophische Handlungsfreiheit hinaus bewegt.187 Anders sieht es in der Einleitung in einem früheren (1982) Sammelband von Aufsätzen aus. Herms blickt hier auf Einwände zurück, welche die neu herausgegebenen Arbeiten nach ihrem ersten Erscheinen getroffen haben. Einer davon lautete: „Der Glaube sei Geschenk Gottes und nicht Tat des Menschen.“ Herms erwidert darauf, dass dieser Behauptung […] nachdrücklich zu widersprechen [sei]. Sie ergibt sich aus einer mangelhaften Unterscheidung zwischen Offenbarung, die in Wahrheit allein Tat Gottes ist, und dem Glauben, der Tat und gutes Werk des Menschen ist; und zwar unbeschadet der Tatsache, dass er durch Gottes Offenbarungstat notwendig bedingt ist.188
Hier liegt tatsächlich ein Synergismus vor, wenn wir voraussetzen können, dass Herms die Offenbarung Gottes bewusst lediglich als eine notwendige, nicht jedoch als eine notwendige und hinreichende Bedingung des Glaubens bezeichnet. Gestützt wird diese Interpretation dadurch, dass Herms die Confessio Augustana 184 M. Roth, Willensfreiheit, 50. 185 Herms, Glaube, 96. 186 AaO. 81. 187 Vgl. aaO. 82–85. 188 Herms, Einleitung, 26.
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ausdrücklich dafür kritisiert, dass nach ihr die guten Werke des Christen „Konsequenz und Folge des Glaubens seien“.189 Es ist offensichtlich, dass das von Herms in dieser frühen Arbeit beschriebene Zusammenwirken von Gott und willensfreiem Menschen nicht der Art von cooperatio entspricht, die Luther in De servo arbitrio entworfen hat.190 Für diese Phase von Herms Wirken ist Michael Roths Analyse zuzustimmen. Wie stellt sich nun die Rechtfertigung des Sünders durch den Glauben im Rahmen des illibertaren Indeterminismus dar? Bei Luther war die Glaubensentstehung gekoppelt an das Hören des Evangeliums und an das innere Überzeugtwerden von seiner Wahrheit. Das Eintreten dieser Wirkung war durch den Heiligen Geist vermittelt. Damit ist Luthers Vorstellung vom Rechtfertigungsgeschehen auf der dritten Wirkungsebene von Gottes Handeln nach dem obigen Schema191 angesiedelt: Erstens, Gott erschafft die Welt ex nihilo. Zweitens, die Strukturen der geschaffenen Welt sind von Gott so angelegt, dass manche seiner Ziele innerhalb ihres Rahmens erreicht werden können. Drittens, Gott handelt an einzelnen Menschen berufend und inspirierend. Viertens, Gott wirkt durch die Kultur der Evangeliumsverkündigung. Fünftens, Gott wirkt neuschaffend, d. h. eschatologisch. Bei diesem Schema war vorausgesetzt, dass Gott auf Ebene drei aktual oder repräsentativ handelt, auf Ebene vier sapiential-ordinativ oder repräsentativ. Vermutlich hat sich Luther Gottes Handeln auf der dritten Ebene eher aktual vorgestellt. Der Rechtfertigungsvorgang kann aber auch noch auf die von Luther nicht berücksichtigten Ebenen zwei, vier und fünf bezogen werden, wodurch der Aktualitätscharakter von Gottes Handeln zugunsten der beiden anderen Handlungsweisen zurücktritt: Wie im vorhergegangenen Abschnitt entwickelt, stehen die Menschen unter der Macht der Sünde. Von Natur aus wird jeder Mensch früher oder später in Sünde fallen. Unter Natur wird hier die gesamte Welt verstanden, insoweit sie von Gott geschaffen und daher so geprägt ist, dass Gottes weltbegleitendes Handeln an ihr anknüpfen kann. Die Grundstrukturen der Welt sind so, dass in ihr eine Evolution stattfinden wird – hin zu Komplexitätserhöhung, zu organischem Leben, das Bewusstsein entwickelt, zu Lebewesen, die fühlen und die Gefühle anderer nachempfinden können. Die Sozialität solcher Wesen führt zur Kultur, und die in der Kulturgeschichte entwickelten Begriffe und Strukturen bilden eine Verstehensund Hoffnungsperspektive auf das Reich Gottes als Zielbestimmung der Schöp 189 AaO. 26 f. 190 Vgl. o. 5.2.4.2. 191 Vgl. o. 5.3.2.
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fung. Aus der Kulturgeschichte heraus betrachtet, ist das Gottesreich eine Utopie. Vom Gottesreich aus betrachtet ist die menschliche Kultur eine Phase der Vorbereitung der selbständigen Geschöpfe auf den Übertritt in die Utopie. „Natur“ und „Gottesgeist“ sind also keine absoluten Gegensätze. „Natur“ ist vielmehr die geistgeprägte Welt in ihrem Bestand, insofern sie von Gott in die Selbständigkeit entlassen wurde. „Geist“ ist die aktuale Wirksamkeit Gottes in der Welt, die sich entweder auf die nichtmenschliche Welt oder auf Menschen (oder auf beides) bezieht. Es ist also denkbar, dass der von Natur aus durch Gottes Schöpfungshandeln geprägte Mensch durch Reflexion dazu kommen kann, religiöse Fragen zu stellen und sich hypothetische Antwortmöglichkeiten darauf zu konstruieren. In Bezug auf die Rechtfertigung durch den Glauben besteht dann im illibertaren Indeterminismus die Möglichkeit, dass der Sünder von sich aus an seiner Bosheit gegen sich selbst und/oder gegen andere Menschen zu leiden beginnt und aus ihr befreit werden möchte. Möglicherweise kann er den Gedanken einer höheren Macht fassen, die ihm aus diesem Zustand heraushelfen könnte. Dies wären Vorgänge, die sich auf der zweiten Interaktionsebene zwischen Gott und Mensch abspielen. Dabei wären nur innerweltliche Determinanten und Zufälle beteiligt. Wir würden eine solche menschliche Geisteshaltung noch nicht als Glauben im vollen Sinne der Rechtfertigungslehre bezeichnen.192 Es kann ferner nicht ausgeschlossen werden, dass Gott in einem Menschen aktual handelnd die unmittelbare Gewissheit bewirkt, dass es eine ihm gnädige Gottheit gibt und dass er auf diese vertrauen kann. Ein solches Ereignis würde sich dann und nur dann einstellen, wenn Gottes bestimmter Wille es beschlösse. Solche Vorgänge spielen sich auf der dritten Interaktionsebene ab. Der „Normalfall“ der Glaubensentstehung dürfte aber der schon durch CA 5 beschriebene sein. Die Evangeliumsverkündigung durch Predigt und Sakrament bewirkt in den Menschen den Glauben, „wo und wann [Gott] will“.193 Im Hintergrund dieser Formulierung steht die Erfahrung, dass das gelesene oder gehörte Schriftwort nicht in jedem Fall zum Glauben führt. Wir haben bei Luther gesehen, dass er sich die Glaubensentstehung im Ungläubigen stets als ein aktuales Wirken des Geistes in ihm versteht. Im Rahmen des illibertaren Indeterminismus können wir damit rechnen, dass Menschen auch auf sapiential-ordinative Weise gläubig werden können. Dies geschieht, wenn sie aufgrund der Determinanten und Zufälle, die ihren bisherigen Lebenslauf so bestimmten, dass der Zuspruch des Evangeliums zu ihrem Leben passt und sie es daher aus vollen Herzen bejahen können. Natürlich kann dies nicht nur bei institutionellen Gottesdiensten geschehen, sondern auch bei jeglicher anderen Kommunikation des Evangeliums.
192 Es würde sich um solche Vorgänge handeln, wie sie von Paulus in Röm 1 f. oder von Lukas in Apg 17 (Areopag-Rede) beschrieben werden. 193 Vgl. o. 276 Anm. 174.
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5.3.3.4 Der zur Liebe befreite Mensch (Von der Freiheit eines Christenmenschen) An dieser Stelle geht es darum zu zeigen, wie das Handeln der Christen zustande kommt, mit anderen Worten, es geht um die Frage, wie christliche Ethik motiviert ist. Bevor wir uns der Diskussion dieser Frage im Rahmen des illibertaren Indeterminismus zuwenden, richten wir unseren Blick noch einmal auf das Werk Martin Luthers. Dieser hat nicht nur ein Buch über die Unfreiheit des menschlichen Willens geschrieben, sondern auch eines über die Freiheit des Menschen – genauer gesagt des Christen. Es gibt eine breite Strömung in der Wirkungsgeschichte Luthers, die De servo arbitrio verschämt verschweigt oder offen kritisiert und die frühere Schrift Von der Freiheit eines Christenmenschen alleine auf den Leuchter stellt.194 Luther hat aber mit der Unfreiheitsschrift sein Büchlein über die Freiheit keineswegs zurückgenommen. Es stellt sich damit die Frage, wie Luther die christliche Freiheit verstanden hat, welche mit menschlicher Willensunfreiheit zusammen bestehen kann. In dem Antwortvorschlag für diese Frage von Rochus Leonhardt steht die Lutherinterpretation schon im Horizont der heutigen neurobiologischen und philosophischen Debatte. De servo aritrio versteht Leonhardt so, dass Luther „eine alle weltlichen Geschehenszusammenhänge einschließlich sämtlicher menschlicher Handlungen umfassende in der praescientia Dei wurzelnde Notwendigkeit“ behauptet habe.195 Dass die Lutherforschung sich vielfach darum bemüht, „den Eindruck eines ontologischen oder theologischen Determinismus zu zerstreuen“, hält Leonhardt zwar für verständlich, aber nicht für richtig.196 Allerdings sieht er bei Luther selbst einen schwachen Anhaltspunkt dafür, dass man ihm die Theorie zuschreiben konnte, wonach der Determinismus nur in religiöser Hinsicht gelte, nicht jedoch in weltlichen Bezügen. Dieses Zugeständnis, das Luther an einer Stelle von De servo arbitrio macht, begründe aber nur die Zulassung des Willensfreiheitsbegriffs für eine in Wirklichkeit nur scheinbare Freiheit. Nun möchte Leonhardt aber doch eine Art von geschöpflicher Freiheit bei Luther nachweisen, die „jene Theorie der christlichen Freiheit […], die für das protestantische Selbstverständnis so wichtig ist“, unterstützt197: Die aus göttlicher Perspektive gegebene Notwendigkeit aller menschlichen Handlungsvollzüge kann, ja muss nach Luther aus menschlicher Perspektive als Freiraum 194 Vgl. etwa Loewenich, Luther, 21, 30–32, 34 f., 80, 126f, 140; U. Barth, Geburt, 93–95. 195 Leonhardt, servum arbitrium, 148. 196 AaO. 149. 197 AaO. 150.
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zu humaner Lebensgestaltung wahr- und ernstgenommen werden, wobei sich diese Lebensgestaltung als Dienst am Nächsten aktualisiert.198
Die Begründung dieses Freiraums versucht Leonhardt im Anschluss an Gerhard Ebelings Lutherdeutung. Demnach gebe es eine Illusion menschlicher Freiheit gegenüber Gott, die zweifach gedeutet werden könne. Als Illusion einer Freiheit des Menschen angesichts von Gottes Gnadenhandeln werde sie von Luther als Gottesverachtung abgelehnt. Richte sich die Illusion aber auf eine Freiheit des Menschen hinsichtlich der weltlichen Dinge, so sei dies nach Luther ein Ausdruck von Gottvertrauen. „Wer die Illusion einer weltlichen Freiheit des Menschen für bare Münze nimmt, der nimmt gerade damit seine ihm von Gott gegebene Bestimmung als weltliches Geschöpf an.“199 Leonhardt begründet diese Aussage mit einem Abschnitt aus Luthers Auslegung des 127. Psalms (Wenn der Herr nicht das Haus baut, so arbeiten umsonst, die daran bauen): Die Obrigkeit soll wachen, fleißig sein und alles tun, was ihrem Amt gebührt […] so wie ein Hausherr so arbeiten soll, als wollte er sich durch seine Arbeit ernähren. Aber er soll sich davor hüten, dass sich sein Herz jemals auf dieses sein Tun verlässt; auch soll er nicht hochmütig werden, wenn es gut, und sich Sorgen machen, wenn es schlecht läuft. Sondern er soll all seine Vorbereitungen und Bemühungen unseres Herren und Gottes Maskenspiel sein lassen, in dem er selbst [sc. Gott] ganz allein bewirkt, was wir gern hätten.200
Diese „paradoxe Dialektik von theologischem Universaldeterminismus und geschöpflicher Freiheit“ will Leonhardt in die Diskussion mit aktuellen Freiheitstheorien bringen. Den Kompatibilismus versteht er als die Theorie der Handlungsfreiheit in einer determinierten Welt, zunächst unter Abwesenheit lediglich von äußerem Zwang. Auf dieser Position stehe Luther, der immer wieder betone, dass der sündige Mensch zwar notwendig, aber nicht gezwungen sündige.201 Pauens Minimalkonzeption von personaler Freiheit aufgrund personaler Präferenzen hinterlässt für Leonhardt „das Gefühl, dass mit einigem Scharfsinn etwas doch nicht restlos Überzeugendes gesagt“ sei,202 weil in dieser Konzeption das lebensweltliche Freiheitsverständnis genauso wenig zu seinem Recht komme wie im reinen Kompatibilismus, welcher Freiheit lediglich als die Abwesenheit von äußerem Zwang verstehe.203 Aus diesem Grund sympathisiert er eher mit dem Konstanzer Philosophen Gottfried Seebaß, einem Vertreter des Inkompatibilismus. Dieser berufe sich auf die Intuition, welche uns als aktiv in die Welt eingreifende Wesen zu verstehen 198 AaO. 151. 199 AaO. 152. 200 Luther, Der 127. Psalm, [WA 15, 360–379 (372 f.)], Übertragung in Neuhochdeutsch durch Rochus Leonhardt, aaO. 152. 201 Leonhardt, servum arbitrium, 154 f. 202 AaO. 157. Druckfehler korrigiert. 203 Vgl. aaO. 160.
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erfordere. Dieser Intuition könne man nur gerecht werden, wenn manche „Teile der Welt indeterminiert und ontologisch offen“ seien. Allerdings gestehe Seebaß hier auch eine konzeptionelle Lücke in seiner Theorie zu.204 Luther vertritt nach Leonhardt eine komplexere Position als Pauen und Seebaß. Pauens Konzeption kranke an der schon erwähnten Nichtbefriedigung der Intuition. Im Vergleich mit Seebaß sei Luthers Theologie zwar klar deterministisch „mit der typisch kompatibilistischen Reduktion des Freiheitsbegriffs auf die Dimension der Handlungsfreiheit.“ Deswegen gebe es bei dem Reformator nirgends in der Welt die ontologische Offenheit, die nach Seebaß für das humane Freiheitsverständnis notwendig sei.205 Aber weil dem Menschen nach Luther zwar „die Einsicht in das Faktum des theologischen Universaldeterminismus zugänglich“ sei, nicht aber die Entwicklung des Weltlaufes im Einzelnen, führe die von Gott her in der Tat bestehende Nichtigkeit der Freiheit in menschlichen Lebenskontexten weder zum Bewusstsein eines Ausgeliefertseins an die Diktatur des Faktischen, noch konterkariert sie das menschliche Freiheitsempfinden. Durch die (erkenntnistheoretisch gebotene und soteriologisch entlastende) Abblendung der ohnehin unzugänglichen göttlichen Perspektive erscheinen die irdischen Lebenszusammenhänge vielmehr als eine (im Sinne von Seebaß) ontologisch offene Sphäre, innerhalb derer der Mensch dem Willen Gottes entsprechenden Weise von Gott absehen und seine freiheitlichen Aktivitäten ausleben kann und wird.206
Damit erweist sich Leonhardt als ein theologischer Vertreter von Bettina Waldes epistemischem Indeterminismus. Diese wird von ihm auch in einer Anmerkung zitiert, jedoch als eine der Autoren in der Willensfreiheitsdebatte, „die das Niveau der Arbeiten von Seebaß freilich nicht erreichen“.207 Wir haben allerdings gesehen, dass Walde mit einer lediglich illusionären Freiheit, deren Illusionscharakter dem Subjekt bewusst ist, der Freiheitsintuition ebenfalls nicht gerecht wird. Wenn also Luther tatsächlich ein Vertreter der Waldeschen Position wäre, dann würde er für die intuitive geschöpfliche Freiheit auch nicht mehr gerettet haben als der scharfsinnige Pauen. Aber ist Luther tatsächlich lediglich ein Vertreter von Freiheit ohne äußerem Zwang mit einer bewussten Freiheitsillusion? Im Folgenden soll gezeigt werden, dass es Luther keineswegs darum ging, eine illusionäre Freiheit in allgemein anthropologischer Hinsicht stark zu machen. Insofern darf aus der Lutherstelle zu Psalm 127 nicht zu viel geschlossen werden. Konstanter stoßen wir bei Luther auf die Auffassung, dass bei aller Gottesbestimmtheit die Handlungen der Chris 204 Seebaß, Signifikanz, 245 f., Leonhardt, servum arbitrium 159. Zum libertaren Inkompa tibilismus vgl. die Ausführungen zu Geert Keil, o. 47–57. Zur Diskussion des Intuitionsbegriffs vgl. o. 86–88. 205 AaO. 160. 206 AaO. 161. 207 AaO. 158, Anm. 38. Zu Walde vgl. o. 58–67.
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ten durch eine bestimmte Motivation gekennzeichnet seien. Das Wichtige an der positiven Freiheit, die Luther dem Christen zuschreibt, ist also nicht die Bestreitung oder Relativierung des Determinismus, sondern ihre Bestimmtheit durch konkrete Determinanten. Beim Handeln vergessen die Christen durchaus nicht, dass sie sola gratia gerechtfertigt sind, sondern sie werden sich dessen bewusst, welche motivationalen Änderungen der von Gott geschenkte Glaube mit sich bringt. Dies gilt es, anhand Luthers Freiheitsschrift aufzuzeigen. Die Freiheit, um die es in De libertate christiana geht, definiert Luther so: „Das ist die christliche Freiheit, der eine Glaube, der […] zur Folge hat, dass wir keines Werkes zur Frommheit und um Seligkeit zu erlangen bedürfen.“208 Diese Freiheit bezieht sich nicht darauf, dass wir keine Werke mehr tun sollen, sondern lediglich darauf, dass wir diese Werke nicht tun sollen, um mit ihnen das ewige Heil zu erlangen. Freiheit besteht also darin, aus einer alten Motivation für Werke herauszukommen. Diese alte Art der Motivation hängt an der bekannten lutherischen Dialektik von Gesetz und Evangelium. Die Predigt des Gesetzes laute dahingehend, dass das Leben und Handeln des Menschen vor Gott nicht so weit reiche, um ihn im jüngsten Gericht zu rechtfertigen. Diese Gebotspredigt führe zur Verzweiflung des Menschen,209 aus welcher dann die Predigt des Evangeliums heraushelfe. Wenn nun der Mensch aus den Geboten sein Unvermögen gelernt und empfunden hat, dass ihm nun Angst wird, wie er dem Gebote genüge tut, weil ja doch das Gebot erfüllt sein, oder er verdammt sein muss, dann ist er recht gedemütigt und zunichte geworden in seinen eigenen Augen […] So kommt darauf das andere Wort, die göttliche Verheißung und Zusage, und spricht: Willst du alle Gebote erfüllen, deine böse Begierde und Sünde loswerden, wie die Gebote zwingen und fordern, sieh auf, glaube an Christus, in dem ich dir alle Gnade, Gerechtigkeit, Friede und Freiheit zusage. Glaubst du, so hast du; glaubst du nicht, so hast du nicht.210
Wenn der Mensch beim Hören des Evangeliums zum Glauben komme, verändern sich seine Emotionen grundlegend. Der Mensch werde von Grund auf fröhlich, empfange Trost, ja er werde süß gestimmt bezüglich Christus und Gottes.211 Daraus entspringe die Bereitschaft, Gott freiwillig aus Dankbarkeit heraus zu dienen.212 Auch den Mitmenschen gegenüber bewirke der Glaube eine neue Einstellung. Wenn wir ihn in Not sähen und uns daran erinnern, wie Gott unsere eigene Not beseitigt habe, dann würden wir aus Dankbarkeit zu Gott von uns aus unseren Nächsten zu helfen versuchen.213 208 VFC, 289. 209 Vgl. VFC, 285, 287. 210 VFC, 287. 211 Vgl. VFC, 299. 212 Vgl. VFC, 301, 311. 213 Vgl. VFC, 311.
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Bei diesem Umschlag von der Angst vor der Verdammnis zum getrösteten Gewissen und zur Freude an Gott stehen wir, um mit dem Bild aus De servo arbitrio zu reden, an dem Punkt, wo anstatt des Teufels jetzt Gott die Rolle des Reiters auf dem menschlichen Reittier übernommen hat.214 Die Freiheitsschrift und die Willensschrift Luthers behandeln also zwei verschiedene, aber aneinandergrenzende Themengebiete. Der Glaube des Christen entsteht ohne den Beitrag seiner Willensfreiheit, ja Willensfreiheit im strengen Sinne gibt es nach Luther auf überhaupt keinem Gebiet – Freiheit ist ausschließlich ein göttliches Prädikat. Wenn aber Gott den Menschen in den Zustand des Glaubens versetzt hat, dann schließt sich dem Wechsel des Reiters auch der „fröhliche Wechsel“215 im Subjekt an, in dessen Verlauf dem Mensch alle Güter und alles Glück zuteilwerden und er bereit wird, dieses Glück und diese Güter mit anderen freiwillentlich, aber nicht willensfrei zu teilen. Man kann also Luther nicht in der Weise mit der zeitgenössischen Willensfreiheitsdebatte in Zusammenhang bringen wie Leonhardt dies versucht. Auch lässt sich bei ihm nicht die Pauensche Differenzierung zwischen personalen Präferenzen und nicht-personalen Präferenzen anbringen. Nach Luther handelt der vom Teufel gerittene Sünder gerne böse, während der von Gottes Geist er griffene Mensch auch gerne nach Gottes Willen handelt. An einer Differenzierung zwischen innerem Zwang und subjektiver Autonomie im Sinne der Neuzeit ist Luther nicht interessiert. Ihm geht es stattdessen um die innere Grunddifferenz zwischen werkgerechtem und glaubensgerechtem Dasein. Eberhard Jüngel interpretiert Luthers Freiheitsschrift in diesem Sinne und unter Berufung auf Luthers Disputation über den Menschen so: Der Mensch ist „durch sein spannungsvolles, ihm nicht zustehendes, sondern zukommendes Dasein definierbar als ‚bloßer Stoff Gottes zu dem Leben seiner künftigen Gestalt‘. Der Mensch ist das Wesen, an dem Gott baut.“216 Die Freiheit des Christen zu gutem Handeln werde genauso durch „Christus […] in uns bewirkt“, wie der Mensch „schon ursprünglich […] vom Worte Gottes geschaffen ist.“217 Markus Mühling formuliert dies so: Das Zustandekommen der Wünsche […] beruht immer auf einem gebundenen Willen und schließt einen sog. ‚freien Willen‘ (d. h. gar keinen Willen) und voluntaristische Entscheidungsmächtigkeit aus. Es versteht sich von selbst, dass das passiv gewirkte, vertrauende Ergreifen der promissio des Evangeliums im Glauben als Vertrauen das paradigmatische Beispiel des Erlebens lebensgeschichtlicher Freiheit darstellt.218 214 Vgl. DSA, 291. 215 VFC, 291. 216 Jüngel, Zur Freiheit, 52 f. 217 AaO. 83 f. 218 Mühling, Liebesgeschichte, 299 f.
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An dieser Stelle kommen wir auf die oben aufgeworfene Frage zurück, wie christliche Ethik im illibertaren Indeterminismus motiviert ist. Sobald Gottes Geist an einem Menschen entsprechend den Handlungsebenen zwei, drei oder vier219 rechtfertigend wirksam wird, stellt sich bei diesem das neue christliche Selbstverständnis ein, welches dann auch handlungsbestimmend wird. In der weiteren Ausziehung des in den vorherigen Abschnitten geschilderten idealtypischen Weges der Glaubensentstehung wären im Subjekt diese Faktoren wirksam: Das Bewusstsein der Verstrickung in Sünde, die Freude über die geschenkte Rechtfertigung und über die damit gegebene Hoffnung auf das ewige Leben im Reich Gottes, schließlich die Aktualisierung der angeborenen Anlage zum Mitgefühl mit den Mitmenschen. Damit sind die motivierenden Grundbestandteile des christlichen Handelns gegeben. Wie sich dieses Handeln konkret ausgestaltet, hängt von vielen Rahmenbedingungen ab, von denen ich hier zwei herausheben möchte: Erstens, wie sich aus dem gegebenen Motivationsgefüge die konkrete Ethik entwickelt, ist selbstverständlich kulturell und individuell bedingt. Es gibt keinen Automatismus christlicher Lebensführung, dieselbe ist vielmehr auch eine kognitive Aufgabe des Individuums auf der Grundlage des jeweiligen Wissens und Könnens einer Gesellschaft. Im illibertaren Indeterminismus hat die individuell verantwortete christliche Lebensführung ihren Teil an den herrschenden Bedingungsfaktoren und Zufälligkeiten der gesellschaftlichen Entwicklung. Der konkrete Einzelne steht in ständiger Interaktion mit seiner gegebenen Umwelt, und seine Entscheidungen hängen von dieser Interaktion ab. Zweitens, die Bestimmtheit eines Menschen durch das Evangelium, also sein subjektiver Glaube, ist nicht immer dieselbe in allen Momenten seines Lebens. Glaube kann intensiv sein oder schwach, emotional hochgestimmt oder angefochten. Auch hierbei sind die Determinanten und Zufälle in der Biographie eines Menschen ausschlaggebend. Mit anderen Worten: Die Aufgabe der Lebensführung stellt sich für den Christenmenschen strukturell genauso wie es im vierten Kapitel dieser Arbeit in allgemein anthropologischer Perspektive entfaltet wurde. Es kommen jedoch spezifisch christliche Elemente hinzu. Im folgenden Abschnitt gehen wir die in 4.4.7 genannten allgemeinen Elemente der Lebensführung im illibertaren Indeterminismus220 durch und betrachten die Modifikationen, die sich durch die Annahme des christlichen Glaubens ergeben. Erstens, die Kenntnis der Rahmenbedingungen menschlichen Lebens im Sinne der anthropologischen Konstanten wie Geboren-Werden, Zusammenleben, Gesundheit und Krankheit, Sterben und Tod: Nach christlichem Verständnis wird das Leben als eine gute Gabe Gottes aufgefasst. Aus dieser Hochschätzung sollte eine entsprechende Haltung gegenüber der eigenen Gesundheit resultieren. Doch selbst diese elementare Aussage 219 Vgl. o. 280. 220 Vgl. o. 220 f.
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stellt noch eine idealtypische Verallgemeinerung dar. Es gibt Menschen, die sich als Christen verstehen und die sich dennoch nicht über ihr Dasein freuen können – sei es wegen psychischer Krankheit, sei es wegen anderen schweren Leides. Hinsichtlich des Zusammenlebens kommen die Mitmenschen als gleichberechtigte Nächste in den Blick, während allgemeinen im illibertaren Indeterminismus auch ein utilitaristisch gedämpfter Egoismus entwickelt werden könnte. Der größte Unterschied zwischen christlicher und allgemein anthropologischer Lebensansicht besteht hinsichtlich des Todes. Die eschatologische Perspektive gehört unverzichtbar zum Christentum hinzu. Wiederum idealtypisch gedacht, sollte die Hoffnung auf das Reich Gottes die Christen tendenziell getrost und freudig machen. Zweitens, die Kenntnis der gesellschaftlichen Rahmenbedingungen des individuellen Lebens wie Bildung, Beruf, politische Teilhabe, Wirtschaft: Selbstverständlich agieren auch Christen lebensklug partizipierend in der Gesellschaft. Im Allgemeinen gibt es in dieser Dimension keine Unterschiede zwischen Christen und Nicht-Christen. Drittens, die Kenntnis von verschiedenen weltanschaulichen Entwürfen des Menschseins wie die Bereitschaft, sich den ethischen Fragen zu stellen, welche Präferenzen man im Umgang mit anderen Menschen und den lokal und global vorhandenen Ressourcen verantwortet: Während die unter zweitens genannten Gesellschaftsbereiche ethische Aufgabenfelder darstellen, die von allen Menschen, die sich jeweils in ihnen bewegen, bearbeitet werden müssen, unterscheiden sich Christen von Nicht-Christen, weil sie diese Aufgaben nach Maßgabe einer christlichen Bereichsethik zu lösen versuchen sollten. Nicht jeder Beruf, nicht jedes politische Engagement usw. lässt sich mit der christlichen Ethik vereinbaren. Viertens, die Kenntnis der ontologischen Rahmenbedingungen menschlicher Existenz wie Determinismus oder Indeterminismus: So existentiell wichtig wie es für Luther war, über den Spielraum menschlichen Handelns gegenüber Gott Bescheid zu wissen, ist es auch für den Vertreter des illibertaren Indeterminismus, über die Reichweite der eigenen Handlungsplanung informiert zu sein. Dass Menschen nicht ihres Glückes Schmied sind, sondern sich allenfalls durch Bildung darauf vorbereiten können, sich kontingent bietende Chancen zu erkennen und zu ergreifen, gilt für alle. Die emotionale Färbung dieses Gedankens dürfte aufgrund der eschatologischen Hoffnung des Christentums eine andere sein als in einer anderen Weltanschauung. Eine Chance zu verpassen, vielleicht die einzige große, die einem das Leben bietet, ist tragisch. Nach christlicher Auffassung gibt es aber kein endgültiges Scheitern des Lebens, auch wenn ein Mensch eher unklug gelebt hat. Auf diese Weise lässt sich in die christliche Lebensführung wieder eine relative Gelassenheit einführen, die im Idealfall zu einer klugen und entspannten Lebensführung im Vertrauen auf Gottes ewiges Heil führen kann.
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Fünftens, die Bereitschaft, sich selbst soweit es geht zu reflektieren, zum Beispiel um die biographischen und sonstigen Ursachen zu erkennen, welche die eigenen ethisch-anthropologischen Grundsätze haben: Diese Bereitschaft sollten alle Menschen gleichermaßen entwickeln. In der Perspektive einer christlichen Lebensführung wäre etwa besonders darauf zu reflektieren, inwieweit das Gottes- und Menschenbild von biographischen Faktoren geprägt ist, welche in Spannung stehen zum befreienden Potential der biblischen Tradition. Ein angstbesetztes Gottesbild sowie Selbstabwertung oder Abwertung anderer Personen könnten sich daran korrigieren lassen. Sechstens, die Fähigkeit, Zukunftsperspektiven für das eigene Leben zu entwerfen, die eine Person kurz-, mittel- und langfristig leiten sollen: Dass die eschatologische Hoffnung eine transzendente Orientierung für die hier in den Blick zu nehmenden innerweltlichen Zukunftsperspektiven bietet, haben wir schon gesehen. Insofern im christlichen Leben diese innerweltlichen Zukunftsentwürfe durch die Liebe zu Gott und den Mitmenschen bestimmt sein soll, ist für diese ebenfalls schon eine ethische Leitlinie gegeben. Darüber hinaus ist nach christlicher Vorstellung die Welt ein dem Menschen gegebener Ort, an dem er sich denkend und handelnd, arbeitend und spielend selbst entwerfen kann (handlungs-, nicht willensfrei). Der Mensch kann und darf wählen, welchen Beruf er ergreifen und welche Lebensschwerpunkte er sonst bilden möchte. Die Welt ist keine menschenfeindliche Umgebung, deren Absurdität lediglich auszuhalten wäre oder die aus sonstigen Gründen gemieden werden müsste. Die damit beschriebene Perspektive trifft mit der von Luther beschriebenen gebotsfreien Zone221 zusammen. Sie ist weitläufiger als dies in manchen christlich-religiösen Vorstellungen der Fall ist, wonach Gott für jedes Menschenleben schon ganz konkrete Pläne hat, die man auf jeden Fall erkennen und erfüllen muss. Siebtens, die Bereitschaft, solche Perspektiven von Zeit zu Zeit kritisch zu reflektieren und zu evaluieren: Im Allgemeinen zeigt sich diese Bereitschaft darin, dass man sich immer wieder die Fragen stellt: Sind meine Perspektiven noch realistisch? Sollten sie kritisch modifiziert werden? Stimmt mein Alltagsleben noch mit meinen expliziten Perspektiven überein, oder lasse ich mich gehen? Unter dem Aspekt der christlichen Lebensführung wäre zu fragen, ob die Auswirkungen meines Handelns im Nachhinein mit der verfolgten christlichen Intention übereinstimmen. Noch zentraler wäre die Frage, ob mich meine Lebensgeschichte inzwischen zu einer Person gemacht hat, die vielleicht gar nicht mehr aus den ursprünglich christlichen Vorstellungen ihre Identität gewinnt, ohne dass mir dies ins Bewusstsein trat. Achtens, die Fähigkeit, aus den gewählten Zukunftsperspektiven eine Lebenspraxis herzuleiten, die die gewählten Ziele begünstigt:
221 Vgl. o. 234 f.
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An diesem Punkt gibt es keine Besonderheiten der christlichen Lebensführung gegenüber der allgemeinen. In jedem Fall erfordert diese Fähigkeit ein hohes Maß an Klugheit und Weisheit, um aus gewählten Zielen möglichst passende Mittel herzuleiten. Auch an dieser Stelle zeigt sich der allgemeine Bildungsimpuls, der im illibertaren Indeterminismus motivational sehr gut zu verinnerlichen ist.
5.3.3.5 Der erlöste Mensch Wie in der gesamten theologischen Tradition kommt auch im Rahmen des illibertaren Indeterminismus die Erlösung des Menschen als Teil der universalen Vollendung der Schöpfung zur Sprache. Die damit zusammenhängenden Vorgänge – Auferweckung der Toten, eschatisches Gericht, Reich Gottes – sind der Inhalt von Gottes Handeln an und mit der Welt. Hier kommt Gott wieder als aktual Handelnder in Betracht, der das Geschehen determiniert. Im Determinismus könnte das Reich Gottes eventuell sapiential-ordinativ hervorgebracht werden, falls Gott schon bei der Schöpfung der Welt die Natur so eingerichtet hätte, dass sie einen eschatologischen Mechanismus enthielte. Im Indeterminismus ist eine sapiential-ordinative Hervorbringung nicht möglich. Hier könnten Zufälle eintreten, die dem von Gott intendierten Ziel des Weltprozesses entgegenwirken. Davon dürfen die eschatischen Ereignisse nicht abhängen. Die vielen möglichen Wege, die die Kombination von Zufall und Notwendigkeit für den Weltverlauf im Ganzen und für einzelne Lebenswege in der Welt eröffnet, müssen von Gott auf das von ihm von Anfang an intendierte Ziel der Geschichte jeweils aktual hervorgebracht werden. Die Menschen sind an den eschatologischen Ereignissen beteiligt, aber in passiver bzw. empfangender Weise, wie bei der Geburt bzw. bei der Rechtfertigung. Bei ihrer Auferweckung aus dem Tod sind Personen in überhaupt keinerlei Weise beteiligt. Beim Gericht über ihr Leben wird ihnen in der Retrospektive klar, ob sie im vertrauensvollen Glauben an Gott gelebt und entsprechend gehandelt haben oder nicht. Da der illibertare Indeterminismus die Willensfreiheit des Menschen ablehnt, stellen sich hier in Bezug auf das eschatische Gericht dieselben Probleme wie bei Paulus, Augustinus und in der reformatorischen Theologie. Wenn es keinen freien Willen gibt, könnte Gott im Determinismus den Menschen entweder weisheitlich ordnend (sapiential ordinativ) oder aktual Handelnd zum Glauben rufen oder nicht. Würde ein Mensch für seinen Unglauben bestraft werden, erschiene Gott als ungerecht (wie Erasmus richtig gesehen hat). Im illibertaren Indeterminismus könnte zusätzlich noch eine dritte Weise von Glaubensentstehung gedacht werden. Es könnte etwa ein Zufallsereignis darüber entscheiden, ob jemand einer Einladung zu einem Gottesdienst folgt, bei welchem er eine Predigt hören könnte, die in ihm glaubenserweckend wirkt. Falls der Zufall sich gegen den Predigtbesuch auswirken würde und der Betreffende für seinen Unglauben bestraft
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würde wie der oben genannte Ungläubige im deterministischen System, wäre die Ungerechtigkeit Gottes nicht weniger stark fühlbar. Nun gibt es in der Geschichte der christlichen Theologie zum eschatologischen Dualismus von Himmel und Hölle auch noch zwei Alternativen: Die annihilatio und die Allerlösung (apokatastasis panton). Die Lehre von der annihilatio besagt, dass die Sünder bzw. die Ungläubigen im eschatischen Gericht zur endgültigen Vernichtung bestimmt sind. Dies erscheint immerhin als eine humanere Vorstellung als die einer ewigen Folterstrafe. Die Allerlösungslehre vertritt die eschatische Erlösung aller Menschen, also auch der Ungläubigen, nach einem Prozess der Selbsterkenntnis, Läuterung und Verwandlung. 5.3.3.5.1 Die möglichen Ausgänge des Gerichts in der Theologiegeschichte Unter den drei eschatologischen Varianten bildet der Dualismus den historischen mainstream. Die Allerlösungslehre hingegen haben mit unterschiedlicher Begründung Theologen wie Origenes, Johannes Scotus Eriugena und radikale Reformatoren des 16. Jahrhunderts vertreten. Diese Ansätze wurden aber immer wieder schnell unterdrückt und verketzert. Seit dem radikalen Pietismus des 18. Jahrhunderts ist dieser sehr schwache Nebenstrom jedoch kontinuierlich gewachsen.222 Härle macht darauf aufmerksam, dass jeder Mensch, der Vergebung erfahren hat, hoffen müsse, dass die Allerlösungslehre wahr sei. Eine feste dogmatische Behauptung dieser Hoffnung sei jedoch abzulehnen.223 Allerdings gibt es auch heute noch Verfechter einer dualistischen Eschatologie, vor allem, aber nicht nur am konservativen Rand der Gemeindefrömmigkeit. Die neuzeitliche Diskussion über die drei genannten Standpunkte stellt Wilfried Härle in seiner Dogmatik unter systematischen Gesichtspunkten zusammen, enthält sich jedoch selbst einer expliziten Stellungnahme. Etwas ungewöhnlich ist, dass Härle die Vorstellung der Annihilation für keine eigenständige dogmatische Position hält. Denn entweder handle es sich bei der Vernichtung um die Annihilation des Sünders als Person, und das entspreche dem Dualismus. Wenn es sich jedoch um die Vernichtung der Sünde bei gleichzeitiger Erhaltung der Person handeln sollte, wäre man auf der Position der Allerlösung angelangt.224 In der biblischen Tradition hingegen bilden Dualismus, Annihilation und Allerlösung drei Alternativen. Warum Härle die annihilatio aufspaltet und auf die anderen Positionen verteilt, wird dem Leser nicht klar.225 222 Vgl. dazu J. Weinhardt, Heilung, 77–101. Ausführlich: Ch. Janowski, Allerlösung. 223 Vgl. Härle, Dogmatik, 627 f. 224 Vgl. aaO. 620 f. 225 AaO 621 erklärt Härle, dass die annihilatio als Absage an ewige Höllenstrafen „eher der Apokatastasis“ zugehöre, als Absage an die Allerlösung hingegen „eher der Konzeption des doppelten Ausgangs.“ Die hier zugrunde gelegte Symmetrie täuscht jedoch. Denn als Absage an die ewige Hölle gehört die annihilatio nicht „eher“ der Apokatastasis zu, sondern sie ist die Apokatastasis.
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Gegen die Vorstellung des Dualismus von ewigem Himmel und ewiger Hölle führt Härle anthropologische und theologische Argumente an. Anthropologisch spreche für den Dualismus, dass der Mensch als Wesen in den Blick komme, welches Verantwortung für sich selbst übernehmen müsse. Die personale Verantwortung werde darin ernst genommen, dass das menschliche Handeln schwere Konsequenzen nach sich ziehe. Andererseits werde dann gleichzeitig die Einsicht an den Rand gedrängt, dass dem Menschen alles Gute von Gott geschenkweise zukomme, also auch der Glaube. Diese beiden anthropologischen Argumente führen also in eine Pattsituation. Allerdings möchte Härle den Aspekt der Verantwortung dadurch verstärken, dass „der Gedanke an die Opfer des Bösen mit einbezogen wird.“226 Beim Dualismus werde diesem Gedanken stärker Rechnung getragen als bei der Allerlösung. Unter den theologischen Argumenten nennt Härle die göttliche Allmacht, die im Dualismus nicht absolut zum Ziel komme. Denn Gott sei im Wesentlichen als Liebe zu bestimmen, die sich auf die verdammten Menschen nicht mehr auswirken könne. Außerdem werde durch die Höllenstrafe auch die Sünde und das Böse selbst verewigt, was mit der Einzigkeit Gottes nicht vereinbar sei.227 Auf der anderen Seite spreche für den Dualismus, dass der Zorn Gottes lediglich eine Seite von „echter, brennender Liebe“ zu den leidenden Geschöpfen sei.228 In spiegelsymmetrischer Weise sprechen die Argumente, die Härle für den Dualismus nennt, gegen die Allerlösungslehre und umgekehrt.229 Auch bei der Diskussion dieser eschatischen Vorstellung analysiert Härle zuletzt und abschließend die Perspektive der Opfer böser Handlungen. Die Allerlösungslehre wirke „in unzulässiger Weise vereinfachend und defizitär“, was den „Schmerz über das ungelebte Leben der Opfer“ anbelange. Sie gebe jedenfalls in ihrer Normalform – dem Schmerz über die verschmähte oder verratene Liebe und über das zerstörte oder beschädigte Leben keinen (angemessenen) Raum. Und damit kann sie wider Willen den Eindruck erwecken, als sei diese Liebe doch nichts unendlich Kostbares, sondern eher eine Selbstverständlichkeit.230
226 Vgl. aaO. 616 f., Zitat 617. 227 Vgl. aaO. 618 f. 228 AaO. 620. 229 Vgl. aaO. 624–626. 230 AaO. 626. Dieselben Argumente wie Härle wägt auch Ulrich H. J. Körtner ab. Vgl. Körtner, Die letzten Dinge, 232–241. Er tendiert etwas stärker zur Allerlösungslehre: „Keinesfalls ist eine Allerlösung zu behaupten, bei der die Mörder ein zweites Mal und endgültig über ihre Opfer triumphieren. Vielmehr ist als letzte Konsequenz der Lehre von der Rechtfertigung des Sünders allein durch den Glauben und allein durch Gnade um Christi willen darauf zu hoffen, dass Gott im Gericht den Sünder endgültig von der Sünde scheidet, so dass das Böse und die Sünde endgültig verworfen, überwunden und vernichtet werden, der Sünder aber unverdientermaßen am ewigen Leben Gottes teilhaben darf […] Dass Gott am Ende alles in allem sei und keiner der Lebenden und der Toten verloren geht, bleibt aber ein Hoffnungssatz, der ganz auf den Recht-
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Soweit die Darstellung Härles. Die in der neuzeitlichen Theologie üblicherweise reflektierten Argumente sind fast vollständig zu Wort gekommen. Allerdings fällt auf, dass Härle der Allerlösungslehre nicht wirklich gerecht wird. Denn in ihrer „Normalform“ verleugnet diese das Leid der Opfer keinesfalls. Die Allerlösungslehre bedeutet kein „Schwamm drüber“ über das gelebte Leben. Dies gilt spätestens seit der Wiederentdeckung der Apokatastasis durch die radikalen Pietisten, voran die englische Mystikerin Jane Lead und die gelehrten Separatisten im deutschen Pietismus, wie Johann Wilhelm Petersen und Gottfried Arnold.231 Nach Jane Lead werden die Toten in verschiedene Regionen des Jenseits gebracht, wo manche unter großem Jammer auf ihr irdisches Leben zurückblicken und sich selbst Vorwürfe machen, dass sie zu Lebzeiten die erlösende Liebe nicht angenommen haben. Lead sah in ihren Visionen aber, dass Christus auch für diese Personen bei seinem Vater eintrete, so dass sie zu gegebener Zeit erlöst würden.232 Im Rahmen dieser Jenseitsvorstellung kommt in den Tätern der Schmerz über das Leid, das sie ihren Opfern angetan haben, auf jeden Fall nicht zu kurz. Von Seiten der Opfer wäre auch zu fragen, ob sie denn als solche, die ihren Tätern den Hass ewig nachtragen, überhaupt versöhnt im Reich Gottes existieren könnten. Schon im 17. Jahrhundert begründete der anglikanische Bischof George Rust philologisch die Interpretation des biblischen Wortes Aion/Äon, wonach es nicht endlose Zeiten, sondern lange, aber endliche Zeiträume bezeichne.233 Im 19. Jahrhundert führte Willibald Beyschlag (1823–1900), Professor für Neues Testament in Halle, exegetisch aus, dass es nach neutestamentlicher Lehre sehr wohl ein strenges eschatisches Gericht gebe, mit abgestuften Strafen, aber ohne endlose Höllenstrafe.234 Anders als bei anderen dogmatischen Themen fällt es auf, dass eine allgemein angenommene Basis für die Entwicklung der Glaubensinhalte bezüglich des Ausgangs des Gerichtes zu fehlen scheint. Während es etwa bei der Schöpfungslehre einen Kanon von einschlägigen Bibelstellen gibt, deren Auslegung allenfalls in Detailfragen strittig ist und die von der systematischen Theologie zur weiteren Bearbeitung aufgenommen werden können, fehlt ein entsprechender common sense bei der Eschatologie. Zwar könnte man die neutestamentlichen Texte, die fertigungsglauben setzt, ohne Gott in irgendeiner Weise sein Tun und Urteil vorschreiben zu wollen.“ (AaO. 240 f.). Gegen den Vorbehalt, die Allerlösung nur zu erhoffen und nicht zu lehren, um der Souveränität Gottes nicht zu nahe zu treten, spricht sich wiederum Härle aus. Allerdings gebe es andere, vermutlich exegetische Gründe für ein bloßes Hoffen. Vgl. Härle, Dogmatik, 626; 628. 231 In Württemberg wurde diese Normalform der Apokatastasis auch in der universitären Theologie hoffähig (Christian Eberhard Weismann, Johann Albrecht Bengel, Friedrich Oetinger). Vgl. J. Weinhardt, Heilung, 86–94; ders. Weismann, 99–101. 232 Vgl. J. Weinhardt, Heilung, 88. 233 Vgl. aaO. 86. 234 Vgl. aaO. 98–101.
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im Sinne der Allerlösung interpretiert werden könnten, leicht aufzählen235 – aber gerade ihre Interpretation ist unter den Exegeten höchst umstritten. Interessanterweise beziehen sich die Bibelwissenschaftler bei diesem Thema aber viel stärker kritisch auf dogmatische Positionen als es sonst der Fall ist. Zur Illustration dieser misslichen Situation beziehen wir uns im Folgenden auf eine Auswahl neuerer exegetischer Studien zur Gerichtsthematik im Allgemeinen und über mögliche Allerlösungsvorstellungen im Besonderen. Vollständigkeit ist dabei nicht beabsichtigt. Durch die Heranziehung weiterer Untersuchungen würde die Problematik sich nicht weiter klären lassen, sondern höchstens noch unüberschaubarer werden. Noch kürzer als in dem folgenden Abschnitt lässt sich das Thema jedoch nicht abhandeln. Denn es sollen hier nicht nur die unterschiedlichen exegetischen Positionen beschrieben werden. Noch wichtiger erscheint die Veranschaulichung der Tatsache, dass viele Exegeten sich bei der Texterklärung unvermittelt auf dogmatische oder theologiegeschichtliche Kategorien beziehen, so dass es augenscheinlich werden kann, wie auch diese Exegese unbewusst von dogmatischen Vorstellungen geleitet ist. Um dies dem Leser nachvollziehbar zu machen, ist eine gewisse Ausführlichkeit der Referate notwendig. 5.3.3.5.2 Die möglichen Ausgänge des Gerichts aus exegetischer Perspektive Wir beginnen den Überblick bei den synoptischen Evangelien, um der verschiedenen Rekonstruktionen der jesuanischen Eschatologie ansichtig zu werden. In seiner 1990 erschienenen Habilitationsschrift stellt Marius Reiser fest, das eschatologische Gericht sei „ein Thema, das die theologische Forschung ebenso wie die kirchliche Verkündigung seit langem vernachlässigt und verdrängt“ habe.236 Es gebe im 20. Jahrhundert keine Monographie zu Jesu Gerichtspredigt, und in manchen umfassenden Jesus-Darstellungen werde zwar seine Reich-Gottes-Predigt vorgestellt, jedoch ohne ein eigenes Kapitel zu seiner Gerichtsvorstellung. Um Jesu Gerichtspredigt herauszuarbeiten, geht Reiser zunächst ausführlich auf die eschatologischen Konzeptionen des Frühjudentums ein.237 Vor dem Hintergrund der hier erarbeiteten Kategorien entsteht durch die Exegese von elf synoptischen Texten folgendes Profil der Gerichtsverkündigung Jesu: 235 Es handelt sich dabei vorwiegend um paulinische und deuteropaulinische Stellen wie 1 Kor 15,20–28; 2 Kor 5,18–22; Röm 5,12–21; 11,25–36; 1 Tim 2,3 f.; Eph 1,7–14; Kol 1,15–20, aber auch andere wie 1 Ptr,3,18–20; 4,6. 236 Reiser, Gerichtspredigt, III. 237 AaO. 1–182 behandelt Reiser späte Texte des Alten Testaments (Propheten, Jes 65 f., Psalmen, Daniel, Weisheit) sowie die Psalmen Salomos, Henoch, Jubiläenbuch, ausgewählte Qumran-Schriften, das Testament Moses, die Patriarchentestamente, die Sybillinischen Bücher, den Liber Antiquitatum Biblicum, 4. Esra, das Testament Abrahams, die tannaitische Eschatologie und schließlich die Verkündigung Johannes des Täufers.
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Erstens, die synoptische Tradition ist sehr stark von Gerichtsaussagen geprägt (35 % von Q entfallen auf dieses Thema, 22 % des Redegutes in Markus, 64 % des Redeguts im matthäischen Sondergut und 28 % im lukanischen).238 Zweitens, die Gerichtspredigt Jesu zeigt ein „erstaunlich klares und konsistentes Bild“. Sie wendet sich an das Volk als Ganzes und an den Einzelnen. Allen droht das eschatische Verderben, daher verlangt Jesus von allen die Umkehr. Diese besteht in der Annahme seiner Botschaft und dem bereitwilligen Tun seiner Worte.239 Drittens, in manchen Logien240 stellt Jesus Israel und die Heiden in provozierender Weise gegenüber. Er mutet seinen Zuhörern die Vorstellung zu, dass im Reich Gottes möglicherweise das erwählte Volk Israel verstoßen sein wird und nur Heiden das Heil erlangen. Aber diese Drohworte seien „nicht als Vorhersage und Enthüllung eines unabänderlichen Fatums zu verstehen, sondern als ernste Warnungen, die Israel aufrütteln und zur Besinnung rufen sollen.“241 Daher enthalten diese Logien auch keine „Verheißung für die Heiden“, obwohl in dem Wort von den Tischgenossen Abrahams das Motiv der Völkerwallfahrt zum Zion verwendet werde. Über das Heil der Heiden ist in diesen Worten weder positiv noch negativ etwas gesagt. Freilich genügte ein Wechsel der Adressaten, um aus der Warnung für Israel eine Verheißung für die Heiden zu machen. Dieser Wechsel der Adressaten ist aber bereits in den Evangelien vollzogen. Sowohl Matthäus als auch Lukas zeigen durch den Kontext, in den sie unser Wort eingefügt haben, daß sie es als endgültiges Urteil über Israel und Verheißung für die Heiden betrachten.242
Viertens, Jesu Bilder und Bezeichnungen für das eschatologische Gericht sind traditionell. Er beschreibt es als ein forensisches Geschehen und als Rechenschaftsablegung, aber auch metaphorisch als Ernte. Während jedoch die Ernte im Alten Testament ein Bild für das vernichtende Strafgericht ist, steht sie bei Jesus, dem Täufer und in einigen frühjüdischen Schriften „für das eschatologische Geschehen insgesamt“ und umgreift beide Aspekte dieses Geschehens, Gericht und Heil. Den Aspekt des Heils stellt Jesus bei diesem Bild sogar in den Vordergrund. Er verwendet aber auch herkömmliche Begriffe für die Gerichtsvollstreckung bzw. für das Strafgericht wie „Folter“, „Umkommen“, „In die Scheol hinabgestürzt werden“ und andere.243 238 Vgl. aaO. 293 f. 239 AaO. 295 f. 240 Dies sind vor allem: Das Doppelwort von der Südkönigin und den Niniviten (Mt 12,41 f./ Lk 11,31f), der Wehruf über die galiläischen Städte (Mt 11,21–24/Lk 10,13–15), das Wort von den Tischgenossen Abrahams (Mt 8,11 f./Lk 13,28 f.) und die Parabel von der vergeblichen Einladung zum Festmahl (Lk 14,16–24/Mt 22,2–14), die aaO. 192–231 ausgelegt werden. 241 AaO. 296. 242 AaO. 297. 243 AaO. 298.
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Fünftens, bei allen Gerichtsworten bezieht sich Jesus auf alttestamentliche Aussagen, aber oft in ganz anderer Weise als die frühjüdischen Schriften. Während sich beispielsweise die Rabbinen für das Motiv des eschatologischen Mahls auf Ps 23,5 und Jes 65,13 beriefen, greift Jesus auf Jes 25,6 zurück. Dort wird dieses Mahl nicht Israel allein, sondern ‚allen Völkern‘ verheißen. Eine solche Vorstellung paßte in keine der eschatologischen Konzeptionen des Frühjudentums.
Dieser Befund steht in einer gewissen Spannung zu Raisers Beurteilung unter Punkt vier. Aber auch jetzt weist er die mit der Zionswallfahrt der Völker angesprochene Universalisierung der Heilshoffnung kurzerhand zurück: Jesus habe zwar sogar den Gedanken gewagt, dass die Heidenvölker ohne die Israeliten am eschatischen Mahl teilnähmen. Jedoch: „Diesen Gedanken hat er freilich nur ausgesprochen, damit er nicht wahr werde.“244 Schon hier stellt sich dem Leser die Frage, welche angesichts anderer exegetischer Studien noch des Öfteren auftauchen wird: Muss man den Heilszugang für die Völker insgesamt verneinen, wenn man am Heil für ganz Israel festhalten möchte?245 Sechstens, Jesus nennt den Richter nirgends ausdrücklich, so dass man annehmen muss, dass er selbstverständlich Gott in dieser Funktion sieht. „Doch kam es Jesus im Hinblick auf den Vorgang des eschatologischen Gerichts ebensowenig wie dem Frühjudentum auf eine logisch stimmige Konzeption an. So konnte er den Zwölfen den Beisitz beim Jüngsten Gericht verheißen, ohne seine eigene Rolle dabei mitzudenken.“246 Siebtens, die Umkehr, die alleine vor dem eschatischen Gericht rettet, besteht in der Hinwendung zur Lehre Jesu, in welcher die Tora überhaupt erst zur Geltung gebracht wird. Damit zeigt sich achtens bei allen sonstigen Unterschieden eine Analogie zwischen Jesus und dem Lehrer der Gerechtigkeit von Qumran.247 Neuntens, zwischen Johannes dem Täufer und Jesus bestehen zunächst viele Gemeinsamkeiten. Beide wenden sich ausschließlich an Israel und „deuten die ewige Verdammnis mit einer Anspielung auf Jes 66,24 an“.248 Johannes will inner 244 AaO. 300. 245 Dieselbe Frage stellt sich bei der Auslegung von Röm 9–11 durch Wengst, vgl. u. 309 f. 246 Reiser, Gerichtspredigt, 301. Vgl. de Boer, Death 88: „Jewish apocalyptic literature is not noted for its systematic consistency“. 247 Vgl. Reiser, Gerichtspredigt, 301 f. 248 AaO. 303. Im Kontext von Jes 66,24, nämlich in den Versen 18–24 (dem Ende des Jesaja- Buches) ist das heilsvolle Handeln Gottes zugunsten der Heidenvölker aber explizit entfaltet: „Ich aber komme, um alle Völker und alle Sprachen zu versammeln. Sie werden kommen und meine Herrlichkeit schauen. Ich werde an ihnen ein Zeichen wirken. Einige aus ihnen, die entronnen sind, sende ich zu den Völkern […], zu den fernsten Gestaden, zu denen noch keine Kunde von mir gedrungen ist und die meine Herrlichkeit noch nicht geschaut haben. Sie werden unter den Völkern meine Herrlichkeit verkünden […] Neumond um Neumond und Sabbat um Sabbat wird alles Fleisch kommen, um anzubeten vor meinem Angesicht, Spruch Jahwes.“
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halb Israels den „Rest“ sammeln, Jesus scheint den Gedanken an ganz Israel nicht aufgegeben zu haben. Als er akzeptieren musste, dass ein großer Teil des Volkes sich seinem Umkehrruf verschloss, habe er sich entschlossen, „seinem Tod nicht nur bewußt entgegenzugehen, sondern ihn als ‚Lösegeld für viele‘, d. h. für den ungläubigen Teil Israels, zu verstehen“.249 Beide treten als Propheten auf, die wie der Lehrer der Gerechtigkeit davon überzeugt sind, dass durch ihre Sendung die eschatologische Scheidung vollzogen wird. Sie wirken durch mündliche Verkündigung und nicht durch apokalyptische Schriftstellerei. Ihre Predigt unterstützen sie durch Handlungen und Zeichen – Johannes tauft hinsichtlich des kommenden Gerichts, Jesus aber heilt als Vorwegnahme des kommenden Heils.250 Allerdings dürfe man diesen Unterschied nicht wie Jürgen Becker so darstellen, daß Jesus im Gegensatz zum Täufer die Heilsmöglichkeit ausdrücklich zur Sprache bringe und das drohende Gericht nicht mehr als ‚unabwendbar und ausweglos‘ darstelle […] Diese Bedeutung wird weder der Botschaft noch dem Tun des Täufers gerecht. Der Täufer stellt ja das Gericht durchaus nicht als „ausweglos“ dar, im Gegenteil, mit der Taufe bietet er gerade einen ‚Ausweg‘ dar.
Auch Helmut Merklein bestimme das Verhältnis der Gerichts- und Heilspredigt bei den beiden jüdischen Propheten nicht präzise, wenn er schreibt, dass Johannes das Gericht, Jesus hingegen das Heil in apodiktischer, unbedingter Weise angekündigt habe.251 Vielmehr sei die Dialektik von Heil und Gericht bzw. Verdammnis […] unaufhebbar; aber man kann sie von verschiedenen Seiten angehen. Der Täufer sagt: Wer dem Gericht entrinnt, gelangt ins Heil. Jesus sagt: Wer das Heil verwirft, verfällt dem Gericht. Gericht und Heil sind zwei Seiten einer Medaille. Der Täufer hält dem Volk die Gerichtsseite vor, Jesus die Heilsseite; aber beide wissen, was auf der anderen Seite ist, und machen auch keinen Hehl daraus.252
Allerdings motiviere Johannes seine Predigt lediglich durch die Angst vor dem Gericht, während Jesus zuerst die Hoffnung auf das ewige Heil in seinen Zuhörern wecke und die Umkehr als Konsequenz dieser Hoffnung erwarte.253 Zehntens, Jesus teile die frühjüdische Eschatologie mit ihrer Erwartung von Heil und Gericht, und wie in den meisten frühjüdischen Texten sei auch bei Jesus das Heil des Gottesreiches grundsätzlich nicht überweltlich-transzendent, sondern diesseitig-irdisch gedacht.254 Demnach dürfte es bei Jesus g rundsätzlich 249 AaO. 304. 250 Vgl. aaO. 305. 251 AaO. 305 f. 252 AaO. 305. 253 Vgl. aaO. 306. 254 Vgl. aaO. 307.
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keine Jenseitseschatologie geben – wo etwa körperunabhängige Seelen schon nach dem irdischen Tod an transzendenten Orten untergebracht werden müssen –, sondern lediglich eine geschichtliche Eschatologie.255 Diese Aussage wird aber von Reiser unter Punkt zwölf noch relativiert. Elftens weist der Autor darauf hin, dass er die Gerichtsvorstellung Jesu lediglich anhand einiger ausgewählter Logien und Parabeln entwickelt habe, „deren Authentizität sich als unbestritten oder zumindest schwer bestreitbar erwiesen“ habe.256 Diese Behauptung wird mit der Darstellung der folgenden Untersuchungen korreliert werden müssen. Zwölftens verwende Jesus die frühjüdischen Vorstellungen sowohl von einem forensischen als auch von einem Straf- oder Vernichtungsgericht, und es finden sich bei ihm auch beide eschatologischen Konzeptionen des Frühjudentums, die geschichtliche und die Jenseitseschatologie. Ob Jesus ein Apokalyptiker sei, hänge davon ab, wie man diesen schillernden Begriff gebrauche. Verstehe man unter Apokalyptik „hauptsächlich Jenseitsspekulation und Vorausberechnung des Endes“, so müsse die Antwort „Nein“ lauten. Begreife man darunter aber die spezifische, aus der prophetischen Eschatologie hervorgegangen Eschatologie des Frühjudentums, dann sei auch Jesus ein Apokalyptiker. Dreizehntens, eine Eigentümlichkeit der jesuanischen Eschatologie liege darin, dass sie nicht von Rachsucht und Hass gegen die Sünder geprägt sei. Jesus rufe die Sünder alleine aus Liebe zur Umkehr auf.257 Vierzehntens, das Gerichtsthema gehöre von Anfang an zu Jesu prophetischer Sendung. Er habe damit nicht nur die Predigt des Täufers fortgesetzt. Ferner sei die Gerichtsverkündigung nicht nur der sekundäre Reflex auf die Ablehnung seiner Botschaft in weiten Teilen seines Volkes, auch wenn Jesus aufgrund dieser Erfahrungen den Gerichtsgedanken stärker betont haben könnte.258 1996 erschien Werner Zagers Habilitationsschrift über das Markusevangelium und die Logienquelle unter dem Titel Gottesherrschaft und Endgericht in der Verkündigung Jesu. Er motiviert seine Untersuchung unter anderem mit einem Verweis auf systematische Theologen, welche die Aussagen Jesu über das Endgericht nicht richtig würdigen, insbesondere den Aspekt der „Verwerfung der Menschen, die im Endgericht nicht bestehen“.259 Dabei nennt er Karl Barth, Jürgen Moltmann, Eberhard Jüngel, Walter Kreck, Hartmut Rosenau und Christine Janowski als Vertreter der Allerlösungslehre.260 255 Vgl. aaO. 3 f. 256 Vgl. aaO. 307 f. 257 Vgl. aaO. 312 f. 258 Vgl. aaO. 313 f. 259 Zager, Endgericht, 1. 260 Vgl. aaO. 1–3. Im Gegensatz zu ihnen werden Gerhard Ebeling, Wolfhart Pannenberg, Edmund Schlinck und Oswald Bayer den Endgerichtsaussagen des Neuen Testaments eher gerecht.
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Im Gegensatz zu Reiser und anderen, weiter unten zu besprechender Autoren, legt Zager sehr enge Kriterien für die Echtheit von Jesus zugeschriebenen Texten an. Bei seiner Durchsicht der Gleichnisse, Logien und prophetischen bzw. apokalyptischen Worte im Markusevangelium und ihrer Parallelen kommt Zager zu dem Schluss, dass nur drei Endgerichtsaussagen mit einiger Wahrscheinlichkeit auf den historischen Jesus zurückgeführt werden können261. Es sind dies das Logion vom Kamel und Nadelöhr (Mk 10,25 par),262 die Mahnworte über die von menschlichen Körpergliedern ausgehenden Verführungen (Mk 9,43.45.47 f. par)263 und das prophetische Wort von den Ersten und Letzten (Mk 10,31 par)264. Damit hätte Jesus also ein Endgericht verkündigt, die Reichen vom Gottesreich ausgeschlossen (es sei denn, sie geben ihren Reichtum auf), und den eschatischen Strafort als Feuerhölle beschrieben.265 Interessant ist zu sehen, dass Zager, der gegen die Lehre von der Allerlösung argumentiert, weil sie sich in Jesu Verkündigung nicht wiederfinden lasse, doch auch seine eigene historische Rekonstruktion nicht in systematische Theologie überführen möchte. Denn die Vorstellungen einer Feuerhölle, eines nahe bevorstehenden Endgerichts sowie eines in die Geschichte eingreifenden Gottes gehören „einem vergangenen mythischen Weltbild an, das nicht mehr das unsrige ist“.266 Wolle man theologisch verantwortlich reden, müsse man daher das Gericht als „individuelles, postmortales Zur-Verantwortung-Ziehen des einzelnen Menschen“ verstehen. Bei diesem Prozess komme es darauf an, ob der Mensch sich als Sünder bekannt und Gottes Vergebung angenommen und ob er seine Mitmenschen selbst barmherzig behandelt habe. Die Erwartung des Gerichts „stellt den einzelnen Menschen also sehr deutlich in die Verantwortung für sein Denken und Verhalten, aus der ihn niemand und nichts entlassen kann.“267 Dies sei notwendig, damit „der Mörder über sein Opfer nicht endgültig triumphieren möge“268. Der Ausgang des Gerichtes dürfe aber auch nicht die Feuerhölle sein, denn „die Vorstellung einer endlosen Pein verträgt sich nicht mit der Botschaft von der Liebe als Gottes Wesen“. Daher plädiert Zager für die annihilatio als eschatische Strafe.269 Zager meint also einerseits, die Konturen der eschatologischen Verkündigung des historischen Jesus erheben zu können, hält sie aber systematisch-theologisch für irrelevant. Würde man sich nicht so leicht über die Aussagen Jesu hinwegsetzen wollen, könnte man sich fragen, ob er mit der Androhung der ewigen Ver 261 Vgl. aaO. 310. 262 Vgl. aaO. 193–200. 263 Vgl. aaO. 210–223. 264 Vgl. aaO. 238–245. 265 Vgl. aaO. 308, 313, 316. 266 Zager, Endgericht, 317. 267 AaO. 318. 268 AaO. 319 mit einem Wort von Max Horkheimer. 269 AaO. 318.
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dammnis ein unbedingt eintreffendes Zukunftsereignis prognostizierte oder lediglich paränetische Warnungen aussprach – so etwa, wie Reiser den von Jesus angedrohten Heilsausschluss Israels interpretierte. Genau diese Fragestellung verfolgt der nächste hier vorzustellende Exeget. 1999 veröffentlichte Christian Riniker seine leider unvollendet gebliebene Dissertation über Die Gerichtsverkündigung Jesu. Obwohl er nun schon auf eine Reihe von Jesus-Darstellungen zurückgreifen konnte, in denen der Gerichtsgedanke berücksichtigt worden war,270 sah er sich dazu gezwungen, ein vorherrschendes Jesus-Bild zu kritisieren, das dem Nazarener jegliche apokalyptische, zukunftsbezogene und drohende Gerichtsmotive abspricht.271 Als Prämisse der klassischen liberalen Exegese macht er die Überzeugung aus, dass die synoptische Gerichtsverkündigung und die dahinter erkannte jüdische Apokalyptik ein problematisches, wenn nicht eigentlich ein negatives Traditionsgut sei, von Wissenschaft und Technik widerlegt und durch den Fortschritt der Menschheit überflüssig. Im Grunde sind die Vorstellungen von einem überweltlichen Reich, das mit der Parusie Jesu als Menschensohn, den sein Kommen begleitenden Katastrophen und seinem universalen Gericht anbricht, unmöglich, absurd und geschmacklos.272
Dem gegenüber kommt Riniker zu dem Schluss, dass man Jesus als den Apokalyptiker akzeptieren müsse, „der von dem seit Grundlegung der Welt den Erwählten bereiteten Reich und den ewigen Höllenstrafen spricht.“273 Zur Profilierung der jesuanischen Gerichtspredigt stellt Riniker die eschatologischen Texte aus den Synoptikern in vier Gruppen zusammen. Dabei präparierte er wieder eine breitere Basis von authentischen Texten als Zager. Die Schnittmenge mit Reisers Texten ist sehr groß. Zur ersten Textgruppe, den „absoluten Gerichtsankündigungen“274 gehören Lk 17,34 f. par., Lk 17,37 par. und Mt 8,11 f. par. Bei der Exegese des zuletzt genannten Textes („Viele werden von Osten und von Westen kommen …“) kommt er zu dem Ergebnis: Jesus ist ein Prophet des Gerichtes gewesen, wie seit den Tagen der alttestamentlichen Gerichtspropheten, an die Jesus sich anschliesst, offenbar keiner mehr aufgestanden ist in Israel, selbst nicht der Täufer […] Jesus […] spricht seine vergleichbare Ankündigung als pure Drohung aus, ohne Begründung, wie das im Gleichnis vom grossen Mahl immerhin noch geschieht, und ohne jeglichen einschränkenden, mahnenden Ton.275 270 Vgl. Riniker, Gerichtsverkündigung, 30–37. 271 Vgl. aaO. 13, 15 f. 272 AaO. 22. 273 AaO. 454. 274 Vgl. aaO. 63–94. 275 AaO. 91.
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Die Logien dieser Textgruppe seien „gleichsam Schläge, die vor den Kopf stossen und in extremer Weise nicht systematisierbar“ seien. Darin liege auch ihre Problematik. Denn sie seien mit den anderen Themen von Jesu Verkündigung nicht verbunden, etwa mit der Heilspredigt. Daher seien sie – für sich alleine genommen – auch nur schwer deutbar.276 In einer zweiten Textgruppe stellt Riniker solche Logien zusammen, die das Endgericht mit defizientem menschlichen Verhalten in Zusammenhang bringen.277 Dazu gehören die Wehrufe gegen die Pharisäer und Schriftgelehrten (Lk 11,39–52 par.). Nach Riniker sucht Jesus mit diesen Aussagen „bewusst die Auseinandersetzung mit den Gegnern“. Diese Wehrufe richten sich gegen ein gegenwärtiges Missverhalten, „das vielleicht (von einzelnen?) noch geändert werden“ könne.278 Daher müssen sie „als letzte, vom Gericht her motivierte Umkehrrufe interpretiert werden“.279 Dasselbe gelte für die gesamte Logiengruppe: Die Gerichtsworte, die wir in diesem Abschnitt behandelt haben, waren zu einem grossen Teil und in einem hohen Mass als Mahnungen zur Umkehr zu verstehen […] In der Gerichtsverkündigung Jesu geht es also auch nicht darum, Menschen abzuschreiben. Auch dort, wo das nicht ausdrücklich gesagt wird, ist sie meist nicht definitive Verurteilung, sondern Aufrüttelung und Provokation, die verunsichern und eine falsche Heilsgewissheit verscheuchen, dann aber auch weiterführen will.280
Die Parusiegleichnisse sind die dritte Gruppe der Gerichtstexte, die von Jesus herstammen. Sie bilden innerhalb der Gleichnisse die größte Untergruppe.281 Auch in ihnen zeige sich Jesus als „Umkehrprediger“.282 Schließlich behandelt Riniker als vierte Textgruppe solche Logien, bei denen das Gericht nicht nur vom ethischen Verhalten der zu Richtenden abhängt, sondern von ihrer Stellung zu Jesus als dem Menschensohn.283 Hier bestreitet er Bultmanns Echtheitskriterium, wonach alle Logien, in denen sich Jesus explizit einen Würdetitel zuschreibe, unecht seien. Vielmehr lege es der exegetische Befund – vor allem das Vorliegen entsprechender Logien in allen Überlieferungsschichten – nahe, dass hier „gerade ein Spezifikum der Gerichtspredigt Jesu liegen“ könnte.284 276 AaO. 93. 277 Vgl. aaO. 95–196. 278 AaO. 131. 279 AaO. 132. 280 AaO. 195 f. 281 Vgl. aaO. (197–271) 270. 282 AaO. 271. Bei der Interpretation von Mt 25,14–30 par. beschreibt Riniker die paränetische Funktion der Parusiegleichnisse ausführlich: „Den Adressaten wird eine Orientierungsund Verhaltensänderung nahegelegt und zugemutet, solange es Zeit ist. Es geht um einen Ruf zur Umkehr im Sinne Jesu“. 283 Vgl. aaO. 273–460. 284 AaO. 273 f. Vgl. auch die Kritik an Bultmann und Vielhauer aaO. 24–27, 355 f.; 361 u.ö. Zur Kriterienfrage in der neutestamentlichen Exegese vgl. Theißen/Winter, Kriterienfrage.
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Auch bei manchen dieser Texte empfindet Riniker, dass sie noch Umkehrrufe darstellen könnten.285 Im Text der Wehrufe über die galiläischen Städte (Mt 11,21–24 par.) allerdings treten die Argumente für eine paränetische Deutung – der intensiv anredende Charakter und das provokative Element der Umkehrung gängiger Massstäbe – gegenüber seinem doch sehr abschliessenden und persönlich betroffenen Charakter eher zurück. Der Ton ist nicht mehr sehr hoffnungsvoll, wenn auf die vielen Wundertaten verwiesen wird, die Jesus – umsonst – in den galiläischen Städten vollbracht hat.286
Auch im Gleichnis von den auf dem Markplatz spielenden Kindern (Lk 7,31–34 par.) könne der „umfassend drohende Ton“ bedeuten, „dass ein paränetisches Verständnis […] fast keinen Spielraum mehr hat.“287 Zusammenfassend beurteilt Riniker Jesu Gerichtspredigt so, dass er in auffälliger Weise das Gericht mit seinem Werk, seiner Person und seiner Sendung verknüpft habe, anders als im Judentum, wo das einzige Kriterium das Tun des Gesetzes gewesen sei (abgesehen von der Randgruppe in Qumran). Sowohl Worte vom kommenden als auch vom gegenwärtigen Menschensohn gehen auf Jesus zurück.288 Bei den Gerichtsworten „mit einem direkten Bezug auf Jesus trete „die Dimension des Umkehrrufes, der angezielten Verhaltensänderung […] spürbar zurück“. Hier habe eine historische Entwicklung in Jesu Verkündigung stattge funden, die mit der Zurückweisung seiner Botschaft zusammenhänge.289 Die Grenze seiner Interpretation von Jesu Gerichtspredigt bezeichnet Riniker schließlich dadurch, dass auf der Materialbasis der Gerichtstexte alleine keine „Hermeneutik der Gerichtsworte“ entwickelt werden könne. „Aussagen, die die Gerichtsverkündigung Jesu ihrerseits regulieren und limitieren können, lassen sich nicht aus diesen Worten selbst ableiten.“290 Während Zager von nur wenigen authentischen Gerichtsworten Jesu ausging, Reiser und Riniker hingegen einen mittleren Bestand von solchen Texten historisch-kritisch zu plausibilisieren versuchten, schreibt erstaunlicherweise Christian Stettler in seiner 2011 erschienenen Studie über Das letzte Gericht fast das gesamte synoptische Traditionsgut dem historischen Jesus zu.291 Es kommt dabei ein rechtfertigungstheologisch sehr diffuses Bild heraus, was das eschatische Gericht anbelangt. Einerseits sei „für Jesus […] Gottes Gnade auf jeden Fall
285 Vgl. Riniker, Gerichtsverkündigung, 295 (zu Luk 11,31 par.). 286 AaO. 319. 287 AaO. 391. 288 AaO. 457. 289 AaO. 457 f., Hervorhebungen im Original. 290 AaO. 459. 291 Vgl. Stettler, Gericht, 198–268.
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vorrangig“.292 Andererseits werde jeder im Endgericht so beurteilt, wie er andere behandelt habe.293 Der Maßstab des Gerichts werde nicht deutlich. Auf jeden Fall gelte: „Beim Endgericht gibt es keine Umkehrmöglichkeit mehr, die Türen sind dann geschlossen“.294 Es scheint also, dass der Inhalt von Jesu Gerichtsverkündigung exegetisch (noch) nicht definitiv erhoben werden kann. Dass er von einem eschatischen Gericht gesprochen hat, dürfte inzwischen wohl nicht mehr zu bezweifeln sein.295 Strittig sind jedoch die Fragen: Welche Gerichtsworte dürfen als authentisch gelten? Sind die Strafandrohungen apodiktisch oder paränetisch zu verstehen? Hat Jesus nur sein eigenes Volk Israel im Blick oder haben auch die Fremdvölker einen Platz in seinen eschatischen Vorstellungen? Wie man dogmatisch mit diesen ungelösten Frage umzugehen hat, wird uns noch weiter unten beschäftigen. Zunächst wenden wir uns jedoch noch der paulinischen Eschatologie zu. Bei Paulus sind die Fragen der Authentizität leichter zu klären als bei der Jesus- Überlieferung, aber die Interpretationsprobleme der paulinischen Eschatologie sind nicht weniger gravierend. Auch hier gibt es keinen Konsens in der Forschung. Uns interessieren im vorliegenden Zusammenhang ebenfalls vor allem die Gerichtsvorstellungen des Apostels, insbesondere die Belege für eine nichtdualistische Eschatologie. Als solche kommen vor allem Phil 2,9–11, 1 Kor 15, Röm 5 und Röm 9–11 in Frage. Analog zur jesuanischen Eschatologie stellen wir im Folgenden einige Studien zu diesem Thema in Auswahl vor. Sie sind fast alle mehr oder weniger stark von der Debatte für und wider die New Perspective on Paul beeinflusst. Auf diese Diskussion gehen wir aber nicht weiter ein.296 Martinus C. de Boer setzt sich in seiner Untersuchung von 1988 über The Defeat of Death. Apocalyptic Eschatology in 1 Corinthians 15 and Romans 5 besonders mit Ernst Käsemann und Johan Christiaan Beker auseinander. Er untersucht die kosmologischen (von übernatürlichen Mächten herrührenden) Implikationen der jüdischen und paulinischen Eschatologie, ihre räumlichen und zeitlichen Vorstellungshorizonte und schließlich die ontologischen Transformationen, die mit ihr verbunden sind.297 Dabei unterscheidet er zwei idealtypische Modelle jü 292 AaO. 251. 293 Vgl. aaO. 252. 294 AaO. 265. Willibald Beyschlag, der im 19. Jahrhundert als Vermittlungstheologe ungefähr denselben Traditionsstoff wie Stettler dem historischen Jesus zugeschrieben hat, kam bezüglich der Verschlossenheit der Türen nach dem jüngsten Gericht zu einem völlig anderen Urteil. Vgl. J. Weinhardt, Heilung, 93–100. 295 Vgl. Theißen/Merz, Der historische Jesus, 241–246. 296 Vgl. dazu etwa Bachmann, Lutherische und neue Paulusperspektive; Maschmeier, Rechtfertigung. 297 Vgl. de Boer, Defeat, 36 f.
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discher apokalyptischer Eschatologie, nämlich das kosmologische und das forensische Modell.298 Die kosmologische Apokalyptik liege in relativer Reinform im äthiopischen Henochbuch (in Kapitel 1–36, dem Wächterbuch) vor. Nach diesem ersten apokalyptischen Modell sei die Welt unter die Gewalt von bösen transzendenten Mächten („evil, angelic powers“) geraten. Diese haben die Menschen zur Gottlosigkeit verführt. Es sei nicht in der Macht der Menschen gelegen, sich dieser Verführung zu entziehen – bis auf einen kleinen Rest von Auserwählten Gottes. Diese warten darauf, dass Gott wieder die Herrschaft über seine Schöpfung übernehme und die bösen Mächte vernichte. Deren zerstörerisches Wirken zeige sich allenthalben, besonders aber im Märtyrertod der Erwählten. Eine Auferweckung der Toten gebe es in diesem Modell nur für die getöteten Gerechten, und zwar dann, wenn Gott die Schöpfung wiederherstelle.299 Das zweite Modell, die forensische apokalyptische Eschatologie, die vor allem im syrischen Baruch-Buch in relativer Reinform erscheine, enthält keine wider göttlichen überweltlichen Mächte, oder wenn doch, dann stehen sie eher im Hintergrund. Dafür werde die menschliche Verantwortung betont, deren Kern in Willensfreiheit und individueller Entscheidungsfähigkeit bestehe. Die Menschen seien in diesem Modell nicht die Opfer der bösen Mächte, sondern sie seien durch ihre eigene freie Entscheidung zu Sündern geworden. Als Heilmittel gegen die Sünde habe Gott das Gesetz gegeben, und im Jüngsten Gericht, dem sich alle Menschen zu stellen haben, werden die Gerechten mit ewigen Leben belohnt, die in Sünde gestorbenen hingegen ewig bestraft. In diesem Modell sei also auch eine allgemeine Totenauferstehung vorgesehen.300 Wir können auf de Boers Analyse der paulinischen Texte vor dem Hintergrund jüdischer Apokalyptik nicht detailliert eingehen. Wichtig ist für unser Thema dies: Im Zusammenhang der Adam-Christus-Typologie von 1 Kor 15 und Röm 5 dürfen die Allaussagen (alle Menschen sind in/wie Adam gestorben; alle Menschen werden in/wie Jesus lebendig gemacht werden) nicht asymmetrisch interpretiert werden. Die Sünde und der Tod gehören zu den bösen Mächten, denen die Menschen zum Opfer gefallen sind. Die Auferweckung Jesu ist ein kosmisches Weltereignis („cosmic world-event“), das die ursprüngliche Schöpfungsordnung wiederherstellt. Daher sei „the resurrection of the dead […] a resurrection of all to eternal life, to complete salvation.301
298 Vgl. aaO. 85 f. 299 AaO. 85 f. 300 Vgl. aaO. 86 f. 301 AaO. 112 f. Vgl. aaO. 126: „In several ways, then, Paul is saying the same thing: the re surrection of the dead, all shall be made alive, God’s being all things among all people, – and the eschatological destruction of the last inimical cosmological power, death.“ Vgl. außerdem aaO. 137, 152.
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Den Römerbrief legt de Boer so aus, dass Paulus in Röm 1 und 2 die forensische Apokalyptik der römischen Gemeinde mit ihrem Appell an Willensfreiheit und Gesetzesgehorsam aufnehme und zuspitze. So werde deutlich, dass im forensischen Modell kein Mensch gerettet werden könne. Spätestens ab Röm 5 entfalte er dann seine eigene, kosmologische Apokalyptik.302 Sünde und Tod treten hier als persönliche, überweltliche Mächte auf, die alle Menschen überwältigt h aben.303 Der Brief an die römische Gemeinde kann nach de Boer nur heilsuniversalistisch verstanden werden. Gottes Gnade sei nicht nur ein Angebot an alle Menschen, das durch die freie Entscheidung eines jeden Individuums erst ratifiziert werden müsse: The universalism of salvation as of sin and death undercuts any remaining notion that salvation is a human achievment. If Paul’s characterization of sin and death as cosmological powers is taken seriously, one can hardly speak of God’s grace as the ‚offer‘ of salvation (like the Law in forensic apocalyptic eschatology) whose reality depends on human ‚decision‘.
Zwar unterscheide der Apostel Gläubige von Ungläubigen, Verlorene von Geretteten, aber diese Unterscheidungen seien provisorisch. Denn die Gläubigen in den Gemeinden, die Paulus gegründet habe, stellen für ihn proleptisch die Erstlingsfrüchte der eschatologischen Vollernte dar.304 If in numerous dialectical ways Paul relativizes the distinction between living and dead Christians, between living and dying, so he finally obliterates the distinction between believers and non-believers. Since death (like sin) is a cosmic power that has brought all humanity into subjection, the destruction of this power must be of cosmic scope as well. As Paul writes, ‚through one justifying act there is justification of life for all people‘ (Rom 5.18), and ‚in Christ all shall be made alive‘ (1 Cor 15.22).305
Völlig andere Vorstellungen als de Boer schreibt Timo Eskola (1998) dem Völkerapostel zu. Eskola arbeitet sich in seiner Untersuchung über Theodizee und Prädestination bei Paulus an der klassischen Linie der Prädestinationslehre ab, die von Augustin über Calvin und weiter verlief.306 Bezugnahmen zur Eschatologie sind bei diesem Thema natürlich unvermeidbar. In einem Durchgang durch das Schrifttum des zweiten Tempels entwickelt Eskola die These, dass sich für jüdische Menschen dieser Zeit das Theodizeeproblem in besondere Weise gestellt habe: Israel sei zwar das erwählte Volk, aber es 302 Vgl. aaO. 154 f. 303 Vgl. aaO. 160 f. 304 AaO. 174 f. 305 AaO. 187. 306 Vgl. Eskola, Theodicy, 2, 180–184.
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leide unter den fremden Oberherren. Gott könne vielleicht oder wolle zumindest seinem Volk jetzt nicht mehr helfen. In dieser Situation erwarten die behandelten Schriften die Lösung des Theodizeeproblems in der Zukunft: Eschatologisch werde die Gerechtigkeit Gottes sich erweisen, wenn die Feinde bestraft und Israel wiederhergestellt werde.307 Mit dieser Hoffnung seien im antiken Judentum zwei weitere Vorstellungen verbunden worden: Zum einen, die Prädestination, die darin bestehe, dass Gott bestimmt habe, die Sünder zu bestrafen. Diese Prädestination sei aber nicht deterministisch, denn die sündigen Menschen könnten umkehren und dann auch gerettet werden. Lediglich sehr schwere Frevler würden nach der Ansicht mancher zwischentestamentlicher Schriften durch Gott verstockt werden, so dass sie nicht mehr Buße tun könnten. Die zweite Vorstellung, die mit der jüdischen Theodizee verbunden war, sei der synergistische Nomismus. Instead of a deterministic double predestination we meet another kind of predestinarian theology. Salvation was united with a demand for repentance. From Sirach to the texts of Qumran the eschatological proclamation had a positive attitude towards the majority of Israelites. The hearers were almost children of God or children of Light – whatever the epithet. Without sincere repentance and obedience to the law they would not be saved, however. This was the belief of most eschatological groups of the Second Temple period.308
Mit dieser erasmianischen Theorie will Eskola die paulinische Soteriologie vergleichen, die er hauptsächlich aus dem Römerbrief darstellt. Zunächst hebt er hervor, dass Paulus schon in Röm 3,3 f. und in Röm 1,16 f. die Theodizeeproblematik berühre, was in der Wahrnehmung oft verdeckt bleibe.309 Der Tag des Zorns bekomme dann nach Röm 1,18 die Funktion zugeschrieben, diejenige Ungerechtigkeit zu beseitigen, die in der Herrschaft der Gottlosen bestehe310. Aber Paulus gehe weiter als die jüdischen Schriften der vorangegangenen Periode, indem er in seiner radikalen Anthropologie beweise, dass es unter den Menschen nur Sünder gebe. Die Prädestinationslehre spitze sich bei Paulus also so zu, dass die von Gott festgelegte Strafbestimmung für die Gottlosen alle Menschen treffe, alle einzelnen Juden und alle einzelnen Heiden.311 Was wird unter diesen Voraussetzungen aus Röm 9–11? Eskola erhebt hier eine prädestianistische Aussage als die erste These des Apostels: Israel habe nie eine Verheißung erhalten, die nicht an bestimmte Bedingungen gebunden gewesen sei. Kein Jude – auch kein Heide – habe aber die heilsnotwendigen Bedin 307 Vgl. aaO. 93 f. 308 AaO. 94. 309 Vgl. aaO. 95; 96–116. 310 Vgl. aaO. 122–124. 311 Vgl. aaO. 137.
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gungen eingehalten. Nach der zweiten These sei Gott souverän darin, jemanden zu erwählen.312 Aber die Verstockung (Röm 9,18) meine nicht, trotz des semantischen Wortgehalts, einen „actual determinism“. Paulus verwende den Ausdruck lediglich metaphorisch. In Wirklichkeit sei die Sünde der Israeliten die Ursache für ihre Verhärtung.313 In Röm 9,18–23 gehe es daher auch nicht um die doppelte Prädestination, wie in der Tradition oft behauptet werde. Weil Paulus von den anderen Schriften der zweiten Tempelperiode her verstanden werden müsse, sei sein prädestinatianischer Gedanke auch hier lediglich der, dass sündige Menschen von Gottes Zorn getroffen werden müssen.314 Und so wie die Verstockten nur durch ihre eigene Sünde ungläubig geworden seien, so seien auch die Erwählten nicht von Gott determiniert worden. Vielmehr seien sie nur diejenigen, die den Umkehrruf Gottes, der an alle ergeht, angenommen haben.315 Die dritte These in Röm 9–11 laute: Angesichts des kommenden Zornes, der für alle Menschen prädestiniert sei, weil sie Sünder sind, bestehe jetzt die Möglichkeit der Glaubensgerechtigkeit, die Gott aus Gnade anbiete – allen Menschen.316 Den Zusammenhang zwischen Vorausbestimmung (predetermination) und Erwählung erhebt Eskola dann nachträglich aus Röm 8, 28–30. Auch die hier leitenden Verben, die auf Gottes Vorauswissen, Vorausbestimmung etc. hinweisen, dürfen nicht so verstanden werden, als handle es sich um eine vorzeitige Determination Einzelner.317 Die Erwählung Gottes bestehe vielmehr darin, dass durch Gott alle Sünder, die als solche für den Zorn prädestiniert sind, zum ewigen Heil prädestiniert seien, wenn sie ihre Berufung annehmen.318 312 Vgl. aaO. 152 f. 313 AaO. 153. Entsprechend aaO. 303: „Once more, however, a note is required on the use of the term predestination. Paul’s theology of predestination is not deterministic.“ Dazu steht jedoch in Spannung, dass Eskola in den späteren Abschnitten doch eine Form von göttlichem Zwang beschreibt: „Paul’s radical soteriology is based on the idea of divine coercion. In his interpretation the history of salvation becomes a story about predestination. Predestination is God’s coercive act where the whole of humankind is imprisoned in disobedience. […] Paul’s soteriology is actually a theology of predestination. It is not merely an analogous idea with similar features. The first premise is clear: the fate of the ungodly, i. e. of all descendants of Adam, has been foreordained by God. The wages of sin is death. God is an absolute ruler who will punish sin. Paul is convinced that all sinners are predestined to damnation. Even though this belief should logically lead do a deterministic soteriology, God has in his sovereignty provided a paradoxical solution to the problem. He has revealed his saving righteousness precisely to sinners and without the law“ (aaO. 303 f.). „As a theodicy basically aims at an apology for the omnipotence and faithfulness of God, this theology makes an extraordinary theodicy. In Paul’s predestinarian soteriology divine coercion is an instrument of God’s absolute faithfulness. All humankind has been imprisoned to disobedience so that salvation could be of justification by faith“ (305). 314 Vgl. aaO. 154 f. 315 Vgl. aaO. 156. 316 Vgl. aaO. 157, 160. 317 Vgl. aaO. 166–174 318 Vgl. aaO. 176 f.
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Bedauerlicherweise ist de Boers Studie (und andere gleichsinnige) bei Eskola nicht berücksichtigt. Während de Boer die dynamische Gedankenentwicklung des Römerbriefs nachzeichnet, bricht Eskola den späteren Kapiteln die Spitzen ab, indem er die (mit de Boer zu sprechen) forensische Apokalyptik aus den frühen Kapiteln gegen sie ausspielt.319 Matthias Konradts Habilitationsschrift von 2003 ist den früheren Paulinen gewidmet. In seiner Studie zur Bedeutung und Funktion von Gerichtsaussagen im Rahmen der paulinischen Ekklesiologie und Ethik im 1 Thess und 1 Kor haben die potentiell nichtdualistischen Abschnitte im Philipper- und im Römerbrief keinen Ort. Für die von ihm behandelten Textpartien kommt Konradt zu dem Schluss, dass es bei Paulus kein kohärent ausgeführtes Gerichtsszenario gebe.320 Paulus bringe immer nur Teilaspekte zur Sprache, die einzelnen Gerichtsaussagen hingen jeweils von der rhetorischen Situation ab.321 Ein gewisses Schema zeige sich darin, dass Paulus von einem eschatischen Zorn- bzw. Vernichtungsgericht ausgehe,322 während er nur in Röm 2 von einem alle Menschen bevorstehenden Beurteilungsgericht rede.323 Mit Gerichtsaussagen sanktioniere der Apostel vor allem schwerwiegende Laster, durch welche die Grenzziehung zwischen Gemeinde und Welt aufgelöst werde. Diese „boundary markers“ schreiben vor allem „die Meidung von Unzucht als hauptsächliches ethisches Abgrenzungsmerkmal gegenüber der paganen Umwelt“ vor,324 aber auch die Teilnahme an Mahlzeiten in heidnischen Tempeln falle unter diese Kategorie.325 Speziell die Apostel und Gemeindeleiter müssen sich auf ein Einzelgerichtsverfahren gefasst machen, bei welchem überprüft werde, ob sie ihre Gemeinden erbaut oder beschädigt haben.326 Eine eindeutige Aussage zur paulinischen Gerichtsvorstellung macht Konradt in der Schlusszusammenfassung seines Buches: 319 Auch Röhser möchte in seiner Habilitationsschrift über Prädestination und Verstockung an Paulus herangetragene systematisch-theologische Vorstellungen kritisch überprüfen. Er kommt dabei auf ähnlich aporetische Ergebnisse wie Eskola. Die Theologie des Paulus beschreibt er so, dass bei diesem „von Anfang an eine Prädestinationstheologie vorliegt, welche eine spezifische, durch das göttliche Heilsangebot in Anspruch genommene menschliche ‚Entscheidungsfreiheit‘ und ‚Verantwortlichkeit‘ immer schon miteinschließt […] Gottes vorherbestimmendes Wirken bringt den Menschen samt seinem in der Rechtfertigung gnadenhaft eröffneten Eigenwirken an das göttlich festgesetzte Ziel“. Dieses Ergebnis verknüpft jedoch lediglich erasmianische mit prädestinatianischen Vorstellungen – und dies in völlig äußerlicher Weise. 320 Vgl. Konradt, Gericht, 524. 321 Vgl. aaO. 462, 514. 322 Vgl. aaO. 524 f. 323 Vgl. aaO. 465. 324 AaO. 521. 325 Vgl. aaO. 401. 326 Vgl. aaO. 253–284.
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Daß das Zorngericht über die Sünder nicht durch die Vorstellung einer endgeschichtlichen Beurteilung der Gerechten flankiert bzw. ergänzt ist, ist der Normalfall. Dem dargelegten Befund fügt sich konzeptionell schließlich nahtlos ein, daß Paulus die Auferstehung nicht als eine universale, sondern als Auferstehung allein der Christen denkt […] Die Vorstellung eines universalen Weltgerichts, das Gerechte und Sünder voneinander scheidet, erübrigt sich daher. Auferstehung bedeutet Auferstehung zum Heil.327
Damit stünde Paulus also als ein Vertreter der eschatologischen Konzeption der annihilatio vor uns. Richard H. Bell veröffentlichte 2005 seine israeltheologische Studie The Irre vocable Call of God. An Inquiry into Paul’s Theology of Israel. Anders als die meisten Autoren geht er bei diesem Thema auch auf die Frage ein, inwieweit die Heidenvölker von Gott berufen seien. Interessanterweise legt er Römer 11,32 heilspartikularistisch aus, obwohl er Paulus insgesamt für einen Heilsuniversalisten hält. Bezüglich 11,32 wendet sich Bell gegen C. H. Dodd und gegen C. K. Barrett, die in ihren Römerbriefkommentaren ausführten, dass Gott alle einzelnen Individuen der Menschheit in den Unglauben eingeschlossen, dass er aber auch alle Individuen zum Heil prädestiniert habe.328 Nach Bell hatte Paulus die Allerlösungslehre an dieser Stelle nicht im Sinn, weil Israel bezüglich der göttlichen Erwählung eine privilegierte Stellung einnehme, die am Ende von Römer 9–11 nicht eingeebnet werde.329 Den paulinischen Heilsuniversalismus sieht Bell jedoch an Stellen wie Römer 5,18 f. und Phil 2,9–11 zu Tage treten.330 Klaus Wengsts Arbeit „Freut euch, ihr Völker, mit Gottes Volk!“ Israel und die Völker als Thema des Paulus – ein Gang durch den Römerbrief (2008) zeigt noch mehr Berührungspunkte mit den Begründern der New Perspective on Paul, ohne ihnen aber in allen Punkten verpflichtet zu sein. Seine „Absage an die traditionell lutherische Zugangsweise“ steht mit der Diskussion im Zusammenhang, die an seiner Fakultät anlässlich des Synodalbeschlusses der evangelischen Kirche im Rheinland Zur Erneuerung des Verhältnisses von Christen und Juden (1980) ge 327 AaO. 526. 328 Vgl. Bell, Call, 285, 287. 329 AaO. 287: „As far as election is concerned Israel’s privileged position remains […] the gospel is for the Jew first […] Rom. 11.25–32 points to a gross inequality concerning the percentages of Jews and Gentiles who are saved and this may seem ‚unfair‘. But Paul like many other early Christians believed that human beings are in no position to point a finger of accusation at God.“ Bell übersieht, dass Paulus die Rechtlosigkeit des Menschen gegenüber seinem Schöpfer zwar in Röm 9,14.19–23 als Argument einbringt, dass er aber in Röm 11,30–32 die mit diesem Argument abgeschnittene Frage nach der Gerechtigkeit Gottes an einer gewichtigen Stelle nachreicht. 330 Vgl. aaO. 288 f.
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führt wurde. In seinem Durchgang durch Röm 9–11 begründet er als paulinische These, dass Gottes Erwählung Israels gültig bleibe.331 Dass die Juden ihren Messias mehrheitlich nicht glaubend annahmen, erkläre sich der Apostel durch eine teilweise gewalttätige Exegese der jüdischen Bibel.332 Demnach sei die Nichtannahme Jesu seitens Israels ein Element im göttlichen Heilswillen.333 Zum Heilsuniversalismus in Röm 11 macht Wengst keine eindeutigen Aussagen. Wenn Paulus Israels gegenwärtigen Unglauben als eine Voraussetzung für den Heilszugang für die Völker beschreibe und den Schluss ziehe, dass die zukünftige Vollzahl der glaubenden Juden zu noch mehr Heil für die Völker führen werde,334 so dürfe dies nicht so interpretiert werden, dass am Ende der Zeit „der letzte Mensch aus der Völkerwelt gewonnen“ sei. Paulus denke dabei lediglich „an das von Gott festgelegte Maß der Völkerrepräsentanten“.335 Außerdem sei der Glaube an das Evangelium von Jesus, dem Gesalbten, für die Juden nicht die heilsentscheidende Größe. Das Evangelium sei vielmehr zu beschreiben als eine Funktion der Erwählung in einer bestimmten Epoche der Geschichte Gottes mit seinem Volk. Und zwar hat das Evangelium die Funktion, einen Teil Israels vorübergehend zu verhärten, um damit die Völker in eine Beziehung zum Gott Israels zu bringen, die ihnen zum Segen gereicht.336
Während also gilt, dass Israel in seiner Gesamtheit unter Gottes dauerhafter Erwählung steht,337 wird aus den Heidenvölkern nur die von Gott festgelegte Zahl ihrer Repräsentanten zum eschatischen Gottesvolk hinzutreten. In dem paulinischen Satz, dass Gott alle in den Ungehorsam eingeschlossen habe, damit er sich aller erbarme (Röm 11,32), ist der Begriff „alle“ nach Wengst an den beiden Stellen nicht koextensiv: Ungehorsam sind alle Einzelnen, Erbarmen hingegen finden alle Israeliten und eine Auswahl aus den Völkern. De Boers Studie wird auch von Wengst nicht zur Kenntnis genommen. Dass zwar alle Israeliten, aber nur ein Teil der Heiden das Heil erlangen, begründet Wengst mit der Dissertation von Rainer Stuhlmann aus dem Jahr 1978. Darin behauptet der Autor recht ad hoc, dass in Röm 11 der Ausdruck „die Fülle der Völker“ gleichbedeutend sei mit „alle Völker“ und dass diese Wendung wiederum verstanden werden müsse als „die Gesamtheit der Völkerrepräsentanten“.338
331 Vgl. Wengst, Freut Euch, 302 (zu Röm 9,6–13). 332 Vgl. aaO. 309. 333 Vgl. aaO. 327. In den prophetischen Schriften sei Israels Unglaube geweissagt (aaO. 343). 334 Vgl. aaO. 359. 335 AaO. 370 f. 336 AaO. 376, vgl. 374. 337 Vgl. aaO. 371–371. 338 Stuhlmann, Maß, (174–176) 176. Vgl. Wengst, Freut Euch, 370 f.
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Jens Adam (2009) widmet seine Untersuchung über Paulus und die Versöhnung aller „einer einzigen Fragestellung: Wie im Letzten – also auch eschatologisch – die Aussage des Apostels Paulus in Röm 11,32 zu verstehen ist: […] ‚denn Gott hat alle dem Ungehorsam preisgegeben, damit er sich aller erbarme‘.“339 Nach einer sorgfältigen Analyse aller paulinischen All-, Gerichts-, Verwerfungs- und Heilsaussagen kommt er zu dem Ergebnis, dass Paulus einen uneingeschränkten Heilsuniversalismus vertrete. Er arbeitet präzise heraus, dass Paulus in Röm 1–11 „einen theologisch durchdachten und argumentativ konsequent entfalteten Weg“ geht. So unterläuft ihm etwa auch nicht der Fehler Eskolas, dass er Röm 9–11 den vorbereiteten Ausführungen in den früheren Kapiteln des Briefes unterordnet.340 Es ist Adam wichtig hervorzuheben, dass dieser Heilsuniversalismus streng gekoppelt ist an ein Glaubensbekenntnis zu Christus: Das Heil des einzelnen Menschen wie des gesamten κόσμοϛ liegt allein und ausschließlich in Jesus Christus beschlossen; eine wie auch immer begründete ‚Allversöhnung‘, die vom Bekenntnis zu diesem κύριοϛ absehen möchte, ist eine paulinische Denk-Unmöglichkeit.341
An dieser Stelle grenzt sich Adam, obwohl er lieber von Heilsuniversalismus anstatt von Allerlösung redet, nicht von der klassischen Allerlösungslehre ab, sondern von einer pluralistischen Religionstheologie, für welche nicht alle, aber doch einige nicht christlichen Religionen ein Weg zum Heil darstellen. Er fährt fort: Der paulinische Heilsuniversalismus zeigt sich darin gerade nicht geschichtsnihilistisch, weil in ihm das erschreckende Geschehen des göttlichen Gerichts gewahrt ist: Das Unrecht wird beim Namen genannt, und die Sünde des Sünders wird unbarmherzig aufgedeckt werden. Gilt dies für den bereits schon jetzt gerechtfertigten Glaubenden, der, obgleich von der Macht der Sünde befreit, nie schuldlos vor Gottes Angesicht zu stehen kommt, so gilt es nach Überzeugung des Paulus in ungleich größerem Maße für den Nichtglaubenden. Für beide jedoch gilt: Die Sünde wird verurteilt, verdammt und gerichtet – und damit gerade nicht verewigt –, der Sünder wird begnadigt und befreit zur ungeteilten Gottesgemeinschaft.342
Damit sollte eigentlich geklärt sein, dass zumindest Paulus (als einer der neu testamentlichen Autoren) in zumindest einem seiner Briefe die Position einer christlichen Allerlösungslehre vertritt. Zu Recht weist Adam darauf hin, dass durch diese Tatsache alleine die dogmatische Wahrheit der Allerlösungslehre noch nicht bewiesen sei. „Was aber dazu theologisch überhaupt zu sagen ist, wäre unter Absehung des paulinischen Zeugnisses in jedem Fall defizitär gesagt.“343 339 Adam, Paulus, 1. 340 AaO. 402. 341 AaO. 406. 342 Ebd. 343 AaO. V, vgl. 3.
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Der Tübinger Neutestamentler Christof Landmesser (2011) unterstützt Adams These von dem paulinischen Allerlösungsgedanken durch seine Auslegung von Röm 5 und 1 Kor 15: Hier erscheint bei Paulus erstmals der Gedanke einer universalen heilvollen Auferstehung aller Menschen, den er an dieser Stelle freilich nicht weiter entfaltet. Der Gedanke, der hier [scl. Röm 5,12–21] am Horizont der Vorstellungswelt des Paulus auftaucht, hat wohl auch für diesen eine solche Brisanz, dass er ihn an dieser Stelle nicht weiter zu verfolgen wagt. In 1 Kor 15 spricht Paulus von der Auferstehung ausdrücklich in einer durchgängig heilvollen Perspektive, er beschreibt nicht eine doppelte Auferstehung zum Heil oder zum Gericht […] Diesen tatsächlich ungeheuerlichen Gedanken verlässt Paulus an dieser Stelle wieder, erst in Röm 5,12–21 wird er ihn weiter entfalten.344
Mark A. Seifrid hingegen, Professor am Southern Baptist Theological Seminary, lehnt Adams These des paulinischen Heilsuniversalismus ab. Dies gelingt ihm aber nur, indem er bestreitet, dass man Paulus als systematischen Theologen ernst nehmen dürfe.345 Es bilden hier also Seifrieds eigene systematische Gedanken das Vorverständnis, nach welchem die Exegese der biblischen Schriften ausgerichtet wird. Wäre es dann aber nicht sinnvoller, Paulus einen Systematiker sein zu lassen, als ihm ein fremdes System überzustülpen? In dem sehr beachtlichen Tagungsband Between Gospel and Election. Explorations in the Interpretation of Romans 9–11 wird die Frage nach dem Heilsuniversalismus im Hinblick auf die Völker leider nicht mitberücksichtigt. So entwickelt etwa Karl-Wilhelm Niebuhr in seinem Beitrag über Römer 9–11 als Zeugnis paulinischer Anthropologie vorwiegend die These, dass „ganz Israel gerettet wird“, ohne die Frage nach der Errettung der Völker ausführlicher zu berücksichtigen.346 Auch Klaus Haacker wendet sich in seiner Studie zu Römer 9–11 als Problem der Auslegungsgeschichte mit vollem Recht gegen „problematische Akzentuierungen“ dieser Kapitel im Sinne einer negativen Haltung zu Israel, ohne die heilsuniversalistische Perspektive auf die Völker zu berühren.347 Im Hinblick auf diese ausgewählten Arbeiten zur paulinischen und jesuanischen Eschatologie können wir festhalten: Erstens, es gibt wenige Gesamturteile über die neutestamentliche Eschatologie, selbst bei Paulus beschränken sich die Exegeten auf ausgewählte Briefe und verzichten auf eine zusammenschauende Darstellung der paulinischen Eschatologie. Die eschatologischen Texte der synoptischen Tradition sind disparat, die 344 Landmesser, Entwicklung, 185 f. 345 Seifrid, Rez. Adam, 1205. 346 Niebuhr, Zeugnis, 461 f. 347 Haacker, Problem, 66–71.
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Zurückführung konkreter Vorstellungen auf den historischen Jesus gelingt nicht übereinstimmend, ja, ist möglicherweise aus methodischen Gründen prinzipiell unmöglich. Zweitens, dennoch erscheint die neutestamentliche Begründbarkeit der Allerlösungslehre in einem anderen Licht als etwa im 19. Jahrhundert. Es zeigt sich heute, unter der Perspektive einer differenzierteren Exegese, der innerkanonische Pluralismus viel stärker als in früheren Zeiten. Wie schon in der alttestamentlichen Tradition, so lassen sich innerhalb des Neuen Testaments sowohl Höllenals auch Allerlösungsvorstellungen nebeneinander beobachten. Die Versuche, Paulus einen Heilsuniversalismus abzusprechen, erscheinen nicht überzeugend. Denn es ist in ihnen mit Händen zu greifen, dass der eschatologische Dualismus oft sehr gezwungen in die Paulustexte eingetragen wird. Auch Jesus bezieht sich in manchen Logien, die historisch sein dürften, auf alttestamentliche Texte, die auf das Heil der Völker abzielen.348 Drittens, angesichts des exegetischen Befundes gibt es grundsätzlich zwei Möglichkeiten eines systematisch-theologischen Umgangs mit der Frage nach dem eschatologischen Heil der Menschen. Entweder man betrachtet die Höllenund Allerlösungsvorstellungen als einander gegenseitig aufhebend und enthält sich einer dogmatischen Aussage über den Ausgang des Gerichts.349 Auf dieser Position ließe sich allenfalls noch die Haltung einnehmen, dass die Allerlösung zwar erhofft und geglaubt, aber nicht assertorisch behauptet werden dürfe. Immerhin müsste dies dann auch die Konsequenz haben, dass die ewige Höllenstrafe nicht als eine gewisse christliche Glaubenswahrheit ausgegeben wird. Viertens, die andere Möglichkeit, mit der exegetischen Pattsituation umzu gehen, besteht darin, die systematischen Gründe für und wider die Allerlösung abzuwägen und dadurch zu einer Entscheidung zu kommen.350 Diese Aufgabe kann an dieser Stelle nicht abschließend gelöst werden. Es ist jedoch offensichtlich, dass die von Paulus vertretene Lehre von der Willensunfreiheit des Menschen, ferner der bei ihm und bei Jesus zumindest in manchen Texten nachweisbare Heilsuniversalismus und schließlich noch das jesuanische Gottesbild starke Instanzen sind, die für die Allerlösungslehre sprechen. Fünftens, der illibertare Indeterminismus passt sehr gut mit einer heilsuniversalistischen Eschatologie zusammen. Wegen seiner Lehre von der Unfreiheit des Willens verträgt er sich hingegen mit dem eschatologischen Dualismus so wenig 348 Vgl. o. 312. 349 Vgl. o. 291. 350 Härle wägt ebenfalls solche Gründe ab, kommt aber zu dem Urteil, dass auch auf diese Weise kein entschiedenes Urteil gefällt werden könne. Vgl. o. 292 Anm. 230. Anders urteilt Zeindler, Gott, 99–108: „Wenn im Folgenden als Alternative die Annahme einer universalen Erlösung vorgeschlagen wird, dann dürfte klar sein: Es kann damit nicht darum gehen, das Gericht – mitsamt seinen harten Unterscheidungen – zu eliminieren.“ (AaO. 99). Vgl. ders. Erwählung, 137–139.
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wie die rechtfertigungstheologische Anthropologie überhaupt. Die Würde der Opfer, um derentwillen Zager auf einem Endgericht beharrt, kann auch im Rahmen einer ernsthaften Allerlösungslehre gewahrt werden. Im Gericht findet die Erkenntnis des eigenen gelebten Lebens im Kontrast zu Gottes Liebe statt, was ohne Trauer, Scham und Reue nicht gedacht werden kann.351 Eskolas Furcht vor einem deterministischen Welt- und Geschichtsbild kann durch den illibertaren Indeterminismus auch sehr gut zerstreut werden.
5.4 Zusammenfassung: Der philosophische Ansatz des illibertaren Indeterminismus und die evangelische Dogmatik In der systematischen Theologie wird das Thema Willensfreiheit noch einmal in einem anderen Horizont diskutiert als in der Philosophie und in der Neurobiologie. Die Philosophie bearbeitet an erster Stelle die Frage nach dem zugrunde liegenden Weltbild und der Kompatibilität von Willensfreiheit und Ontologie, während die Neurobiologie die Willensfreiheit im Spannungsfeld von Bewusstseinsakten und unbewussten körperlichen Vorgängen untersucht. Die Theologie hingegen behandelt unter dem Stichwort Willensfreiheit traditionell und aktuell das Verhältnis von Gottes geistigem Handeln am Menschen und der Rolle des menschlichen Subjekts, und dies fokussiert auf die Frage der Glaubensentstehung und das daran geknüpfte ewige Heil. Man könnte die theologische Frage auch ohne Rücksicht auf Philosophie und Biologie behandeln. Damit würde man aber zwei Chancen verschenken: Zum einen diejenige, dass die theologische Gedankenbildung durch die Aufnahme sinnvoller Elemente aus den anderen Wissenschaften vertieft wird, zum anderen diejenige, die Kohärenz zwischen theologischer Substanz und allgemeinen Wissen auszuloten und damit einen Beitrag zur Verantwortung des christlichen Wahrheitsbewusstseins vor dem Wahrheitsbewusstsein der Gegenwart zu leisten. Bei der Korrelation des illibertaren Indeterminismus mit der systematischen Theologie zeigt sich, dass die beiden Theorien sich in der Extension unterscheiden. Der philosophische Ansatz macht allgemeine Aussagen über den Menschen und seine Welt. Transzendente Wirklichkeiten kommen in ihm nicht vor. Von Gott handelt nur die Theologie, allerdings geht es ihr unter den Stichwort Willensfreiheit nicht um den Menschen im Allgemeinen und sein Verhältnis zur 351 August Tholuck hat eine Wendung von Kant und Hamann gebraucht, um die neupietis tische Relation von Sündenerkenntnis und anschließender Gotteserkenntnis so zu beschreiben: „Nur die Höllenfahrt der Selbsterkenntniß macht die Himmelfahrt der Gottes-Erkenntniß möglich, und keine Weisheit ist verwerflicher als die, welche die Augen uns aussticht, damit wir nicht in unser eignes Innere schauen.“ (Tholuck, Lehre, 8, vgl. 23 u. ö.). Diese Beschreibung der irdischen Glaubensentstehung könnte auch als Motto für eine eschatische Selbsterkenntnis des Menschen vor Gott dienen.
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Welt, sondern um das Verhältnis des Menschen zu Gott unter dem Gesichtspunkt des ewigen Heils. Keine der beiden Theorien lässt sich also restlos auf die andere abbilden. Aber es gibt eine Schnittmenge. Wir haben in diesem Kapitel versucht, die philosophische Theorie als ontologischen Rahmen für die ganze Dogmatik anzusetzen und zu überprüfen, ob sich daraus sinnvolle Einsichten gewinnen lassen. Der Ertrag dieser Überprüfung wird nachfolgend unter drei Aspekten herausgestellt.
5.4.1 Willensunfreiheit Die reformatorische Lehre von der Willensunfreiheit des Menschen macht stärkere Aussagen als der philosophische Ansatz. Nach Luther ist es Gott, der den Weltlauf und damit auch das Handeln der Menschen fast deterministisch bestimmt, mit Ausnahme allenfalls des Sündenfalls von Teufel und Urelternpaar. Er vertritt also einen theologischen (Fast-) Determinismus, während der illibertare Indeterminismus lediglich einen abstrakten Determinismus mit Zufallsunterbrechungen auf der ontologischen und anthropologischen Ebene annimmt, die existentiell relevant werden. Hier stellt sich die Frage: Muss man aus theologischen Gründen die stärkere Begründung der Willensunfreiheit des Menschen durch die Allmacht und Allwirksamkeit Gottes (bei Luther) beibehalten, um die Souveränität der göttlichen Gnade zu wahren und die Selbstrechtfertigung des Menschen auszuschließen? Wenn man bedenkt, dass diese Annahme zu den Problemen führt, welche die supralapsarische Prädestinationslehre enthält, sollte die negative Beantwortung dieser Frage als plausibel erscheinen. Dies hätte auch Konsequenzen für das Gottesbild. Gott wäre nicht mehr der Uhrmacher, der das Weltall erschaffen und nach festen Gesetzen eingerichtet und auch alle Menschen schon ewig für Heil oder Unheil bestimmt hätte. Diese Vorstellung entspricht ohnehin eher dem deistischen Gottesbild. Gott ist vielmehr eher der kontinuierliche Begleiter der von ihm in die Selbständigkeit (nicht Freiheit) entlassenen Schöpfung, der sie anteilnehmend beobachtet und mit ihr interagiert. Es ist immer die von Gott in die Welt gelegte Kultur des Evangeliums und das vermittelte (sapientialordinative bzw. repräsentative) oder unvermittelte (aktuale) Wirken seines Geistes, das im Menschen Vertrauen zu ihm weckt und ihn rechtfertigt. Damit ist das anthropologische und theologische Interesse von Paulus und Luther gewahrt.
5.4.2 Gottes Eigenschaften Während der illibertare Indeterminismus sich also als Willensunfreiheitstheorie als sehr passende ontologische Basis in die Theologie einführen ließe, könnte der Verdacht aufkommen, dass er bezüglich der Lehre von den Eigenschaften Gottes
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Der illibertare Indeterminismus als ontologischer Bezugsrahmen
ein philosophisches Vorurteil bildet, demgemäß die christliche Gotteslehre verkürzt werde. Denn traditionellerweise wurde die biblische Lehre von der Allwissenheit Gottes später auch auf die gesamte Zukunft der Schöpfung ausgedehnt. Eine Welt, die von Gott zufallshaltig erschaffen wurde, um dem Menschen einen offenen Entwicklungsraum und eine fatalismusfreie Lebensführung zu ermöglichen, beschneidet offensichtlich diese traditionelle Lehraussage. Allerdings häufen sich seit dem 20. Jahrhundert theologische Ansätze, die Gott so begreifen, dass er zugunsten der Freiheit seiner Geschöpfe auf den Besitz eines oder mehrerer seiner Attribute verzichte. Der hier vorgelegte theologische Vorschlag im Rahmen des illibertaren Indeterminismus vermeidet zwar den Begriff Freiheit in der Rede vom Menschen. Er bewegt sich aber insofern in der Nähe der neueren Versuche zur Gotteslehre, als er dem Fatalismusproblem dadurch entgegen tritt, dass er dem Menschen, wenn auch keine Willensfreiheit, so doch eine offene Zukunft einräumt. Dieser Handlungsraum des Menschen erfordert ebenfalls die Beschränkung eines Gottesattritbutes. Aber dies ist nicht die Allmacht, sondern die uneingeschränkte Allwissenheit bezüglich der Zukunft. Die Kombination von göttlicher Allmacht, präsentischer Allwissenheit und zukünftiger Allwissenheit bezüglich der von ihm vorherbestimmten allgemeinen Ziele der Schöpfung (Offenbarung, Reich Gottes) bildet einen Rahmen, in welchem die wesentlichen Interaktionen Gottes mit der Welt abgebildet werden können.
5.4.3 Theologische Anthropologie Die wesentlichen Interaktionsfelder Gottes mit dem Menschen stehen üblicherweise unter den Stichworten Schöpfung, Sünde, Rechtfertigung, neues Leben und Erlösung. Im Rahmen des illibertaren Indeterminismus lauten die entsprechenden Aussagen so: Erstens, der Mensch ist Gottes Geschöpf in dem Sinne, dass Gott die Welt so erschaffen hat, dass sich in ihr gottoffene Wesen entwickeln. Diese Gottoffenheit erfordert keine Willensfreiheit, aber Reflexionsfähigkeit. Zweitens, der Mensch kommt nicht fertig gestellt zur Welt, sondern hat eine Entwicklungsaufgabe. Er soll den Weg gehen, an dessen Ende er der Gott völlig entsprechende Mensch ist. Die Sünde als Abweichung von diesem Weg kann nicht willensfrei vermieden werden. Die Sündlosigkeit gehört nicht zur Grundausstattung des Menschen, die verloren werden kann. Vielmehr ist sie eine Zielbeschreibung für seine Entwicklung. Drittens, der Mensch kommt zum Glauben, wenn die Kultur des Evangeliums auf ihn wirkt (oder, im Ausnahmefall, wenn Gottes Geist ihn unmittelbar zum Glauben ruft). Der Glaube ist also nicht durch eine willensfreie Entscheidung herbeizuführen. Sein Ursprung ist immer der liebende Wille Gottes, der den Menschen zur Gemeinschaft mit ihm bestimmt hat.
Der illibertareIndeterminismus und die evangelische Dogmatik
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Viertens, so lange sich der von Gott bestimmte glaubende Mensch im Wirkungsbereich Gottes befindet, möchte er notwendig in Gottes Sinne handeln. Seine Motivation ist das Ergebnis der Erfahrung von Gottes beglückendem, Heil schaffenden Handeln. Er gestaltet nach dieser Erfahrung seine Lebensführung, die von christlichen Präferenzen bestimmt ist. Fünftens, die Erlösung des Menschen ist schon in der traditionellen Theologie nicht mehr direkt an die Willensfreiheit des Menschen geknüpft. Sie folgt vielmehr notwendig seinem Glauben. Wie schon bei Paulus, so erfordert auch im vorliegenden Entwurf die nicht dem freien Willen zur Verfügung stehende Option für den Glauben eine entdualisierte Eschatologie.
6. Schluss
In der vorliegenden Studie sollte das komplexe, interdisziplinär verhandelte Problem der Willensfreiheit dargestellt werden, um die verschiedenen Fäden aufzunehmen und sie nach Möglichkeit sinnvoll miteinander zu verknüpfen. Insbesondere sollte dabei ein Ansatz gefunden werden, der für die theologische Anthropologie fruchtbar ist. Schon lange ist sich die systematische Theologie dessen bewusst, dass die theologische Anthropologie nicht ohne Berücksichtigung sonstiger Erkenntnisse über den Menschen in seiner Welt angemessen entfaltet werden kann. Beim Durchgang durch die philosophische und neurobiologische Willensfreiheitsdebatte hat sich gezeigt, dass erstens nirgendwo ein Anhaltspunkt für die Möglichkeit und Wirklichkeit von Willensfreiheit im libertaren Sinne vorliegt. Außerdem muss die Aufforderung zur Umkehr der Beweislast zurückgewiesen werden, wonach nicht die Willensfreiheitsvertreter ihren Standpunkt unter Absehung der Intuition zu begründen hätten, sondern die Gegner der Willensfreiheit im libertaren Sinne den ihrigen. Es gibt zu viele logische und empirische Instanzen gegen die Willensfreiheit, als dass zu ihrer Verteidigung lediglich gefordert werden dürfte, man möge im Sinne eines absolut gültigen Beweises definitiv nachweisen, dass sie nicht existiere. Was einen schwachen Begriff von Willensfreiheit betrifft, der in verschiedener Weise und hauptsächlich von kompatibilistischen Autoren konstruiert wird, so ist es nicht ohne anthropologisches Interesse, determinierte Entscheidungen im Allgemeinen von konkreten Mechanismen der Urteils- und Entscheidungsbildung zu unterscheiden, wie etwa personale Präferenzen bei Pauen oder Entscheidungen nach guten Gründen wie etwa bei Beckermann. Diese Überlegungen passen gut zu den neurobiologischen Annahmen eines neurobiologischen Determinismus. So entsteht ein deterministisches Menschenbild, in welchem dennoch die Aufgabe der Persönlichkeitsbildung und die Möglichkeit von Wandel im Verlauf einer Biographie möglich ist. Solche Theorieelemente des neurobiologisch und philosophisch begründeten Kompatibilismus können im illibertaren Indeterminismus vollständig übernommen werden. Dieses flexible deterministische Menschenbild erscheint jedoch dann weniger zufriedenstellend, wenn man den Blick nicht mehr alleine auf aktuell stattfindende Entscheidungen richtet, sondern auf das Ganze eines menschlichen Lebenswegs. Die Flexibilität der Person löst sich auf, weil alle Wandlungen als Teil einer seit jeher bestehenden und unabänderlichen Determinationskette erscheinen. Dadurch entsteht das Problem des Fatalismus: Alles, was eine Person an alternativen Optionen abzuwägen, zu reflektieren und zu entscheiden hat, liegt
Schluss
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schon seit vor ihrer Geburt fest. Nichts, was sie überlegt oder tut, wird irgendetwas an der feststehenden Zukunft verändern. Diese Ausweitung der Perspektive auf die gesamte Biographie eines Individuums wird in der philosophischen Diskussion interessanterweise kaum thematisiert. Das Fatalismusproblem löst sich jedoch, wenn man kein deterministisches Weltbild, sondern ein indeterministisches zugrunde legt. Dieses Weltbild ist im Vergleich zum Determinismus nach rund 100 Jahren Quantentheorie und den Außenseiter-Versuchen, dieselbe deterministisch zu interpretieren, ohnehin das plausiblere. Der Indeterminismus der Außenwelt öffnet die Zukunft nicht nur epistemisch, sondern auch ontisch. Es ist an dieser Stelle zu betonen, dass die Intuition auch im illibertaren Indeterminismus nicht vollständig auf ihre Kosten kommt, was ihr Bedürfnis nach Freiheit betrifft. Auch in der zufallsoffenen Welt kann eine Person keine Veränderung des Weltlaufs durch ihre Entscheidungen bewirken. Aber die Person kann wissen, dass ihre realistischen Pläne immer eine echte Chance zur Verwirklichung haben. Damit kann die Einsicht in das indeterministische Wesen der Welt einen starken Impuls dahingehend erzeugen, sich um die Kompetenzen zu bemühen, die auch in einer deterministischen Welt dazu beitragen, zielführende Handlungen durchzuführen. Diese Differenz kann man durch die stimmige bzw. unstimmige Verschränkung der Ersten- und Dritten-Person-Perspektive veranschaulichen: Im Determinismus muss sich jemand in der Ersten-Person-Perspektive damit abmühen, schwere Entscheidungen zu treffen, jedoch mit dem Wissen aus der Dritten-Person-Perspektive, dass sowohl schon feststeht, wie er sich entscheiden wird, als auch, wie jeder einzelne Augenblick seiner Zukunft bestimmt ist. Im Indeterminismus ist die Mühe der Entscheidungsfindung dieselbe, und die Person weiß auch aus der Dritten-PersonPerspektive, dass ihre Entscheidung durch die gegenwärtige Situation bestimmt sein wird. Sie weiß aber ebenfalls, dass ihre Zukunft noch nicht feststeht und dass gegenwärtige Entscheidungen hilfreich sein können für ein zielführenderes Verhalten in den zukünftigen, jetzt noch offenen, Situationen. Die deterministisch entstandenen Einsichten in den offenen Weltlauf und den neurobiologischen Determinismus in der Person bewirken zusammen ein anderes Bewusstsein bei ihr als bei jemanden, der den determinierten Weltlauf voraussetzen muss. Die Lebensführung im allgemeinen Modell des illibertaren Indeterminismus entsteht, wenn die hier genannten Einsichten in einer Person ihre Wirkung entfalten. Lebensführung impliziert erstens Selbsterkenntnis als Einsicht in das Werden der eigenen Persönlichkeit, zweitens die Konstruktion eines Selbstbildes, das realisiert werden kann, drittens die Entwicklung von Zielvorstellungen für das eigene Leben und viertens den Erwerb von Kompetenzen, die für die Verwirklichung dieser Ziele hilfreich sind. In der Theologie sollte nach Möglichkeit eine große Diskrepanz aufgelöst werden. Sie besteht darin, dass einerseits das Prinzip der rein gnadenhaften bzw. geschenkweisen Zuwendung Gottes zu seinem Geschöpf als spezifisch christlich
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Schluss
(zumindest in evangelischer Perspektive) gilt. Andererseits wurde diesem Prinzip immer dann die Spitze abgebrochen, wenn es konsequent entwickelt und dementsprechend die menschliche Willensfreiheit bei der Glaubenskonstitution bestritten wurde. Die Ursache für diese Ambivalenz liegt darin, dass die Gnade Gottes und der willensunfrei entstehende Glaube meist mit einer dualistischen Eschatologie verknüpft war. Schon bei Paulus lässt sich in Röm 9–11 aber eine andere Kombination entdecken, nämlich von Gnade, Willensunfreiheit und Allerlösung. Die dadurch umrissene Theorie einer nicht dualistischen Ewigkeit fand jedoch in der Geschichte der Kirchen bis im 18. Jahrhundert nur wenige Vertreter. Die Einführung der Willensfreiheit in die Theologie der meisten Konfessionen führte zu einer Aufweichung der paulinischen Beschreibung der Gott-MenschBeziehung. Der illibertare Indeterminismus stellt in dieser Situation einen außertheologischen Impuls dar, der die Dogmatik zu einer neuen Überprüfung ihres Umgangs mit der paulinischen Rechtfertigungslehre anregt. Bis ins 18. Jahrhundert sprach hauptsächlich das Problem einer dualistischen Eschatologie gegen die These von der Willensunfreiheit des Menschen und damit gegen Paulus. Heute sprechen die aktuellen philosophischen und neurobiologischen Einsichten für diese These und damit für Paulus. Diese Situation hat etwas Groteskes und stellt die Theologie vor die Aufgabe, das eschatologische Problem noch einmal aufzunehmen. Der illibertare Indeterminismus ist gut geeignet, als philosophisch plausibles Welt- und Menschenbild auch eine Bezugstheorie für die systematische Theologie zu bilden. Er hat Auswirkungen sowohl auf die theologische Anthropologie als auch auf die Lehre von Gottes Eigenschaften und seinem Handeln in der Welt. Diese Auswirkungen führen zu Modifikationen im dogmatischen System, die zur geschichtlichen Offenbarung als dem Ursprung des christlichen Glaubens gut passen, wie im letzten Kapitel gezeigt worden ist.
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Personenregister Abraham 263, 294 f. Achtner, Wolfgang 231, 242 Adam 237 f., 242, 244, 304, 307 Adam, Jens 311 f. Albertz, Rainer 265 Allwelt, Erika 218 Ammann, Christoph 218 Aristoteles 243 vgl a. Aristotelismus Arnold, Gottfried 293 Aspect, Alain 175 Audretsch, Jürgen 174, 176, 181 Augustinus 226 f., 237, 242, 250, 267, 272, 275, 290, 305 Baader, Franz 237 Bachmann, Michael 303 Barrett, Charles Kingsley 309 Barth, Karl 227, 266, 298 Barth, Ulrich 282 Bauberger, Stefan 165, 180 f. Bayer, Oswald 241, 298 Beck, Birgit 173 Beck, Friedrich 56, 165, 173, 183–188 Becker, Jürgen 297 Beckermann, Ansgar 16, 60, 90, 94, 318 Behringer, Luise 218 Beiner, Melanie 231, 241 Beker, Johan Christiaan 303 Bell, John 175 Bell, Richard H. 309 Bengel, Johann Albrecht 293 Bernhardt, Reinhold 245–249, 251–262, 267 Beutler, Ulrich 268 Beyschlag, Willibald 293, 303 Bieri, Peter 206 f. Binder, Wilhelm 203 Bode, Stefan 93 Bohm, David 159, 174–176, 192 Bohr, Nils 172 Born, Max 175 Börner, Gerhard 165, 176 Bruder, Benedikt 147, 240–242 Buchheim, Thomas 94 Bultmann, Rudolf 301
Buridans Esel 215 Byrne, Peter 246 Calvin, Johannes 9, 227, 305 Capito, Wolfgang 228 Carter, Rita 120 Cartwright, Nancy 55 Chisholm, Roderick 17, 54 Clayton, Philip 246 Cobb, John 254, 262 Damasio, Antonio 90, 93, 116, 124, 150 Daumer, Martin 58 Davidson, Donald 19–21 De Boer, Martinus C. 296, 303–305, 308, 310 De Broglie 175 Debus, Jürgen 182 Dennett, Daniel 39 Descartes, René 93, 116, 124 Dettmann, Ulf 96 Deuterojesaja 265 Dodd, Charles Harold 309 Double, Richard 16 Draguhn, Andreas 89 f. Dupré, John 181 Dürschmid, Stefan 89 Düsing, Klaus 9, 16 Düsing, Edith 9 Ebeling, Gerhard 283, 298 Eccles, John Carew 17, 56, 89, 95 f., 183–188 Eimer, Martin 91 f., 126 Einstein, Albert 159, 165, 173–175, 190, 192 Elert, Werner 233 Elger, Christian Erich 92 Elitzur, Avshalom 182 Endres, Jürgen 218 Epikur 246 vgl. a. Epikureismus Erasmus von Rotterdam 12, 227, 229, 231 f., 234, 241, 276 f., 279, 290 Eriugena, Johannes Scotus 291 Eskola, Timo 305–308, 311, 314
Personenregister Esra 294 Eva 237 f., 242, 244 Everett, Hugh 176, 192 Evers, Dirk 242 Falkenburg, Brigitte 161, 177 Farrer, Austin 245, 248–251 Felder, Ekkehard 159 Feynman, Richard 191 f. Fischer, John Martin 31, 43, 46 Fitzi, Gregor 218 Frankfurt, Harry G. 26, 36, 39 Freud, Sigmund 82, 134, 139, 147 Fuchs, Thomas 42 Gage, Phineas 93, 116 Gantschow, Alexander 218 Gehlen, Arnold Karl Franz 95, 97, 269 f. Gerhardt, Volker 148 Gestrich, Christof 271, 273 Geyer, Christian 94 Goethe, Johann Wolfgang von 98 Gräb-Schmidt, Elisabeth 147 f. Gramsci, Antonio 95 Guckes, Barbara 16, 24, 204 Haacker, Klaus 312 Habermas, Jürgen 256 Haggard, Patrick 91 f., 126 Hamann, Johann Georg 314 Härle, Wilfried 233, 241, 243, 273, 276–278, 291–293, 313 Hausammann, Susanne 240 Haynes, John-Dylan 90, 92 f. He, Anna Hanxi 93 Heesch, Matthias 203 Heisenberg, Martin 17, 188 f. Heisenberg, Werner 172 Helmrich, Herbert 92 Hennis, Wilhelm 219 Henoch 294, 304 Hermanni, Friedrich 225, 241 Herms, Eilert 279 f. Herodes 249 Herrmann, Christoph S. 89 Hodgson, Peter C. 245, 256 f. Honderich, Ted 14, 24, 67–87, 178, 192 f., 210, 222 Horkheimer, Max 299 Hornig, Gottfried 246 Hume, David 15 f., 84, 151
333
Ijjas, Anna 38, 49, 172, 176 f., 186 f., 266 Inwagen, Peter van 18, 43 Iwand, Hans Joachim 227 f. Janowski, Christine 291, 298 Jesaja 243, 296 Jescheck, Hans-Heinrich 50 Jesus Christus 238, 240, 247, 249 f., 256, 259–265, 285 f., 293–304, 310–313 Joest, Wilfried 241 Johannes der Täufer 294, 295–298, 300 Jüngel, Eberhard 286, 298 Kahnert, Klaus 226 Kampmeier, Anke S. 218 Kane, Robert 54, 67 Kanitscheider, Bernulf 193 Kant, Immanuel 11, 16, 93, 134, 237, 314 Karafyllis, Nicole Christine 218 Käsemann, Ernst 303 Kattenbusch, Ferdinand 227 Kaufmann, Gordon 250–252 Kehl, Medard 245 Keil, Geert 11, 14, 24, 47–57, 65, 68, 84–87, 95, 160, 162, 187, 198, 205, 221, 284 Kiefer, Claus 180, 190 Kierkegaard, Søren 272 Klaiber, Walter 278 Klein, Andreas 9, 17, 191 f., 225, 241 Konradt, Matthias 308 Korsch, Dietrich 145 Körtner, Ulrich Heinz Jürgen 147, 242, 292 Koslowski, Peter 237 Kreck, Walter 298 Kreiner, Armin 187 Kuhn, Fritz-Peter 182 Landmesser, Christof 312 Laplace, Pierre-Simon 45, 49, 173, 204 Lead, Jane 293 Leibniz, Gottfried Wilhelm 225, 237 Leinkauf., Thomas 225 Lenk, Hans 147 Leonhardt, Rochus 227, 241, 282–284, 286 Libet, Benjamin 89–93, 98, 125–130, 183, 189 Locke, John 51 Loewenich, Walter von 282 Lukas 281, 295 Lüke, Ulrich 67
334
Personenregister
Luther, Martin 9, 12, 226–245, 269, 272 f., 276–286, 288 f., 303, 309, 315 Marduk 265 Markowitsch, Hans Joachim 89 Markus 295, 298 f. Maschmeier, Jens-Christian 303 Matthäus 295 Mayer, Helmut 92 f. Melanchton, Philipp 227 Merklein, Helmut 297 Merz, Annette 303 Michalczak, Herbert 182 Miller, Jeff 92 Mischer, Sibille 15 Mogk 261 Moltmann, Jürgen 255, 298 Moore, George Edward 50 Mose 294 Mühling, Markus 174,177, 268, 286 Mutschler, Hans-Dieter 189, 255 Nagel, Thomas 204 Newton, Isaak 73, 166, 266 Niebuhr, Karl-Wilhelm 312 Nüssel, Friederike 245 Ödipus 203 Oetinger, Friedrich 293 Origines 291 Pannenberg, Wolfhart 245, 254–256, 258, 264, 269–276, 298 Pauen, Michael 11, 14, 17 f., 20 f., 24–48, 50, 52, 59 f., 62, 64, 68–70, 83–86, 89 f., 92, 97, 99–101, 121, 124, 126, 128–130, 133, 148–152, 155, 173, 193, 212, 214–217, 226, 241, 243, 283 f., 286, 318 Paulus 9, 12, 225–227, 229, 235, 239, 244, 250, 276 f., 281, 290, 294, 303–313, 315, 317, 320 Penrose, Roger 182, 189 f. Petersen, Johann Wilhelm 293 Petzoldt, Matthias 147 Planck, Max 93 f. Platon 79 f., 93, 134 Plessner, Helmuth 95, 97 Polkinghorne, John 174–176, 180 Popper, Karl 183 Pothast, Ulrich 22, 25, 269 Preul, Reiner 247
Quante, Michael 9, 15, 23 f., 90 Rabinow, Paul 218 Rahner, Karl 245, 253 Reinhuber 239 Reinöhl-Kompa 182 Reiser, Marius 294, 296, 298–300, 302 Reiser, Maximilian 182 Rendtorff, Trutz 219 f. Rieger, Reinhold 225 Riniker, Christian 300–302 Ritschl, Albrecht 227 Ritschl, Dietrich 247 Rohs, Peter 49 Röhser, Günter 308 Rösler, Frank 92 Roth, Gerhard 11, 17, 24, 28, 30, 42, 85, 90, 93–160, 177, 190, 193 f., 221 Roth, Michael 225, 236, 242, 269, 279 f. Rust, George 293 Sahin-Klinserer, Nurcan 218 Salomo 294 Satan 231 f., 234, 237 f., 242, 244 Schälike, Julius 35 Scheler, Max Ferdinand 95 Schimank, Uwe 218 Schleiermacher, Friedrich David Ernst 251 Schlinck, Edmund 298 Schluchter, Wolfgang 219 Schmid, Heinrich 269 Schmidt, Winfried 175, 187 Schrödinger, Erwin 172–174, 176, 178–183, 191 Schuster, Peter 272 Schütte, Michael 90 Searle, John Rogers 18, 188 Seebaß, Gottfried 47, 51, 283 f. Seidel, Wolfgang 93 Seifrid, Mark A. 312 Seils, Martin 241 Singer, Wolf 24, 90, 93 f., 177 Sirach 306 Soon, Chun Siong 93 Spinoza, Baruch de 79, 82 Staudacher, Alexander 90 Steinvorth, Ulrich 32 Stettler, Christian 302 f. Stier, Marco 16, 22–24, 67, 81, 203 f., 206, 208 f., 216, 222, 269 Stolzenberg, Jürgen 145
Personenregister Strawson, Galen John 26, 31 Stuhlmann, Rainer 310 Theißen, Gerd 301, 303 Tholuck, August 314 Thomas von Aquin 252 Tipler, Frank Jennings 188 f., 261 Trevena, Judy Arnel 92 Tugendhat, Ernst 52 Vielhauer, Philipp 301 Volkmann, Stefan 238 Vollmer, Wilhelm 178 Waidman, Lev 182 Walde, Bettina 11, 14, 24, 58–66, 68 f., 79, 83–85, 87, 90, 127, 173, 190, 205 f., 211, 284 Walter, Henrik 16, 190 f. Weber, Max 218–220
Wegner, Daniel Merton 153, 161 Weidemann, Hermann 14 Weinhardt, Brigitta 275 Weinhardt, Joachim 291, 293, 303 Weismann, Christian Eberhard 293 Weizsäcker, Carl Friedrich von 180 Wengst, Klaus 296, 309 f. Wenz, Gunther 273 Weßler, Heinz Werner 245 Wiles, Maurice 245, 249–252, 261 Winter, Dagmar 301 Wolfes, Matthias 246 Wuketits, Franz Manfred 89 Young, Thomas 166–168, 170 Zager, Werner 298–300, 302, 314 Zeindler, Matthias 313 Zunke, Christine 145
335
Stichwortregister Abhängigkeit/abhängig 16, 30, 32–34, 36 f., 41 f., 77, 101, 105, 114, 144, 147, 198, 215 f., 217, 251, 256 Abwägungsprozess vgl. Suspensions vermögen Allerlösung/apokatastasis panton 12, 240, 291–294, 298 f., 309, 311–314, 320 Allmacht/allmächtig 13, 129, 233, 235–237, 241, 249, 292, 315 f. Alltagswelt 165, 175, 182 Allwirksamkeit 233–237, 240, 244, 315 Allwissenheit 13, 237, 267 f., 316 Alternativismus 16, 18 f., 21, 38 f., 41–43, 46–49, 53 f., 57, 71, 84 f., 123, 148, 153, 162, 187, 191, 213 f., 221 Amygdala 93, 102–107, 109, 113, 115, 121 f., 141, 146 Annihilation/annihilatio 291, 299, 309 Anthropologie 12, 90, 95, 97, 124, 126, 131, 147, 162, 218, 226, 244 f., 260, 263–266, 269 f., 279, 306, 312, 314, 316, 318, 320 vgl. Menschenbild; Mensch als Reittier Apokalyptik 298, 300, 304 f., 308 Aporie 20, 247 Aristotelismus 14, 134, 243 Auferweckung 260–262, 265, 290, 304 Aufklärung 9, 124, 147 163, 226, 246 Außenwelt 85, 160, 193, 195 f., 207, 212–214, 319 Autonomie 27, 96, 148–150, 241, 286 Autonomieprinzip 26–29, 35, 38 Barmherzigkeit 229 f., 238 f. Basalganglien 119 f., 122, 128 Beinahedeterminismus 67, 192 Bejahung 76–78 Bereichsdeterminismus 62 f. Bereitschaftspotential 91 f., 122, 127 f. Bestürzung 68–70, 72, 76, 82, 200 Bewusste/Bewusstsein/bewusst 11 20, 30, 61, 65, 89–93, 96, 98, 101 f., 105–108, 114 f., 119, 121 f., 126–132, 137–147, 149–153, 155, 162 f., 183, 186–189, 207, 215, 259, 263, 275, 280, 284, 287, 289, 314, 319
Bibel/Bibelverständnis 232 f., 244, 262, 264, 310 Bindungserfahrung 100 f., 105, 157 Biographie 12, 85, 87, 163, 196, 198, 202, 222 f., 228, 230, 273, 287, 318 f. Böse/böse 71, 231, 233, 236–238, 241 f., 260, 274, 276, 285 f., 292, 304 Chaostheorie/chaostheoretisch 191 cooperatio 235–237, 241, 280 Cortex 104 f., 107 f., 111, 113–116, 119–122, 131–133, 136, 138, 140, 143, 146 f., 152, 187, 215 creatio 235, 237 creatio continua 249 creatio ex nihilo 249, 261 Deismus/deistisch 245 f., 251, 258, 315 Dekohärenztheorie 180, 190 Determinanten 19, 42, 52, 62, 65, 67, 69, 90, 94, 122, 124, 150, 152 f., 154, 156, 160, 201, 231, 272 f., 281, 285, 287 Determination 19, 50, 65, 98, 149, 174, 181, 214 – geeignete 62–64, 69 f. Determinationslücke, vgl. Kausallücke Determinismus/deterministisch – ontologischer 10–12, 14–23, 25–28, 37–58, 62–73, 75–81, 83–90, 94–96, 98 f., 129, 153, 155–160, 162–165, 173–178, 180 f., 185, 188–217, 219–226, 243, 245, 266, 282, 288, 315, 318 f. – harter 22–24, 67, 94, 147 f., 151 – Bereichs- 62 f. – theologischer 226, 241–244, 248, 258, 267, 275, 282–284, 290, 306 f., 314 f. Deus absconditius 238, 240, 242 Deus revelatus 238, 240, 242 Disposition/dispositional 29, 33 54, 99, 115, 124, 156, 173 Dogmatik 225–227, 244, 261, 263, 265, 269, 273, 276–278, 291, 293, 314 f., 320 Drei-Lichter-Lehre (Luthers) 239 f. Dritte-Person-Perspektive 34 f.,47, 59, 84, 87, 128, 204–206, 208 f., 211,213, 216, 223 f., 316
Stichwortregister Dualismus – Eigenschafts- 59 f., 62, 89, 172 – interaktionistischer 59 f., 62, 89 – Perspektiven- 12, 60, 161 – Substanz- 20, 59–62, 89, 96, 150, 183, 185 f., 188 f. – eschatologischer 291 f., 313 vgl. Strafe/Höllenstrafe Erfahrungsgedächtnis/emotionales 113, 121 f., 124, 126, 148 Empirie/empirisch 14, 25, 33 f., 36 f., 46, 49 f., 52, 55–57, 59 f., 81, 84, 87, 125, 128, 150, 160, 223, 225, 248, 254, 256, 318 Entität 61, 241 Entscheidung/Entscheidungsfindung/ entscheiden 11, 16, 18 f., 24–37, 40, 42 f., 45 f., 48, 52–54, 57, 62–66, 68, 74–76, 84–87, 91–94, 97–104, 112, 114, 119, 122–130, 132–136, 140, 143–145, 150, 152, 156–160, 162–164, 173, 177, 187 f., 192 f., 195, 199–202, 204–209, 211–217, 219, 222–224, 230 f., 241, 273, 275, 278, 286 f., 304 f., 308, 313, 316, 318 f. Entscheidungsfreiheit 26, 278, 308 Epikureismus 14, 72, 82, 134, 246, Epiphänomen/Epiphänomenalismus 12, 60– 62, 66, 89, 125–127, 129 f., 144, 160 f. epistemisch 58, 63–67, 79, 85–87, 157 f., 163, 176 f., 180 f., 205 f., 208, 216, 267, 284, 319 Ereignisverlauf 85, 187, 195 f. Erkenntnis/Erkenntnistheorie/erkenntnistheoretisch 10, 15, 25, 27, 33–36, 55, 58, 64, 68–70, 72 f., 78–80, 84, 86, 90, 92, 94, 96, 98, 102, 106, 116, 131, 138, 144 f., 149, 160, 178, 180, 183, 194, 206 f., 209, 211, 220, 225 f., 228 f., 239, 248, 265, 267, 273 f., 284, 314, 318 Erstauslösung 16, 19, 46 f., 68–81, 86 f., 164, 195 Erste-Person-Perspektive 34, 47, 59, 84, 87, 199, 204–208, 211, 216 Eschatologie/eschatologisch 9, 12, 226, 240 f., 245, 255–257, 263, 276 f., 291, 293, 300, 303–306, 309, 311–313, 317, 320 vgl. Allerlösung; Annihilation; Dualismus, eschatologischer; Gericht; Heil/Unheil; Strafe/Höllenstrafe; Vollendung Ethik/Ethiker/ethisch 15, 23, 93, 107, 131 f., 147, 204, 218–221, 251, 272 f., 282, 287– 289, 301, 308
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Evangelium/evangelisch 9 f., 225–228, 235, 238, 244 f., 262 f., 266, 276, 280 f., 285– 287, 309 f., 314 f., 320 Evolution/evolutionär 94, 96, 129, 178, 182, 211, 250, 253, 264–266, 268, 272, 280 Exocytose 184–187, 215 Experiment/experimentell 14, 49, 89–92, 95, 98, 125–127, 129 f., 140, 157, 165–171, 173, 175, 177–184, 186, 190, 198 Extraversion/extravertiert 116, 119 Fatalismus/Fatalismusproblem/fatalistisch 12, 47, 66, 78, 87 f., 157, 159, 162–164, 182, 201–207, 209–211, 222 f., 224 f., 260, 275, 316, 318 f. Fatum 146, 157, 200 f., 203, 243 295 Freiheit vgl. Handlungsfreiheit; Willens unfreiheit – christliche 282, 285 – ethische 15, 23 – personale 26, 28, 32, 37, 46, 84 f., 148, 215, 226 Gefühl 12,58, 68–73, 76–80, 82, 86 f., 93 f., 98 f., 103, 105–107, 113–116, 121, 123, 131 f., 134–138, 144 f., 151–154, 157, 163, 182, 200, 205 f., 209, 280, 283, 287 Gehirn vgl. Amygdala; Basalganglien; Cortex; Hippocampus; Limbisches System; Mesolimbisches System; Neuromodulatoren; Neurotransmitter; Selbstberuhigungssystem; Stressverarbeitungssystem; Synapse geistig vgl. mental Geist Gottes 233, 254, 276, 280 Gene/genetisch 18, 31, 89, 98–103, 109, 115–118, 148 f., 155, 157, 160, 162, 182, 272 Gerechtigkeit Gottes 226, 229f, 239 f., 291, 306, 309 Gericht, eschatologisches 285, 290–304, 308 f., 311–314 Geschöpf/geschöpflich 12, 226, 235–237, 248 f., 252 f., 257, 259, 261, 263–269, 275, 281–284, 292, 316, 319 Gesetz, religiöses 228, 234, 239, 243, 285, 302, 304 f. Glaube/Unglaube 9, 12, 226, 229, 233, 238–240, 243, 254, 256, 259 f., 262 f., 265, 269, 275–281, 285–287, 290, 292 f., 307, 309–311, 313 f., 316 f., 320
338
Stichwortregister
Glaubensentstehung 280 f., 287, 290, 314 Gnade/gnadenhaft 12, 218, 225 f., 228–231, 235 f., 239–241, 244, 249, 276–278, 283, 285–287, 290, 292 f., 307, 309–311, 313 f., 316 f., 320 Gott vgl. Allwirksamkeit; Allwissenheit; Deus absconditus; Deus revelatus; Gerechtigkeit; Gnade; Geist Gottes; Reich Gottes; Vorsehung Gotteslehre 12, 267–269, 316 vgl. Interak tionsmodell Gottesreich, vgl. Reich Gottes Gottoffenheit 271 f., 316 Großhirnrinde, vgl. Cortex Grund/Gründe 11, 16, 19–21, 31–33, 52, 90, 93–95, 124, 126, 148, 162, 189, 214 f., 220, 222, 224, 241, 275, 318 vgl. Ursache Handeln Gottes in der Welt vgl. Interaktionsmodelle Handlungsalternativen vgl. Alternativismus Handlungsfreiheit/handlungsfrei 15 f., 23, 25–27, 30, 32, 37, 39, 46, 50, 84, 87, 149, 151, 215, 217, 219, 243, 251, 279, 283 f. Handlungsgedächtnis vgl. Basalganglien Handlungsplanung 108, 119, 128 f., 131, 135, 143, 153, 288 Handlungssteuerung 50, 62, 98, 108, 119, 122 f., 125, 130, 133 f., 136, 144, 150, 160, 189, 193 Handlungsverursachung 30, 32, 84–86, 164, 216 f. Heil/Unheil 9, 227–230, 234, 240, 259 f., 277, 285, 288, 295–297, 300, 304, 307–315, 317 Heilige Schrift vgl. Bibel Heiliger Geist vgl. Geist Gottes Heilsgewissheit 228–230, 240 f., 301 Heilsuniversalismus 309–313 hidden variables vgl. Parameter, verborgene Hippocampus 105, 111 f., 121, 147 Hölle 226, 228, 230, 234, 239 f., 276, 285 f., 291–293, 296 f., 299 f., 311, 313–315 vgl. Strafe/Höllenstrafe Humanismus/human 12, 37, 161, 163, 227, 283 f., 291 Ichbezogenheit 271–273 Ideation 184 f. Identitätstheorie 59 f., 62, 89 Immanenz/immanent 251, 256, 260, 262, 273
immateriell 29, 56, 59, 185, 187, 189, 254 Impossibilismus 10 f., 23 f., 204 Impulskontrolle 109, 114, 119 Indeterminismus – epistemischer 58, 64–67, 87, 284 – illibertarer 11 f., 14, 47, 82, 84 f., 87, 90, 97, 158, 160, 162–164, 181–183, 189, 192–195, 202, 206–217, 219 f., 222–227, 244, 261–264, 266, 268, 276, 280–282, 287 f., 290, 313–316, 318–320 – ontologischer 10 f., 14, 17–23, 28, 39 f., 43, 45, 49–51, 54 f., 57 f., 83 f., 88–90, 157 f., 160, 162–165, 170 f., 173, 176 f., 180, 182 f., 187–195, 199–201, 207–210, 214, 217, 221, 223–225, 244 f., 265–268, 284, 288, 290, 319 – Quanten- 49 f., 84, 164, 171, 173, 177, 183, 187–190 Induktion/Induktionsproblem 50, 56, 84 Informationsverarbeitung 130, 141 f. Inkompatibilismus/inkompatibel 18, 22–24, 26, 43 f., 47, 56, 58, 62, 64, 67 f., 73–75, 77, 81 f., 127, 150 f., 153, 156 f., 177, 217, 245, 249, 283 f. Innerer Zwang vgl. Abhängigkeit Intelligibilität 16, 19, 21, 162, 195, 247 Interaktionsmodell 225, 235, 245, 247–250, 254, 259–263, 265, 296 – aktuales 12, 245–252, 257 f., 261–263, 268, 273, 280 f., 290, 315 – repräsentatives 245, 254–257, 263, 280, 315 – sapiential-ordinatives 245, 252–254, 257 f., 261–263, 273, 280 f., 290, 315 Interferenz 169–171, 186 Intuition/intuitiv 11, 16–19, 21, 24, 26, 35, 37–48, 55, 57 f., 60, 64, 66–70, 73, 75, 79, 81, 84–88, 151 f., 162, 164, 183, 194 f., 202, 210, 213, 217, 221, 223 f., 229, 283 f., 318 f. Kausalität/kausal 11, 19, 21, 42, 44, 52, 54–56, 60–64, 70, 89 f., 95, 127, 129, 152, 155, 158, 173, 175, 187, 192, 241, 244, 248, 257, 268 Kausalitätenkette 12, 16, 21, 45, 196 f., 241, 268 Kausalitätslücke 11, 49, 63, 148 f., 155, 158, 190 Kompatibilismus/Kompatibilisten/kompatibel 10, 14–16, 19, 21–26, 35, 38, 41, 43 f.,
Stichwortregister 46–48, 50, 52–54, 56–58, 62, 67 f., 71–75, 77 f., 81 f., 84–86, 92, 94, 96–98, 126, 147–149, 151, 155, 162–164, 173, 189 f., 194 f., 212–214, 216, 219, 221, 223–226, 241–243, 245, 276, 283 f., 314, 318 – Irrelevanz- 22–25, 28 – Krypto- 67, 81 – tragischer 23 Konditionalanalyse 38 f., 49 f., 55 Konditionierung – emotionale 100, 103–106, 113, 123, 132 – Kontext- 106 f. Konsequenz-Argument 18 f., 31, 35, 38, 43–47, 53, 63–65, 82, 87, 217 Kontingenz/kontingent 54, 173, 198, 252, 255, 260, 274, 288 Kontrolle 16, 19, 43–46, 64, 129, 137, 141, 216 Kosmologie/kosmologisch 176, 244, 265 f., 303–305 Kritischer Rationalismus 49, 56 186 Kultur des Evangeliums 262f, 280, 315 f. vgl. Interaktionsmodell, sapiential-ordinatives Lebensführung 11 f., 86, 97, 160, 162–164, 178, 183, 195, 198, 218–224, 266, 276, 287–290, 316 f., 319 Lebensgeschichte 18, 101, 163, 196, 45, 55, 64 Lebenshoffnungen 69 f., 78, 86 Lebensphilosophie 77, 80, 82 Lebensvollzug 202, 206 Lebenswelt/lebensweltlich 83, 165, 178, 181, 283 Libertarismus/libertar, Libertaristen/Libertarier 22–24, 43, 46–58, 84, 86, 151, 160, 162, 173, 183, 189, 192, 195, 200, 203, 206, 210 f., 214, 217, 224, 284 Limbisches System/limbische Ebenen 30, 100, 102–109, 113–115, 1 20–124, 127–129, 131–136, 140, 146 f., 150, 152–154, 193 Makrowelt 178, 181 many worlds theory 176 Menschenbild 9, 12, 20, 37, 95–97, 124, 144, 147, 160 163, 173, 177, 289, 318, 320 Mentales/mental 19 f., 54, 57, 59–62, 89, 109, 115, 130, 137, 145, 148, 161 f., 248 Mesolimbisches System 103–105, 107, 113, 115, 121 f., 144 Mesowelt 178, 181 f., 192–194, 197
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Messproblem 172, 191 Metaphysik/metaphysisch 15, 49, 66, 148, 150, 176 f., 225, 242 Mikroebene vgl. Quantenebene Monismus/monistisch 12, 20, 59–62, 161, 246, 251 Moral/moralisch 52, 71, 75 f., 96, 109, 187, 203, 219 f., 222, 249, 269, 274 Motive vgl. Determinanten Naturalismus/naturalistisch 61, 65 f., 74 f., 80, 87, 173, 206 Naturgesetz/naturgesetzmäßig 14, 18 f., 43, 45, 48–50, 54–56, 65, 95, 243, 246, 252, 258, 261 f. Naturwissenschaft/naturwissenschaftlich 15, 56, 58–60, 66, 89, 94, 96 f., 151, 157, 163, 165, 177, 186 f., 212, 225, 244, 252, 263–265 Neurobiologie/Neurobilogen/neuro biologisch 9–11, 24, 28, 56 f., 60, 89, 91, 94–99, 102, 109, 116, 129–131, 137 f., 141, 144, 147, 149, 152, 154, 159 f., 162 f., 177, 188 f., 212 f., 215, 224, 231, 248, 282, 314, 318–320 vgl. Gehirn Neuromodulatoren 104, 108–110, 112, 115 f., 118–120 neuronal 35, 40, 56 f., 59 f., 92–94, 97, 103, 108, 119, 122, 127, 129, 144, 158, 160, 162, 183 f., 188, 193, 207, 212 214, 273 Neurotizismus/neurotizistisch 116–119 Neurotransmitter 108, 184 f., 193 Neuschöpfung 255, 259, 261 Nihilismus 23 f., 271, 311 Notwendigkeit/notwendig 9, 11 f., 16–19, 24, 28 f., 31, 38–42, 51, 54 f., 57 f., 64, 68, 73–75, 85, 120, 127, 130, 135 f., 141, 144, 150, 156, 162, 164, 174, 181, 185, 188, 196, 199–202, 210, 212–214, 225, 227 f., 231, 233, 235–237, 241, 243, 254, 258, 260, 266, 268, 278 f., 282–284, 290, 317 Ontologie/ontologisch 10 f., 15, 17, 19 f., 23 f., 28, 53, 58, 61, 65, 69, 85 f., 89 f., 99, 157–159, 162–164, 176 f., 188 f., 192, 194 f., 199, 207, 211, 214, 217, 219, 221, 223–226,241, 243 f., 248, 260, 263, 265– 267, 282, 284, 288, 303, 314 f. Panentheismus 245 f., 255, 258 Pantheismus 245 f., 248, 256, 258
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Stichwortregister
Paradoxie/paradox 135, 190, 205, 239, 283, 307 Parameter/verborgene 174 Personale Fähigkeit/en 29, 52 Persönlichkeit 30, 71, 86, 96–102, 107 f., 110, 113–119, 123, 126, 141, 147, 149, 152 f., 155 f., 160, 206 f., 213, 221, 318 f. vgl. Extraversion; Gottoffenheit; Ich bezogenheit; Neurotizismus; Vier-Ebenen-Modell Photon 171–173, 178 f., 182 Pietismus 226, 291, 293 Plausibilisierung/plausibel 11, 17 f., 33, 35 f., 41 f., 48, 52, 54 f., 59, 63–65, 76, 79 f., 84 f., 104, 157, 161, 164 f., 186 f., 189, 193 f., 210, 302, 315, 319 f. Positivismus 57 Prädestinationslehre 226 f., 240, 244, 269, 276, 305–309, 315 vgl. Verstockung Präferenz – momentane 30–32, 34, 36 f., 84, 98, 215–217 – nicht-personale- 30, 41, 83, 286 – personale 29–37, 40 f., 46, 62, 83, 150, 215–217, 318 f. Prämisse 44, 75, 186, 188, 217, 300 Prinzip alternativer Handlungsmöglich keiten vgl. Alternativismus Probabilismus/probabilistisch 27 f., 67, 93, 159, 171–174, 176–182, 184, 190 f., 211, 213–216, 224, 269 Quantenphysik/quantenphysikalisch 10 f. 28, 58, 67, 83, 87, 157 f., 163–165, 171, 174, 177 f., 180, 183, 187 f., 190, 193 f. vgl. Überlagerungszustand Quantenteilchen vgl. 165–168, 170–174, 180 f., 184, 192 Quantenwelt/Quantenebene 11, 159, 165, 170, 174, 177, 188, 190 f. Rationalismus 49, 56, 93, 186 vgl. Kritischer Rationalismus Rationalität/rational 16, 24, 29, 31, 33–36, 46, 49, 56 f., 67, 85–87, 93, 102, 108, 122–124, 126 f., 129, 131–134, 136, 150, 154, 160, 186 f., 206, 212 f., 218, 224, 247, 257 vgl. Vernunft Rechtfertigungslehre 9, 12, 25, 68, 108, 225 f., 229, 244, 276, 280, 281, 287, 290, 292, 302, 308, 314, 316, 320
Reduktionismus 130 Reformation/reformatorisch 9, 12, 225 f., 230, 240 f., 244, 276–278, 290, 315 Reformatoren 227 f., 238, 284, 291 Regress/Regressproblem 33, 35 f., 51, 54, 65, 205, 208 Reich Gottes 12, 226, 239, 255, 261–264, 268, 281, 287 f., 290, 293–295, 297, 299, 316 Religionsgeschichte Israels 240 252, 257, 260–262, 264, 271, 278, 290, 299, 310 Reittier 231, 286 Relevanzbedingung 60–62 Risikowahrnehmung 109, 115–117, 119 Schicksal vgl. Fatum Schöpfung 12, 236, 242, 245, 250–252, 255–259, 261, 263–270, 274–276, 281, 290, 293, 304, 315 f. Schuld 14, 51, 148, 155, 222, 237, 269, 284 f., 311 Seele 17, 20, 56, 58 f., 61, 89, 131, 248, 253, 298 Selbständigkeit 68–76, 78, 81, 85, 87, 163, 275, 281, 315 Selbstberuhigungssystem 109, 112–114, 117–119 Selbstbestimmung/selbstbestimmt 28 f., 31–34, 36 f., 46, 60, 126, 128, 148, 150 f., 173, 241, 279 Selbstbewertungssystem 109, 113 f., 119 Selbsterkenntnis 98, 102, 145, 213, 291, 314, 319 Selbsttranszendenz 253, 261 servum arbitrium 225, 227, 244, 279 Sola fide 277 Sola gratia 12, 228, 240, 277, 285 Sozialisation 98, 101, 157, 160, 209, 270 Stoa 10, 14, 134 Strafe/Höllenstrafe/ bestrafen 14, 114, 228, 269, 291–293, 299 f., 306, 313 Strahlung/Strahlen 172, 178, 181 f., 168, 170, 196 f. Stressverarbeitungssystem 109–114, 117–119 Subjektivität 240, 260, 268, 275 Sucht vgl. Abhängigkeit Sünde/Sünder/sündigen 12, 226, 228, 230, 233, 236 f., 239, 241, 244, 263 f., 269, 271–276, 280 f., 285–287, 291 f., 298 f., 304–307, 309, 311, 316 Sündenfall 237, 264, 274, 315
Stichwortregister Suspensionsvermögen/Suspension/suspendieren 51 f., 54, 57, 65, 85, 160, 162, 202, 205, 208, 243 Synapse/synaptischer Spalt 108, 113, 183–185 Synergismus/Synergie 248, 277–279, 306 Synoptiker/synoptische Evangelien 294 f., 300, 302, 312 Theodizee 9, 226, 241, 249 f., 260, 305 f. Theologische Anthropologie 12, 226, 244 f., 260, 263–266, 314, 316, 318, 320 theory of mind 59, 90 Tradition/traditionell 12, 59, 89, 95, 97 f., 131, 135 f., 150, 218, 227, 246, 256, 259, 263 f., 266, 271, 276, 289–291, 295, 300, 302 f., 307, 309, 312–314, 316 f. Transferprinzip 44 f. Transzendenz/transzendent/transzendental 79, 145, 244, 246, 248, 252 f., 257 f., 271, 273, 289, 297 f., 304, 314 Überlagerungszustand 169 , 179, 256 Umwelt 99–102, 107–109, 115 f., 137, 142–145, 182, 254, 270, 287, 308 Unbewusste 11, 20 f., 62, 89–94, 98, 101 f., 105–107, 114 f., 120 f., 123 f., 126–129, 131, 133, 135, 137–144, 147, 149 f., 152–154, 160, 188, 205, 216, 240, 294, 314 Ungläubige 239 f., 244, 281, 291, 297, 305, 307 Unheil vgl. Hölle; Strafe/Höllenstrafe Unkenntnis 27, 157, 175, 177, 203, 232 Unnachgiebigkeit/unnachgiebig 68, 70, 72, 76 Unvereinbarkeit/unvereinbar vgl. Inkompatibilismus Urheberschaft 16, 18 f., 21, 25, 28, 46, 60, 82 f., 152, 162, 187, 214, 216 Ursache/verursachen, 19 f., 30, 51, 54 f., 73, 109, 126, 129, 144, 152 f., 158, 162, 177, 196, 214, 216, 221, 236 f., 240, 242, 247, 252 f., 256, 289, 307, 320 vgl. Grund Ursünde 228, 273 Verantwortung/verantwortlich 14–16, 25, 65, 68, 74–76, 83, 103, 107, 116, 155, 186, 204, 214, 219, 233, 236, 247, 251, 269, 274–276, 278, 292, 299, 304, 308 314 Verdammnis/Verdammung/verdammt vgl. Hölle; Strafe/Höllenstrafe Vereinbarkeit/vereinbar vgl. Kompatibilismus
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Verheißung 240, 259, 285, 295 f., 306 Vernunft/vernünftig 50, 54, 67, 93, 96, 98, 124, 131–137, 144, 149, 160, 230 f., 238, 251 vgl. Rationalität Versöhnung/Versöhnter/versöhnen 219, 226, 228, 241, 245, 263, 293, 311 Verstand 98, 108, 123, 131–136, 144, 149, 154, 160, 213 Verstockung/verstocken/verstockt 230, 236, 273, 306 f. Vertrauen 77, 80 f., 87, 115, 135, 228, 230, 272, 277, 281, 283, 286, 288, 290, 315 Vetorecht 90 f., 154, 183 Vier-Ebenen-Modell der Persönlichkeit 102–108, 113, 116, 123–125, 132 f., 153 Vollendung/Vollender/vollenden 245, 258 f., 261, 263, 265, 275 f., 290 Voraussage/voraussagen 27, 156, 177, 191, 203 Vorbewusstes/vorbewusst 131, 137, 139–143, 152, 257 Vorsehung/Vorsehungslehre 242 f., 258–261, 269 Vorwurf/vorwerfen 15, 35, 48, 52, 71, 221 f., 293 Wahrheit 9, 25, 44, 49, 54, 56 f., 66 f., 73, 77, 80, 84, 163, 170, 177, 224, 227, 231, 233, 247, 258, 263, 279 f., 311, 313 f. Wahrscheinlichkeit/wahrscheinlich vgl. Probabilismus Welle 166–173, 179 f., 183–185, 190 Welt vgl. Alltagswelt; Lebenswelt; Makrowelt; many worlds theory; Mesowelt; Mikroebene; Quantenwelt; Umwelt Weltanschauung 67, 69 f., 72, 78, 81, 203, 220, 245 f., 288 Weltbild 10 f., 14, 17–19, 21–23, 27, 51 f., 54, 58, 61, 63, 66, 76, 79, 83–87, 95, 157, 164 f., 177, 198 f., 201, 204, 209, 211, 213, 215–217, 219–221, 223, 225, 241, 249, 263, 299, 314, 319 Weltoffenheit/weltoffen 270–273 Weltverlauf 18 f., 55, 173, 268, 290 Werk/Werkgerechtigkeit 228–230, 277–280, 285 f. Willensunfreiheit/willensunfrei 9–12, 42, 46, 154, 163, 202, 221, 225–228, 232, 234, 237, 240, 244, 266, 269, 282, 313, 315, 320 Willensvermögen 227–229, 231, 233 f.
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Stichwortregister
Willkür/willkürlich 16 f., 33, 91, 187, 189, 212, 214 Zufall/Zufälligkeit/zufällig 10–12, 17–19, 21 f., 25, 27–29, 38, 40–43, 46, 49–52, 54–58, 62, 64, 67, 83 f., 93, 150, 155–160, 162–165, 170–174, 176, 178–183, 187–202, 207–216, 223 f., 233, 238, 266– 268, 271, 273, 281, 287, 290, 315 f., 319
Zukunft 12, 17, 19, 35, 37, 42, 47, 58, 64–66, 69 f., 78 f., 81, 86–88, 114, 156, 162–164, 172, 182, 189, 195, 198–204, 206, 209–211, 213, 216f, 221–224, 241, 251, 255 f., 258, 260, 264, 267–269, 289, 300, 306, 316, 319 Zuschreibung 15, 27 f., 40, 42, 49, 75 f., 148, 152, 156, 195, 216, 242, 254, 261, 275, 282, 285