Das Mehrheitsprinzip in der Demokratie. Grundlagen - Struktur -Begrenzungen [1 ed.] 9783428453481, 9783428053483


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German Pages 289 Year 1983

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Das Mehrheitsprinzip in der Demokratie. Grundlagen - Struktur -Begrenzungen [1 ed.]
 9783428453481, 9783428053483

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Schriften zum Öffentlichen Recht Band 440

Das Mehrheitsprinzip in der Demokratie Grundlagen – Struktur – Begrenzungen Von

Werner Heun

Duncker & Humblot · Berlin

WERNER HEUN

Dae Mehrheitsprinzip in der Demokratie

Schriften zum öffentlichen Band 440

Recht

Das Mehrheitsprinzip in der Demokratie Grundlagen — Struktur — Begrenzungen

Von

Dr. Werner Heun

DÜNCKER & HUMBLOT/BERLIN

G e d r u c k t m i t U n t e r s t ü t z u n g des F ö r d e r u n g s u n d B e i h i l f e f o n d s Wissenschaft d e r V G W O R T

CIP-Kurztitelaufnahme der Deutschen Bibliothek Heun, Werner: Das Mehrheitsprinzip i n der Demokratie: Grundlagen — S t r u k t u r — Begrenzungen / v o n Werner Heun. — Berlin: Duncker u n d Humblot, 1983. (Schriften zum öffentlichen Recht; Bd. 440) I S B N 3-428-05348-6 NE: GT

Alle Rechte vorbehalten © 1983 Duncker & Humblot, Berlin 41 Gedruckt 1983 bei Berliner Buchdruckerei Union GmbH., Berlin 61 Printed in Germany ISBN 3 428 05348 6

Vorwort Die vorliegende Arbeit wurde i m Manuskript i m Herbst 1981 abgeschlossen und lag der Juristischen Fakultät der Bayerischen JuliusMaximilians-Universität i n Würzburg als Dissertation i m Wintersemester 1981/82 vor. Das Promotionsverfahren wurde Ende des Sommersemesters 1982 abgeschlossen. Die Arbeit wurde dann unter Berücksichtigung der bis Juni 1982 erschienenen Veröffentlichungen geringfügig überarbeitet. Danken möchte ich an erster Stelle meinem Lehrer Professor Dr. Georg Brunner, der mich an die wissenschaftliche Beschäftigung m i t der Staatslehre und dem Verfassungsrecht herangeführt, meine Studienzeit und die Entstehung der Arbeit m i t K r i t i k und Rat begleitet hat. Für K r i t i k und Anregungen danke ich auch Herrn Professor Dr. Hasso Hofmann, der das Zweitgutachten erstellt hat. Außerdem gilt mein Dank Herrn Professor Dr. Klaus Schiaich, dessen eingehende Anregungen i n die Überarbeitung eingeflossen sind. Schließlich haben noch Hinweise von Professor Dr. Dr. h. c. Ernst Friesenhahn Aufnahme i n die Arbeit gefunden, für die ich gleichfalls danke. Nicht zuletzt möchte ich auch meinem Freund Ulrich Wenner für die kritische Durchsicht des Manuskriptes und meiner Schwester Gisela für die Hilfe beim Korrekturlesen danken. Meinen Dank möchte ich auch aussprechen Herrn Professor Dr. Broermann für die Aufnahme der Arbeit i n diese Schriftenreihe und der Verwertungsgesellschaft Wort sowie der Juristischen Fakultät der Universität Würzburg für die Gewährung eines Druckkostenzuschusses. Bonn, i m Februar 1983 Werner

Heun

Inhaltsverzeichnis Einleitung: Demokratietheoretische Grundlegung I. Das Mehrheitsprinzip als Begriff I I . Die Geschichte des Mehrheitsprinzips

13 39 41

I I I . Die Rechtfertigung des Mehrheitsprinzips i n der Demokratie

79

I V . Die S t r u k t u r der Mehrheitsentscheidung i n der Demokratie

106

A . Das Subjekt der Mehrheitsentscheidung

106

1. Zahlenganzheit u n d rechtliche Einheit

106

2. Das Prinzip der Gleichheit a) Allgemeinheit b) W a h l - u n d Abstimmungsgleichheit

109 110 112

3. Entscheidungsbeteiligung

120

4. A r t e n der Entscheidungsmehrheit

124

B. Das Objekt der Mehrheitsentscheidung

130

1. Die Begrenzung der Mehrheitsentscheidung auf eine Frage u n d wenige A l t e r n a t i v e n 130 a) Die Hervorbringung des Objekts durch eine Reduzierung der A l t e r n a t i v e n 140 b) Erweiterung der A l t e r n a t i v e n durch das Parteienwesen u n d das Repräsentationsprinzip 144 2. Entscheidungsarten a) Sachentscheidungen — Abstimmungen b) Personalentscheidungen — Wahlen C. Das Verfahren

145 147 152 162

1. Die Notwendigkeit einer Verfahrensordnung

162

2. Formales Vorverfahren

163

3. Gleichzeitigkeit des AbstimmungsVorgangs

165

4. Freiheit u n d Geheimheit der Abstimmungen u n d Wahlen . . 166 5. A r t e n des Abstimmungs Verfahrens

170

6. Die Feststellung des Abstimmungsergebnisses u n d der V o l l zug der Mehrheitsentscheidung 172 Resümee: Die fünf Grundelemente jeder Mehrheitsentscheidung 173

8

Inhaltsverzeichnis V. Die Voraussetzungen des Mehrheitsprinzips i n der Demokratie

175

A . Homogenität des Gemeinwesens u n d politischer Grundkonsens 176 B. Meinungsfreiheit u n d öffentliche Meinung

190

C. Die Chance des Mehrheitswechsels u n d die Änderbarkeit der Mehrheitsentscheidung 194 V I . Immanente Begrenzungen des Mehrheitsprinzips

202

A . Entscheidungsbereitschaft

203

B. Betroffenheit

205

C. Das Intensitätsproblem

209

D. Sachkompetenz

214

E. Verschiedenartigkeit größerer staatliche Verbandseinheiten)

Verbände

(Interessengruppen,

218

V I I . Heteronome Begrenzungen des Mehrheitsprinzips i n der Demokratie 222 A . Normative Begrenzungen

222

1. Individualautonomie — Grundrechte

227

2. Gruppenautonomie u n d Minderheitenschutz a) Strukturelle Minderheiten b) Politische Minderheiten — Opposition

231 233 239

3. Verfahrensvoraussetzungen der Mehrheitsentscheidung

243

B. Verfassung u n d Gewaltenteilung

244

C. Faktische Grenzen 1. Das Effektivitäts- u n d Zeitproblem

256 256

2. Das Kostenproblem

258

V I I I . Funktionen u n d Bedeutung des Mehrheitsprinzips i n der Demokratie 261 Auswahlbibliographie

267

Sach- u n d Personenregister

285

Abkürzungsverzeichnis Anm. AöR APSR ARSP Art. Aufl. Bay GO Bd. belg. BK Bln. Brem. BV BVerfG BVerfGG BW. Β Wahl G BWahlO BWahlPrüfG c. C. dän. ders. Dig. Diss. DÖV dt. DVB1. ebd. ed. engl. EuGRZ EVStL FAZ fol. Forts. frz. GeschOBR GeschOBT GG GVG

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Anmerkung A r c h i v des öffentlichen Rechts American Political Science Review A r c h i v für Rechts- u n d Sozialphilosophie Artikel Auflage Bayerische Gemeindeordnung Band belgisch Bonner Kommentar zum Grundgesetz Berlin Bremen Bayerische Verfassung Bundesverfassungsgericht Bundesverfassungsgerichtsgesetz Baden-Württemberg Bundeswahlgesetz Bundeswahlordnung Bundeswahlprüfungsgesetz Kapitel Codex Iustinianus dänisch derselbe Digesten Dissertation Die öffentliche V e r w a l t u n g deutsch Deutsches Verwaltungsblatt ebenda edition englisch Zeitschrift Europäische Grundrechte Evangelisches Staatslexikon Frankfurter Allgemeine Zeitung folio Fortsetzung französisch Geschäftsordnung des Bundesrats Geschäftsordnung des Bundestags Grundgesetz Gerichtsverfassungsgesetz

Abkürzungsverzeichnis

10 Hbg. HdbStKirchR HdSW Hrsg. HZ idR iSv i t al. iVm Jh. JöR JoP JuS JZ Lux. mE M G H Const M G H Script. Rer. Merov.

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Hamburg Handbuch des Staatskirchenrechts Handwörterbuch der S oziai wissenschaf ten Herausgeber Historische Zeitschrift i n der Regel i m Sinne v o n italienisch i n Verbindung m i t Jahrhundert Jahrbuch des öffentlichen Rechts Journal of Politics Juristische Schulung Juristenzeitung Luxemburg m i t Einschränkung Monumenta Germanica Historica Constitutiones

= Monumenta Germanica Historica Scriptorum Rerum Merovingicarum M G H SS = Monumenta Germanica Historica Scriptores MitbestG = Mitbestimmungsgesetz MRK = Europäische Menschenrechtskonvention mwN = m i t weiteren Nachweisen N. F. = Neue Folge niederl. = niederländisch NJW = Neue Juristische Wochenschrift Norw. = Norwegen Nouv. = Nouvelle N.-W. = Nordrhein-Westfalen NZZ = Neue Züricher Zeitung österr. = Österreich PreußVerwBl. = Preußisches Verwaltungsblatt PVS = Politische Vierteljahresschrift Rdn. = Randnummer RFSP = Revue Française de Science Politique Rhld-Pf. = Rheinland-Pfalz Rspr = Rechtsprechung RVerf = Reichsverfassung RWahlG = Reichswahlgesetz s. (a.) = siehe (auch) S. = Seite schwed. = schwedisch SchweizBV = Schweizer Bundesverfassung Sp. = Spalte Staat = Der Staat StGB = Strafgesetzbuch StuR = Staat u n d Recht

Abkürzungsverzeichnis t. u. a. Verf. vgl. vol. VVDStRL

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WRV Ζ ZaöRVR

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ζ. B. ZevKR Ziff. ZfP Z R G Germ.Abt.

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11

tome u n d andere Verfassung vergleiche volume Veröffentlichungen der Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer Weimarer Reichs Verfassung Zeile Zeitschrift für ausländisches öffentliches Redit u n d V ö l k e r recht zum Beispiel Zeitschrift für evangelisches Kirchenrecht Ziffer Zeitschrift für P o l i t i k Zeitschrift für Rechtsgeschichte Germanistische A b t e i l u n g Zeitschrift für Rechtsgeschichte Kanonistische A b t e i l u n g Zeitschrift für Rechtspolitik zusammen Zeitschrift für Schweizer Recht Zeitschrift für Parlamentsfragen

Einleitung : Demokratietheoretische Grundlegung Demokratie heißt Volksherrschaft. Diese Bedeutung des Wortes „Demokratie" hat verschiedentlich eine uneingeschränkte Gleichsetzung von Demokratie und Mehrheitsprinzip hervorgerufen: „Demokratie ist Mehrheitsentscheidung 1 ." Damit w i r d die Demokratie i n ihrem ganzen Bedeutungsgehalt aber schwerlich erfaßt. Das Mehrheitsprinzip selbst ist lediglich ein Herrschaftsverfahren 2 , durch das Entscheidungen hervorgebracht werden. Das gesamte politische System der Demokratie kann jedoch nicht auf dieses Verfahren reduziert werden, auch wenn das Mehrheitsprinzip über den verfahrenstechnischen Aspekt hinaus eine weitreichende materiale Bedeutung für die Demokratie besitzt 3 und sich nicht i n der formalen Funktion erschöpft. Bei der Behandlung des Themas muß man daher zuerst einen Blick auf das „System Demokratie" werfen, i n das das Mehrheitsprinzip einzuordnen ist. Nun kann es nicht Zweck dieser Untersuchung sein, umfassend das demokratische Herrschaftssystem der Gegenwart zu beschreiben, u m dann auf das Mehrheitsprinzip i m einzelnen überzugehen. Es soll vielmehr hier i n der Einleitung i n Grundzügen der Bezugsrahmen für das Mehrheitsprinzip i n der Demokratie herausgearbeitet werden. Das soll durch einen Rückgriff auf die moderne Demokratietheorie geschehen. Angesichts des Umfangs der vorhandenen Literatur, die unter diesem Schlüsselwort heutiger Politikwissenschaft firmiert, gilt es, sich hier auf die grundsätzlichen Argumentationslinien zu beschränken 4 . 1

So etwa Voigt, Alfred, Ungeschriebenes Verfassungsrecht, V V D S t R L 10 (1952), S. 33 ff. (52). 2 Hättich, Manfred, Demokratie als Herrschaftsordnung, K ö l n u. a. 1967, S. 41. — A u f den verfahrenstechnischen Gehalt w i l l das Mehrheitsprinzip beschränken Scheuner, Ulrich, Das Mehrheitsprinzip i n der Demokratie, Opladen 1973, S. 54 f.; ders., Der Mehrheitsentscheid i m Rahmen der demokratischen Grundordnung, i n Festschrift W. Kägi, Zürich 1979, S. 301 ff. (301): Huber, Hans, Die Schweizerische Demokratie, i n Rechtstheorie, Verfassungsrecht, Völkerrecht, Bern 1971, S. 451 ff. (469); vgl. auch Scholz, Rupert, K o a l i tionsfreiheit als Verfassungsproblem, München 1971, der das Mehrheitsprinzip jedenfalls außerhalb des politisch-demokratischen Bereichs als bloße Methode betrachtet (377). Auch Hayek, Friedrich A . von, Die Verfassung der Freiheit, Tübingen 1971, S. 126, sieht i n der Demokratie als Herrschaft der Mehrheit n u r ein Verfahren. 3 Höpker, Heinrich, Grundlagen, E n t w i c k l u n g u n d Problematik des M e h r heitsprinzips u n d seine Stellung i n der Demokratie, Diss. K ö l n 1957, S. 98.

14

Einleitung: Demokratietheoretische Grundlegung

Zwei Grundtypen lassen sich vorderhand unterscheiden: einerseits normative Demokratietheorien, die die Herrschaftsform der Demokratie zu begründen versuchen, und andererseits deskriptive 5 Theorien, die das politische System der Demokratie beschreibend erfassen wollen 6 . Eine befriedigende Demokratietheorie w i r d sich nur finden lassen, wenn beide Komponenten i n eine Gesamtanalyse des Systems der Demokratie eingehen. Weder läßt sich die Herrschaft vernünftig begründen, ohne daß die politische Realität, empirische Erkenntnisse von den Möglichkeiten und Begrenzungen des politischen Prozesses und seinen Auswirkungen i n das normative Modell einfließen, noch ist eine k r i t i sche Beschreibung der Realität ohne einen normativen Kontrollmaßstab denkbar. „Demokratietheorie ist nur als ein System von Aussagen konzipierbar, i n dem ein bestimmter Erfahrungszusammenhang m i t den i h m zugehörigen objektivierten Geltungsüberzeugungen verarbeitet wird 7 ." Bei näherer Betrachtung können die modernen Demokratietheorien i n fünf Richtungen eingeteilt werden, innerhalb derer die einzelnen Autoren verschiedene Schwerpunkte setzen und auf andere Weise nuancieren. Darüber hinaus sind einige Theorien, die sich nicht i n dieses Raster einfügen, zusätzlich zu berücksichtigen. Letztere bilden aber den Ausgangspunkt zu einer umfassenden Gesamtanalyse des demokratischen Systems unter normativen und empirischen Aspekten. Die fünf hauptsächlichen Spielarten moderner Demokratietheorie lassen sich etwa folgendermaßen bezeichnen: — die empirisch-deskriptive Demokratietheorie — die „kritische" Demokratietheorie — die skeptizistische Demokratietheorie — die Systemtheorie — die ökonomistische Demokratietheorie. Dabei ist i n unserem Zusammenhang vor allem die unterschiedliche Betonung normativer Gesichtspunkte bedeutsam. 4

Gewissermaßen als Leitfaden dient hierbei Kielmansegg, Peter Graf, Volkssouveränität, Stuttgart 1977, auf dessen T e i l I I , S. 168 ff. sich die E i n leitung i m wesentlichen stützt. 5 Die sich zum T e i l auch als empirisch bezeichnen. β Während sich die einen m i t dem „Sollen" befassen, w i d m e n sich die anderen der Erkenntnis des „Sein", w e n n m a n es i n klassischer Terminologie ausdrücken w i l l . Z u den verschiedenen Ausgangspunkten vgl. auch Beyme, Klaus von, Die politischen Theorien der Gegenwart, 4. A u f l . München 1980, S. 19 ff. 7 Kielmansegg (Anm. 4), S. 11; vgl. auch Scharpf, Fritz, Demokratietheorie zwischen Utopie u n d Anpassung, Konstanz 1970, S. 92 f.

Einleitung: Demokratietheoretische Grundlegung

Die empirisch-deskriptive Demokratietheorie versucht die Ergebnisse der empirischen Demokratieforschung, die die alten liberalen Ideale des 19. Jahrhunderts als der Wirklichkeit nicht entsprechend erwiesen haben 8 , theoretisch zu bewältigen. Diese Theorie beschreibt i n erster Linie den demokratischen politischen Prozeß und seine Funktionen, stellt jedoch darüber hinaus auch den optimalen Charakter dieser Herrschaftsweise heraus. Diesen Weg beschreiten die Pluralismusthese und die Elitentheorie 9 , die sich daher und aufgrund ihrer engen Verbundenheit als empirisch-deskriptive Theorie zusammenfassen lassen und lange Zeit die Diskussion i n der Politikwissenschaft beherrschten. Die Pluralismuskonzeption hat dabei „die früh-liberale Meinungskonkurrenz durch konkurrierende Gruppeninteressen ersetzt, ohne darum den liberalen Anspruch einer aus Konkurrenzprozessen hervorgehenden höheren politischen Rationalität preiszugeben" 10 . Nach dem Pluralismusmodell gebiert der Interessenpluralismus durch einen Integrationsvorgang 11 das Gemeinwohl 1 2 , während gleichzeitig das Gemeinwohl als „regulative Idee" 1 3 die pluralistische Gesellschaft zusammenhält. Durch einen Ausgleich zwischen den verschiedenen Gruppeninteressen w i r d ein reflektierter Konsens herbeigeführt, der wiederum bereits eine Grundübereinstimmung voraussetzt 14 . M i t Hilfe einer idealisierenden Schilderung w i r d dieses deskriptive Modell normativ überhöht 1 5 , indem die unbestreitbaren Vorzüge pluralistischer Demokratie gegenüber dem dunklen Hintergrund monistischer politischer Systeme hervorgehoben werden. Diese letztere Überlegung kennzeichnet auch das Elitemodell Schumpeters 16 , das zahlreiche Nachfolger gefunden hat 1 7 . Da es weder ein objektives Allgemeinwohl gebe 18 , noch die Bürger rational entschie8

Kielmansegg (Anm. 4), S. 170. Vgl. dazu zusammenfassend Scharpf (Anm. 7), S. 29 ff. 10 Ebd. S. 31. 11 s. Oberndörfer, Dieter, Volksherrschaft — Z u r normativen Prämisse der Demokratie, i n Oberndörfer, Dieter / Jäger, Wolfgang, Die neue Elite. Eine K r i t i k der kritischen Demokratietheorie, Freiburg 1975, S. 11 ff. (19). 12 Vgl. Fraenkel, Ernst, Deutschland u n d die westlichen Demokratien, 7. A u f l . Stuttgart u. a. 1979, S. 41. 13 Ebd. S. 46. 14 Fraenkel (Anm. 12), S. 41 f.; vgl. jetzt zum Konsens i m Rahmen der Pluralismustheorie Massing, Peter, Interesse u n d Konsensus, Opladen 1979, insbes. S. 125 ff.; z u m Grundkonsens s. u. V, A . 15 Kielmansegg (Anm. 4), S. 179 f. 16 Schumpeter, Joseph Α., Kapitalismus, Sozialismus u n d Demokratie, 3. A u f l . München 1972, S. 427 ff. 17 Scharpf (Anm. 7), S. 35 ff. läßt die Elitentheorie sich aus dem Pluralismusmodell entwickeln u n d bezeichnet sie dementsprechend als „revidierte Pluralismustheorie" (S. 39). 9

16

Einleitung: Demokratietheoretische Grundlegung

den 1 9 , definiert er folgendermaßen: „Die demokratische Methode (sie!) 20 ist diejenige Ordnung der Institutionen zur Erreichung politischer Entscheidungen, bei welcher Einzelne die Entscheidungsbefugnis vermittels eines Konkurrenzkampfes u m die Stimmen des Volkes erwerben 21 ." Kollektive könnten, vor allem i n differenzierten Großgesellschaften, praktisch nur dadurch handeln, daß sie eine Führung akzeptierten 22 . Eine Kontrolle sei fast ausschließlich allein i n den Wahlen möglich 23 . Ein Vergleich zwischen dieser Herrschaftsform und anderen Minderheitsregimen müsse positiv ausfallen, denn es sei zu differenzieren. Oligarchien übertrügen als geschlossene Einheiten die Macht durch Erbschaft oder Kooptation, während demokratische Eliten aus Gruppen m i t bestimmten Funktionen bestünden, die zudem einem beständigen Wechsel und einer gewissen Kontrolle unterlägen. Erst eine derartige Polyarchie multipler Eliten und eine freie vertikale Mobilität und Zugänglichkeit der Minoritäten, die durch ihren funktionellen Charakter ermöglicht werden, konstituierten die Eigenart einer Demokratie 2 4 . Diese Auffassung übergeht die Aufgabe, Demokratie zu rechtfertigen, nahezu völlig und erschöpft sich praktisch i n empirischer Analyse. Beide Theorien enthalten „keine Aussage über die Prämissen, auf die sich ihr Geltungsanspruch stützt" 2 5 . Ein normativer Kontrollmaßstab, an Hand dessen auch ein Vergleich verschiedener Systeme erst ermöglicht wird, fehlt. Der Versuch Mayos 26 , die Geltungsgründe dieses empirisch gewonnenen Modells zu finden, ergibt nur eine Rechtfertigung der erkannten vorgegebenen Realität, fragt aber nicht nach den Konsequenzen der ermittelten Prämissen 27 . Die Prämissen werden damit 18

Schumpeter (Anm. 16), S. 397 f. Ebd. S. 397 ff. 20 s. A n m . 2 oben. 21 Schumpeter (Anm. 16), S. 428; vgl. auch die Definition v o n Schattschneider, E. E., The Semisovereign People, New Y o r k 1960, S. 141 (deutsche Ubersetzung (nur ausschnittsweise) aus Grube, F r a n k / Richter, Gerhard (Hrsg.), Demokratietheorien, Hamburg 1975, S. 88), die die Beteiligung der Bürger stärker betont. „Demokratie ist ein auf Wettbewerb beruhendes politisches System, i n dem konkurrierende Führer u n d Organisationen die A l t e r n a t i v e n der nationalen P o l i t i k i n einer Weise formulieren, daß die Öffentlichkeit an dem Entscheidungsprozeß partizipieren kann." 22 Schumpeter (Anm. 16), S. 429. 23 Ebd. S. 432. 24 Sartori, Giovanni, Democratic Theory, Detroit 1962, S. 116, wobei diese Eliten den Beherrschten verantwortlich u n d kontrollierbar sein sowie t a t sächlich k o n t r o l l i e r t werden müssen, u m das System demokratisch sein zu lassen (S. 119). 25 Kielmansegg (Anm. 4), S. 173. 26 Mayo, H. B., A n Introduction to Democratic Theory, New Y o r k 1960, S. 213 ff. 19

Einleitung: Demokratietheoretische Grundlegung

jeder kritischen Funktion entkleidet. Auch der Versuch, dem Pluralismusmodell eine normative Grundlage zu geben, indem der allgemeine gesellschaftliche Wertkodex als consensus omnium dem pluralistischen Gemeinwesen als normative Prämisse unterschoben w i r d 2 8 , führt i n dieser Hinsicht nicht über den Ansatz Mayos hinaus. I m übrigen erliegt vor allem die Eliten-Konzeption weitgehend der Gefahr, das ganze politische System aus dem verengten Blickwinkel des Wahlaktes und seiner Folgen zu betrachten und zu interpretieren 2 9 . Dieser Rückzug auf die Deskription war i n dieser Schärfe nicht unbedingt notwendig, denn die empirische Demokratieforschung, die den Anlaß zum Überdenken des liberalen Modells gab, war auch auf normative Gesichtspunkte gestoßen. Das Paradox "Individual voters today seem unable to satisfy the requirements for a democratic system of government outlined by political theorists. But the system of democracy does meet certain requirements for a going political organizat i o n " 3 0 ließ die Frage nach den Voraussetzungen der Leistungsfähigkeit des Gesamtsystems aufkommen. Erst das " l o w interest" des "political man", dessen Intensität der Teilnahme zwischen derjenigen des "sociable" und derjenigen des "ideological man" liege 3 1 , garantiere gleichermaßen Stabilität und Flexibilität des Systems 32 zum Nutzen aller Bürger. Ganz ähnlich argumentiert Dahrendorf 3 3 , wenn er zwischen aktiver und passiver Öffentlichkeit unterscheidet und die Notwendigkeit einer initiativ wirkenden Elite damit begründet, daß diese die Offenheit des Systems ermögliche. Hier schließt sich wieder der Kreis zur Elitentheorie. Die Erkenntnis der systemstabilisierenden Funktionen des Wählerverhaltens erfaßt jedoch wiederum nur einen gewichtigen Einzelaspekt. Eine differenzierte Gesamtanalyse auch normativer Anforderungen, denen eine Demokratie gerecht werden muß, w i r d nicht geleistet 34 . 27

Kielmansegg (Anm. 4), S. 177. Massing (Anm. 14), S. 22, dessen Schrift diesen Ansatz ausführt. 29 Vgl. die bezeichnende Formulierung Schumpeters oben. 30 Berelson, Bernard, Voting, Chicago 1954, S. 312. 31 s. ebd. S. 323. 32 A u f G r u n d dieser leichten A p a t h i e werden einerseits Niederlagen (infolge des Mehrheitsprinzips) hingenommen u n d andererseits ein Wandel der Anschauungen ermöglicht. Auch der das Gemeinwesen verklammernde Grundkonsens setzt ein solches " l o w interest" voraus, s. Berelson (Anm. 30), S. 314 ff. 33 Dahrendorf, Ralf, A k t i v e u n d passive Öffentlichkeit, M e r k u r 1967, S. 1109 ff. 34 s. Kielmansegg (Anm. 4), S. 184. 28

2 Heun

18

Einleitung: Demokratietheoretische Grundlegung

Gegen das Pluralismusmodell, die empirische Demokratieforschung und ihre theoretischen Folgerungen ist i n den letzten Jahren eine heftige K r i t i k zu erheblichem Umfang angeschwollen, die von einem Standpunkt ausgeht, der die individuelle Selbstbestimmung als normativen Wert rigoros zur Anwendung bringt. Als „Theorie demokratischer Elitenherrschaft" 35 sei die überwiegende Richtung der Demokratietheorie zu einer bloßen Rechtfertigung des status quo verkommen. Dagegen präsentiert sich diese K r i t i k als „Kritische Theorie", die die modernen politischen Systeme industrialisierter Großgesellschaften an der Elle politischer Selbstentfaltung des Einzelnen mißt und die Demokratiepostulate Volkssouveränität, Gleichheit und Selbstbestimmung gleichsam radikal beim Wort n i m m t 3 6 . Während die empirisch-deskriptive Richtung von der empirischen Realität ausgegangen war, steht bei der „Kritischen Theorie" die normative Betrachtung i m Vordergrund. Die kritische Theorie bedient sich dreier normativer Komponenten, die von den verschiedenen Autoren dieser Richtung i n unterschiedlichem Zusammenhang isoliert oder nebeneinander zu einer „Theorie der Demokratie" 3 7 verknüpft werden. Die partizipatorische Variante erhebt die politische Partizipation zum allumfassenden Ideal. Uber eine Ausdehnung des Politikbegriffs 3 8 , die jede, auch private, Machtposition als mitbestimmungsbedürftig begreift, w i r d eine „universelle Demokratisierung" 3 9 propagiert. Die Realisierbarkeit des Ideals gilt nicht als K r i t e r i u m für die Frage, ob demokratische Systeme sinnvoll an dieser Prämisse gemessen werden können 4 0 . Partizipation w i r d sowohl als M i t t e l der Entscheidungsfindung als auch als Selbstzweck betrachtet 41 . Die Frage, wie eine derart umfassend gedachte Partizipation funktioniert und ob die Partizipationsforderung als normative Prämisse allein figurieren kann, w i r d übergangen oder 35 s. Bachrach, Peter, Theory of Democratic Elitism. A Critique, Boston 1967, dt. Die Theorie demokratischer Elitenherrschaft, F r a n k f u r t 1970 (zitiert w i r d nach der dt. Ausgabe). 36 Kielmansegg (Anm. 4), S. 195. 37 So der T i t e l des Werkes v o n Narr, Wolf-Dieter / Naschold, Frieder, Theorie der Demokratie, Stuttgart 1971. 38 Gegen die Politisierung aller Lebensbereiche wendet sich vehement Hennis, Wilhelm, Demokratisierung. Z u r Problematik eines Begriffs, K ö l n / Opladen 1970, S. 27. 39 Vilmar, Fritz, Strategien gesamtgesellschaftlicher Demokratisierung, Bd. I : Theorie der Praxis, Neuwied 1973, S. 99. 40 Bachrach (Anm. 35), S. 104. 41 Naschold, Frieder, Organisation u n d Demokratie, Stuttgart 1969, S. 50. — Eine historisch-philosophische Aufarbeitung des Partizipationsbegriffs findet sich bei Rammstedt, Otthein, Partizipation u n d Demokratie, ZfP 17 (1970), S. 343 ff.

Einleitung: Demokratietheoretische Grundlegung

19

auf höchster Abstraktionsebene damit beantwortet, daß mit einem System-Ziel-Konzept ein komplexer theoretischer Demokratiebegriff postuliert w i r d 4 2 . Konkrete Vorschläge reichen kaum über die Forderung nach M i t bestimmung der Arbeitnehmer i n den Betrieben 4 3 hinaus. Typisch für die verbreitete umständliche Begrifflichkeit und geringe Konkretion ist der Ansatz Nascholds 44 . Danach soll die Partizipation bei „Routine- und Zweckentscheidungen" gesteigert werden, indem erstens „Entscheidungen m i t sekundärer Elastizität programmiert" werden, was i m Grunde nichts anderes bedeutet, als die juristische Technik, über eine Vielzahl vergleichbarer Sachverhalte durch abstrakt-generelle Regelungen zu entscheiden, i n systemtheoretischer Sprache zu umschreiben. Zweitens sollen Entscheidungen dezentralisiert und damit der Partizipation eröffnet werden. Erst genaue, realitätsnahe Ausführungen könnten aber überhaupt erweisen, inwieweit dies möglich und sinnvoll ist angesichts dessen, daß die dezentrale Entscheidungsweise i m staatlichen Bereich ein Strukturprinzip gerade der westdeutschen Verfassungsordnung m i t ihrem ausgeprägten Föderalismus und gemeindlicher Selbstverwaltung darstellt und eine Übertragung auf gesellschaftliche Organisationen jedenfalls ohne konkrete Modellvorschläge nicht realisierbar erscheint. So bleibt für den Bereich der Routine- und Zweckentscheidungen eigentlich nur die dritte Erweiterungsmöglichkeit übrig, einen „demokratischen Stil" zu erwecken, dessen Faßbarkeit und Angreifbarkeit sich i m Nebulösen verliert. Soweit das Verlangen sich auf höhere Partizipation bei Innovationsentscheidungen richtet, w i r d es so allgemein formuliert 4 5 , daß es jede konkrete Substanz vermissen läßt. Partizipation w i r d als ausschließlicher Maßstab normativer Beurteilung verwandt, Demokratie m i t Mitbestimmung identifiziert und auf diese Weise ein pars pro toto genommen. Demokratietheorie soll und muß das gesamte Herrschaftssystem Demokratie i n seinen wesentlichen Elementen erfassen und würdigen, wenn sie nicht einer verzerrten Perspektive erliegen w i l l . Zur äußer42 Naschold (Anm. 41), S. 10. Organisationskonzepte v o n hoher theoretischer K o m p l e x i t ä t sind m i t fundamentaldemokratischen Zielnormen zu verbinden; vgl. dazu Kielmansegg (Anm. 4), S. 185 f. 43 s. Bachrach (Anm. 35), S. 120; Vilmar (Anm. 39), S. 96. 44 Naschold (Anm. 41), S. 63 ff. 45 A l l e i n die folgende Formulierung zeigt die Aporie des Autors: notwendig sei „ein kompliziertes verschachteltes System der Willensbildung" Naschold (Anm. 41), S. 75, w o m i t der Leser praktisch entlassen w i r d . Ganz allgemein zur K r i t i k an Naschold s. Oberndorfer, Dieter, Demokratisierung v o n Organisationen. Eine kritische Auseinandersetzung m i t Frieder N a scholds „Organisation u n d Demokratie", i n ders. (Anm. 11), S. 307 ff. zu den Schwierigkeiten einer Ausdehnung der Mitbestimmung s. auch unter V I u n d V I I , C.



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Einleitung: Demokratietheoretische Grundlegung

sten Konsequenz getrieben, stellt sich die partizipatorische Variante kritischer Demokratietheorie als Versuch dar, die Volkssouveränität absolut zu setzen und das Volk als ein Subjekt m i t einem Willen zu begreifen 46 . Teilnahme an Herrschaft w i r d i n Selbstherrschaft umgewandelt, indem die Vernünftigkeit der Massen und die Fähigkeit des Volkes, sich selbst zu regieren, als Selbstverständlichkeit proklamiert werden 4 7 . Die ideale Verpflichtung, Herrschaft auf das Volk zurückzuführen 48 , w i r d i n einem radikalen Sinn verstanden. Über die konkreten Formen, i n denen dieser Vorgang sich abspielen soll, w i r d nichts gesagt, das Postulat soll vor allem die Revolution legitimieren 4 9 . Die normative Prämisse w i r d auf ihre „kritische" Funktion reduziert 5 0 . Die zweite Komponente kritischer Demokratietheorie ist das Prinzip der Gleichheit 51 . Einmal w i r d „die Gleichheit der Menschen i n allem als einzige (sie!) Voraussetzung der Demokratie" begriffen 5 2 , ein anderes Mal erwächst demokratische Legitimität nur aus der Herstellung und Gewährleistung gleicher Lebensbedingungen für alle 5 3 , oder Sozialismus und Demokratie werden absolut gleichgesetzt 54 . Eine ausgreifendere Analyse unternimmt Macpherson 55 . K r i t e r i u m der Demokratie sei „die egalitäre Maximierung menschlicher Fähigkeiten" 5 6 . I n der heutigen Marktgesellschaft stehe dem „entwicklungsbezogenen Machtpotential" des Menschen aber die „ausbeuterische Macht" anderer entgegen. Denn durch den Marktmechanismus, da i n der Marktgesellschaft der Mensch ein „unbegrenzter Appropriateur und unbegrenzter Verbrau46

Kielmansegg (Anm. 4), S. 187, bezeichnet diesen Versuch nach i h r e m Stammvater als „rousseauistisch". 47 Agnoli , Johannes, i n ders. / Brückner, Peter, Die Transformation der Demokratie, B e r l i n 1967, S. 75. 48 Agnoli (Anm. 47), S. 7. 49 Kielmansegg (Anm. 4), S. 188. 50 Z u r K r i t i k Agnolis vgl. auch Zintl, Reinhard, Z u r Transformation der Demokratie. Einige Überlegungen zu Johannes Agnolis Thesen, i n Oberndorfer (Anm. 11), S. 193 ff. 51 Kielmansegg (Anm. 4), S. 189, etikettiert diese Variante als k o m m u nistisch. 52 Greiffenhagen, M a r t i n , Einleitung, i n ders. (Hrsg.), Demokratisierung i n Staat u n d Gesellschaft, München 1973, S. 23. 63 Narr (Anm. 37), S. 18; vgl. auch seine K r i t i k aller anderen Spielarten der Demokratietheorie, die „das Gleichheitspostulat auf punktuelle u n d oft sozial abstrakte Ausgangsgleichheit reduzieren", ebd. S. 27. 64 So Vilmar, Fritz, Strategie gesamtgesellschaftlicher Demokratisierung, parlamentarische Demokratie u n d sozialistische Transformation, ZParl. 4 (1973), S. 480 ff. (483). 65 Macpherson, Crawford Β., Demokratietheorie, München 1977 (engl. Democratic Theory, Oxford 1973). δβ Ebd. S. 50 (20 f.).

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eher, weil von endlosem Bedürfnis getrieben" 5 7 , sei, gelangten die Produktionsmittel i n private Hand, so daß eine „ständige Nettoübertragung eines Teils der Fähigkeiten einiger Menschen auf andere" stattfinde, der dem „entwicklungsbezogenen Machtpotential" geradezu entgegenw i r k e 5 8 . „Das Machtpotential" könne dabei nur an dem „Nichtvorhandensein von Hindernissen" gemessen werden. Drei „Hindernisse" w ü r den relevant, 1. „das Fehlen von adäquaten Mitteln zum Leben", 2. „fehlender Zugang zu Arbeitsmitteln", 3. „fehlender Schutz gegen Übergriffe anderer" 5 9 , wobei der letzte Mangel bereits durch die liberalen Demokratien behoben sei. Die beiden ersteren könnten durch eine egalitäre Güterverteilung beseitigt werden. Einen Einwand formuliert Macpherson versteckt selbst 60 . „Eine w i r k lich demokratische Gesellschaft ist nur möglich, wenn sowohl echte wie künstliche Knappheit überwunden w i r d " , ein offensichtlich utopisches Postulat, das sich wohl meist hinter derart vom Gleichheitsgedanken inspirierten Theorien verbirgt 6 1 . Des weiteren ergeben die vorgetragenen Theorienelemente keine Entscheidungsregel für den politischen Prozeß 62 . Die vom Gleichheitsgedanken geprägte Richtung der Demokratietheorie problematisiert i n keiner Weise, ob Freiheit und Gleichheit einander widerstreiten können 6 3 , ob die Herstellung absoluter Gleichheit mit einem Abbau von Herrschaft vereinbart werden kann 6 4 . Den Anforderungen einer umfassenden „komplexen" Theorie entspricht die Hypertrophierung des Gleichheitsprinzips erst recht nicht. Die dritte Komponente kann als anarchistisch bezeichnet werden 6 5 . Ziel und Funktion der Demokratie ist danach der Abbau von Herr57

Ebd. S. 24 (5). Ebd. S. 34 (10 f.). 69 Ebd. S. 106 ff. (59 f.). 60 Ebd. S. 100 f. (55). 61 Vgl. bereits Marx, K a r l , K r i t i k des Gothaer Programms (1875), B e r l i n (Ost), 1974, S. 24 f. 62 Wie Kielmansegg (Anm. 4), S. 191 zu Recht bemerkt. Das g i l t i m übrigen nicht n u r für Macpherson. 63 Dazu s. unten I I I . 64 s. Kielmansegg (Anm. 4), S. 192. Bereits v o m logischen Standpunkt ist diese Forderung nach völliger Gleichheit fragwürdig, denn Gleichheit ist ein Relationsbegriff — s. Dann, Otto, Gleichheit u n d Gleichberechtigung, B e r l i n 1980, S. 17 ff., so daß das Postulat der Gleichheit weitgehend der Bestimmtheit ermangelt. Z u Recht kritisch daher auch jetzt Barsch, Claus E., Die Gleichheit der Ungleichheit, München 1979, v o r allem S. 80 ff., 103 ff. 65 So Kielmansegg (Anm. 4), S. 192; deutlich erkennbar ist i n diesem P u n k t die marxistische Idee v o m Absterben des Staates, dazu s. Leonhard, W o l f gang, Sowjetideologie heute, Bd. I I , Die politischen Lehren, F r a n k f u r t 1962, S. 254 ff. m i t den Nachweisen der klassischen Stellen. Überhaupt ist der Einfluß des Neomarxismus bis i n die D i k t i o n zu bemerken. 58

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schaft. Die Bestimmung realer Demokratie — und des Sozialismus 66 — ist die Abschaffung der Herrschaft des Menschen über den Menschen 67 . „Demokratie muß neu bestimmt werden als Prozeß gesamtgesellschaftlicher Demokratisierung" 6 8 , und universelle Demokratisierung ist die Strategie zur „Ermöglichung von personaler Selbstbestimmung, gesellschaftlicher M i t w i r k u n g (,herrschaftsfreier Dialog') und Mitbestimmung für jedes Mitglied" des politischen Systems 69 . Die Forderung nach „öffentlicher uneingeschränkter, herrschaftsfreier Diskussion über die Angemessenheit und Wünschbarkeit von handlungsorientierten Grundsätzen und Normen" als „einzigem Medium, i n dem Rationalisierung möglich ist" 7 0 , hat vor allem Habermas gestellt. Herrschaft und Politik werden aufgelöst. „Politik hört i n dem Maße auf, eine Sphäre für sich darzustellen, i n dem gesellschaftliche Macht die Gestalt rationaler Autorität anzunehmen fähig würde 7 1 ." Die gewaltlose Geltung von Normen beruhe auf der Möglichkeit rationaler Rechtfertigung und setze die Wahrheitsfähigkeit „praktischer Fragen" voraus 7 2 . Nur i m repressionsfreien Diskurs könne ein Konsensus aller (!) Zustandekommen, der die täuschungsfrei festgestellten Interessen zur Geltung bringe. A l l e i n dieser Konsens drücke einen „vernünftigen Willen" aus, da der Konsens i n dieser Form über verallgemeinerungsfähige Interessen, d.h. kommunikativ geteilte Bedürfnisse, gebildet werde 7 3 . Die Voraussetzung der Einstimmigkeit, die Habermas für erfüllbar hielt 7 4 , verweist das Modell i n den Bereich der Utopie, wie er nunmehr selbst zugesteht 75 . Die Frage, ob die Entscheidungen über „kommunikaββ

s. A n m . 54. Vilmar (Anm. 54), S. 483. •8 Vilmar (Anm. 39), S. 94. ββ Ebd. S. 99. 70 Habermas, Jürgen, Technik u n d Wissenschaft als Ideologie, F r a n k f u r t 1968, S. 98. 71 Ders., Über den Begriff der politischen Beteiligung, i n ders. u. a., Student u n d P o l i t i k , Neuwied 1961, S. 16. 72 Ders., Legitimationsproblem i m Spätkapitalismus, F r a n k f u r t / M . 1973, S. 139 f. 78 Ebd. S. 148 f.; zur K r i t i k vgl. jetzt auch Kriele, M a r t i n , Befreiung u n d politische Aufklärung, Freiburg u. a. 1980, S. 147, 162 ff. 74 Habermas (Anm. 72), S. 189; die weiteren Einzelheiten werden dabei einer erst noch zu entwickelnden „ k o m m u n i k a t i v e n Planungstheorie" überlassen, ebd. S. 191. 75 Habermas, Jürgen, Theorie des k o m m u n i k a t i v e n Handelns, 2 Bde., F r a n k f u r t 1981, Bd. I I , S. 9 f. 163; auch i n diesem neuen W e r k behält Habermas seinen Grundansatz bei, der u m das Konzept der Lebenswelt erweitert w i r d , s. I, S. 31 f., 107 ff., I I , S. 192 ff. K o m m u n i k a t i v e Handlungstheorie u n d Lebensweltkonzept dienen als Folie u n d Maßstab f ü r die Beschreibung des 67

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t i v geteilte Bedürfnisse" allein ein politisches System zu tragen vermögen, bleibt unbeantwortet. Der Begriff der kommunikativ geteilten Bedürfnisse w i r d nicht weiter erläutert und bleibt deshalb i m Dunkel eines abstrakten terminologischen Dickichts. Allerdings kann Habermas insoweit nicht die anarchistische Konsequenz abgesprochen werden, als er den Zusammenhang zwischen völliger Herrschaftslosigkeit und dem Einstimmigkeitsprinzip herstellt, denn Herrschaftslosigkeit setzt Einstimmigkeit voraus 7 6 . Generelles Muster aller „kritischen" Theorien ist, daß sie „utopische Gegenentwürfe zur vorgefundenen Wirklichkeit" entwerfen 7 7 , u m so eher aber „ i n der Proklamation der Basispostulate steckenbleiben und wohl auch steckenbleiben müssen" 78 , obwohl sie andererseits gerade ihre Durchsetzung für realisierbar halten und den utopischen Charakter leugnen. I m wesentlichen erschöpfen sie sich i n der K r i t i k am herrschenden System, was ihnen desto leichter fällt, je höher sie die idealen Anforderungen schrauben, je mehr sie die normativen Prämissen maximieren 7 9 . Von dieser bestimmte Normen hervorkehrenden Demokratietheorie setzt sich die am entschiedensten von Radbruch 80 formulierte skeptizistische Demokratiebegründung 81 ab, die gerade i m Gegenteil von der Herrschaft bestimmter Werte absehen w i l l . Da die inhaltliche Wahrheit einer politischen Überzeugung nicht erkennbar sei, seien alle Meinungen gleichwertig. Weil es praktisch unmöglich sei, Einstimmigkeit zu erreichen, bleibe als einziges Prinzip angemessener Entscheidungsfindung die Mehrheitsregel 82 . Radbruch hat vor allem die Verfassungsgebung i m Auge, obgleich seine Aussagen nicht darauf beschränkt sind. Insbesondere versucht er zu begründen, Rationalisierungsprozesses der modernen Welt. I m vorliegenden Zusammenhang ist allein die — nach der Terminologie v o n Habermas — soziale W e l t (vgl. I, S. 149, 84) v o n Bedeutung. Hier ist Maßstab die moralisch-pragmatische Rationalität, die normative Richtigkeit, die i n einem Konsens zum Ausdruck k o m m t ; zum Konsens s.v. a. I, S. 173, 358 ff., I I , S. 62 ff., 125 f., 136 ff., 193 f., 546 f. 7e Hättich (Anm. 2), S. 43; vgl. auch Simmel, Georg, Soziologie, Leipzig 1908, 5. 193. 77 Kielmansegg (Anm. 4), S. 195. 78 Ebd., vgl. dort auch die weitere K r i t i k an diesen Theorien. 79 Macpherson (Anm. 55), S. 50 (21) u. öfter. Kritisch zu dieser Tendenz zur A b s t r a k t i o n Sontheimer, K u r t , Das Elend unserer Intellektuellen, Hamburg 1976, S. 143 ff. 80 Radbruch, Gustav, Der Relativismus i n der Rechtsphilosophie, i n Der Mensch i m Recht, Göttingen 1957, S. 80 ff.; vgl. auch ders. f Rechtsphilosophie, 6. A u f l . Stuttgart 1963, S. 84. 81 Kielmansegg (Anm. 4), S. 207; s. dazu auch noch unten I I I . 82 Radbruch (Anm. 80), S. 84 f.

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daß i m Wege der Mehrheitsentscheidung keine Diktatur errichtet werden kann, da die Mehrheit von heute nicht die Majorität von morgen zu bestimmen i n der Lage ist: „Nemo plus iuris ad alium transferre potest quam ipse habet 8 3 ." Der Relativismus führt unmittelbar zur Demokratie, umgekehrt gilt dasselbe Verhältnis 8 4 : Demokratie fördert den Relativismus, setzt i h n sogar voraus. Ganz ähnlich verläuft die Argumentation bei Kelsen 8 5 , während Geiger noch radikaler formuliert 8 6 : „ I n der politischen Diskussion stehen nicht richtige und falsche, nicht mehr oder minder richtige Meinungen einander gegenüber, sondern ideologisch überbaute Willensstandpunkte". Diese Auffassung kann i n einem Satz zusammengefaßt werden: „Weil die Frage nach dem Gemeinwohl nicht objektiv, sondern nur aufgrund individuell unterschiedlicher subjektiver Werturteile beantwortet werden kann, muß sie von denen, die betroffen sind, beantwortet werden; aber sie kann nie ein für allemal beantwortet werden 8 7 ." Nach Dahrendorf 8 8 folgt aus derselben Prämisse, der Ungewißheit der Erkenntnis, nicht unmittelbar das Mehrheitsprinzip, sondern es w i r d die Offenheit des Systems postuliert 8 9 , u m die Möglichkeit zu neuer, anderer Erkenntnis und zur Korrektur offen zu halten. Diese Offenheit könne die liberale Demokratie am ehesten gewährleisten. Auch wenn die Offenheit des Systems als eine notwendige Bedingung seiner Selbsterhaltung betrachtet werden kann, ist der Schluß von der Nichterkennbarkeit politischer Wahrheit auf die Notwendigkeit der Offenheit des Systems i n gleicher Weise problematisch wie die Folgerung der Gleichheit aller Meinungen. Erst recht ist die Konsequenz der Mehrheitsregel nicht zwingend 9 0 . 88

Ebd. S. 85. Ebd. 85 Kelsen, Hans, V o m Wesen u n d W e r t der Demokratie, 2. A u f l . 1929 (Nachdruck 1963 Aalen), S. 98 ff. insbes. 101 ff.; ders., Foundations of Democracy, Ethics 66 (1955), Nr. 1, Part I I (Supplement), S. 1 ff. (38 f.); ders., Allgemeine Staatslehre, B e r l i n 1925, S. 370. 86 Geiger, Theodor, Demokratie ohne Dogma, München 1963, S. 331; Geiger selbst gebraucht deshalb das W o r t v o m theoretischen u n d praktischen W e r t nihilismus, ebd. S. 285, 289. 87 Kielmansegg (Anm. 4), S. 208. 88 Dahrendorf, Ralf, Gesellschaft u n d Demokratie i n Deutschland, München 1968, S. 23 ff.; vgl. auch ders., M a r k t u n d Plan. Z w e i Typen der Rationalität, Tübingen 1966, S. 8. Dahrendorf nennt sein Konzept insoweit empirisch, p l u ralistisch, liberal; Gesellschaft u n d Demokratie, S. 24. 89 Diese Offenheit k a n n wieder n u r durch demokratische Eliten gewährleistet werden, s. o. 90 Dazu s. Kielmansegg (Anm. 4), S. 210. 84

Einleitung: Demokratietheoretische Grundlegung Z u r L e g i t i m i e r u n g d e m o k r a t i s c h e r O r d n u n g m u ß deshalb v o n dieser K o n z e p t i o n zusätzlich a u f andere P r ä m i s s e n z u r ü c k g e g r i f f e n w e r d e n , w i e auf die F r e i h e i t 9 1 oder die u t i l i t a r i s t i s c h e F o r m e l des g r ö ß t m ö g l i c h sten Glücks f ü r die g r ö ß t m ö g l i c h e Z a h l 9 2 . Diese W e r t v o r s t e l l u n g e n v e r t r a g e n sich j e d o c h logisch n i c h t m i t d e r w e r t r e l a t i v i s t i s c h e n A u f fassung 93. N i c h t anders ist d i e K o n z e p t i o n T h o r s o n s 9 4 z u b e u r t e i l e n , die l e t z t l i c h i m P o s t u l a t d e r O f f e n h e i t 9 5 endet, aus d e m sich v o n selbst die M e h r h e i t s r e g e l e r g e b e 9 6 . D e r skeptizistischen T h e o r i e f e h l t d a h e r eine k o n sistente B e g r ü n d u n g . D i e systemtheoretische

Demokratiebegründung

geht v o n e i n e m ganz

a n d e r e n A n s a t z aus. L u h m a n n 9 7 w i l l die n o r m a t i v e n P r ä m i s s e n

der

D e m o k r a t i e n e u b e s t i m m e n 9 8 . D e n A u s g a n g n i m m t dieser V e r s u c h v o n der h e u t i g e n , d i f f e r e n z i e r t e n Gesellschaft, die die Menschen i n die L a g e 91 Kelsen, V o m Wesen . . . (Anm. 85), S. 3 ff.; vgl. auch ders., Foundations (Anm. 85), S. 17, w o er auch ausdrücklich feststellt (S. 40), daß der Relativismus allein nicht ausreiche. 92 Dahrendorf, Gesellschaft u n d Demokratie (Anm. 88), S. 26, die gemeinh i n Bentham zugeschrieben, erstmals aber v o n Hutcheson 1725 verwendet w i r d , vgl. zum Utilitarismus Rawls, John, Eine Theorie der Gerechtigkeit, F r a n k f u r t 1975, S. 40 ff. 93 Darauf weist auch Kielmansegg (Anm. 4), S. 211 zu Recht h i n . 94 Thor son, Thomas Landon, The Logic of Democracy, New Y o r k u. a. 1962; vgl. dazu Kielmansegg (Anm. 4), S. 211 ff. 95 I n Thorsons (Anm. 94) Worten: S. 120 "Do not block the w a y of i n q u i r y " , das als Z i t a t v o n dem amerikanischen pragmatischen Philosophen Peirce übernommen u n d zu einer eigenen Zentralthese erhoben w i r d . I n den p o l i t i schen Bereich übertragen bedeutet dies (S. 139): "Do not block the possibility of change w i t h respect to social goals". Dies folgt aus der Situation des Menschen i n der Welt: " T h e ignorant, finite, l i m i t e d m a n seeks to understand the w o r l d " (S. 119). Die Beweiskette erscheint insgesamt recht w i l l k ü r l i c h (s. Kielmansegg (Anm. 4), S. 214). 9e Thor son (Anm. 94), S. 142, indem auf eine klassische Formulierung L i n colns zurückgegriffen w i r d (zitiert unten I I I ) . Das ist u m so erstaunlicher, als er vorher alle bisherigen Demokratietheorien absolutistischer w i e relativistischer A r t heftig k r i t i s i e r t (S. 34 ff.): Bei politischer Philosophie handele es sich nicht, w i e bisher bei der Rechtfertigung der Demokratie angenommen, u m eine exakte Beweisführung i m Sinne der i n d u k t i v e n oder dedukt i v e n Methode, sondern u m "recommendations" (S. 68 ff.). Die Folgerung allerdings, die Kategorien „richtig" u n d „falsch" seien daher nicht sinnvoll anwendbar, sei nicht statthaft (S. 72 ff.). Denn auch i n der physikalischen Theorie würden zum T e i l recommendations gegeben (S. 101 ff.). Damit w i r d aber die völlige Andersartigkeit der „Empfehlungen", die Verbindlichkeit v o n Normen anzuerkennen, i m Unterschied zu durch Experimente an der „Realität" immer wieder überprüfbaren, wissenschaftlichen Deutungen physikalischer Phänomene verkannt; vgl. auch Kielmansegg (Anm. 4), S. 212 f. 97 Luhmann, Niklas, K o m p l e x i t ä t u n d Demokratie, PVS 10 (1969), S. 314 ff. 98 Die Systemtheorie k a n n einerseits versuchen, die Prämissen neu zu bestimmen oder traditionelle Prämissen systemtheoretisch neu zu formulieren; Kielmansegg (Anm. 4), S. 216.

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versetze, eine unendlich offene, äußerst komplexe und ontisch letztlich unbestimmte (kontingente) Welt zu entwerfen, auszuhalten und zu benutzen 0 9 . Die Strukturen und Prozesse der Politik befänden sich auf einer weit höheren Ebene der Komplexität und müßten höhere Selektionsleistungen erbringen 1 0 0 . Selektivität könne durch zwei sich widerstreitende Lösungsmöglichkeiten gesteigert werden, einmal durch eine Verstärkung der Indifferenz und Autonomie, zweitens durch eine Steigerung des Potentials der Informationsverarbeitung. Demokratie als normatives Postulat sei die sinnvolle Konsequenz dieser Konstellation 1 0 1 . „Demokratie heißt Erhaltung der Komplexität trotz laufender Entscheidungsarbeit" 102 , da das Nichtgewählte latent möglich bleibe, nur neutralisiert werde. Den Parteien obliege die „Organisierung des Wechsels der Werte", wobei der Wahlerfolg als Indikator hoher Komplexität funktioniere und die Selektionsleistung prämiere 1 0 3 . Nach diesem Modell müsse keine Norm von außen an das System herangetragen werden 1 0 4 . Das System bringe seine Norm selbst hervor. Partizipation realisiere nicht individuelle Freiheit, intensive Beteiligung heiße vielmehr Frustrierung zum Prinzip zu erheben 105 . Die Erhaltung hoher Komplexität ist aber nicht Selbstzweck, sondern kann nur i n der Funktion gesehen werden, optimale Entscheidungen zu ermöglichen. Das K r i t e r i u m für die Beurteilung der Selektionsleistung des Systems ist jedoch für Luhmann die Fähigkeit des Systems, sich selbst zu erhalten 1 0 6 . Der einzelne Bürger fällt aus diesem Konzept praktisch heraus, er t r i t t nur als Teil des Systems, als Zahnrad i m Getriebe der Demokratie i n Erscheinung. Jedes politische System kann aber normativ nur beurteilt werden, wenn das System zu den Menschen i n Beziehung gesetzt wird. I n dieser Hinsicht kann die Erhaltung des Systems sinnvoll sein, Luhmann gibt jedoch kein K r i t e r i u m dafür an. Die zirkuläre Argumentation Luhmanns w i r d durch den Verzicht auf normative Kriterien i m klassischen Sinn mit seinem Konzept der Selbstreferenz jetzt noch deutlicher 1 0 7 . Abgesehen davon ist das Konzept sogar seiner eigenen Intention nach 1 0 8 funktional so weit definiert, daß 99

Luhmann (Anm. 97), S. 316. Ebd. S. 318. 101 Ebd. 102 Ebd. S. 319 f. 103 Ebd. S. 323. 104 Ebd. S. 315. 105 Ebd. S. 319. 106 s. Kielmansegg (Anm. 4), S. 219. 107 Luhmann, Niklas, Selbstlegitimation des Staates, ARSP Beiheft Nr. 15, S. 65 ff. 108 Luhmann (Anm. 97), S. 322. 100

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unterschiedliche Herrschaftsstrukturen gar nicht mehr sinnvoll auseinandergehalten werden können, sondern alle unter den einen Hut „Erhaltung von Komplexität trotz laufender Entscheidungsarbeit" zu bringen sind 1 0 9 . Eine andere Richtung einschlagend w i l l Etzioni 1 1 0 die traditionellen Werte systemtheoretisch neu fassen 111 . Seine zentralen Begriffe sind Bedürfnisorientierung und Entfremdung 1 1 2 . Aufgabe der aktiven Gesellschaft sei es, die Entfremdung zu verringern und zu überwinden, weil es die Gesellschaft sensibler gegenüber den Bedürfnissen ihrer Mitglieder mache 113 . Eine aktive Gesellschaft erfordere zweierlei: — erstens einen Steuerungsmechanismus, der auf einem Prozeß authentischer Konsensformung beruhe 1 1 4 . A k t i v sein heiße verantwortlich sein, passiv sein heiße kontrolliert zu werden 1 1 5 . Es ist die alte Formel der Selbstbestimmung und Volkssouveränität, — zweitens müsse es der Gesellschaft als Kollektiv möglich sein, ihre Werte und Ziele zu verwirklichen 1 1 6 . Eine Vielzahl von Entscheidungen müsse gefällt werden. Entfremdung bedeute, daß einer von beiden Werten aktiver Gesellschaft nicht vollständig realisiert sei. Beide Anforderungen gleichzeitig zu erfüllen, ist aber i n Wirklichkeit nicht möglich, wie Etzioni selbst konstatieren muß 1 1 7 , da sie gegensätzlicher Natur sind. Das angestrebte Ziel einer nicht entfremdeten Gesellschaft ist daher nach den eigenen Kriterien eingestandenermaßen nicht möglich. Der Ansatz führt i n die Aporie, ohne einen Maßstab kritischer Beurteilung der Demokratie abgeben zu können 1 1 8 . Die ökonomisch orientierte Theorie der Demokratie unternimmt i n ihrem prägnantesten Beispiel 1 1 9 den Versuch, i n Analogie zu volkswirtschaftlichen Modellen eine demokratische Verhaltenslehre unter dem Gesichtspunkt optimaler Nutzenmaximierung des Individuums zu kon109 v g l . ebd.; dazu kritisch Kielmansegg (Anm. 4), S. 221. 110 Etzioni, A m i t a i , Die aktive Gesellschaft, Opladen 1975 (engl. The active Society, New Y o r k 1968). 111 s. A n m . 98 oben. 112 responsiveness u n d alienation. 113 Etzioni (Anm. 110), S. 625 (617). 114 Ebd. S. 382 (363). 115 Ebd. S. 28 (4). 11β Ebd. S. 511, 514 (503, 506). 117 s. ebd. S. 382, 388, 511 (363, 368, 503). 118 Vgl. auch Kielmansegg (Anm. 4), S. 222 f. 119 Downs, A n t h o n y , Ökonomische Theorie der Demokratie, Tübingen 1968.

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struieren, sowie das Auftreten und Agieren der Parteien i n Konsequenz dieser Annahme zu erklären. Downs beschränkt sich insoweit auf eine modellhafte Analyse tatsächlichen Geschehens, entwickelt aber keine normativen Kriterien für eine Beurteilung demokratischer Systeme. Ein ökonomistischer Ansatz untersucht darüber hinaus die Frage, welche Entscheidungsregel für Kollektiventscheidungen das rationale Individuum wählen muß 1 2 0 . Unter der Voraussetzung, daß der Einzelne rational handele 1 2 1 , werde jeder seine "costs of social interdépendance" möglichst gering zu halten versuchen. Diese Kosten setzten sich einerseits aus external costs (Kosten, die dem Individuum von Dritten auferlegt werden) und decisionmaking costs (Kosten, die der Entscheidungsprozeß verursacht) zusammen 122 . Die external costs schrumpften bei Einmütigkeit auf N u l l 1 2 3 , dagegen stiegen die decision-making costs desto höher, je mehr Personen zu einer Übereinstimmung kommen müßten 1 2 4 . Die billigste Entscheidung treffe ein Diktator, gleichzeitig sei die Belastung des Einzelnen durch die external costs aber extrem hoch 1 2 5 . I m Normalfall entspringe dieser Kalkulation eine Mehrheitsentscheidung als günstigste Entscheidungsregel 126 . Das Mehrheitsprinzip bedürfe jedoch einer vorausgehenden einstimmigen Einigung 1 2 7 i n der A r t eines Sozialvertrags 128 . Die Basis dieser Theorie ist i n der Essenz die naturrechtliche Vorstellung vom autonomen, gleichen Individuum i n einem der Vergesell120 Buchanan, James M . / Tullock, Gordon, The Calculus of Consent. Logical Foundations of Constitutional Democracy, A n n A r b o r 1962, vgl. dazu auch Downs , A n t h o n y , I n Defence of M a j o r i t y Voting, Journal of Political Economy 69 (1961), S. 192 ff.; Eschenburg, Rolf, Der ökonomische Ansatz zu einer Theorie der Verfassung, Tübingen 1977, S. 162 ff.; Homann, K a r l , Die I n t e r dependenz v o n Zielen u n d M i t t e l n , Tübingen 1980, S. 226 ff. 121 Buchanan / Tullock (Anm. 120), S. 34. 122 Ebd. S. 45 f., vgl. auch die F u n k t i o n auf S. 71. 123 Ebd. S. 64 f. 124 Ebd. S. 68 ff. 125 Ebd. S. 99. 126 Die optimale Entscheidungsregel ist variabel i n Abhängigkeit v o n den Variablen external coast u n d decision-making costs, die v o m jeweiligen Entscheidungsgegenstand bestimmt sind. Die einfache Mehrheitsregel ist insofern n u r eine v o n vielen möglichen Entscheidungsregeln, Buchanan/ Tullock (Anm. 120), S. 81; kritisch dazu u n d m i t ökonomischer Rechtfertigung der einfachen Mehrheitsregel Eschenburg (Anm. 120), S. 168 ff. 127 Buchanan / Tullock (Anm. 120), S. 249 f. 128 Ebd. S. 250, 256. Später hat Buchanan, James M., The L i m i t s of L i b e r t y Between Anarchy and Leviathan, Chicago u. a. 1975, das Thema noch einmal aufgenommen. Buchanan betont hier eindrücklich die Notwendigkeit des Contracts (S. 21 ff.), wobei der constitutional contract gleichfalls n u r einstimmig abänderbar ist (S. 82 ff.); zum Mehrheitsprinzip unter Kostengesichtspunkten auch ebd. S. 151 ff.

Einleitung: Demokratietheoretische Grundlegung

schaftung vorgelagerten Zustand 1 2 9 , wonach i n logischer Folgerung die Legitimität jeder Verfassungsordnung von der freien Zustimmung eines jeden Betroffenen abhängt. Die These macht aber „die Institutionalisierung legitimer Verfahren gesellschaftlicher Konfliktregelung schlechthin unmöglich. Denn da die Identität einer Gesellschaft sich i n der Konsequenz des Einstimmigkeitspostulates mit jedem Individuum verändert, haben w i r es i n Wahrheit nicht m i t einer Gesellschaft, sondern m i t einem Strom sich ständig neu bildender Gesellschaften zu tun, deren jede, wenn der Strom überhaupt zergliedert werden kann, sich neu konstituieren müßte — ein offensichtlich absurder Gedanke" 1 3 0 . Die Uberwindung dieses Dilemmas durch einen "tacit consent" der später Hinzutretenden ist dagegen eine pure Fiktion. Außerdem ist die Annahme des völlig rationalen Kalküls bei der Einigung auf eine Entscheidungsregel f i k t i v und setzt praktisch gleiche Ausgangsbedingungen für alle Beteiligten voraus 1 3 1 . Dieser Einwand läßt sich nur dadurch umgehen, daß der Sozialvertrag und auch der Herrschaf tsvertrag als normative Idee, als „bloße Idee der V e r n u n f t " 1 3 2 , gedacht werden. Dann ist aber der Vertragsgedanke praktisch überflüssig, weil die Grundprinzipien der Freiheit und Gleichheit, die für den Vertragsschluß konstituierend sind und gleichzeitig durch ihn verwirklicht werden, begründungsbedürftig sind und die Ausgestaltung des politischen Systems nach diesen Grundsätzen ohne Einschaltung des Vertragskonzepts möglich und plausibel ist 1 3 3 . Schließlich ist jedes politische System angesichts der Vielfalt möglicher Optionen „darauf angewiesen, Legitimität i m politischen Prozeß ständig selbst hervorzubringen, und eben dies muß i m Ansatz selbst zum Ausdruck kommen" 1 3 4 . Neben diesen bisher angeführten, teilweise gänzlichst neue Wege einschlagenden fünf demokratietheoretischen Richtungen sind i n A n 129 s. Kielmansegg (Anm. 4), S. 226 f.; ausdrücklich auch Buchanan (Anm. 128), S. 1 ff. 180 Ebd. S. 227. Buchanan (Anm. 128), S. 50 w i l l den constitutional contract allerdings nicht historisch verstanden wissen. 181 Kielmansegg (Anm. 4), S. 227. 182 Kant, Immanuel, Über den Gemeinspruch: das mag i n der Theorie richt i g sein, taugt aber nicht für die Praxis, i n Werke (hrsg. v. W i l h e l m Weischedel), Frankfurt, Bd. V I , S. 153; denn folgend jetzt Rawls (Anm. 92), S. 27 ff., 162 ff. 133 Bei Rawls g i l t das Mehrheitsprinzip daher auch nicht unmittelbar k r a f t Vertrag, sondern aufgrund der allgemeinen Überlegung der Gleichheit s. zum Mehrheitsprinzip Rawls (Anm. 92), S. 254 ff., 390 ff., Rawls bezieht den V e r trag n u r auf seine beiden Gerechtigkeitsgrundsätze, die m a n c u m grano salis m i t den Prinzipien der Freiheit u n d Gleichheit gleichsetzen kann. Der n o r mative Charakter seiner Vertragstheorie k o m m t auch deutlich i n seiner Überlegung zum Ausdruck, daß Einstimmigkeit praktisch die Überzeugimg jedes beliebigen Bürgers zum Maßstab macht (ebd. S. 296). 184 Kielmansegg (Anm. 4), S. 228.

30

Einleitung: Demokratietheoretische Grundlegung

lehnung an herkömmliche Demokratiepostulate Ansätze zu komplexen Modellen entwickelt worden, die einer umfassenden theoretischen Gesamtanalyse des demokratischen Systems unter normativen und empirischen Aspekten als Grundlage dienen können. Ranney und K e n d a l l 1 3 5 skizzieren ein normatives Modell, das operationalisierbar ist. Vier Prinzipien bilden die entscheidenden Kriterien: Volkssouveränität, politische Gleichheit, Volkskonsultation und Mehrheitsprinzip. Politische Gleichheit 1 3 6 setzt auch das Vorhandensein von Alternativen, die Erkenntnis von Konsequenzen sowie Wahlfreiheit voraus, meint also die Chance politischer Einflußnahme. Volkskonsultation, „dessen Verselbständigung wenig überzeugt, w e i l es doch wohl nur den Grundsatz der Volkssouveränität konkretisiert" 1 3 7 , heißt, daß die Herrschaftsträger permanent den Volkswillen erforschen und i n die Tat umsetzen 138 . Das Mehrheitsprinzip besagt, daß jeweils unterschiedlich zusammengesetzte Mehrheiten jeweils das letzte, entscheidende Wort haben 1 3 9 . Das Konzept stößt i n den Grenzbereich zwischen normativer und deskriptiver Theorie vor. Die Frage, warum Demokratie sein soll, w i r d noch nicht beantwortet, sondern bedarf des Rückgriffs auf zugrundeliegende Wertvorstellungen 1 4 0 . Die Orientierungsmarken und eine entsprechende Funktionalisierung dieser Punkte fehlen i n dieser Theorie 1 4 1 , die außerdem i m Grunde auf die Analyse des Entscheidungsprozesses beschränkt bleibt. Ein ähnliches Modell entwirft Dahl 1 4 2 , der aus den beiden Prinzipien Volkssouveränität und politische Gleichheit die Mehrheitsregel als einzig demokratisches Entscheidungsverfahren ableitet 1 4 3 . Volkssouveränität heißt, daß sich letztlich jede politische Entscheidung nach der Auffassung der Mehrheit des Volkes richtet. Politische Gleichheit bedeutet, daß die Präferenz jedes Individuums gleich bewertet wird. Beides w i r d über die Mehrheitsregel hinaus durch acht Bedingungen operationali185

Ranney, A u s t i n / Kendall, Willmoore, Democracy and the American Party System, New Y o r k 1956, S. 23 ff. 186 Ebd. S. 27. 187 Kielmansegg (Anm. 4), S. 196. 138 Ranney / Kendall (Anm. 135), S. 28. 139 Ebd. S. 29 ff. 140 s. Kielmannsegg (Anm. 4), S. 197. 141 Vgl. ebd. S. 198. 142 Dahl, Robert Α., Vorstufen zur Demokratietheorie, Tübingen 1976 (A Preface to Democracy Theory, Chicago 1956). 1 4 8 Ebd. S. 43 ff. Insofern w i r d darauf noch unten ( I I I ) zurückzukommen sein.

Einleitung: Demokratietheoretische Grundlegung

siert 1 4 4 . Diese acht idealen Bedingungen sind realiter nirgends erfüllt 1 4 5 , möglich sei aber eine Annäherung an das Ideal. Ist ein gewisser Grad der Kontrolle der Beherrschten über die Herrschenden erreicht, w i r d das Herrschaftssystem als Polyarchie bezeichnet 146 . Das Konzept verbindet eine Maximierung normativer Anforderungen i m Ansatz m i t deskriptiven Elementen. Es fehlt aber auch hier der Rückgriff auf die zugrunde liegenden Prämissen 147 . Als Begründung für den Geltungsanspruch seines Modells nennt Dahl die Konfrontation m i t anderen schlechter abschneidenden Systemen. Ein Vergleich ist jedoch nur an Hand eines Maßstabes, an Hand von Kriterien durchzuführen, die eine normative Demokratietheorie zu entwickeln h a t 1 4 8 . Gleichzeitig läßt er erkennen, daß auch „andere Werte" von Bedeutung sind, die aber offengelassen werden 1 4 9 . Bei einer Gesamtbetrachtung dieser Konzeption w i r d eine Fixierung auf die Frage der Beteiligung an den Entscheidungen, das Entscheidungsverfahren deutlich, die dem Anspruch einer umfassenden Theorie der Demokratie abträglich ist. Ein komplexeres, aber rein definitorisches Modell haben Lasswell und Kaplan entworfen 1 5 0 . Ihre zentrale Definition lautet: " A democracy is a libertarian juridicial commonwealth 1 5 1 ." Die einzelnen Begriffe werden folgendermaßen aufgeschlüsselt: — " A commonwealth is an impartial rule. A rule is impartial i n the degree to which there is an effective application of a formula distributing values on bases equally accessible to a l l 1 5 2 . " Das bedeutet eine relative Gleichheit der Chancen der Einflußnahme auf politische Entscheidungen. — " A rule is libertarian i n the degree that responsibility is to the individual acting 1 5 3 ." 144

Ebd. S. 63 ff. vgl. dazu unten I I I . Ebd. S. 67. 146 Ebd. S. 70; Maß ist der W e r t 1, der bei radikaler Mehrheitsherrschaft erreicht ist; ab 0,5 ist der Zustand „Polyarchie" erreicht (ebd. S. 81). 147 v g i # Dahl, Robert A . / Lindblom, Charles E., Politics, Economics and Welfare, New Y o r k 1953, S. 43; vgl. jetzt aber Dahl, Robert Α., Democracy i n the United States, Promise and Performance, Chicago 1972, S. 13 ff., w o Gleichheit u n d Konsens zum Maßstab erhoben werden. 145

148 s. Kielmansegg (Anm. 4), S. 202; vgl. Dahl / Lindblom (Anm. 147), S. 25, w o er selbst sagt " B u t to appraise, one needs criteria". 149 Dahl (Anm. 142), S. 49; für eine weitergehende K r i t i k an D a h l s. Kielmansegg (Anm. 4), S. 201 ff. 150 Lasswell, H a r o l d D . / K a p l a n , Abraham, Power and Society, New Haven 1950. 181 Ebd. S. 234. 152 Ebd. S. 230. 158 Ebd. S. 228.

Einleitung: Demokratietheoretische Grundlegung

32

— " A r u l e is j u r i d i c i a l i n t h e degree t h a t t h e p o l i t i c a l f o r m u l a p r o v i d e s o p p o r t u n i t y f o r t h e e f f e c t i v e challenge of d e c i s i o n s 1 5 4 . " „Insgesamt w i r d

die B e z i e h u n g I n d i v i d u u m —

politisches

System

also i n d r e i D i m e n s i o n e n erfaßt. D i e A r t d e r T e i l h a b e , d e r G r a d d e r Sicherheit u n d d i e A r t

der Betroffenheit

werden

berücksichtigt155."

D i e B e g r e n z u n g dieser T h e o r i e l i e g t d a r i n , daß sie sich i n D e f i n i t i o n e n erschöpft,

die

Thesen

jedoch

nicht

ausführt.

Der

Ansatz

aber

ist

fruchtbar. A l s eine F o r t f ü h r u n g u n d W e i t e r e n t w i c k l u n g erscheint die u m f a s sende n o r m a t i v e D e m o k r a t i e t h e o r i e einer K r i t i k

Kielmanseggs156. Ausgehend

d e r klassischen V o l k s s o u v e r ä n i t ä t s d o k t r i n 1 5 7 , i n d e r

i n n e r e n W i d e r s p r ü c h e u n d U n s t i m m i g k e i t e n des K o n z e p t s

von die

aufgezeigt

w e r d e n , g r ü n d e t sich n a c h K i e l m a n n s e g g d i e m o d e r n e D e m o k r a t i e auf die Prämisse: „ L e g i t i m 1 5 8 ist d e r Staat, d e r d i e M e n s c h h e i t i n j e d e r e i n z e l n e n Person als Z w e c k u n d n i c h t bloß als M i t t e l b e h a n d e l t 1 5 9 . " Diese i n e i n e r F o r m e l zusammengefaßte, n o r m a t i v e G r u n d l a g e d e r D e m o k r a t i e k a n n aber n i c h t d e r a l l e i n i g e M a ß s t a b e i n e r D e m o k r a t i e k o n z e p t i o n sein, d i e auch d i e e m p i r i s c h e R e a l i t ä t e i n b e z i e h e n m u ß . V i e l m e h r s i n d i m Rahmen einer umfassenden Konzeption zwei Voraussetzungen zu 154

Ebd. S. 232. Kielmansegg (Anm. 4), S. 207. 156 A u f ebd. S. 255 ff. w i r d das eigene Modell i n Umrissen entwickelt, ohne damit ein geschlossenes, möglichst deduktiv aufgebautes Aussagensystem anzustreben. 157 Ebd. S. 230 ff. Die E n t w i c k l u n g des Volkssouveränitätsgedankens w i r d i n T e i l I, S. 16 ff. nachgezeichnet. Z u Recht hat Jäger, Wolfgang i n seiner Rezension von Kielmansegg Volkssouveränität i n P V S - L i t e r a t u r 1979, Heft 1, S. 11 kritisiert, daß infolge dieses Ausgangspunktes Kielmansegg den z u m i n dest ebenso wichtigen Strang der Theoriegeschichte des Verfassungsstaates praktisch übersieht (s. allerdings Kielmansegg (Anm. 4), S. 148), der der Herrschaftsbegrenzung, insbesondere durch die Gewaltenteilung, besondere Bedeutung beigemessen hat. Die Volkssouveränität w a r v o n Anfang an nicht alleiniger Motor der modernen verfassungsstaatlichen Entwicklung. Der Rechtsstaat w a r ein gleichwertiges, häufig sogar vorrangiges Ziel i m K a m p f u m diesen demokratischen Verfassungsstaat. I n systematischer Hinsicht ist aus neuerer Zeit besonders auf Kägi, Werner, Rechtsstaat u n d Demokratie, A n t i n o m i e u n d Synthese (1953), i n Matz, U l r i c h (Hrsg), Grundprobleme der Demokratie, Darmstadt 1973, S. 107 ff. hinzuweisen, der beide Komponenten einander gegenüberstellt u n d verbindet. Eine prästabilierte Harmonie z w i schen Volkssouveränität u n d Menschenrechten findet sich i m Grunde n u r bei Rousseau u n d ist i m m e r bestritten worden. 155

158 L e g i t i m w i r d verstanden als „soziale Geltung als rechtens", Kielmansegg, Peter Graf, L e g i t i m i t ä t als analytische Kategorie, PVS 12 (1971), S. 367 ff. (367). 159 Kielmansegg (Anm. 4), S. 258 i n A n l e h n u n g an die berühmte Formel Immanuel Kants i n Grundlegung der Metaphysik der Sitten, Werke (hrsg. v. W i l h e l m Weischedel), F r a n k f u r t , Bd. I V , S. 61. Z u r Konzeption der menschlichen Autonomie bei K a n t vgl. jetzt v o r allem Luf, Gerhard, Freiheit u n d Gleichheit, W i e n u. a. 1978.

Einleitung: Demokratietheoretische Grundlegung

berücksichtigen, die aus der geschichtlichen Realität jeder menschlichen Gemeinschaft folgen. Zum einen ist menschliches Zusammenleben ohne Herrschaft, d.h. Institutionen, die für alle verbindlich entscheiden, nicht denkbar 1 6 0 , denn Herrschaft schafft erst die elementaren Voraussetzungen für die Selbstbestimmung des Menschen, dessen ganze Persönlichkeit sich erst aus den sozialen Bezügen erschließen läßt 1 6 1 . Zum anderen hebt Kielmansegg hervor, daß sich die Frage der Rechtmäßigkeit politischer Herrschaft aus der Rechtmäßigkeit der Institutionen beantworte. Die Verbindlichkeit und Rechtmäßigkeit der Entscheidungen lasse sich nur von der Rechtmäßigkeit der Institutionen herleiten, nicht umgekehrt, weil keine Legitimitätsformel so weit und gleichzeitig so spezifisch sein könne, daß sie alle Entscheidungen determiniere. Verbindlichkeit von Entscheidungen lasse sich allein vom Verfahren ihres Zustandekommens — i n und durch Institutionen —, nicht vom Inhalt her legitimieren 1 6 2 . Die angenommene Wertprämisse, die finaler Natur ist und Legitim mität unter dem Gesichtspunkt der „Zweckdienlichkeit" begreift 1 6 3 , steht i m Gegensatz zu der Legitimität aus dem Ursprung, wie sie Rousseau und die Volkssouveränitätsdoktrin konzipieren. Damit ist es möglich, Legitimität i n der Weise prozessual zu erfassen, daß das System permanent seine Legitimität erweisen muß 1 6 4 . I n diesen Zusammenhang eingebettet, führt die Prämisse zu folgenden Konsequenzen. Autonomie des Menschen kann nicht i n Teilhabe an Herrschaft aufgelöst werden, weil eine Mitbestimmung aller bei verbindlichen Ent160

Kielmansegg (Anm. 4), S. 256. Ebd. S. 234; Kriele (Anm. 73), s. insbes.' S. 7 f. weist darauf hin, daß zur V e r w i r k l i c h u n g v o n Gerechtigkeit Institutionen u n d Rechtsnormen n ö t i g sind, eine radikale Befreiung v o m Recht deshalb i m Gegensatz zu politischer A u f k l ä r u n g i. S. einer Überwindung v o n Unrecht steht. 162 Kielmansegg (Anm. 4), S. 257. I n dieser Ausschließlichkeit ist dieser Satz v o n Kielmanseggs eigenem Ansatz her korrekturbedürftig, denn H e r r schaft, deren Leistungen Selbstbestimmung erst ermöglichen, muß diesen Zweck auch erfüllen. Insofern w i r d Herrschaft letztlich auch inhaltlich l e g i t i miert, n u r betrifft dies eher Herrschaft u n d ihre Leistungen insgesamt oder jedenfalls größere Komplexe als Ganzes, nicht jede einzelne Entscheidung, die sich i n der Tat allein aus dem Verfahren der Entscheidung legitimieren läßt. Die Systemlegitimität hängt heute sogar häufig p r i m ä r v o n der ökonomischen Effizienz ab; vgl. Kevenhörster, Paul, Legitimitätsdoktrinen u n d Legitimierungsverfahren i n westlichen Demokratien, i n Kielmansegg, Peter Graf / Matz, Ulrich, Die Rechtfertigung politischer Herrschaft, Freiburg u. a. 1978, S. 59 ff. (103), obwohl dieses Moment der Legitimität letztlich das instabilste Loyalitätselement darstellt, s. Lipset, Seymour M a r t i n , Political Man, London 1960, S. 77 ff. Z u r „Legalität allein aus dem Rechtserzeugungs ver fahren", gewissermaßen einem Spezialfall der allgemeinen These zustimmend Hofmann, Hasso, Legit i m i t ä t u n d Rechtsgeltung, B e r l i n 1977, S. 49 ff., s. dort S. 71 auch die A b l e h nung der Legitimität der Verfassung aus einem inhaltlichen Prinzip. 163 s. A n m . 162. 164 Kielmansegg (Anm. 4), S. 259 f.; vgl. auch ebd. S. 228. 161

3 Heun

34

Einleitung: Demokratietheoretische Grundlegung

Scheidungen allein einen Schutzbereich autonomer Selbstentfaltung nicht garantieren kann 1 6 5 . Die Tatsache, daß realiter verbindliche Entscheidungen einer Vielzahl von Menschen nur aufgrund der Mehrheitsregel getroffen werden können, verschärft die Problematik noch, da die Minderheit dadurch einer Fremdbestimmung ausgesetzt ist. Massenpartizipation i n allen Angelegenheiten stößt zudem auf unüberwindliche praktische Hindernisse 166 . Die Legitimitätsformel rechtfertigt und begrenzt Herrschaft und das Recht der Teilhabe an ihr deshalb zugleich. Politik hat die Voraussetzungen zu schaffen, daß Menschen imstande sind, gemäß ihren selbstgewählten Zielen zu handeln. Es gibt danach ein Recht aller Bürger auf die Chance, als Subjekt am Prozeß der Politik teilzuhaben, das begrenzt ist aus dem Grund, daß solche Teilhabe immer auch Fremdbestimmung, also gleichzeitig Mitverfügung über Dritte ist und deshalb grundsätzlich mitverantwortet werden muß. Institutionen müssen einerseits ihren Herrschaftszweck möglichst effizient erfüllen, andererseits hat der Einzelne einen Anspruch auf Schutz vor Herrschaft. Die normative Prämisse muß daher „drei Fragen beantworten, welches das Verfahren der Entscheidung sein solle, welche Grenzen herrschaftlicher Verfügungsgewalt zu ziehen seien und was Herrschaft zu leisten habe" 1 6 7 . Die Teilhabe an Herrschaft, die Bedrohung durch Herrschaft und die Angewiesenheit auf Herrschaft stehen dabei i n einem Spannungsverhältnis. „Rechtmäßige Institutionen müssen die konkurrierenden Anforderungen i n einer A r t Balance halten 1 6 8 ." Einen solchen Ausgleich vermögen nur komplexe Institutionen, Verfahren, die eine Vielfalt von Entscheidungsregeln kombinieren, zu vollbringen 1 6 9 . A n Hand der gegebenen Formel läßt sich Legitimität wegen der w i derstreitenden Aspekte politischer Herrschaft nicht exakt messen, die lee w i e Rousseau u n d i h m nachfolgende Konzeptionen annehmen. 1ββ

s. Kielmansegg (Anm. 4), S. 250 ff.; s. unten V I u n d V I I , C. Ebd. S. 264. Diese drei Gesichtspunkte sind zweifellos i n ihrer Substanz nicht v ö l l i g neu, sondern tauchen i n der einen oder anderen Weise, aber undeutlicher u n d verschwommener, manchmal sogar alle gemeinsam, h i n und wieder auf. Vgl. etwa bei Oberndorfer (Anm. 11) die Stichworte W a h l (S. 16), Herrschaftskontrolle (S. 32), Leistungseffizienz (S. 31). A m ehesten vergleichbar die Three Tests for Democracy bei Braybrooke, David, Three Tests for Democracy: Personal Rights, H u m a n Welfare, Collective Preference, New Y o r k 1968, der allerdings demokratische Legitimität nicht begründen w i l l , sondern diese Werte als gegeben unterstellt (S. 5 f.). Auch Braybrooke h ä l t einen Widerspruch etwa zwischen Personal Rights u n d H u m a n Weif are für denkbar (S. 88 f.). — Die Qualität der Theorie Kielmanseggs liegt vielmehr i n der klaren Systematik u n d ihrer gründlichen, tiefgreifenden u n d scharfsinnigen Begründung, die die Anforderungen demokratischer L e g i t i m i t ä t i n einen durchdachten Zusammenhang bringt. 168 Kielmansegg (Anm. 4), S. 264. 169 Ebd. S. 265. 167

Einleitung: Demokratietheoretische Grundlegung Formel k a n n allein einen elementaren Vergleichsmaßstab Die Trias operationalisiert Formel

als

Maßstab

an

35 abgeben170.

die G r u n d p r ä m i s s e , u n d z u g l e i c h ist die

drei

Legitimitätskriterien

die

anzulegen.

Menschliche S e l b s t b e s t i m m u n g , die a l l e r d r e i A s p e k t e b e d a r f , l ä ß t sich nicht gleichzeitig i n allen drei Dimensionen m a x i m i e r e n 1 7 1 . D i e Schwächen dieser K o n z e p t i o n d e r B e d i n g u n g e n

demokratischer

Legitimität liegen i m wesentlichen allein i n der Legitimitätsformel beg r ü n d e t 1 7 2 . Erstens w i r d die Prämisse n i c h t n ä h e r b e g r ü n d e t , s o n d e r n gewissermaßen fraglos i n d e n R a u m gestellt. A l l e r d i n g s l ä ß t sich d e r W e r t „ d e r M e n s c h h e i t i n j e d e r P e r s o n 1 7 3 als solcher n i c h t m e h r s i n n v o l l „ h i n t e r f r a g e n " . D i e n o r m a t i v e Prämisse als Sollenssatz m u ß

insofern

gesetzt, schlicht a n g e n o m m e n w e r d e n , o h n e wissenschaftlich b e g r ü n d bar zu sein174. Z w e i t e n s ist die F o r m e l noch z u a b s t r a k t , u m d i r e k t i n d e r p r a k t i z i e r t e n Weise o p e r a t i o n a l i s i e r t w e r d e n z u k ö n n e n 1 7 5 . D i e d r e i A n f o r d e r u n 170

Ebd. S. 267. Die modernen demokratischen Regierungssysteme sind sogar v o n der Möglichkeit der Maximalisierung ihrer eigenen Bedingungen u n d Prämissen ständig politisch gefährdet; s. Kielmansegg, Peter Graf, Demokratieprinzip u n d Regierbarkeit, i n Hennis, W i l h e l m / Kielmansegg, Peter Graf / Matz, Ulrich (Hrsg.), Regierbarkeit, Bd. I, Stuttgart 1978, S. 118 ff. 172 Kielmansegg (Anm. 4), S. 258 betont selbst die Fragwürdigkeit der Zusammenfassung der Prämisse i n einer einzigen Formel. Er verzichtet aber auf eine Präzisierung, da die sog. basic h u m a n needs bisher weder eindeutig erfaßt seien noch k l a r sei, welche Bedürfnisse konkret durch das politische System zu befriedigen sind (S. 258 f.). Gegen den Ansatz, die Formel über die basic h u m a n needs zu präzisieren, wäre einzuwenden, daß die Frage, welchen menschlichen „Bedürfnissen" ein legitimes System genügen soll, auch wiederum selbst nicht ohne normative K r i t e r i e n beurteilt werden kann. Daher ist dieses Konzept eher geeignet, i n eine Sackgasse zu führen, als sinnvoller Konkretisierung zu dienen. 173 Die beiden Aspekte der Menschheit als K o l l e k t i v u n d des einzelnen Individuums können sich durchaus widersprechen. Die westlichen Demokratien zeichnen sich dadurch aus, daß sie einer individualistischen E t h i k den Vorrang geben. Insoweit reflektiert auch Kielmansegg diese historische Prägung. Es fragt sich, ob diese Konzeption unbedingt u n d i n jeder Hinsicht auch auf politische Systeme außerhalb des abendländischen Kulturkreises, die einen solchen Individualismus nicht teilen, übertragbar ist; vgl. auch noch unten V, A . 174 Das Problem normativer Begründung k a n n hier nicht vertieft werden; s. n u r Weischedel, W i l h e l m , Skeptische E t h i k , F r a n k f u r t 1976, S. 181 ff.; Kolakowski, Leszek, Die Gegenwärtigkeit des Mythos, 2. Aufl., München 1974, insbes. S. 33 ff.; generell zum Problem des Wertrelativismus Brecht, A r n o l d , Politische Theorie, Tübingen 1961, S. 139 ff., 163 ff., 252 ff. Z u der Kant'schen Formel i n einer modernen E t h i k s. Schulz, Walter, Philosophie i n der v e r änderten Welt, Pfullingen 1972, S. 740 ff. 175 Jäger (Anm. 157), S. 12 meint deshalb die Prämisse als „Leerformel" charakterisieren zu müssen. W o h l zu Unrecht, da die einzelnen Anforderungen auf diese abstrakten normativen Prämisse zurückgeführt werden können. 171

3*

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Einleitung: Demokratietheoretische Grundlegung

gen an das demokratische System sind, jedenfalls nicht unmittelbar, aus der Prämisse ableitbar 1 7 6 . Bei aller Verdeutlichung, Klarstellung und Vertiefung verbergen sich hinter dieser dreidimensionalen Konzeption i m Grunde unausgesprochen die den modernen demokratischen Verfassungsstaat tragenden Wertvorstellungen, die nicht systematisch mit den Naturrechtskonzeptionen vor allem des 18. Jh. identisch sind, ihnen aber historisch entspringen 1 7 7 , und die den selbstverantwortlichen Bürger mit vielfältig differenzierten Rechten ausgestattet haben. Der rechtsstaatliche Kanon ausgedehnter Grundrechte, erweitert u m die demokratischen Rechte der Mitwirkung, w i r d i m modernen Sozialstaat durch die staatliche Daseinsfürsorge und Rechtsverbürgung ergänzt. Erst vor diesem historisch gewachsenen Hintergrund w i r d der Zusammenhang zwischen der Kurzformel der Prämisse und der Dreiheit von Teilhabe an Herrschaft, Leistungsfähigkeit von Herrschaft und Begrenzung von Herrschaft deutlich. Das Verständnis vom Individuum als einem nicht völlig vergesellschafteten, aber sozial geprägten, selbstverantwortlichen Subjekt, dem das Recht auf Gerechtigkeit und sozial eingebundene Selbstbestimmung i n Freiheit und Gleichheit zusteht, bildet das Zwischen- und Bindeglied, das die Teilhabe an Herrschaft, den Anspruch auf Schutz vor Herrschaft und letztlich auch die Forderung nach der Leistungsfähigkeit des Systems rechtfertigt 1 7 8 . Die dreifache Aufgliederung der 176 Darauf k a n n allerdings i m Rahmen dieser A r b e i t n u r kurz eingegangen werden. 177 s. Troeltsch, Ernst, The Ideas of N a t u r a l L a w and H u m a n i t y i n W o r l d Politics, i n Gierke, Otto, N a t u r a l L a w and the Theory of Society, Vol. I, Cambridge 1934, S. 201 ff. 178 Nicht umsonst hat sich die Konzeption der Grundrechte nie allein auf einen obersten Grundsatz festgelegt u n d verlassen. A m ehesten gelungen, aber eben doch auch der Ergänzung durch spezifische, einzeln ausgeformte Grundrechte bedürftig, erscheint der Grundsatz der Menschenwürde i n A r t . 1 GG, der eine bezeichnende Ähnlichkeit m i t der K a n t / KielmanseggFormel aufweist. Dabei können die einzelnen Grundrechte u n d sogar letztlich die Prinzipien des A r t . 20 G G m E als Konkretisierung u n d Konsequenz des überwölbenden Grundsatzes des A r t . 1 GG aufgefaßt werden. I m übrigen werden i m System der Grundrechte u n d der Leitzielbestimmungen des A r t . 20 GG die Spannungen deutlich, die auch das demokratietheoretische Konzept i n reduzierter, w e i l komprimierter F o r m auszeichnet. Es zeigt sich darüber hinaus der Zusammenhang zwischen der Vielfalt menschlicher Rechte u n d der K o m p l e x i t ä t der Anforderungen an das politische System. I m K e r n m i t dieser Konzeption u n d i h r e r Fundierung i n einer offenen Formel vergleichbar ist die allerdings verfassungsrechtliche Konzeption v o n Grabitz, Eberhard, Freiheit u n d Verfassungsrecht, Tübingen 1976, S. 235 ff. Freiheit w i r d hier als grundlegendes Verfassungsprinzip verstanden, das die Ordnung des Gemeinwesens konstituiert. Entsprechend zu der Vorstellung der Autonomie des Einzelnen gewährt auch die Freiheit als Verfassungsprinzip „das Recht zu individueller Beliebigkeit", „reale Freiheit" w i e „demokratische Teilhabe" (S. 244). Bei Grabitz k o m m t n u r das SpannungsVerhältnis dieser drei Elemente nicht deutlich zum Ausdruck.

Einleitung: Demokratietheoretische Grundlegung A n f o r d e r u n g e n a n das politische S y s t e m erscheint als die T h e o r i e , die den komplexen, empirischen u n d n o r m a t i v e n Gehalt der

Demokratie

i n konziser, p o i n t i e r t e r F o r m s i n n v o l l i m L i c h t e d e r gesetzten N o r m a u f einen Begriff bringt. Was sich v o m E i n z e l n e n aus gesehen als T e i l h a b e an, Schutz v o r u n d Anspruch auf Leistungen der öffentlichen Herrschaft darstellt, k a n n v o n der Warte öffentlicher Herrschaft m i t der Notwendigkeit i h r e r verfahrensmäßigen Legitimierung, ihrer L i m i t i e r u n g u n d ihrer Ration a l i t ä t u n d E f f i z i e n z u m s c h r i e b e n w e r d e n 1 7 9 , o b g l e i c h die andere P e r s p e k t i v e eine v ö l l i g e D e c k u n g d e r B e g r i f f s p e n d a n t s n i c h t e r l a u b t . D i e F r u c h t b a r k e i t des Ansatzes zeigt sich b e i e i n e m B l i c k a u f v e r f a s sungsrechtliche L e i t p r i n z i p i e n , d i e eine rechtliche A n k n ü p f u n g a n d i e demokratietheoretischen Gesichtspunkte gestatten180. Die Teilhabe an Herrschaft s t i m m t weitgehend m i t dem Demokratieprinzip ü b e r e i n 1 81 . D e r Schutz des E i n z e l n e n , d i e L i m i t i e r u n g d e r H e r r s c h a f t w i r d d u r c h das R e c h t s s t a a t s p r i n z i p 1 8 2 , v o r a l l e m d e m E l e m e n t d e r G r u n d r e c h t e , g e w ä h r l e i s t e t , w ä h r e n d d e r A n s p r u c h des E i n z e l n e n a u f L e i s t u n g e n des Staates i m S o z i a l s t a a t s p r i n z i p 1 8 3 , aber auch i m R e c h t s s t a a t s p r i n z i p 1 8 4 179 Vgl. die Formulierung Schneider, Hans-Peter, Die parlamentarische Opposition i m Verfassungsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. I : Grundlagen, F r a n k f u r t 1973, S. 328; vgl. auch die Gemeinwohlgrundwerte Freiheit, Gerechtigkeit, Sicherheit, Frieden u n d Wohlstand, bei Arnim, HansHerbert von, Gemeinwohl u n d Gruppeninteressen, F r a n k f u r t 1977, S. 22 ff. 180 Vgl. auch Arnim (Anm. 179), S. 35 ff. 181 Z u den Elementen des Demokratieprinzips s. ausführlich Stern, Klaus, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. I, München 1977, S. 439 ff. Wegen der begrifflichen Übereinstimmung m i t der Demokratie als System, wie er i m Verlauf der Einleitung verwendet wurde, ist klarstellend darauf hinzuweisen, daß der K e r n des Demokratieprinzips Teilhabe an Herrschaft bedeutet. 182 Z u m Rechtsstaatsprinzip s. Stern (Anm. 181), S. 602 ff.; vgl. auch Kägi (Anm. 157), S. 104 ff. u n d Scheuner, Ulrich, Die neuere E n t w i c k l u n g des Rechtsstaats i n Deutschland (1960), i n Staatstheorie u n d Staatsrecht, B e r l i n 1978, S. 185 ff. (204 ff.); vgl. auch unten V I I , A , 1 u n d V I I , Β . 183 Vgl. etwa Döhring, K a r l , Sozialstaat, Rechtsstaat u n d freiheitlich demokratische Grundordnung, Sonderheft v o n „Die Politische Meinung" 1978, S. 12, 22, 27, wonach der Sozialstaat gerade die Freiheit des Individuums sichern soll; ebenso Huh, Young, Rechtsstaatliche Grenzen der Sozialstaatlichkeit, Staat 18 (1979), S. 183 ff. (191 ff.); allgemein zum Sozialstaatsprinzip Stern (Anm. 181), S. 682 ff. Das M e r k m a l Leistungseffizienz w i r d ausdrücklich v o n Achterberg, Norbert, A n t i n o m i e n verfassungsgestaltender Grundentscheidungen, Staat 8 (1969), S. 159 ff. (S. 168) dem Sozialstaatsprinzip zugeordnet. I n den letzten Jahren sind die Grundrechte verstärkt zu Trägern v o n A n s p r ü chen der Bürger auf staatliche Leistungen zur Gewährleistung der Selbstbestimmung geworden. Eine verfassungsrechtliche Differenzierung des B l a n kettbegriffs Sozialstaatsprinzip (Achterberg, ebd. S. 160 ff.) w i r d erkauft durch verfassungsrechtliche Unklarheiten, die durch die Verlegung bisher zwischen den Grundprinzipien bestehender Spannungen i n diese G r u n d p r i n zipien selbst hineingetragen werden; s. die Unterscheidung Achterbergs z w i -

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Einleitung: Demokratietheoretische Grundlegung

e i n e n A u s d r u c k f i n d e t 1 8 5 . A u c h diese v e r f a s s u n g s r e c h t l i c h e n

Prinzipien

stehen i n e i n e m gewissen S p a n n u n g s v e r h ä l t n i s 1 8 6 . Es ist aber gerade die spannungsvolle

Offenheit

dieser

Konzeption

der

gegenseitig

wider-

s t r e i t e n d e n E r f o r d e r n i s s e , die diese d r e i - f a l t i g e D e m o k r a t i e t h e o r i e so brauchbar macht. N u n m e h r w i r d e r k e n n b a r , w e l c h e n P l a t z das M e h r h e i t s p r i n z i p i m demokratischen System e i n n i m m t . I m Wege der Mehrheitsentscheidung n e h m e n die B ü r g e r k o l l e k t i v a n der ö f f e n t l i c h e n H e r r s c h a f t t e i l 1 8 7 . Das M e h r h e i t s p r i n z i p b e i n h a l t e t die einzige M ö g l i c h k e i t s i m u l t a n e r , g l e i cher E i n f l u ß n a h m e a l l e r a u f politische E n t s c h e i d u n g e n 1 8 8 . G l e i c h f a l l s w e r d e n d i e G r e n z e n des M e h r h e i t s p r i n z i p s i m R a h m e n d e m o k r a t i s c h e r Herrschaft u n m i t t e l b a r einsichtig189. Die D r e i - F a l t i g k e i t der Erfordernisse d e r D e m o k r a t i e w i r d d a h e r i m w e i t e r e n V e r l a u f der U n t e r s u c h u n g stets i m A u g e b e h a l t e n w e r d e n müssen.

sehen äußeren A n t i n o m i e n (S. 166) u n d inneren A n t i n o m i e n bei Mehrpoligk e i t (S. 163 ff.). 184 Das b e t r i f f t v o r allem die staatliche Sicherung materieller Gerechtigkeit. 185 Einer Erweiterung der vorgetragenen Demokratietheorie auf das Feld der Gesellschaft bedarf es deshalb nicht; so aber Fetscher, Iring, i n seiner Rezension i n M e r k u r 1977, S. 1199 ff. (1201), L e g i t i m i t ä t ist n u r sinnvoll als Kategorie des politischen Systems, dem allerdings auch die Herstellung einer sozial gerechten Ordnung u n d die Sicherung der Möglichkeit zur Selbstentfaltung des Einzelnen einerseits obliegt, dessen Reichweite u n d Intensität u n d damit Effizienz i m Interesse der Freiheit beschränkt werden muß u n d damit einen gesellschaftlichen Freiraum übrigläßt. Gerade diese Grundsätze werden v o n dieser Demokratietheorie einbezogen. Jedenfalls bedarf die Begegnung u n d K o l l i s i o n unterschiedlicher Individualinteressen innerhalb des v o m politischen System gewährten Freiraums einer anderen Lösung, die einen Ausgleich der Interessen m i t der geringstmöglichen Beeinträchtigung verbindet. Außerdem erliegt Fetscher hier der liberalen Trennung v o n Staat u n d Gesellschaft. Das politische System ist aber nicht m i t dem Staat gleichzusetzen. 18e Z u diesem Spannungsverhältnis insbesondere Achterberg (Anm. 183), S. 159 ff.; Göldner, Detlev, Integration u n d Pluralismus i m demokratischen Rechtsstaat. Bemerkungen zur Doppelfunktion v o n Einheit u n d Gegensatz i m System des Bonner Grundgesetzes, Tübingen 1977, S. 34 ff. Das Grundgesetz ist, w i e jede Verfassung, auch eine Niederlegung objektiver Sachgegensätze ebd. S. 44. 187 Teilhabe an Herrschaft ist aber nicht allein auf diese simultane Massenpartizipation beschränkt, die Demokratie muß außerdem noch andere Formen der Teilhabe ermöglichen; s. Kielmansegg (Anm. 4), S. 260 f. 188 Z u den Einzelheiten u n t e n I V . 189 Dazu unten V I I .

I . Das Mehrheitsprinzip ale Begrifî Das Wort „Mehrheit", das i n Mehrheitsgrundsatz oder auch latinisiert i n Majoritätsprinzip erscheint, ist recht neuen Ursprungs, während sein Gehalt bereits seit der Antike bekannt ist 1 . Das lateinische Wort der „major pars" ist dem Mittelalter geläufig 2 . I n die modernen Sprachen ist der Begriff allerdings erst spät eingedrungen. I m Englischen taucht die "majority" gegen Ende des 17. Jahrhunderts auf und w i r d i m Verlauf des 18. Jahrhunderts Allgemeingut 3 . Obwohl die englische "majority" dem Französischen entlehnt ist 4 , w i r d eine „majorité" erstmals i n einem Brief Voltaires vom 24. 7.1760 erwähnt und i m rein wahltechnischen Sinn i m Jahre 1789 gebraucht 5 und ist damit jüngeren Ursprungs 6 . I m deutschen Sprachbereich findet sich das Wort „Mehrheit" i m Jahr 1719 i n einem niederländisch-deutschen Wörterbuch 7 und wurde i m Sinne eines Stimmenverhältnisses eingebürgert von Klopstock, Moser und Schiller 8 , bezeichnenderweise i n abschätziger Verwendung 9 . Zwar ist für das Verständnis des sachlichen Gehalts des Mehrheitsprinzips die Begriffsgeschichte von nachrangigem Gewicht, die Einbürgerung des Begriffs i n die großen europäischen Sprachen i m 18. Jahrdert w i r f t jedoch ein Licht auf einen historischen Schnittpunkt 1 0 . Die 1

s. unten die Geschichte des Mehrheitsprinzips I I I . Z u r frühen W o r t - u n d Bedeutungsgeschichte Moulin , Léo, Les origines religieuses des techniques électorales et déliberatives modernes, Revue Internationale d'Histoire politique et constitutionnelle, Nouvelle Série, Bd. I I I , Paris 1953, S. 106 ff. (108). 3 " m a j o r i t y " , erste literarische Erwähnung 1691 iSv größere Zahl, 1743 iSv Wählerstimmenmehrheit, New English Dictionary on Historical Principles, Oxford 1908, Bd. V I , Part. I I , S. 59. 4 Zwischen französischer u n d englischer Sprache ist die Bedeutung iSv Altersreife der V e r m i t t l e r . 5 Grand Larousse de la langue française, Bd. I V , Paris 1975, S. 3178 f. β D a m i t zeichnet die Wortgeschichte i m Grunde die politische Entwicklung nach. 7 Kluge, Friedrich, Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache, 20. Aufl., B e r l i n 1967, S. 471. 8 Grimm, Jakob u. W i l h e l m , Deutsches Wörterbuch, Bd. V I , Leipzig 1885, Sp. 1896; vgl. auch Adelung, Johann Christoph, Grammatisch kritisches Wörterbuch der Hochdeutschen Mundart, 3. Bd. W i e n 1811, Sp. 151. 9 Auch Schiller, Friedrich, Demetrius, 1. A k t , Verse 468 ff.; Fiesco v o n Genua, 2. Aufzug, 8. A u f t r i t t . 10 s. unten I I I zum 18. Jahrhundert. 2

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I. Das Mehrheitsprinzip als Begriff

Aufgabe hergebrachter, umständlicher Umschreibungen und die Herausbildung eines neuen, komprimierenden Kurzwortes werden dann zum Bedürfnis, wenn der bezeichnete Sachverhalt i m allgemeinen Bewußtsein eine gewisse Bedeutung erlangt hat. Wenn man vom Mehrheitsprinzip i n seinem demokratischen Bedeutungsinhalt absieht, ist Mehrheit eine eindeutige Verhältnisbestimmung zwischen Zahlengruppen. „Der jeweils wenigstens u m eins den Rest eines Zahlenganzen übertreffende Teil ist die Mehrheit 1 1 ." Der Begriff der Mehrheit ist damit klar bestimmt. Das Mehrheitsprinzip i n der Demokratie besagt jedoch mehr, nämlich, daß die Mehrheit entscheidet. Das setzt erstens voraus, daß die jeweilige Mehrheit feststellbar ist und festgestellt wird. Insoweit ist i n der Demokratie das Zahlenganze die tatsächliche oder auch mögliche Anzahl von „Stimmen". Mehrheit i n der Demokratie bedeutet also i m wesentlichen Stimmenmehrheit 1 2 . Darüber hinaus ist zweitens m i t dem Satz, daß die Mehrheit entscheidet, notwendig verbunden, daß die Mehrheit v i r t u e l l zwischen verschiedenen Alternativen frei wählen kann und infolgedessen eine wirkliche Entscheidung trifft. I m Unterschied dazu sind reine Akklamationshandlungen m i t dem demokratischen Mehrheitsprinzip nicht vereinbar. Das Mehrheitsprinzip beinhaltet drittens, daß auch tatsächlich die grundlegenden Entscheidungen des Gemeinwesens von der Mehrheit der Bürger oder jedenfalls ihren Vertretern, den Repräsentanten, gefällt werden. Damit ist der Gehalt des Mehrheitsprinzips i n seinen wesentlichen Elementen grundsätzlich bezeichnet und einer vorläufigen Begriffsbestimmung Genüge getan. Die weiteren Einzelheiten bleiben dem Hauptteil der Arbeit überlassen.

11 Varian, Heinz Josef, Die Bedeutung des Mehrheitsprinzips i m Rahmen unserer politischen Ordnung, ZfP 11 (1964), S. 239 ff. (242). 12 Ebd. S. 242 f.

I I . Die Geschichte des Mehrheitsprinzips 1 Bevor die Entscheidung durch die Mehrheit einen demokratischen Charakter gewann, hatte das Majoritätsprinzip einen vielgestaltigen Wandel i n der Geschichte erlebt. Sobald eine Mehrzahl von Personen zu einer gemeinsamen Entscheidung berufen ist, erscheint die Mehrheitsregel als unmittelbar einleuchtende 2 Formel, einen Dissens i n der Gesamtheit friedlich zu überwinden. A l l e i n der arithmetische Gesichtspunkt 3 läßt die faktische Macht 4 der Mehrheit sichtbar werden. Seine formale Struktur hat das Prinzip deshalb früh zur Anwendung i n den verschiedensten Personengruppen und Personenzusammenschlüssen, i n Volksversammlungen, beratenden Körperschaften und Kollegien, i n Parlamenten und anderen, auch kleineren Gremien, sowie i n allen A r ten von Gerichten, denen mehrere Personen angehören, sich eignen lassen. Es ist weder an die Demokratie noch an andere Staats- und Regierungsformen gebunden und ist bis i n die Neuzeit meist von oligarchischen Regimen gehandhabt worden. I n der Geschichte des Mehrheitsprinzips sind die Übergänge von amorphen Akklamationshandlungen über grobe Schätzungen der Mehrheitsmeinung bis zu einer exakten Mehrheitsberechnung fließend. I n der Tendenz korrespondiert die Genauigkeit der Berechnung mit der tatsächlichen Macht des Beschlußkörpers, wirkliche Entscheidungen zu treffen. 1 Grundlegend Scheuner, Ulrich, Das Mehrheitsprinzip i n der Demokratie, Opladen 1973, S. 13 ff.; wichtig auch Elsener, Ferdinand, Z u r Geschichte des Majoritätsprinzips (Pars maior u n d Pars sanior), insbesondere nach schweizerischen Quellen, ZRG, Bd. 73 (Kan. A b t . 42) (1956), S. 73 ff., 560 ff.; aus der älteren L i t e r a t u r sind besonders zu erwähnen Gierke, Otto von, Über die Geschichte des Majoritätsprinzips, i n Schmollers Jahrbuch f ü r Gesetzgebung, V e r w a l t u n g u n d Volkswirtschaft i m Deutschen Reiche, 39. Jg. M ü n chen u. a. 1915, S. 565 ff.; Konopczynski, Ladisias, Le l i b e r u m veto, Etude sur le dévelopment du principe majoritaire, Paris 1930. Zur Entwicklung des demokratischen Volkssouveränitätsgedankens jetzt vor allem Kielmansegg, Peter Graf, Volkssouveränität, Stuttgart 1977, T e i l I, S. 16 ff. 2 Trendelenburg, Adolf, Über die Methode bei Abstimmungen, i n Kleine Schriften, 2. Teil, Leipzig 1871, S. 24 ff. (24). 3 Scheuner (Anm. 1), S. 7. 4 s. Starosolskyj, Wolodymyr, Das Majoritätsprinzip, W i e n u. a. 1916, S. 9; vgl. auch Locke, John, T w o Treatises of Government I I , § 96 "the Body should move that w a y w i t h e r the greater force carries it, which is the consent of majority".

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I I . Die Geschichte des Mehrheitsprinzips

Die Entwicklung zu einer Anwendung demokratischer Mehrheitsentscheidungen ist dennoch nicht geradlinig verlaufen. Der Grundsatz ist dort verdrängt worden, wo Alleinherrscher zur Macht gelangten wie i n der antiken Tyrannis 5 und der absoluten Monarchie, i n denen die Herrschaftsunterworfenen höchstens vorgegebene Entscheidungen m i t archaischer Akklamation entgegennehmen konnten 6 . Der Anerkennung des Mehrheitsprinzips stand zudem eine Auffassung von der Notwendigkeit der Einheit und Geschlossenheit entgegen, die der Stellung des einen Herrschers entsprach 7 und die i n der Ablehnung von Parteiungen 8 auch andere Verteidiger gefunden hat 9 . Der Geltung des Prinzips ist schon frühzeitig Widerstand und K r i t i k entgegengesetzt worden, andererseits ist das Prinzip i n der politischen Theorie immer wieder begründet und gerechtfertigt worden, wenn auch ausführliche Auseinandersetzungen m i t dem Mehrheitsprinzip i n systematischer Hinsicht erstaunlich selten sind 1 0 . Die historische Behandlung des Themas bleibt nicht auf die bloße Beschreibung der Voraussetzungen demokratischer Mehrheitsentscheidungen beschränkt, sie gestattet es vielmehr, grundsätzliche Aspekte zu erhellen, die i n den einfacheren Verhältnissen älterer Zeiten deutlicher hervortreten 1 1 . I n der Antike hat die Mehrheitsregel nur i m griechisch-römischen Bereich Bedeutung gewonnen und i n der athenischen Demokratie einen vorläufigen Höhepunkt erreicht. I n der Frühzeit des Königtums war das einzige Organ, das aus einer Mehrzahl von Personen bestand, die alte Heeresversammlung, die aller5 Es gab allerdings auch Tyrannen, die durch Mehrheitsentscheidung i n i h r e m A m t bestätigt wurden; s. Berve , Helmut, Die Tyrannis bei den Griechen, München 1967, Bd. I, S. 286 (Jason v o n Pherai) u n d S. 463 (Hieron I I v o n Syrakus); die römische I n s t i t u t i o n der D i k t a t u r auf Zeit w a r auf den militärischen Bereich beschränkt u n d i n die römische Verfassung einbezogen. Dazu s. Mommsen, Theodor, Römisches Staatsrecht, Nachdruck Tübingen 1952, Bd. I I . 1., S. 141 ff. 6 Z u den Akklamationsformen bei mittelalterlichen Königs- u n d Papstwahlen s. unten. 7 s. Scheuner (Anm. 1), S. 14 f. 8 s. etwa Bodin, Jean, Six livres de la République, Ausg. Paris 1583, (Nachdruck Aalen 1961) Buch I I c. 7, S. 655. I n dieser T r a d i t i o n liegt noch der A u s spruch W i l h e l m II.: „Ich kenne keine Parteien mehr, ich kenne n u r noch Deutsche." 9 Vgl. Rousseau, Jean-Jacques, Contrat Social I I , 4. 10 So auch Varain, Heinz Josef, Die Bedeutung des Mehrheitsprinzips i m Rahmen unserer politischen Ordnung, ZfP 11 (1964), S. 239 ff. (239); Scheuner (Anm. 1), S. 11. 11 Scheuner (Anm. 1), S. 11.

I I . Die Geschichte des Mehrheitsprinzips

dings nicht abstimmen, sondern nur beraten und zuhören konnte 1 2 . Sie äußerte aber bereits ihren Willen 1 3 , antwortete mit Beifall oder Murren auf die Vorschläge der Heerführer 1 4 . Dieser Form der Akklamation kam also schon legitimierende Bedeutung zu 1 5 . Eine gewisse Ähnlichkeit damit weist die Versammlung aller Freien, der Wehrgemeinde (Apella), i n Sparta auf. Sie hatte jedoch entscheidendes Gewicht. Ihr stand zwar weder das Recht der Initiative noch der Debatte der anstehenden Fragen zu 1 6 , sie war aber zu Wahlen und A b stimmungen berechtigt 17 , die i n der archaischen Form des Zurufs erfolgten, wobei die Lautstärke entschied. Nur ausnahmsweise wurde die Mehrheit durch räumliches Auseinandertreten ermittelt 1 8 . Aristoteles hielt die übliche Abstimmungsmethode für kindisch 1 9 . I n der Volksversammlung Athens, und das galt auch für die anderen griechischen Demokratien 2 0 , wurde i m Sitzen 21 durch Erheben der Hand (χειροτονία)22 abgestimmt. Die Stimmen wurden selten ausgezählt, meist wurde nur die Gegenprobe gemacht 23 . Wenn die Rechte Einzelner betroffen waren, insbesondere beim Ostrakismos, fanden Stimmzeichen 12

Busolt, Georg, Griechische Staatskunde, 3. Aufl., Bd. I, München 1921, S. 336 f. 13 Ebd. S. 340. 14 Ebd. S. 337, zu den homerischen Versammlungen s. Larsen, J. A . O., The Origin and Significance of the counting of votes, Classical Philology 44 (1949), S. 164 ff. (165 ff.). 15 Dagegen finden sich i m Gegensatz zum germanischen Bereich keine Überlieferungen einer F o r m der Einhelligkeit (Scheuner (Anm. 1), S. 18 A n m . 38). 16 Busolt (Anm. 12) Bd. I I , München 1926, S. 692. 17 Die Apella w ä h l t e v o r allem die Mitglieder der Gerousia u n d sie entschied i n wichtigen Fragen wie über den Kriegseintritt, Staveley, E. S., Greek and Roman V o t i n g and Elections, London 1972, S. 74 f. 18 Busolt I (Anm. 12), S. 455; ders. I I (Anm. 16), S. 693; Ehrenberg, Victor, Der Staat der Griechen, 2. A u f l . Zürich 1965, S. 66; Staveley (Anm. 17), S. 74 ff.; zum Auseinandertreten s. Thukydides, Der Peloponesische K r i e g I, c. 87; bei Wahlen traten die Kandidaten einzeln nacheinander v o r die V e r sammlung. Die Stärke des Geschreis wurde v o n ausgewählten Männern, die sich i n einem angrenzenden Gebäude befanden, w o sie nichts sehen konnten, beurteilt. Die Männer notierten ihre Eindrücke auf Tafeln, Plutarch , L y k u r gus 26; Staveley (Anm. 17), S. 74. 19 Aristoteles, P o l i t i k , 1271 a; die Methode fand dennoch auch später i m m e r wieder Verwendung, s. unten. 20 Dazu allgemein Busolt I (Anm. 12), S. 411 ff. 21 Busolt I (Anm. 12), S. 448 f.; auch i n Sparta saßen die Versammelten. 22 Busolt I (Anm. 12), S. 454, Busolt I I (Anm. 16), S. 1000; Ehrenberg (Anm. 18), S. 69; Staveley (Anm. 17), S. 83; Tarkiainen t T u t t u , Die athenische Demokratie, Zürich 1966, S. 239. 23 Busolt I I (Anm. 16), S. 1002; vgl. auch Staveley (Anm. 17), S. 86; eine formelle A b s t i m m u n g fand wahrscheinlich seit dem 7. Jahrhundert statt, Larsen (Anm. 14), S. 164.

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I I . Die Geschichte des Mehrheitsprinzips

(ψήφοι) 2 4 V e r w e n d u n g , w o b e i e i n Q u o r u m v o n 6000 S t i m m e n e r f o r d e r l i c h w a r 2 5 . D i e A b s t i m m u n g e n 2 6 p f l e g t e n p h y l e n w e i s e v o r sich z u gehen, j e d o c h b i l d e t e n die P h y l e n k e i n e geschlossenen S t i m m k ö r p e r , v i e l m e h r w u r d e nach K ö p f e n d u r c h g e z ä h l t 2 7 . D i e einfache M e h r h e i t D i e V e r s a m m l u n g s l e i t u n g l a g i n d e r H a n d des R a t e s

29

entschied28.

.

Z u r Teilnahme an den Versammlungen w a r e n alle männlichen V o l l b ü r g e r b e r e c h t i g t 3 0 , aber n i c h t v e r p f l i c h t e t 3 1 ; n u r A n w e s e n d e k o n n t e n i h r e p o l i t i s c h e n Rechte a u s ü b e n 8 2 . Es d a r f a l l e r d i n g s n i c h t ü b e r s e h e n w e r d e n , daß die athenische V o l k s h e r r s c h a f t die S k l a v e n , M e t ö k e n u n d F r a u e n ausschloß 3 3 . „ A b e r i n s o f e r n zeigt sich doch i n A t h e n b e r e i t s eine Einwirkung 24

des G e d a n k e n s d e r M e h r h e i t

u n d G l e i c h h e i t , daß

man

Busolt I (Anm. 12), S. 454; ders., I I (Anm. 16), S. 1000; Staveley (Anm. 17), S. 88 ff. 25 Staveley (Anm. 17), S. 78, 89, 90 ff.; ein Quorum w a r teilweise auch i n anderen Städten notwendig. Das Quorum v o n 6000 i n A t h e n entsprach z w i schen V 7 u n d Va der Bürger, i n Magnesia umfaßte das Quorum v o n 600 etwa Ve bis V» der Bürgerschaft (Busolt I (Anm. 12), S. 446). Das Psephisma w a r whrscheinlich sogar die ältere Methode (Staveley (Anm. 17), S. 84 ff., anders Busolt I (Anm. 12), S. 455, der die geheime A b s t i m m u n g vor allem m i t den Volksgerichtsentscheidungen i n Verbindung bringt). Über die Mehrheitsregel i n den gleichfalls aus vielen Bürgern bestehenden Gerichtsversammlungen, Staveley (Anm. 17), S. 95 ff. 26 Sicher bei der Psephophorie (s. auch Busolt I (Anm. 12), S. 455), w a h r scheinlich aber auch sonst (Staveley (Anm. 17), S. 81 f.). 27 Staveley (Anm. 17), S. 86 f.; Busolt I (Anm. 12), S. 455; Tarkiainen (Anm. 22), S. 238. 28 Busolt I (Anm. 12), S. 454; Busolt I I (Anm. 16), S. 1000; Tarkiainen (Anm. 22), S. 238. 29 Dazu Tarkiainen (Anm. 22), S. 226 ff. 30 Busolt I (Anm. 12), S. 444. 31 Ebd. S. 445. 32 Ehrenberg (Anm. 18), S. 72; i m Normalfall nahmen etwa 1 /s bis 1 /a der Bürgerschaft teil; Tarkiainen (Anm. 22), S. 225. 33 Wobei die Sklaven u n d Metöken jedoch w o h l nicht die große Mehrheit der Gesamtbevölkerung darstellten. Die Zahlenverhältnisse sind ziemlich umstritten, Lauffer, Siegfried, Die Bedeutung des Standesunterschiedes i m klassischen Athen, H Z 185 (1958), S. 497 ff. (500), n i m m t für 430 v . C h r . ein Verhältnis v o n Bürgern zu Metöken u n d Sklaven 1 : 0,7 : 2 u n d für 330 v. Chr. ein Verhältnis v o n 1 : 0,4 : 1,8 an. Dagegen k o m m t Jones, Α . H. M., A t h e n i a n Democracy, Oxford 1957, S. 76 ff. aufgrund genauer Berechnungen des bekannten Getreideverbrauchs auf sehr v i e l günstigere Zahlen, die eine gleichmäßige Schätzung der männlichen erwachsenen Bevölkerung erlauben: Danach gliederte sich die erwachsene männliche Bevölkerung i m 4. J a h r h u n dert v. Chr. auf i n r u n d 20 000 Bürger, 10 000 Metöken u n d 10 000 männliche Sklaven, während Frauen u n d K i n d e r aller Klassen r u n d 100 000 ausmachen. Danach hätte i m m e r h i n die Hälfte der erwachsenen männlichen Bevölkerung das Wahlrecht besessen, einen Stand, den die westlichen Demokratien erst i m 19. Jh. wieder erreichen. A u f ein ähnliches Verhältnis lassen die Zahlen bis 400v.Chr. bei Ehrenberg (Anm. 18), S. 38 schließen, während sie dann i m m e r ungünstiger werden. Dort zum Vergleich auch die Zahlen v o n Gomme, die ein schlechteres B i l d zeichnen; vgl. schließlich dazu auch Tarkiainen (Anm. 22), S. 48 ff.

I I . Die Geschichte des Mehrheitsprinzips

bestrebt war, den Kreis der teilnahmefähigen Bürger so weit wie möglich zu ziehen und zu diesem Zweck ihnen eine Besoldung für die Wahrnehmung der politischen Aufgaben darreichte 34 ." Das Gleichheitsprinzip bestimmte die Griechen außer zur Mehrheitsregel auch zum Losverfahren, das auch armen Bürgern die Chance eröffnete, gewählt zu werden 3 5 . Angesichts der sozialen Unterschiede konnten nur ein starker Grundkonsens der Bürger und die Beschränkung der Gleichheit und des Entscheidungsbereichs für Mehrheitsentscheidungen auf das Politische 36 den demokratischen Stadtstaat zusammenhalten, wenn zugleich die Chance des Mehrheitswechsels gewahrt blieb 3 7 . Außerhalb demokratischer Versammlungen fand das Mehrheitsprinzip auch i n den griechischen Staatenbünden Anwendung 3 8 . I m lakedaimonischen Bund hatten die Gliedstaaten sich von vorneherein durch Eid zur Anerkennung der Rechtskraft der Mehrheitsbeschlüsse verpflichtet 3 9 , während das Mehrheitsprinzip i n den Volksversammlungen grundsätzlich i n seiner quantitativen Evidenz 4 0 hingenommen wurde. Auch sonst war das Mehrheitsprinzip verbreitet und anerkannt 4 1 . Naturgemäß begegnete die „Herrschaft der Meisten" vielfacher K r i tik, die vor allem m i t Piatons Namen verbunden ist 4 2 . Ohne eine der34 Scheuner (Anm. 1), S. 19; zu den Diäten s. Busolt I (Anm. 12), S. 445; Staveley (Anm. 17), S. 78 f., Jones (Anm. 33), S. 49 f.; vgl. auch Tarkiainen (Anm. 22), S. 225, 227 u n d Aristoteles, Politik, 1298 b. 35 Z u m Los allgemein Staveley (Anm. 17), S. 54 ff., zum Losverfahren ebd. S. 61 ff.; vgl. auch Platon, Politela, 557 a, Jones (Anm. 33), S. 47 f. 36 Meier, Christian, Entstehung u n d Besonderheit der griechischen Demokratie, ZfP 25 (1978), S. 1 ff. (29 f.); vgl. auch ders., Entstehung des Politischen bei den Griechen, F r a n k f u r t / M . 1980, S. 208 ff. 37 Z u m Ausgleich für den Unterlegenen Meier, Entstehung (Anm. 36), S. 205, 218 u n d seiner F u n k t i o n für den Wechsel der Mehrheiten ebd. S. 240 f.; schon Aristoteles charakterisiert die Demokratie dadurch, daß ein Teil „abwechselnd regiert u n d regiert w i r d " . Aristoteles, P o l i t i k 1317 b. Auch der freien Meinungsbildung w a r Raum gelassen, s. Tarkiainen (Anm. 22), S. 297 ff. 38 Busolt I I (Anm. 16), S. 1330 ff. Grundsätzlich bestand gleiches S t i m m recht (ebd. S. 1332 für den lakedaimonischen Seebund, S. 1341 für den attisch-delischen Seebund). Die Hegemonialmächte Sparta u n d A t h e n setzten sich allerdings realiter durch (ebd.). 39 Ebd. S. 1330 A n m . 3. 40 Scheuner (Anm. 1), S. 18; zur Rechtfertigung der Herrschaft der Meisten s. Tarkiainen (Anm. 22), S. 280 ff.; s. auch Herodot, Historien I I I , c. 80 u. V, c. 37 zur Herrschaft der Mehrheit. 41 So berichtet Herodot, Historien V I , c. 109 f., daß die Entscheidung darüber, ob die Perser bei Marathon angegriffen werden sollten, v o n der M e h r heit der Heerführer, sogar n u r aufgrund der bei Stimmengleichheit ausschlaggebenden Stimme des Proarchen gefällt wurde. Es handelt sich u m die erste konkret verbürgte Mehrheitsentscheidung. 42 s. Platon, Politela, 488, 492 b, 564, 565; vgl. auch Heraklit, Fragment Β 121 (Diels, Die Fragmente der Vorsokratiker, Bd. I, S. 178) u n d Plutarch, Solon c. 5 „Die Weisen reden u n d die Toren entscheiden".

46

I I . Die Geschichte des Mehrheitsprinzips

artige Abneigung gegen die Demokratie zu teilen 4 3 , erkennt Aristoteles den inneren Zusammenhang zwischen Freiheit und Gleichheit 4 4 m i t dem Mehrheitsprinzip. „Wenn nämlich die Freiheit sich vor allem i n der Demokratie findet, wie einige meinen, und ebenso die Gleichheit, so w i r d diese am meisten darin bestehen, daß alle so gleichmäßig als möglich an der Regierung teilhaben. Da aber das Volk die Mehrheit ist, und das gilt, was die Mehrheit beschließt, so w i r d dies eine Demokratie sein 45 ." Den Vorzug der Mehrheitsentscheidung erblickte er darin, daß die Mehrheit einzelnen Weisen überlegen ist i n der Erkenntnis des Richtigen 46 . Eine wesentliche Rolle spielte das Mehrheitsprinzip außerhalb des griechischen Raumes i n Rom. Es fand vor allem Anwendung i n den Heeres- und Volksversammlungen, während die Kurien frühzeitig ihre entscheidende Funktion verloren 4 7 . Den 193 Centuriatskomitien oblag die Wahl der Konsuln und anderer hoher Amtsträger sowie einige wenige gesetzgeberische Aufgaben, die geringeren Amtsträger wurden durch die Tributkomitien der 35 Stämme (Tribus) 4 8 bestellt, denen auch Gesetzgebungsaufgaben zustanden. Auch hier läßt sich die Entwicklung von der ursprünglichen Akklamation 4 9 zur wirklichen Entscheidungsgewalt 5 0 gut beobachten. 43 Aristoteles sprach sich vielmehr nicht für Restriktionen bei der W a h l berechtigung, sondern bei der Wählbarkeit aus, s. P o l i t i k 1318 b. 44 Z u r Bedeutung dieser Grundideen u n d ihrer Verknüpfung m i t der athenischen Demokratie s. Tarkiainen (Anm. 22), S. 284 ff. 45 P o l i t i k 1291 b, allerdings gibt es nach Aristoteles auch andere Formen der Demokratie (ebd.). Aristoteles ordnet der Demokratie aber eher die Gleichheit als die Freiheit zu, s. P o l i t i k 1298 a „Daß alle über alles beraten ist demokratisch, denn eine solche Gleichheit erstrebt Demokratie"; vgl. auch ebd. 1310 a, 1317 a - b; s. dazu Tarkiainen (Anm. 22), S. 291 ff. 46 P o l i t i k 1281 a - 1282 a: dazu s. Tarkiainen (Anm. 22), S. 282 ff. Dieser Gedanke w i r d uns immer wieder begegnen, s. unten I I I . 47 Z u den Aufgaben, der Bedeutung u n d Zusammensetzung der Kurien, Zenturien u n d Tribus, Staveley (Anm. 17), S. 121 ff.; Mommsen (Anm. 5), Bd. I I I . 1., S. 89 ff., 240 ff., 300 ff.; Taylor, L i l y Ross, Roman V o t i n g Assemblies, A n n A r b o r 1966, S. 3 ff., 85 ff., 59 ff.; dort sind i m A n h a n g abgedruckt die wichtige tabula Hebana u n d die lex malacitana (S. 159 ff.). 48 Z u den einzelnen Tribus Mommsen (Anm. 5), Bd. I I I . 1., S. 161 ff. u n d insbesondere Taylor, L i l y Ross, The V o t i n g Districts of the Roman Republic (Papers and Monographs of the American Academy i n Rome, Bd. X X ) , Rom 1960. Die Z a h l der 35 Tribus stand seit 241 v. Chr. fest, u n d diese w u r d e n dann durch Teilung u n d Ausdehnung auf ganz Italien ausgeweitet. Mommsen ebd. S. 173; Taylor ebd. S. 7, 68, 79 ff. I n der späten Republik w a r die V e r bindung zu den Stämmen praktisch aufgegeben, die Tribus dienten n u r noch als reine Wahlorganisationen, ebd. S. 14. Z u r Zahl der Zenturien kurz Meier, Christian, Res publica amissa, Wiesbaden 1966 (Neuausgabe F r a n k f u r t 1980) S. 39 m i t A n m . 86. 49 Staveley (Anm. 17), S. 157. 50 Wenn auch zahlreichen Manipulationen u n d Einflußnahmen Raum geboten war, Staveley (Anm. 17), S. 191 ff.; vgl. ebd. S. 101 ff. zu der entspre-

I I . Die Geschichte des Mehrheitsprinzips I n d e r Z e i t w i r k l i c h e r E n t s c h e i d u n g s g e w a l t w a r das A b s t i m m u n g s verfahren tiert

52

streng formalisiert 51. Zuerst w u r d e

der K a n d i d a t

präsen-

oder die z u r E n t s c h e i d u n g stehende F r a g e f o r m a l gestellt b z w .

d e r vorgeschlagene Gesetzestext v e r l e s e n 5 3 . A n s c h l i e ß e n d w u r d e n

in

d e n Z e n t u r i e n u n d T r i b u s die S t i m m e n a b g e g e b e n 5 4 , w o b e i i n n e r h a l b d e r W a h l k ö r p e r die einfache M e h r h e i t a u s r e i c h t e 5 5 . A n s c h l i e ß e n d w u r d e e r m i t t e l t , w e m o d e r w e l c h e r F r a g e die M e h r h e i t d e r W a h l k ö r p e r , d e r Z e n t u r i e n oder T r i b u s , z u f i e l 5 6 . H i e r entschied d i e absolute M e h r h e i t 5 7 , m i t d e r e n E r r e i c h e n d i e A u s z ä h l u n g sofort beendet w u r d e 5 8 . N a c h E i n f ü h r u n g d e r e x a k t e n Z ä h l u n g g a b e n anfangs a l l e A n w e s e n d e n 5 9 e i n e m F r a g e r (rogator), a n d e m sie v o r ü b e r z o g e n , die A n t w o r t zeichnete sie a u f 6 0 . I m 2. J a h r h u n d e r t v . C h r . w u r d e

das

und

dieser

Verfahren

d a h i n g e ä n d e r t , daß d i e W ä h l e r ü b e r h ö l z e r n e R a m p e n (pontes) 6 1 a n d e r W a h l u r n e v o r b e i g e f ü h r t w u r d e n u n d d o r t h ö l z e r n e , m i t Wachs bedeckte T a f e l n e i n l e g t e n 6 2 . N a c h d e r A u s z ä h l u n g w u r d e das E r g e b n i s v e r k ü n chenden athenischen Praxis; skeptisch hinsichtlich der Wahlen dagegen Meier, Res publica (Anm. 48), S. 120 ff., 310 ff. vgl. ebd. S. 7 ff. auch zu dem Netz v o n Bindungen, das die Wahlentscheidungen prägte. 61 Z u den Vorbereitungen der Wahlen u n d Abstimmungen, bei denen dem V o l k k e i n Initiativrecht zustand, Staveley (Anm. 17), S. 143 ff. 52 Staveley (Anm. 17), S. 145 ff.; wobei trotz der reinen Personalwahl zwei sich gegenüberstehende Lager oder Parteiungen einen programmatischen A n h a l t s p u n k t boten, s. Staveley (Anm. 17), S. 191. Z u m Faktionenwesen allgemein Meier, Res publica (Anm. 48), S. 163 ff. 53 Staveley (Anm. 17), S. 152 f.; Mommsen (Anm. 5), Bd. I I I , 1., S. 390 f. 54 Z u r Prozedur der Gruppenwahl Staveley (Anm. 17), S. 133 ff.; Mommsen (Anm. 5), Bd. I I I , 1., S. 397 f.; Taylor (Anm. 47), S. 34, 70. 55 Mommsen (Anm. 5), Bd. I I I , 1., S. 408. 56 Die Gruppenwahl diente auch der Aufrechterhaltung des vorherrschenden Einflusses der Oberschichten, w e n n dies auch nicht der Entstehungsgrund für das Abstimmungsverfahren i n Wahlkörpern w a r ; so reichten aufgrund der unterschiedlichen Zusammensetzung der Körper jedenfalls theoretisch 25 °/o der Einzelstimmen aus, Staveley (Anm. 17), S. 135. 57 Mommsen (Anm. 5), Bd. I I I , 1., S. 412. 58 Staveley (Anm. 17), S. 179; Taylor (Anm. 47), S. 81. 59 Anwesenheit w a r eine selbstverständliche Voraussetzung (Mommsen (Anm. 5), Bd. I I I , 1., S. 388), eine A r t B r i e f w a h l ist erst nach dem Absterben der eigentlichen Entscheidungsfunktion der K o m i t i e n durch Augustus eingeführt worden, aber gründlich mißlungen, Mommsen ebd.; Staveley (Anm. 17), S. 217 f. 60 Staveley (Anm. 17), S. 158; Mommsen (Anm. 5), Bd. I I I , 1., S. 403; Taylor (Anm. 47), S. 34; vgl. die Verfahrensweise i n den Schweizer Landgemeinden noch zu Anfang dieses Jahrhunderts. Die Abstimmenden traten aus einem Ring heraus an 2 Posten vorbei, denen die A n t w o r t gegeben wurde, Ryffel, Heinrich, Die Schweizerischen Landgemeinden nach geltendem Recht, Diss. Zürich 1903, S. 122 f. β1 Dazu ausführlich Taylor (Anm. 47), S. 39 ff. 62 Staveley (Anm. 17), S. 158 ff.; Mommsen (Anm. 5), Bd. I I I , 1., S. 404 f.; Taylor (Anm. 47), S. 34 ff., 79 ff.

48

I I . Die Geschichte des Mehrheitsprinzips

det 6 3 . Es gab kein bestimmtes Quorum 6 4 i m Unterschied zum Senat 65 . I m Senat wurde abgestimmt, indem die Senatoren die Plätze wechselten oder sich zu Gruppen zusammenschlossen. Die Mehrheit wurde hier i n der Regel nicht durch eine genaue Zählung ermittelt, sondern überblicksartig geschätzt 66 . M i t dem Prinzipat erstarben allmählich die Entscheidungsbefugnisse erst der Komitien 6 7 , dann i n der späten Kaiserzeit auch die des Senats 68 , die damit auf bloße Akklamation beschränkt waren. Die Munizipialwahlen blieben noch bis ins 2. Jahrhundert n. Chr. lebendig 6 9 . Reichte der Majoritätsgrundsatz i n der Antike vielfach i n aristokratische Körperschaften hinein, so wiesen vor allem seine volksherrschaftlichen Aspekte i n die Zukunft und entfalteten i n der Neuzeit ihre W i r kung 7 0 . Die Gleichsetzung des Willens der Mehrheit m i t dem der Gesamtheit fand ihren Niederschlag i n der römischen Rechtslehre, aus der zwei Stellen maßgebend die mittelalterliche Rechtsentwicklung bestimmten: Scaevolas Äußerung „Quod maior pars curiae effecit, pro eo habetur, ac si omnes egerint" 7 1 sowie Ulpians Satz „Refertur ad universos, quod publice fit per maiorem partem" 7 2 . I m Corpus Juris Civilis gibt es noch weitere Bezugnahmen 73 . Den Gedanken der Mehrheitsentscheidung 74 bewahrte über die Jahrhunderte des Zusammenbruchs des römischen Reiches und der germa63

Z u m Verfahren nach der Stimmabgabe s. Staveley (Anm. 17), S. 175 ff., zur Zählmethode insbes. S. 175 f., zur Verkündung S. 177 ff.; vgl. auch Taylor (Anm. 47), S. 54 ff. 84 Mommsen (Anm. 5), Bd. I I I , 1., S. 408. 65 Ebd. Bd. I I I , 2., S. 989 eine Regel, die aber nicht ernsthaft befolgt wurde. ββ Ebd. S. 991 ff.; Staveley (Anm. 17), S. 227 f. 67 U n t e r Augustus (5 η . Chr.) wurde die tatsächliche Entscheidung durch das I n s t i t u t der vorherigen „destinatio" i n besondere Auswahlgremien, d . h . bald den Senat, verlagert, während die „creatio" formal bei den K o m i t i e n bis ins 3. Jh. verblieb, Staveley (Anm. 17), S. 217 f. 68 Jones, Α . Η . M., The Later Roman Empire 284 - 602, Oxford 1973, Bd. I , S. 329 ff. 69 Wie u. a. aus vielen Inschriften i n Pompeji bekannt ist, Staveley (Anm. 17), S. 223 ff. I n A f r i k a bleiben Restbestände der Selbstverwaltung noch darüber hinaus bewahrt, Jones (Anm. 68), Bd. I I , S. 722 ff. 70 Scheuner (Anm. 1), S. 21. 71 Dig. L, 1, 19. 72 Dig. L, 17, 160. 73 Hinsichtlich v o n Gerichten u n d Schiedsgerichten s. Dig. I V , 8, 18 u n d Dig. I V , 8, 27 3 ; i m Codex Iustinians vgl. auch C. X , 34 (33), 2; C. X , 34 (33) 3 sowie C. X , 65 (63), 5. 74 I n Rechtskollegien kannte auch der Babylonische T a l m u d Mehrheiten, s. Der Babylonische Talmud, hrsg. v. Mayer, Reinhold, München 1963, 4. Aufl., S. 290, 310 A n m . 367; vgl. auch die Formel für die Abänderung v o n Urteilen, die entfernt an die sanior et maior pars erinnert, wonach das än-

I I . Die Geschichte des Mehrheitsprinzips nischen S t a a t e n b i l d u n g e n die christliche K i r c h e , a l l e r d i n g s i m m e r w i e d e r i m K a m p f m i t h i e r a r c h i s c h e n Tendenzen. D i e f r ü h e k i r c h l i c h e Ü b u n g w i e s d e r M e h r h e i t die E n t s c h e i d u n g b e i den Konzilbeschlüssen75

sowie bei Bischofswahlen 76

zu. I n

der

schichte d e r P a p s t w a h l e n ist das B i l d d e r M e h r h e i t s e n t s c h e i d u n g

Gezu-

nächst s c h w a n k e n d . B i s i n s h o h e M i t t e l a l t e r g i n g m a n v o n d e m G r u n d satz d e r E i n m ü t i g k e i t a u s 7 7 . Schon 251 w u r d e aber C o r n e i l l u s m e h r h e i t l i c h z u m Bischof v o n R o m g e w ä h l t 7 8 , u n d S y m m a c h u s n i m m t das M e h r h e i t s p r i n z i p 499 i n e i n D e k r e t a u f 7 9 , d e m d i e A n w e n d u n g j e d o c h v e r s a g t blieb80. Zusehends setzte sich das M e h r h e i t s p r i n z i p f ü r d i e P a p s t w a h l erst nach d e r B e s c h r ä n k u n g d e r W a h l m ä n n e r a u f die K a r d i n ä l e i n der F o r m der V a - M e h r h e i t d u r c h 8 1 . B i s ins 13. J h . g a l t f ü r A b t s - u n d Bischofsdernde K o l l e g i u m „größer an Weisheit u n d Z a h l sein muß", S. 307, 309 f. I m byzantinischen Bereich blieb zwar der Gedanke der Bindung der kaiserlichen Herrschaft an den consensus o m n i u m erhalten, aber ohne i n konkreten Zustimmungsakten Ausdruck zu finden; s. Beck, Hans-Georg, Das byzantinische Jahrtausend, München 1978, S. 38 ff., 52 ff. 75 s. Plöchl, W i l l i b a l d M., Geschichte des Kirchenrechts, W i e n u. a., 2. Aufl., Bd. I 1960, S. 146 f. I n der A b s t i m m u n g entschied die Mehrheit der anwesenden Konzilsväter. Die Beschlüsse bedurften jedoch der Bestätigung des Papstes, der sie nicht selten versagte; vgl. auch den Beschluß des Nicänischen Konzils (325 n. Chr.), wonach, w e n n n u r wenige widerstreiten, „obtineat p l u r i m o r u m sententia sacerdotum", der i n das Decretum Gratiani aufgenommen ist (c 1 D 65); vgl. auch Moulin , Leo, „Sanior et maior pars . . . dans les ordres religieuses d u V I e au XIII© siècle", Revue Historique de D r o i t Français et Etranger, 1958, S. 368 ff., 491 ff. (375). 76 Bischöfe w u r d e n v o n der Mehrheit der Provinzialbischöfe (so das Nican u m c 4 D 65) gewählt, w e n n Einstimmigkeit nicht erreichbar war. Das Schloß eine Laienteilnahme allerdings nicht aus, Plöchl (Anm. 75), Bd. I, S. 186 f. 77 Diesen Grundsatz b r i n g t w o h l erstmals Honorius i n einem Gesetz zum Ausdruck, Plöchl (Anm. 75), Bd. I, S. 135;vgl. allgemein auch Schmid , Paul, Der Begriff der kanonischen W a h l i n den Anfängen des Investiturstreits, Stuttgart 1926, S. 42 ff. Den Grundsatz der W a h l hatte Leo d. Gr. für n o t wendig gehalten: „ Q u i praefuturus est omnibus, ab omnibus eligatur", Ep. 10, c. 6 i n Migne, J. P., Patrologia Latina, Bd. 54, Paris 1846, Sp. 634; vgl. auch Benson, Robert L., The Bishop Elect. A Study i n Medieval Ecclesiastical Office, Princeton 1968, S. 23 ff. 78 Moulin (Anm. 75), S. 375. 79 „vincat sententia p l u r i m o r u m " ; abgedruckt i n Mirbt, K a r l / Aland, K u r t , Quellen zur Geschichte des Papsttums u n d des römischen Katholizismus, 6. Aufl., Tübingen 1967, Bd. I , Nr. 467, S. 228 f. 80 Moulin (Anm. 75), S. 376; allerdings ist die W a h l Vigils i m Jahre 538 n. Chr. wiederum nach dem Mehrheitsprinzip erfolgt. 81 Die Dekretale i n nomine (c 1 D 23) beschränkte das K o l l e g i u m (1059 n. Chr.) zuerst auf die 7 Kardinalbischöfe. Die endgültige Niederlegung des Grundsatzes, daß alle Kardinäle m i t 2 / s - M e h r h e i t den Papst wählen, erfolgte dann m i t der Dekretale Licet de evitanda 1179 η . Chr. (c 6 X , 16). Die älteren Formen der W a h l durch den höheren Klerus u n d die Laienaristokratie Roms m i t nachträglicher A k k l a m a t i o n des niederen Klerus u n d des römischen Volkes hatten sich nicht bewährt, s. Plöchl (Anm. 75), Bd. I , S. 138; vgl. c26 4 Heun

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I I . Die Geschichte des Mehrheitsprinzips

w ä h l e n aber n i c h t das r e i n e M e h r h e i t s p r i n z i p . Z u r ü c k g e h e n d a u f die Regel B e n e d i k t s v o n N u r s i a 8 2 , i n d e r d e r B e g r i f f d e r s a n i o r pars erstm a l s erscheint, f a n d diese F o r m e l E i n g a n g i n d i e K u r i e 8 3 , i n die K l o s t e r p r i v i l e g i e n d e r P ä p s t e 8 4 u n d schließlich als m a i o r et sanior pars i n d e n D e k r e t a l e n G r e g o r I X . e n d g ü l t i g e A u f n a h m e 8 5 . D i e rechtliche T r e n n u n g v o n W a h l u n d E i n s e t z u n g des A b t e s e r l a u b t e d e m s u p e r i o r i n V e r b i n d u n g m i t d e r L e h r e v o n d e r pars s a n i o r auch d e n v o n d e r M i n d e r h e i t b e v o r z u g t e n K a n d i d a t e n einzusetzen, w e n n er i h m geeigneter u n d w ü r d i g e r e r s c h i e n 8 6 . D e r k i r c h l i c h e Obere g e w a n n d u r c h die M ö g l i c h k e i t , D63; c 5 6 X , 16, wonach der niedere Klerus u n d die Laien ausgeschlossen sind; zur A k k l a m a t i o n des Volkes s. Schmid (Anm. 77), S. 56, 129; vgl. auch S. 61; zur Zurückdrängung der Laien s. auch Sägmüller, Johann Baptist, Die Bischofswahl bei Gratian, K ö l n 1908, S. 4 ff., bes. S. 8 ff., sowie Benson (Anm. 77), S. 28 ff.; „electio clericorum est, consensus plebis" k a m dabei die Bedeutung „ v o x populi, v o x dei" zu, s. Moulin , Leo, Les origines religieuses des techniques électorales et déliberatives modernes, Revue Internationale d'Histoire politique et constitutionnelle, Nouvelle Série, Bd. 3, Paris 1953, S. 106 ff. (119). Dieser Gedanke wiederum taucht versteckt noch bei Dante, De Monarchia I I I , c 16, Z. 78 ff. i n Opera omnia, Bd. I I I , Leipzig 1921, S. 307 ff. (380) auf. 82 c64, die als Palea (späterer Zusatz) i n das gratianische Dekret eingeht (c 14 D 61): „quem sive omnis concors congregatio . . . sive etiam pars quamvis parva congregationis saniore Consilio elegerit"; dazu Elsener (Anm. 1), S. 105; Gierke , Otto von, Das deutsche Genossenschaftsrecht, Berlin, Bd. I I I , 1881 (Nachdruck Darmstadt 1954), S. 325 A n m . 247; derselbe Gedanke ist w o h l schon i n einem Brief Leo I. (440 - 461) zu finden (c 36 D 63) s. Elsener (Anm. 1), S. 105; kritisch dazu Schmid (Anm. 77), S. 55 A n m . 180; zur sanior pars s. auch Moulin (Anm. 75), S. 368 ff.; Elsener (Anm. 1), S. 104 ff.; Ullmann, Walter, Principles of Government and Politics i n the M i d d l e Ages, London 1961, S. 296 A n m . 1; Wilks, Michael, The Problem of Sovereignty i n the Later Middle Ages, Cambridge 1963, S. 59, 116, 196; Ganzer, Klaus, Das Mehrheitsprinzip bei den kirchlichen Wahlen des Mittelalters, Theologische Quartalsschrift, München 147 (1967), S. 60 ff. (67 ff.); zu antiken Vorläufern vgl. Schmid (Anm. 77), S. 54 A n m . 175; zwei Beispiele für das Prinzip der sanioritas v o r Benedikt bei Ganzer, S. 69. 83 Schmid (Anm. 77), S. 55 A n m . 178; die sanior pars erscheint i m übrigen auch i m Wormser Konkordat, s. Zeumer, K a r l , Quellensammlung zur Geschichte der Deutschen Reichsverfassung, 2. A u f l . 1913, Bd. I, Nr. 5, S. 4. 84 Schmid (Anm. 77), S. 54 A n m . 177. 85 v o r allem i m T i t e l 6 „de electione et electi potestate", dort c22, 35, 42, 55, 57 sowie c 6 X , I I I , 10; c 1 X , I I I , 11; v o n Ausnahmen abgesehen, treten sanior u n d maior pars v o r dem 12. Jh. nicht zusammen auf, Moulin (Anm. 75), S. 392; zu einer späten Nachwirkung dieser Formel i m deutschen Reichstag s. Isenmann, Eberhard, Reichsstadt u n d Reich an der Wende v o m späten M i t t e l a l t e r zur frühen Neuzeit, i n M i t t e l u n d Wege früher Verfassungsp o l i t i k , Hrsg. Josef Engel (Spätmittelalter u n d Frühe Neuzeit — Tübinger Beiträge zur Geschichtsforschung, Bd. 9), Stuttgart 1979, S. 9 ff. (S. 155, 181) w o Kurfürsten u n d Fürsten gegenüber den Städten als maior et sanior pars gelten; auch bei den Ständen i n Barcelona w i r d die Formel bereits 1283 v e r wendet, s. Konopczynski (Anm. 1), S. 129; sie taucht als Rechtfertigung einer Minderheit noch einmal 1410 auf; ebd. S. 128. 86 Elsener (Anm. 1), S. 105 u. 108; Scheuner (Anm. 1), S. 22; vgl. c 17 X , 16; c 53 Χ , I 6; c 22 Χ , I 6; c 36 Χ , I 6.

I I . Die Geschichte des Mehrheitsprinzips

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die S t i m m e n z u g e w i c h t e n , eine gewisse B e w e g l i c h k e i t 8 7 . E r s t E n d e des 13. J h . w u r d e diese m a n c h m a l z u U n s i c h e r h e i t e n

gegen

führende

Rechtslage 8 8 d u r c h d e n abschließenden Sieg des M e h r h e i t s g r u n d s a t z e s g e k l ä r t 8 9 . M i t Bonifaz V I I I . w a r der Widerstreit zwischen pars sanior u n d pars m a i o r z u g u n s t e n d e r l e t z t e r e n e n t s c h i e d e n 9 0 , n a c h d e m b e r e i t s S i n i b a l d v o n Fiesco, d e r spätere Innozenz I V . , i n s e i n e m D e k r e t a l e n k o m m e n t a r die klassische R e c h t f e r t i g u n g des M e h r h e i t s p r i n z i p s i n d e m Satz „ s t a t u r i u d i c i o m a i o r i s p a r t i s , q u o n i a m p e r p l u r e s m e l i u s Veritas i n q u i r i t u r " 9 1 a u s d r u c k s v o l l zusammengefaßt h a t t e . G r u n d l e g e n d f ü r d i e K a n o n i s t i k u n d d i e w e l t l i c h e E n t w i c k l u n g ist der Zusammenhang m i t der Korporationstheorie 92, die d e m Mehrheitswillen

kraft

fiktiver

Gleichsetzung

mit

der

Gesamtheit

Geltung

verschafft 93. D i e kanonistische A u f f a s s u n g t r a f i m w e l t l i c h e n B e r e i c h a u f d e n d e r germanischen W e l t der Völkerwanderungszeit entstammenden G r u n d 87 Scheuner (Anm. 1), S. 22. Folgerichtig versuchte Innozenz I I I nach der Doppelwahl i n Deutschland v. 1198 (Philipp v. Schwaben u. Otto IV.) den gleichen Grundsatz i n der Dekretale Venerabilem (c 34 Χ , I 6) auf die Kaiserw a h l anzuwenden, da er den Gewählten zu prüfen u n d zu krönen habe; s. auch Stehkämper, Hugo, A d o l f v o n A l t e n a u n d die deutsche Königswahl (1195 - 1205), HZ, Beiheft 2 N F (1973), S. 5 ff. (S. 66 f.); Boshof, Egon, Erstkurrecht u n d Erzämtertheorie i m Sachsenspiegel, H Z , Beiheft 2 N F (1973), S. 84 ff. (109 f.); dort auch zur Bedeutung dieser W a h l f ü r die Ausbildung des Kurfürstenkollegiums, S. 107 ff. 88 s. Elsener (Anm. 1), S. 109; Avondo, Edoardo Ruffini, I l principio maggioritario nella storia del D i r i t t o Canonico, Archivio Giuridico (Filippo Serafini), Quarta Serie, vol. X = Nr. 93, Modena 1925, S. 15 ff. (S. 58 ff.), v o r allem bei den Papstwahlen führte die Regel zu Schismen, da es keinen Oberen gab, der entscheiden konnte, auf welcher Seite n u n die sanioritas lag, s. Benson (Anm. 77), S. 150 ff.; Ganzer (Anm. 82), S. 78, der erste nicht einstimmig gewählte Papst w a r Innozenz I I . 1130 n.Chr.; Moulin (Anm. 81), S. 122; bis dahin w a r e n die Papstwahlen v o n einem m y t h e de l'unanimité geprägt, Moulin (Anm. 81), S. 121 ff.; vgl. auch Ganzer (Anm. 82), S. 63 ff. 89 Moulin (Anm. 75), S. 507 ff.; vgl. auch Gierke (Anm. 82), Bd. I I I , S. 326 f. 90 Moulin (Anm. 75), S. 514 Dekretale Bonifaz V I I I : c 9 V I ° , 16; vgl. bereits c 50 X , 16 u. c 55 X , 16; die rechtlich endgültige Festlegung des Mehrheitsprinzips erfolgt allerdings erst auf dem Konzil v. Trient, Moulin (Anm. 81), S. 129; erst dann w i r d auch bestimmt, daß die Wahlen geheim abgehalten werden müssen, Moulin (Anm. 81), S. 136. 91 Sinibaldus Fliscus, Commentarla Apparatus i n V Libros Decretalium, F r a n k f u r t 1570 (Nachdruck F r a n k f u r t 1968), Kommentar P u n k t 14 zu c 4 2 X t I 6; ob dieser Gedanke v o n Aristoteles (s. o. A n m . 46) übernommen wurde, ist str.: s. Elsener (Anm. 1), S. 77 A n m . 13; vgl. zu Innozenz I V . Konopczynski (Anm. 1), S. 47, 133; Plöchl, (Anm. 75), Bd. I I , 2. A u f l . 1962, S. 519. 92 Scheuner (Anm. 1), S. 22, Gierke (Anm. 1), S. 573; Gierke (Anm. 82), Bd. I I I , S. 322; nach Scheuner ebd. legt dieser Zusammenhang offen, daß die Anerkennung des Mehrheitsprinzips einen geformten sozialen Körper v o r aussetzt; vgl. auch Wilks (Anm. 82), S. 197 f. 93 Für die Glossatoren s. Gierke (Anm. 82), Bd. I I I , S. 220, für die Legisten ebd. S. 392; vgl. auch S. 323.

4*

I I . Die Geschichte des Mehrheitsprinzips

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satz d e r E i n h e l l i g k e i t 9 4 . I m g e r m a n i s c h e n Recht h e r r s c h t e d i e V o r s t e l l u n g eines e i n h e l l i g e n Gesamtaktes v o r , i n d e m d i e v e r s a m m e l t e M e n g e m i t gesamter H a n d u n d m i t g e m e i n e m M u n d i h r e M e i n u n g k u n d t a t 9 5 . Dies k o n n t e d u r c h Z u s a m m e n s c h l a g e n d e r W a f f e n 9 6 oder E m p o r h e b e n d e r H ä n d e 9 7 geschehen. F a k t i s c h w a r es d a n n doch n u r die M e h r h e i t , die a k k l a m i e r t e , rechtliche K o n s e q u e n z des G e d a n k e n s e i n m ü t i g e r Z u s t i m m u n g w a r es aber, daß k e i n e r r e c h t l i c h v e r p f l i c h t e t w a r , sich d e m B e schluß z u u n t e r w e r f e n , w e n n er d i s s e n t i e r t e 9 8 . Ä h n l i c h w u r d e später b e i d e n deutschen K ö n i g s w a h l e n

verfahren,

„ i n d e n e n sich b a l d gegenüber d e m a u f eine A k k l a m a t i o n b e s c h r ä n k t e n V o l k d e r K r e i s d e r z u r B e s t i m m u n g des G e w ä h l t e n z u s a m m e n t r e t e n den

Fürsten

Wahrheit Minderheit 94

absonderte"99.

Die

erforderliche

a l l e r d i n g s eine v e r d e c k t e 1 0 0 einer Folgepflicht

Einmütigkeit

Mehrheitsentscheidung,

u n t e r l a g 1 0 1 , die aber k e i n e

war

in

da

die

zwingende

W i e w o h l auch die Kirche dem Ideal der concordia nachtrachtete, vgl. besonders c 14 D 61, w e n n Moulin (Anm. 81), S. 121 ff., v o n einem m y t h e de l'unanimité spricht, erscheint der Unterschied jedenfalls i n der Ausgangslage nicht sehr ausgeprägt. Die wesentliche Differenz liegt denn auch, abgesehen v o n der zeitlichen Verschiebung, i n dem stark akklamatorischen Charakter der germanischen Entwicklung. I n manchen Gebieten h i e l t sich der Grundsatz der E i n m ü t i g k e i t extrem lang. I n Frankreich bestand noch Colbert t e i l weise auf Einstimmigkeit, s. Viollet, Paul, Histoire des institutions politiques et administratives de la France, 3 Bde., Paris 1889 - 1903, Bd. I I I , S. 26 A n m . 2. I n Montenegro u n d i m Kaukasus sowie Abessinien finden sich Formen der Einhelligkeit noch i m 19. Jh. ebd. Bd. I, S. 286 f. m w N . 95 Gierke (Anm. 1), S. 567. 96 Tacitus , Germania c 11; Gregor von Tours, Historia Francorum I I , 40 ( M G H Script. Rer. Merov I , S. 104, Z. 3 ff.). Dagegen scheinen den Galliern mehrheitliche Wahlen nicht unbekannt gewesen zu sein, Caesar, De Bello gallico V I I , c 63 über die Erhebung des Vercingetorix' zum Fürsten. 97 Widukind, Res Gestae Saxonicae I, 26 u n d I I , 1 ( M G H SS i n Folio I I I , S. 429 u. 437) zu sächsischen Königswahlen. Diese Methode hat sich bis i n die Moderne i n der Schweiz gehalten, Elsener (Anm. 1), S. 81: „ H ä n d uf, liebi Landslüt" hieß es bei der Abstimmung; zu diesem „offenen M e h r " oder „Handmehr" s. auch Ryffel (Anm. 60), S. 122. 98 Gierke (Anm. 1), S. 568. 99 Scheuner (Anm. 1), S. 23; s. Mitteis, Heinrich, Die deutsche Königswahl, Ihre Rechtsgrundlagen bis zur Goldenen Bulle, Darmstadt 1965; Conrad, Hermann, Deutsche Rechtsgeschichte, Karlsruhe Bd. I, 1. A u f l . 1954, S. 308 ff. 100 So Mitteis (Anm. 99), S. 169, 209 f. 101 Mitteis (Anm. 99), S. 75 ff. Bezeichnend für die Vorstellung v o n E i n helligkeit u n d Folgeleistung ist die erste wirkliche Königswahl, die Konrads I I . (1024). — Die beiden Bewerber, Onkel u n d Neffe, kamen überein, derjenige, dem die „maior pars populi laudaret", solle gewählt sein, der andere seine Bewerbung zurückziehen. Die W a h l ist beschrieben i n Wipo, V i t a Chuonradi imperatorie ( M G H SS i n Folio X I , S. 258, Z. 19 ff.); zur W a h l s. auch Hoyer, Ernst, Die Selbstwahl vor, i n u n d nach der Goldenen Bulle, Z R G Germ. A b t . 42 (1921), S. 1 ff. (S. 5 ff.); Mitteis (Anm. 99), S. 47; Conrad (Anm. 99), Bd. I , S. 308 f. Die Folgepflicht ist auch i m Schwabenspiegel niedergelegt, s. Elsener (Anm. 1), S. 88 f.; Stutz, Ulrich, Der Erzbischof v o n Mainz u n d die deutsche Königswahl, Weimar 1910, S. 86.

I I . Die Geschichte des Mehrheitsprinzips

Verpflichtung enthielt. Eine unterlegene Gruppe konnte den Abschluß mit der Folge verweigern, daß es i m Ernstfall zu einem offenen Kampf kommen konnte, dessen Ausgang als Gottesurteil galt 1 0 2 . Erst nach Ausbildung des Kurfürstenkollegiums Mitte des 13. Jahrhunderts 1 0 3 setzte sich i n diesem geschlossenen Körper die offene Mehrheitsentscheidung durch 1 0 4 . Ihren Abschluß fand die Entwicklung endgültig m i t der Goldenen Bulle von 1356 105 . 102

Mitteis (Anm. 99), S. 85ff.; vgl. auch die Dekretale Venerabilem (s.o. A n m . 87). 103 1257 waren die K u r f ü r s t e n erstmals die alleinigen Wähler; 1273 w a r das K o l l e g i u m bereits ein geschlossener Wahlkörper, Conrad (Anm. 99), Bd. I, S. 309; Neumann, Walter, Die deutschen Königswahlen u n d die päpstlichen Machtansprüche während des Interregnums, B e r l i n 1921 (Historische Studien, Heft 144), S. 18 ff.; zur Ausbildung des Kollegiums s. Boshof (Anm. 87), S. 84 ff. u n d die Forschung zusammenfassend Becker, Winfried, Der K u r fürstenrat — Grundzüge seiner E n t w i c k l u n g i n der Reichsverfassung u n d seine Stellung auf dem Westfälischen Friedenskongreß (Schriftenreihe der Vereinigung zur Erforschung der Neueren Geschichte, Bd. 5), Münster 1973, S. 23 ff., 68 ff.; solange die W a h l bei einem nicht fest bestimmten Kreis w e l t licher u n d geistlicher Fürsten lag, w a r der erste K u r r u f , der dem Mainzer Erzbischof zustand, v o n besonderem Gewicht, Stutz (Anm. 101), S. 66 ff.; Becker, S. 26, s. ζ. B. das Mainzer Erststimmrecht bei der besagten W a h l K o n r a d II., Wipo (Anm. 101) M G H SS X I , S. 259, Ζ 29; (vgl. auch die Rolle der Erstwähler i n Rom, Staveley (Anm. 17), S. 165 ff.). Später nach Schließung des Kreises der Wähler hatte die letzte Stimme die größte Bedeutung, die wiederum dem Mainzer zufiel, Stutz (Anm. 101), S. 116 ff.; Becker, S. 71; das Kurfürstenkollegium ü b t die W a h l als Repräsentant der Gesamtheit des Reiches aus. Z u r Repräsentationsfunktion der Kurfürsten s. Wilks (Anm. 82), S. 196 f.; Hofmann, Hasso, Repräsentation, Studien zur W o r t - u n d Begriffsgeschichte v o n der A n t i k e bis ins 19. Jh., B e r l i n 1974, S. 228 ff.; Becker, S. 70. I n zweiter Hinsicht repräsentiert die Mehrheit die Gesamtheit des K o l l e giums; Repräsentationsfunktion u n d Mehrheitsprinzip bedingen einander, s. Hof mann, S. 228, 221 f.; Becker, S. 70, zum Gedanken der Repräsentation des korporativen Ganzen durch die Mehrheit s. auch Post, Gaines, Studies i n Medieval Thought, Princeton 1964, S. 175, 198 f., 212 f. v o r allem A n m . 180; zur Geschichte des Mehrheitsprinzips bei den Kaiserwahlen vgl. auch Avondo, Edoardo Ruffini, I l principio maggioritario nelle elezioni dei re e Imperatori romano-germanici, A t t i della Reale Accademia delle Scienze d i Torino, vol. L X (1925), S. 392 ff., 441 ff., 459 ff., 557 ff. 104 E i n einhelliges V o t u m (communi voto) w i r d noch für W i l h e l m v o n H o l land angenommen (s. Innozenz I V . ad Rectorem S. Maria i n Cosmedin (1257), M G H Const I I , Nr. 352, S. 460). A u f eine Mehrheitsentscheidung, allerdings i n der F o r m der Stimmenwägung nach der maior et sanior pars Regel, berief sich Alfons v o n Kastilien 1257, Neumann (Anm. 103), S. 43 ff. insbes. 46 f. ( M G H Const I I , Nr. 405, § 12, S. 529). Bei der W a h l Rudolfs v o n Habsburg wurde die Mehrheitsentscheidung dann noch durch die sog. electio per u n u m zur Einhelligkeit h i n überhöht, dazu Mitteis (Anm. 99), S. 205 ff.; Rudolf beruft sich aber bereits auf die W a h l „aller oder der Mehrheit" (per eos v e l maiorem partem eorum, M G H Const I I I , Nr. 121, S. 115). Z u r gleichen Zeit w i r d die Notwendigkeit eines Mehrheitsbeschlusses für die Veräußerung v o n Reichsgut festgelegt, s. die Sententia contra Alienationes Bonorum I m p e r i i ν. 9. 8.1281, M G H Const I I I , Nr. 284, S. 290: „nullius habere debeant roboris firmitatem, nisi consensu maioris partis p r i n c i p u m i n electione Romani regis vocem habencium fuerint approbata". 105 Z w a r entscheidet sich schon die Constitutio Licet iuris v o n 1338 für die Mehrheitsregel, Stutz (Anm. 101), S. 116; der „electus i n imperatore concor-

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I I . Die Geschichte des Mehrheitsprinzips

I n andere w e l t l i c h e Rechtsbereiche d r a n g das M e h r h e i t s p r i n z i p später i n d e r Folge d e r R e z e p t i o n des k a n o n i s c h e n u n d

erst

römischen

Rechts e i n 1 0 6 . V o r a l l e m i m deutschsprachigen R a u m h i e l t sich d e r Ged a n k e d e r F o l g e p f l i c h t 1 0 7 , d i e i n d e r h i s t o r i s c h e n E n t w i c k l u n g als Ü b e r g a n g erscheint, i n d e m sie äußere E i n h e l l i g k e i t m i t — v e r d e c k t e r Mehrheitsentscheidung

verknüpft.

Außerhalb

des K i r c h e n r e c h t s

— und

n e b e n d e n deutschen K ö n i g s w a h l e n 1 0 8 l ä ß t sich a m A u s g a n g des M i t t e l alters i n d r e i p o l i t i s c h e n B e r e i c h e n die A n w e n d u n g des Grundsatzes f e s t s t e l l e n 1 0 9 . A n erster S t e l l e s i n d die B e s t e l l u n g entscheidender p o l i tischer G r e m i e n n i c h t - s t ä n d i s c h e r A r t u n d die i n i h n e n

erfolgenden

W a h l e n u n d Beschlüsse z u n e n n e n . H i e r k o m m e n einerseits d i e Schweiditer v e l a maiore parte electorum ex sola electione censeatur et habeatur ab omnibus pro vero et legitimo imperatore", Zeumer (Anm. 83), Nr. 142, S. 184; die constitutio richtet sich v o r allem gegen die päpstliche Einsetzungsbefugnis, die Folgepflicht t r i t t demgegenüber zurück; anders Scheuner (Anm. 1), S. 24 A n m . 78; vgl. aber auch Elsener (Anm. 1), S. 89; Wilks (Anm. 82), S. 239 ff. A b e r erst die Goldene Bulle f i x i e r t den endgültigen Rechtszustand. I m Wortlaut der Goldenen Bulle (c I I , 4) t r i t t dabei die A n l e h n u n g an die Korporationstheorie deutlich hervor (so Scheuner (Anm. 1), S. 23 A n m . 75): „Postquam autem i n eodem loco ipsi v e l pars eorum maior numero elegerit, talis electio perinde haberi et reputari debebit, ac si foret ab ipsis omnibus nemine discrepante concorditer celebrati, Zeumer (Anm. 83), Nr. 148, S. 197. Deutlich t r i t t dieser Zusammenhang auch hervor i n der Begründung des Mehrheitsprinzips bei Lupoid von Bebenburg, De iuribus regni et i m p e r i i Romanorum, c. V I (zitiert nach einem Druck i n Basel 1566, beigefügt zu Flaccius Matthias Illyricus, De Translatione I m p e r i i Romani ad Germanos). Credo enim quod ad eos (principes Electores) pertinet talis electio, tanquam ad collegium, seu ad universitatem, cuius ratio est. Si institutio p r i n c i p u m Electorum no esset facta, omnes principes et alij repraesentantes populum subiecta Romano regno et imperio, haberent eligere regem et Imperatorem (S. 80). I n o m n i universitate, i d quod fit a maiori p a r t e i l l o r u m de universitate valet, ac proinde habendum est, ac si factum esset per omnes de universitate . . . Quid cum homines ex nature sint faciles ad dissentiendum, dazu s. auch Hof mann (Anm. 103), S. 229 ff. L u p o i d hatte u. a. zuvor i n Bologna kanonisches Recht studiert, Elsener (Anm. 1), S. 570 i m Nachtrag zu A n m . 54; zu Lupoid s. auch Dempf, Alois, Sacrum Imperium, München u. a. 1929, S. 499 f.; Wolf, E r i k , Große Rechtsdenker der deutschen Geistesgeschichte, 4. A u f l . Tübingen 1963, S. 30 ff.; vgl. auch Konrad von Megenberg, De translatione i m p e r i i c X V , i n Scholz, Richard (Hrsg.), Unbekannte kirchenpolitische Streitschriften aus der Zeit Ludwigs des Bayern (1327 - 1354). Analysen u n d Texte, 2. T e i l Texte (Bibliothek d. K g l . Preuss. Hist. Instituts i n Rom, Bd. X), Rom 1914, S. 249 ff. (301 f.), dazu Hofmann, S. 235 f. 108

Z u m Einfluß des kanonischen Rechts Elsener (Anm. 1), S. 104 ff.; Post (Anm. 103), S. 163 ff.; zum Vordringen des Mehrheitsprinzips i n Schiedsabreden i n der Schweiz (erstmals 1255 verbürgt) Elsener (Anm. 1), S. 91 ff. 107 F ü r die Schweiz s. Elsener (Anm. 1), S. 82 ff.; noch auf dem 2. Reichstag zu Speyer hofft der deutsche K ö n i g auf diese Folgepflicht bei den protestantischen Fürsten, Deutsche Reichstagsakten jüngere Reihe, Bd. V I I . 1. bearbeitet v o n Johannes Kühn, 2. Aufl., Göttingen 1963, S. 813. 108 I n anderen Ländern wurde i m Spätmittelalter der K ö n i g idR nicht gewählt. Es treten aber Formen der A k k l a m a t i o n auf; s. für Frankreich Konopczynski (Anm. 1), S. 65 A n m . 2. 109 Scheuner (Anm. 1), S. 25 ff.

I I . Die Geschichte des Mehrheitsprinzips

zer Stadt- und Landsgemeinden 110 , andererseits ganz allgemein die städtischen Regime, vornehmlich die italienischen Stadtrepubliken 1 1 1 i n Betracht 1 1 2 , i n denen auch die leitenden Kollegien gewählt wurden, wenn auch meist i m Wege der Kooptation 1 1 3 . Die Anzahl wählbarer und gleichzeitig wählender Bürger 1 1 4 war i n Italien vergleichsweise groß, 110 s. Elsener (Anm. 1), S. 83 f., 103 f.; Kopp, Max, Die Geltung des M e h r heitsprinzips i n eidgenössischen Angelegenheiten v o m 13. Jahrhundert bis 1848, Diss. Bern, W i n t e r t h u r 1959, S. 19, 69; zum Einfluß des kanonischen Rechts auf diese schweizerische Rechtsentwicklung Elsener, S. 112 ff.; a l l gemein für Gemeinden i m deutschen Raum s. Gierke (Anm. 82), Bd. I I (1873), S. 230 f., 478 ff. u n d zur Einstimmigkeit ebd. S. 501; auch i n französischen Kommunen entschied vielfach die Mehrheit häufig i n der F o r m der 2 / 3 - M e h r heit, s. Viollet (Anm. 94), Bd. I I I , S. 108 f., wobei zuweilen die Reichen als die sanior pars gelten, ebd.; bereits Philippe de Beaumanoir (1246 - 1296) weist i n seinem Coutumes de Beauvaisis (ed. A m . Salmon t. I Paris 1899) c. I V no. 171, S. 87 f. u. c X X I , No. 648, S. 324, auf das Mehrheitsprinzip h i n ; vgl. auch Ullmann (Anm. 82), S. 218; u n d den Sachsenspiegel I I , 55. E i n Beispiel aus dem deutschen Raum zeigt das Kölner Rat Eidbuch v o m 5.3.1341, das die Ratsherren auf die Folgepflicht vereidigt: „dat mintste part deme meystme zu volgene, so dat deme meystin parte die maicht blive inde m a n si gewer d i n laisse"; Stein, Walter, A k t e n zur Geschichte der Verfassung u n d V e r w a l t u n g der Stadt K ö l n i m 14. u n d 15. Jahrhundert, 2 Bde., B o n n 1893 - 95, Bd. I, S. 27; zum Mehrheitsprinzip i n Bürgereiden u n d Stadtrechten s. auch Ebel, W i l helm, Der Bürgereid, Weimar 1958, S. 43 ff.; weitere Hinweise auch i n Bärmann, Johannes, Die Verfassungsgeschichte Münchens i m Mittelalter, Diss. München 1938, S. 171 A n m . 95: Freiburg erstmals 1248 erwähnt. 111 Allgemein zu den italienischen Stadtrepubliken s. Waley, David, Die italienischen Stadtstaaten, München 1969; s. auch Hofmann (Anm. 103), S. 202 ff. 112 Vgl. auch Konopczynski (Anm. 1), S. 36 ff. 113 Teilweise w u r d e n die Wahllisten v o n den obersten Organen festgelegt. I n Florenz wählte dann die Signoria zusammen m i t anderen Kollegien die Mitglieder der Räte. F ü r Florenz s. Brucker, Gene Α., Florentine Politics and Society 1343- 1378, Princeton 1962, S. 66 f., 61; die Auswahlverfahren waren allerdings i n jeder Stadt anders u n d meist höchst kompliziert, s. Waley (Anm. I l l ) , S. 63 ff.; für die Wahlverfahren i n die deutschen Stadträte s. Planitz, Hans, Die deutsche Stadt i m Mittelalter, Graz u. a. 1954, S. 310 ff.; ursprünglich gab es w o h l Bürgervollversammlungen, die aber i n der Regel auf eine A k k l a m a t i o n beschränkt waren. Waley, S. 62; zu i h r e r geringen Rolle i n Deutschland s. Luther, Rudolf, Gab es eine Zunftdemokratie, B e r l i n 1968, S. 16, 18. Bedeutsamer w a r die Rolle der Mailänder Bürgervollversammlung zu Ende des 11., A n f a n g 12. Jahrhunderts, die später auch ihre Repräsentanten wählte, Keller, Hagen, Die soziale u n d politische Verfassung Mailands i n den Anfängen des kommunalen Lebens, H Z 211 (1970), S. 34 ff. (S. 52 ff.); bald bildeten sich jedoch sog. Große u n d Kleine Räte aus, die die höheren Amtsträger wählten, wobei die Großen Räte einen erheblichen Umfang annehmen konnten. Der Große Rat v o n Modena umfaßte i m Jahre 1306 1600 Mitglieder. Waley, S. 63; i n Venedig w u r d e n die Magistrate i m wesentlichen v o m Großen Rat, der aus 1000 kooptierten Mitgliedern bestand, i n einem extrem komplizierten Verfahren gewählt, Frohn, Rainer, Die Rechtsstellung des Rates der Zehn i n Venedig, Diss. Würzburg, 1972, S. 27 f., 38, 62, 68, 81, 88 f. Voraussetzung für die W a h l w a r die lebenslängliche M i t gliedschaft (dazu Frohn, S. 15, 29, 53 ff., 18) i m Großen Rat, Frohn, S. 12; f a k tisch w a r die Vormacht des höchsten Patriziats gesichert, Frohn, S. 18, i n n e r halb des Großen Rates galt allerdings das Mehrheitsprinzip, Frohn, S. 54, 5, 28.

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I I . Die Geschichte des Mehrheitsprinzips

ohne daß diese Herrschaftsform als demokratisch bezeichnet werden konnte. Unmittelbar zu den an der Herrschaft Beteiligten gehörte ein zum Teil noch beschränkterer Kreis 1 1 5 , selbst als i m späteren Mittelalter die Zünfte M i t w i r k u n g erlangten und mancherorts die Bürgerschaft u m das „popolo" erweitert wurde 1 1 6 . Innerhalb dieses Kreises galt 114 Die Wählbarkeit knüpfte an das Bürgerrecht an, welches an einen bestimmten Zensus (Steuerleistung oder Grundbesitz) gebunden w a r ; zum Bürgerrecht allgemein s. Waley (Anm. I l l ) , S. 104 ff.; vgl. auch Jones, P. J., Communes and Despots, The City State i n Late Medieval Italy, Transactions of the Royal Historical Society, 5. Series, Vol. 15, London 1965, S. 71 ff. (74); zum Bürgerbegriff i n M a i l a n d Keller (Anm. 113), S. 40 ff.; zum Bürgerbegriff i n Deutschland Planitz (Anm. 113), S. 255 f.; Wählbarkeit u n d Bürgerrecht fielen meist zusammen, die Wählbarkeit konnte aber restriktiver geregelt sein, Waley, S. 104 f.; Vollbürger, u n d damit wählbar, konnten n u r die Haushaltsvorstände sein, Waley, S. 106. Hinsichtlich der allerdings sehr u n t e r schiedlich angesetzten Anforderungen für das Vollbürgerrecht ist es aber doch bemerkenswert, daß bis zu 2 /s aller Haushaltsvorstände über G r u n d besitz verfügten, Waley, S. 28. F ü r Florenz w i r d die Zahl der für die Ä m t e r u n d Räte wählbaren Bürger i m 14. Jh. auf 3500 - 4000 geschätzt. Becker, M a r v i n B., Florence i n Transition, 2 Bde., Baltimore 1967, Bd. I, S. 119, 213 A n m . 117; Jones, S. 76; i m Jahre 1382 betrug die Zahl 5000; Molho, A n t h o n y , The Florentine Oligarchy and the Balie of the Late Trecento, Speculum 43 (1968), S. 23 ff. (27). 115 Z u m T e i l hatte das Patriziat einen übermächtigen Einfluß: i n Florenz w u r d e n i n den Jahren nach 1329 etwa 70 °/o der Ä m t e r v o n den Mitgliedern der drei Spitzengilden besetzt, Becker (Anm. 114), Bd. I , S. 89; vgl. auch S. 17 f. F ü r die Signoria, das oberste Organ, standen etwa 500-700 Bürger zur Verfügung, Brucker (Anm. 113), S. 67 u. S. 160 A n m . 47; Molho (Anm. 114), S. 27, gibt die Zahlen 300 - 750 an. Allerdings gelang Einzelnen der Aufstieg u n d der Kreis der Wählbaren wies durch den Aufstieg der „Neuen", gente nuova, eine gewisse F l u k t u a t i o n auf, Becker (Anm. 14), Bd. I, S. 100 ff.; Bd. I I , S. 93 f. Die Gesamteinwohnerzahl betrug zwischen 50 000 (Anfang des 14. Jh.) u n d 100 000 (Ende des 14. Jh.), Waley (Anm. I l l ) , S. 37; Jones (Anm. 114), S. 76 nennt f ü r die M i t t e des 14. Jh. die Zahl 75 000 - 80 000. I n Siena gab es i m Jahre 1497 etwa 350 herrschende Familien m i t 1829 Mitgliedern bei einer Gesamtbevölkerung v o n 25 000 Personen, Jones (Anm. 114), S. 78; vgl. für Siena auch Bowsky, W i l l i a m M., The Buon Governo of Siena (1287 bis 1335), A medieval I t a l i a n Oligarchy, Speculum 37 (1962), S. 368 ff. über das Consistono (den höchsten Magistrat) der Neun. 118 Z u m popolo, das anfangs meist seine eigenen Institutionen u n d Ä m t e r hatte, die allmählich i n dem allgemeinen Stadtregiment aufgingen, s. Waley (Anm. I l l ) , S. 183 ff., wobei das popolo nicht etwas das ganze V o l k umfaßte; vgl. auch Becker (Anm. 114), Bd. I, S. 178 ff.; Bd. I I , S. 96 ff.; Jones (Anm. 114), S. 75 f. Z u m Eindringen der Zünfte i n die Stadträte i n Deutschland s. Conrad (Anm. 99), Bd. I, S. 453; Haverkamp, Alfred, Die „Frühbürgerliche" W e l t i m Hohen u n d Späten Mittelalter, H Z 221 (1975), S. 571 ff. (590 ff.); Luther (Anm. 113), S. 35 ff. Trotz ihrer i n die Z u k u n f t weisenden Elemente, i h r e r Modern i t ä t i m Vergleich zu der feudalen Ordnung des Mittelalters, ist die Stadt nicht zur Keimzelle der Demokratie geworden, vielmehr oligarchisch erstarrt, s. Kielmansegg (Anm. 1), S. 50 ff., Hofmann (Anm. 103), S. 208. Dazu t r u g nicht unwesentlich bei, daß die siegreidhen Zünfte bei der Willensbildung i n den Stadträten i n erster L i n i e eine korporative Zunftvertretung bildeten, u n d dadurch die Handlungsfähigkeit der Stadträte stark l i t t ; s. Luther, S. 99 ff.; daneben waren entscheidend die großen sozialen Unterschiede, die i m Verein m i t korporativem Vertretungsverständnis oligarchische Strukturen bald w i e der hervortreten ließen; s. Luther, S. 109,114.

I I . Die Geschichte des Mehrheitsprinzips j e d o c h das M e h r h e i t s p r i n z i p 1 1 7 , das v i e l f a c h u n t e r d e r

Voraussetzung

eines h o h e n Q u o r u m s i n d e n e i n z e l n e n D i e t e n z u q u a l i f i z i e r t e n M e h r h e i t e n bis z u 16/17 ausgestaltet w a r 1 1 8 . Diese V e r h ä l t n i s s e spiegelt d e r Defensor

Pacis v o n M a r s i l i u s

von

P a d u a 1 1 9 m i t d e r F o r m e l v o n d e r „ v a l e n c i o r p a r s " w i d e r 1 2 0 . Dieser v o n Marsilius häufig verwendete

Begriff

121

beinhaltet

aber noch

keinen

m o d e r n d e m o k r a t i s c h e n G e d a n k e n . M a n m a g das m i t M e h r h e i t ü b e r s e t z e n 1 2 2 , aber b e r e i t s d i e F o r m e l h a t e i n e n s t a r k q u a l i t a t i v e n S i n n 1 2 3 . W e r den Ausdruck i m wesentlichen q u a n t i t a t i v i n t e r p r e t i e r t 1 2 4 , über117 Z u den Wahlmethoden s. Waley (Anm. I l l ) , S. 63 f.; Moulin (Anm. 81), S. 113 ff. W o h l erstmals i n Italien taucht die Mehrheitsregel i n den Statuten Genuas v o n 1143 auf, Moulin , ebd. S. 112; s. auch Konopczynski (Anm. 1), S. 39; dann i n Parma 1231, i n Venedig 1326, i n Bologna als absolute Mehrheit 1250. A l l e i n die Daten lassen den wesentlichen Einfluß des kanonischen Rechts offenbar werden, s. Moulin , ebd. S. 143 ff. I n der Schweiz ist der Mehrheitsgrundsatz äußerlich noch lange v o m germanischen Einhelligkeitsdenken u n d der Folgepflicht überdeckt, s. Elsener (Anm. 1), S. 83 f., dort auch über den Einfluß der Magnaten u n d Patrizier. 118 Waley (Anm. I l l ) , S. 64; Moulin (Anm. 81), S. 112; vgl. auch Konopczynski (Anm. 1), S. 40. 119 Aus dem Jahr 1324; zitiert nach der Lat.-dt. Ausgabe v o n Horst Kusch, B e r l i n 1958, 2 Bde. 120 Scheuner (Anm. 1), S. 26; s. die Bezugnahme (?) v o n Marsilius i n 112 § 4, dort A n m . 234 v o n Kusch; a. A . Gewirth, A l a n , Marsilius of Padua. The Defensor Pacis, vol. I : Marsilius of Padua and medieval Philosophy, New Y o r k 1951, S. 181, der aber vergißt, daß auch der sog. vulgus n u r einen beschränkten Kreis v o n Bürgern umfaßt; vgl. aber auch ebd. S. 190. G e w i r t h weist selbst allerdings auf die zeitgenössischen Stadtverfassungen als V o r bilder für Marsilius hin, widerspricht sich also i n gewissem Umfang selbst, ebd. S. 196 ff. 121 112 §3; 112 §5; 113 § 3 u. 4; I I 6 § 12 (hier der universitas fidelium); I I 19 § 15; I I 25 § 8; I I I 2 § 6; sowie I I 20 § 2; I I 28 § 21; I I I 2 § 2, wo es u m die valencior pars auf Konzilen geht. Auch die sanior pars findet sich i m Defensor Pacis, I I 17 § 15; I I 20 § 5; i m m e r i m Zusammenhang m i t kirchlichen Angelegenheiten i n I I 20 § 5 soll die valencior pars der Gläubigen entscheiden, welches die sanior pars der Priester ist. 122 So Kusch (Anm. 119); vgl. aber auch I 13 § 4: „ m u l t i t u d o seu c i v i u m universitas aut ejus pars valencior quam nomine m u l t i t u d i n i s signât" u n d vgl. auch I 13 § 2. 123 w i e Marsilius selbst bezeugt, „valenciorem partem, considerata quantitate personarum et qualitate" 112 § 3, so auch Lagarde, Georges de, L a naissance de l'esprit laïque au déclin du moyen âge, vol. I I I , Le Defensor Pacis, Louvain u. a. 1970, S. 141 ff.; Hofmann (Anm. 103), S. 195 ff.; vgl. auch Wilks (Anm. 82), S. 108 f., 194 f.; dort auch zum Begriff der valencior pars bei Wilhelm von Ockham , Dialogue I I I , I I , I I I , 17, i n Melchior Goldast, Monarchia S. Romani Imperii, F r a n k f u r t 1611 - 1614 (Nachdruck Graz 1960), Bd. I I , S. 398 ff. (S. 948, Ζ 18 f.); s. auch den Ausdruck v o n consensus maior pars mundi, Dialogus I I I , I I , 127, Goldast S. 899, Ζ 56 f.; dazu Wilks (Anm. 82), S. 106 f. Lange w a r m a n durch eine verdorbene Textfassung irregeführt, die die E r w ä h n u n g der Qualitas i n 112 § 3 ausließ, s. Scheuner (Anm. 1), S. 26; Gewirth (Anm. 120), S. 182. 124 Gewirth (Anm. 120), S. 182 ff. erblickt i n Marsilius einen frühen V e r fechter demokratischer Teilnahme des Volkes an der Gesetzgebung, s. insbes.

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I I . Die Geschichte des Mehrheitsprinzips

sieht, daß schon d i e D e f i n i t i o n des B ü r g e r s äußerst r e s t r i k t i v i s t 1 2 5 . A u c h d a r f n i c h t vergessen w e r d e n , w i e sehr M a r s i l i u s d e r B e g r i f f s w e l t seiner Z e i t v e r h a f t e t u n d i n die A r i s t o t e l e s t r a d i t i o n e i n g e b e t t e t w a r 1 2 6 . M a r s i lius' Modernität liegt v i e l m e h r i n seinem Herrschaftsverständnis 127 u n d n i c h t i n d e r B e t o n u n g d e m o k r a t i s c h e r T e i l n a h m e . D a f ü r geht M a r s i l i u s noch z u sehr v o m sozialen Ganzen, d e r u n i v e r s i t a s c i v i u m , u n d n i c h t v o m autonomen I n d i v i d u u m aus128. Auch i m Zusammenhang m i t v a l e n c i o r pars b e z i e h t er sich a u f die k o r p o r a t i v e

Einheit

der

der Ge-

m e i n d e 1 2 9 . A n d e r e r s e i t s g i l t f ü r i h n i n A n l e h n u n g a n A r i s t o t e l e s 1 3 0 , daß ein mehrheitlich

beschlossenes

Gesetz

a m ehesten a m

Gemeinwohl

o r i e n t i e r t u n d r i c h t i g i s t 1 3 1 s o w i e daß e i n Gesetz, das die B ü r g e r sich selbst auferlegen, a m ehesten b e f o l g t w i r d 1 3 2 . Das z w e i t e A n w e n d u n g s f e l d b i l d e n die städtischen u n d l a n d s c h a f t l i c h e n E i n u n g e n des M i t t e l a l t e r s u n d d e r f r ü h e n N e u z e i t 1 3 3 . Es g a l t d e m G r u n d s a t z n a c h i n der H a n s e 1 3 4 , i m schwäbischen S t ä d t e b u n d 1 3 5 u n d 185 ff.; allerdings sei quantitativ nicht i m Sinne v o n "equal individuals units" zu verstehen, ebd. S. 195; gegen ein demokratisches Verständnis dezidiert Hofmann (Anm. 103), S. 195 ff. 125 Bürger ist, w e r an der regierenden, beratenden oder richterlichen Gewalt nach seinem sozialen Rang (secundum gradum suum) teilhat I, 12 § 4, s. Lagarde (Anm. 123), S. 144 u n d S. 136 ff., dort auch zum zeitgenössischen qualitativen Verständnis des Bürgers; vgl. auch die Bezugnahme auf Aristoteles, P o l i t i k (1318 b) u n d die italienischen Stadtstaaten (s. A n m . 120). 126 „Le mot (valencior pars) est emprunté à Guilleaume de Moerbecque, qui l'emploie pour traduire les termes grecs (το κρεΐττον μέρος) utilisés par Aristote dans u n contexte qui interdit toute reference à la majorité numérique", Lagarde (Anm. 123), S. 141 f. unter Verweis auf Aristoteles, Politik 1296 b, 1332 b; Marsilius bezieht sich i m übrigen häufig auf Aristoteles, s. auch Gewirth (Anm. 120), S. 183 f. 127 Kielmansegg (Anm. 1), S. 61 ff. 128 Kielmansegg (Anm. 1), S. 64 f.; zum mittelalterlichen Verständnis v o m V o l k als Ganzheit ebd. S. 23 f.; vgl. auch Wilks (Anm. 82), S. 184 ff.; zum korporationsrechtlichen Verständnis v o n Marsilius, Wilks, S. 198; Hofmann (Anm. 103), S. 210 f. 129 112 § 5: „Hoc autem est c i v i u m universitas aut eius pars valencior, que totam universitatem representat". I n dieser korporativen Repräsentationskonzeption k o m m t nach Scheuner (Anm. 1), S. 27 deutlich die Voraussetzung des sozial geformten Körpers für das Mehrheitsprinzip zum Ausdruck. 130 s. A n m . 126; Aristoteles P o l i t i k entstammt die Ansicht, daß die Mehrheit v e r n ü n f t i g entscheidet (s. o. A n m . 46) u n d daß die Mehrheit entscheiden muß, w e i l es immer unvernünftige Bürger geben w i r d , die sich überzeugenden Argumenten verschließen, 112 § 5; vgl. auch I I 20 § 2. 131 I 12 § 5, I 13 § 4 ff. („omne e n i m t o t u m maius est sua parte i n agendo et eciam discernendo"). 132 112 § 6; vgl. auch 113 § 8; hier sind Ansätze zu empirisch beurteilter L e g i t i m i t ä t i n neuartiger Weise zu spüren; vgl. auch I 8 § 2. 133 Kurze allgemeine Übersicht bei Engel, Handbuch der Europäischen Geschichte (hrsg. v. Theodor Schieder), Bd. I I I , Stuttgart 1971, S. 421 f. 134 Pagel, K a r l , Die Hanse, Oldenburg 1942, S. 194; m a n zwang allerdings unterlegene Städte n u r selten i m Wege der „Verhansung" zur Anerkennung des Mehrheitsbeschlusses.

I I . Die Geschichte des Mehrheitsprinzips setzte sich i n d e n eidgenössischen B ü n d e n u n d der s p ä t e r e n T a g s a t z u n g w e i t g e h e n d d u r c h 1 3 6 . I n diesen V e r e i n i g u n g e n w u r d e n sehr schnell auch die G r e n z e n des M e h r h e i t s p r i n z i p s e r k a n n t 1 3 7 . D i e Ä n d e r u n g der B ü n d n i s k l a u s e l n 1 3 8 einschließlich d e r A u f n a h m e n e u e r M i t g l i e d e r b l i e b d e r einstimmigen Entscheidung aller Partner vorbehalten. I m

Gegensatz

dazu g a l t f ü r die aus d e n B ü n d n i s s e n sich e r g e b e n d e n Befugnisse u n d V e r p f l i c h t u n g e n m e i s t die M e h r h e i t s r e g e l 1 3 9 . N a c h der R e f o r m a t i o n g a l t dieselbe B e s c h r ä n k u n g i n R e l i g i o n s s a c h e n 1 4 0 . E i n v o n v o r n e h e r e i n g r ö ßeres G e w i c h t h a t t e das E i n s t i m m i g k e i t s p r i n z i p i n d e n N i e d e r l a n d e n 1 4 1 , w ä h r e n d d e r E i n f l u ß d e r eher m e h r h e i t l i c h g e p r ä g t e n E i n i g u n g s w e i s e der Schweiz sich i n d e r V e r f a s s u n g d e r V e r e i n i g t e n S t a a t e n n i e d e r schlug142.

135 Elsener (Anm. 1), S. 85 f.; unbedingte Geltung besaß das Mehrheitsprinzip ähnlich wie bei der Hanse nicht; noch 1433 mußte eine Weigerung Nördlingens, sich unterzuordnen, als „gar unzimlich" zurückgewiesen werden. 136 Z u m ersten M a l w i r d es am 1.5.1351 vereinbart, Kopp (Anm. 110), S. 19 f.; Elsener (Anm. 1), S. 102; i n der v o n Elsener, ebd., behaupteten A l l gemeinheit galt das Mehrheitsprinzip aber nicht, w i e Kopp nachweist. Es galt immer n u r für einzelne, genau abgegrenzte Materien. Eine Aufzählung dieser Materien bei Kopp, S. 69. 137 Scheuner (Anm. 1), S. 28. 138 Elsener, Ferdinand, Das Majoritätsprinzip i n konfessionellen Angelegenheiten u n d Religionsverträgen der schweizerischen Eidgenossenschaft v o m 16. bis 18. Jahrhundert, Z R G 86 (Kan. A b t . 55) (1969), S. 238 ff. (242 ff.). 139 s. A n m . 136. 140 Elsener (Anm. 1), S. 102 f., sowie Elsener (Anm. 138), S. 246 ff.; Zürich hatte das Problem 1528 aufgeworfen, dazu Elsener (Anm. 138), S. 249 ff.; vgl. auch Kopp (Anm. 110), S. 44 f. I n Religionsangelegenheiten setzten sich die Protestanten i m deutschen Reichstag ebenso durch (dazu unten). Hier wie dort entstand die Tendenz, den Begriff der Religionssache w e i t auszulegen, Elsener (Anm. 138), S. 263 f.; Schiaich, Klaus, Maioritas — protestatio — i t i o i n partes — corpus Evangelicorum. Das Verfahren i m Reichstag des H l . Römischen Reiches Deutscher Nation nach der Reformation, Z R G 94 (Kan. A b t . 63) (1977), S. 264 ff.; Forts. Z R G 95 (Kan. A b t . 64) (1978), S. 139 ff. (145). Seit 1582 versuchte die protestantische Minderheit die Nichtanwendbarkeit der Mehrheitsregel m i t zunehmendem Erfolg auch auf Steuersachen v o r allem i m Zusammenhang m i t der Türkenhilfe auszuweiten; s. Schulze, Winfried, Reich u n d Türkengefahr i m späten 16. Jahrhundert, München 1978, S. 158 ff.; für unmittelbare Glaubensfragen hatte Luther selbst das Mehrheitsprinzip ausgeschlossen: „ n u l l a (est i n ecclesia) maioritas, quia hanc p r o h i b u i t " ; zitiert nach Heckel, Johannes, Lex charitatis, 2. A u f l . K ö l n 1973, S. 357 A n m . 16. 141 Sowohl i n den Provinzen als i n den Generalstaaten w a r Einstimmigkeit grundsätzlich erforderlich, obwohl sich praktisch i n wichtigen Fällen die Mehrheit unter der F ü h r u n g Hollands durchsetzte, Konopczynski (Anm. 1), S. 99; Fockema-Andreae, S. J., De Nederlandse Staat onder de Republiek (Verhandelingen d. K o n i n k l i s k e Akad. d. Wetenschappen A f d Letterkunde NR Deel 68 Nr. 3), Amsterdam 1961, S. 16 f., dort zur Rolle Hollands S. 42 ff. 142 Der Einfluß der deutschen, schweizerischen u n d auch niederländischen Beispiele k o m m t i n einigen Beiträgen Madisons i m Federalist (Nr. 19, 20) deutlich, aber m i t kritischem Abstand zum Ausdruck; so Scheuner (Anm. 1), S. 27 A n m . 92.

I I . Die Geschichte des Mehrheitsprinzips

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D e n d r i t t e n u n d z u k u n f t s t r ä c h t i g s t e n B e r e i c h s t e l l e n die ständischen Einrichtungen dar. I n den Territorialstaaten w a r neben den Herrscher des europäischen M i t t e l a l t e r s e i n m i t w i r k e n d e r T r ä g e r p o l i t i s c h e r E n t scheidungen g e t r e t e n , d e r i n e i n e m d u a l i s t i s c h e n Gefüge m i t d e m K ö n i g oder

F ü r s t e n das L a n d r e p r ä s e n t i e r t e 1 4 3 .

Innerhalb

der

ständischen

V e r s a m m l u n g e n k a m das M e h r h e i t s p r i n z i p , j e s t ä r k e r d i e A n s c h a u u n gen d e m D e n k e n i n P r i v i l e g i e n verhaftet

b l i e b e n 1 4 4 , schwächer

zum

A u s d r u c k , w ä h r e n d es a n B e d e u t u n g d o r t g e w a n n , w o diese V e r t r e t u n g einen nationalen, repräsentativen Charakter g e w a n n 1 4 5 u n d den Ständ e n e i n w i r k l i c h e s Entscheidungsrecht z u k a m 1 4 6 . E x e m p l a r i s c h f ü r die E n t w i c k l u n g ständischer V e r t r e t u n g h a t sich i m deutschen Reichstag das M e h r h e i t s p r i n z i p s i n n e r h a l b d e r K u r i e n u m d i e W e n d e des 15. z u m 16. J a h r h u n d e r t w e i t g e h e n d durchgesetzt, w ä h r e n d zwischen d e n K u r i e n i n d e r Regel nach w i e v o r E i n h e l l i g k e i t 143 Scheuner (Anm. 1), S. 15 f.; dort auch weitere L i t e r a t u r zum Gedanken der m i x e d monarchy; vgl. auch Schmitt, Eberhard, Repraesentatio i n toto u n d repraesentatio singulariter, H Z 213 (1971), S. 529 ff.; Schubert, Friedrich Hermann, Volkssouveränität u n d Heiliges Römisches Reich, H Z 213 (1971), S. 91 ff. (118); Schubert weist (S. 96 f.) auf die Bedeutung der Reichsverfassung als res publica m i x t a dafür hin, daß der Volkssouveränitätsgedanke aus diesem Grund nicht v ö l l i g v o n der Souveränität des absoluten Herrschers absorbiert wurde. 144 Das Mehrheitsprinzip scheitert vielfach an der Abneigung der U n t e r tanen, zugunsten v o n Mehrheitsbeschlüssen irgendwelche eigenen Privilegien zu opfern, Spangenberg, Hans, V o m Lehnstaat zum Ständestaat. E i n Beitrag zur Entstehung der landständischen Verfassung, B e r l i n 1912 (Neudruck A a l e n 1964), S. 141. 145 Scheuner (Anm. 1), S. 27; zur ständischen Repräsentation s. Birtsch, Günther, Die landständische Verfassung als Gegenstand der Forschung, i n Gerhard, Dietrich (Hrsg.), Ständische Vertretungen i n Europa i m 17. u. 18. Jh. (Veröffentlichungen des M a x Planck I n s t i t u t f ü r Geschichte Bd. 27), Göttingen 1969, S. 32 ff. (44, 53); Gerhard, Dietrich, Probleme ständischer Vertretungen i m früheren 18. Jh. u n d ihre Behandlung i n der gegenwärtigen internationalen Forschung, i n ders. (Hrsg.), S. 9 ff. (19); s. auch Hof mann (Anm. 103), S. 342 ff.; i n Deutschland sind es n u r i n „einem Vertretungsinstitut, dem Landtag, zusammengebundene, i n sich ständisch streng geschiedene Korporationen", Oestreich, Gerhard, Ständetum u n d Staatsbildung i n Deutschland, Der Staat 6 (1967), S. 61 ff. (64). Z u m Gedanken, daß die Stände die Gesamtheit repräsentieren, Scheuner, Ulrich, Volkssouveränität u n d Theorie der parlamentarischen Vertretung — Zur Theorie der Volksvertretung i n Deutschland 1815 - 1848, i n Bosl, K a r l (Hrsg.), Der moderne Parlamentarismus u n d seine Grundlagen i n der ständischen Repräsentation, Berl i n 1977, S. 297 ff. (310 ff.). Die Stände beinhalteten aufgrund ihrer Zusammensetzung keine demokratische Repräsentation, Vierhaus, Rudolf, Land, Stand u n d Reich, H Z 223 (1976), S. 40 ff. (59 f.). N u r i n derartigen repräsentat i v e n Körperschaften konnte v o n einer Gleichheit der Abstimmenden ausgegangen werden; s. auch Prausnitz, O., Representation and the M a j o r i t y Principle, Politica 1 (1934/35) London, S. 215 ff. (220). 146 So auch Scheuner (Anm. 1), S. 27 A n m . 90. Der Vorgang läßt sich ganz generell beobachten. Sowie einer Versammlung oder einem Kollegium w i r k liche Entscheidungsgewalt zuwächst, setzt sich das Mehrheitsprinzip durch, (s. o.)

I I . Die Geschichte des Mehrheitsprinzips

und Ubereinstimmung erzielt werden mußte 1 4 7 . Selbst dort, wo die Mehrheitsregel Anwendung fand, gelang es nicht, durchzusetzen, daß der Mehrheitswille m i t dem Gesamtwillen identifiziert wurde, da es kein eindeutiges, geregeltes, festes Verfahren gab 1 4 8 und dem Mehrheitsbeschluß die Sicherheit des Vollzugs fehlte 1 4 9 . Darüber hinaus verhinderte die konfessionelle Spaltung i n Religionsangelegenheiten schon frühzeitig 1 5 0 die unbedingte Geltung des Mehrheitsprinzips i m Reichs147 Schubert, Friedrich Hermann, Die deutschen Reichstage i n der Staatslehre der frühen Neuzeit (Schriftenreihe der Historischen Kommission bei der bayer. Akademie der Wissenschaften, Bd. 7), Göttingen 1966, S. 301 f.; v ö l l i g generelle Geltung konnte das Mehrheitsprinzip jedoch nicht beanspruchen, Schiaich (Anm. 140), Z R G 94, S. 278 ff.; noch 1467 hatte Nürnberg die Anerkennung eines Mehrheitsbeschlusses verweigert, Konopczynski (Anm. 1), S. 85; vgl. auch jetzt Isenmann (Anm. 85), S. 147 f., 180 ff. I n den Landesterritorien versuchten die Fürsten auch durch Druck das Mehrheitsprinzip einzuführen. So l u d K u r f ü r s t Albrecht A c h i l l die altmärkischen Stände 1473 wegen ihrer Zahlungsverweigerung nach B e r l i n u n d verpflichtete den bei w e i t e m „mindesten T e i l " , sich dem Beschluß der Mehrheit zu fügen, Spangenberg (Anm. 144), S. 142. Zwischen den K u r i e n mußte eine Einigung i n der Regel erfolgen: Luxemburg ließ sich jedoch f ü r die B e w i l l i gung v o n Geldmitteln die außergewöhnliche Regelung einfallen, daß die i n den drei K u r i e n jeweils zugestandenen Summen zusammengezählt u n d dann durch drei geteilt wurden, Konopczynski (Anm. 1), S. 101 f. 1598 machte der Vertreter Salzburgs i m deutschen Reichstag für die B e w i l l i g u n g der T ü r k e n hilfe einen vergleichbaren Vorschlag. Schulze (Anm. 140), S. 167. I m deutschen Reichstag wurde die Kurientrennung teilweise i n den Ausschüssen überwunden, die aus allen drei K u r i e n zusammengesetzt nicht mehr getrennt abstimmten, Oestreich, Gerhard, Z u r parlamentarischen Arbeitsweise der deutschen Reichstage unter K a r l V., Mitteilungen des österreichischen Staatsarchivs 25 (1972), S. 217 ff. (230 f.). I m übrigen zeigt die korporative Zunftvertretung i n ihrer W i r k u n g auf die Handlungsfähigkeit der Stadträte hier durchaus parallele Züge. I n dem Maß, i n dem sich keine einheitliche Vertretung für das Ganze herausbildete u n d partikulare Interessen überwogen, verloren die Vertretungen an Bedeutung oder w u r d e n durch handlungsfähige Oligarchien oder Alleinherrscher ersetzt; vgl. oben A n m . 116. Dagegen mußte i n Ungarn bis 1848 eine Ubereinstimmung zwischen den „Tafeln" erreicht werden, Bonis, György, Der Ubergang v o n der ständischen Repräsentation zur Volksvertretung i n Ungarn, i n Bosl, K a r l (Hrsg.), Der moderne Parlamentarismus u n d seine Grundlagen i n der ständischen Repräsentation, B e r l i n 1977, S. 265 ff. (271). 148 Schiaich (Anm. 140), Z R G 94, S. 280 ff. 149 Ebd. S. 284 ff., da die Mehrheit f ü r die Durchführung der Mehrheitsentscheidung auf die Hilfe der Minderheit angewiesen war, ebd. S. 287. 150 Die evangelischen Stände beriefen sich 1529 auf i h r Gewissen u n d die Bindung des Kaisers an den vorangehenden Abschied v o n Speyer, 1526 (Reichstagsakten jüngere Reihe, Bd. V I I , 1 (Anm. 107), Nr. 1775, S. 778). I n der feierlichen Protestation v o m 20.4.1529 berufen sie sich darauf, daß ein einstimmiger Beschluß nicht m i t der bloßen Mehrheit geändert werden dürfe u n d „das auch on das i n den Sachen gottes ere u n d unser seien haile u n d Seligkeit belangend ain jeglicher für sich selbs v o r gott steen u n d rechenschaft geben mus, also das sich des orts keiner auf ander minders oder merers machen oder beschließen entschuldigen k a n n " . Reichstagsakten (Anm. 107), Bd. V I I , 2 Nr. 143, S. 1277; zur protestatio jetzt Schiaich (Anm. 140), Z R G 94, S. 274 ff., 291 ff.; ders., Die protestatio beim Reichstag i n Speyer v o n 1529 i n verfassungsrechtlicher Sicht, Z e v K R 25 (1980), S. I f f . ; generell zur

62

I I . Die Geschichte des Mehrheitsprinzips

tag, bis der Westfälische F r i e d e der k o n f e s s i o n e l l e n T e i l u n g der Stände m i t d e r R e g e l u n g d e r i t i o i n partes e n d g ü l t i g R e c h n u n g t r u g 1 5 1 . A m f r ü h e s t e n setzte sich das M e h r h e i t s p r i n z i p bezeichnenderweise i n E n g l a n d i m U n t e r h a u s d u r c h 1 5 2 . H i e r w u r d e die M e h r h e i t seit E n d e des 14. J a h r h u n d e r t s n a c h d e r S t ä r k e des Z u r u f s ( b y voices) A b g e s e h e n v o n e i n e m V o r g a n g i m J a h r 1420

154

ermittelt153.

ging m a n bei Zweifeln

z u e i n e r g e n a u e n A u s z ä h l u n g (by d i v i s i o n ) erst M i t t e des 16. J a h r h u n derts ü b e r 1 5 5 . I n E n g l a n d w i r d der Z u s a m m e n h a n g z w i s c h e n d e r Ü b e r nahme der Mehrheitsregel u n d der T r e n n u n g der B i n d u n g der V e r t r e ter an den A u f t r a g ihrer W ä h l e r deutlich156. A u f g r u n d der v o m kanoniGeltung des Mehrheitsprinzips i n Religionsangelegenheiten vgl. auch Schubert (Anm. 147), S. 302. 151 s. § 52, X I X des I n s t r u m e n t u m pacis Osnabrugense „ I n causis Religionis omnibusque aliis negotiis, u b i Status tanquam u n u m Corpus considerari nequeunt, u t etiam Catholicis et Augustanae Confessionis Statibus i n duas partes euntibus, sola amicabilis compositio lites dirimat, n o n attenta v o t o r u m pluralitate", Zeumer (Anm. 83), Bd. I I Nr. 197, S. 413; zur itio i n partes, Schiaich (Anm. 140), Z R G 95, S. 146 ff.; Hechel, M a r t i n , Parität, Z R G 80 (1963), K a n . A b t . 49, S. 287 ff.; ders., I t i o i n partes, Z u r Religionsverfassung des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation, Z R G 95 (Kan. A b t . 64) (1978), S. 180 ff.; s. auch Schubert (Anm. 147), S. 235, 322; bereits 1608 u n d 1613 w a r der Reichstag v o n der evangelischen Seite boykottiert worden, Schiaich (Anm. 140), Z R G 95, S. 148 ff. 152 Gleichsam i m V o r g r i f f auf die englische Verfassungsgeschichte erscheint der Mehrheitsgrundsatz bereits 1215 i n den A r t i c u l i B a r o n u m u n d der darauf basierenden Magna Carta (c61), wonach ein Komitee v o n 25 Baronen, dem weitreichende Kompetenzen eingeräumt werden, den K ö n i g zur Einhaltung der Carta zwingen kann, wobei die Mehrheit entscheidet: " I f perchance those twentyfive are present and disagree about anything, or i f some of t h e m after being summoned are u n w i l l i n g or unable to be present, that w h i c h the m a j o r i t y of those present ordain or commend shall be held as fixed and established, exactly as i f the whole t w e n t y f i v e had concurred this." Dieser Satz wurde jedoch i n späteren Neuausgaben u n d Bestätigungen ausgelassen, s. Heinberg, J o h n G., History of the M a j o r i t y Principle, APSR 20 (1926), S, 52 ff. (62 f.); Redlich, Josef, Recht u n d Technik des englischen Parlamentarismus, Leipzig 1905, S. 537 f. F ü r Gerichte ist die Mehrheitsregel unter der Einschränkung des Gedankens der Sanioritas bereits i n den leges Henrici v o n 1118 verzeichnet, Baty, Thomas, The History of M a j o r i t y Rule, Quarterly Review Nr. 430 (1912), S. 1 ff. (8); Heinberg, S. 63. iss D e r genaue Beginn dieser Methode ist unbekannt, ist aber w o h l nicht v o r 1376 anzusetzen, denn erst zu diesem Zeitpunkt existierte ein Speaker, der die Lautstärke als unabhängiger Schiedsrichter ermessen konnte; Edwards, Sir Goronwy, The Emergence of M a j o r i t y Rule i n the procedure of the House of Commons, Transactions of the Royal Historical Society, 5. series, vol. 15 (1965), S. 165 ff. (184 f.). 154 Edwards (Anm. 153), S. 178 ff. 155 Indem die Zustimmenden den Raum verließen, Edwards (Anm. 153), S. 166 f f.; wahrscheinlich ermöglichte erst das neue Parlamentsgebäude dieses Verfahren, ebd. S. 180 ff. Die exakte Berechnung von 1532 unter Anwesenheit Heinrich V I I I . ist auf dessen Druck zurückzuführen, ebd. S. 176 ff.; s. auch Lehmberg, Stanford E., The Reformation Parliament 1529 - 1536, Cambridge 1970, S. 137 f. ΐ5β s. Scheuner (Anm. 1), S. 31 ff. I n den Städten selbst spielte die Frage der B i n d u n g keine wesentliche Rolle. Das lag sicher an den Wahlverfahren u n d

I I . Die

e c h t e des Mehrheitsprinzips

sehen Recht b e e i n f l u ß t e n r e c h t l i c h e n K o n s t r u k t i o n d e r p l e n a p o t e s t a s 1 5 7 l ö s t e n sich n i c h t z u l e t z t i m Interesse d e r K r o n e 1 5 8 d i e R e p r ä s e n t a n t e n v o n i h r e r R ü c k b i n d u n g 1 5 9 . D a d i e A b g e o r d n e t e n das ganze L a n d r e p r ä s e n t i e r t e n 1 6 0 , g a l t d i e Z u s t i m m u n g des P a r l i a m e n t f r ü h f ü r das ganze K ö n i g r e i c h 1 6 1 u n d k o n n t e infolgedessen als b i n d e n d e M e h r h e i t s e n t s c h e i dung ergehen162. W o sich dagegen das i m p e r a t i v e M a n d a t durchsetzte, w u r d e , w i e i n F r a n k r e i c h 1 6 3 , eine E n t w i c k l u n g h i n z u r B e d e u t u n g s l o s i g k e i t d e r V e r sodann w o h l auch an der Einrichtung des „divieto", der dauernden Ä m t e r rotation, dazu s. Becker (Anm. 114), Bd. I , S. 119, 214; Brucker (Anm. 113), S. 67 f. zu Florenz; Frohn (Anm. 113), S. 27 f. zu Venedig, die den Kreis der Repräsentanten einem permanenten Wechsel unterzog. 157 Z u r Entstehung des Vertretungsrechts u n d der Plena Potestas grundlegend Post (Anm. 103), S. 92 ff., 108 ff.; vgl. auch Müller, Christoph, Das i m perative u n d freie Mandat, Sijthoff-Leiden 1966, S. 108 ff.; für das englische Parlament Edwards, J. G., The Plena Potestas of English Parliamentary Representatives, i n Fryde, E. R. / M i l l e r , Edward, Historical Studies of the English Parliament, 2 Bde., Cambridge 1970, S. 136 ff. 158 Post (Anm. 103), S. 117 ff.; Edwards (Anm. 157), S. 136 ff. Plena potestas bedeutete eben nicht n u r Handlungsfreiheit der Vertreter, sondern auch Bindung der abwesenden Vertretenen an die Beschlüsse der Repräsentanten, denn schließlich w a r der K ö n i g an der Geldbewilligung interessiert. Dieses Interesse bewegte auch die deutschen Fürsten, i n den Ständen das Mehrheitsprinzip durchzusetzen, s. Spangenberg (Anm. 144), S. 140 ff. 159 E i n sozialer Faktor der Lösung lag darin, daß die Repräsentanten, trotz entgegenstehender Vorschriften, meist nicht i n i h r e m borough oder shire ansässig waren, s. Pole, J. R., Political Representation i n England and the Origins of the American Republic, New Y o r k u. a. 1966, S. 401 ff., wobei die Relation Ansässige zu Nichtansässigen zu Anfang des 16. Jh. noch wesentlich günstiger w a r u n d 1422 etwa 3/4 der Vertreter Residenten waren, Lehmberg (Anm. 155), S. 19 A n m . 3. Die E n t w i c k l u n g konnte jedoch auch durch die Bezahlung durch die Wahlkreise nicht aufgehalten werden, dazu Lehmberg (Anm. 155), S. 31 ff. Das b e w i r k t e einerseits eine bessere Repräsentation der sozialen Interessen, vgl. Pole, S. 442 ff.; andererseits eröffnete diese Situation dem K ö n i g u n d den herrschenden Schichten weitreichende Chancen zur Manipulation, s. Lehmberg (Anm. 155), S. 8 ff.; zu den sog. place-men i m 18. Jh. Ritter, Gerhard Α., Das britische Parlament i m 18. Jh., i n Gerhard, Dietrich (Hrsg.), Ständische Vertretungen i n Europa i m 17. u n d 18. Jh., Göttingen 1969, S. 398 ff. (415 ff.); s. zum Ganzen Scheuner (Anm. 1), S. 32 A n m . 107. 160 Cam, Helen Maud, The Theory and Practice of Representation i n Medieval England, i n Fryde / M i l l e r (Anm. 157), Bd. I , S. 263 ff. (272, 277 f.). 161 s. das berühmte Z i t a t v o n Smith aus dem 16. Jh. " t h e consent of Parliament is taken to be every man's consent" zitiert nach Fryde, Edmund, Introduction, i n Fryde / M i l l e r (Anm. 157), Bd. I I , S. 1 ff. (20). 162 Diesen Zusammenhang konstatiert auch Müller (Anm. 157), S. 212 f.; einschränkend Scheuner (Anm. 1), S. 34; Scheuner hebt (Anm. 1), S. 42 f. auch hervor, daß Repräsentation eine Mäßigung fördert, die der Minderheit die Annahme der Mehrheitsentscheidung erleichtert. 108 Müller (Anm. 157), S. 176 ff. insbes. 180 ff.; Major, Russell J., The Estates General of 1560, Princeton 1951, S. 97 ff., 120. Ders., Representative Institutions i n Renaissance France 1421 - 1559, Madison 1960, S. 23 ff., obwohl die französischen Könige plena potestas für die Vertreter forderten, s. die

I I . Die

64 tretung

eingeleitet,

e c h t e des Mehrheitsprinzips

da E n t s c h e i d u n g e n

gar

nicht

getroffen

werden

k o n n t e n . E r h a l t e n b l i e b die R ü c k b i n d u n g i n W ü r t t e m b e r g 1 6 4 u n d U n g a r n 1 6 5 , w ä h r e n d i n S c h w e d e n d e r S t r e i t u m die A u f t r a g s b i n d u n g i n d e r Weise g e k l ä r t w u r d e , daß i h r f ü h r e n d e r V e r f e c h t e r v e r u r t e i l t w u r d e 1 6 6 . I n der Schweiz167 w a r der „Rapport" föderation,

und

in

den vergleichbaren

auch A u s d r u c k d e r losen K o n Niederlanden

ruggespraak i n ihrer V e r b i n d u n g m i t dem

schwächte

die

Einhelligkeitsgedanken168

d e n Gesamtstaat i m 18. J a h r h u n d e r t 1 6 9 . I n S p a n i e n e r w e i s t sich das verhänigsvolle Zusammenwirken v o n imperativem Mandat u n d stimmigkeitserfordernis

ein weiteres M a l 1 7 0 . Die A b k e h r v o m

EinMehr-

Aufforderung Philipp des Schönen bei der Einberufung der Stände 1302: „plenam et expressam potestatem habentes inter cetera a consulibus et universitatibus predicti audiendi, recipiendi et faciendi omnia et singula, ac consentiendi absque excusatione relationis cuius l i b e t " ; Taylor, Charles Holt, Some new Texts on the Assembly of 1302, Speculum 11 (1936), S. 38 ff. (39); dazu Müller (Anm. 157), S. 180; 1561 gingen die Stände v o n Pontoise ohne Bewilligung der beantragten Gelder auseinander, Major, Russell J., The T h i r d Estate i n the Estates General of Pontoise 1561, Speculum 29 (1954), S. 460 ff. Repräsentative Institutionen w i r k t e n i n Frankreich daher i n erster L i n i e auf regionaler Ebene; dort allerdings entfalteten sie ansehnliche Macht. Dazu jetzt das opus magnum v o n Major, Russell J., Representative Government i n Early Modern France, New Haven u. a. 1980; dort galt auch idR das Mehrheitsprinzip, s. ebd. S. 79, 94, 104, 128, 132. Gerade i n Frankreich wurde dann i m 18. Jh. u m so heftiger das freie Mandat postuliert, w e i l die lokale Bindung den Mehrheitswillen des Parlaments beeinträchtigen könnte, Roels, Jean, Le concept de représentation politique au dixhuitième siècle français (Ancien pays et Assemblées d'Etats vol. X L V ) , Louvain - Paris 1969, S. 126 f.; vgl. besonders Sieyes, Emmanuel Joseph, Politische Schriften 1788 - 1790, Neuwied 1975, S. 29 ff., 225 ff. 164 s. Lehmann, H a r t m u t , Die württembergischen Landstände i m 17. u n d 18. Jahrhundert, i n Gerhard, Ständische Vertretungen (Anm. 145), S. 131 ff. (187). 165 Bonis (Anm. 147), S. 269; das imperative Mandat galt bis 1848. 1ββ I m Jahr 1747 Palme, Sven Ulric, V o m Absolutismus zum Parlamentarismus i n Schweden, i n Gerhard, Ständische Vertretungen (Anm. 145), S. 368 ff. (394 f.). 167 s. Müller (Anm. 157), S. 60 ff. 168 Fockema-Andreae (Anm. 141), S. 16 f. 169 Scheuner (Anm. 1), S. 33 f.; s. auch Müller (Anm. 157), S. 62. Die späteren niederländischen Verfassungen entschieden sich dann alle für das freie Mandat. 170 Die aragonesischen Stände hielten am „dissentimiento" fest, bis P h i lipp I I . 1592 diese Möglichkeit beseitigte, Konopczynski (Anm. 1), S. 126 ff. A l l gemein zu den spanischen Ständen s. Rabe, Horst, Die iberischen Staaten i m 16. u n d 17. Jahrhundert, i m Handbuch der Europäischen Geschichte, hrsg. v . Theodor Schieder, Bd. I I I , Stuttgart 1971, S. 586 ff. (593 ff.). Die allgemeine Schwäche der Cortes i n der spanischen Monarchie nach K a r l V. ist aber v o r allem auf die Niederschlagung der Revolte der communeros 1520 - 22, s. Durant, W i l l , Kulturgeschichte der Menschheit, Bd. 6. Das Zeitalter der Reformation, Bern u. a. 1959, S. 647 ff., Rabe, S. 609 f. u n d 616, zurückzuführen. Insgesamt sollte dennoch die Bedeutung der spanischen Cortes nicht unterschätzt werden, s. jetzt m w N Russell, Representative Government (Anm. 163) S. 192 ff.

I I . Die

e c h t e des Mehrheitsprinzips

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heitsprinzip i n Polen m i t dem Durchbruch z u m l i b e r u m veto w a r dagegen n i c h t a u f a l t e Verfassungsgrundsätze u n d P r i v i l e g i e n z u r ü c k z u führen, sondern w a r Ausdruck i m m e r ungezügelterer P a r t i k u l a r i n t e r essen, die f r e i l i c h i m i m p e r a t i v e n M a n d a t e i n e n geeigneten, w i r k u n g s v o l l e n Hebel der O b s t r u k t i o n besaßen171. Die W i e d e r g e w i n n u n g der H a n d l u n g s f ä h i g k e i t d u r c h die E i n f ü h r u n g des M e h r h e i t s p r i n z i p s u n d des f r e i e n M a n d a t s i n d e r V e r f a s s u n g v o m 3. 5 . 1 7 9 1 1 7 2 k o n n t e die A u f l ö s u n g des p o l n i s c h e n Staates n i c h t m e h r v e r h i n d e r n . F ü r die B e s t e l l u n g d e r ständischen V e r t r e t u n g e n g i l t g e n e r e l l die B e o b a c h t u n g , daß d i e i m Z u s a m m e n h a n g m i t d e r p l e n a potestas i n E n g l a n d so w i r k s a m e F o r m e l „ q u o d omnes s i m i l i t e r t a n g i t , ab o m n i b u s comp r o b e t u r " 1 7 3 i m M i t t e l a l t e r n i c h t d e m o k r a t i s c h , s o n d e r n ständisch v e r s t a n d e n w u r d e 1 7 4 . Das t e i l w e i s e f o r m a l geltende M e h r h e i t s p r i n z i p h a t t e höchstens die i n n e r e T e n d e n z , d e n K r e i s d e r B e t e i l i g t e n auszuw e i t e n 1 7 5 . Diesen B e z u g a u f d i e gesamte B e v ö l k e r u n g b l o c k i e r t e a n d e rerseits w i e d e r die g a n z h e i t l i c h e B e t r a c h t u n g s w e i s e , d i e n u r das V o l k i n seiner ständischen G l i e d e r u n g i n d e n B l i c k b e k a m 1 7 6 u n d f ü r e i n e n 171 Z w a r galt offiziell schon vor dem Präzedenzfall v o n 1652 der Grundsatz der Einstimmigkeit, aber bis dahin hatte sich doch immer auf dem Reichstag die Mehrheit durchsetzen können, Roos, Hans, Ständewesen u n d parlamentarische Verfassung i n Polen (1505 - 1772), i n Gerhard, Ständische Vertretung (Anm. 145), S. 310 ff. (363 ff.); Konopczynski (Anm. 1), S. 153 ff. 172 Dazu Unruh, Georg-Christoph von, Die Polnische K o n s t i t u t i o n v o m 3. 5.1791 i m Rahmen der Verfassungsentwicklung der europäischen Staaten, Der Staat 13 (1974), S. 185 ff., speziell zum Mehrheitsprinzip u n d freien Mandat s. S. 194 f. 173 Die Formel entstammt dem Codex Iustinians (C V, 59, 5 2 ) u n d w i r d v o n Bonifaz V I I I . als Regel 29 i n den Corpus Iuris Canonici übernommen „De regulis iuris" V I 0 , V, 12; zu ihrer grundlegenden Bedeutung für die Begründung ständischer Mitsprache, Post (Anm. 103), S. 163 ff.; dort auch zu dem Zusammenhang m i t der plena potestas (S. 164); zu dieser Formel i m deutschen Bereich s. Bosl, K a r l , Aus den Anfängen der landständischen Bewegung u n d Verfassung, i n Wirtschaft Geschichte Wirtschaftsgeschichte, Festschrift für F. Lütge, Stuttgart 1966, S. 8 ff. (10 ff.). 174 Scheuner, (Anm. 1), S. 29; vor allem Post (Anm. 103), S. 117: "Consent even to taxation was therefore consultative and iudicial, not v o l u n t a r y and democratic"; vgl. auch Vierhaus (Anm. 145), S. 59 f.; gegen eine demokratische Interpretation auch Quaritsch, Helmut, Staat u n d Souveränität, Bd. I : Die Grundlagen, F r a n k f u r t 1970, S. 162 A n m . 504; vgl. als bezeichnendes Beispiel M G H Const I I , Nr. 244, S. 333, Ζ 25 ff., w o die Großen des Reiches v o n Friedrich I I . zum Reichstag gerufen werden, „ u t quod tangit omnes, ab omnibus approbetur". Die Leveller berufen sich darauf allerdings bereits i n einem durchaus demokratischen Sinn, s. Gralher, M a r t i n , Demokratie u n d Repräsentation i n der Englischen Revolution. Studien zur demokratischen Repräsentation i n der Pamphletistik der Leveller i m England des 17. J a h r hunderts, Meisenheim 1973, S. 168; zur Ambivalenz dieser Formel für das Mehrheitsprinzip, die einerseits Mitbestimmung, andererseits aber Einstimmigkeit verlangt, s. Schulze (Anm. 140), S. 163, 169 f. 175 Scheuner (Anm. 1), S. 29. 176 Ebd.; zur korporativen Sicht des Volkes als Gesamtheit, Kielmansegg (Anm. 1), S. 23 f., 90 ff.; Scheuner (Anm. 145), S. 306 ff.

5 Heun

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I I . Die

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demokratischen Bestellungsmodus wenig Raum ließ. Der Adel gehörte den Vertretungen als geborenes Mitglied seines Standes an, und die Zugehörigkeit zur Kurie der Geistlichkeit blieb meist bestimmten Würdenträgern reserviert. Selbst der Dritte Stand war i n seiner Vertretung korporativ auf einzelne Städte oder Städtegruppen beschränkt 177 . Erfolgte tatsächlich die Bestellung der Vertretung durch Wahlen, war der Kreis der Wahlberechtigten sehr eng gezogen 178 . I n England war durch das Statut von 1430 das Wahlrecht den "forty shilling freeholders" zugestanden und festgelegt worden, daß die Vertreter i n den Grafschaften durch Wahlen zu bestimmen waren. Die Repräsentanten gingen dennoch nur selten aus wirklichen Wahlen, contested elections, hervor 1 7 9 , obwohl die Mehrheitsregel als Verfahrensmodus galt 1 8 0 . I n dieser historischen Situation gibt die moderne, naturrechtliche Sozialvertragslehre einen Anstoß zur Erweiterung der Wählerschaft. Nachdem Bodins Souveränitätsbegriff m i t dem dualistischen Herrschaftsverständnis, das Herrscher und Gesamtheit als eigenständige Elemente i n einer Vorstellung vereinte, radikal gebrochen und die Legitimität ausschließlich bei dem fürstlichen Souverän konzentriert hatte 1 8 1 , lag es für die Gegner des fürstlichen Absolutismus bei der vorherrschenden Fixierung auf den Souveränitätsbegriff nahe, diesem 177

Z u m Privilegiencharakter der Stände s. Gerhard (Anm. 145), S. 19 f. Z u m K a m p f der Reichsstädte i m 15. Jh. u m die Anerkennung als Reichsstand s. Isenmann (Anm. 85), S. 9 ff. 178 I n Polen w a r das Verhältnis Wahlberechtigte zur Gesamtbevölkerung relativ günstig, nämlich 1 : 5 ; Roos (Anm. 171), S. 328 f. I n Württemberg bet r u g es 1500 zu 600 000; i n der Schweiz etwa 12 000 zu 1 636 400; Roos (Anm. 171), S. 329 A n m . 46. I n Württemberg w u r d e n die Vertreter der Städte v o n den Stadtmagistraten mehrheitlich gewählt, Lehmann (Anm. 164), S. 187; zu England s. u. 179 Zwischen 1430 u n d 1832 w u r d e n die Repräsentanten vorwiegend aufgrund v o n sog. uncontested elections entsandt, d . h . es gab keinen Gegenkandidaten. Vereinzelt setzte sich diese Praxis bis ins 20. Jh. fort, Edwards, Sir Goronwy, The Emergence of M a j o r i t y Rule i n English Parliamentary Elections, Transactions of the Royal Historical Society, vol. 14 (1964), S. 175 ff. Eine Liste über contested elections i m 17. Jh. findet sich bei Hirst, Derek, The Representative of the People, Cambridge 1975, S. 216 ff. 180 Die Mehrheit wurde grundsätzlich " b y voices, b y hands or such other w a y " ermittelt, obwohl seit 1430 i n Zweifelsfällen die Möglichkeit zu exakter Auszählung bestand. Dem Grundsatz nach w a r die Mehrheitsregel aber w o h l bereits v o r 1430 bekannt; zum Ganzen Edwards (Anm. 179), S. 188 ff. 181 Kielmansegg (Anm. 1), S. 86 ff.; obwohl auch das Mehrheitsprinzip erwähnt, allerdings eben einer nicht imbedingt als ideal betrachteten Staatsform zugeordnet w i r d , Bodin (Anm. 8), I I , c. 7, S. 332, "l'estat populaire est la forme de la Republique, où la plupart du peuple ensemble commande en souveraineté au surplus en n o m collectif". Bodins Gegnerschaft drückt sich auch aus i n V I , c. 4, S. 937 ff.; vgl. auch V , c. 1, S. 664 ff.; dazu Kendali, W i l l moore, John Locke and the Doctrine of M a j o r i t y Rule (Illinois Studies i n the Social Sciences, Vol. 26 No. 2), Urbana 1941, S. 41 f.

I I . Die

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e c h t e des Mehrheitsprinzips

die F o r m e l der V o l k s s o u v e r ä n i t ä t e n t g e g e n z u h a l t e n 1 8 2 . D a n e b e n f ü h r t eine z w e i t e , rechtsstaatliche T r a d i t i o n s l i n i e z u m d e m o k r a t i s c h e n V e r f a s sungsstaat, die eine M ä ß i g u n g d e r S t a a t s g e w a l t d u r c h i h r e Beschränk u n g erreichen w i l l u n d m i t d e m demokratischen Gedanken i m Ansatz schon b e i A l t h u s i u s u n d k l a r h e r v o r t r e t e n d d a n n b e i Locke eine V e r b i n d u n g e i n g e h t . I n e i n e r Übergangsphase f ü h r t e das ö f f e n t l i c h e A u s einanderfallen v o n theoretischem Anspruch u n d historischer

Verfas-

s u n g s w i r k l i c h k e i t z u e i n e r Z w i s c h e n l ö s u n g , i n d e r d i e L e g i t i m i t ä t aus einer i n den U r s p r u n g

verlegten Vereinbarung,

h e r g e l e i t e t w i r d 1 8 3 . D e r e i n s t i m m i g beschlossene

dem

Sozialvertrag,

Gesellschaftsvertrag

l e g t f ü r die Z u k u n f t das M e h r h e i t s p r i n z i p als E n t s c h e i d u n g s r e g e l f e s t 1 8 4 , u m d e r Gesellschaft

als K ö r p e r

Handlungsfähigkeit

zu

verleihen185.

182

Kielmansegg (Anm. 1), S. 89. Kielmansegg (Anm. 1), S. 93; nach Kielmansegg (S. 90 ff.) lassen sich v o m M i t t e l a l t e r zur Neuzeit drei Phasen i n der Beurteilung des Volkes unterscheiden: a) die mittelalterliche Vorstellung v o n der universitas populi als korporative Gesamtheit, b) die Anschauung der Übergangszeit, i n der die vorgefundene Gestalt des Ganzen noch als vorgegebene Ordnung anerkannt w i r d , die grundsätzlich für richtig gehaltene Priorität der individuellen Autonomie aber i n den Ursprungszustand v o n Freiheit u n d Gleichheit verwiesen w i r d , c) die moderne Vorstellung, i n der die Gesamtheit n u r einen sozialen Verband freier u n d gleicher I n d i v i d u e n darstellt. Z u r allmählichen Durchsetzimg des Gedankens der Autonomie des I n d i viduums v o m Sozialvertrag bis zur französischen Revolution s. Kielmansegg (Anm. 1), S. 99 ff. M i t dieser E n t w i c k l u n g korrespondiert die Herausbildung des Gedankens eines individuellen subjektiven Rechtes i n der Naturrechtslehre. Nachdem erstmals ein theologisch begründetes subjektives Recht i m 14./15. Jh. i n die Rechtslehre Aufnahme gefunden hatte, die Renaissance aber dieser Auffassung durch ihre säkularisierenden Tendenzen den Boden e n t zogen hatte, konnte Grotius erneut das subjektive Recht i n die nunmehr rationalistische Naturrechtslehre einführen, obwohl diese Position durch die Möglichkeit des Verzichts geschwächt w u r d e u n d v o m Recht der Gemeinschaft überlagert w a r . Erst Locke b r i n g t dann den Individualrechtsgedanken endgültig zum Durchbruch; s. zum Ganzen das ausgezeichnete Buch Tuck, Richard, Natural Rights Theories, Cambridge 1980, S. 22 ff. Erst danach ist der Gedanke eines Rechts auf individuelle Selbstbestimmung als Grundlage demokratischer Mehrheitsentscheidimg denkbar. Z u m Konzept des Sozialvertrages s. Gough, J. W., The Social Contract, 2 ed. Oxford 1956, verb, reprint 1963. 183

184 Erstmals Grotius, Hugo, De j u r e b e l l i ac pacis l i b r i très, Buch I I , c. 5, § 17; zum Mehrheitsprinzip i n der naturrechtlichen Sozialvertragslehre s. Gierke (Anm. 1), S. 580 ff. m i t Nachweisen weiterer Fundstellen. 185 Locke I I , c. 7, § 96; Hobbes, Elementorum philosophiae, Sectio Tertia „De cive", c. 6, § 1 bis 2, i n Opera Omnia, Opera Latina (Hrsg. W i l l i a m Molesworth) (Nachdruck A a l e n 1961), Vol. I I , S. 157 ff.; Pufendorf, Samuel, De Iure Naturae et Gentium, L i b r i Octo, Buch V I I , c. 5, § 5 u. 6; (ed. Gottfried Mascovius, F r a n k f u r t u . a . 1759) (Nachdruck F r a n k f u r t 1967); vgl. i n diesem Zusammenhang die mittelalterlichen Korporationslehren; zum Mehrheitsprinzip bei Locke Seliger, M a r t i n , The Liberal Politics of J o h n Locke, London 1968, S. 302 ff.



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I I . Die

e c h t e des Mehrheitsprinzips

Hobbes u n d P u f e n d o r f 1 8 6 , selbst Locke d i e n t die M e h r h e i t s e n t s c h e i d u n g n u r dazu, die bestehende O r d n u n g e i n z u r i c h t e n , w o m i t das M e h r h e i t s p r i n z i p i m R a h m e n der S o z i a l v e r t r a g s l e h r e seine A u f g a b e e r f ü l l t h a t . D e r G r u n d s a t z m e h r h e i t l i c h e r E n t s c h e i d u n g u n d d a m i t der

Gedanke

a l l g e m e i n e n Konsenses b l e i b t i n e i n e m f ü r das H e r r s c h a f t s s y s t e m

un-

g e f ä h r l i c h e n , f e r n e n H i n t e r g r u n d 1 8 7 . E r s t Locke s t e u e r t e i n e n f ü r spätere E n t w i c k l u n g b e d e u t s a m e n n e u e n G e s i c h t s p u n k t b e i 1 8 8 , neben der vertraglichen

Vereinbarung

der i n d i v i d u e l l e n

Autonomie

d a d u r c h R e c h n u n g g e t r a g e n w i r d , daß d i e I n d i v i d u a l i n t e r e s s e n , Schutz v o n p r o p e r t y 1 8 9

und liberty,

als Herrschaftszweck

die

indem der

eingesetzt

w e r d e n . A u f diese Weise w i r d i n d e r K o n z e p t i o n Locke's e i n A u s g l e i c h zwischen i n d i v i d u a l i s t i s c h e m u n d k o l l e k t i v e m M o m e n t g e f u n d e n . D e r E i n z e l n e v e r m a g sich n u r i m Staat z u e n t f a l t e n , d e r a l l e i n seine F r e i h e i t sichern k a n n 1 9 0 . 186 Z u m Mehrheitsprinzip bei Pufendorf s. Denzer, Horst, Moralphilosophie u n d Naturrecht bei Samuel Pufendorf (Münchner Studien zur Politik, Bd. 22), München 1972, S. 176 ff.; Welzel, Hans, Die Naturrechtslehre Samuel Pufendorfs, B e r l i n 1958. S. 75 f. 187 Oder w i r d die Demokratie n u r f ü r kleine Stadtstaaten als sinnvoll erachtet, Pufendorf, De Jure Naturae et Gentium, V I I , c. 5, § 22; der Gedanke demokratischer Teilnahme bleibt i n der politischen Theorie dadurch ganz generell lebendig, daß er als Idealmodell kleinerer städtischer Staatswesen figuriert. Die L i n i e zieht sich v o n Bodin über Pufendorf bis zu Rousseau hin. Seine distanzierte Einstellung hindert Pufendorf jedoch nicht, sich eingehend m i t dem Mehrheitsprinzip zu beschäftigen u n d wertvolle Einsichten zu gewinnen. Pufendorf behandelt das Mehrheitsprinzip i n : Elementorum Jurisprudentiae Universalis, L i b r i Duo (Nachdruck Oxford 1931, The Classics of International L a w , No. 15); I , Def. X I I , § 27, De Officio Hominis et Civis I u x t a Legem Naturalem, L i b r i Duo, F r a n k f u r t 1734, I I , c. 6, § 12; De Jure Naturae et Gentium V I I , c. 2, § 8, 14 - 19; V I I , c. 5, § 5 - 7, 22. Bemerkenswert bleibt vor allem seine Ablehnung des numerischen Mehrheitsprinzips i n Fragen theoretischer Wahrheit, Elementorum Jurisprudentia I, Def. X I I , § 27 u n d insbes. De Jure Naturae et G e n t i u m VII,c. 2, § 15. Locke eskamotiert das Problem, indem er einen „tacit consent" bei einem späteren E i n t r i t t i n die Gesellschaft unterstellt. Locke I I , § 119; vgl. auch I I , § 89; I I , § 117 ff., s. dazu Seliger (Anm. 185), S. 219 ff., zum Konzept des tacit consent i m M i t telalter bei Bartolus (1314 - 1357), s. Ullmann (Anm. 82), S. 283. 188 Z u Locke s. Kielmansegg (Anm. 1), S. 139 ff.; gerade dieser Aspekt macht Lockes Modernität aus. 189 Dazu Macpherson, Crawford Β., Die politische Theorie des Besitzindividualismus, F r a n k f u r t / M . 1967, S. 223 ff. (engl. The Political Theory of Possessive Individualism, Oxford 1962, S. 197 ff.); Gough, J. W., J o h n Locke's Political Philosophy, Oxford 1950, corrected reprint 1956, S. 73 ff.; Seliger (Anm. 185), S. 141 ff., 180 ff. 190 Scheuner (Anm. 1), S. 36; Kendall (Anm. 181), S. 66 ff. hat Locke deswegen ausgesprochen kollektivistischer Neigung geziehen, geht darin aber zu weit, w i e Gough (Anm. 189), S. 24 ff. überzeugend darlegt. Darüber hinaus verschwendet Locke keine Gedanken auf eine breitere demokratische T e i l nahme. Seine Feststellung, daß "representation becomes very unequal and disproportionate" ist nicht i n diesem Sinn, sondern v i e l eher korporativ zu verstehen, w i e der Nachsatz "to the reason i t was at first established upon" zeigt. Locke I I , § 157; s. Kielmansegg (Anm. 1), S. 142; Sternberger, Dolf, Replik, PVS 10 (1969), S. 101 ff. (insbes. S. 102 f., wo er darauf hinweist, daß

I I . Die

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e c h t e des Mehrheitsprinzips

A l s R e a l i s a t i o n des theoretischen O r d n u n g s m o d e l l s

des

Sozialver-

trags s t e l l e n sich das M a y f l o w e r - D o k u m e n t 1 9 1 u n d d i e f r ü h e n

politi-

schen Zusammenschlüsse d a r , i n d e n e n das V o l k e r s t m a l s als S u m m e g l e i c h b e r e c h t i g t e r I n d i v i d u e n h a n d e l t e 1 9 2 . V o n diesen U r s p r ü n g e n z i e h t sich eine durchgehende E n t w i c k l u n g s l i n i e b i s z u r d e m o k r a t i s c h e n amerikanischen Verfassung 193. I n a n d e r e r F o r m b e g a n n e n i m M u t t e r l a n d E n g l a n d die e r s t e n B e w e g u n g e n m i t d e m a u f das N a t u r r e c h t g e g r ü n d e t e n

Volkssouveränitäts-

g e d a n k e n E r n s t z u m a c h e n 1 9 4 u n d sich u m d i e E r w e i t e r u n g des W a h l rechts z u b e m ü h e n 1 9 5 . I n d e r englischen R e v o l u t i o n des 17. J a h r h u n d e r t s die Wahlkreise als individuelle Korporationen verstanden werden müssen); anders w o h l Scheuner (Anm. 1), S. 36. Allerdings waren die Leveller bei ihrem Verlangen nach einem allg. Wahlrecht ζ. T. der Auffassung, das Statut von 1430 habe den Verlust ursprünglicher Wahlrechte gebracht, s. Thomas, Keith, The Levellers and the Franchise, i n A y l m e r , G. E. (Hrsg.); The I n t e r regnum, The Quest for Settlement 1646 - 1660, London 1972, S. 57 ff. (64); das dürfte i n dieser F o r m jedoch nicht für Locke gelten. 191 Abgedruckt bei Reibstein, Ernst, Volkssouveränität u n d Freiheitsrechte, Texte u n d Studien zur politischen Theorie des 14. bis 18. Jahrhunderts, 2 Bde., Freiburg u. a. 1972, Bd. I, S. 320 f. 192 Kielmansegg (Anm. 1), S. 112 ff.; wichtig v o r allem die Fundamental Orders of Connecticut v o n 1639 u n d das Government von New Haven 1643; i n Auszügen abgedruckt bei Reibstein (Anm. 191), Bd. I, S. 346 ff. u. 355 ff.; zur Einrichtung v o n Vertretungen für alle freien Bürger s. ebd. S. 355; zu den andersartigen Gründungen der Handelskolonien Kielmansegg (Anm. 1), S. 109 ff. 193 Trotz einer anfangs rückläufigen Entwicklung k a m es i m m e r wieder zu Diskussionen u m die Abgrenzung des Wählerkreises, wobei der Gedanke der Repräsentation eine wesentliche Rolle spielte, s. das vorzügliche Buch v o n Pole (Anm. 159) u n d ders. f The Emergence of the M a j o r i t y Principle i n the American Revolution, i n Etudes sur l'Histoire des Assemblées d'Etats (Traveaux et Recherches de la Faculté de Droit et des Sciences économiques de Paris, Série Sciences Historiques No. 8), Paris 1966, S. 63 ff., dort insbes. zur A b k e h r v o n einer Repräsentation nach Städten (also korporativer Repräsentation) u n d Besitz (Zensus). 194 Z u m Ganzen s. Kielmansegg (Anm. 1), S. 117 ff.; i m Unterschied zu Nordamerika, wo die Bürger v o n der Versammlungsdemokratie zu repräsentativen Vertretungskörpern gelangten, mußten die Leveller eine bereits existierende Repräsentatiwerfassung auf die neue Volkssouveränität gründen, die wiederum auf dem Gedanken einer — naturrechtlich begriffenen — individuellen Autonomie beruhte. Das hieß, das allgemeine Wahlrecht für ein bestehendes, eigentlich ständisch strukturiertes Parlament fordern, Kielmansegg (Anm. 1), S. 130 f. 195 Bereits zu Beginn des 17. Jh. setzte eine forcierte Ausdehnung des Wählerkreises ein, s. Thomas (Anm. 190), S. 62 f. u n d vor allem Hirst (Anm. 179), S. 29 ff., 44 ff.; ein wesentlicher Faktor w a r die starke I n f l a t i o n (S. 30 f.) die die Zensusanforderungen beständig senkte, ein anderer Faktor, daß zunehmend die geforderten Voraussetzungen keine Beachtung fanden (S. 39 ff., 42); teilweise waren die einsetzenden franchise disputes auch eine scharfe Attacke auf die herrschende Oligarchie (S. 56 f.), während die Erweiterung selten i n Bezug zum Repräsentationsgedanken stand (S. 63). I n den verschiedenen Städten w a r die Zusammensetzung der Wählerschaft v ö l l i g uneinheitlich (S. 90 ff.), meistens bildete den Anknüpfungspunkt der status als "free-

70

I I . Die

e c h t e des Mehrheitsprinzips

w u r d e v o n d e n L e v e l l e r n erstmals die F r a g e n a c h d e m

allgemeinen

Wahlrecht, der w i r k l i c h e n Z u s t i m m u n g aller zur Regierung, aufgeworf e n 1 9 6 . I n d e n zeitgenössischen D o k u m e n t e n w i r d das S t i m m r e c h t a l l e n m ä n n l i c h e n Personen außer " s e r v a n t s " u n d U n t e r s t ü t z u n g s e m p f ä n g e r n z u g e s t a n d e n 1 9 7 . D i e R e s t a u r a t i o n s t e l l t noch e i n m a l die a l t e O r d n u n g h e r 1 9 8 . Dieser Rückschlag w i r d

d a n n erst w i e d e r m i t u n d n a c h d e r

R e f o r m v o n 1832, die einerseits noch a l t e n k o r p o r a t i v e n V o r s t e l l u n g e n v e r h a f t e t ist, andererseits die e n d g ü l t i g e D e m o k r a t i s i e r u n g e i n l e i t e t 1 9 9 , m a n " (S. 96, vgl. die Übersicht S. 213 ff. über die Wahlvoraussetzungen); i m m e r h i n k o n n t e n etwa 27 - 40 °/o der männlichen Erwachsenen wählen (S. 105). 196 I n den Putney Debates 1647: " I t h i n k that the poorest he that is i n England h a t h a life to live, as the greatest he; and therefore t r u l y , Sir, I t h i n k it's clear that every m a n that is to live under a government ought first b y his o w n consent to p u t himself under that government", lautet die prägnante Formulierung Oberst Rainboroughs; Woodhouse, A . S. P., P u r i tanism and L i b e r t y Being the A r m y Debates (1647 - 1649) from the Clarke Manuscripts w i t h Supplementary Documents, London 1938 (2. ed. 1950), S. 53. Die Gegenposition, vertreten durch Ireton, w a r der Ansicht, daß n u r G r u n d besitzer unabhängig u n d dem Interesse des Landes verbunden seien, weswegen n u r ihnen ein Stimmrecht gebühre (Woodhouse, S. 54 f., 57 f., 62 f., 70 f., 82); demgegenüber berief Rainborough sich auf das Naturrecht (Woodhouse, S. 55 f.); zu dieser Debatte ausführlich Gralher (Anm. 174), S. 157 ff., insbes. S. 164 ff.; dort auch über eine späte Nachwirkung der omnes t a n g i t Formel (S. 168); Iretons Position fand dann ihren Niederschlag i m I n s t r u ment of Government 1652, A r t X V I I I . Gardiner, S. R., The Constitutional Documents of the P u r i t a n Revolution 1625 - 1660, Oxford, 3. A u f l . 1927, S. 411. 197 s. Cromwell i n Woodhouse (Anm. 196), S. 82 u n d das Agreement of the People v o n 1649: "no servants to, and receiving wages from, any particular person" and " n o t persons receiving alms" Gardiner (Anm. 196), S. 363; der Umfang des Kreises der servants ist umstritten; einerseits werden i h m alle Lohnempfänger zugerechnet, Macpherson (Anm. 189), S. 126 ff. (engl. 107 ff.), andererseits n u r Hausgesinde u n d Lehrlinge als servants betrachtet, Thomas (Anm. 190), S. 70 ff.; ebd. S. 64 ff. kritisch zu Macpherson; entgegen Macpherson hatten w o h l einige Leveller ein auf das Naturrecht gegründetes a l l gemeines Männerwahlrecht i m Sinn, so überzeugend Gralher (Anm. 174), S. 178 ff.; zum T e i l w u r d e n servants u n d Unterstützungsempfänger deswegen als ausgeschlossen betrachtet, da sie nicht frei i m Willen, sondern abhängig v o n i h r e n Arbeitgebern waren, vgl. etwa Petty i n Woodhouse, S. 83; s. Gralher, S. 182 f.; i n diesem P u n k t w i r d die Lösung v o n eigentlich besitzrechtlicher Qualifikation k l a r erkennbar; als " a i m takers" galten u r sprünglich n u r die w i r k l i c h e n "beggars", Thomas, S. 69 f.; h i n u n d wieder konnten aber sogar Almosenempfänger i n der Tat wählen, Thomas, S. 64 f., Hirst (Anm. 179), S. 100 ff. zur Selbständigkeit als Voraussetzung des S t i m m rechts noch bei K a n t , s. Luf, Gerhard, Freiheit u n d Gleichheit, W i e n u . a . 1978, S. 154 ff. 198 s. Ritter (Anm. 159), S. 415 ff.; ebd. S. 416 f. zur Gesamtzahl der Wählerschaft. Als eine Vertretung der Interessen des Landes w u r d e diese Ordnung verteidigt; dazu Pole (Anm. 159), S. 442 ff.; Kluxen, K u r t , Das Problem der politischen Opposition, Freiburg 1956, S. 157 f. 199 Der wesentliche Gehalt der Reform w a r die Auflösung der rotten boroughs zugunsten bevölkerungsreicher Wahlkreise, während die Zensusanforderungen des individuellen Wahlrechts n u r ganz geringfügig gesenkt wurden.

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allmählich überwunden, nachdem gegen Ende des 18. Jahrhunderts erneut die nationale Repräsentation als ungenügend empfunden wurde. Der entscheidende Durchbruch, verfassungsgeschichtlich wie i n der politischen Theorie, w i r d erst i m Verlauf des 18. Jahrhunderts erzielt, wobei der Angriff gegen die bestehende Ordnung von zwei Grundvorstellungen ausgehend vorgetragen wird, vom Gedanken der nationalen Repräsentation, der vor allem mit Sieyes, aber auch m i t Dider o t 2 0 0 , verbunden ist, und dem Konzept der Volkssouveränität, das von Rousseau als Realisierung des Autonomieprinzips radikal bis zum Ende seiner Möglichkeiten getrieben worden ist. Nach Sieyes vertreten die Repräsentanten des Dritten Standes i m Auftrag und per Vollmacht den gesamten Nationalwillen 2 0 1 mit der Folge, daß die Versammlung des Tiers E t a t 2 0 2 bereits die Assemblée Nationale darstellt 2 0 3 , „ w e i l sie von beinahe der Gesamtheit der Nation abgeordnet ist" und „die Repräsentation einheitlich und unteilbar i s t " 2 0 4 . A n die Stelle einer aus drei Ständen zusammengesetzten Versammlung, deren Beschlüsse nur i m gemeinsamen Votum der drei Stände erreicht werden konnten, trat eine Versammlung, die nun i n sich m i t Mehrheit beschloß und den Anspruch erhob, die Vertretung des ganzen Volks zu sein 2 0 5 , und deren Abgeordneten ein freies Mandat 200 Z u r Rolle Diderots bei der E n t w i c k l u n g des modernen Repräsentationsgedankens Schmitt, Eberhard, Repräsentation u n d Revolution (Münchner Studien zur P o l i t i k Bd. 10), München 1969, S. 114 ff. Diderots Vorstellungen bleiben noch dem Gedanken des Gouvernement temperé verhaftet, obgleich er das freie Mandat fordert. Allerdings betrachtet er den Grundbesitz noch als Konstituens des Bürgers, Schmitt, S. 123. 201 Sieyes (Anm. 163), insbes. S. 165 ff., da der D r i t t e nach seiner berühmtesten Schrift, Was ist der D r i t t e Stand?, „Alles" ist, Sieyes, S. 124 f.; zu Sieyes Schmitt (Anm. 200), S. 169 ff.; Roels (Anm. 163), S. 111 ff., Löwenstein, K a r l , V o l k u n d Parlament nach der Staatstheorie der Französischen Nationalversammlung v o n 1789, München 1922 (Neudruck A a l e n 1964), S. 3 ff. 202 Die Z a h l der Mitglieder w a r bereits verdoppelt worden u n d k a m damit der Z a h l der beiden privilegierten Vertreter gleich, was bereits nicht mehr der alten Konzeption ständischer Vertretung entsprach, vgl. Sieyes (Anm. 163), S. 139 ff. 203 am 17.6.1789 die Vertreter des D r i t t e n Standes i n der berühmten, von Sieyes verfaßten Deklaration erklärten. Der W o r t l a u t findet sich i n Sieyes (Anm. 163), S. 237. 204 Ebd.; m i t diesem Gedanken w i r d die Vorstellung einer doppelten Repräsentation, der am Gemeinwohl orientierten repraesentatio i n toto, deren Träger der K ö n i g ist, einerseits u n d der die Einzelinteressen vertretenden repraesentatio singulariter, die v o n den Ständen ausgefüllt w i r d , andererseits überwunden. Die erste F o r m w i r d durch die Nationalrepräsentation absorbiert, während die letztere ersatzlos wegfällt. Das bedeutet insgesamt einen deutlichen Gegensatz zur englischen Auffassung, Schmitt (Anm. 143), S. 529 ff. 205 Scheuner (Anm. 1), S. 39; m i t der Vereinigung aller drei Stände, wozu der K ö n i g am 27.6.1789 aufforderte, erfolgte der Übergang zum V o t u m nach Köpfen, w i e Sieyes bereits i n seiner Schrift über den Tiers Etat gefordert hatte, Sieyes (Anm. 163), S. 144 f.

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anvertraut wurde 2 0 6 . Die Vorstellung eines einheitlichen Nationalwillens 2 0 7 bedeutete zwangsläufig die Anwendung des Mehrheitsgrundsatzes bei der Bestellung der Abgeordneten 2 0 8 . Die unteilbare Nation kann nur i n einem einzigen Wahlakt die gesamte Volksvertretung bestimmen 2 0 9 . Rousseau 210 dient die Idee der Volkssouveränität nicht mehr allein der Legitimierung der Herrschaft i m Sinne einer ursprünglichen Herleitung der Staatsgewalt aus einem Sozialvertrag, sondern bringt dieses dynamische Konzept zu seiner Vollendung, indem dem Volkssouverän auch unmittelbar die Herrschaftsgewalt i n die Hände gelegt und dem Einzelnen ein Recht der individuellen Teilhabe an kollektiven Entscheidungen zuerkannt wird. M i t Nationalrepräsentation und Volkssouveränitätsdoktrin, m i t Sieyes und Rousseau, sind die ideellen Grundlagen des allgemeinen und gleichen Wahlrechts gelegt. Die Folgezeit ist nur noch die Geschichte der praktischen Durchsetzung dieser Gedanken. Andererseits birgt der Contrat Social bereits Gefahren für die A n wendung der Mehrheitsregel. Rousseau legt, ausgehend vom Anspruch individueller Selbstbestimmung 211 , den wichtigsten Legitimitätsgrund für die Mehrheitsentscheidung offen. Aber neben einem willensbestimmten Aspekt, nach dem die Mehrheit, die möglichst zur Einhellig206 Das freie Mandat sollte die Nationalrepräsentation v e r w i r k l i c h e n u n d die Orientierung am Gemeinwohl betonen u n d fördern. Sieyes (Anm. 163), S. 226 f. u n d ermöglicht i m Grunde überhaupt erst die Mehrheitsbildung, Sieyes, S. 29 ff., 225 f.; zur englischen Tradition, wo das freie Mandat durch die Vorstellung eines trust ergänzt w i r d , s. Scheuner (Anm. 1), S. 41 A n m . 144 m w N sowie Tuck (Anm. 183), S. 146 ff., zum trust bei Locke Seliger (Anm. 185), S. 356 ff.; Gough (Anm. 189), S. 136 ff. 207 Dieser Nationalwille ist aber nicht ganzheitlich, korporativ gedacht, sondern stellt die Summe der Einzelwillen dar, Sieyes (Anm. 163), S. 165, 28 f., wobei das Naturrecht die Grundlage bildet, ebd. S. 167; auch die Gleichheit w i r d als konstituierendes Prinzip erkannt, vgl. Sieyes, S. 140, 188, 205 f., 251, 262 u n d Schmitt (Anm. 200), S. 172 ff. 208 s. Sieyes (Anm. 163), S. 28 f., 173, 226 f.; Sieyes h ä l t das Mehrheitsprinzip bereits für „unanfechtbar", Sieyes, S. 183. 209 Einer Gliederung des Staates i n Wahldistrikte steht dies nicht entgegen, Sieyes (Anm. 163), S. 29 f. Repräsentation erweist sich infolge der Größe des Staatswesens als notwendig u n d i n der Ermöglichung einer Arbeitsteilung als sinnvoll, s. Sieyes, S. 165, 207; Schmitt (Anm. 200), S. 190 ff.; Fraenkel, Ernst, Deutschland u n d die westlichen Demokratien, 7. A u f l . Stuttgart u. a. 1979, S. 132; die Vorstellung v o n der F u n k t i o n der Information u n d Ratserteilung der Regierung verdrängt bei Sieyes die andere zweite mögliche Konzeption v o n Repräsentation, nach der die vielfältigen Bedürfnisse u n d Interessen repräsentiert werden sollen, die sich i n England erhalten hat; Schmitt, S. 188 ff., 282 ff.; Roels (Anm. 163), S. 163 ff.; Fraenkel, S. 60; zur Rolle v o n Sieyes i n dieser Hinsicht auch Schmitt (Anm. 143), S. 564 ff. 210 Z u Rousseau s. insbes. Fetscher, Iring, Rousseaus politische Philosophie, Neuwied 1968; Kielmansegg (Anm. 1), S. 148 ff. 211 s. CS I, 7 u. I I I , 1; Roels (Anm. 163), S. 17.

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k e i t t e n d i e r e n s o l l 2 1 2 , die v o l o n t é générale d a r s t e l l t 2 1 3 , u m f a ß t

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s c h i l l e r n d e B e g r i f f eine z w e i t e , r e i n i n h a l t l i c h e , a n e i n e m o b j e k t i v fests t e l l b a r e n A l l g e m e i n w o h l o r i e n t i e r t e B e d e u t u n g 2 1 4 . D a r a u s e r k l ä r t sich das scheinbare P a r a d o x , daß die M e h r h e i t sich ü b e r die r i c h t i g e v o l o n t é générale täuschen k a n n 2 1 5 . D a r ü b e r h i n a u s g e f ä h r d e t die i d e n t i t ä r e V o r s t e l l u n g e i n e r H a r m o n i e z w i s c h e n Gesellschaft u n d I n d i v i d u u m , d e r A u f l ö s u n g des S e l b s t b e s t i m m u n g s r e c h t s

von

i n der Teilhabe an den

p o l i t i s c h e n E n t s c h e i d u n g e n des S t a a t s w e s e n s 2 1 6 die g r u n d l e g e n d e n V o r aussetzungen d e r A n e r k e n n u n g u n d L e g i t i m a t i o n des M e h r h e i t s p r i n zips. K o n s e q u e n t l e h n t Rousseau a l l e i n t e r m e d i ä r e n

Gruppenbildungen

a b 2 1 7 u n d ü b e r s i e h t die E l e m e n t e e i n e r g e m ä ß i g t e n S t a a t s f o r m 2 1 8 . D e n 212 Entgegen Scheuner (Anm. 1), S. 43 w i r d m a n aber nicht sagen können, daß Rousseau für jede Grundentscheidung Einstimmigkeit verlangt. Das g i l t nur für den Abschluß des Gesellschaftsvertrages u n d ist insoweit eher ein Relikt der allgemeinen Sozialvertragslehre; nach CS I V , 2 stellt sich n u r der Gemeinwille desto eher ein, j e mehr die Mehrheit zur E i n m ü t i g k e i t v o r dringt. Z u r E i n m ü t i g k e i t bei Rousseau s. auch Leclercq, Claude, Le principe de la majorité, Paris 1971, S. 61 f.; Favre, Pierre, Unanimité et majorité dans le Contrat Social de Jean-Jacques Rousseau, Revue du D r o i t public et de la Science politique en France et à l'étranger 92 (1976), S. 111 ff. (132 ff.). 213 CS I V , 2. 214 Kielmansegg (Anm. 1), S. 152 f.; CS I V , 1: Das allgemeine W o h l t r i t t k l a r hervor und es bedarf n u r gesunder Vernunft, u m es wahrzunehmen; CS I I , 3. Der allgemeine W i l l e zielt auf das gemeinsame Interesse, zur volonté générale s. auch Roels (Anm. 163), S. 24 ff. 215 CS I I , 3: Die beiden entgegengesetzten Begriffe volonté générale u n d volonté de tous markieren den Unterschied. Die möglichen totalitären K o n sequenzen hat Talmon, J. L., Die Ursprünge der totalitären Demokratie, K ö l n u. a. 1961, S. 36 ff. i n manchem allerdings überspitzt herausgearbeitet. Fetscher hat, ohne sich direkt m i t Talmon auseinanderzusetzen, versucht, dieser Argumentation die Spitze zu nehmen, indem er die volonté générale zum normativen Begriff erhebt (Fetscher (Anm. 210), S. 120) u n d darauf h i n gewiesen hat, daß Rousseau das Funktionieren einer Demokratie an genau beschriebene soziale Voraussetzungen gebunden hat (S. 124); vgl. CS I I I , 4; das ist zwar richtig, ändert aber nichts an den dieser Konzeption eigenen Gefahren, da M i n o r i t ä t e n versucht sind, ihre Anschauung für das Allgemeinw o h l auszugeben. Es genügt auf Robespierre u n d das Erkenntnismonopol der kommunistischen Partei hinzuweisen. Rousseaus Konzeption selbst ist nicht i m eigentlichen Sinne totalitär, ihre Zweideutigkeit steht aber totalitären Konsequenzen w e i t h i n offen. F ü r die moderne, differenzierte Gesellschaft ist der Ausgangspunkt eines extrem homogenen Gemeinwesens zudem v ö l l i g unzulänglich. Fraenkel, Ernst, Möglichkeiten u n d Grenzen politischer M i t arbeit der Bürger i n einer modernen parlamentarischen Demokratie, Aus P o l i t i k u n d Zeitgeschichte Β 14/1966, S. 6 u n d fordert dazu heraus, eine derartige U n i f o r m i t ä t m i t Gewalt herzustellen. 216 CS I I , 4; ein Schutzbedürfnis des Bürgers v o r A k t e n politischer H e r r schaft existiert bei Rousseau i m Gegensatz zu Locke nicht. 217 CS I I I , 15; I V , 1; die volonté générale verliere ihre natürliche Richtigkeit, sowie sie sich auf partikulare Gegenstände beziehe, u n d sei einer V e r tretung nicht zugänglich. CS I I I , 4; vgl. dazu etwa die frühere Vorstellung v o n der Notwendigkeit politischer Einheit bei Bodin (Anm. 8), V , c. 7, S. 655: „Or en matière de séditions et tumultes, i l n'y a de plus dangereux que les subiects soyent divisés en deux opinions, soit pour l'estat soit pour la r e l i -

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Gefahren unbeschränkter Mehrheitsherrschaft

widmen

demgegenüber

d e r F e d e r a l i s t 2 1 9 u n d T o c q u e v i l l e 2 2 0 i h r e besondere A u f m e r k s a m k e i t u n d versuchen einer T y r a n n e i der M e h r h e i t m i t H i l f e der Gewaltenteilung v o r z u b e u g e n 2 2 1 , u m e i n e n A u s g l e i c h zwischen Gemeinschafts- u n d I n dividualinteressen, zwischen Freiheit u n d Gleichheit herzustellen. I n d e r Folge setzt sich v o r e r s t das a l l g e m e i n e M ä n n e r w a h l r e c h t n u r z ö g e r n d d u r c h 2 2 2 . Das herrschende B ü r g e r t u m v e r s t e h t es, das W a h l recht d a d u r c h z u begrenzen, daß es a n eine B e s i t z q u a l i f i k a t i o n g e k n ü p f t w i r d , die erst a l l m ä h l i c h abgebaut w i r d 2 2 3 . V e r s c h i e d e n t l i c h w i r d v o r gion, soit pour les l o i x et coustumes"; zur F i k t i o n einer einheitlichen Wählerschaft u n d Einheit v o n Partei u n d V o l k i n Deutschland v o r allem i n B e r l i n nach 1848: Nipperdey, Thomas, Die Organisation der bürgerlichen Parteien i n Deutschland v o r 1918, H Z 185 (1958), S. 550 ff. (555). Rousseau lehnt das Repräsentativprinzip deshalb v ö l l i g ab, s. CS I I I , 15; dazu s. Derathé, Robert, Jean Jacques Rousseau et la science politique de son temps, Paris 1950, S. 267 ff., zum Maß der erforderlichen Homogenität s. allerdings unten. 218 Gewaltenteilung u n d auch freies Mandat; soweit i n größeren Gemeinwesen eine Vertretung unumgänglich ist, befürwortet Rousseau jedenfalls das imperative Mandat, Consideration sur le gouvernement de Pologne, c. V I I ; dazu Roels (Anm. 163), S. 46 ff.; Derathé (Anm. 217), S. 278 ff. 219 s. The Federalist Nr. 10, 47, 48, 49; i n den letzten drei Briefen meint Mehrheit allerdings n u r die Mehrheit i n der Legislative (dt. Ausgabe hrsg. v. Felix v. Ermacora, W i e n 1954). 220 Tocqueville , A l e x i s de, Über die Demokratie i n A m e r i k a (Stuttgart 1959 (2 Bde.) und), München 1976, S. 284 ff. 221 T h e Federalist Nr. 47, 48, 49 u n d Tocqueville (Anm. 220), S. 302 ff. 222 A u f Staatsebene zuerst i n Frankreich (1848) u n d i n Deutschland auf Reichsebene: Bereits die Wahlen zur Frankfurter Nationalversammlung (1848) können weitgehend beanspruchen, allgemeine u n d gleiche Wahlen gewesen zu sein. A l l e i n das K r i t e r i u m der Selbständigkeit bedeutete eine Einschränkung des Allgemeinheitsgrundsatzes, der n u r i n Bayern ziemlich r e s t r i k t i v ausgelegt wurde (direkte Staatssteuer), während zumeist bloß die Fürsorgeempfänger ausgeschlossen waren; zu diesen Wahlen s. Hamerow, Theodore S., Die Wahlen zum Frankfurter Parlament, i n Böckenförde, Ernst Wolfgang (Hrsg.), Moderne deutsche Verfassungsgeschichte (1815 - 1918), K ö l n 1972, S. 215 ff. Dem Reichswahlgesetz v o m 14.4.1849 blieb die A n w e n d u n g aber versagt. Erst das Wahlgesetz v. 31.5.1869 u n d A r t . 21 der norddeutschen Bundesverfassung w i e A r t . 20 der Verfassung v o n 1871 u n d das Reichswahlgesetz v o m 28.5.1870 führen endgültig das allgemeine Männerwahlrecht ein; der Grundsatz der Gleichheit unterliegt infolge der Wahlkreiseinteilung allerdings bis 1918 teilweise recht starken Einschränkungen, die vor allem die Sozialdemokraten treffen. Z u r deutschen E n t w i c k l u n g s. Vogel, Bernhard / Nohlen f Dieter / Schultze, Rainer-Olaf, Wahlen i n Deutschland, Theorie-Geschichte-Dokumente 1818 - 1970, B e r l i n u. a. 1971, Eine Übersicht über die Einführung des allgemeinen Männerwahlrechts i n Europa bei Nohlen f Dieter, Wahlsysteme der Welt, München 1978, S. 37. I n den USA u n d der Schweiz setzt i n den Einzelstaaten bzw. Kantonen das allgemeine Männerwahlrecht bereits früher ein. 223 F ü r den deutschen Vormärz gilt, daß die landständische Repräsentation sich noch i m allgemeinen durch eine Orientierung an altständischen Vorstellungen auszeichnet, indem auch der Bestellungsmodus meist auf i n sich geschlossene Korporationen f i x i e r t ist, obgleich grundsätzlich bereits eine Gesamtrepräsentation postuliert w i r d , die allerdings gleichzeitig v o m monar-

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der Einführung des allgemeinen und gleichen Wahlrechts als Übergangslösung noch eine Stimmenwägung vorgenommen oder ein Pluralwahlrecht verliehen 2 2 4 . Meist gewinnt das Mehrheitsprinzip auch zuerst i n den Repräsentativkörperschaften durch den Parlamentarisierungsprozeß größere Bedeutung 2 2 5 . Die Einführung des Frauenwahlrechts bleibt dagegen sogar dem 20. Jahrhundert vorbehalten 2 2 6 . Trotz des Kampfes um die Erweiterung des Wahlrechts ist die Geltung des Mehrheitschischen Prinzip überlagert w i r d . Die K a m m e r n sind deshalb v o n einer V i e l zahl v o n Sonderrepräsentationen gekennzeichnet, u n d dementsprechend v i e l fältig sind die Wahlvoraussetzungen; zu der Repräsentationsvorstellung u n d zum monarchischen Prinzip Ehrle, Peter Michael, Volksvertretung i m Vormärz, F r a n k f u r t u. a. 1978, Bd. I, S. 229 ff., 283 ff. Der Begriff der Staatspersönlichkeit half dem monarchischen Prinzip weitgehend den Gedanken der Volkssouveränität zurückzudrängen, Scheuner (Anm. 145), insbes. S. 330 ff. Z u den einzelnen W a h lVoraussetzungen, die sich an den verschiedenen Sonderrepräsentationen ausrichten Ehrle, Bd. I I , S. 495 ff.; speziell zum Zensus ebd. S. 674 ff.; zum Zensus s. auch Schneider, Franz, Der W a h l zensus i n rechtsgeschichtlicher u n d rechtsvergleichender Betrachtung, AöR 26 (1910), S. 193 ff. (auch als Dissertation, Würzburg 1910). I n den Ländern bleibt i m Gegensatz zum Reich, zumindest was den Gleichheitsgrundsatz bei W a h len angeht, ein Zensus meist erhalten, w o f ü r das bis 1918 geltende Preußische Dreiklassenwahlrecht das bedeutendste Beispiel bildet, s. die Übersicht bei Schneider, S. 252 f. Eine theoretische Untermauerung der Identifizierung v o n bourgeois u n d citoyen lieferte die Idee der F ü h r u n g durch eine herausragende Elite; vgl. etwa die liberale Staatslehre, Bluntschli, Johann Caspar, Allgemeine Staatslehre, Stuttgart 1886, 6. A u f l . Bd. I, S. 551 ff.; s. Ehrle I I , S. 693 ff.; vgl. auch Bagehot, Walter, Die Englische Verfassung (The English Constitution, 1867), Neuwied 1971, S. 230; dagegen sprach sich allerdings Mill, John Stuart, Considerations on Representative Government (1861), dt. Betrachtungen über die repräsentative Demokratie, Paderborn 1971, S. 151 f. aus, der für eine Gewichtung der Stimmen nach dem Bildungsgrad eintrat, ebd. S. 150 ff. Die größte Beschränkung i n Zahlen der Bevölkerung enthielt jedoch das Wahlalter v o n 25 Jahren, s. Ehrle I I , S. 768 f. Dem Gedanken einer Führungselite diente auch die Forderung nach dem freien Mandat, s. Fraenkel (Anm. 209), S. 132 f.; Roels (Anm. 163), S. 127 ff.; vgl. auch Sieyes (Anm. 163), S. 251. 224 V o r allem Belgien bevorzugte diese Lösung; allgemein siehe Jellinek, Georg, Das Pluralwahlrecht u n d seine Wirkungen, Jahrbuch der Gehe-Stift u n g 1904/1905, Dresden 1905, S. 103 ff. 225 I n den meisten Ländern w u r d e das parlamentarische Regierungssystem v o r der Demokratisierung der Wahlen eingeführt, während i n der deutschen Entwicklung die Parlamentarisierung der Demokratisierung nachfolgt, was i m G r u n d einen Legitimitätsüberschuß eines machtlosen Parlaments beinhaltete. Z u r zeitlichen Abfolge s. die Tabelle i n Nohlen (Anm. 222), S. 36; gener e l l zum Parlamentarisierungsprozeß Beyme, Klaus von, Die parlamentarischen Regierungssysteme i n Europa, München 1972; Brunner, Georg, V e r gleichende Regierungslehre, Bd. 1, Paderborn u. a. 1979, S. 108 ff. H i e r i n hat auch die „Verspätung" des deutschen Verfassungsstaates i h r e n Grund; s. dazu Kielmansegg, Peter Graf, Die Verspätung des freiheitlichen Verfassungsstaates i n Deutschland, M e r k u r 33 (1979), S. 111 ff. 226 Meist nach dem 1. Weltkrieg, i n der Schweiz auf Bundesebene! sogar erst 1971, s. die Tabelle Nohlen (Anm. 222), S. 37, während i n den Kantonen der Prozeß der Durchsetzung v o n 1959 - 1972 verläuft; bereits Mill (Anm. 223) t r i t t dafür ein, S. 157 ff.

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prinzips weithin unangefochten 227 . Dementsprechend spärlich sind die grundsätzlichen Auseinandersetzungen; nur Bentham 2 2 8 , M i l l 2 2 9 und Lewis 2 3 0 sind zu nennen, obgleich das Spezialproblem des paradox of voting die mathematische Logik nicht ruhen läßt 2 3 1 . Ein entscheidender Gegner demokratischer Mehrheitsentscheidungen erwächst i m Verlauf des 19. Jahrhunderts i n den marxistischen Denkströmungen und erreicht i m Leninismus seine schärfste Ausprägung 2 3 2 . 227 I n A n k n ü p f u n g an alte Sozialvertragsvorstellungen fordert Fichte, Johann Gottlieb, Grundlage des Naturrechts nach Prinzipien der Wissenschaftslehre (1796), Meiners Philosophische Bibliothek, Bd. 256, Hamburg 1960, weitgehend Einstimmigkeit: grundsätzlich für den Staatsvertrag oder Konstitution, S. 16, 162, 175; generell ablehnend gegenüber Mehrheitsprinzip S. 176 f.; vgl. aber auch S. 159; er bekundet auch seine allgemeine Abneigung gegen unmittelbare Demokratie (S. 13, 15 f., 155 ff.), positiver gegenüber repräsentativer Demokratie (S. 160); eine vorsichtige Zurückhaltung verrät auch die aus dem gleichen Jahr stammende Schrift v o n Schlegel, Friedrich, Versuch über den Begriff des Republikanismus (1796), Werke Bd. V I I , M ü n chen 1966, S. 11 ff. (12, 19); ablehnend dagegen auch Novalis (Friedrich v o n Hardenberg), Vermischte Bemerkungen (1797/98), in: Werke, Tagebücher u n d Briefe, 2 Bde., München 1978, Bd. I I , S. 280; u n d Politische Aphorismen (1798), i n Werke, Bd. I I , S. 308. 228 Bentham, Jeremy i n seinem Essay on Political Tactics c. 23 ff.; frz. i n Oeuvres, 3. ed. Brüssel 1840, Bd. I, S. 343 ff. (395 ff.) konzentriert sich mehr auf das rein verfahrenstechnische. 229 Mill (Anm. 223), erkennt die Gleichheit als K e r n des Mehrheitsprinzips, S. 121 ff. u n d t r i t t deswegen für das Proportionalwahlrecht, S. 126 ff. u n d eine Ausdehnung des Wahlrechts ein, S. 143 ff. 230 Lewis, Sir George Cornewall, A n Essay on the Influence of A u t h o r i t y i n Matters of Opinion, London 1849, c. V I I , S. 191 ff. 281 Seit Condorcet beschäftigen sich i m m e r wieder vereinzelt Mathematiker damit, dazu s. u n t e n V, 1. 232 Einerseits durch die Lehre v o n der Klassenherrschaft u n d der D i k t a t u r des Proletariats, weswegen die bürgerliche Demokratie als formalistisch abgetan w i r d ; andererseits w i r d trotz offizieller Befürwortung innerparteilicher Demokratie i m internen Briefwechsel die Mehrheit der Parteimitglieder abfällig beurteilt, s. Leonhard, Wolf gang, Sowjetideologie heute, Bd. I I : Die politischen Lehren, F r a n k f u r t / M . 1962, S. 34 f. Lenins demokratischer Zentralismus u n d das Führungsmonopol der Partei verschärfen diese Theorie. Die Abneigung Lenins gegenüber demokratischen Mehrheiten k o m m t i n seinem W e r k häufig zum Ausdruck, besonders deutlich i n einem Brief an das Z K i m September 1917: „Die demokratische Beratung v e r t r i t t nicht die M e h r heit des revolutionären Volkes, sondern n u r die paktiererischen kleinbürgerlichen Spitzen . . . , nicht auf die Wahlen k o m m t es an". Entscheidend „sind die objektiven Tatsachen über die Mehrheit der revolutionären Elemente, die die Massen führen", Ausgewählte Werke i n drei Bänden, 8. A u f l . B e r l i n (Ost) 1970 (Nachdruck 1979), Bd. I I , S. 421 u n d „Es wäre naiv, eine »formelle' Mehrheit der Bolschewiki abzuwarten. Keine Revolution wartet darauf", ebd. Bd. I I , S. 422; k l a r u n d eindeutig i n dieser Hinsicht ist auch Lenins Auseinandersetzung m i t dem Revisionismus i n der Schrift „Die proletarische Revolution u n d der Renegat Kautsky" aus dem Jahr 1918, s. dort das Z i t a t : „ U n d bei einer solchen Lage der Dinge . . . , v o n Mehrheit u n d Minderheit, v o n reiner Demokratie, . . . zu reden, zu behaupten, die D i k t a t u r sei nicht n ö t i g — welch bodenlose Borniertheit, welcher A b g r u n d v o n Philistertum gehört dazu!", Werke, Bd. I I I , S. 97. Vgl. i m übrigen auch Werke, Bd. I I ,

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Weitgehend i n dieser Tradition bewegen sich Geschichte und Konzeption der Rätedemokratie 233 . Während aber die historischen Rätebewegungen seit der Pariser Kommune i m Jahre 1871 aus den verschiedensten historischen wie systembedingten Gründen innerhalb kurzer Zeit gescheitert sind 2 3 4 , hat das Modell einer Rätedemokratie aller Erfahrung S. 519, 466, 328 f.; sowie Lenin, Werke, Bd. 30, B e r l i n (Ost) 1961, S. 263. Vgl. außerdem noch Stalin, Josef, Fragen des Leninismus, Moskau 1947 (Nachdruck B e r l i n (West) 1970), S. 43 ff. Diese Auffassung beruht auch heute noch auf der Annahme eines o b j e k t i v determinierten Verlaufs der Geschichte, der v o n der Partei erkannt w i r d . A k k l a m a t i o n ist dann die notwendige Folge, s. dazu Sternberger, Dolf, G r u n d u n d A b g r u n d der Macht, F r a n k f u r t 1962, S. 81 ff., 118 ff., 149 ff. Noch deutlicher Vyshinskij, A n d r e i j Jannarievic, The L a w of the Soviet State, New Y o r k 1951, der postuliert, daß die Regierung nie gegen den W i l l e n u n d die Interessen der Mehrheit geht, gleichzeitig aber feststellt: "the w i l l of the w o r k e r class and peasantry . . . is the w i l l of the entire Soviet people. Speaking of w i l l i n the social or political sense, we have i n v i e w neither the mechanical sum total of w i l l s of separate persons, we have i n m i n d the w i l l of social classes." S. 171 f. Es ist nicht verwunderlich, daß die heutige Führung die Mehrheit für einen „politischen" u n d nicht einen „arithmetischen Begriff" hält, K . Zarodov, i n Pravda v. 6. 8.1975. F ü r die heutige orthodoxe Auffassung s. auch Graf, Herbert / Seiler, Günther, W. I. L e n i n zur F u n k t i o n der Wahlen u n d des Wahlrechts i m Klassenkampf u n d beim Aufbau der sozialistischen Gesellschaftsordnung, StuR 70, S. 324 ff. 233 Das liegt nicht zuletzt an der Zustimmung v o n K a r l M a r x i n seinem „Bürgerkrieg i n Frankreich" zu dem Modell der Pariser Kommune u n d der aus der Situation geborenen Übernahme u n d Umformung dieser Vorstellungen durch Lenin i m Jahr 1917; s. dazu Anw eiler, Oskar, Die Rätebewegung i n Rußland 1905 - 1921, Studien zur Geschichte Osteuropas, Bd. V, Leiden 1958, S. 14 ff., 188 ff. 234 Z u r Pariser Kommune s. n u r Swoboda, H e l m u t (Hrsg.). Die Pariser Kommune 1871, München 1971; bedeutsam ist danach v o r allem die Rätebewegung i n Rußland, die i n den Revolutionen v o n 1905 u n d 1917 hervortrat u n d durch Lenin's Formel „ A l l e Macht den Räten" ihre weitreichende W i r k u n g gewann; dazu v o r allem Anweiler, Rätebewegung (Anm. 233), S. 25 ff., 119 ff.; zur obigen Losung S. 202 ff. Das russische V o r b i l d w i r k t e stark auf die deutsche Entwicklung i n der Novemberrevolution ein, s. Kolb, Eberhard, Die Arbeiterräte i n der deutschen I n n e n p o l i t i k 1918/19, Düsseldorf 1962, S. 56 ff.; hier entstand eine breite Rätebewegung (dazu allgemein vor allem das Buch von Kolb), die v o r allem i n Bremen (dazu Kuckuk, Peter (Hrsg.), Revolution und Räterepublik i n Bremen, F r a n k f u r t 1969, Kolb, S. 329 ff., 339 ff.) u n d i n München (dazu Mitchell, A l l a n , Revolution i n Bayern. Die Eisnerregierung u n d die Räterepublik, München 1967, S. 267 ff.; s. auch S. 126 ff.; Kolb, S. 331 ff., 347 ff.) zur Ausrufung v o n Räterepubliken führte. Daneben sind die Räte i n den ungarischen Revolutionen v o n 1919 u n d 1956 (zu den Räten von 1956 s. Anweiler, Oskar, Die Räte i n der ungarischen Revolution, Osteuropa 8 (1958), S. 393 ff.) sowie die Arbeiterräte i n Polen v o n 1956 (dazu Anweiler, Oskar, Die Arbeiterselbstverwaltung i n Polen, Osteuropa 8 (1958), S. 224 ff.) zu erwähnen. Die Revolutionskomitees i n der chinesischen K u l t u r r e v o l u t i o n (dazu Weggel, Oskar, Räte i n der Volksrepublik China, i n Bermbach, Udo, Theorie u n d Praxis der direkten Demokratie, Opladen 1973, S. 256 ff.) bieten ein dagegen eher diffuses B i l d eines improvisierten Aktionszentrums i m Rahmen der Partei zur Revolutionierung der Gesellschaft. Einzig das Selbstverwaltungsmodell i n Jugoslawien hat Dauerhaftigkeit gewonnen, allerdings u m den Preis, daß es v o n den hierarchischen u n d zentralistischen Strukturen der Kommunistischen Partei v ö l l i g überformt w i r d , s. dazu i n s t r u k t i v Furtak, Robert K., Jugoslawien P o l i t i k

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zum Trotz einen bis heute lebendigen Widerhall gefunden und ist insoweit zum ständigen Widerpart repräsentativer Demokratien avanciert 2 3 5 . Dagegen sind Faschismus und Nationalsozialismus, die mit ihren A k t e n der A k k l a m a t i o n 2 3 6 einen Rückfall i n archaische Abstimmungsformen darstellten 2 3 7 , ein überwundenes, durch die Geschichte völlig desavouiertes Zwischenspiel geblieben. Gesellschaft Wirtschaft, Hamburg 1975, S. 29 ff., 60 ff., 80 ff. A l l e n anderen Räten w a r ein starker, aus der Krisensituation geborener Improvisationscharakter zu eigen, vgl. v o r allem Kolb, S. 83 ff., insbes. 85; Auweiler, Ungarn, S. 395; Weggel, S. 260; neben anderen historischen Widerständen scheiterten die Räte v o r allem an drei strukturbedingten Problemen, die sich m i t den drei Stichworten Zentralismus, Bürokratie u n d Parteien erfassen lassen, s. Lösche, Peter, Rätesysteme i m historischen Vergleich, PVS-Sonderheft 2 „Probleme der Demokratie heute", Opladen 1971, S. 70 ff. (76 ff.); Bermbach, Udo, Das Scheitern des Rätesystems u n d der Demokratisierung der Demok r a t i e 1918/19, PVS 8 (1967), S. 445 ff. (450 ff.); Ritter, Gerhard Α., Direkte Demokratie u n d Rätewesen i n Geschichte u n d Theorie, i n Scheuch, E r w i n K., Die Wiedertäufer der Wohlstandsgesellschaft, K ö l n 2. A u f l . 1968, S. 215 ff. (237 ff.). Die vielstufige Gliederung, die daraus resultierende Unbeweglichkeit u n d die Notwendigkeit ständiger fachlicher Verwaltungstätigkeit ließ sehr schnell entweder eine eigene Exekutivspitze m i t einem bürokratischen Apparat als Unterbau sich bilden, s. Auweiler, Rätebewegung i n Rußland (Anm. 233), S. 131 ff. oder andere Institutionen i m Verein m i t traditionellen Mächten u n d Organisationen das Übergewicht gewinnen, wie das Beispiel des Rates der Volksbeauftragten i n der deutschen Revolution v o n 1918/19 demonstriert; s. Kolb, S. 114 ff. zum Verhältnis gegenüber dem Vollzugsrat, S. 244 ff. zum späteren Verhältnis gegenüber dem Zentralrat. Auch das Ziel der Überparteilichkeit ließ sich nicht erreichen, die Räte spalteten sich i n verschiedene Fraktionen, s. Bermbach, S. 450 f., Lösche, S. 78. 235 s. etwa den Materialienband Bermbach, Udo (Hrsg.), Theorie u n d Praxis der direkten Demokratie, Opladen 1973, sowie die Beiträge i n PVS-Sonderheft 2 „Probleme der Demokratie heute", Opladen 1971, S. 53 ff.; ein Blick auf die Elemente der Rätedemokratie (vgl. zusammenfassend die Einleitung des Herausgebers Bermbach, S. 13 ff. (19 ff.) zeigt deutlich die Unvereinbarkeit m i t dem demokratischen Repräsentativsystem; so auch Bermbach (Anm. 234), S. 456; die aus den Elementen des imperativen Mandats, der Überparteilichkeit, dem Erfordernis ständigen Engagements, dessen Mangel schnell die Herrschaft einer bürokratischen Spitze herbeiführt (s. Bermbach (Anm. 234), S. 453 ff.) u n d der monistischen Konzeption folgt. 238 Die Ablehnung des Mehrheitsprinzips k o m m t bei H i t l e r deutlich zum Ausdruck, Hitler, Adolf, M e i n Kampf, 621 - 625 Aufl., München 1941, S. 501 ff., 661 f.; nach der Auffassung des führenden Lehrbuchs des Verfassungsrechts des D r i t t e n Reichs w i r d die objektive Gemeinwohlidee unabhängig v o n subjektiver W i l l k ü r v o m F ü h r e r w i l l e n gefunden. Huber, Ernst R., Verfassungsrecht des Großdeutschen Reiches, 2. Aufl., Hamburg 1939, S. 194 ff., s. dazu Stolleis, Michael, Gemeinwohlformeln i m nationalsozialistischen Recht, B e r l i n 1974, S. 220 ff. Die Zustimmung der Mehrheit w i r d daher entbehrlich u n d k a n n sich höchstens i n Formen der A k k l a m a t i o n äußern. Obwohl Huber sich v o n Rousseaus Konzeption der volonté générale ausdrücklich distanziert, ist die Ähnlichkeit unverkennbar u n d läßt die totalitären Konsequenzen dieser Vorstellung hervortreten; vgl. i n diesem Zusammenhang auch Jung, Edgar J., Die Herrschaft der Minderwertigen, 2. Aufl., B e r l i n 1930, S. 225. 237 E i n solcher Rückfall ist leicht möglich, w e i l der Abstand zwischen demokratischer Mehrheitsentscheidung u n d bestätigender A k k l a m a t i o n nach aller historischer Erfahrimg äußerst schmal ist.

I I I . Die Rechtfertigung des Mehrheitsprinzips in der Demokratie A u f den ersten Blick bedarf der Gedanke, daß die Mehrheit der Bürger entscheiden soll, keiner irgendwie gearteten Rechtfertigung. Numerische Evidenz und faktische Gewohnheit haben die Geltung des Mehrheitsgrundsatzes zur Selbstverständlichkeit, die der kritischen Überprüfung enthoben ist, erstarken lassen 1 . Anders formuliert: „Die Frage nach dem Grund des Mehrheitsprinzips scheint abgeschnitten durch die Gegenfrage: „Was sonst?" 2 ." Dennoch bezeugt die Vielfalt der Antworten eher das Gegenteil 3 . Die Rechtfertigung des Mehrheitsprinzips w i r d sich dabei i n erster Linie auf die Begründung der Verbindlichkeit der Mehrheitsentscheidung, insbesondere der unterlegenen Minderheit gegenüber, zu konzentrieren haben. Eine unmittelbar eingängige, wenn auch nicht der Schlichtheit entbehrende Überlegung hält sich an die zahlenmäßige Übermacht, die blanke physische Überlegenheit der Mehrzahl über die Minderheit. Der größeren Anzahl gebührt die größere Macht. "The Body should move that way wither the greater force carries it, which is the consent of the majority" 4 . Das mag als historische Erklärung einer Ursache der Durch1 Mayo, Henry B., A n Introduction to Democratic Theory, New Y o r k 1960, S. 179, klassifiziert dies sogar als besonderen Rechtfertigungsgrund der Mehrheitsentscheidung. 2 Varain, Heinz Josef, Die Bedeutung des Mehrheitsprinzips i m Rahmen unserer politischen Ordnung, ZfP 11 (1964), S. 239 ff. (239); vgl. auch Mayo (Anm. 1), S. 179; Trendelenburg , Adolf, Uber die Methode bei Abstimmungen, Kleine Schriften, 2. Teil, Leipzig 1871, S. 24 ff. (24); Stawski, Joseph, Le principe de la m a j o r i t é son histoire, son fondement et les limites de son application, Gedani 1920, S. 93 ff. Es sei hier darauf hingewiesen, daß häufig der bedeutsame Unterschied zwischen Gründen der Rechtfertigung des M e h r heitsprinzips u n d den Voraussetzungen seiner Anerkennung (dazu unter V) nicht vollzogen w i r d . 3 I n grober Einteilung w i r d m a n 10 Auffassungen m i t zahlreichen Nuancen unterscheiden können. 4 Locke, John, T w o treatises of Government I I , § 96; dazu vgl. Seliger, M a r t i n , The Liberal Politics of John Locke, London 1968, S. 303 ff. Noch die Formulierung i n Bryce, James, Modern Democracies, New Y o r k 1921 / L o n don 1923, Bd. I, S. 26 (dt. Moderne Demokratien, München 1923, Bd. I, S. 22 f.) weckt die Erinnerung an Locke's Gedanken: " . . . m a j o r i t y . . . rules, so t h a t the physical force of the citizens coincides (broadly speaking) w i t h t h e i r v o t i n g power". Ins Positive gewendet: " W e count heads instead of breaking them". Barker , Ernest, Reflections on Government, London 1942 (Nachdruck New Y o r k 1958), S. 35; vgl. zu dieser Rechtfertigung auch Stawski (Anm. 2),

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I I I . Die Rechtfertigung des Mehrheitsprinzips

setzung des M e h r h e i t s p r i n z i p s b e i p o l i t i s c h e n E n t s c h e i d u n g e n noch a n gehen, o b w o h l d i e Geschichte des M a j o r i t ä t s p r i n z i p s d a f ü r e i g e n t l i c h w e n i g A n h a l t s p u n k t e l i e f e r t 5 , als R e c h t f e r t i g u n g v e r m a g diese These j e d o c h n i c h t z u d i e n e n 6 , d e n n selbst die W i r k s a m k e i t dieser Ursache a n g e n o m m e n , b e g r ü n d e n faktische M o m e n t e d e r G e l t u n g n i c h t , w a r u m d i e Regel g e l t e n s o l l 7 . D i e nackte Tatsache d e r M a c h t v e r m a g d e r E n t scheidung d e r M e h r h e i t n i c h t die n o t w e n d i g e L e g i t i m i t ä t 8 z u v e r leihen9. A u s s c h l i e ß l i c h v o n h i s t o r i s c h e m Interesse, was d i e F r a g e d e r Rechtf e r t i g u n g b e t r i f f t , ist die d e r K o r p o r a t i o n s l e h r e

entstammende

Auf-

fassung, die M e h r h e i t u n d G e s a m t h e i t gleichsetzt, i n d e m die M e h r h e i t S. 104 ff.; Majewski, Johannes Jürgen, Verbindlichkeit u n d Grenzen v o n Mehrheitsentscheid i n Staat u n d Völkergemeinschaft, Diss. Marburg 1959, S. 12 ff.; Bridel, Marcel, Refléxions sur le principe majoritaire dans les démocraties, i n Menschenrechte, Föderalismus, Demokratie, Festschrift W e r ner Kägi, Zürich 1979, S. 45 ff. (47), u n d s. Smith zitiert bei Berg, Elias, Democracy and the M a j o r i t y Principle, Göteborg 1965, S. 43; Simmel, Georg, Soziologie, Leipzig 1908, S. 187; das Mehrheitsprinzip sei die Projizierung der realen Kräfte auf eine Ebene der Geistigkeit. Insoweit, als der K a m p f v e r mieden w i r d , k a n n dann v o n einer Friedensfunktion gesprochen werden (dazu V I I I ) ; vgl. auch Canetti , Elias, Masse u n d Macht, Düsseldorf 1960 (Neuausgabe 1978), S. 214 f., der Mehrheit u n d Minderheit m i t zwei Heeren vergleicht; sowie Fichte, Johann Gottlieb, Grundlage des Naturrechts nach Prinzipien der Wissenschaftslehre (1796), Meiners Philosophische Bibliothek, Bd. 256, Hamburg 1960, S. 175 f. 5 Starosolskyj, Wolodymyr, Das Majoritätsprinzip, W i e n u . a . 1916, S. 9 f., 41 ff. hielt diese äußere Ubermacht für den ausschlaggebenden historischen G r u n d der Durchsetzung des Mehrheitsprinzips; letztlich ist der Gedanke natürlich insoweit nicht abwegig, als Herrschaft gegen den Widerstand der Mehrheit aufrechtzuerhalten, erheblichen A u f w a n d erfordert, den zu erbringen allerdings nicht unmöglich ist, w i e die zahlreichen D i k t a t u r e n v o n einst u n d jetzt drastisch v o r Augen führen. Außerdem w i r d übersehen, daß die Zustimmung der Betroffenen oder ihrer Mehrheit nicht die einzige Möglichkeit der Legitimität politischer Herrschaft ist. Es sei n u r auf die K a t e gorie der traditionalen Legitimität verwiesen; zum Begriff der Legitimität s. vor allem Kielmansegg, Peter Graf, Legitimation als analytische Kategorie, PVS 12 (1971), S. 367 ff. 6 Ablehnend auch Mayo (Anm. 1), S. 180; vgl. auch Bridel (Anm. 4), S. 47; Schatz, K u r t , Prinzip, Grenzen u n d Konsequenzen der Majorität, Diss. H e i delberg 1951, S. 15 f.; Stawski (Anm. 2), S. 105: E r k l ä r u n g ist keine Rechtfertigung. 7 Vgl. auch Majewski (Anm. 4), S. 13; diesem E i n w a n d sind selbstverständlich alle Theorien ausgesetzt, die i n faktischer Geltung bereits die Rechtfertigung sehen, etwa die Macht der Gewohnheit schon als ausreichende Rechtfertigung betrachten. Die eigentliche Begründung könnte da eventuell die stillschweigende Zustimmung der Betroffenen sein, w e n n damit nicht ein Zirkelschluß vorliegen u n d der Versuch einer Begründung wieder am Ausgangspunkt angelangt wäre. 8 Legitimität als allgemeine soziale Geltung als rechtens verstanden, Kielmansegg (Anm. 5), S. 367. 9 Es sei denn, m a n begreift Macht u n d Recht i n sozialdarwinistischer Manier als identisch.

I I I . Die Rechtfertigung des Mehrheitsprinzips

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den Gesamtwillen verkörpert 1 0 . Es handelt sich u m eine Form der Identitätsrepräsentation 11 , die auf einer juristischen Fiktion 1 2 beruht, die den Grund ihrer Geltung nicht angeben kann. Eine eigentümliche Mischung aus Ursachenforschung und theoretischer Rechtfertigung kennzeichnet das Konzept der Nutzenmaximierung 1 3 . Die Frage, warum überhaupt die Zustimmung der Betroffenen notwendig ist, w i r d allerdings explizit gar nicht gestellt. Die Autoren gehen vom individuellen privaten Nutzen des jeweiligen Einzelnen aus und setzen die Anschauung vom autonom entscheidenden Individuum stillschweigend voraus. Das w i r d am utopischen Einstimmigkeitspostulat für die Einführung der Mehrheitsregel 14 besonders deutlich. Des weiteren sind Bedenken vorzubringen gegen die Reduzierung politischen Verhaltens auf eine Nutzenrechnung, auch wenn ideelle Vorteile miteinbezogen werden. Der vielgestaltigen, differenzierten politischen Wirklichkeit w i r d dieser mathematische Ansatz kaum gerecht. Zudem lassen sich politische Entscheidungen generell und Wertentscheidungen speziell nicht derart i n individuellen Nutzen umsetzen. Das Konzept beruht überdies auf der äußerst fragwürdigen Hypothese, daß der Nutzen für jeden Bürger einheitlich meßbar ist, sowie auf der wenig überzeugenden Annahme, daß external costs und decision-making costs gegeneinander gleichermaßen aufgerechnet werden können, soweit die Mehrheitsregel konkret gerechtfertigt werden kann 1 5 . 10 Rausch, Heinz, i n Röhring, Hans H e l m u t / Sontheimer, K u r t , Handbuch des Deutschen Parlamentarismus, München 1970, bezeichnet dies als die absolute Rechtfertigung (S. 279). 11 Dieser Begriff entstammt Hofmann, Hasso, Repräsentation, B e r l i n 1974, S. 36, 191 ff., bes. 214 ff. 12 Panormitanus, Nicolaus, Kommentar zu c 48 X , 1, 6 u. 4 „quia fictione juris, quod fit a maiori parte istius corporis t r i b u i t u r t o t i corpori", Commentarla super Prima Parte P r i m i Decretalium L i b r i , Venetiis 1617, fol. 156. 13 Buchanan, James M. / Tullock, Gordon, The Calculus of Consent, Logical Foundations of Constitutional Democracy, A n n A r b o r 1962. Das Konzept ist uns bereits i n der Einleitung begegnet, weswegen hier auf eine erneute D a r stellung verzichtet werden konnte u n d n u r i m H i n b l i c k auf das Mehrheitsprinzip u n d seine Rechtfertigung an dieser Stelle abgehandelt werden mußte. I n der Einleitung finden sich auch die Einwendungen gegen die Verkürzung der Legitimitätsproblematik. Keine Rechtfertigung, sondern bloße Feststell u n g ist die Kennzeichnung der Mehrheitsentscheidung als „Durchschnittsergebnis", Sigwart, Christoph, Logik, 2 Bde., 5. A u f l . Tübingen 1924, Bd. I I , S. 758. 14 Dazu s. unten. 15 Da, jedenfalls nach Buchanan / Tullock (Anm. 13), die Mehrheitsregel n u r eine mögliche Entscheidungsregel darstellt u n d Einstimmigkeit den V o r zug verdient; vgl. dazu kritisch auch Eschenburg, Rolf, Der ökonomische Ansatz zu einer Theorie der Verfassung, Tübingen 1977, S. 168 ff. Auch als historische Hypothese ist die Theorie wenig brauchbar. Jedenfalls hat eine derartige Nutzenkalkulation i n der Geschichte des Mehrheitsprinzips bisher keine nachweisbar nennenswerte Rolle gespielt.

6 Heun

82

I I I . Die Rechtfertigung des Mehrheitsprinzips

E i n anderes A r g u m e n t a t i o n s m u s t e r

greift

das M o d e l l d e r

Sozial-

v e r t r a g s l e h r e n 1 6 i n m o d e r n e r F o r m w i e d e r auf, i n d e m es d i e G e l t u n g der Mehrheitsregel auf einem einstimmigen — f i k t i v e n — oder d e r s t i l l s c h w e i g e n d e n Z u s t i m m u n g oder, n o c h

Beschluß

zurückhaltender,

A k z e p t i e r u n g a l l e r b e r u h e n l ä ß t 1 7 , das M e h r h e i t s p r i n z i p also n i c h t aus abstrakten

Grundwerten

herleitet, vielmehr

l i e g e n d e V o r s t e l l u n g menschlicher

zwischen die

Autonomie18

und

das

zugrunde Majoritäts-

p r i n z i p e i n e n b e s o n d e r e n G e l t u n g s g r u n d , n ä m l i c h eine V e r e i n b a r u n g , einschiebt. D a e i n solcher e i n s t i m m i g e r Beschluß sich h i s t o r i s c h n i c h t n a c h w e i s e n l ä ß t 1 9 u n d d e r V o r w u r f e r h o b e n w e r d e n m u ß , daß das P r o 16

Dazu oben II., dort auch zur K r i t i k der Vertragslehren. Teilweise kombiniert m i t anderen Geltungsgründen w i e bei Buchanan/ Tullock (Anm. 13), vgl. oben; oder indem dieser Geltungsgrund m i t Voraussetzungen f ü r das Funktionieren des Mehrheitsprinzips verquickt w i r d ; so etwa Barker (Anm. 4), S. 63 ff., für den das government b y discussion das wesentlichste Element der Demokratie darstellt (S. 36 ff.), das auf folgenden drei inhärenten A x i o m e n beruhe: 1. Agreement to differ, 2. das Mehrheitsprinzip, das zusätzlich einstimmig beschlossen w i r d (ebd. S. 65), 3. Principle of compromise; Barker fundiert das Mehrheitsprinzip gewissermaßen doppelt, w e n n darüber hinaus i m Entscheidungsprozeß der W i l l e der Gesamtheit dem Mehrheitswillen i n einer Weise entspringt, der an eine entfernte Patenschaft der mittelalterlichen Korporationslehre denken läßt: " T h e m a j o r i t y - w i l l , w h e n discussion is finished and the f i n a l vote is taken w i l l have assumed a new quality. I t w i l l not indeed, have become the agreed and active w i l l of all. B u t i t may have accomodated itself so much to other w i l l s , and absorbed so much of the elements of t r u t h w h i c h they contain, t h a t i t has become a w i l l which is tolerated b y all and resented b y none. I t is i n this sense that discussion produces, i f not unanimity, at any rate so near i t t h a t w e may speak of common consent. I t is i n this w a y that the w i l l of a m a j o r i t y can become something of the nature of the w i l l of all." Barker , S. 67; eine t i a catholica, Opera omnia Bd. X I V , hrsg. v. Gerhard Kallen, Leipzig, Buch I Wiederum anders Hättich, Manfred, Demokratie als Herrschaftsordnung, K ö l n u. a. 1967, S. 128 ff., der das Mehrheitsprinzip aus einer Einigung über das Herrschaftsverfahren ableitet, allerdings ohne nähere Präzisierung, u n d die Friedensfunktion der Mehrheitsentscheidung maßgeblich betont; vgl. zum Ganzen auch Mayo (Anm. 1), S. 180 f. 17

18

So oben I I u n d Einleitung. I m Gegenteil, die Verfassungen, die die Mehrheitsregel einführen u n d die am ehesten m i t einem derartigen Sozialvertrag zu vergleichen sind, werden meist nicht einmal einer Volksabstimmung nach dem Mehrheitsprinzip unterworfen, sondern v o n Experten konzipiert, i n kleinen Vertre-i tungsversammlungen beschlossen, ohne daß v o n einer nennenswerten Volksbeteiligung gesprochen werden kann; s. die pointierte Studie v o n Beyme, Klaus von, Die verfassungsgebende Gewalt des Volkes (Recht u n d Staat, Heft 367/368), Tübingen 1968; vgl. zur Schaffung der Verfassungsentwürfe i n Deutschland auch Wedel, Henning von, Das Verfahren der demokratischen Verfassungsgebimg, dargestellt am Beispiel Deutschlands 1848/49, 1919, 1948/49, B e r l i n 1976, S. 191 ff.; auch die juristische Gleichwertigkeit plebiszitärer u n d repräsentativer Verfassungsgebung, s. Steiner, Udo, Verfassungsgebung u n d verfassungsgebende Gewalt des Volkes, B e r l i n 1966, S. 95 ff. k a n n nicht darüber hinwegtäuschen, daß moderne Verfassungen keine derartigen einstimmigen Sozialverträge sein können. Die Legitimität einer V e r fassung ist keine aus einer v o n Einstimmigkeit getragenen Ursprungsvereinbarung ableitbare Legitimität, vgl. Hofmann, Hasso, Legitimität u n d Rechtsgeltung, B e r l i n 1977, S. 60 ff. 19

I I I . Die Rechtfertigung des Mehrheitsprinzips

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blem übersehen wird, wie die später hinzukommenden Gesellschaftsmitglieder dieser Einigung zustimmen sollen, bleibt der vorgelagerte Sozialvertrag eine Fiktion, gleich wie die Einigung konstruiert wird, da nie auszuschließen sein wird, daß einzelne Personen oder Minderheiten sich nicht freiwillig der Mehrheit unterwerfen und ihre Zustimmung zu dieser Verfahrensregel deshalb verweigern werden. Es ist jedoch undenkbar, das Mehrheitsprinzip i n einer Demokratie wegen einiger weniger Gegenstimmen außer K r a f t zu setzen. Auch als normativer Gedanke ist der Sozialvertrag bzw. hier der Herrschaftsvertrag nicht geeignet, die Geltung der Mehrheitsregel zu rechtfertigen, da die Frage, warum eine Einigung über das Mehrheitsprinzip i n dem Vertrag erzielt werden soll, gerade unbeantwortet bleibt. Die Argumentation w i r d angesichts des grundsätzlichen Selbstbestimmungsrechts des Einzelnen nicht plausibler, wenn die Rechtfertigung i n einer A r t psychischen Sozialvertrages 20 erblickt wird, indem psychischer Gemeinwille, gemeinsame Grundüberzeugungen oder, noch allgemeiner formuliert, eine Homogenität des Gemeinwesens das Mehrheitsprinzip begründen 21 , die aber jedenfalls keine Einstimmigkeit erfordern. Eine solche Verbundenheit kann die Hinnahme und Akzeptierung von Mehrheitsentscheidungen erleichtern oder sogar erst ermöglichen, die alleinige Gemeinsamkeit von Grundüberzeugungen 22 vermag aber keinesfalls eine innere Rechtfertigung für die Anerkennung gerade des Mehrheitsprinzips als Entscheidungsverfahren abzugeben. A m konsequentesten und überzeugendsten ist es dann, die Möglichkeit einer materiellen Rechtfertigung überhaupt zu leugnen und die Anerkennung des Majoritätsprinzips allein aus dem vorangehenden Grundkonsens i n der Verfassung fließen zu lassen 23 , das Mehrheitsprinzip also ausschließlich i m juristischen Bereich 24 , fast positivistisch, zu verankern. Dieser Ansatz beantwortet jedoch nicht die Frage, warum 20 So Schindler, Dietrich, Über die B i l d u n g des Staatswillens i n der Demokratie, Zürich 1921, S. 82. 21 s. Schindler (Anm. 20), S. 81, der die tieferen Grundüberzeugungen als psychischen Gemeinwillen betrachtet (S. 37 f.) u n d den Gemeinwillen w i e derum m i t Homogenität gleichsetzt (S. 41 ff.); vielfach w i r d nicht deutlich, ob ein „ P r i o r Consensus" (Berg (Anm. 4), S. 136 ff.), das agreement on fundamentals, der Grundkonsens oder die Homogenität n u n Rechtfertigung oder bloße Voraussetzung der Wirksamkeit des Mehrheitsprinzips sein sollen. 22 Z u einer näheren Bestimmimg der Begriffe s. u n t e n V, A . 23 Scheuner, Ulrich, Der Mehrheitsentscheid i m Rahmen der demokratischen Grundordnung, i n Menschenrechte, Föderalismus, Demokratie, Festschrift Werner Kägi, Zürich 1979, S. 301 ff. (312), w o m i t zugleich A n w e n dungsbereich, Begrenzung u n d Verfahrensgestaltung des Mehrheitsprinzips festgelegt sind; s. auch ders., i n Aussprache V V D S t R L 33 (1974), S. 122. 24 Vgl. auch Majew ski (Anm. 4), S. 15 ff., 44 ff., der einer rein juristischen Rechtfertigung längere Aufmerksamkeit schenkt.

·

84

I I I . Die Rechtfertigung des Mehrheitsprinzips

nun das Mehrheitsprinzip als Entscheidungsverfahren gelten soll und nicht etwa durch die Verfassung der Grundsatz der Einstimmigkeit oder sogar Entscheidungskompetenzen ausgezeichneter Einzelpersönlichkeiten festgelegt werden können. Richtig bleibt es allerdings, die rein rechtliche Geltung des Mehrheitsprinzips i n den Normen der Verfassung anzusiedeln. Dieser juristisch-positivistische Aspekt enthält aber keine Fundierung der materiellen Legitimität der Mehrheitsregel i m demokratischen Verfassungsstaat. Die Rechtfertigung des demokratischen Mehrheitsprinzips w i r d daher heute vor allem i n den nachfolgenden Gesichtspunkten der Wahrheit und umgekehrt der Ablehnung jedes Wahrheitsanspruches für den Bereich der Politik oder den Prinzipien der Freiheit oder Gleichheit gesehen. Die reichste Tradition besitzt die i n ihren Ursprüngen bis Aristoteles 25 zurückreichende, i m Verlauf der Jahrhunderte immer wieder zum Vorschein kommende Auffassung 26 , die das Mehrheitsprinzip damit rechtfertigt, daß die Mehrheit am besten dazu befähigt ist, die richtige, vernünftige Entscheidung zu treffen, wobei Anspruch und Nachdruck, m i t denen diese These vorgetragen wird, schwanken. M i t von Skepsis ungebrochener Überzeugung verwendet Innozenz I V . den Begriff der Wahrheit 2 7 . Heutige politische Theorie weiß die These vorsichtiger zu formulieren. Es könne jeweils vermutet werden, daß die Mehrheit die richtigere, vernünftigere Entscheidung treffe, behauptet diese Version, die sich i n ihren verschiedenen Schattierungen beträchtlicher Anhän25

Aristoteles, P o l i t i k 1281 a - 1282 a. Marsilius von Padua, Defensor Pacis (Lat. dt. v. Horst Kusch, B e r l i n 1958), I, 13, § 4; Pufendorf, Samuel, De Jure Naturae et Gentium, L i b r i Octo, Ed. Gottfridus Mascovius, F r a n k f u r t 1759 (Nachdruck F r a n k f u r t 1967) V I I , c2, § 15; ders., Elementorum Jurisprudentiae Universalis L i b r i Duo (1660) (Nachdruck Oxford 1931) I, Def. X I I , § 27 „praesertim cum communi ter praesumptio prudentiae pro pluribus m i l i t e t , saltem circa res communi h o m i n i u m perspiciae expositas"; vgl. auch Cusanus, Nicolaus, De Concordantia catholica, Opera omnia Bd. X I V , hrsg. v. Gerhard Kallen, Leipzig, Buch I 1939; Buch I I 1941, I, c. 8 (S. 63), I I , c.4 (S. 106); für die Staatslehre des 17. Jh. s. die Nachweise bei Schiaich, Klaus, Maioritas-protestatio-itio i n partes-corpus Evangelicorum, Das Verfahren i m Reichstag des H l . Römischen Reiches Deutscher Nation nach der Reformation, Z R G 95 (1978) (Kan. A b t . 64), S. 158; vgl. auch Rousseaus Konzeption der volonté générale, die am ehesten v o n der Mehrheit erkannt w i r d (dazu s. o. I I ) u n d s. Mayo (Anm. 1), S. 175 ff. Auch i n der Formel v o n der maior et sanior pars i n der Zeit, als der maioritas bereits die sanioritas zukam, k o m m t dieser Zusammenhang zum Ausdruck; vgl. auch i n dieser Hinsicht den Gedanken des v o x populi, v o x dei, Starosolskyj (Anm. 5), S. 40; Hartmann, Nicolai, Das Problem des geistigen Seins, 2. A u f l . 1949, S. 352. 26

27 Sinibaldus Fliscus (Innozenz IV.), Commentarla Apparatus i n V Libros Decretalium, F r a n k f u r t 1570 (Nachdruck F r a n k f u r t 1968), Commentarla zu c. 42, Χ , I 6 P u n k t 14.

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I I I . Die Rechtfertigung des Mehrheitsprinzips

gerschaft e r f r e u t 2 8 . Diese These h a t p r i m a facie das sozialpsychologische P h ä n o m e n des L e i s t u n g s v o r t e i l s e i n e r G r u p p e m i t d e r E r s c h e i n u n g des F e h l e r a u s g l e i c h s 2 9 f ü r sich. B e d e n k e n ergeben sich j e d o c h i n verschiedener R i c h t u n g . Der Begriff der Richtigkeit i m Zusammenhang m i t politischen E n t scheidungen v e r f ü h r t z u d e r g e d a n k l i c h e n F o l g e r u n g , daß e i n o b j e k t i v e r k e n n b a r e s 3 0 G e m e i n w o h l e x i s t i e r t , a n d e m sich z u o r i e n t i e r e n

die

A b s t i m m e n d e n ausschließlich u n d absolut v e r p f l i c h t e t sind. D i e These v o n e i n e m o b j e k t i v e n G e m e i n i n t e r e s s e b i r g t i n sich d i e G e f a h r , daß geschlossene m i n o r i t ä r e

G r u p p e n , seien es s t r a f f o r g a n i s i e r t e

Parteien,

seien es andere p r i v i l e g i e r t e E l i t e n , sich z u d i e E r k e n n t n i s m o n o p o l i s i e r e n d e n I n t e r p r e t e n dieses f i k t i v e n G e m e i n w o h l s a u f z u s c h w i n g e n v e r suchen, u m g o v e r n m e n t b y t h e people u m z u w a n d e l n i n

angebliches

g o v e r n m e n t f o r t h e p e o p l e 3 1 . D i e V o r s t e l l u n g e i n e r v o l o n t é générale, d i e Behauptung v o n der E r k e n n b a r k e i t u n d Verfügbarkeit oder, schärfer

formuliert,

der W a h r h e i t

des R i c h t i g e n

ist n i c h t o h n e G r u n d

zum

M e r k m a l totalitärer Regime geworden 82. 28 s. Krüger, Herbert, Allgemeine Staatslehre, Stuttgart, 2. A u f l . 1966, S. 284 f.; Hallowell, J o h n Hamilton, The M o r a l Foundation of Democracy, Chicago 1954, S. 120 ff.; Friedrich, Carl Joachim, Demokratie, HdSW Bd. 2, Göttingen 1959, S. 560 ff. (562) u n d vor allem Kriele, M a r t i n , Das demokratische Prinzip i m Grundgesetz, W D S t R L 29 (1970), S. 46 ff. (53, 76, 107); ders., Einführung i n die Staatslehre, die geschichtlichen Legitimitätsgrundlagen des demokratischen Verfassungsstaates, H a m b u r g 1975, S. 188 ff.; ders., Recht u n d praktische Vernunft, Göttingen 1979, S. 42; vgl. Herzog, Roman, Mehrheitsprinzip, EVStL, 2. A u f l . Stuttgart 1975, Sp. 1547 ff. (1549); Höpker, Heinrich, Grundlagen, E n t w i c k l u n g u n d Problematik des Mehrheitsprinzips u n d seine Stellung i n der Demokratie, Diss. K ö l n 1957, S. 102; Simmel (Anm. 4), S. 188 f.; Haymann, Franz, Die Mehrheitsentscheidung. I h r Sinn u n d ihre Schranken, i n Festgabe f ü r Rudolf Stammler, B e r l i n u . a . 1926, S. 395 ff. (463), der sich — bezeichnenderweise — intensiv m i t Rousseau beschäftigt (S. 438 ff.) sowie Arnim, Hans Herbert von, Gemeinwohl u n d Gruppeninteressen, F r a n k f u r t 1977, S. 43 ff.; Bridel (Anm. 4), S. 49 f.; Majewski (Anm. 4), S. 21 ff. Die vielleicht prägnanteste Formulierung findet sich bei Hallowell, S. 120 f.: "We are obligated to submit to the decision of the m a j o r i t y , because i t represents the best judgement of society w i t h respect to a particular matter of a particular time." 29 s. Hofstätter, Peter, Gruppendynamik, H a m b u r g 1957, S. 27 ff., zum Fehlerausgleich ebd. S. 30 ff. Der Fehlerausgleich besagt folgendes: Wenn bei einem Experiment, bei dem die Versuchspersonen eine Aufgabe zu lösen haben, ζ. B. Figuren m i t verschiedenem Flächeninhalt der Größe nach zu ordnen, die v o n den einzelnen Versuchspersonen gewonnenen Ergebnisse zu einem synthetischen Ergebnis k o m b i n i e r t werden, übersteigt die Richtigkeit dieses synthetischen Ergebnisses sowohl die des Durchschnittsergebnisses wie die der höchsten Einzelleistung ganz erheblich. 30 I m Gegensatz zu einem sich i n einem offenen Prozeß durch die Beteiligten erst herstellenden Gemeinwohl, dazu s. unten V, B. 31 M i t der Begründung, die Mehrheit habe das Gemeinwohl zu treffen verfehlt, den notwendigen Grad der Erkenntnisfähigkeit nicht erreicht. 32 Hättich (Anm. 17), S. 130; vgl. auch Talmon, J. L., Die Ursprünge der totalitären Demokratie, K ö l n u. a. 1961, S. 1; Sternberger, Dolf, Grund u n d A b g r u n d der Macht, F r a n k f u r t 1962, S. 149 ff., 276 ff.

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I I I . Die Rechtfertigung des Mehrheitsprinzips

Sieht man von diesen i m gedanklich-ideellen Bereich situierten, historisch aber häufig sehr konkreten, bedrohlichen Einwirkungen dieses Ansatzes ab, drängen sich i m Hinblick auf den politischen Prozeß weitere Bedenken auf. Die innerhalb der Mehrheit gegenüber der Minderheit größere Vielfalt der Meinungen, die sich zu einer einheitlichen Entscheidung der Mehrheit verdichten müssen, mag Einseitigkeiten verhindern, kann aber nicht erhöhte Richtigkeit verbürgen 3 3 . Die — mögliche — Vernünftigkeit stellt sich viel eher i n dem komplizierten Meinungsbildungsprozeß, der offenen Diskussion, dem gesamten Verfahren, das der abschließenden Mehrheitsentscheidung vorgelagert ist, her als gerade aufgrund der Mehrheitsregel selbst. Auch die Möglichkeit, einmal erreichte Beschlüsse wieder zu korrigieren und zu revidieren, die prinzipielle Offenheit demokratischer Systeme 34 , sind i m Grunde dem Umfeld des Mehrheitsprinzips zuzuordnen, und implizieren nicht unbedingt und zwingend richtige und wahre Entscheidungen 85 . I m Gegenteil verbieten diese Grundsätze des demokratischen Pluralismus geradezu die Vermutung der Richtigkeit der Mehrheitsentscheidung, da eine Änderung der Mehrheitsentscheidungen und der Mehrheitsverhältnisse der Vermutung nach tendenziell als unvernünftig erschiene 86 . Es läßt sich durchaus die Frage stellen, ob die Vorzüge des demokratischen Mehrheitsprinzips gegenüber offenen Eliten noch sonderliches Gewicht besitzen, wenn die Rechtfertigung nur i n der beanspruchten Vernünftigkeit gesehen wird. Es muß aber ernsthaft bezweifelt werden, ob überhaupt die objektive Richtigkeit der politischen Entscheidung zwischen den zur Auswahl stehenden Alternativen das alleinige oder zentrale, sinnvolle K r i t e r i u m für Wahlen oder Abstimmungen 3 7 ist und sein kann. Meist determinieren persönliche Werte und Wertungen die Präferenzen, da es sich häu83 s. Kriele, Staatslehre (Anm. 28), S. 188 ff. für das Parlament. Hier w i r d deutlich, daß vielfach das Umfeld, die Voraussetzungen eines funktionierenden Mehrheitsprinzips zu seiner Rechtfertigung herangezogen werden, daß primäre Legitimation u n d sekundäre Vorzüge, die jeweils vielmehr das Gesamtsystem Demokratie, als speziell das Mehrheitsprinzip u n m i t t e l b a r betreffen, zusammengezogen werden u n d die Überlegungen zu w e n i g d i r e k t auf die Mehrheitsregel konzentriert werden. 84 Dazu näher u n t e n V , Β u n d C. 35 s. Hättich (Anm. 17), S. 128 ff. 86 Diesen normativen E i n w a n d gegen die Richtigkeitsvermutung hat jetzt Gusy, Christoph, Das Mehrheitsprinzip i m demokratischen Staat, A ö R 106 (1981), S. 329 ff. (338 ff.) herausgestellt. 87 Häufig w i r d f ü r die Behauptung der Vernünftigkeit h i e r nicht differenziert; s. zu diesen A r t e n der Mehrheitsentscheidung i m einzelnen u n t e n I V , B, 2; der grundsätzliche Argumentationsgang w i r d davon aber nicht berührt.

I I I . Die Rechtfertigung des Mehrheitsprinzips

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fig u m die B e s t i m m u n g v o n Zielen88, nicht v o n M i t t e l n , die die M e h r h e i t b e v o r z u g t 8 9 , h a n d e l t , auch d a n n , w e n n d a m i t u n v e r m e i d l i c h u n d u n trennbar

sachlich-rationale

Entscheidungen

verwoben

sind.

Kriele40

w e n d e t dagegen ein, auch ü b e r ethische F r a g e n k ö n n e d i s k u r s i v

und

r a t i o n a l geredet w e r d e n , j e d e A r g u m e n t a t i o n , d i e sich a n a n d e r e r i c h tet, appelliere an die V e r n u n f t . A n s t a t t auf irreführende Begriffe

wie

R i c h t i g k e i t oder W a h r h e i t , sei a u f p r a k t i s c h e V e r n ü n f t i g k e i t , a u f V e r t r e t b a r k e i t u n d P l a u s i b i l i t ä t abzuheben. G e w i ß s i n d ethische

Fragen

r a t i o n a l e r A n a l y s e z u g ä n g l i c h , das g i l t aber n u r bis z u e i n e m b e s t i m m t e n G r a d 4 1 . A u ß e r d e m i s t es sehr anfechtbar, ob d i e p e r s ö n l i c h e n W e r t v o r s t e l l u n g e n u n d Ü b e r z e u g u n g e n , u m d e r e n V e r w i r k l i c h u n g es p o l i tischen Entschlüssen auch geht, i n i h r e r S t r u k t u r u n d E n t s t e h u n g p r a k tischer V e r n u n f t e n t s p r i n g e n 4 2 . D i e A n n a h m e , M e h r h e i t e n seien v e r 88 Selbst w e n n manche Ziele wiederum n u r Stationen auf dem Weg zu anderen, weiteren Zielen, selbst n u r M i t t e l zum höheren Zweck sind, zur Interdependenz v o n Zielen u n d M i t t e l n jetzt Homann, K a r l , Die I n t e r dependenz v o n Zielen u n d M i t t e l n , Tübingen 1980, S. 101 ff., 143 ff. 89 Z u dieser Unterscheidung vgl. etwa Hättich (Anm. 17), S. 128 ff.; das g i l t allerdings fast weniger f ü r die parlamentarischen Gesetzesbeschlüsse als die i n Wahlen getroffenen Grundentscheidungen. 40 Kriele, W D S t R L 29 (Anm. 28), S. 53, 107 f.; ders., Staatslehre (Anm. 28), S. 38 ff., 188 ff. „Die Mehrheitsentscheidung b r i n g t unter bestimmten V o r aussetzungen (!), nicht unbedingt, aber unter der Voraussetzung einer freien Diskussion, die relativ beste Chance der V e r w i r k l i c h u n g der Vernünftigkeit oder Gerechtigkeit, oder w i e m a n vielleicht r u h i g sagen sollte, des N a t u r rechts m i t sich", V V D S t R L 29, S. 107; zustimmend Marcio ebd. S. 101; dagegen i n der Diskussion Walther, S. 91, Roellecke, S. 100, Leihholz, S. 104. 41 Rationale Analyse vermag häufig Meinungen auf zugrunde liegende Werte, bzw. Wertvorstellungen zurückzuführen, dann aber endet die Diskussion an einem unüberbrückbaren Graben. Sich auf einen Disput einzulassen, w e n n es sich nicht u m einen öffentlichen Schlagabtausch handeln soll, setzt eine Einigung, einen Konsens über grundsätzliche Werte voraus, u n d dies ermöglicht erst eine fruchtbare Unterhaltung. " I f there is no agreement on fundamentals, there can be no discussion w o r t h y of the name", Hallowell (Anm. 28), S. 36. 42 Vgl. für einen ersten Überblick Sternberger, Dolf, Information, M a n i p u lation, K o m m u n i k a t i o n , i n ders., Ich wünschte ein Bürger zu sein, Neun Versuche über den Staat, F r a n k f u r t 1967, S. 148 ff.; Eberle, Friedrich, Theorien des Wählerverhaltens u n d empirische Wahlforschung, PVS 21 (1980), S. 248 ff. (254 ff.); die Meinungsbildung geht meist ohne Informationen v o n statten, Lane, Robert Edwards / Sears, David O., Public Opinion, Prentice H a l l 1964, S. 57 ff. u n d genügt dem K r i t e r i u m der Rationalität n u r äußerst gering, ebd. S. 72 ff.; s. auch Kirsch, Werner, Entscheidungsprozesse I, V e r haltenswissenschaftliche Ansätze der Entscheidungstheorie, Wiesbaden 1970, S. 61 ff. zur beschränkten subjektiven Rationalität, die nicht zuletzt auf der geringen Informationsverarbeitungskapazität jedes Menschen, die zur Spezialisierung zwingt, beruht, s. ebd. S. 83 ff.; z. Uninformiertheit der Wähler s. etwa Butler, David / Stokes, Donald, Political Change i n B r i t a i n , The E v o l u t i o n of Electoral Choice, 2. ed. London 1974, S. 22 f.; Wahlke, John, Policy Demands and System Support, B r i t i s h Journal of Political Science 1 (1971), S. 271 ff. (273 ff.), die Untersuchung der Wahlmotive i n E M N I D , Der Prozeß der Meinungsbildung dargestellt am Beispiel der Bundestagswahl 1961, be-

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I I I . Die Rechtfertigung des Mehrheitsprinzips

nünftig, übersieht zum Teil tatsächliche wie erwünschte Faktoren der Willensbildung. I n die Entscheidungen werden die eigenen, nicht nur rationalen Interessen eingebracht, und dies entspricht auch der normativen Konzeption jeder Demokratie 4 3 . Die Aggregation differierender Interessen ist eine Aufgabe jeder Mehrheitsentscheidung, die eine Rechtfertigung des Mehrheitsprinzips i n ihre Analyse einzubeziehen hat. Die von unterschiedlichen Interessen geprägten Standpunkte sollen arbeitet v o n Viggo Graf Blücher u. a., Bielefeld 1962, S. 40 ff., 68 ff., Material für die geringe Rationalität bei Wahlen, selbst bei Erkennen der eigenen Interessen, auch bei Braud, Philippe, Le Comportement éléctoral en France, Paris 1973, S. 28 ff.; das Phänomen der selektiven Aufmerksamkeit, Lazarsfeld, Paul F. / Berelson, Bernard / Gaudet, Hazel, Wahlen u n d Wähler, Neuw i e d 1969, S. 118 ff.; auch der v o n der Meinungsforschung festgestellte, überwiegende Einfluß der Primärgruppen m i t ihrem Konformitätsdruck s. Katz, E l i h u / Lazarsfeld, Paul F., Persönlicher Einfluß u n d Meinungsbildung, M ü n chen 1962, S. 58 ff., spricht gegen eine Betonung der Vernünftigkeit der Mehrheitsentscheidung, vgl. auch die Ergebnisse der Studie Brand, K a r l Werner / Honolka, Harro, Lebenswelt u n d Wahlentscheidung, PVS 22 (1981), S. 305 ff., die allerdings auf äußerst schmaler empirischer Grundlage vor allem die Verschränkung m i t persönlichen Lebensfragen hervortreten läßt. Kritisch zur Methode Kuchler, Manfred, PVS 22 (1981), S. 432 ff. Die Gegenansicht ist eher geneigt, den Bürger zu idealisieren: "Democracy rests upon a faith i n m a n as a rational moral and spiritual creature, and i t is as much aspiration as fact", Hallowell (Anm. 28), S. 128. 43 s. bereits Condorcet, Marie Jean A n t o i n e Nicolas des Caritat Marquis de, Sur la Forme des Elections (1789), Oeuvres 12 Bde., Paris 1847 - 49 (Neudruck Stuttgart 1968), Bd. I X , S. 289 „Une éléction, comme toute autre décision, ne devrait exprimer que le jugement de ceux q u i ont droit de décider ou d'élire; mais les hommes agissent souvent d'après leur intérêt ou leurs passions bien plus que d'après l a raison" m i t einem T o n des Bedauerns; vgl. auch Starosolskyj (Anm. 5), S. 56 ff.; positiv steht diesem Phänomen Friedrich, Carl Joachim, Der Verfassungsstaat der Neuzeit, B e r l i n u. a. 1953, S. 540 ff. gegenüber. Z u r Einbeziehung der Interessen vgl. v o m Standpunkt, die Mehrheit entscheide richtig, Haymann (Anm. 28), S. 460, 470 u n d Hallowells (Anm. 28), S. 123, Hoffnung: " T h e discussion i n a democracy w i l l never be completely rational, and private interests w i l l always intrude themselves into any discussion of the common good; b u t a sound democracy w i l l a i m at achieving as rational a discussion as is h u m a n l y possible and at subordinating private interests as much as possible to the common good", wobei die Unterordnung der Privatinteressen leicht an ihre Unterdrückung ank l i n g t . „Die beiden extremen Positionen, die einander gegenüberstehen, ist die Vertretung des Gemeinwohls u n t e r völliger Ausschaltung des eigenen Interesses u n d die Erhebung des eigenen Interesses zum Gemeinwohl; dazwischen liegen zahllose Mischungen" stellt Eschenburg, Theodor, Der Mechanismus der Mehrheitsentscheidung, München 1970, S. 13 zu Recht fest. I n der Tat gilt es, eine beide Gesichtspunkte umschließende Konzeption zu f i n den. Die Anerkennung der Autonomie des Individuums schließt jedenfalls ein, daß i h m i n jeder Hinsicht auch eine Vertretung eigener Interessen zugebilligt w i r d u n d er nicht auf die Rolle reduziert w i r d , als Glied des Gesamtkörpers n u r an dessen Gemeinwohl seine Entscheidung auszurichten. F ä l l t die alleinige Gemeinwohlorientierung aber weg, k a n n der Anspruch nicht mehr aufrechterhalten werden, die Mehrheit verwirkliche praktische Vernunft, es sei denn, m a n w i l l behaupten, ohne Rücksicht auf die Bestimmungsgründe summierten sich die Einzelinteressen automatisch zu höherer Vernünftigkeit i n A n l e h n u n g an die liberale Theorie.

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durch gegenseitige Abstimmung, durch ausgehandelte Kompromisse zusammengeführt und einer Entscheidung zugeführt werden. Kompromisse wiederum sind nicht unbedingt Kennzeichen höherer Vernünftigkeit, sondern eher Ausdruck des Grundsatzes „ do ut des", der das Ergebnis des Entscheidungsfindungsprozesses für andere erträglicher, weil milder, aber nicht vernünftiger macht 4 4 . Bezieht man die Behauptung der Vernünftigkeit auf jede einzelne Mehrheitsentscheidung, ist es fragwürdig, daß minimale Stimmenverschiebungen bei der Mehrheitsbildung der von der schließlichen Mehrheit akzeptierten Alternative größere Vernünftigkeit verleihen 4 5 . Pointiert formuliert: Ist die Ansicht der 50 001 w i r k l i c h richtiger als die Meinung der unterlegenen 49 999 46 . Und rechtfertigt die bloße Wahrscheinlichkeit der Richtigkeit, denn von absoluter Gewißheit einer wirklichen Garantie kann redlicherweise nicht die Rede sein, legitimiert die nur voraussichtlich höhere Vernünftigkeit, die sich dazuhin möglicherweise erst langfristig durchzusetzen vermag 4 7 , jede einzelne, aktuelle Mehrheitsentscheidung? Aus anderer Perspektive läßt sich das Problem i n eine andere Frage umwandeln. Warum werden gerade Mehrheitsentscheidungen als legitim empfunden? Weil sie vernünftiger sind als Beschlüsse irgendwelcher Minderheiten, oder weil sie auf einer mehrheitlichen Zustimmung der einzelnen Bürger aufgrund ihrer Betroffenheit beruhen? Zweifellos spielen Überlegungen der praktischen Vernunft bei der Meinungsbildung, die i n die Entscheidung einmündet, eine gewichtige Rolle. Deshalb ist aber noch nicht gesagt, daß die Summierung der Ein44 Vgl. Berg (Anm. 4), S. 120 f.; Hättich (Anm. 17), S. 128, der dem K o m p r o miß deshalb Friedensfunktion zuschreibt. 45 s. Fach, Wolfgang, Demokratie u n d Mehrheitsprinzip, ARSP 61 (1975), S. 201 ff. (216 f.). 46 Je höher das idealtypisch zugespitzte Zahlenspiel ist, u m so absurder w i r k t der Gedanke. I m übrigen ist auch die Frage nach dem Sinn qualifizierter Mehrheiten auf diese Weise nicht sinnvoll zu beantworten; qualifizierte Mehrheiten als Zeichen höherer Vernünftigkeit zu nehmen, müßte konsequenterweise bedeuten, daß jedes Gesetz unabhängig v o n gesetzlichen M e h r heitserfordernissen n u r m i t mindestens derjenigen Mehrheit aufzuheben wäre, m i t der es beschlossen wurde, da ein „90 °/o vernünftiges" Gesetz nicht von einer „60 % vernünftigen" Mehrheit aufzuheben zulässig sein dürfte. Kriele, Recht u n d prakt. V e r n u n f t (Anm. 28), S. 42 meint, besonders schwerwiegende Gründe müßten für eine Ä n d e r u n g des Grundgesetzes bei einer Verfassungsänderung sprechen. Das k a n n ein Gesichtspunkt für ein q u a l i fiziertes Mehrheitserfordernis sein, t r i f f t w o h l aber nicht den Kern, der i n der N a t u r der Verfassung als Grundkonsens liegt, der n u r m i t Zustimmung auch größerer Minderheiten verändert werden kann. 47 s. Kriele, Staatslehre (Anm. 28), S. 45, der damit das A r g u m e n t entkräften w i l l , die Mehrheit habe häufig falsch u n d u n v e r n ü n f t i g entschieden, was sich k a u m bestreiten läßt. Allerdings lassen sich w o h l auch an einem langfristigen Fortschritt der Vernünftigkeit begründete Zweifel hegen.

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zelentscheidungen, ihre Vektorensumme, höhere Vernünftigkeit bew i r k t 4 8 . Die Teilhabe des Einzelnen an der politischen Entscheidung 49 zieht ihre Berechtigung nicht aus dem für das Gemeinwohl vernünftigeren Ergebnis 50 , sondern aus der Betroffenheit der Herrschaftsunterworfenen. „Quod omnes similiter tangit, ab omnibus comprobetur" 5 1 . Der Vorgang der Parlamentarisierung und der Ausdehnung des Wahlrechts sind historisch denn auch weniger aus dem Bemühen u m eine vernünftige Rechtsfindung 52 zu erklären, sondern sind i n dem Erstarken des Volkssouveränitätsgedankens zu einem individuellen, aus den Menschenrechten erwachsenden Selbstbestimmungsrecht 53 begründet. Die Forcierung der eigenen Interessenvertretung 54 , nicht die Förderung der Vernünftigkeit politischer Entscheidungen trieb das Verlangen nach einem allgemeinen und gleichen Wahlrecht vehement voran 5 5 . Die Ursache für die Ansicht, Mehrheit impliziere Vernünftigkeit, liegt wohl i n einer Verwechslung begründet. Diese Konzeption mißt demokratische Mehrheitsentscheidungen und mehrheitliche Voten i n kleinen Gremien, die m i t gleichermaßen ausgebildeten und qualifizierten Experten besetzt sind, m i t ein und derselben Elle und bewertet beides nach gleichen Gesichtspunkten 56 . 48 Daß den w a h r e n Argumenten stets ein Überschuß an Überzeugungsfähigkeit zukomme, ist i n politischen Prozessen mehr F i k t i o n als Realität. Überhaupt scheinen sich derart komplexe Fragen der Kategorie der Richtigk e i t zu entziehen. Außerdem bedeutet rationale Diskutierbarkeit nicht, daß die Einzelnen sich tatsächlich rational entscheiden. Das heißt den common sense überschätzen, s. Kriele, V V D S t R L 29 (Anm. 28), S. 62. 49 Es sei an dieser Stelle an die i n der Einleitung entwickelte Demokratiekonzeption erinnert. 50 Auch das vielfach betonte Element der K o n t r o l l e durch die Mehrheit deutet eher auf das K r i t e r i u m der Betroffenheit als das der Vernünftigkeit. 61 s. oben I I , A n m . 173. 52 So aber etwas einseitig, Kriele, W D S t R L 29 (Anm. 28), S. 50; ders., Staatslehre (Anm. 28), S. 106 ff. 53 Der Streit u m die Vernünftigkeit der Mehrheitsentscheidung ist aus der historischen Diskussion nicht wegzudenken, richtete sich aber negativ gegen die bürgerliche Wahlrechts- u n d Repräsentationstheorie des Zensus insoweit, als die breite Mehrheit nicht unvernünftiger, allerdings auch nicht v e r nünftiger sei. 54 Vgl. etwa die Beziehung zwischen Repräsentanten u n d W ä h l e r n i n n a tional oder sozial heterogenen Demokratien, s. Friedrich, Verfassungsstaat (Anm. 43), S. 370 ff. 55 Daneben t r a t auch die Überlegung, auf diese Weise das ganze V o l k i n das politische Gemeinwesen zu integrieren. Das wurde aber erst zu einem Z e i t p u n k t notwendig, als die Menschen- u n d Bürgerrechte i n das Bewußtsein der Bevölkerung eingedrungen waren. 56 „Beweise" für die These werden bezeichnenderweise derartigen Gremien entnommen, insbesondere dem gerichtlichen Bereich; vgl. Kriele, V V D S t R L 29 (Anm. 28), S. 53, 107; Haymann (Anm. 28), S. 398.

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I n l e t z t e r e m F a l l t r i f f t die V e r m u t u n g , daß d i e M e h r h e i t nach sachl i c h e n K r i t e r i e n die r i c h t i g e E n t s c h e i d u n g f i n d e n w e r d e , d e n K e r n des S a c h v e r h a l t s 5 7 . Ü b e r a l l d o r t , w o die S e l b s t b e s t i m m u n g als d i e e i g e n t l i c h demokratische

Rechtfertigung 58

keine oder n u r

eine

untergeordnete

R o l l e spielt, n ä m l i c h i n r e i n f u n k t i o n a l ausgerichteten G r e m i e n , k o m m t diese A n n a h m e i n B e t r a c h t 5 9 . D i e d e m o k r a t i s c h e n

Volksentscheidun-

g e n 6 0 a l l e i n 6 1 z u t r a g e n , v e r m a g d i e R i c h t i g k e i t s t h e s e aber n i c h t 6 2 . G l e i c h w o h l v e r b i n d e t sich m i t d e m G e d a n k e n d e r M e h r h e i t s e n t s c h e i d u n g , das sei diesem K o n z e p t zugestanden, d i e H o f f n u n g , daß die v o n d e r M e h r h e i t b e v o r z u g t e A l t e r n a t i v e sich f ü r

das gesamte

Gemein-

w e s e n als v e r n ü n f t i g e r w e i s t , daß das g e m e i n e Beste g e f u n d e n w e r d e 6 3 . E i n e H o f f n u n g , d e r G l a u b e a n e i n anzustrebendes I d e a l b i e t e n aber noch k e i n e G e w ä h r f ü r d e n E i n t r i t t dieser Z i e l v o r s t e l l u n g e n 6 4 . A u ß e r 57 Daneben ist die Notwendigkeit v o n Bedeutung, daß eine Entscheidung getroffen werden muß u n d — auch i n kleinen Gruppen — selten E i n m ü t i g keit zu erzielen ist. 58 s. dazu unten. 59 Vgl. andeutungsweise i n diese Richtung Leibholz, Gerhard, S t r u k t u r probleme der modernen Demokratie, Karlsruhe 1958, S. 151, auch i n k i r c h lichen Wahlen u n d Abstimmungen galt es nicht, eine F o r m der Selbstbestimmung zu verwirklichen, sondern dem geeigneten Kandidaten, den w a h ren, v o m göttlichen Geist erfüllten Gedanken oder Lehren zum Sieg zu verhelfen. Auch deswegen konnte die Regel v o n der sanior pars eine solch allgemein akzeptierte überragende Rolle spielen. Dennoch verbürgt n a t ü r lich das Mehrheitsprinzip auch i n solchen funktionalen Gremien nicht die Wahrheit. M a n muß dazu n u r auf manches Fehlurteil der Gerichte h i n weisen; vgl. dazu unten V I , D. 60 Z u m Mehrheitsprinzip i m Parlament auch noch unten. 61 Kriele, Staatslehre (Anm. 28), S. 188 sagt selbst: das Selbstbestimmungsrecht sei allein (!) nicht maßgebend. 82 Ablehnend auch Hesse, Konrad, Der Gleichheitsgrundsatz i m Staatsrecht, AöR 77(1951/52), S. 167 ff. (193); Weber, Alfred, Die Krise des modernen Staatsgedankens i n Europa, B e r l i n u . a . 1925, S. 49; Stawski (Anm. 2), S. 102; Grimm, Dieter, Reformalisierung des Rechtsstaats als Demokratiepostulat, JuS 20 (1980), S. 704 ff. (708); Scheuner (Anm. 23), S. 311 „erhebt ohne G r u n d ein quantitatives Moment zur qualitativen E r w a r t u n g " . 63 s. Sternberger (Anm. 32), S. 297 „ I m bürgerlichen Staate gibt es keine wahre u n d keine falsche, keine richtige u n d keine fehlerhafte Politik, sondern n u r eine gute oder eine schlechte. Entscheidungen pflegen aus legitimer Diskussion hervorzugehen u n d unterliegen der K r i t i k . Mängel sind der Behebung durch Reformen zugänglich. Nicht Wahrheit w i l l die bürgerliche Regierung herbeiführen oder vollstrecken, sondern das Gute soll sie b e w i r ken, das gemeine Beste. I h r e Macht r u h t auf humanistischem Grunde auch insofern, als sie m i t der menschlichen Unvollkommenheit rechnet. Denn die Vollkommenheit der richtigen P o l i t i k ist unmenschlich, die U n v o l l k o m m e n heit ist menschlich; s. auch Sternberger, Dolf, Das allgemeine Beste, i n ders., Ich wünschte ein Bürger zu sein, Neun Versuche über den Staat, F r a n k f u r t 1967, S. 170 ff. 64 M a n k a n n sogar v o n einer U m k e h r u n g des naturalistischen Fehlschlusses, einem unzulässigen Schluß v o m Sollen auf das Sein sprechen.

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d e m d i e n e n v i e l m e h r d e r Prozeß d e r E n t s c h e i d u n g s f i n d u n g , die f r e i e u n d offene D i s k u s s i o n , d e r E i n f l u ß d e r E x p e r t e n u n d der B ü r o k r a t i e , d i e ganze ö f f e n t l i c h e M e i n u n g , ü b e r h a u p t das gesamte V e r f a h r e n dazu, d i e E n t s c h e i d u n g e n m ö g l i c h s t interessengerecht u n d v e r n ü n f t i g z u ges t a l t e n , das Entscheidungsrecht

der Mehrheit,

das d e n

Schlußpunkt

u n t e r diesen Prozeß setzt, g e w i n n t seine R e c h t f e r t i g u n g aber n i c h t aus d e r V e r n ü n f t i g k e i t . D e r A b b r u c h dieses V e r f a h r e n s d u r c h d i e M e h r heitsentscheidung w i r d n u r v o n der Mehrheit getragen u n d muß v o n ihr

gegenüber

der Gesamtheit vertreten u n d verantwortet

G e m e i n w o h l , öffentliches

Interesse u n d V e r n ü n f t i g k e i t

werden.

müssen

k ö n n e n E i n g a n g i n d e n d e m o k r a t i s c h e n Entscheidungsprozeß

und

finden,

w e r d e n aber n i c h t gerade d u r c h das M e h r h e i t s p r i n z i p e r r e i c h t 6 5 . D i e B r ü c h i g k e i t d e r v o r a u s g e g a n g e n e n These zeigt sich a n d e r T a t sache, daß d e r V e r s u c h u n t e r n o m m e n w o r d e n ist, das M e h r h e i t s p r i n z i p v o m absolut entgegengesetzten S t a n d p u n k t , v o n R e l a t i v i s m u s u n d S k e p t i z i s m u s ausgehend, z u r e c h t f e r t i g e n 6 6 . V o n d e r

Nichterkennbar-

k e i t der W a h r h e i t könne auf die N o t w e n d i g k e i t grundsätzlicher Offenh e i t des p o l i t i s c h e n Systems geschlossen u n d daraus d i e F o r d e r u n g a b g e l e i t e t w e r d e n , daß a l l e i n g l e i c h e m M a ß b e i E n t s c h e i d u n g e n z u b e 65 Es scheint, als ob mancher einer Gleichsetzung v o n Mehrheitsprinzip u n d Demokratie als System zum Opfer gefallen ist. Die L e g i t i m i t ä t der Demokratie verlangt auch die Fällung für die Gesamtheit sinnvoller, vernünftiger u n d interessengerechter Entscheidungen (vgl. Einleitung); Demokratie erschöpft sich aber nicht i m Mehrheitsprinzip. Dieser Sollwert der Demokratie w i r d durch zahlreiche Verfahrensregelungen, rechtliche B i n dungen u n d K o n t r o l l e n gesichert, nicht aber gerade i m Hinblick auf die Richtigkeit v o m Mehrheitsprinzip; vgl. für die hier kritisierte Auffassung υ. Arnim (Anm. 2), S. 45 ff. Das Mehrheitsprinzip w i r d diesen Sollwert nicht beeinträchtigen, es b r i n g t i h n aber nicht hervor; s. auch Hemberg, J o h n G., Theories of M a j o r i t y Rule, APSR 26 (1932), S. 452 ff. (469). "Decisions so reached are considered as not necessarily embodying greater force, greater wisdom, or greater ethical v a l i d i t y . Indeed, a naked numerical expression, unclothed b y other factors t h a t affect decision-making, stands suspect. I n order to pass upon the ethics of a m a j o r i t y decision, the question must be raised and answered as to h o w the m a j o r i t y came to its decision". Auch die Verfassungsgerichtsbarkeit stellt ein Indiz gegen diese These dar: „Solange die Richtigkeit der Gesetze ohne weiteres (Mehrheitsprinzip!) verbürgt schien u n d das Gesetz geradezu als Emanation der V e r n u n f t galt, k a m eine richter^» liehe Überprüfung v o n Gesetzen v o n vorneherein gar nicht i n Betracht"; v. Arnim, S. 242. ββ s. v o r allem Radbruch, Gustav, Der Relativismus i n der Rechtsphilosophie, i n ders., Der Mensch i m Recht, Göttingen 1957, S. 80 ff. (84); vorsichtiger Kelsen, Hans, Foundations of Democracy, Ethics 66 (1955), Nr. 1, Part. I I (Supplement), S. 1 ff. (38 f.), der (ebd. S. 98 A n m . 74) nicht v o n Rechtfertigung, vielmehr v o n congeniality spricht. Kelsen stellt ausdrücklich fest, daß der Relativismus allein nicht ausreiche (ebd. S. 40) u n d f ü h r t das Mehrheitsprinzip auch an als größte Annäherung an die Freiheit (S. 24 f.), die w i e derum Gleichheit voraussetze (S. 25) u n d außerdem ein "fundamental prerequisite of the relativistic theory of knowledge" sei (S. 17); vgl. z u m ganzen auch Einleitung oben.

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rücksichtigen seien. Letzteres verwirkliche nur das Mehrheitsprinzip. Gleichheitsgedanke und Mehrheitsregel entsteigen dem skeptischen Fundament ohne begründbaren Zusammenhang. Konsequenter Skeptizismus vermag alles und gleichzeitig nichts zu rechtfertigen 67 und bedarf daher der Mehrheitsentscheidung nicht, u m Beschlüsse fassen zu können 6 8 . Nicht genereller Wertrelativismus und absoluter Skeptizismus, aber eine skeptische Grundhaltung, die i n der Erkenntnis eigener und fremder menschlicher Unzulänglichkeit zu Toleranz befähigt, gehört zu den Voraussetzungen des Mehrheitsprinzips 69 , nicht aber zu den Elementen der Rechtfertigung, und bildet den Boden, auf dem die demokratischen Gedanken von Selbstbestimmung und Gleichheit erst gedeihen, indem Ausschließlichkeitsansprüchen von Herrschaftsideologien und ihren Parteigängern entgegengewirkt werden kann 7 0 . Haben die bisher erwähnten Theorien sich darauf verlegt, aus verschiedenen Grundwerten oder i m Rückgriff auf historische Entstehungsgründe die Mehrheitsregel unmittelbar zu begründen und gelegentlich mit einem Hinweis auf die Unmöglichkeit einstimmiger Entscheidungen das Mehrheitsprinzip als einzig erreichbare Maximierung zu fundieren, sollen nunmehr zugunsten eines klaren Verständnisses zwei logische Ebenen i n der Rechtfertigung des Mehrheitsprinzips i n einem ersten Schritt 7 1 getrennt werden. Die Begründung, warum jedem einzelnen Bürger ein Mitentscheidungsrecht zustehen soll, einerseits und die Frage, warum i m Rahmen dieser Partizipation gerade die Mehrheitsregel gelten soll, andererseits sind auseinanderzuhalten 72 . Wie bereits gelegentlich angedeutet, sind es zwei Grundwerte, die das Entscheidungsrecht begründen und die i m allgemeinen gleichzeitig zur Rechtfertigung des Majoritätsprinzips herangezogen werden: das 67

Vgl. auch Kriele, M a r t i n , K r i t e r i e n der Gerechtigkeit, B e r l i n 1963, S. 22 ff.; ders., Recht u n d prakt. Vernunft (Anm. 27), S. 129 f. 88 Legitimität k a n n m i t jeder A r t v o n Legalität gleichgesetzt werden. 69 Vgl. unten V, Β u n d C. 70 Es ist k e i n historischer Zufall, daß diese Rechtfertigung des Mehrheitsprinzips i m Zeitalter der totalitären Herausforderungen der westlichen Demokratien i n den 30er Jahren erstmals vorgetragen wurde. 71 Beide Ebenen sind realiter nicht so streng geschieden, da beide insofern ineinander übergehen, als letztlich dieselben Prinzipien v o n Bedeutung sind. 72 Das w i r d besonders deutlich, w e n n m a n sich v o r Augen hält, daß es neben Mehrheitsentscheidungen auch andere Formen der Teilhabe an H e r r schaft i n der Demokratie gibt u n d geben muß. Bei den Vertretern der Richtigkeitsthese w i r d dieser Unterschied dadurch verdeckt, daß der W e r t — Vernünftigkeit — oft v o n A n f a n g an komparativ formuliert w i r d , obgleich idealiter auch hier das Höchstmaß an Vernünftigkeit erst m i t völliger E i n stimmigkeit erreicht w i r d .

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S e l b s t b e s t i m m u n g s r e c h t u n d die Idee d e r G l e i c h h e i t . I n d e n E i n z e l h e i t e n h e r r s c h t a l l e r d i n g s eine e r h e b l i c h e V e r w i r r u n g . R e i n b e g r i f f l i c h w i r d m e i s t anstelle des S e l b s t b e s t i m m u n g s r e c h t s e n t w e d e r d e r Ged a n k e d e r V o l k s s o u v e r ä n i t ä t 7 3 oder d i e Idee d e r F r e i h e i t 7 4 g e w ä h l t . D e r B e g r i f f des S e l b s t b e s t i m m u n g s r e c h t s erscheint d e m g e g e n ü b e r geeignet e r , w e i l e r s o w o h l die k o l l e k t i v e K o m p o n e n t e — S e l b s t b e s t i m m u n g s recht eines V o l k e s — als auch die i n d i v i d u e l l e P a r t i z i p a t i o n i n e i n e m W o r t z u m Ausdruck b r i n g t 7 5 . Derartige begriffliche Schwierigkeiten entstehen b e i d e r G l e i c h h e i t s i d e e n a t u r g e m ä ß n i c h t .

73

Z u seiner Geschichte s. Kielmansegg, Peter Graf, Volkssouveränität, Stuttgart 1977, T e i l I , S. 16 ff.; zur Rechtfertigung des Mehrheitsprinzips s. Dahl, Robert Α., Vorstufen zur Demokratietheorie, Tübingen 1976, S. 34 ff.; Ranney, A u s t i n / Kendali, Willmoore, Democracy and the American Party System, New Y o r k 1956, S. 29 ff., die allerdings zusätzlich, ohne daß dies einsichtig wäre, den Begriff der Volkskonsultation einführen, u n d die vier Grundprinzipien nicht i n ein Rangverhältnis, sondern nebeneinander stellen, so daß die Rechtfertigung des Mehrheitsprinzips nicht unmittelbar erfolgt; vgl. dazu oben Einleitung. 74 Kelsen, Hans, V o m Wesen u n d W e r t der Demokratie, 2. Aufl., Tübingen 1929 (Nachdruck 1963), S. 9 f.; s. auch Varain (Anm. 2), S. 246. 75 Die Autonomie des Individuums u n d der Gedanke individueller M e n schen» u n d Bürgerrechte, die dem Mehrheitsprinzip den Durchbruch brachten (s. ο. II), sind auf diese Weise bereits i m Begriff enthalten. Die grundsätzlich berechtigte K r i t i k v o n Barsch, Claus E., Die Gleichheit der Ungleichheit. Z u r Bedeutung v o n Gleichheit, Selbstbestimmung u n d Geschichte i m Streit u m die konstitutionelle Demokratie, München 1979, S. 48 ff. am Begriff der Selbstbestimmung als Begründung demokratischer Mitbestimmung richtet sich i n erster L i n i e gegen die Übersteigerimg dieses Prinzips i n der kritischen Demokratietheorie (dazu s. Einleitung). W e n n m a n i m Sinne dieser Demokratisierungskonzepte Selbstbestimmung r a d i k a l als Identogenese begreift, k a n n Selbstbestimmung n u r ganz formal, gewissermaßen inhaltsleer verstanden werden. Deshalb mag zwar dem empirischen Selbst durch eine M i t w i r k u n g am Entscheidungsprozeß ein größeres Maß an Mitbestimmung zukommen, nicht aber i m Sinn der Identogenese, da nicht feststellbar ist, ob sich w i r k l i c h das unbestimmte Selbst durchsetzt, u n d zudem sachliche Gesichtspunkte, w e n n sie bei der Entscheidung berücksichtigt werden, Fremdbestimmung per definitionem sind. Bei dieser K r i t i k v o n Bärsch w i r d wiederum deutlich, daß der Gedanke der Autonomie nicht i n Mitentscheidung aufgelöst werden k a n n u n d darf. Trotz aller begrifflichen Prägnanz der Position v o n Bärsch erscheint es übertrieben, nunmehr auch den Begriff der Selbstbestimmung als unbrauchbar über B o r d zu werfen. A u c h w e n n Mitentscheidung nicht radikal als Bestimmung des Selbst begriffen werden kann, bleibt es doch richtig, daß der Mensch nicht v ö l l i g determiniert durch äußere Umstände handelt u n d über einen Handlungsspielraum bei freier Entscheidung verfügt u n d daher i n gewissem Sinn als autonome Person verstanden werden muß. U n d es k a n n auch nicht zweifelhaft sein, daß diese Autonomie bei k o l l e k t i v e n Entscheidungen, die den Einzelnen berühren u n d betreffen, i n gewissem Umfang ein Recht auf Partizipation impliziert. Dann bleibt aber die Verwendung des herkömmlichen Wortes „Selbstbestimmung" als t r a d i t i o neller Begriff weiter sinnvoll, u m den Gedanken eines Mitentscheidungsrechts i m Prinzip zu begründen. Die Ausformung dieses Rechts i m einzelnen bedarf allerdings näherer Rechtfertigung.

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E r h e b l i c h u m s t r i t t e n ist jedoch, w e l c h e r R a n g d e n b e i d e n

Werten

zuzuschreiben i s t 7 6 . E r s c h e i n t e i n i g e n 7 7 v o r n e h m l i c h 7 8 d i e F r e i h e i t o d e r V o l k s s o u v e r ä n i t ä t entscheidend, sehen a n d e r e 7 9 i n d e r G l e i c h h e i t das g e w i c h t i g s t e M o m e n t , w ä h r e n d eine d r i t t e R i c h t u n g aus d e r wertigen

Kombination

beider

Werte

das

Mehrheitsprinzip

gleichheraus-

s c h ä l t 8 0 . E i n T e i l d e r P r o b l e m a t i k r e s u l t i e r t b e r e i t s aus d e r B e g r i f f s b i l d u n g . Je k o l l e k t i v e r das S e l b s t b e s t i m m u n g s r e c h t gefaßt w i r d , u m so eher b e d a r f

dieser

Gedanke

der Ergänzung

d u r c h die

individuelle

G l e i c h h e i t 8 1 . Das g i l t insbesondere f ü r das K o n z e p t d e r V o l k s s o u v e r ä n i t ä t . W i r d d i e F r e i h e i t sofort a u f d e n E i n z e l n e n bezogen, k a n n w e i t g e h e n d a u f die G l e i c h h e i t als gesondertes M e r k m a l v e r z i c h t e t w e r d e n 8 2 . A n d e r s g e a r t e t s i n d d i e S c h w i e r i g k e i t e n , d i e sich b e i d e r A b l e i t u n g v o n d e r G l e i c h h e i t e i n s t e l l e n . P r i m a facie j e d e n f a l l s erscheint d e r Schluß v o n d e r G l e i c h h e i t a u f d i e M e h r h e i t s r e g e l n i c h t z w i n g e n d . O h n e das zusätzliche G l i e d eines M i t e n t s c h e i d u n g s r e c h t s , das m e i s t u m s t ä n d l i c h aus d e r G l e i c h h e i t a l l e r Menschen g e f o l g e r t w i r d , w i r d das M e h r h e i t s p r i n z i p n i c h t p l a u s i b e l 8 3 . Das D i l e m m a i s t u n a u s w e i c h l i c h . G l e i c h 76 Die angeführten A u t o r e n betrachten diese Werte n u r speziell i m H i n blick auf den Mehrheitsgrundsatz. 77 s. v o r allem Kelsen (Anm. 74), S. 8 ff. u n d ders. (Anm. 66), S. 24 f.; ders., Allgemeine Staatslehre, B e r l i n 1925, S. 323. 78 Dem ersten Anschein nach werden die jeweiligen Prinzipien, Freiheit u n d Gleichheit, sogar isoliert zur Begründung verwendet, bei näherem H i n sehen w i r d aber offensichtlich, daß versteckt jeweils der andere Wert die Argumentation ergänzt. Das g i l t natürlich sowohl f ü r die Idee der Freiheit w i e für das Gleichheitsprinzip. 70 Mayo (Anm. 1), S. 178, 182; Leibholz, Gerhard, Das Wesen der Repräsent a t i o n u n d der Gestaltwandel der Demokratie i m 20. Jahrhundert, 3. A u f l . B e r l i n 1966, S. 224; „das Mehrheitsprinzip ist demokratisch, w e i l es das größtmögliche Maß v o n politischer Gleichheit u n d damit die größtmögliche Übereinstimmung der individuellen W i l l e n m i t dem I n h a l t des Gesamtwillens sichert". Pennock, J. Roland, Responsiveness, Responsibility and M a j o r i t y Rule, APSR 46 (1952), S. 790 ff. (792): " T h e principle of the m a j o r i t y is the principle of equality"; vgl. auch Starosolskyj (Anm. 5), S. 97; Hesse (Anm. 62), S. 190 ff.; Jellinek, Georg, Das Recht der Minoritäten, W i e n 1898, S. 27. 80 Dahl (Anm. 73), S. 34 ff.; Kielmansegg (Anm. 70), S. 223; vgl. auch S. 206; Varain (Anm. 2), S. 246; Ranney / Kendall (Anm. 73), S. 29 ff.; Dürig, Günter, Staatsformen, HdSW Bd. 9, Göttingen 1956, S. 742 ff. (S. 747 f.). 81 Deswegen verbinden v o r allem Dahl, Kielmansegg u n d Ranney / Kendall , Volkssouveränität u n d Gleichheit. 82 Vgl. v o r allem Kelsen (Anm. 74), S. 9, der aber festhält, die Freiheit beziehe die Gleichheit jedes Bürgers m i t ein. 83 s. Leibholz, Strukturprobleme (Anm. 59), S. 151; dort (S. 153) schreibt Leibholz zugleich, ohne Freiheit könne auch die Gleichheit i m politischen Raum nicht v e r w i r k l i c h t werden. Leibholz sieht aber i n dem Vorrang der Gleichheit geradezu das Kennzeichen moderner Plebiszitärer Demokratie u n d w i l l den Vorrang der Freiheit auf die liberale Demokratie des 19. Jh. beschränkt wissen. Deshalb sei die Mehrheitsentscheidung das hervorragendste

I I I . Die Rechtfertigung des Mehrheitsprinzips

96

h e i t ohne F r e i h e i t

ist b e s c h r ä n k t

auf

eine f o r m a l e

und

materielle

G l e i c h b e h a n d l u n g , g e w ä h r t d e m E i n z e l n e n noch k e i n positives Recht, das sich erst i n d e r T e i l h a b e a n H e r r s c h a f t , i n d e r M i t e n t s c h e i d u n g u n d aktiver

S e l b s t b e s t i m m u n g r e a l i s i e r t 8 4 . A n d e r e r s e i t s t r ä g t das

Selbst-

b e s t i m m u n g s r e c h t e g a l i t ä r e n C h a r a k t e r u n d v e r d a n k t seine A n e r k e n n u n g e i n e m V e r s t ä n d n i s , das a l l e Menschen als i m p o l i t i s c h e n

Sinn

gleich begreift. Eine Isolierung beider W e r t e k a n n i h r e n inneren Z u s a m m e n h a n g n u r kaschieren, n i c h t lösen. L i b e r t é u n d é g a l i t é s i n d k o m p l e m e n t ä r u n d b e d i n g e n sich i m p o l i tischen B e r e i c h gegenseitig, g l e i c h z e i t i g aber w ü r d e d i e u n b e s c h r ä n k t e H e r r s c h a f t des e i n e n P r i n z i p s d e n T o d des a n d e r e n b e d e u t e n 8 5 . F r e i h e i t und

Gleichheit

bedürfen

daher

gegenseitig

des

spannungsvollen

Ausgleichs. N u r die j e w e i l i g e A n e r k e n n u n g eines gleichen

Selbstbestimmungs-

rechts a l l e r v e r m a g u n a b h ä n g i g v o m E r g e b n i s d e r e i n z e l n e n E n t s c h e i d u n g die T e i l h a b e des E i n z e l n e n a n H e r r s c h a f t s a k t e n z u b e g r ü n d e n . N u r a u f diese Weise ist eine R e c h t f e r t i g u n g dessen m ö g l i c h , daß d i e Wesensmerkmal moderner Demokratie. Leibholz, Repräsentation (Anm. 79), S. 224. Die gesamte Konzeption Leibholz' — das sei abschließend vermerkt — v o n der modernen Demokratie als plebiszitärer, nicht repräsentativer Demokratie ist fragwürdig; vgl. n u r die K r i t i k bei Sternberger, Dolf, Nicht alle Staatsgewalt geht v o m V o l k aus, Stuttgart 1971, S. 23 ff. 84 Nicht v e r w u n d e r n k a n n es daher, daß die — zumindest v o m Anspruch her — egalitären, kommunistischen Gesellschaften das Gleichheitsprinzip auf i h r e n Schild gehoben haben u n d dennoch dem Selbstbestimmungsrecht abgeneigt sind, auch w e n n sie es rhetorisch, propagandistisch für sich reklamieren, aber ausdrücklich v o m Führungsanspruch der Partei überlagert sehen wollen; s. Leonhard, Wolfgang, Sowjetideologie heute I I . Die politischen Lehren, F r a n k f u r t 1962, S. 37, 66 f.; Ergebnis dieser Auffassung ist dann, daß die Bürger n u r i n einer A r t A k k l a m a t i o n , die v o n A n f a n g an als einzig richtig postulierte P o l i t i k der Partei bestätigen; s. Sternberger, G r u n d u n d A b g r u n d (Anm. 32), S. 149 ff., 276 ff. 85 Z u sehr die Harmonie betonend Kriele, M a r t i n , Befreiung u n d politische Aufklärung, Freiburg 1980, S. 57 ff.; es bleibt jedenfalls eine P o l i t i k der Egalisierung denkbar, die den Kernbereich der Freiheit tangiert, w i e eine extrem liberale P o l i t i k der Gleichheit den Boden entziehen kann. Der Gegensatz entsteht denn auch weniger i n einer idealtypischen Begrifflichkeit, sondern mehr aus der Tatsache, daß die Menschen, durch persönliche u n d gesellschaftliche Einflüsse verstärkt, i n mancher Hinsicht ziemlich ungleich sind u n d daher eine v ö l l i g „freie" Entwicklung, ohne jede regulierende staatliche E i n w i r k u n g , eine grobe Ungleichheit hervorrufen muß. Deshalb ist es Aufgabe des Staates, einen Ausgleich zwischen egalisierender Einflußnahme u n d Gewährleistung eines größtmöglichen Freiheitsraumes der I n d i v i d u e n zu finden. Das Konzept der Chancengleichheit wies hier i n die richtige Richtung. Die F u n k t i o n der Gleichheit, die Autonomie aller zu sichern, k o m m t bereits bei K a n t zum Ausdruck, w i e jetzt Luf, Gerhard, Freiheit u n d Gleichheit, W i e n u. a. 1978, sehr schön dargelegt hat, s. ebd. v o r allem S. 60 ff., 144 ff. K a n t erkennt auch, daß k u l t u r e l l e r Fortschritt zu gesellschaftlicher Ungleichheit führt, andererseits aber die Lebensbedingungen aller fördert, s. ebd. S. 40 ff.

I I I . Die Rechtfertigung des Mehrheitsprinzips

97

Bürger aufgerufen sind, gemeinsam die grundsätzlichen politischen Entscheidungen zu treffen, Regierung und Rechtsetzung ihren Repräsentanten anzuvertrauen, u m jedesmal, gleichwie fehlerhaft und unvollkommen die Beschlüsse lauten mögen, legitime Herrschaft hervorzubringen, die von allen akzeptiert werden kann. Es sei daran erinnert, daß hier nur die Teilhabe an Herrschaft als ein Element der Trias von Legitimitätsanforderungen angesprochen ist, die einer politischen Ordnung demokratische Legitimität verleihen und aus denen wiederum Begrenzungen dieses Entscheidungsrechts fließen können. Selbstbestimmungsrecht und Gleichheit 8 6 fundieren m i t h i n das Recht des Bürgers zur Mitentscheidung. Doch wäre, so gesehen, nicht erst die Einstimmigkeit die Vollendung dieser Werte? W i r d das Selbstbestimmungsrecht der Minderheit nicht von der Mehrheit übergangen, ja unterdrückt, wenn die unterlegene Minderheit sich dem Diktat der Mehrheit beugen muß? Wie also kann man von gleicher Selbstbestimmung zur Mehrheitsregel gelangen, oder welcher zusätzlichen Voraussetzungen bedarf dieser Schritt? Dahl 8 7 hat versucht, direkt aus den Prinzipien der Volkssouveränität und der Gleichheit das Mehrheitsprinzip abzuleiten. Danach ergeben die folgenden beiden 8 8 „Definitionen" unmittelbar die Mehrheitsregel. „1. Die Bedingung der Volkssouveränität ist nur dann erfüllt, wenn es zutrifft, daß jedesmal, wenn eine Möglichkeit der Wahl zwischen politischen Alternativen besteht, diejenige gewählt und als Regierungspolit i k ausgeführt wird, die von den Mitgliedern am meisten bevorzugt wird. 2. Die Bedingung politischer Gleichheit ist nur dann erfüllt, wenn die Kontrollmöglichkeiten über Regierungsentscheidungen so aufgeteilt sind, daß jedesmal, wenn eine Möglichkeit der Wahl zwischen politischen Alternativen besteht, die Präferenz jedes einzelnen Mitgliedes bei der Entscheidung über die als Regierungspolitik durchzuführende 86 Fach (Anm. 45), S. 215 wendet gegen die Gleichheit als Begründung des Mehrheitsprinzips ein, gleicher Zählwert sage nichts aus über den S t i m m anteil, das genaue Mehrheitsverhältnis. Dieses Argument t r i f f t die erste Ebene, die Rechtfertigung, w a r u m der Einzelne überhaupt abstimmen soll, jedenfalls nicht. 87 Dahl (Anm. 73), S. 34 ff., der diese Operationalisierung v o n Volkssouveränität u n d Gleichheit allerdings dem Konzept der v o n i h m so genannten populistischen Demokratie zuordnet. I n der eigenen Demokratievorstellung, dem System der Polyarchie, w i r d diese klare Herleitung des Mehrheitsprinzips dadurch i n unscharfes Licht getaucht, daß eine Zusammenstellung v o n neun Bedingungen, i n denen Volkssouveränität u n d Gleichheit i m p l i z i t enthalten sind, die Polyarchie konstituiert. Die ausführliche Behandlung der Dahl'schen Operationalisierung rechtfertigt sich daraus, daß sie die bisher einzige, detaillierte geblieben ist. 88 Die 1. Definition Dahls k a n n ausgelassen werden, da sie sich auf die Demokratie als Gesamtsystem bezieht u n d nicht auf das Mehrheitsprinzip.

7 Heun

98

I I I . Die Rechtfertigung des Mehrheitsprinzips

A l t e r n a t i v e gleiches G e w i c h t h a t 8 9 . " D i e d a r a u s folgende

Mehrheits-

regel 90 w i r d w i e folgt d e f i n i e r t 9 1 : „Das Prinzip der Mehrheitsherrschaft v e r l a n g t , daß b e i d e r E n t s c h e i d u n g z w i s c h e n A l t e r n a t i v e n A l t e r n a t i v e g e w ä h l t w i r d , die v o n d e r g r ö ß e r e n A n z a h l

diejenige

befürwortet

w i r d . W e n n also z w e i oder m e h r A l t e r n a t i v e n gegeben s i n d — x, u s w . — , d a n n ist es eine n o t w e n d i g e u n d h i n r e i c h e n d e

y

Bedingung

d a f ü r , daß χ R e g i e r u n g s p o l i t i k w i r d , daß die A n z a h l d e r j e n i g e n , d i e χ j e d e r a n d e r e n A l t e r n a t i v e v o r z i e h e n , größer ist als d i e Z a h l d e r j e n i g e n , d i e i r g e n d e i n e r e i n z e l n e n A l t e r n a t i v e v o r χ d e n V o r z u g geben."

Die

H e r l e i t u n g des M a j o r i t ä t s p r i n z i p s

nur

g e l i n g t i m w e s e n t l i c h e n aber

deswegen so l e i c h t u n d e i n l e u c h t e n d aus d e n Prämissen, w e i l d i e M e h r heitsregel versteckt bereits i n der F o r m e l v o n der

Volkssouveränität

e n t h a l t e n ist, w o es h e i ß t , daß die A l t e r n a t i v e χ v o n d e n M i t g l i e d e r n am meisten

b e v o r z u g t w i r d 9 2 . D i e Frage, die es z u b e a n t w o r t e n g i l t , ist

aber doch, ob j e d e r e i n e r M a ß n a h m e w e g e n seines S e l b s t b e s t i m m u n g s 89

Dahl (Anm. 73), S. 35. Dahl (Anm. 73), S. 57 f. hat auch versucht, diese A b l e i t u n g zu beweisen, selbst aber dahingehend Zweifel geäußert, daß die folgende Beweisführung Gefahr laufe, einen i m wesentlichen überflüssigen Beweis der bereits i n den Definitionen enthaltenen logischen Verhältnisse zu geben, u n d i n der Tat werden die Definitionen n u r i n logische, symbolische Zeichen übersetzt. W i r können uns daher darauf beschränken, den letzten „Satz" zu zitieren: NP (x, y)>NP(y, x)++xPg y , wobei NP(x, y) die Menge der Bürger ist, die die A l t e r n a t i v e χ der A l t e r n a t i v e y vorziehen u n d xPgy bedeutet, daß χ v o n der Regierung als Regierungspolitik der A l t e r n a t i v e y vorgezogen w i r d . Fach (Anm. 45), S. 202 f. A n m . 3 hat zu Recht darauf aufmerksam gemacht, daß diese Formel entgegen Dahls eigenem Anspruch n u r 2 Präferenzen u n d deswegen die Regel v o n der absoluten Mehrheit enthält, während D a h l mehrere A l t e r n a t i v e n u n d die relative Mehrheit als Regel beweisen wollte. 90

Außerdem hat Fach, S. 217 f. eingewendet, daß jedes „Quorum" 5g n

1

den

geforderten Bedingungen entspreche. Dieser E i n w a n d greift aber nicht durch, da es n u r notwendige, aber auch hinreichende Bedingung sein muß, daß NP (x, y) > NP (y, x), so daß das Erfordernis einer qualifizierten M e h r heit dieser Formel eben nicht mehr genügen würde, da bei einfacher M e h r heit dann eben nicht mehr die Regierimg χ zur Regierungspolitik erheben könnte. Richtig ist allerdings, daß jede Mehrheit ^ " 1" 1 die Bedingungen erf ü l l t ; das ist aber auch n u r sinnvoll, da es geradezu absurd wäre, ausschließ1 lich bei n oder 5 + 1 diese Folge zuzulassen. (Möglicherweise beruht ein 2 ώ T e i l des Denkfehlers auf der falschen Verwendung des Begriffs Quorum, dessen eine Bedeutung eben die Festlegung einer qualifizierten Mehrheit ist; zu diesem Begriff s. noch u n t e n (IV, A , 4), ebd. auch eingehend zur hier verwendeten Terminologie der verschiedenen Mehrheitsarten „relative, einfache, absolute u n d qualifizierte Mehrheit". 91 Dahl (Anm. 73), S. 35. 92 Dazu muß n u r noch der Gleichheitsgedanke treten, u n d die Mehrheitsregel ist „bewiesen". Derselbe E i n w a n d g i l t natürlich ebenso für den formallogischen Beweis, j a hier springt der logische K u n s t g r i f f noch stechender ins Auge.

I I I . Die Rechtfertigung des Mehrheitsprinzips

99

rechts zustimmen muß oder ob die absolute Mehrheit ausreicht. Dahl erklärt nicht, warum die unterlegene Minderheit sich dem ihrem Selbstbestimmungsrecht widersprechenden Mehrheitsbeschluß fügen soll. Als ein kurios anmutender Versuch, diese Frage zu beantworten, muß der Ansatz von Fach 93 bezeichnet werden. Der Wahlmechanismus des Mehrheitsprinzips werde hoffnungslos überfordert, wenn man i h m die Garantie von Grundwerten zumute. Demokratische Abstimmungsmethoden müßten vielmehr „strukturell indifferent" sein. Annahme oder Ablehnung einer von zwei Alternativen müßten vor der Entscheidung gleichwahrscheinlich sein, dann sei die Regel legitim und gerechtfertigt. Dieses Erfordernis gewährleiste nur der Grundsatz der absoluten Mehrheit bei einer ungeraden Gesamtanzahl von Abstimmenden, unter der Voraussetzung gleichen Stimmgewichts und unter der A n nahme, daß jedes Individuum sich m i t gleicher Wahrscheinlichkeit für die eine wie die andere Alternative entscheide (!). Unter diesen Bedingungen ist allerdings evident, daß beide Möglichkeiten des Ausgangs der Wahl gleichwahrscheinlich sind, da es letztlich allein auf die eine, letzte Person ankommt, die die Gesamtzahl zu einer ungeraden werden läßt und deren Entscheidung für χ oder y j a per definitionem gleichwahrscheinlich ist 9 4 . Man würde aber gerne wissen, welchen Gewinn diese Feststellung für die Rechtfertigung des Mehrheitsprinzips erbringt. Die These erklärt nicht, warum überhaupt die Bürger bei politischen Entscheidungen m i t w i r k e n sollen. Hier bedarf es eben doch des Rückgriffs auf das Selbstbestimmungsrecht und die Gleichheit 95 . Ebensowenig fruchtbar ist der Gedanke von der strukturellen Indifferenz für den abstimmungstechnischen Aspekt der Mehrheitsregel. Die gleiche Gewinnchance vor der Abstimmung w i r d die unterlegene Minder93

Fach (Anm. 45), S. 221 f. A u f die von Fach i n symbolischen Zeichen formulierte Beweisführung k o m m t es hier nicht weiter an, da der Gedanke sich auch ohnedies verstehen läßt. E i n Beispiel soll jedoch den Sachverhalt verdeutlichen: W e n n die Gesamtzahl der Abstimmenden η = 100 beträgt u n d die Entscheidung jedes Einzelnen für jede der beiden A l t e r n a t i v e n gleichwahrscheinlich ist, lautet das Abstimmungsergebnis nach der Wahrscheinlichkeitsrechnung 50 Stimmen für χ u n d 50 Stimmen für y\ bei η = 101 ist es dementsprechend gleichermaßen wahrscheinlich, daß entweder Λ: oder y die Mehrheit v o n 51 Stimmen 94

erlangt

die absolute Mehrheit bei einer geraden Z a h l der A b -

stimme:

stimmt die Annahme struktureller Indifferenz bereits

nicht mehr, sondern es findet n u r noch eine bestmögliche Annäherung statt, wie Fach selbst konstatiert! 95 Die Gleichheit setzt Fach selbst ausdrücklich voraus. Eine reine Betrachtung des demokratischen Mehrheitsprinzips als Technik ohne Berücksichtigung der zugrunde liegenden demokratischen Prinzipien bleibt eigentümlich blaß u n d inhaltsleer. ·

100

I I I . Die Rechtfertigung des Mehrheitsprinzips

heit nicht i m nachhinein davon überzeugen, sich dem Mehrheitsbeschluß zu beugen 96 . Ein gleichfalls abstraktes Denkspiel mag das erläutern. Die Entscheidung jedes Einzelnen zwischen zwei Alternativen 9 7 ist unter der Voraussetzung, daß jeder sich mit gleicher Wahrscheinlichkeit entweder für χ oder y entscheidet, gleichermaßen strukturell indifferent, so daß eine zufällige, etwa durch Los erfolgende, Übertragung der Entscheidungsgewalt an irgendeine beliebige Person i n einem konkreten Fall diesem K r i t e r i u m ebenfalls genügen würde, — ein Gedanke, der sich wahrlich m i t demokratischem Gedankengut nicht verträgt. Richtig ist allein, daß die Mehrheitsregel gegenüber den Alternativen neutral ist und sich insofern für beliebige Entscheidungsgegenstände eignet, ohne i n irgendeiner Weise für bestimmte Alternativen vorteilhaft oder nachteilig zu sein, wie etwa der Zwei-DrittelMehrheit ein konservatives Element der Bevorzugung des status quo anhaftet 9 8 . Diese Eigenschaft rechtfertigt das demokratische Mehrheitsprinzip noch nicht. Deshalb muß eine andere Begründung des Mehrheitsprinzips gesucht werden. Das verbreitetste und geläufigste Argument lautet, daß die an sich erforderliche Einstimmigkeit nicht praktikabel, weil i n der politischen Realität unerfüllbar ist. Eine Mehrheitsentscheidung sei das maximal erreichbare, sei die größtmögliche Annäherung an Freiheit und Gleichheit 99 . Das Mehrheitsprinzip gilt, „quia universi consentire 96

Die mathematisch-abstrakte Bedingung gleicher Wahrscheinlichkeit ist darüber hinaus seltsam wirklichkeitsfremd. Die Behauptung, aufgrund ihrer strukturellen Indifferenz habe sich die Mehrheitsregel historisch durchgesetzt, mutet deshalb etwas irreal an. 97 Das Modell versagt i m übrigen natürlich, w e n n mehr als zwei A l t e r nativen zur W a h l stehen. Bei drei A l t e r n a t i v e n ist die Regel der absoluten Mehrheit nicht mehr durch die strukturelle Indifferenz gerechtfertigt. 98 Z u r Eigenschaft der Neutralität s. Sen, Κ . A m a r t y a , Collective Choice and Social Welfare, Edinburgh 1970, S. 71 ff.; Eschenburg (Anm. 15), S. 175. 99 s. Kelsen (Anm. 74), S. 9 f.; Leibholz, Repräsentation (Anm. 79), S. 224; Friedrich, Carl Joachim, Demokratie als Herrschafts- u n d Lebensform, H e i delberg 1959, S. 60 f.; jetzt auch Kriele, Befreiung (Anm. 85), S. 65. A u s f ü h r lich u n d m i t einer besonderen Note Rotenstreich, Nathan, Rule by M a j o r i t y or by Principles, Social Research 21 (1954), S. 411 ff., der die Demokratie v o n zwei Grundsätzen geprägt sieht, v o n m a j o r i t y rule u n d einer rule of p r i n ciples, wobei "Principles are the fundamental ground of m a j o r i t y rule and also they set its concrete limitations" (S. 419). M a j o r i t y rule u n d rule of principles müssen sich ergänzen, da knowledge zum eigentlichen Gegenprinzip der Mehrheitsherrschaft w i r d , das einerseits die Menschen nicht zum bloßen Objekt degradieren darf u n d auf das andererseits P o l i t i k sich gründen muß (S. 424 ff.), w e i l "knowledge" sich nicht m i t dem Prinzip der Gleichheit vereinbaren läßt (S. 422). Das Mehrheitsprinzip enthält dabei drei Elemente (S. 412 ff.): 1. die qualitative Gleichheit der Menschen. 2. ist das M e h r heitsprinzip " o n l y an approximate quantitative expression of the idea of the equality of m a n " u n d 3. ist das Mehrheitsprinzip eine "approximate representation of an ideal social t o t a l i t y " . Die größtmögliche Annäherung ist hier also doppelt charakterisiert, sowohl v o m einzelnen Individuum, w i e

101

I I I . Die Rechtfertigung des Mehrheitsprinzips n o n p o s s u n t " 1 0 0 . E i n e p r ä g n a n t e F o r m u l i e r u n g dieser Ü b e r l e g u n g auch v o n L i n c o l n ü b e r l i e f e r t 1 0 1 :

„Einstimmigkeit

ist u n m ö g l i c h ;

ist die

H e r r s c h a f t e i n e r M i n d e r h e i t als ständige E i n r i c h t u n g ist g ä n z l i c h u n z u lässig; so daß, w e n n das M e h r h e i t s p r i n z i p a b g e l e h n t w i r d , n u r A n a r c h i e oder Despotie i n i r g e n d e i n e r F o r m ü b r i g b l e i b e n . " D i e Frage, w e l c h e M e h r h e i t g e n a u e r f o r d e r l i c h ist, k a n n danach a l l e r d i n g s recht b e l i e b i g b e a n t w o r t e t w e r d e n 1 0 2 . T e n d e n z i e l l k ö n n e n danach h ö h e r e M e h r h e i t e n als d e m o k r a t i s c h e r 1 0 3 gelten, s i n d aber i n d e r Regel desto schwerer z u erreichen, j e m e h r sie sich d e r E i n s t i m m i g k e i t n ä h e r n . D e s w e g e n k a n n das M i n d e s t m a ß d e r einfachen oder sogar, o b w o h l m i t d e m

Grund-

gedanken nicht v ö l l i g vereinbar, der relativen M e h r h e i t

ausrei-

für

chend erachtet w e r d e n . Diese Ü b e r l e g u n g e n f ü h r e n z u d e n g r u n d s ä t z l i c h e n A n f o r d e r u n g e n der einleitenden D e m o k r a t i e t h e o r i e 1 0 4 zurück. Neben der Teilhabe an H e r r s c h a f t m u ß e i n l e g i t i m e s demokratisches S y s t e m auch g e w ä h r leisten, daß E n t s c h e i d u n g e n g e t r o f f e n w e r d e n 1 0 5 . Das M i t e n t s c h e i d u n g s v o m sozialen Ganzen aus. " A s against social totality, m a j o r i t y rule represents the m i n i m u m men have attained as y e t " ; "as against fundamental individualism, i t represents the m a x i m u m men have attained so far" (S. 414); vgl. die ähnliche Beschreibung v o n Simmel (Anm. 4), S. 196 f., der das M e h r heitsprinzip „als Ausdruck des tragischen Dualismus zwischen dem Eigenleben des Individuums u n d dem des gesellschaftlichen Ganzen" begreift. Rausch (Anm. 10), S. 279 verwendet für diese Rechtfertigung den Ausdruck „technisch funktional", während er v o n „relativer" Rechtfertigung bei dem Typus spricht, der die Zuweisung der Entscheidung an die Mehrheit für gerechter h ä l t als eine Zuordnung an eine Minderheit; vgl. auch Baltzer, Johannes, Der Beschluß als rechtstechnisches M i t t e l organschaftlicher F u n k t i o n i m Privatrecht, K ö l n 1965, S. 215: das Mehrheitsprinzip sei der technische Ausgleich i m K o n f l i k t zwischen Gleichheit u n d Aktionsfähigkeit des Organs. Ausdrücklich gegen diese Begründung, Schindler (Anm. 20), S. 69 f. 100

Paulus Dig. 41, 2, l 2 2 ; vgl. auch Ulpian Dig. 38, 3, l 1 ; für die m i t t e l a l t e r liche Korporationslehre dazu Gierke , Otto von, Das deutsche Genossenschaftsrecht, Bd. I I I , B e r l i n 1881 (Neudruck Graz 1954), S. 156; u n d vgl. auch Starosolskyj (Anm. 5), S. 36 f. 101 I n seiner Antrittsrede v o m 4.3.1861, zitiert nach Dahl (Anm. 73), S. 33. 102 So der E i n w a n d v o n Fach (Anm. 45), S. 215 f. gegen das Konzept der Volkssouveränität. 103 Friedrich (Anm. 99), S. 61 hat deshalb bei knappen Mehrheiten v o n einer n u r dünnen Legitimitätsschicht der Entscheidung gesprochen. 104 s. oben Einleitung. 105 Deswegen w i r d die theoretisch notwendige absolute Mehrheit i n der Verfassungswirklichkeit nicht uneingeschränkt angewendet, sondern h i n u n d wieder eine relative Mehrheit als ausreichend betrachtet. Das Problem der relativen Mehrheit ist abhängig v o n der Z a h l der wählbaren A l t e r n a t i v e n (s. u n t e n I V , A , 4). Die Überlegung findet sich bereits bei Franciscus de Vitoria, Relectiones Tredecim, Ingolstadt 1580, relectio de potest ate c i v i l i (1528), Nr. 14, S. 135; dt. bei Voigt, A l f r e d (Hrsg.), Der Herrschaftsvertrag, Neuwied 1965, S. 90: bei Einstimmigkeit werde für das W o h l des Gemeinwesens unzureichende Vorsorge getroffen. Z u einer Rechtfertigung aus dem Gesichtspunkt der Blockierung der Entscheidung nach einem ökonomischen Ansatz Eschenburg (Anm. 15), S. 170 ff.

102

I I I . Die Rechtfertigung des Mehrheitsprinzips

recht ist n i c h t d e r einzige G e s i c h t s p u n k t d e m o k r a t i s c h e r

Legitimität106.

Das ist das eine g e w i c h t i g e M o m e n t d e r R e c h t f e r t i g u n g des M e h r h e i t s p r i n z i p s . Z u s ä t z l i c h ist aber z u b e r ü c k s i c h t i g e n , daß d i e

Blockierung

e i n e r E n t s c h e i d u n g , die u n t e r d e r G e l t u n g des E i n s t i m m i g k e i t s p o s t u l a t s e i n t r e t e n m ü ß t e , l e t z t l i c h ebenfalls sich als E n t s c h e i d u n g D i e M e h r h e i t m ü ß t e sich d e r M i n d e r h e i t b e u g e n Zugrundelegung

des gleichen, i n d i v i d u e l l e n

108

darstellt107.

. D e s h a l b ist es u n t e r

Selbstbestimmungsrechts

g e r e c h t f e r t i g t , d e r a b s o l u t e n M e h r h e i t 1 0 9 das Entscheidungsrecht e i n z u r ä u m e n . D i e absolute M e h r h e i t ist d a h e r g e w i s s e r m a ß e n d e r

Grund-

t y p u s a l l e r M e h r h e i t e n . D e r V o r w u r f eines gewissen mechanistischen D e n k e n s ist a l l e r d i n g s i n s o w e i t n i c h t ganz v o n d e r H a n d z u w e i s e n 1 1 0 . D e r E i n w a n d l ä ß t sich j e d o c h ganz a l l g e m e i n gegen d e n G l e i c h h e i t s g e d a n k e n w e n d e n 1 1 1 u n d b e r ü h r t deswegen d i e G r u n d l a g e n d e m o k r a tischer L e g i t i m i t ä t ü b e r h a u p t . Einer unterschiedlichen I n t e n s i t ä t 1 1 2 , m i t der die A l t e r n a t i v e n

von

d e n B ü r g e r n b e v o r z u g t w e r d e n , R e c h n u n g z u t r a g e n ist das M e h r h e i t s 106 Die Notwendigkeit der Entscheidung betont auch Laufer, Heinz, Die demokratische Ordnung, Stuttgart 1966, S. 98; i m Grunde weist bereits der Gedanke der U n p r a k t i k a b i l i t ä t auf diesen Gesichtspunkt hin, w e n n auch nicht i n völliger Klarheit. 107 Es soll aber nicht geleugnet werden, daß die Verhinderung einer E n t scheidung i m Sinne eines Vetos durchaus andere Qualität besitzt als die Möglichkeit positiver Entscheidung. Allerdings g i l t dies wiederum dann n u r eingeschränkt, w e n n das Veto die Beibehaltung der bisherigen P o l i t i k oder des status quo zur Folge hat; vgl. dazu Dahl (Anm. 73), S. 52 A n m . 16; realiter stellen sich die A l t e r n a t i v e n selten so idealtypisch dar, daß χ positives T u n u n d y die schlichte Negation v o n χ bedeutet, vgl. zu diesem Problem auch Pennock (Anm. 79), S. 792. 108 Erstmals w o h l Franciscus de Vitoria, 1528 (wie A n m . 105), Simmel (Anm. 4), S. 188; s. auch Kelsen (Anm. 74), S. 9 f.; Varain (Anm. 2), S. 249. 109

d. h. bei einer ungeraden Gesamtzahl

U

* , bei einer geraden und £t Ζ jede Mehrheit, die darüber hinausgeht. Streng genommen, bedürfen andere Mehrheitsarten deswegen gesonderter Rechtfertigung (dazu unter I V , A , 4). 110 So Fach (Anm. 45), S. 218 gegen Kelsen, der wiederum (Anm. 74), S. 9 diesen V o r w u r f den Anhängern der Rechtfertigung des Mehrheitsprinzips durch die Gleichheit entgegengehalten hatte. 111 Vgl. stellvertretend f ü r viele Konservative die K r i t i k v o n Hippel; beim Mehrheitsprinzip trete an die Stelle qualitativer Unterschiedlichkeit die bloße Quantität, die nicht abwäge, sondern zähle; Hippel, Ernst von, Z u r Problematik der Grundbegriffe des öffentlichen Rechts, i n Gedächtnisschrift für W a l t e r Jellinek, München 1955, S. 21 ff. (23); ders., V o m Wesen der Demokratie, Bonn 1947, S. 49 f.; Mechanisches u n d moralisches Rechtsdenken, Meisenheim 1959, S. 312 sowie ebd. S. 407 f. die Formulierung „das politische Massenatom des Bürgers"; s. auch Binder, Julius, System der Rechtsphilosophie, 2. Aufl., B e r l i n 1937, S. 300 ff. u n d dessen A b l e h n u n g des Mehrheitsprinzips (S. 168 f.), sowie die K r i t i k bei Spann, Othmar, Der Wahre Staat, 2. A u f l . Leipzig 1923, S. 114, 122. 112 Dazu näher V I , C.

I I I . Die Rechtfertigung des Mehrheitsprinzips

103

prinzip nicht befähigt. I n dieser Hinsicht kann gegen Ende dieses A b schnitts nur die Frage stehen, von der die Rechtfertigung des Mehrheitsprinzips ihren Anfang nahm: Was sonst? Abschließend ist noch die Begründung der Geltung des Mehrheitsprinzips i m Parlament zu untersuchen. Dem ersten Anschein nach sind die Prinzipien Selbstbestimmung und Gleichheit nicht geeignet, die Anwendung der Mehrheitsregel i m Parlament zu rechtfertigen. A u f den ersten Blick weist das Parlament Ähnlichkeit m i t kleineren Gremien auf, i n denen der Mehrheitsgrundsatz der Entscheidung einen gewissen Grad der Vernünftigkeit verschafft 1 1 3 . Dient das Mehrheitsprinzip also der Qualität der Gesetze und Entscheidungen des Parlaments i m Sinne einer erhöhten Richtigkeit 1 1 4 ? I n diesem Zusammenhang gewinnt die Vorstellung eines Parlaments als Stätte rationaler Diskussion, die am Ende i n einen Parlamentsbeschluß, vornehmlich ein Gesetz, einmündet, Bedeutung. Diese später verabsolutierte Theorie zensitärer Parlamente 1 1 5 , die sich vor allem i n Frankreich findet, ist von C. Schmitt 1 1 6 dem modernen Parlamentarismus als ein Ideal vorgehalten worden, von dem der Eindruck des i n Parteien und Interessen zersplitterten Weimarer Reichstags höchst unvorteilhaft abstach. Nun ist unter dem Einfluß der Parteien die Funktion des Parlaments als Ort der Begegnung differenzierender Ansichten sowie der Beratung und Diskussion zu dienen 1 1 7 , u m den inhaltlichen Anforderungen an Gesetzgebung und Staatsleitung gerecht zu werden, zweifellos nicht verschwunden, und man darf nicht übersehen, daß bereits i n den Fraktionen und Parteien ein andauernder Gedankenaustausch stattfindet, der Einseitigkeiten und Unstimmigkeiten abschleift 118 . Zudem werden die 113

s. oben. So Kriele, Staatslehre (Anm. 28), S. 188 ff. 115 Leibholz, Repräsentation (Anm. 79), S. 175 w i l l deshalb diese Beschreibung n u r für die liberalen Demokratien gelten lassen. 116 Schmitt, Carl, Die geistesgeschichtliche Lage des heutigen Parlamentarismus, 2. A u f l . München 1926 (4. A u f l . B e r l i n 1969), S. 43 ff. (ebd. auch die Nachweise aus der französischen Literatur, v o r allem bei Guizot). Dagegen Kriele, V V D S t R L 29 (Anm. 28), S. 56 ff.; vgl. auch Scheuner, Ulrich, Politische Repräsentation u n d Interessenvertretung (DÖV 1965, S. 577 ff.), jetzt i n Staatstheorie u n d Staatsrecht, Gesammelte Schriften, B e r l i n 1978, S. 337 ff. (S. 338 A n m . 5). 117 Z u r Rolle der Diskussion i m Parlament m i t historischen Bezügen Sternberger, G r u n d u n d A b g r u n d (Anm. 32), S. 214 ff., bes. S. 225 ff.; zur F u n k t i o n der Beratung der Gesetze i m Parlament s. auch Friedrich, Verfassungsstaat (Anm. 43), S. 375 ff. 118 Nach Kriele, Staatslehre (Anm. 28), S. 188 ff. ist deshalb die höhere Vernünftigkeit i n der größeren F r a k t i o n zu erwarten. Es ist aber die Frage, ob diese Auffassung dem Entscheidungsprozeß des Gesetzgebungsverfahrens gerecht w i r d , i n dem die Gesetze durch die Bürokratie, die meist die V o r lagen der Regierung ausarbeitet, präformiert werden, i n dem dem außerparlamentarischen Einfluß der öffentlichen Meinung u n d Gruppeninteressen 114

104

I I I . Die Rechtfertigung des Mehrheitsprinzips

Entscheidungen des Parlaments vielfach von einer über die Regierungskoalition hinausreichenden Anzahl von Fraktionen getragen und entstehen i n einem komplizierten Prozeß, i n dem Überlegungen und Vorstellungen der Bürokratie, der Parteien und Fraktionen, der Lobbyisten und Experten, der öffentlichen Meinung, der Interessengruppen und der Bürger Aufnahme finden. Dennoch manifestiert sich i m Mehrheitsprinzip i n den von Parteien beherrschten Parlamenten weniger die Vernünftigkeit als das der Zusammensetzung der repräsentativen Körperschaft zugrunde liegende Mehrheitsverhältnis i m Wahlvolk, das Ausdruck des gleichen Selbstbestimmungsrechts ist 1 1 9 . Maßgeblich für die Rechtfertigung des Mehrheitsprinzips ist der Gedanke der Proportionalität, der Repräsentation i m Sinne der Abbildung der Volksmeinung i m Parlament 1 2 0 . I n den Fällen, i n denen sich keine Übereinstimmung zwischen allen Parteien einstellt, schrumpft die Mehrheit auf die meist von der Fraktionsdisziplin zusammengehaltenen Regierungsparteien, die ihre Macht eben der Tatsache verdanken, daß sie die Stimmenmehrheit der Bürger i n der Wahl erhalten haben, und die sich gegenüber der Wählerschaft verantworten müssen und i n den nächsten Wahlen zur Rechenschaft gezogen werden können. I n diesen Fällen gibt das Mehrheitsprinzip den entscheidenden Ausschlag. Hier w i r d deutlich, daß die Rechtfertigung des Mehrheitsprinzips i m Parlament sich aus denselben Grundsätzen ableiten muß, die das Fundament des Mehrheitsgrundsatzes i m Bereich der Wahlen und Abstimmungen des Volkes bilden. Diese Aussage widerspricht i m wesentlichen auch nicht der Aufgabe des Parlaments, abgesichert durch das freie Mandat i m Interesse des Gemeinwohls des ganzen Gemeinwesens 121 vernünftige verbindliche Entscheidungen zu treffen, sowie dem Gedanken eines trust zwischen Volk und Repräsentanten, der Anvertrauung der Macht. Für die Geltung des Mehrheitsprinzips i m Parlament ist die Verantwortlichkeit der Regierungsparteien, als Repräsentanten i n Stellvertretung des Volkes mit verbindlicher Wirkung sich gegenüber der oppositionellen Minderheit durchsetzen zu können, entscheidend. u n d schließlich der die F r a k t i o n tragenden Partei erhebliche Bedeutung zukommt. Außerdem muß bezweifelt werden, daß der größten F r a k t i o n i n der Regel größere Vernünftigkeit zukommt. 119 A l s Gesichtspunkt, der für die Überlegungen Krieles spricht, k a n n allerdings das freie Mandat gelten. 120 Z u r Geschichte dieser Vorstellung s. Nohlen, Dieter, Wahlsysteme der Welt, München 1978, S. 54 ff. I h r entspricht das Verhältniswahlsystem am ehesten. Deswegen sind die Wahlrechtsreformen der letzten Jahre (z.B. Schweden) i n Richtung auf eine Verbesserung der Proportionalität erfolgt. I m Mehrheitswahlrecht angelsächsischer Provenienz k o m m e n dazuhin noch andere Überlegungen zum Tragen. 121 Das Mehrheitsprinzip entbindet j a keineswegs die Mehrheit v o n jeder Verantwortung gegenüber der Gesamtheit; vgl. Scheuner (Anm. 23), S. 314 f.; BVerfGE 44, 125 (147).

I I I . Die Rechtfertigung des Mehrheitsprinzips

105

Auch aus den verschiedenen Funktionen des Mehrheitsprinzips i n der Dêmokratie können sich weitere, zusätzliche Rechtfertigungselemente ergeben, die jedoch gegenüber der grundsätzlichen Begründung der Mehrheitsregel aus dem gleichen Selbstbestimmungsrecht zurücktreten 1 2 2 .

122

s. dazu i m einzelnen V I I I .

I V . Die Struktur der Mehrheitsentscheidung in der Demokratie A. Das Subjekt der Mehrheitsentscheidung 1. Zahlenganzheit und rechtliche Einheit

Die Ermittlung der Mehrheit setzt rein rechnerisch eine Gesamtheit voraus, eine Zahlenmenge, deren einzelne Glieder sich zusammenzählen und i n eine Mehrheit und Minderheit aufteilen lassen. Die Bestimmung dieser Zahlenganzheit 1 läßt sich sowohl bei Volksentscheidungen wie i m Bereich aller möglichen Versammlungen und Gremien, Parlamente, Senate und Räte nach verschiedenen Gesichtspunkten vornehmen. Drei Arten der Anknüpfung, die i n einer gewissen Stufenfolge zueinander stehen 2 , sind gebräuchlich. Die Berechnung der Mehrheit kann einmal nur von den Abstimmenden ausgehen3. Die Ermittlung der Abstimmungsmehrheit erfordert keinen doppelten Zählvorgang und ist deshalb verfahrenstechnisch recht einfach durchzuführen. Eine Rechtfertigung fällt etwas schwerer, da die getroffene Entscheidung i n der Regel für einen größeren Personenkreis als denjenigen der Abstimmenden verbindliche Geltung beansprucht. Man w i r d jedoch normalerweise davon ausgehen können, daß diejenigen, die sich an der Abstimmung nicht beteiligen, durch Gleichgültigkeit gegenüber den vorgelegten Alternativen von der Teilnahme abgehalten werden und an dem Ergebnis geringes Interesse finden 4 . Aus vergleichbaren Gründen werden häufig f i k t i v die Abstim1 Vgl. Varain, Heinz Josef, Die Bedeutung des Mehrheitsprinzips i m Rahmen unserer politischen Ordnung, ZfP 11 (1964), S. 239 ff. (242 f.); vgl. auch oben I. 2 Vgl. auch Schneider, K a r l Georg, Die A b s t i m m u n g unter besonderer Berücksichtigung der verschiedenen Mehrheitsbegriffe, Diss. Heidelberg 1951, S. 36 ff. 3 Vgl. für den Bundestag A r t . 42 I I 1 G G als Grundsatz u n d A r t . 42 12, 7 7 I V 2 GG; f ü r Volksentscheide s. etwa A r t . 29 V I GG; A r t . 68 I V 2 Verf. N - W . ; A r t . 45 I österr. Verf.; A r t . 120 I I , 121 V , 123 I Schweiz. Verf.; A r t . 42 V Dan. Verf.; A r t . 47 irische Verf.; bei Volkswahlen g i l t dies als selbstverständlich. 4 Dahl, Robert, Vorstufen zur Demokratietheorie, Tübingen 1976, S. 36 f. hat diese Aussage dahin präzisieren wollen, daß Gleichgültigkeit definiert w i r d als faktische Äquidistanz gegenüber beiden Alternativen. Es dürfte sich jedoch n u r u m einen Spezialfall der Nichtbeteiligung handeln, da auf diese Weise zwar völlige Apathie i n das Schema einbezogen werden kann, aber natürliche Hinderungsgründe (Krankheit, Urlaubs- oder sonstige Reisen)

.D

S u k t der Mehrheitsentscheidung

menden, die sich ausdrücklich der Stimme enthalten, überhaupt nicht i n die Berechnung einbezogen 5 . Eine Stimmenthaltung stelle keine zu berücksichtigende Stimmabgabe dar, so daß diese Gruppe als Grundlage für die Feststellung der Zahlenganzheit gänzlich außer Betracht bleiben kann 6 , lautet die Begründung. Als nächste mögliche Bezugsgröße erscheint dann die Gesamtheit der Anwesenden, die eine wesentliche Rolle als Zahlengrundlage allein i n Parlamenten und anderen demokratischen Gremien 7 , nicht jedoch bei Volkswahlen oder Volksabstimmungen spielt. Das K r i t e r i u m der A n wesenheit setzt i m Grunde eine gewisse Überschaubarkeit des anwesenden Personenkreises voraus, da sie i n einem gesonderten Zählverfahren erkundet werden muß und insofern ein relativ umständlicher Anknüpfungspunkt ist. Die Anwesenheitsmehrheit weist gegenüber der Abstimmungsmehrheit eigentlich keine so bedeutsamen Unterschiede auf, daß sie als sinnvolle Alternative bezeichnet werden kann. Auch die Anknüpfung an die Anzahl der Abstimmungsberechtigten, an die gesetzliche Mitgliederzahl ist i m allgemeinen auf die Parlamente beschränkt 8 . Das Erfordernis der Abgeordnetenmehrheit 9 , wie sie bezeichnenderweise genannt wird, gleicht i n seiner W i r k u n g der Bestimmung einer qualifizierten Mehrheit 1 0 und ist deshalb vor allem bei Entscheidungen von herausgehobener Bedeutung anzutreffen 11 . Damit w i r d sowie generelle Ablehnung aller zur W a h l gestellten A l t e r n a t i v e n nicht erfaßt werden. Deshalb ist es problematisch, eine schweigende B i l l i g u n g (so Varain (Anm. 1), S. 243) zu unterstellen nach dem alten Grundsatz „ Q u i tacet consentire v i d e t u r " ; zur Entscheidungsbeteiligung s. noch I V , A , 3. 5 So für den Bundestag die h. M. s. Maunz, i n Maunz / D ü r i g / Herzog / Scholz, A r t . 42 Rdn. 18; vgl. bereits Breiholdt, Hermann, Die A b s t i m m u n g i m Reichstag, AöR 49 (1926), S. 289 ff. (297). Der Sachverhalt w i r d m i t dem Begriff der einfachen Mehrheit umschrieben u n d gehört systematisch eher zu I V , A , 4; s. ebd.; vgl. auch A r t . 3 2 1 1 W R V ; anders allerdings A r t . 28 1 RVerf 1871. β Die h. M . bedarf an dieser Stelle keiner eingehenden Problematisierung. 7 U n d k o m m t selbst dort selten vor. 8 Eine Ausnahme stellt beispielsweise die Verfassungsänderung durch Volksentscheid i n Nordrhein-Westfalen dar, A r t . 69 I I Verf. N - W . 9 Z u den Begriffen der Abstimmungsmehrheit, Anwesenheitsmehrheit u n d Abgeordnetenmehrheit, s. Jellinek, Walter, Die gesetzliche Mitgliederzahl, i n Festschrift Herbert Kraus, Kitzingen 1954, S. 88 ff. (88 f.); vgl. auch Maunz, i n Maunz / D ü r i g / Herzog / Scholz, A r t . 42, Rdn. 17; Achterberg, Norbert, Die parlamentarische Verhandlung, B e r l i n 1979, S. 44; Mitgliedermehrheit anstatt Abgeordnetenmehrheit; eine abweichende Terminologie noch bei Jellinek, Walter, Kabinettsfrage u n d Gesetzgebungsnotstand nach dem Bonner G r u n d gesetz, DÖV 2 (1949), S. 381 ff. (381) „schlichte, gesteigerte u n d volle absolute Mehrheit". 10 Da häufig nicht alle Mitglieder anwesend sind oder abstimmen. 11 s. A r t . 29 V I I , 63 I I 1, 63 I V 2, 67 1 1, 68 1 1, 77 I V 1, 87 I I I 2 GG u n d sogar i m Zusammenhang m i t dem Erfordernis der qualifizierten Mehrheit A r t . 61 I 3, 79 I I GG.

108

I V . Die S t r u k t u r der Mehrheitsentscheidung

für den Begriff der Mehrheit als Grundlage der Personenkreis herausgegriffen, der am ehesten m i t demjenigen der von der Entscheidung Betroffenen übereinstimmt. Die weitgehende Beschränkung des A n wendungsbereichs auf die repräsentativen Körperschaften nimmt dieser Aussage aber wieder viel von ihrer Bedeutung, auch wenn man die Abgeordneten als Vertreter der Betroffenen begreift. Bei Volkswahlen taucht i n diesem Zusammenhang noch ein Problem auf, das man damit umreißen könnte, daß — i n zweierlei Form 1 2 — doppelte Zahlenganzheiten als Berechnungsgrundlage auftreten können. I n einem Fall liegt die typische Situation des Mehrheits wähl rechts zugrunde. I n einem ersten Schritt w i r d i n einem Wahlkreis die Mehrheit ermittelt, die allein die Entsendung des Gewählten i n das Parlament bestimmt, wohingegen die unterlegene Minderheit insofern außer Ansatz bleibt. Gleichzeitig bilden jedoch die gewählten Vertreter eine neue Mehrheit auf gesamtstaatlicher Ebene. Infolge der Gliederung des Entscheidungsträgers 13 , der Wählerschaft, kann es leicht zu Verzerrungen der gesamtstaatlichen Mehrheitsverhältnisse zwischen Repräsentanten und Gesamtbevölkerung kommen 1 4 . Diese Schwierigkeiten doppelter Zahlenganzheit zeigen sich i m erhöhten Maß i n Bereichen „wo die Zuteilung der Mandate bestimmte Eigenrechte von Gliedbereichen i n Rechnung stellt" 1 5 . Das gilt etwa, wenn unabhängig von der Größe der Glieder, vor allem i n föderativen Gebilden, jedem Teilgebiet eine gleiche Anzahl Vertreter zuerkannt w i r d 1 6 und die unterlegene Minderheit bei der Entsendung möglicherweise ebenfalls unberücksichtigt bleibt. Diese rein numerische Zahlenganzheit weist auf eine tiefere Grundlage der Mehrheitsentscheidung hin, die einem bereits i n der Korporationstheorie 17 und der Sozialvertragslehre 18 als bedeutsamer Wesenszug des Mehrheitsprinzips begegnet und verdeutlicht, warum nicht nur die Abstimmenden, sondern alle Abstimmungsberechtigten und darüber 12

Vgl. Varain (Anm. 1), S. 243. Z u dieser Gliederung s. Kelsen, Hans, Allgemeine Staatslehre, B e r l i n 1925, S. 347 ff. 14 Dazu näher unter dem Aspekt der Gleichheit I V , A , 2, b. 15 Varain (Anm. 1), S. 243. 16 Vgl. etwa die Zusammensetzung des Bundesrats unter dem GG u n d des amerikanischen US-Senats. Hier mischen sich korporative m i t demokratischen Elementen. 17 Vgl. oben I I . 18 I n der Gestalt der Einigung i m Sozialvertrag: " A n d thus every Man, by consenting w i t h others to make one Body Politic under one government, puts himself under one obligation to every one of that society, to submit to the determination of the m a j o r i t y . " Locke, John, T w o treatises of Government I I , §97. 13

.D

S u k t der Mehrheitsentscheidung

hinaus alle i m Gesamtverband vereinigten Personen durch die Mehrheksentscheidung gebunden, verpflichtet und berechtigt werden. „Es ist das Bestehen eines festen rechtlichen Bandes, das alle Glieder des Kreises, i n dem m i t Mehrheit entschieden wird, umspannt 1 9 ." Die Mehrheitsbildung ist an eine zur Einheit verfaßte Gemeinschaft gebunden 20 . Simmel 2 1 hat auf die scheinbare Paradoxie 22 aufmerksam gemacht, daß erst der feste Wille, einen einheitlichen politischen Körper zu bilden, die Möglichkeit eröffnet, daß das Gemeinwesen i n Mehrheit und Minderheit auseinanderbricht, während andererseits Einstimmigkeit und Anarchie, die Auflösung allen Zusammenhalts miteinander korrespondieren. Erst i n einer rechtlich organisierten Gemeinschaft 23 , i n einem Staatsverband, kann das Mehrheitsprinzip seine Wirksamkeit entfalten, da die Entscheidung nur hier die Mitglieder i n ihrer Gesamtheit einschließlich der Minderheit binden kann. Eine vorausgehende und fortbestehende Einigung, wie sie i n der Idee des Sozialvertrages enthalten ist und i n gewandelter Form i n den Verfassungen ihren normativen Niederschlag gefunden hat, w i r d ein Moment rechtlichen Zusammenhalts bilden 2 4 , obgleich die Annahme einstimmiger Ubereinkunft als juristische Fiktion zu beurteilen ist 2 5 . Jedenfalls kann aber die darin geregelte Anerkennung und Begrenzung 26 des Mehrheitsprinzips und fortdauernde Ordnung des Verfahrens sowohl der Willensbildung wie der Entscheidung selbst i m Lauf der Zeit zu jener allgemeinen Legitimität verhelfen, die die für das Mehrheitsprinzip notwendige politische Einheit vermittelt. 2. Das Prinzip der Gleichheit

Angesichts der Bedeutung der Gleichheit für die Rechtfertigung des Mehrheitsprinzips 27 muß ihrer Verwirklichung i n den Details des Verfahrens besondere Aufmerksamkeit geschenkt und ihre Geltung mög19 Scheuner, Ulrich, Das Mehrheitsprinzip i n der Demokratie, Opladen 1973, S. 54. 20 BVerfGE 1, 299 (314); s. auch Eschenburg, Theodor, Der Mechanismus der Mehrheitsentscheidung, München 1970, S. 10 f.; Weber, Alfred, Die Krise des modernen Staatsgedankens i n Europa, B e r l i n u. a. 1925, S. 50. 21 Simmel, Georg, Soziologie, Leipzig 1908, S. 193. 22 Varain (Anm. 1), S. 244. 23 Das g i l t gleichermaßen für privatrechtlich w i e öffentlich-rechtlich organisierte Verbände. 24 Z u r Einigung als rechtlichem Band eingehend Scheuner (Anm. 19), S. 54 f., 9 f.; zu den damit eng zusammenhängenden Voraussetzungen des Mehrheitsprinzips vgl. unten V. 25 s. oben I I I . 26 Das Element der Begrenzung k a n n i n dieser Hinsicht Minderheiten i n den Gesamtverband i n hervorragender Weise einbinden, vgl. u n t e n V I I , Α . 27 s. oben I I I .

110

I V . Die S t r u k t u r der Mehrheitsentscheidung

liehst w e i t r e i c h e n d sichergestellt w e r d e n . D i e G l e i c h h e i t w i r d

heute

zum Problem n u r i n den allgemeinen Wahlen zum Parlament, während i n den Parlamenten u n d vergleichbaren demokratischen Versammlung e n u n d G r e m i e n 2 8 m i t d e r B e s e i t i g u n g des ständischen E l e m e n t s 2 9 diese Frage zur Bedeutungslosigkeit herabgesunken ist30. Das P r i n z i p w i r d t r a d i t i o n s g e m ä ß u n t e r d e n B e g r i f f e n

der

Allge-

m e i n h e i t u n d d e r G l e i c h h e i t d e r W a h l e r ö r t e r t , d i e als W a h l r e c h t s grundsätze n i c h t dasselbe b e i n h a l t e n , aber i n u n t e r s c h i e d l i c h e r s i t ä t denselben ü b e r g r e i f e n d e n G r u n d s a t z d e r G l e i c h h e i t I n K ü r z e v e r b i e t e t die A l l g e m e i n h e i t

Inten-

ausbreiten31.

der W a h l Ungleichheiten

hin-

s i c h t l i c h d e r W a h l b e r e c h t i g u n g , die G l e i c h h e i t d e r W a h l u n t e r s a g t U n g l e i c h h e i t e n b e z ü g l i c h d e r S t i m m e n w e r t u n g . Das erste P r i n z i p b e t r i f f t d i e Z u l a s s u n g z u r W a h l , das l e t z t e r e das S t i m m g e w i c h t i n n e r h a l b der Wahl. a)

Allgemeinheit

32

A l l g e m e i n h e i t d e r W a h l besagt p o s i t i v , daß g r u n d s ä t z l i c h a l l e Staatsb ü r g e r S t i m m r e c h t b e s i t z e n 3 3 , n e g a t i v , daß das W a h l r e c h t n i c h t v o n e i n e m Zensus n a c h Besitz, E i n k o m m e n oder S t e u e r l e i s t u n g 3 4 u n d n i c h t 28 I n privaten Körperschaften, Vereinigungen u n d Organen gilt häufig anderes. Finanzielle Beteiligung, Geschäftserfahrung sowie gesellschaftsrechtliche Formen bestimmen weitgehend Stimmberechtigung u n d S t i m m gewicht. Auch außerhalb der Volksvertretung spielen neuerdings i m öffentlich-rechtlichen Bereich wieder korporative Gedanken eine erhebliche Rolle (Universitäten). 29 Die Gleichheit w a r i n ständischen Vertretungen i m Grunde zwischen den Kurien, nicht innerhalb der K u r i e n beeinträchtigt. Die Stimmberechtigung w a r m i t der Mitgliedschaft i n der Vertretung verbunden. 80 A l s ein v o n dieser Regel abweichender Sonderfall k a n n die Stellung der Berliner Abgeordneten i m Bundestag angeführt werden, die allerdings aus dem Sonderstatus Berlins resultiert u n d insofern i n diesem Zusammenhang n u r v o n ganz speziellem Interesse ist, s. dazu Trossmann, Hans, Parlamentsrecht des Deutschen Bundestages, Kommentar zur Geschäftsordnung des Bundestags, München 1977, § 54, A n m . 10, S. 356 ff.; vgl. auch Maunz, i n Maunz / D ü r i g / Herzog / Scholz, A r t . 121, Rdn. 6. 31 Rinck, Hans-Justus, Der Grundsatz der Wahlrechtsgleichheit u n d das Bonner Grundgesetz, DVB1. 1958, S. 221 ff. (222 f.). 32 Vgl. dazu Nohlen, Dieter, Wahlsysteme der Welt, München 1978, S. 41 f.; Seifert, Karl-Heinz, Bundeswahlrecht, 3. A u f l . München 1976, S. 41 ff.; Maunz i n Maunz / D ü r i g / Herzog / Scholz, A r t . 38, Rdn. 39 ff. 33 U n d wählbar sind. Dies gehört jedoch nicht u n m i t t e l b a r zu dem Thema Subjekt der Mehrheitsentscheidung. 34 Es sei n u r an die Voraussetzung der 40 £ freeholders i n England bis 1832 erinnert, s. ο. I I ; für den Vormärz s. die vielfältigen Zensusanforderungen bei Ehrle, Peter Michael, Volksvertretung i m Vormärz, F r a n k f u r t u. a. 1978, Bd. I I , S. 674 ff.; noch 1967 gab es i n N o r d i r l a n d starke Wahlrechtsbeschränkungen v o r allem bei Kommunalwahlen, die vornehmlich gegen die katholische Minderheit gerichtet waren; s. Stadler, Klaus, N o r d i r l a n d — Analyse eines Bürgerkrieges, München 1979, S. 99 ff.

.D

S u k t der Mehrheitsentscheidung

v o n e i n e m B i l d u n g s g r a d 3 5 a b h ä n g i g gemacht w e r d e n d a r f u n d schließl i c h n i e m a n d a u f g r u n d seiner Rasse 3 6 , seiner R e l i g i o n 3 7 , o d e r seiner p o l i t i s c h e n E i n s t e l l u n g werden

darf.

Es erscheint

Frauen wahlberechtigt Geschlecht

39

heute

v o n d e r T e i l n a h m e ausgeschlossen außerdem

sind, o b w o h l

gegen beachtliche

Konfession 38

selbstverständlich,

die D i f f e r e n z i e r u n g

Widerstände

nur

zögernd

nach

daß dem

aufgehoben

w u r d e , bis sich das F r a u e n w a h l r e c h t i n d e n D e m o k r a t i e n 4 0

endgültig

u n d n a h e z u a u s n a h m s l o s 4 1 n a c h d e m 1. u n d 2. W e l t k r i e g d u r c h s e t z t e 4 2 . Dennoch w e r d e n einige einschränkende Wahlvoraussetzungen i n all e n D e m o k r a t i e n als u n e r l ä ß l i c h a n e r k a n n t , d i e sich n a c h sechs Ges i c h t s p u n k t e n b e s t i m m e n . I n erster L i n i e ist d i e N o t w e n d i g k e i t eines gewissen M i n d e s t a l t e r s z u n e n n e n , das i m l e t z t e n J a h r z e h n t w e i t g e h e n d a u f 18 J a h r e gesenkt w u r d e , w ä h r e n d es i n d e n 60er J a h r e n b e i 21 u n d z u v o r n o c h b e i 23 J a h r e n l a g 4 3 . Das W a h l a l t e r v o n 25 J a h r e n b i l d e t e i m noch v o n f r ü h e r S t e r b l i c h k e i t g e p r ä g t e n 19. J a h r h u n d e r t d i e höchste B a r r i e r e g r ö ß e r e r W a h l b e t e i l i g u n g 4 4 . Dagegen ist d i e Z u g e h ö r i g k e i t z u d e m S t a a t s v e r b a n d i n F o r m d e r Staatsbürgerschaft eine V o r aussetzung 4 5 , d i e sich i m G r u n d e aus d e m G e d a n k e n eines r e c h t l i c h e n 35 Es handelt sich u m das sog. Kapazitätenwahlrecht. Das K r i t e r i u m der B i l d u n g spielt eher eine wichtige Rolle bei der Frage des Stimmgewichts, vgl. Mill , John Stuart, Betrachtungen über die repräsentative Demokratie, Paderborn 1971, S. 150 ff.; n u r hinsichtlich des Ausschlusses v o n Analphabeten ist eine Einschränkung nicht ganz ohne Berechtigung: vgl. Mill , S. 146 ff., allerdings ist hier leicht Mißbrauch die T ü r geöffnet, der besonders lange Zeit die Neger i n den Südstaaten der USA hart traf. 36 A l s Beispiel k a n n der Ausschluß der Farbigen i n Südafrika dienen. 37 Vgl. die gegen die Juden gerichtete Wahlvoraussetzung des christlichen Glaubensbekenntnisses i m deutschen Vormärz, Ehrle (Anm. 34), Bd. I I , S. 545 f. 38 Weniger realiter als theoretisch denkbarer Ausschlußgrund. 39 Vgl. allerdings A r t . 18 GG; eine Ausschaltung politischer Gegner ist über das Wahlrecht auf diese Weise eigentlich noch nicht versucht worden. 40 I n einigen nicht demokratisch verfaßten Staaten des arabischen Raumes (Saudi-Arabien, Jemen) ist diese Einschränkung noch nicht verschwunden. 41 I n Lichtenstein w u r d e i m Februar 1971 das Frauenwahlrecht i n einem Referendum v o n 51,1 °/o der abgegebenen Stimmen — der Männer — abgelehnt. I n der Schweiz fand es auf Bundesebene 1971 Aufnahme, während es i n einigen Kantonen noch nicht eingeführt ist. 42 s. die Übersicht bei Nohlen (Anm. 32), S. 37. 43 Meist ist das Wahlrecht an die V o l l j ä h r i g k e i t gebunden. Große A b w e i chungen des Wahlalters v o n der V o l l j ä h r i g k e i t dürften deshalb auch dem Prinzip der Allgemeinheit der W a h l widersprechen. Nohlen (Anm. 32), S. 42; vgl. A r t . 38 I I GG. 44 Vgl. Ehrle (Anm. 34), Bd. I I , S. 768 f., so noch § 1 R W a h l G v. 31. 5.1869, das bis 1918 galt; dazu Hatschek, Julius, Kommentar zum Wahlgesetz u n d zur Wahlordnung i m deutschen Kaiserreich, B e r l i n u. a. 1920, S. 9 f. 45 Vgl. § 12 I B W a h l G ; neuerdings ist ein Ausländerwahlrecht für K o m m u nalwahlen i n der Bundesrepublik i m Gespräch; zur Problematik eines Ausländerwahlrechts überhaupt s. Birkenheier, Manfred, Wahlrecht für A u s -

112

I V . Die S t r u k t u r der Mehrheitsentscheidung

Bandes als Grundlage jeder Mehrheitsentscheidung 46 unmittelbar ergibt. Damit verbindet sich häufig die Forderung nach einem Wohnsitz i m Inland 4 7 , obgleich die Einräumung eines Wahlrechts für i m Ausland lebende Staatsangehörige 48 keine außergewöhnliche Einrichtung darstellt. Darüber hinaus w i r d die Bedingung rechtlicher Handlungsfähigkeit gestellt, die entmündigte Bürger von der Wahl ausschließt 49 . Vielfach ist die Aberkennung der Ehrenrechte, die sich meist gegen Strafgefangene richtet, ein eindeutiges Wahlhindernis 5 0 . Ein letztes Erfordernis ist die formale Zulassung zur Wahl, die an die Eintragung i n eine Wählerliste anknüpft 5 1 . Hier steht die geordnete Durchführung des Verfahrensablaufs und Überprüfung der Einhaltung der materiellen Voraussetzungen i m Vordergrund 5 2 . b) Wahl-

und

Abstimmungsgleichheit

53

Außer allgemeiner Zulassung zur Wahl verlangt der Gleichheitsgrundsatz auch die Gewährung gleichen Stimmgewichts für jeden Wahlberechtigten. Das verbietet zunächst eine Differenzierung des Stimmgewichts nach den bereits genannten 54 Merkmalen wie Besitz, Rasse und Geschlecht, u m erneut die wichtigsten anzuführen. I n der Zeit vor der endgültigen Demokratisierung lassen sich zwei Formen der Ungleichheit i m Stimmgewicht erkennen. Einerseits finden sich Klassen- und Kurienwahlrechte, i n denen eine festgelegte, meist ungefähr vergleichbare Anzahl von Wahlmännern oder Vertretern von nach Zensusmerkmalen gesonderten Gruppen höchst unterschiedlicher Größe länder, B e r l i n 1976 m w N ; ablehnend Isensee, Josef, Die staatsrechtliche Stell u n g der Ausländer V V D S t R L 32 (1974), S. 49 ff. (91 ff.); bisher w o h l einzige Ausnahme ist die Regelung der ersten Verfassung der RSFSR v o m 10.7.1918 (Art. 10, 20, A n m . 2 zu A r t . 64) geblieben, die unter Ausschluß der Klassenfeinde anstelle des Staatsverbandes die „Gesellschaft aller Werktätigen i n Rußland" setzte. 46 s. oben I V , A , 1. 47 Oder dauernder Aufenthalt, vgl. § 12 I Ziff. 2 B W a h l G zur deutschen Rechtslage, Henkel, Joachim, Wahlrecht für Deutsche i m Ausland, A ö R 99 (1974), S. 1 ff. u n d rechtsvergleichend ebd. S. 11 ff. 48 Das gilt insbesondere f ü r Frankreich u n d Italien, s. Henkel (Anm. 47), S. 14 f. 49 s. § 13 Ziff. 2 ff. B W a h l G ; § 3 Ziff. 1 R W a h l G v. 31. 5.1869. 50 s. z. B. § 13 Ziff. 1 B W a h l G ; § 45, 92 a StGB;§ 3 Ziff. 4 R W a h l G v. 31. 5. 1869. 51 s. § 14 BWahlG. 52 Z u allen Erfordernissen vgl. für die Bundesrepublik Seifert (Anm. 32), S. 42. 53 Dazu s. den Überblick bei Nohlen (Anm. 32), S. 43 f.; bei allen Formen des Volksentscheids ist die Gleichheit i m Grunde unproblematisch. I n diesem Bereich finden sich praktisch keine Differenzierungen. 54 s. oben I V , A , 1, aa.

.D

S u k t der Mehrheitsentscheidung

gewählt w u r d e n 5 5 . Andererseits

setzte sich, übergangsweise

dentlich ein Pluralwahlrecht

d u r c h , das einzelnen, n a c h

M e r k m a l e n herausgehobenen

Bürgern

verschie-

bestimmten

individuell mehrere

Stimmen

z u b i l l i g t e 5 6 . D a v o n scharf z u t r e n n e n ist die Rechtslage, daß a l l e n W ä h l e r n gleichermaßen mehrere S t i m m e n zustehen57. Ü b e r diese b e r e i t s a u f g r u n d des a l l g e m e i n e n Gleichheitsgrundsatzes g e l t e n d e n D i f f e r e n z i e r u n g s v e r b o t e h i n a u s m u ß d e r W a h l g l e i c h h e i t ganz f o r m a l e r C h a r a k t e r beigemessen w e r d e n 5 8 . D e m e n t s p r e c h e n d ist n a c h einhelliger Auffassung jegliche Einschränkung der

Zählwertgleichheit

55 Während i m Vormärz der Bestellungsmodus der W a h l k a m m e r noch auf i n sich geschlossene Korporationen f i x i e r t war, obwohl theoretisch schon eine Gesamtrepräsentation angestrebt wurde, s. Ehrle (Anm. 34), I I , S. 495, bedeutet das preußische Dreiklassenwahlrecht eine Zurücknahme der i n der Revol u t i o n v o n 1848 eingeräumten demokratischen Wahlrechtsgrundsätze, v o n denen n u r das Prinzip der Allgemeinheit bewahrt blieb. Nach dem W a h l gesetz v. 30. 5.1849 u n d nachfolgend A r t . 70 ff. d. Verf. v. 1850 w u r d e n die U r w ä h l e r i n drei Klassen aufgeteilt, wobei die Gesamtsumme des Steueraufkommens des Wahlbezirks i n drei gleiche Teile zerlegt wurde u n d sodann jeweils die Urwähler, die bis zu dem Betrag des 1. Drittels die höchsten Steuern entrichteten, zur 1. Klasse u n d dementsprechend die jeweils zum nächsten D r i t t e l Beitragenden zur nachfolgenden Klasse gehörten. Jede Klasse wählte jeweils ein D r i t t e l der Wahlmänner, s. dazu Huber, Ernst Rudolf, Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789, Bd. I I I , Bismarck u n d das Reich, 2. Aufl., Stuttgart u. a. 1970, S. 85 ff.; Vogel, Bernhard / Nohlen, Dieter / Schultze, Rainer-Olaf, Wahlen i n Deutschland, Theorie - Geschichte Dokumente 1848 - 1970, B e r l i n u. a. 1971, S. 85 ff. Dagegen kannte das österreichische Kurienwahlrecht feste Gruppen, die jeweils ihre bestimmte A n z a h l Vertreter entsandten, wobei es für alle Wähler eine besondere allgemeine K u r i e gab, s. dazu Braunias, K a r l , Das parlamentarische Wahlrecht, B e r l i n u. a. 1932, Bd. I, Das Wahlrecht i n den einzelnen Staaten, S. 408 ff. 5e

So etwa das belgische Wahlsystem nach 1893, i n dem sowohl das S t i m m gewicht nach Besitz differenziert als auch das Kapazitätenwahlrecht eingef ü h r t wurde, dazu s. Braunias (Anm. 55), Bd. I, S. 10 f.; Jellinek, Georg, Das Pluralwahlrecht u n d seine Wirkungen, Jahrbuch der Gehe-Stiftung 1904/1905, S. 103 ff. = S. 1 ff. (23 ff.); vgl. auch das bis 1968 geltende Pluralwahlrecht i n den nordirischen Unterhauswahlen, wonach einerseits Landbesitzern, andererseits Universitätswählern mehrere Stimmen zustanden, s. Nohlen (Anm. 32), S. 43 f. Das Plural Wahlrecht (allgemein auch i n Abgrenzung zu anderen Instituten Jellinek, S. 11 ff.) bildete vielfach eine Übergangslösung v o m a l l gemeinen zum gleichen Wahlrecht. Jellinek, S. 33. Eine ähnliche F u n k t i o n erfüllte j a auch das Preußische Dreiklassenwahlrecht, s.o. A n m . 55; für Nordirland s. Stadler (Anm. 34), S. 101. 57 s. etwa Luxemburg, w o den W ä h l e r n i n verschiedenen Wahlkreisen eine verschiedene (!) Anzahl v o n Stimmen zustehen, j e nachdem, w i e viele Abgeordnete der Wahlkreis entsendet. Aus letzterem folgt jedoch, daß diese Regelung dem Gleichheitssatz nicht widerspricht, s. Nohlen (Anm. 32), S. 43, 279 ff. 58 Die deutsche Rechtslage ist dank der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts u n d eingehender Kommentarliteratur besonders stark ausgestaltet u n d k a n n insoweit vielfach als exemplarisch gelten, s. zur formalen Gleichheit bes. BVerfGE 1, 208 (244 ff.); 34, 81 (98 ff.); Seifert (Anm. 32), S. 51 m w N der Rspr des BVerfG; zur Rspr vgl. auch Frowein, Jochen Α., Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zum Wahlrecht, AöR 99 (1974), S. 72 ff. (80 ff.). 8 Heun

114

I V . Die S t r u k t u r der Mehrheitsentscheidung

untersagt. Dagegen w i r d die Garantie gleichen Erfolgswerts der einzelnen Wählerstimme nicht mit ebensolcher Strenge gehandhabt. Das Maß der Gleichheit richtet sich weitgehend nach dem praktizierten Wahlsystem. I n diesem Zusammenhang kann es nur u m eine empirisch-systematische Bestandsaufnahme gehen 59 , ohne daß über tendenzielle Aussagen hinaus eine normative Beurteilung vorgenommen werden kann, die einem Wahlsystem den demokratischen Gehalt abspricht 60 . Mögliche Bedenken gegen ein Wahlsystem unter dem Aspekt der Gleichheit können teilweise dadurch entschärft werden, daß kein Wahlsystem, selbst extreme Verhältniswahl nicht, absolute Erfolgswertgleichheit sichern kann, so daß es angemessen erscheint, den Begriff der Erfolgschancengleichheit 61 zu verwenden, die allerdings i n den Wahlsystemen unterschiedlich verwirklicht wird. Unter diesem Aspekt 6 2 ist die Einteilung der Wahlsysteme weniger nach den Wahlmethoden der Verhältniswahl und Mehrheitswahl, die insofern keine eindeutigen Aussagen erlauben, als nach den Auswirkungen des Wahlsystems auf die numerische Repräsentation i m Parlament, dem Stimmen-Mandatsverhältnis, vorzunehmen, was gleichbedeutend ist m i t einer Einteilung nach den Auswirkungen auf die Gleichheit des Erfolgswerts 68 . A u f diese Weise lassen sich zwei polare Repräsentationsprinzipien ausmachen, die definitorisch zu trennen und 59 Insoweit k a n n nicht jedes einzelne Wahlsystem i m Detail erörtert w e r den, sondern n u r idealtypisch-generelle Aussagen gemacht werden; für eine Länderübersicht s. v o r allem Nohlen ( A n m .32). 60 Einerseits soll nicht der Fehler begangen werden, die Wahlrechtsgleichheit als F u n k t i o n des Wahlsystems zu betrachten, denn Gleichheit ist ein konstitutives Element der Wahl, an der sich das Wahlsystem zu orientieren hat, s. Meyer, Hans, Wahlsystem u n d Verfassungsordnung, F r a n k f u r t 1973, S. 113 ff. gegen die dort kritisierte Rspr. u n d h. M.; andererseits k a n n das normative Gleichheitsprinzip i m Rahmen unserer Untersuchung nicht derart zum absoluten u n d alleinigen Maßstab erhoben werden, daß jedes M e h r heitsWahlsystem als undemokratisch verdammt werden k a n n u n d muß. β1 s. Seifert (Anm. 32), S. 52; selbst bei proporzausschöpfender Verhältnisw a h l fallen die unter der Wahlzahl bleibenden Stimmen weg. Dazu kommen noch die verschiedenen Zählmethoden, die Einfluß auf die Proportionalität haben. Dazu s. noch u n t e n A n m . 81. Eine Sperrklausel ist i n diesem F a l l noch gar nicht berücksichtigt. 62 Wahrscheinlich ist dies überhaupt die sinnvollste Einteilung. 63 Z u dieser A r t der Einteilung s. insbes. Meyer (Anm. 60), S. 152 ff., insbes. 159 ff.; Nohlen (Anm. 32), S. 57 ff.; Wildenmann, Rudolf / Kaltefleiter f Werner / Schleth, U., A u s w i r k u n g e n v o n Wahlsystemen auf das Parteienu n d Regierungssystem der Bundesrepublik, i n Scheuch, E r w i n K . / W i l d e n mann, Rudolf, Z u r Soziologie der Wahl, K ö l n u . a . 1965, S. 74ff., insbes. S. 107 f. Numerische Repräsentation besagt Genauigkeit der Vertretung der Parteien i m Parlament i m Verhältnis zu den f ü r die Parteien abgegebenen Stimmenzahlen, die Exaktheit der „Übersetzung" v o n Wählerstimmen i n Mandate.

Α . Das Subjekt der Mehrheitsentscheidung

115

d e r e n e x t r e m e T y p e n als E n d p u n k t e eines e i n d i m e n s i o n a l e n

Konti-

n u u m s anzusehen s i n d : M a j o r z u n d P r o p o r z 6 4 . W ä h r e n d d e r

Proporz

b e i e i n e m V e r h ä l t n i s w a h l r e c h t i n großen W a h l k r e i s e n oder a u f gesamtstaatlicher

einheitlicher

Ebene d i e W a h l g l e i c h h e i t

weitgehendst

ge-

w ä h r l e i s t e t , v e r u r s a c h e n i m M a j o r z das M e h r h e i t s w a h l r e c h t u n d das Verhältniswahlrecht i n k l e i n e n Wahlkreisen ohne überregionalen V e r h ä l t n i s a u s g l e i c h gewisse U n g l e i c h h e i t e n i n doch m a n c h m a l m e r k l i c h e m U m f a n g . D i e A u s w i r k u n g e n a u f die G l e i c h h e i t s i n d e i n m a l auf Verstärkungseffekt 64

65

den

, d e r sich u n g e f ä h r m i t d e r K u b u s r e g e l q u a n t i f i z i e -

Das läßt sich i n einer Graphik folgendermaßen veranschaulichen Proporz Majorz •

I ' · deflatorische Grenze während Nohlens (Anm. 32), S. 60 Graphik *< Ο >Proporz Majorz i n der M i t t e einen Schwerpunkt setzt u n d das K o n t i n u u m ins unendliche verlaufen läßt. Das K o n t i n u u m hat jedoch durchaus deflatorische Endpunkte. ( I m Majorz ist theoretischer Endpunkt eine einheitliche Mehrheitsw a h l nach Listen, bei der die Mehrheitsliste 100 °/o der Mandate erhielte. Die relative Mehrheitswahl, die bei Meyer (Anm. 60) das Ende des Kontinuums markiert, k a n n keinen Endpol darstellen, w e i l es darüber hinaus Mehrheitswahlen nach Listen i n großen Wahlkreisen gibt. I m Proporz bildet die einheitliche proporzausschöpfende Verhältniswahl ohne Einschränkungen w i e Sperrklauseln den Endpol. Die radikalste F o r m dürfte insoweit das Weimarer Wahlsystem darstellen, i n dem ein Mandat an eine bestimmte Stimmenzahl gebunden ist.) Der N u l l p u n k t bei Nohlen erscheint angesichts des rein definitorischen Unterschieds unangemessen insofern, als eine absolute Grenze vorgetäuscht w i r d , während sich bei Veränderungen i m Grenzbereich (der „Grenzzone" bei Nohlen, S. 61) zweifellos über die Zuordnung zu den verschiedenen Repräsentationsprinzipien streiten läßt. Nohlen visualisiert auch die Konzeption Meyers falsch, der nicht n u r an einer, w i e Nohlen behauptet (S. 59), sondern an vier Stellen v o n Endpunkten oder Polen spricht (Meyer, S. 169, 173, 189, 191). Meyers Vorstellung dürfte der hier vorgetragenen weitgehend entsprechen, n u r daß aufgrund seines Ansatzes, des alleinigen Maßstabs der Gleichheit, das reine Verhältniswahlrecht gewissermaßen der Anfangspunkt ist u n d die übrigen Wahlsysteme davon abweichen. Die Streitfrage, ob die Systeme kombinationsfähig sind (dafür Meyer, S. 183; dagegen Nohlen, S. 60 f.), beruht i m übrigen w o h l auf u n k l a r e r Begrifflichkeit. Es ist vielmehr zwischen definitorischer Einordnung des Wahlsystems i n die beiden Repräsentationsformen u n d den jeweiligen mehrheitsbildenden u n d proportionalitätsfordernden Faktoren, deren Zusammenklang diejenige Gesamtwirkung erzeugt, die zur Einschätzung des Wahlsystems auf dem K o n t i n u u m führt, zu unterscheiden. Anders ausgedrückt: Dort, w o der Gedanke der Proportionalität überwiegt, konstituiert das Wahlsystem das Repräsentationsprinzip Proporz, w o mehrheitsbildende Faktoren überwiegen, gehört das Wahlsystem zum Bereich des Majorz. I n diesem Sinn haben etwa Sperrklauseln i n Verhältniswahlsystemen mehrheitsbildende W i r k u n g , obwohl das Wahlsystem insgesamt noch dem Proporz zugerechnet werden kann. 65 Bich, Wolfgang, Mehrheitsbildende Wahlsysteme u n d Wahlkreiseinteilung, Meisenheim 1975, S. 10 ff. 8*

116

I V . Die S t r u k t u r der Mehrheitsentscheidung

r e n l ä ß t e e , sowie d e n s o g e n a n n t e n B i a s 6 7 z u r ü c k z u f ü h r e n , d e r sich a u f v i e r U r s a c h e n 6 8 g r ü n d e t . A m n a c h d r ü c k l i c h s t e n m a c h t sich die E i n t e i l u n g d e r W a h l k r e i s e b z w . eine u n t e r s c h i e d l i c h e

Wahlkreisgröße

be-

m e r k b a r . A l l e r d i n g s k a n n diese Ursache d e r W a h l v e r z e r r u n g i m w e s e n t l i c h e n v e r m i e d e n , b e s e i t i g t oder abgeschwächt w e r d e n d u r c h eine gerechte E i n t e i l u n g u n d

stetige A n p a s s u n g

der

Wahlkreise

an

die

B e v ö l k e r u n g s e n t w i c k l u n g 6 9 . K a u m b e e i n f l u s s e n lassen sich die V e r ä n derungen, die aufgrund der Hochburgenbildung, der i n den einzelnen W a h l k r e i s e n u n t e r s c h i e d l i c h e n W a h l b e t e i l i g u n g sowie des A u f t r e t e n s d r i t t e r P a r t e i e n entstehen. M e i s t g l e i c h e n sich d i e d u r c h die d r e i l e t z t g e n a n n t e n U r s a c h e n b e w i r k t e n E f f e k t e i m g r o ß e n u n d ganzen i m Ges a m t e r g e b n i s d e r W a h l e n w i e d e r aus. Es k a n n j e d o c h durchaus

vor-

k o m m e n , daß eine n a c h S t i m m e n gerechnet k l e i n e r e P a r t e i d i e M e h r h e i t der M a n d a t e e r r i n g t 7 0 . Diese B e e i n t r ä c h t i g u n g e n der W a h l g l e i c h ββ Bei relativer Mehrheitswahl i n Einerwahlkreisen u n d einem Z w e i parteiensystem (der klassischen Konstellation des Majorz) entspricht das Verhältnis der Mandate beider Parteien i n etwa dem der d r i t t e n Potenzen der Stimmenzahlen der Parteien. Nohlen (Anm. 32), S. 85; Bich (Anm. 65), S. 10 ff., 27 ff. m i t genauer Quantifizierung. 67 Nohlen (Anm. 32), S. 85 ff.; Bich (Anm. 65), S. 14 ff.; Bias besagt, daß eine Partei gegenüber einer anderen durch Faktoren begünstigt w i r d , die nicht direkt i m Wahlsystem begründet liegen, die aber i n dem entsprechenden Wahlsystem auftreten u n d gefördert werden. Der Bias ist i m H i n b l i c k auf die Gesamtwählerschaft eines Staates k a u m zu rechtfertigen, da hierdurch nicht n u r ein mehrheitsbildender Effekt, der sich unter dem Aspekt etwa der Handlungsfähigkeit des Parlaments rechtfertigen läßt, hervorgebracht w i r d , sondern möglicherweise i m Gegenteil das Gesamtbild v ö l l i g verzeichnet w i r d . 68 Bich (Anm. 65), S. 17 ff., 93 ff., dort auch zu einer Quantifizierung bei Isolierung der einzelnen Ursachen. 69 Z u m T e i l w i r d die Einteilung absichtlich etwas ungleich vorgenommen, u m ländlichen, konservativen Gebieten mehr Gewicht zu verschaffen (s. die französische V. Republik, Spanien nach 1976) zum T e i l w i r d eine Anpassung aus vergleichbaren politischen M o t i v e n unterlassen, w i e i m deutschen K a i erreich nach 1871; dazu s. Ridder, Wigand, Die Einteilung der Parlamentswahlkreise u n d ihre Bedeutung für das Wahlrecht i n rechtsvergleichender Sicht (Deutschland, Großbritannien, USA), Göttingen 1976, S. 13 ff., zur Ungleichheit insbes. S. 17 ff. Lange Zeit ist dieser Gesichtspunkt v o n der amerikanischen Rechtslehre vernachlässigt worden, s. Ridder, S. 210 ff.; Hopt, Klaus, Die D r i t t e Gewalt als politischer Faktor, B e r l i n 1969, S. 19 ff.; erst 1962 hat die Rechtsprechung m i t dem F a l l Baker vers. Carr eine bedeutsame Wende zu einer stärkeren Berücksichtigung des Gedankens der W a h l gleichheit bei der Wahlkreiseinteilung genommen, dazu s. Ridder, S. 263 ff.; Hopt, S. 36 ff., 63 ff., 88 ff.; vgl. auch Kopp, Klaus, One m a n — one vote i n den Vereinigten Staaten, JöR N.F. 28 (1979), S. 615 ff. (617 ff.); zur Situation i n Großbritannien Ridder, S. 175 ff.; zur Manipulation der Wahlen i n Nordi r l a n d zugunsten der protestantischen Mehrheit durch sog. "gerrymandering" s. Stadler (Anm. 34), S. 102 ff. 70 s. die englischen Unterhauswahlen v o n 1929, 1951, 1974 (Bich (Anm. 65), S. 15; vgl. auch Nohlen (Anm. 32), S. 89), sowie die amerikanischen Präsidentschaftswahlen von 1876/77 u n d 1888. Nohlen, S. 194 f., ebd. S. 192 ff. insgesamt zu den amerikanischen Präsidentschaftswahlen. Z u den Verzerrungen u n d A u s w i r k u n g e n des Präferenzsystems i n Kanada, die denen des relativen

.D

S u k t der Mehrheitsentscheidung

h e i t a u f gesamtstaatlicher E b e n e h a b e n i h r e n G r u n d u n d i h r e z u m i n dest historische R e c h t f e r t i g u n g d a r i n , daß d e r p r i m ä r e W a h l k ö r p e r

im

M e h r h e i t s w a h l r e c h t n i c h t das ganze L a n d , s o n d e r n d e r l o k a l e W a h l k r e i s 7 1 als u r s p r ü n g l i c h e l o k a l e K o l l e k t i v i t ä t 7 2 oder K o r p o r a t i o n 7 3

ist,

w ä h r e n d b e i e i n h e i t l i c h e r V e r h ä l t n i s w a h l das e i n P a r l a m e n t w ä h l e n d e E l e k t o r a t e i n z i g u n d a l l e i n als e i n h e i t l i c h e s Ganzes i n d e r V e r s a m m l u n g vertreten u n d abgebildet, repräsentiert w i r d 7 4 . Die sich h e u t e noch w e i t e r

durchsetzende75

Hinwendung zum

allmähliche, Gedanken

eines e i n h e i t l i c h z u v e r s t e h e n d e n E l e k t o r a t s w u r d e v o r a l l e m d u r c h die E n t s t e h u n g u n d das E r s t a r k e n d e r p o l i t i s c h e n P a r t e i e n b e w i r k t 7 6 . D e n noch ist d a m i t d e r l o k a l e B e z u g n i c h t v ö l l i g aus d e r Idee d e r Repräsent a t i o n v e r s c h w u n d e n 7 7 . A u c h deswegen k a n n d e r M a j o r z n i c h t als u n d e m o k r a t i s c h angesehen w e r d e n 7 8 . Mehrheitswahlrechts gleichen, s. Doeker, Gunther, Parlamentarische Bundesstaaten i m Commonwealth of Nations Kanada, Australien, Indien. E i n V e r gleich, Bd. I, Tübingen 1980, S. 322 ff., 347 ff.; zur Wahlkreisgeometrie i n Australien ebd. S. 233 ff. 71 I n den amerikanischen Präsidentschaftswahlen g i l t das eher noch für die Bundesstaaten, s. deutlich Nohlen (Anm. 32), S. 193 f. 72 Heller, Hermann, Die Gleichheit i n der Verhältniswahl nach der W e i marer Verfassung (1929), i n Gesammelte Schriften, Leiden 1971, Bd. I I , S. 319 ff. (340); vgl. auch Meyer (Anm. 60), S. 96. 73 Wie es noch bei Locke zum Ausdruck k o m m t s. oben I I . 74 Es ist das Problem der doppelten Zahlenganzheit s. oben I V , A , 1. 75 Vgl. idealtypisch die schwedischen Wahlreformen, Nohlen (Anm. 32), S. 255 ff. 76 Heller (Anm. 72), S. 340; Leibholz, Gerhard, Strukturprobleme der modernen Demokratie, Karlsruhe 1958, 3. A u f l . 1967, S. 20; ausführlich zu der inhaltlichen Veränderung Meyer (Anm. 60), S. 95 ff., 159 ff.; auch deshalb w u r d e n i m deutschen Kaiserreich die durch die Mehrheitswahl begünstigten Ungleichheiten zunehmend schärfer empfunden; zur Wahlgleichheit i n der deutschen Verfassungsgeschichte s. Meyer, S. 83 ff. 77 Die lokalen Wahlkreiskandidaten werden vorrangig i m Hinblick auf ihre Parteizugehörigkeit gewählt, u n d die reine Persönlichkeitswahl hat infolgedessen an Bedeutung verloren, s. Meyer (Anm. 60), S. 160. Trotzdem sind lokale Bindungen der Wahlkreisvertreter erhalten geblieben. Die Parteien haben jedenfalls die örtliche Repräsentation nicht v ö l l i g absorbiert. Das zeigt das Wahlsystem der personalisierten Verhältniswahl i n Deutschland bei zwei Einschränkungen der Erfolgswertgleichheit, bei der Modifizierung der E r folgswertgleichheit durch die sog. Überhangmandate (BVerfGE 7, 63 (74 f.)) u n d insofern, als der Wahlkreis als „abgerundetes zusammengehörendes Ganzes" bestimmt werden soll (BVerfGE 16, 130 (141)). 78 Das gilt u m so mehr dort, w o das Mehrheitswahlrecht w i e i n England durch eine alte T r a d i t i o n geheiligt ist. Es ist hier nicht der Ort, i m Detail die Vereinbarkeit des Majorzes m i t dem Grundsatz der Wahlgleichheit u n d speziell seiner Ausprägung i m G G zu erörtern. I n Auseinandersetzung m i t Meyer (Anm. 60), S. 191 ff., zusammenfassend S. 221 ff. sei n u r auf folgende Gesichtspunkte hingewiesen. Die sich aus dem Mehrheitsprinzip ergebende Beschränkung der Wahlalternativen auf möglichst wenige (s. dazu u n t e n I V , Β , 1) spricht jedenfalls grundsätzlich für ein Zweiparteiensystem, das durch ein Mehrheitswahlrecht zumindest gefördert w i r d . Demokratische Systeme erlauben sowohl eine große Spannweite der vertretenen I n t e r -

118

I V . Die S t r u k t u r der Mehrheitsentscheidung

N e b e n d e n d u r c h das W a h l s y s t e m b e d i n g t e n U n g l e i c h h e i t e n k ö n n e n andere z w i n g e n d e G r ü n d e die f o r m e l l e G l e i c h h e i t d e r W a h l beschränk e n 7 9 . D e r g r a v i e r e n d s t e E i n s c h n i t t w i r d i n dieser H i n s i c h t v o n d e n ausschließlich i n V e r h ä l t n i s w a h l s y s t e m e n

aufzufindenden

Sperrklauseln

v o l l z o g e n , die die V e r t r e t u n g v o n S p l i t t e r p a r t e i e n v e r h i n d e r n u n d die Funktionsfähigkeit

des p o l i t i s c h e n Systems a u f r e c h t e r h a l t e n u n d

ab-

sichern s o l l e n 8 0 . A u ß e r d e m b e e i n f l u s s e n die Z ä h l v e r f a h r e n b e i e i n e m V e r h ä l t n i s w a h l recht i n e r h e b l i c h e m M a ß d i e S i t z v e r t e i l u n g 8 1 , w a s sich t e i l w e i s e als essen w i e ihre Aggregation zu einer einheitlichen politischen Führung i n beiden — Majorz u n d Proporz — Systemen gleichermaßen, n u r hängt dies weitgehend v o n der Funktionstüchtigkeit des gesamten Systems ab. I n v o n Proporz bestimmten Repräsentationssystemen notwendige Koalitionen k ö n nen sinnvoll sein, aber das V o t u m für eine Partei, w e n n sie sich nicht durch Koalitionsaussagen festgelegt hat, ist „neutral" i n bezug auf die k o n k r e t eingegangene K o a l i t i o n — notgedrungen w i e Meyer, S. 210 feststellt. Gerade deshalb ist die W a h l oft keine unmittelbare Entscheidung des Wählers über die Regierungsbildung. Z u r alternierenden Regierungsweise konstatiert Meyer, S. 212 „daß ein solches A l t e r n i e r e n weder i n einem proportionalen System unmöglich, noch i n einem Zweiparteiensystem garantiert ist". Damit w i r d der Finger auf den entscheidenden P u n k t gelegt. A l l e Aussagen über Sinn u n d Unsinn eines der beiden Repräsentationsprinzipien hängen wesentlich v o n den historisch gewachsenen S t r u k t u r e n ab, ebenso w i e die Frage, ob die beiden Parteien zur M i t t e tendieren oder zu einer Polarisierung neigen. Beide Entwicklungen können i n beiden Systemen vorkommen, w i e die Geschichte Englands u n d der Bundesrepublik erweisen. Generelle u n d systematische Aussagen können insoweit allein einen Rahmen abstecken, i n dem die historischen Ereignisse sich abspielen, u n d allerhöchstens Tendenzen aufzeigen. Die Behauptung, die Wahlgleichheit erfordere oder verbiete ein Wahlsystem, ist deswegen äußerst problematisch. I n einer bestimmten k o n kreten Situation könnte die Einführung des Mehrheitswahlrechts selbst unter der Geltung des G G angemessen sein, obwohl Meyer zuzugeben ist, daß das GG eher dem Verhältniswahlrecht zugeneigt ist u n d für eine Ä n d e r u n g des geltenden Wahlrechts keine Veranlassung besteht. Dagegen können sich v o r allem i n jungen Demokratien mehrheitsbildende Wahlsysteme empfehlen, u m die E n t w i c k l u n g v o n Volksparteien zu fördern. Andererseits k ö n nen starke Regionalismen bei einem Mehrheitswahlrecht die E n t w i c k l u n g eines Zweiparteiensystems verhindern; vgl. f ü r Indien Doeker (Anm. 70), S. 366. 79 Vgl. die Übersicht über die einzelnen Gründe Seifert (Anm. 32), S. 53 f.; vgl. auch Meyer (Anm. 60), S. 133 ff.; i n dieser Hinsicht ist es zwar richtig, die Wahlgleichheit als U n t e r f a l l des allgemeinen Gleichheitssatzes zu betrachten, die Einschränkungen lassen sich aber nicht aus dem Gedanken des A r t . 3 GG ableiten, sondern n u r v o n den Funktionen der Wahl, s. Meyer, S. 145 ff. 80 So die 5 °/o-Sperrklausel i n § 6 I V B W a h l G ; dazu s. v o r allem BVerfGE 1, 208 (247 ff., 256); 6, 84 (90 ff., 95); Schreiber, Wolfgang, Handbuch des W a h l rechts zum Deutschen Bundestag, 2. A u f l . K ö l n 1980, Bd. 1, Kommentar zum Bundeswahlgesetz § 6, Rdn. 16 ff. m w N zur Rspr; Meyer (Anm. 60), S. 225 ff. 81 Das Zählverfahren d'Hondt begünstigt die größeren Parteien, i n geringerem Ausmaß auch die Hagenbach-Bischof-Methode, Seifert (Anm. 32), S. 8; Müller, Peter Felix, Das Wahlsystem, Zürich 1959, S. 74 ff. bes. S. 88 f.; während das Hare'sche System u n d das Verfahren St. Lagüe eher den k l e i -

.D mathematische

S u k t der Mehrheitsentscheidung

Zwangsläufigkeit 82

und

teilweise

aus

Gründen

des P a r l a m e n t s als e r w ü n s c h t 8 3 d a r s t e l l t .

Funktionsfähigkeit

der

Möglich

b l e i b e n auch E i n s c h r ä n k u n g e n d e r G l e i c h h e i t b e i W a h l e n i n B u n d e s staaten a u f g r u n d der föderativen S t r u k t u r 8 4 . A n d e r e

Beeinträchtigun-

g e n l i e g e n noch i n technischen D e t a i l s , ohne g r u n d s ä t z l i c h e F r a g e n z u berühren 85. Letztlich bedeuten jedoch alle Sicherungen der Wahlrechtsgleichheit keine Einflußgleichheit

a u f d i e E n t s c h e i d u n g 8 6 , schon a l l e i n w e i l

Minderheit v o n der konkreten Mehrheitsentscheidung

die

ausgeschlossen

ist. L a n g f r i s t i g k ö n n e n h i e r n u r wechselnde M e h r h e i t e n 8 7 e i n e n z w e i f e l los n i c h t p e r f e k t e n Mehrheitsprinzips

Ausgleich schaffen 88 u n d die Begrenzungen

die Mehrheitsentscheidung f ü r

die M i n d e r h e i t

des er-

träglich halten89. nen Parteien zugute kommen. Seifert S. 8 dort zu den verschiedenen Rechenverfahren; s. auch Schreiber (Anm. 80), § 6, Rdn. 6, S. 149 ff.; zu den einzelnen Methoden u n d ihren A u s w i r k u n g e n s. Rae, Douglas W., The Political Consequences of Electoral Laws, New Haven, 2. A u f l . 1971, S. 31 ff.; generell begünstigen alle Wahlsysteme bei Berücksichtigung aller Faktoren die größeren Parteien, s. den empirischen Nachweis bei Rae, S. 69 ff. 82 Vgl. BVerfGE 16, 130 (144). 88 Z u den Funktionen der Wahl, die eine Einschränkung der Wahlgleichheit rechtfertigen vgl. insbes. BVerfGE 6, 84 (92 f.). 84 Das b e t r i f f t die Wahlkreiseinteilung an den Landesgrenzen, aber auch generell die Stimmen-Mandatsverhältnisse i m Vergleich zwischen verschiedenen Ländern. Bezeichnend sind i n diesem Zusammenhang die Präsidentschaftswahlen i n den U S A (s.o. A n m . 71); vgl. auch BVerfGE 6, 273 (280), wonach die „Verfassungsstruktur" Einschränkungen erlauben kann. 85 Vgl. die Formulierung „unabweisbare technische Erfordernisse eines ordnungsgemäßen Wahlverfahrens" i n BVerfGE 30, 227 (249). Hierher dürfte auch die unterschiedliche Stimmenzuweisung i n verschieden großen W a h l kreisen i n L u x e m b u r g zu rechnen sein (s. o. A n m . 57); vgl. auch BVerfGE 13, 243 (247), wonach die Größe der Wahlgebiete eine unterschiedliche W a h l rechtsausgestaltung rechtfertigen kann. 86 s. Berg, Elias, Democracy and the M a j o r i t y Principle, Göteborg 1965, S. 133 ff.; vgl. auch Lively , Jack, Democracy, Oxford 1975, S. 16 f., der z w i schen prospective equality u n d retrospective equality (tatsächliche Gleichheit i n der Determinierung der Entscheidung) differenziert. Letztere könnte m a n auch als Einflußgleichheit i m hier gemeinten Sinn bezeichnen. 87 s. dazu V , C. 88 Berg (Anm. 86), S. 150 ff., der ebenfalls betont, daß das Mehrheitsprinzip keinen perfekten Machtwechsel gewährleistet, der zu w i r k l i c h e r Einflußgleichheit führen würde. 89 Dazu s. V I I , A u n d Β ; Berg (Anm. 86) f ü h r t i n diesem Zusammenhang noch Prior Consensus (S. 136 ff.), Autonomie (S. 154 ff.) u n d Compromise (S. 143 ff.) als Prinzipien der Sicherung der Einflußgleichheit an, wobei er den Kompromiß diesbezüglich selbst v e r w i r f t , da er größere Gruppen bevorzuge (S. 150). Abgesehen davon dienen Kompromisse meist der Mehrheitsb i l d u n g u n d gehen nicht darüber hinaus, w e n n nicht die Minderheit andere — etwa über föderale Strukturen — Einwirkungsmöglichkeiten besitzt; z u m Grundkonsens s. V , A .

120

I V . Die S t r u k t u r der Mehrheitsentscheidung 3· Entscheidungsbeteiligung

Die unterschiedliche Wahlbeteiligung i n verschiedenen Wahlkreisen i m Rahmen einer einheitlichen Wahl wurde bereits als ein Faktor der Ungleichheit i m Erfolgswert der Stimmen beschrieben 90 . Die Bedeutung der Entscheidungsbeteiligung erschöpft sich darin aber nicht und zeigt sich außer i n Volkswahlen und -abstimmungen auch i m parlamentarischen Bereich. Als Problem erweist sich die Beteiligung deswegen, weil die Abstimmenden — selbst i n kleinen Gremien — selten alle Abstimmungsberechtigten umfassen, jedoch alle Mitglieder des Gemeinwesens oder der Körperschaft i n der Regel durch den Beschluß der Mehrheit der Abstimmenden gebunden und verpflichtet werden 9 1 . Die Entscheidungsbeteiligung hängt weitgehend von der generellen Entscheidungsbereitschaft 92 ab, während unfreiwillige Gründe der Stimmenthaltung eine verhältnismäßig geringe Rolle spielen 93 : Das Mehrheitsprinzip setzt i n dieser Hinsicht voraus, daß sich die Beteiligten i n ihrem eigenen Interesse gewissen Anstrengungen unterwerfen, u m die wählbaren Alternativen kennenzulernen und beurteilen zu können, sowie daß sie sich u m die Teilnahme an der betreffenden A b stimmungshandlung bemühen. Neben dem Aufwand an Zeit, Kosten und sonstiger Mühe 9 4 bestimmt die Einstellung zu den gebotenen Alternativen die Entscheidungsbeteiligung. Zwei grundsätzliche Haltungen beherrschen das Bild, wobei die Übergänge fließend sein können. Die Abstimmungsberechtigten können sich durch Gleichgültigkeit gegenüber den Wahlalternativen auszeichnen, oder ihre Enthaltung w i r d von ihrer allgemeinen Unzufriedenheit, wenn nicht scharfer Ablehnung der Alternativen diktiert.

90

s. oben I V , A , 2 b. s. oben I V , A , 1. 92 Dazu noch unter anderen Aspekten V I , A . 93 Hier handelt es sich u m faktische Hinderungsgründe w i e Krankheit, Abwesenheit infolge beruflicher Tätigkeit oder Urlaubs u n d dergleichen. Freiwillige Enthaltung korrespondiert dagegen m i t dem Begriff der E n t scheidungsbereitschaft; zu den Gründen s. Hirsch-Weber, Wolf gang / Schütz, Klaus, Wähler u n d Gewählte. Eine Untersuchung der Bundestagswahlen 1953, B e r l i n u. a. 1957, S. 273 ff.; vgl. auch Dogan, Mattei / Narbonne, Jacques, L'abstentionnisme électorale en France, RFSP 4 (1954), S. 5 ff., 301 ff. (317 ff.); Gunzert, Rudolf, i n Fritz S ä n g e r / K l a u s Liepelt (Hrsg.), Wahlhandbuch 1965 (Veröffentlichung des Instituts für angewandte Sozial Wissenschaften Bd. 5), F r a n k f u r t 1965, 3. 23; zur Wahlbeteiligung s. auch Pappi , Franz Urban, Wahlverhalten u n d politische K u l t u r , Meisenheim 1970, S. 37 ff., sowie die Überblicke über konventionelle politische Partizipation bei Barnes, Samuel H. / Kaase, Max, Political Action: Mass Participation i n Five Western Democracies, Beverly H i l l s 1979, S. 85, 111. 91

94

s. dazu noch V I I , C.

.D

S u k t der Mehrheitsentscheidung

D i e I n d i f f e r e n z , die sich m e i s t aus a l l g e m e i n e r p o l i t i s c h e r Interessel o s i g k e i t s p e i s t 9 5 , w i r d g e m e i n h i n als B e s t i m m u n g s f a k t o r i m V e r g l e i c h zu f e i n d s e l i g e r A b n e i g u n g gegen das politische S y s t e m u n d seine P a r t e i e n ü b e r w i e g e n 9 6 . Angesichts des v e r b r e i t e t e n M a n g e l s a n p o l i t i s c h e m Interesse selbst b e i d e n j e n i g e n , die a n W a h l e n u n d A b s t i m m u n g e n t e i l n e h m e n 9 7 , ist f ü r die i n d i f f e r e n t e n N i c h t W ä h l e r k e n n z e i c h n e n d , daß sie die T e i l n a h m e n i c h t als m o r a l i s c h e V e r p f l i c h t u n g o d e r als besonders beachtenswertes

Recht e m p f i n d e n

u n d insgesamt, gemessen a n

den

W ä h l e r n , w e n i g e r i n d i e Gesellschaft i n t e g r i e r t s i n d 9 8 . D i e E i n s c h ä t z u n g der B e d e u t u n g d e r tatsächlichen S t i m m e n t h a l t u n g w i r d d a d u r c h g e m i l d e r t , daß d e r A n t e i l d e r N i c h t w ä h l e r , d e r sich s t ä n d i g d e r S t i m m e e n t hält, jedenfalls i n der Bundesrepublik n u r ein D r i t t e l beträgt 99. I n keine der

beiden

Kategorien,

Indifferenz

und

Ablehnung,

fügt

sich

die

S t i m m e n t h a l t u n g i n f o l g e v o n cross pressures e i n 1 0 0 , d i e als eine typische Erscheinung moderner

Parteiendemokratie

aber k e i n

entscheidendes

G e w i c h t f ü r die W a h l e n t h a l t u n g besitzt. 95 Vgl. die weitere Differenzierung bei Hirsch-Weber / Schütz (Anm. 93), S. 275 i n Bequemlichkeit, Apathie u n d Unkenntnis; die ganz anders geartete Einteilung bei Radtke, Günter D., Stimmenthaltung bei politischen Wahlen i n der Bundesrepublik Deutschland, Meisenheim 1972, unterscheidet insoweit zwischen allgemein geringem politischen Interesse (S. 12 ff.) u n d Gleichgültigkeit gegnüber den A l t e r n a t i v e n (S. 22 ff.). 96 s. Lancelot, A l a i n , L'Abstentionnisme électorale en France, Paris 1968. S. 160 ff.; i n den USA beruhen die niedrigen Wahlbeteiligungsquoten darüber hinaus teilweise darauf, daß gesetzlich v o n der W a h l ausgeschlossene Bürger zu den Wahlberechtigten gezählt werden u n d zudem ungültige Stimmen als nicht abgegeben gelten; s. Andrews, W i l l i a m G., American V o t i n g Participation, The Western Political Quarterly 19 (1966), S. 639 ff. 97 Vgl. n u r Lancelot (Anm. 96), S. 164 f.; Schonfeld, W i l l i a m R., The Meaning of Democratic Participation, W o r l d Politics 28 (1975/76), S. 134 ff. (154 f.); Butler, David / Stokes, Donald, Political Change i n B r i t a i n , 2 ed. The Evolution of Electoral Choice, London 1974, S. 20 ff.; allerdings ist politische Interesselosigkeit bei Nichtwählern stärker als bei W ä h l e r n verbreitet. Lancelot, S. 165 f. Dagegen sind i m Gegensatz zu den USA zwischen Wechselw ä h l e r n u n d konstanten W ä h l e r n einer Partei i n der B R D bezüglich des p o l i tischen Interesses keine signifikanten Unterschiede zu bemerken; s. Klingemann, Hans Dieter, Bestimmungsgründe der Wahlentscheidung i m Bundestagswahlkreis Heilbronn, Meisenheim 1969, S. 240 ff. 98 s. Radtke (Anm. 95), S. 33 ff.; Lancelot (Anm. 96), S. 168 f.; näher zu sozialer u n d geographischer Verteilung der Nichtwähler s. Radtke, S. 68 ff.; Lancelot, S. 54 ff., 171 ff.; vgl. auch Girod, Roger, Facteurs de l'Abstentionnisme en Suisse, RFSP 3 (1953), S. 349 ff. 99 s. Radtke (Anm. 95), S. 26 f., 34; vgl. auch Gunzert (Anm. 93), 3.23; eine allgemeine Übersicht über die Wahlenthaltung i n Frankreich u n d den U S A findet sich bei Schonfeld, W i l l i a m R. / Toinet, Marie France, Les abstentionnistes ont ils toujours tort? La participation électorale en France et aux Etats-Unis, RFSP 25 (1975), S. 645 ff. (649 ff.). 100 s. Hirsch-Weber / Schütz (Anm. 93), S. 275; zu cross pressures s. Lazars feld , Paul F. / Berelson, Bernard / Gaudet, Hazel, Wahlen u n d Wähler, Neuw i e d 1969, S. 92 ff.

122

I V . Die S t r u k t u r der Mehrheitsentscheidung

I m Gegensatz zur Indifferenz w i r d die politische Verweigerung durch eine vielfältige Stufung der Intensität der Einstellung geprägt, die von gelangweilter Skepsis bis zu offenem Protest reichen kann 1 0 1 . Wenn die erste Variante politischer Abstinenz, die nachlässige Indifferenz, für die Demokratie bis zu einem gewissen Grad erträglich ist, da diese Gleichgültigkeit die Entscheidungsfähigkeit und Anerkennung des politischen Systems i m ganzen unberührt läßt und das Mehrheitsverhältnis insofern nicht tangiert wird, als Befürworter und Gegner die Entscheidung allein treffen und Stimmenthaltung für die betreffende Entscheidung nicht nur rechnerisch außer acht gelassen werden k a n n 1 0 2 , bedeutet die von Skepsis und Protest gefärbte Wahlenthaltung i n einer Demokratie ein bedenkliches, sogar gefährliches Signum eines Legitimitätsdefizits, weil diese Gruppe i m Sinne des Mehrheitsprinzips von der Mehrheit abgesetzt werden muß, ohne sich für die unterlegene Minderheitsalternative entscheiden und dieser zur Mehrheit verhelfen zu können. Indifferenz ist innerhalb der Geltung des Mehrheitsprinzips dem Gedanken der Selbstbestimmung nicht abträglich, die „absolute Weiger u n g " 1 0 3 heißt aber, daß die Auffassung von Selbstbestimmung dieser Gruppe i n dem bestehenden System und seinen Alternativen keinen angemessenen Ausdruck findet und dann aus demokratischen A r t i k u l a tions- und Durchsetzungsmöglichkeiten Ausflucht i n andere Aktionsformen, auch politischer Gewalt, sucht und sich dem rechtlichen Band des staatlichen Verbandes und seinen Ansprüchen entziehen w i l l . Die alternative Bewegung versucht jetzt einen eigentümlichen Mittelweg zu gehen, indem sie Vertreter der eigenen Vorstellungen i n die Parlamente entsendet, diese aber die Zusammenarbeit m i t den etablierten Parteien i n erheblichem Maß verweigern.

101 s. die Aufgliederung bei Hirsch-Weber / Schütz (Anm. 93), S. 275, i n 1. Skepsis i n doppelter Hinsicht aufgrund der Auffassung a) die Stimmabgabe sei wertlos wegen der hohen Z a h l der Wähler u n d evtl. der 5°/o-Klausel b) eine Verschiebung der Mehrheitsverhältnisse ändere i n Wahrheit nichts an der Politik. 2. Protest; Lancelot (Anm. 96) unterscheidet dagegen n u r hostilité u n d indifférence. I n Frankreich drückt sich eine generelle Protesth a l t u n g nicht n u r i n Stimmenthaltung, sondern auch i n der W a h l der K o m munisten aus. So w ä h l t e n 1966/1970 je 45 °/o/53 °/o der kommunistischen W ä h ler die K P F , u m i h r allgemeines Unbehagen auszudrücken; s. Braud, P h i lippe, Le comportement électoral en France, Paris 1973, S. 188 f., i n Israel kommen noch religiös u n d national bestimmte Gründe für eine Stimmenth a l t u n g hinzu; s. Wehling, Gerd-Rudolf, Die politischen Parteien i m V e r fassungssystem Israels, B e r l i n 1977, S. 159 ff. 102 Mathematisch betrachtet lassen sich die Wahlenthaltungen beiden A l ternativen bzw. Mehrheit u n d Minderheit gleichmäßig zuordnen, so daß zumindest i n absoluten Zahlen der Abstand zwischen beiden sich nicht v e r ändert, so jedenfalls Dahl (Anm. 4), S. 36 f. tos Marcuse, Herbert, Der eindimensionale Mensch, Neuwied 1967, S. 266 ff.

.D

S u k t der Mehrheitsentscheidung

Gegen die verschieden m o t i v i e r t e N i c h t b e t e i l i g u n g k ö n n e n die r e c h t l i c h e n M i t t e l des Q u o r u m s i m S i n n e d e r B e s c h l u ß f ä h i g k e i t

und

W a h l p f l i c h t n u r b e g r e n z t R e m e d u r verschaffen. Das E r f o r d e r n i s

der einer

M i n d e s t z a h l v o n A b s t i m m e n d e n als V o r a u s s e t z u n g d e r B e s c h l u ß f ä h i g k e i t 1 0 4 findet vorzugsweise i m parlamentarischen Bereich A n w e n d u n g . G e l e g e n t l i c h k o m m t auch eine schwächere V a r i a n t e v o r , die n u r Anwesenheit einer bestimmten A n z a h l v o n Abgeordneten

die

verlangt105.

A n s o n s t e n s i n d Q u o r e n höchstens f ü r sachliche A b s t i m m u n g e n , V o l k s entscheide, v o r g e s e h e n 1 0 6 . Diese w i r k e n sich d a n n z u g u n s t e n des status quo aus. F ü r V o l k s w a h l e n ist d i e W a h l p f l i c h t ü b l i c h e r 1 0 7 , die d i e W a h l b e t e i l i g u n g m e i s t a u f Q u o t e n v o n e t w a 9 0 % d r ü c k t 1 0 8 . Das P r o t e s t p o t e n t i a l w i r d j e d o c h auf diese Weise n i c h t i n t e g r i e r t , s o n d e r n z u o f f e n e r D e m o n s t r a t i o n m o t i v i e r t . Infolgedessen steigen d i e Z a h l e n u n g ü l t i g e r men109

u n d verdeutlichen

die sonst eher v e r b o r g e n e n

Stim-

Legitimitäts-

probleme.

104 Quorum w i r d hier n u r i n diesem Sinn verstanden, nicht als Erfordernis einer Mindestzahl, die die Mehrheit an Stimmen erreichen muß, das gleichw o h l einen ähnlichen Druck w i e jedes qualifizierte Mehrheitserfordernis auf eine höhere Entscheidungsbeteiligung ausüben kann. 105 So etwa § 45 GeschO B T ; dazu Trossmann (Anm. 30), S. 319 ff.; eine schwächere Variante deswegen, w e i l Anwesenheit nicht automatisch S t i m m beteiligung bedingt. So beteiligten sich etwa trotz Anwesenheit einige A b geordnete bei der A b s t i m m u n g über den E V G - V e r t r a g i n der Bundestagssitzung v o m 5.12.1952 nicht; s. Schmitt, Horst, Das legislative Votum. Eine parlamentsrechtliche Untersuchung über die Beratung u n d A b s t i m m u n g der gesetzgebenden Körperschaften, Diss. Bonn 1960, S. 117 f. ιοβ w e n n , sogar eher i m Sinne v o n A n m . 104, w i e das Quorum der Athener Volksversammlung für den Ostrakismus zeigt; ein Beschlußfähigkeitsquorum aber ist A r t . 75 I V ital. Verf. u n d A r t . 75 W R V . 107 Ausführlich Lang, Gerhard, Das Problem der W a h l - u n d Stimmpflicht, seine Lösung i m geltenden Recht der europäischen Staaten u n d seiner Grundlagen i n der Bundesrepublik Deutschland, Diss. Freiburg 1962; die Begründung, die W a h l sei eine staatsbürgerliche Pflicht, ist eher eine Fernw i r k u n g der Bemühung, i m Interesse der Demokratie zu einer höheren E n t scheidungsbeteiligung zu gelangen. Bei der E i n f ü h r u n g der Wahlpflicht haben auch andere Gründe eine Rolle gespielt. I n Belgien diente die W a h l pflicht zur Eindämmung v o n Wahlmanipulationen, u n d i n den Niederlanden sollte i n Verbindung m i t dem Verhältniswahlrecht eine genauere Repräsent a t i o n der Bevölkerung u n d der Interessen erreicht werden, Nohlen (Anm. 32), S. 47 f. 108 s. Nohlen (Anm. 32), S. 47 f.; Wahlpflicht gibt es heute v o r allem noch i n Belgien, Luxemburg, Italien, Australien, Lichtenstein u n d teilweise i n Österreich u n d der Schweiz, s. die Übersicht bei Lang (Anm. 107), S. 128 ff., zu den A u s w i r k u n g e n auf die Stimmbeteiligung Lang, S. 172 ff. 109 S. Nohlen (Anm. 32), S. 48. Eine deutliche Demonstration waren die 9,5 % ungültigen Stimmen bei den italienischen Regionalwahlen v o n 1980.

124

I V . Die S t r u k t u r der Mehrheitsentscheidung 4. Arten der Entscheidungsmehrheit 110

O b w o h l d i e absolute M e h r h e i t als die e i g e n t l i c h d e m o k r a t i s c h e M e h r h e i t bezeichnet w e r d e n m u ß 1 1 1 , s t e l l t die V e r f a s s u n g s W i r k l i c h k e i t i n s gesamt v i e r verschiedene A r t e n d e r M e h r h e i t z u r E n t s c h e i d u n g s f i n d u n g z u r V e r f ü g u n g , die i m e i n z e l n e n i h r e r besonderen, zusätzlichen Rechtfertigung bedürfen. W e n n m a n diese F o r m e n s t u f e n f ö r m i g a n o r d n e t , v o n der g e r i n g s t e n Anforderung relative

zur jeweils höheren fortschreitend,

i s t die

sogenannte

M e h r h e i t an den A n f a n g zu setzen112. I n diesem F a l l gilt die-

j e n i g e v o n m e h r e r e n A l t e r n a t i v e n als g e w ä h l t , d i e vergleichsweise die m e i s t e n S t i m m e n e r h a l t e n h a t u n a b h ä n g i g v o n d e m Prozentsatz

der

gewonnenen S t i m m e n i m Verhältnis zur Gesamtheit der A b s t i m m e n d e n 1 1 3 . Kennzeichnendes M e r k m a l d e r r e l a t i v e n M e h r h e i t ist, daß m e h r als z w e i A l t e r n a t i v e n z u r A u s w a h l stehen u n d deswegen d i e absolute M e h r h e i t n o r m a l e r w e i s e erst i n e i n e r S t i c h w a h l v o n e i n e r A l t e r n a t i v e e r r u n g e n w e r d e n k a n n 1 1 4 , w a s sich v i e l f a c h als u m s t ä n d l i c h e r w e i s t . D i e nächste Stufe, d i e einfache Mehrheit 115, zeichnet sich d a d u r c h 116 aus , daß ausschließlich die J a - u n d N e i n - S t i m m e n z u r E r m i t t l u n g d e r 110 Dazu s. v o r allem Schneider (Anm. 2), S. 26; Eschenburg (Anm. 20), S. 26 ff.; Achterberg, Norbert, Die parlamentarische Verhandlung, B e r l i n 1979, S. 45 ff. I m Gegensatz zur zugrunde liegenden Zahlenganzheit geht es hier u m das Zahlenverhältnis. 111 s. oben I I I . 112 Der Sache nach ist sie dem kanonischen Recht seit 1222 bekannt, wurde damals aber nicht als ausreichend angesehen, c23, V I ° , I, V I u n d c55, Χ , I X ; eine doktrinäre Vertretung gibt es erst i m 17. Jahrhundert, s. Moulin, Léo, Les origines religieuses des techniques électorales et deliberatives modernes, Revue Internationale d'Histoire politique et constitutionnelle, Nouv. Série, t. I I I (1953), S. 106 ff. (130 f.); vgl. auch den Kommentar zur Benediktinerregel zu c 64, Migne, J. P., Patrologia Latina, Bd. 66, Paris 1847, Sp. 881 ff. Der Begriff k a m w o h l erst i n der französischen Revolution 1789 auf s. Tecklenburg, Adolf, Die E n t w i c k l u n g des Wahlrechts i n Frankreich seit 1789, Tübingen 1911, S. 70. 113 Beispiel: v o n 100 Stimmen entfallen auf x 35, auf y 30, auf ζ 25, auf w 10. Dann ist χ gewählt, obwohl diese A l t e r n a t i v e weniger als die Hälfte aller abgegebenen Stimmen erreicht hat. 114 Daher ist i n der französischen V. Republik bei den Präsidentschaftswahlen ein 2. Wahlgang erforderlich. F ü r das Erreichen der absoluten M e h r heit ist die relative Mehrheit i m Blick auf den 2. Wahlgang nicht vielmehr als ein Indiz, da eine Alternative, die i m ersten Wahlgang nicht die relative Mehrheit erlangt hat, i m 2. Wahlgang die absolute Mehrheit gewinnen kann; bei zwei A l t e r n a t i v e n ist die relative Mehrheit gleichzeitig die absolute Mehrheit. 115 Sie galt i n der A n t i k e meist als ausreichend, s. Busolt, Georg, Griechische Staatskunde, München, Bd. I (1921), S. 454; Bd. I I (1926), S. 1000; Mommsen, Theodor, Römisches Staatsrecht, 4. A u f l . (Nachdruck der 3. A u f l . v. 1887), Tübingen 1952, Bd. I I I , 1. Teil, S. 408: innerhalb der Tribus. 116 Z u r begrifflichen Unterscheidung v o n einfacher u n d absoluter Mehrheit s. Eschenburg (Anm. 20), S. 26 f.; i m Bundestag reicht nach h. M. die einfache

.D

S u k t der Mehrheitsentscheidung

Mehrheit herangezogen werden, indem der Beschluß bereits zustande kommt, wenn die Anzahl der Ja-Stimmen die der Nein-Stimmen u m eins übersteigt, während Stimmenthaltungen nicht gezählt werden 1 1 7 . Die Begründung hierfür lautet, daß Stimmenthaltungen nicht als Stimmabgabe zu werten sind und dementsprechend so angesehen werden müssen, als ob diejenigen, die sich der Stimme enthalten, gar nicht an der Abstimmung teilgenommen hätten. Deshalb könnte man die einfache Mehrheit geradezu als fiktive Erscheinungsform der demokratischen absoluten Mehrheit der Abstimmenden bezeichnen 118 . Die absolute Mehrheit 119 läßt sich bei zwei und mehr Alternativen ermitteln. Die Anzahl der für eine Alternative (x) abgegebenen Stimmen muß mindestens eins mehr betragen als die Hälfte der zugrundegelegten Zahlenganzheit 120 , wobei es gleichgültig bleibt, welche A r t der Zahlenganzheit i m voraus festgesetzt w i r d 1 2 1 . Meist w i r d es sich bloß u m zwei Alternativen handeln 1 2 2 . Deutlich hebt sich davon das Erfordernis einer qualifizierten Mehrheit ab, das traditionell 1 2 3 i m allgemeinen i n Form der 2 /s-Mehrheit i n Mehrheit, Maunz, i n Maunz / D ü r i g / Herzog / Scholz, A r t . 42, Rdn. 18; Ver steyl, i n v. Münch, A r t . 42, Rdn. 20; vgl. A r t . 42 I I sowie für Abgeordnetenmehrheit A r t . 29 V I I , 63 I I 1, 63 I V 2, 67 1 1, 68 1 1, 77 I V 1, 87 I I I 2; i m übrigen ist diese Mehrheit auf Abstimmungsmehrheiten der Sache nach beschränkt. 117 Vgl. oben I V , A , 1; Beispiel: bei 45 Ja-Stimmen, 40 Nein-Stimmen u n d 15 Enthaltungen ist der Beschluß angenommen. Die einfache Mehrheit setzt i n der Regel zwei A l t e r n a t i v e n voraus. 118 Einfache u n d absolute Mehrheit werden deshalb häufig verwechselt oder für identisch gehalten. 119 I n der A n t i k e w a r sie i n Rom für die Mehrheit zwischen den Tribus erforderlich, Mommsen (Anm. 115), Bd. I I I , 1. Teil, S. 412; i n I t a l i e n taucht sie 1250 i n Bologna wieder auf, Moulin (Anm. 112), S. 112. Der Begriff stammt aus der französischen Revolution, s. Tecklenburg (Anm. 112), S. 70. 120 Beispiel: von 100 Stimmen erhält χ 51, y 30, ζ 19 Stimmen, χ ist gewählt, 71 da diese Alternative — + 1 Stimmen erhalten hat. Ausreichend sind bereits 2t

η+1

— — bei ungeraden Z i f f e r n ζ. B. bei η = 101 muß χ auch n u r 51 Stimmen 121 erhalten. s. dazu oben I V , A , 1: Abstimmungs-, Anwesenheits- u n d Mitgliedermehrheit. 122 s. unten I V , Β , 1. 123 Die qualifizierten Mehrheiten haben i h r e n geistigen Ursprung v e r m u t lich i m Mythos der Einmütigkeit, Moulin (Anm. 112), S. 112; die besondere Form der 2 /s-Mehrheit w a r i m Spätmittelalter i n den italienischen Städten sehr verbreitet, Moulin , S. 112 f. I m deutschen Raum ist aus den Städten für Satzungsänderungen der Zunftverfassungen gleichfalls gelegentlich eine Va-Mehrheit überliefert, Luther, Rudolf, Gab es eine Zunftdemokratie?, Berl i n 1968, S. 24 u n d w u r d e w o h l aus dem kanonischen Recht übernommen, wo sie seit dem Lateranischen K o n z i l v o n 1179 bekannt w a r , s. c 6, Χ , I , 6; c 1 X , I I I , 11 u n d c9, V I ° , I , 6; Moulin, S. 126, 131 f. Möglicherweise r ü h r t die Faszination der 2 /3-Zahl v o n Dig. 50, 9, 3 her, obwohl es sich dort u m ein

126

I V . Die S t r u k t u r der Mehrheitsentscheidung

E r s c h e i n u n g t r i t t . Es ist n u r ganz ausnahmsweise f ü r V o l k s a b s t i m m u n gen oder - w ä h l e n n o r m i e r t 1 2 4 , g i l t aber h ä u f i g b e i w i c h t i g e n , h e r a u s r a g e n d e n u n d einschneidenden E n t s c h e i d u n g e n i n P a r l a m e n t e n w i e v o r a l l e m V e r f a s s u n g s ä n d e r u n g e n 1 2 5 . D i e q u a l i f i z i e r t e M e h r h e i t b e d a r f geg e n ü b e r d e r a b s o l u t e n M e h r h e i t zusätzlicher R e c h t f e r t i g u n g 1 2 6 , die aus d e r besonderen Q u a l i t ä t d e r a r t i g e r E n t s c h e i d u n g e n f o l g t . B e i t i e f i n das n o r m a l e V e r f a s s u n g s l e b e n e i n g r e i f e n d e n Beschlüssen k a n n n i c h t ohne w e i t e r e s e r w a r t e t w e r d e n , daß eine e r h e b l i c h e M i n d e r h e i t sich e i n e r k n a p p e n M e h r h e i t u n t e r w i r f t . Infolgedessen k a n n d i e G r u n d v o r a u s setzung j e g l i c h e r M e h r h e i t s e n t s c h e i d u n g , das feste rechtliche B a n d , z u z e r r e i ß e n d r o h e n . D e s h a l b w i r d das M e h r h e i t s e r f o r d e r n i s n ä h e r a n die E i n s t i m m i g k e i t gerückt. Z u d e m verdienen i n m a r k a n t e n F ä l l e n M i n d e r h e i t e n e r h ö h t e n Schutz, d e r d a d u r c h verbessert w e r d e n k a n n , daß i m Z u g e e i n e r Z w e i - D r i t t e l - M e h r h e i t z u m i n d e s t d i e Z u s t i m m u n g eines T e i l s d e r M i n d e r h e i t n o t w e n d i g w i r d , die w e n i g s t e n s dieser G r u p p e i n s o w e i t das S e l b s t b e s t i m m u n g s r e c h t g e w ä h r l e i s t e t . Das g i l t i n ä h n l i c h e r F o r m f ü r s u b s t a n t i e l l e E i n g r i f f e i n G r u n d r e c h t e , die als G r u n d e l e m e n t d e m o k r a t i s c h e r L e g i t i m i t ä t 1 2 7 i m Verfassungskonsens f i x i e r t s i n d u n d besonderer S i c h e r u n g b e d ü r f e n 1 2 8 . D e m g e g e n ü b e r k ö n n e n u n d Quorum i m Sinne der Beschlußfähigkeit handelt. Allerdings ist angesichts häufig unklarer Begrifflichkeit noch heute der Sprung v o m Quorum zur Mehrheitsqualifizierung nicht weit. Bereits die erste geschriebene Verfassung, die US-Verfassung, n i m m t i n A r t . V die 2 / s - M e h r h e i t auf, nachdem w o h l erstmals 1780 Massachusetts eine 2 / s - M e h r h e i t f ü r eine Verfassungsänderung verlangte; s. Borgeaud, Charles, Etablissement et révision des constitutions en Amérique et en Europe, Paris 1893, S. 170 ff. V o n dort gelangt sie i n die europäischen Verfassungen. 124 N u r bei den italienischen Senatswahlen ist eine Mehrheit v o n 65°/o erforderlich. 125 Vgl. etwa A r t . 4212, 7 7 I V 2 GG bei Abstimmungsmehrheiten u n d A r t . 611 3, 79 I I G G bei Abgeordnetenmehrheiten; vgl. auch A r t . V, US-Verf.; A r t . 131V belg. Verf.; A r t . 114 V L u x . Verf.; A r t . 211 niederl. Verf.; § 1121 Norw. Verf.; A r t . 44 österr. Verf. 126 Eine völlige Ablehnung qualifizierter Mehrheiten findet sich bei Krabbe, Hugo, Die moderne Staatsidee, Den Haag 1919, S. 85; Schmitt, Carl, Legalität u n d Legitimität, München 1932 (2. A u f l . B e r l i n 1968), S. 41 ff.; ablehnend auch Mirabeau zit. bei Stawski, Joseph, Le principe de la majorité, Gedani 1920, S. 90 A n m . 58. 127 s. oben Einleitung. 128 Dagegen k a n n das Argument, Verfassungen seien prinzipiell v e r n ü n f t i ger als einfache Gesetze, u n d deshalb müßten gewichtigere Gründe f ü r eine Verfassungsänderung sprechen, vgl. Kriele, M a r t i n , Recht u n d praktische Vernunft, Göttingen 1979, S. 42, n u r sehr begrenzt herangezogen werden. Das permanente Karussell v o n Verfassungsänderungen deutet ebensowenig darauf h i n w i e etwa ein Vergleich m i t manchem einfachgesetzlichem Recht. Entscheidend ist vielmehr der Gegenstand, die Verfassung. Knappe M e h r heiten sollen nicht die Grundlage des Verfassungslebens — gewissermaßen einseitig — auf Kosten der Opposition u n d anderer Minderheiten beseitigen oder ändern können. Konsequent daher Ehmke t Horst, Grenzen der V e r fassungsänderung 1953, S. 128, w e n n er grundsätzlich die Zustimmung der politischen Opposition für eine Verfassungsänderung verlangt.

Α . Das Subjekt der Mehrheitsentscheidung

127

müssen die Rechtfertigungsgründe absoluter Mehrheitsherrschaft zurücktreten. Einerseits verliert der Gesichtspunkt, daß qualifizierte Mehrheiten eine Blockierung dringender Entscheidungen, die i m Interesse der Gesamtheit getroffen werden müssen, angesichts i n der Verfassung festgelegter bestehender Regelungen an Gewicht, andererseits darf sich i m Blick auf demokratische Legitimität ein vielfach geringes Interesse knapper Mehrheiten nicht durch einschneidende Eingriffe i n grundrechtlich geschützte Autonomiebereiche und verfahrensordnende rechtliche, übereinstimmend gewollte Normierungen durchsetzen. Eine weitere Erschwerung beinhaltet die Bestimmung, daß die jeweilige Mehrheitsart darüber hinaus eine genau festgelegte Mindestzahl erreichen muß 1 2 9 . Definitorisch sinnvoll herauszuheben ist eine doppelt qualifizierte Mehrheit 1 3 0 nur für den Fall, daß unabhängig von der zugrunde liegenden Zahlenganzheit 1 3 1 eine der genannten Mehrheitsarten ausreicht, zusätzlich jedoch eine bestimmte Mindestzahl erreicht werden muß 1 3 2 . Die jeweiligen Mehrheitsarten lassen sich teilweise m i t verschiedenen Zahlenganzheiten kombinieren. Theoretisch sind folgende Kombinationen denkbar. 1. Relative Abstimmungsmehrheit 1 3 3 2. einfache Abstimmungsmehrheit 1 3 4 129

Oft auch als Quorum bezeichnet, w e n n diese Sachlage nicht sogar m i t qualifizierter Mehrheit gleichgesetzt w i r d . 130 Achterberg (Anm. 110), S. 44 ff.; ders., Die Grundsätze der parlamentarischen Verhandlung, DVB1. 95 (1980), S. 512 ff. (518 f.). 131 So oben I V , A , 1; ausgeschlossen ist eine solche doppelte Qualifizierung für die Mitgliedermehrheiten. I n der Regel w i r d es sich u m Abstimmungsmehrheiten handeln; so auch i n A r t . 77 I V 2, 105 a 12 GG. 132 v g l . das klassische Quorum v o n 6000 Stimmen für die Verbannung beim Ostrakismos i n Athen. Beispiel: Abstimmungsberechtigte 1000, Abstimmende 600; erforderlich ist die absolute Mehrheit der Abstimmenden u n d eine Mindestzahl von 400, die die Mehrheit erreichen muß, obwohl sonst 301 ausreichen würden. Es sind demnach zwei A r t e n v o n Quorum scharf zu trennen. a) Das Quorum, das eine Mindestzahl v o n Abstimmenden oder Anwesenden für die Beschlußfähigkeit erfordert, b) das Quorum, das zusätzlich zu einem Mehrheitserfordernis eine erreichte Mindestanzahl von Stimmen verlangt. I n diesem F a l l erscheint die v o n Achterberg vorgeschlagene Terminologie einer doppelten Qualifizierung geeigneter. 133 Eine andere Kombinationsmöglichkeit der relativen Mehrheit ist ausgeschlossen, da diese an die für die verschiedenen A l t e r n a t i v e n abgegebenen Stimmen anknüpft. Beispiel A r t . 63 I V 1 GG. 134 Auch diese A r t ist, da abgegebene Ja- u n d Nein-Stimmen korreliert werden, allein i n K o m b i n a t i o n m i t der Zahlenganzheit der Abstimmenden denkbar. Einfache Abstimmungsmehrheit ist nach A r t . 42 I I G G i m Bundestag der Regelfall.

128

I V . Die S t r u k t u r der Mehrheitsentscheidung

3. absolute A b s t i m m u n g s m e h r h e i t 1 3 5 4. absolute A n w e s e n h e i t s m e h r h e i t 1 3 6 5. absolute M i t g l i e d e r m e h r h e i t 1 3 7 6. q u a l i f i z i e r t e A b s t i m m u n g s m e h r h e i t 1 3 8 7. q u a l i f i z i e r t e A n w e s e n h e i t s m e h r h e i t 1 3 9 8. q u a l i f i z i e r t e M i t g l i e d e r m e h r h e i t 1 4 0 9. d o p p e l t q u a l i f i z i e r t e A b s t i m m u n g s m e h r h e i t 1 4 1 10. d o p p e l t q u a l i f i z i e r t e A n w e s e n h e i t s m e h r h e i t 1 4 2 . E i n e r e i n p o l i t i s c h e B e w e r t u n g s t e l l t dagegen d e r B e g r i f f d e r negat i v e n M e h r h e i t d a r 1 4 3 , b e i d e m die r a d i k a l e n P a r t e i e n a m R a n d e des Parteienspektrums

i n der A b l e h n u n g

der gemäßigten Parteien

und

i h r e r P o l i t i k e i n i g sind, j e d e E n t s c h e i d u n g k r a f t i h r e r M e h r h e i t b l o c k i e ren können, jedoch infolge i h r e r Gegensätzlichkeit nicht i n der Lage sind, eine K o a l i t i o n s r e g i e r u n g

z u b i l d e n u n d gemeinsame

Entschei-

d u n g e n z u t r e f f e n . B i s h e r ist dieser Z u s t a n d eine E i g e n t ü m l i c h k e i t n u r der Weimarer Republik geblieben144.

135 Diese Mehrheit w i r d dann bedeutsam, w e n n Stimmenthaltungen nicht f i k t i v so angesehen werden, als ob keine Stimmabgabe stattgefunden hätte, und/oder mehr als zwei A l t e r n a t i v e n zur A u s w a h l stehen. Beispiel: 100 A b stimmende; davon 10 Enthaltungen. Dann beträgt die absolute Mehrheit 51, nicht 46. Diese Regelung dürfte w o h l für die französischen Präsidentschaftswahlen gelten; s. A r t . 7 I frz. Verf. 58. ΐ3β Vgl. § io m BWahlPrüfG, da es sich n u r u m zwei A l t e r n a t i v e n handelt u n d Stimmenthaltungen als Ablehnung gelten, vorausgesetzt allerdings, daß wirkliche Enthaltung v o n der Stimmabgabe als Stimmenthaltung gezählt wird. 137

A r t . 29 V I I , 63 I I 1, 63 I V 2, 67 1 1, 68 1 1, 77 I V 1, 87 I I I 2 GG. A r t . 42 12, 80 a 12 GG. 139 § 126 GeschO B T , s. auch A r t . 7612 W R V dort kombiniert m i t einem Beschlußfähigkeitsquorum iSv A n m . 132, Pkt. a). 140 A r t . 611 3, 79 I I GG. 141 A r t . 77 I V 2 , 115 a l 2 GG; die zweite Qualifizierung k a n n grundsätzlich durch feste Zahlen (z. B. 6000 i n Athen) oder absolute Anwesenheits- (selten) u n d Mitgliedermehrheit bestimmt werden; falsch ist das Beispiel Achterbergs (Anm. 110), S. 49; so zu Recht auch Stern, Klaus, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. I I , München 1980, S. 51 A n m . 51 a. 142 Denkbares Beispiel: 2 /3-Mehrheit der Anwesenden ist erforderlich, die mindestens die absolute Mehrheit der Mitglieder umfassen muß. Soweit dem Verfasser bekannt, ist diese Möglichkeit bisher Theorie geblieben. 143 Der Begriff findet sich bei Schmitt, Carl, Verfassungslehre, München 1928 (Nachdruck B e r l i n 1954), S. 344 f. 144 s. dazu Lamp, Stefan, Das Problem der negativen Parlamentsmehrheit, Diss. Mainz 1950, S. 76 ff. 138

Α . Das Subjekt der Mehrheitsentscheidung

129

N i c h t m i t d e n M e h r h e i t s b e g r i f f e n l ä ß t sich d e r F a l l d e r

Stimmen-

g l e i c h h e i t lösen. V o n d e n d r e i d e n k b a r e n V e r f a h r e n s w e i s e n 1 4 5 , d e r E n t scheidung d u r c h Los o d e r d u r c h d e n V o r s i t z e n d e n 1 4 6 u n d d r i t t e n s d e r B e s t i m m u n g , daß b e i S t i m m e n g l e i c h h e i t d e r A n t r a g als a b g e l e h n t , d e r Beschluß als n i c h t z u s t a n d e g e k o m m e n g i l t 1 4 7 , w i r d i n

demokratischen

V e r f a h r e n n a h e z u ausschließlich v o n d e r l e t z t e n M ö g l i c h k e i t G e b r a u c h g e m a c h t 1 4 8 . E i n Stichentscheid e r ö f f n e t n u r d a n n e i n e n A u s w e g , w e n n f ü r m e h r als z w e i A l t e r n a t i v e n S t i m m e n abgegeben w o r d e n sind. B e i W a h l e n v e r s a g t d i e F i k t i o n d e r A b l e h n u n g 1 4 9 . D e s h a l b f i n d e t sich f ü r diesen F a l l auch d e r Losentscheid i n D e m o k r a t i e n 1 5 0 , a n d e r n f a l l s m ü s sen b e i d e K a n d i d a t e n als g e w ä h l t b e t r a c h t e t oder die W a h l w i e d e r h o l t w e r d e n . A l l e r d i n g s s i n k t die W a h r s c h e i n l i c h k e i t d e r S t i m m e n g l e i c h h e i t m i t d e r A n z a h l d e r A b s t i m m e n d e n . B e i Sachentscheiden i s t die Regel u n g d e r B e h a r r u n g a u f d e m status quo g e r e c h t f e r t i g t . E i n e E n t s c h e i dung bedarf zu ihrer Verbindlichkeit

der mehrheitlichen

Unterstüt-

zung, b e d a r f e i n e r R e c h t f e r t i g u n g gegenüber d e r G e s a m t h e i t , die eine P a r i - S i t u a t i o n n i c h t geben k a n n .

145 Dazu s. Schneider (Anm. 2), S. 63 ff.; Eschenburg (Anm. 20), S. 29; Schmitt, Horst, Das legislative V o t u m (Anm. 105), S. 79. 146 A u f g r u n d seiner Erfahrung, seines Gewichtes oder w e i l der Gruppe, die den Vorsitzenden letztendlich stellt, die endgültige Entscheidung zustehen soll (vgl. § 29 I I MitbestG 76). Z u Anfang dieses Jahrhunderts w a r diese Verfahrensweise auch i n Parlaménten w e i t verbreitet. I n Großbritannien, dazu s. Redlich, Josef, Recht u n d Technik des englischen Parlamentarismus, Leipzig 1905, S. 508 f.; i n den USA, Kanada, Schweiz, Norwegen u n d Ungarn entschied bei Stimmengleichheit der Parlamentspräsident, u n d das gleiche galt i n preußischen Gemeindevertretungen. Tecklenburg, Adolf, Die S t i m m gleichheit bei der Beschlußfassung parlamentarischer u n d kommunaler Körperschaften, PreußVerwBl. 46 (1921/22), S. 7 f. (7). Typologisch sind zwei Möglichkeiten zu unterscheiden: entweder zählt i m F a l l der Stimmengleichheit die Stimme des Vorsitzenden doppelt, oder bei Stimmengleichheit entscheidet der Vorsitzende, der an der eigentlichen A b s t i m m u n g nicht teilnehmen darf, vgl. Schneider (Anm. 2), S. 63 ff. 147 Heute nicht mehr, aber zu A n f a n g dieses Jahrhunderts galt i m italienischen Parlament noch der Grundsatz, daß Stimmengleichheit zugunsten der Entscheidung ausschlug, s. Tecklenburg (Anm. 146), S. 7. 148 s. § 48 I I 2 GeschOBT; A r t . 116 I I I niederl. Verf. vgl. auch etwa § 15 I I 4 BVerfGG. Diese Auffassung ist die traditionelle, s. Äschylos, Eumeniden 752/3; Euripides, Elektra 1268/69; Aristoteles, Problemata 29, 13; Dig. 42, 1, 38; Grotius, Hugo, De j u r e b e l l i ac pacis l i b r i très, Paris 1625 (dt. Übersetzimg, Tübingen 1950), I I , V, 18; Pufendorf, Samuel von, De Jure Naturae et Gentium, L i b r i Octo, Ed. Gottfridus Mascovius, F r a n k f u r t 1759 (Nachdruck F r a n k f u r t 1967), V I I , 2 § 17; der Satz „semper praesumitur pro negante" galt i m 19. Jahrhundert auch i m House of Lords, Lewis, George Cornewall Sir, A n Essay on the Influence of A u t h o r i t y i n Matters of Opinion, London 1849, S. 208. 149 s. Schneider (Anm. 2), S. 63 ff. 150 s. etwa A r t . 117 I I niederl. Verf.; § 5 Satz 3 BWahlG.

9 Heun

130

I V . Die S t r u k t u r der Mehrheitsentscheidung

B. Das Objekt der Mehrheitsentscheidung 1. Die Begrenzung der Mehrheitsentscheidung auf eine Frage und wenige Alternativen

A r t und Quantität der Gegenstände, die nach dem Mehrheitsprinzip verabschiedet werden können, sind durch eine eher formale Eigenschaft jeder Mehrheitsentscheidung geprägt, deren Wirkungen den Spielraum möglicher Anwendungen außerordentlich einengen. Die Feststellung der Mehrheit bedarf eines Bezugspunktes, für den die Mehrheit gebildet und ermittelt werden kann. Nur jeweils eine Frage kann einem Parlament oder einem Volk vorgelegt werden, die einem Mehrheitsbeschluß zugeführt werden soll. I n eine bündige Formel gefaßt: Es gibt ebensoviele Mehrheitsentscheidungen wie Fragen gestellt werden. Diese Aussage muß aber noch einer weiteren Einschränkung unterworfen werden. Die Anzahl der möglichen Antworten auf die jeweilige eine Frage, die Anzahl der Alternativen, zwischen denen die Entscheidungsträger wählen können, kann nicht beliebig erhöht werden, sondern muß i m Gegenteil extrem gering gehalten werden. Stehen mehr als zwei Alternativen zur Entscheidung an, ergeben sich diffizile Probleme, deren theoretische Bewältigung seit langem versucht w i r d 1 . I n theoretischen, meist mathematisch formulierten Modellen, die von rein rationalen Entscheidungssubjekten ausgehen, die sich m i t jeweils gleicher Wahrscheinlichkeit 2 zwischen als gleichwertig postulierten neu1 Seit Ende des 18. Jh. diese Probleme erstmals mathematisch formuliert u n d erkannt worden waren, hat sich i m 19. Jh. vereinzelt u n d voneinander unabhängig, aber seit Beginn der 50er Jahre des 20. Jh. eine zunehmend steigende F l u t v o n L i t e r a t u r diesen Fragen gewidmet. Historischer Überblick bei Black, Duncan, The Theory of Committees and Elections, Cambridge 1958, S. 156 ff.; sowie Arrow , Kenneth, Social Choice and I n d i v i d u a l Values (erstmals 1951) 2. A u f l . New Y o r k 1963, S. 93 ff.; eine Übersicht über neuere L i t e r a t u r v e r m i t t e l t Riker, W i l l i a m H., V o t i n g and the Summation of Preferences, A n Interpretive Bibliographical Review of Selected Developments during the Last Decade, APSR 55 (1961), S. 900 ff. u n d jetzt Kern, Lucian, Sind demokratische Entscheidungsregeln verfälschungsfrei? Eine Politische Interpretation einiger Ergebnisse der Theorie k o l l e k t i v e r Entscheidungen, PVS 20 (1979), S. 330 ff. Vgl. auch die Feststellung bei Trendelenburg, Adolf, Über die Methode bei Abstimmungen, Kleine Schriften, 2. Teil, Leipzig 1871, S. 24 ff. (S. 26, 38), daß die A b s t i m m u n g desto schwieriger sei, j e mehr die Z a h l der A l t e r n a t i v e n anwachse. 2 Derartigen mathematischen Modellen haftet vielfach eine gewisse Realitätsferne an, da sie infolge ihrer idealen Voraussetzungen n u r einen beschränkten Ausschnitt der vielfältigen sozialen W i r k l i c h k e i t erfassen. So gibt es auf jeweils eine Frage keine jeweils unbegrenzte A n z a h l v o n denkbaren A n t w o r t e n u n d deren präferenztheoretischen Kombinationen, u n d jedenfalls sind nicht alle A l t e r n a t i v e n gleichwertig u n d neutral. Auch deshalb ist die Annahme gleicher Wahrscheinlichkeit der Entscheidung für alle A l t e r n a t i v e n sehr f i k t i v (s. speziell dazu Sen, Κ . A m a r t y a , Collective Choice and Social Welfare, Edinburgh 1970, S. 164 f.). Schließlich w ü r d e n gerade v o n rationalen Personen das Mehrheitserfordernis u n d die Abschätzung möglicher

Β . Das Objekt der Mehrheitsentscheidung t r a l e n A l t e r n a t i v e n z u entscheiden h a b e n , o h n e auf das

131 Mehrheits-

e r f o r d e r n i s u n d mögliches A b s t i m m u n g s v e r h a l t e n a n d e r e r z u achten, v e r r i n g e r t sich d i e Chance, daß sich i n n e r h a l b e i n e r A b s t i m m u n g eine M e h r h e i t b i l d e t , b e r e i t s b e i d r e i A l t e r n a t i v e n . D i e i n solchen M o d e l l e n e x a k t berechenbare W a h r s c h e i n l i c h k e i t 3 , daß sich f ü r eine A l t e r n a t i v e eine M e h r h e i t z u s a m m e n f i n d e t , h ä n g t g e r i n g f ü g i g v o n d e r Z a h l d e r b e t e i l i g t e n Personen a b 4 , r e a g i e r t

aber äußerst e m p f i n d l i c h

auf

die

Z a h l d e r w ä h l b a r e n A l t e r n a t i v e n , d e r e n S t e i g e r u n g die W a h r s c h e i n l i c h k e i t e i n e r M e h r h e i t s b i l d u n g r a p i d e a b n e h m e n u n d gegen N u l l s i n k e n l ä ß t 5 , o b w o h l es h i e r n u r a u f r e l a t i v e M e h r h e i t e n , n i c h t e t w a absolute Mehrheit ankommt. Z u d e m können mehrere A l t e r n a t i v e n i m Bereich der Mehrheitsentscheidung z u i m S i n n e d e r entscheidenden Personen w e n i g f o l g e r i c h t i gen Ergebnissen führen. Bereits bei A b s t i m m u n g e n ü b e r drei A l t e r n a t i v e n d u r c h d r e i B e t e i l i g t e k a n n n i c h t v e r h i n d e r t w e r d e n , daß e v e n t u e l l das schon 1788 v o n C o n d o r c e t e n t d e c k t e 6 „ A b s t i m m u n g s p a r a d o x "

ein-

t r i t t . D a n a c h ist es stets m ö g l i c h , daß b e l i e b i g e , t r a n s i t i v e 7 P r ä f e r e n z Abstimmungsergebnisse i n die K a l k u l a t i o n einbezogen werden, abgesehen davon, daß Abstimmungsentscheidungen nicht bloß rational m o t i v i e r t sind. Die Ausklammerung solcher realer Gesichtspunkte durch ein derartiges M o dell k a n n aber das Problem i n aller Schärfe verdeutlichen u n d m i t H i l f e einer Isolierung einzelner Faktoren die besonderen Abhängigkeiten offenlegen. 8 Die verschiedenen Berechnungen sind zu finden bei Garman, M a r k B. / Kamien, M o r t o n I., The Paradox of Voting: Probability Calculations, Behavioral Science 13 (1968), S. 306 ff. u n d Niemi, Richard G. / Weinberg , H e r bert F., A Mathematical Solution for the Probability of the Paradox of Voting, Behavioral Science 13 (1968), S. 317 ff. 4 Der Wahrscheinlichkeitswert wandert bei drei A l t e r n a t i v e n i n Abhängigkeit v o n der Personenzahl gegen 0,0877 für den W e r t unendlich bezüglich der Personenzahl, s. die Tabelle bei Niemi / Weinberg (Anm. 3), S. 322; vgl. auch Sen (Anm. 2), S. 164. 5 Die Wahrscheinlichkeit, daß keine Mehrheit erzielt w i r d , geht umgekehrt gegen 1., s. die Tabelle bei Niemi / Weinberg (Anm. 3), S. 322; vgl. auch Sen (Anm. 2), S. 164. β Condorcet, Marquis de, Essai sur l ' A p p l i c a t i o n de l'Analyse à la probab i l i t é des Décisions Rendues à l a Pluralité, Paris 1785, S. L X I (im Faksimile i n den entscheidenden Passagen abgedruckt (S. 47 - 70) i m A n h a n g bei Podlech, Adalbert (Hrsg.), Rechnen u n d Entscheiden, B e r l i n 1977, S. 267 ff.) vgl. auch ders., Essai sur la Constitution et les Fonctions des Assemblées Procinciales (1788), i n Oeuvres Paris 1847 - 1849 (Nachdruck Stuttgart 1968), Bd. V I I I , S. 115 ff. (S. 194 f.); dazu s. Granger, Gilles-Gaston, L a Mathématique Social d u Marquis de Condorcet, Paris 1956, S. 94 ff. speziell z u m Wahlenparadox, das auch Condorcet-Effekt genannt w i r d , S. 120 ff.; sowie jetzt Popp, Walter, Soziale Mathematik der Mehrheitsentscheidung, i n Rechnen u n d Entscheiden, S. 25 ff., speziell zum Condorcet-Effekt S. 44 ff.; vgl. auch Black (Anm. 1), S. 159 ff. 7 Dieses Rationalitätskriterium wird folgendermaßen ausgedrückt: Λ x,y,z G S : (xRy λ y Rz) xRz, wobei xRy eine Präferenzrelation bedeutet: χ ist wenigstens so gut w i e y bzw. χ ist größer, besser als y, s. Sen (Anm. 2), S. 7 f. Bei der Forderung strikter Präferenz lautet Transitivität w i e

132

I V . Die S t r u k t u r der Mehrheitsentscheidung

Ordnungen d e r e i n z e l n e n I n d i v i d u e n i n eine i n t r a n s i t i v e , logisch n i c h t k o n s i s t e n t e soziale P r ä f e r e n z o r d n u n g dem Mehrheitsprinzip

überführt

werden, w e n n

abgestimmt w i r d 8 . A r r o w hat darüber

sogar d e n B e w e i s e r b r a c h t , daß ü b e r h a u p t

k e i n einziges

nach hinaus

Verfahren

e x i s t i e r t , das d i e A b l e i t u n g e i n e r k o n s i s t e n t e n sozialen P r ä f e r e n z o r d n u n g aus i n d i v i d u e l l e n , t r a n s i t i v e n P r ä f e r e n z o r d n u n g e n i n j e d e m d e n k b a r e n F a l l g a r a n t i e r t , w e n n d i e soziale P r ä f e r e n z o r d n u n g w e d e r

ok-

t r o y i e r t n o c h d i k t i e r t s e i n u n d g l e i c h z e i t i g das V e r f a h r e n n o c h e i n i g e n a n d e r e n s e l b s t v e r s t ä n d l i c h e n A n f o r d e r u n g e n g e n ü g e n s o l l 9 . E i n absolufolgt: Α χ, y, ZG S: (xPy a yPz) χ Ρ ζ, dazu Sen, S. 9; hinreichend rational sind auch die schwächeren Bedingungen der Quasitransitivität: Λ χ, y, ζ E Χ : xPy a yPz-^xPz, wobei Indifferenz (I) nicht transitiv sein muß, dazu Sen, S. 49, 15, 10 f.; u n d der A c y c l i c i t y Λ x t ... Xj aR c Pers.2: bRcAcRa-^bRa Pers.3: cRaxaRb-^cRb Daraus folgt, daß jeweils die Mehrheit aRb u n d bRc. Transitivität (od. Quasitransitivität od. Acyclicity) unterstellt, müßte dann auch gelten, daß die Mehrheit a R c . Tatsächlich zieht i m konkreten F a l l aber die Mehrheit vor: cRa, die Mehrheitsentscheidung ist also intransitiv, s. Arrow (Anm. 1), S. 3; Sen (Anm. 2), S. 38, 161; Borda hatte wenige Jahre v o r Condorcet n u r bemerkt, daß bei mehreren W ä h l e r n u n d drei A l t e r n a t i v e n der Kandidat, der die relative Mehrheit erlangt hat, dennoch v o n der absoluten Mehrheit der Abstimmenden möglicherweise abgelehnt w i r d , s. Granger (Anm. 6), S. 118 f.; Black (Anm. 1), S. 156 ff. 9 Arrow (Anm. 1), S. 24 ff.; s. dazu v o r allem Podlech, Adalbert, Gehalt u n d Funktionen des allgemeinen verfassungsrechtlichen Gleichheitssatzes, B e r l i n 1971, S. 204 ff., 274 ff.; Popp, W a l t e r / Schlink, Bernhard, Präferenztheoretische Bedingungen einer sozialen Wertordnung, i n Rechnen u n d E n t scheiden (Anm. 6), S. 61 ff. (63 ff.); Luce, Robert Duncan / Raiffa, Howard, Games and Decisions, Introduction and Critical Survey, New Y o r k 1958 (Nachdruck New Y o r k 1967), S.333 ff.; kurze Hinweise auch bei Podlech, Adalbert, Wertentscheidung u n d Konsens, i n Rechtsgeltung u n d Konsens, Jakobs, Günther (Hrsg.), B e r l i n 1976 S. 9 ff. (13 ff.); Schmidt, Walter, Organisierte E i n w i r k u n g e n auf die Verwaltung, Z u r Lage der zweiten Gewalt, V V D S t R L 33 (1974), S. 183 ff. (196 f.); Sen (Anm. 2), S. 37 ff. Außer der Transitivität (dazu A n m . 7) gelten noch die folgenden beiden Rationalitätskriterien: a) Asymmetrie: Niemals, w e n n a b vorgezogen w i r d , w i r d auch b a vorgezogen Ax,y e S:xRy-> (yRx) b) K o n n e k t i v i t ä t : Bei jedem Alternativenpaar zieht das I n d i v i d u u m entweder xy oder yx vor oder ist gegenüber χ u n d y indifferent. Λ χ, y GS: (χ Φ y) (xRy v yRxvxIy) s. Arrow, S. 13 f., Popp / Schlink, S. 64; Podlech, Wertentscheidung, S. 13 f.; ders., Gleichheitssatz, S. 274. E i n annehmbares demokratisches Verfahren für die A b l e i t u n g einer k o n sistenten sozialen Präferenzordnung müßte folgenden Bedingungen genügen, die jedoch bei mehr als zwei A l t e r n a t i v e n nachweisbar nicht alle gleichzeitig erfüllt werden können.

. Das

b j e k t der Mehrheitsentscheidung

133

ter Ausschluß dieses Paradoxons 10 für Mehrheitsentscheidungen bedarf einer vorherigen Strukturierung des Feldes der möglichen Alternativen, die auf verschiedene Weise vorgenommen werden kann 1 1 . A l l e der1. Prinzip der Vollständigkeit: Das Verfahren muß alle logisch möglichen Kombinationen v o n A l t e r n a t i v e n i n einer individuellen Präferenzordnung einschließen. 2. Prinzip der positiven Verbindung individueller u n d sozialer Präferenzen (Pareto Prinzip): W e n n bei einer Änderung der Präferenzordnung eine A l t e r n a t i v e i n allen individuellen Präferenzordnungen entweder günstiger oder ebenso günstig w i e v o r der Ä n d e r u n g eingeordnet w i r d , dann soll diese A l t e r n a t i v e i n der sozialen Präferenzordnung entweder günstiger oder ebenso günstig w i e v o r der Änderung eingeordnet werden. F ü r jedes Paar χ, y: (Ai: xPiy) xPy. 3. Prinzip der Unabhängigkeit irrelevanter Alternativen: W e n n sich die individuellen Präferenzordnungen ändern, aber hinsichtlich einer bestimmten Anzahl (Teilmenge) v o n A l t e r n a t i v e n die Präferenzordnung bei allen I n d i v i d u e n nicht geändert w i r d , dann muß auch die geänderte soziale Präferenzordnung hinsichtlich der sich nicht ändernden A n z a h l (Teilmenge) v o n A l t e r n a t i v e n dieselbe Präferenzordnung w i e v o r der Änderung auf weisen. W e n n R u n d Rf zwei bestimmte individuelle Präferenzordnungen sind u n d C (S) u n d C' (S) die korrespondierenden sozial e n Präferenzordnungen, dann g i l t : A x, y e S: ( Λ txRiy ο xR'iy) (C(S) = C (S)) 4. Prinzip der Souveränität der Bürger: Die soziale Präferenzordnung darf nicht oktroyiert sein i n dem Sinne, daß sie unabhängig v o n allen i n d i v i duellen Präferenzordnungen bestimmte Präferenzen nie enthalten kann. Es muß ausgeschlossen sein, daß f ü r ein Alternativenpaar x, y gilt: xRy für jede beliebige individuelle Präferenzordnung Rn.. .R\n, wobei R die soziale Präferenzordnung ist, die den individuellen Präferenzordnungen Ru... Rin korrespondiert. A Ri e (Ru Rin): xRy xRiy. 5. Die soziale Präferenzordnung darf nicht ohne Rücksicht auf alle übrigen Präferenzordnungen die Präferenzordnung eines einzelnen Individuums wiedergegeben. Es gibt k e i n I n d i v i d u u m i n der Weise, daß Λ x, y G S : xPiy xPy ohne Rücksicht auf die Präferenzordnungen Ri. . .Rn aller I n d i v i d u e n außer i ; s. Arrow, S. 23 ff.; Popp / Schlink, S. 64 f.; Podlech, Gleichheitssatz, S. 275 f.; Luce / Raiffa, S. 334 ff.; Sen, S. 41 f. 10 Die Wahrscheinlichkeit des E i n t r i t t s des Paradoxons ist mathematisch allerdings ziemlich gering, s. Fishburn, Peter C., Paradoxes of Voting, APSR 68 (1974), S. 537 ff. 11

Das bedeutet, daß die erste Bedingung Arrows, das Prinzip der V o l l ständigkeit, eingeschränkt w i r d . Das Paradoxon ist bei folgenden A r t e n der Strukturierung der A l t e r n a t i v e n ausgeschlossen: a) Bei dem Grundskalenmodell werden die A l t e r n a t i v e n auf einem einPi dimensionalen K o n t i n u u m angeordnet π j \ i j— x y z u Jedes I n d i v i d u u m hat ein Ideal auf diesem K o n t i n u u m u n d ordnet die A l t e r n a t i v e n entsprechend der Entfernung dieses Ideals v o n der jeweils nächsten A l t e r n a t i v e zur danach nächsten fortschreitend. Die Präferenz Pi lautet daher z, y, x, u; w e n n die A l t e r n a t i v e n auf diesem K o n t i n u u m i n der obigen Reihenfolge aufgereiht werden, ist die Mehrheitsentscheidung i m m e r konsistent, w e n n die Entfernung zwischen χ u n d y geringer ist als die zwischen ζ u n d u. Dieses Modell erlaubt bei 4 A l t e r n a t i v e n 7 verschie-

134

I V . Die S t r u k t u r der Mehrheitsentscheidung

a r t i g e n M o d e l l e b e d e u t e n j e d o c h eine e r h e b l i c h e E i n s c h r ä n k u n g

der

Z a h l der erlaubten i n d i v i d u e l l e n Präferenzordnungen. D a die d e n k b a r e n A l t e r n a t i v e n d e r sich e r g e b e n d e n F r a g e n

nicht

ohne w e i t e r e s u n d v o n v o r n h e r e i n n a c h e i n e m dieser M o d e l l e s t r u k t u r i e r t sind, b e d a r f es j e w e i l s v o r h e r i g e r o r d n e n d e r T ä t i g k e i t , d i e das F e l d der v o r h a n d e n e n M ö g l i c h k e i t e n s o r t i e r t u n d d e n

Mehrheitsent-

scheid v o r b e r e i t e t . A b g e s e h e n v o n d e r Frage, ob d e r a r t i g e

Restriktio-

n e n w ü n s c h e n s w e r t s i n d 1 2 , müssen diese M e t h o d e n u m so m e h r sagen, j e k o m p l e x e r die E n t s c h e i d u n g e n s i n d

13

ver-

. Die Notwendigkeit einer

dene Präferenzordnungen, s. dazu Popp / Schlink (Anm. 9), S. 70 f.; Luce / Raiffa (Anm. 9), S. 354 f. b) Das Modell der Eingipfligkeit (single-peakedness) dazu s. Black (Anm. 1), S. 14 ff. insbes. 19 ff., Arrow (Anm. 1), S. 75 ff.; Sen (Anm. 2), S. 166 ff.; Popp / Schlink, S. 71; Luce / Raiffa, S. 355 f. Es beruht ebenfalls auf einer A n o r d n u n g der A l t e r n a t i v e n auf einem eindimensionalen K o n t i n u u m . Jede zulässige individuelle Präferenzordnung k a n n über dieser Grundordnung i n einer K u r v e dargestellt werden, deren Gipfel sich über der v o r allen anderen A l t e r n a t i v e n bevorzugten A l t e r n a t i v e befindet u n d über den übrigen A l t e r n a t i v e n n u r monoton abfällt. Bei vier A l t e r n a t i v e n sind danach acht verschiedene Präferenzordnungen möglich. Z u den 7 Ordnungen des Grundskalenmodells k o m m t noch die Ordnung y , z, u, χ hinzu. Beide Modelle setzen i m übrigen eine ungerade Zahl v o n A b s t i m menden voraus. c) Das Modell der maximalen Toleranz, das v o n Popp / Schlink, S. 72 ff. entwickelt w i r d . Ausgehend v o n dem Postulat, daß möglichst viele i n d i viduelle Präferenzordnungen zuzulassen sind, w i r d auf i n d u k t i v e m Weg die Menge der m i t den meisten miteinander verträglichen Präferenzordnungen gewonnen. A u f diese Weise sind bei 4 A l t e r n a t i v e n 9 verschiedene Präferenzordnungen möglich. Bei einer größeren A n z a h l v o n A l t e r nativen zeigt dieses Modell allerdings den Nachteil, daß jeweils eine A l t e r n a t i v e nie an erster Stelle i n einer Präferenzordnung steht u n d einige A l t e r n a t i v e n bevorzugter i n den individuellen Präferenzordnungen eingeordnet werden, vgl. dazu auch Popp, Walter / Schlink, Bernhard, Rechts- u n d staatstheoretische I m p l i k a t i o n e n einer sozialen Präferenztheorie, i n Rechnen u n d Entscheiden (Anm. 6), S. 87 ff. (97 ff.). Die allen drei Modellen zugrunde liegende A n o r d n u n g der A l t e r n a t i v e n auf einem eindimensionalen K o n t i n u u m k a n n interpretiert werden durch ein Parteienspektrum, das sich i n ein rechts-links-Schema einfügt. Einen etwas anderen Weg schlägt Sen, S. 168 ff. ein, der durch eine A n z a h l v o n Bedingungen das Feld der A l t e r n a t i v e n s t r u k t u r i e r t ; s. auch das beachtenswerte Argument v o n Homann, K a r l , Die Interdependenz v o n Zielen u n d M i t t e l n , Tübingen 1980, S. 164 auf Konsistenz zu verzichten, w e n n die Konsistenzerreichungskosten die Inkonsistenzfolgekosten übersteigen. 12 Insofern als sie jeweils eine starke Verengung der Möglichkeiten enthalten, die bei der Eingipfligkeit i n der starren i n d i v i d u e l l möglichen A n o r d nung liegen u n d beim Modell der maximalen Toleranz i n der tendenziellen Gewichtung der wählbaren Alternativen. Das Modell der Eingipfligkeit erfaßt ζ. B. nicht das Phänomen der sich berührenden Extreme. 13 Je komplexer die Alternativen, u m so weniger eindeutig sind die A l t e r nativen u n d Präferenzordnungen i n ein solches Modell zu pressen. Eine A u f gliederung komplexer Entscheidungen, die einer V i e l f a l t v o n Richtungen u n d zahlreichen gegenläufigen Faktoren Rechnung tragen, i n viele entscheidbare, sich i n die Modelle einfügende A l t e r n a t i v e n dürfte k a u m möglich u n d sinnvoll sein.

. Das

b j e k t der Mehrheitsentscheidung

135

Reduzierung der Alternativen w i r d offensichtlich. Jedenfalls genügt das Mehrheitsprinzip allen nach demokratischer Auffassung erforderlichen Bedingungen 14 nur i n dem Fall, daß zwei Alternativen dem Entscheidungsträger unterbreitet werden 1 5 . Die beschriebenen Schwierigkeiten werden deutlich i n der einzigen Form, die größeren Beschlußkörpern offensteht, u m eine m i t einfacher oder absoluter Mehrheit zu beschließende Entscheidung über eine A n zahl von Alternativen zu treffen: der mehrfachen Abstimmung 1 6 . Aus praktischen Gründen vorgenommene Verfahrensvereinfachungen steigern die Unzuträglichkeiten sogar noch. Das Abstimmungsparadox t r i t t offen zu Tage i n dem vergleichsweise differenziertesten Verfahren der Entscheidung über mehrere A l t e r nativen, der sog. Eventualabstimmung 1 7 , bei der die individuelle Präferenzordnung, i n die die Abstimmenden die Alternativen gebracht haben 1 8 , i n eine kollektive Präferenzordnung umgesetzt werden soll. I m Idealfall müßte entsprechend der jeweiligen persönlichen Präferenzordnung 1 0 über jeden Vorschlag i m Verhältnis zu jedem anderen abgestimmt werden 2 0 . I n diesem Fall, wenn die Zahl der Abstimmungen der 14

Hier n u r der Verweis auf die Bedingungen v o n Sen a) Unrestricted domain, Sen (Anm. 2), S. 37, 41 ( = Arrow (Anm. 1), S. 23 ff.), b) weak Pareto principle, Sen, S. 37, 21 ff., 41 (Arrow, S. 25 f.), c) Independence of irrelevant alternatives, Sen, S. 37 f., 41 (Arrow, S. 26 ff.), d) non-dictatorship, Sen, S. 38, 42; (Arrow, S. 30 f.), e) anonymity, Sen, S. 68, 72, f) neutrality, Sen, S. 68, 72, g) positive responsiveness, Sen, S. 68, 72, zu Punkten e, f, g, s. auch Lucei Raiffa (Anm. 9), S. 357. 15 s. Arrow (Anm. 1), S. 46 ff. 16 Einen guten Uberblick über die verschiedenen Abstimmungsverfahren bietet Kemmler, Klaus, Die Abstimmungsmethode des Deutschen Bundestages, Diss. Tübingen 1969, dort auch historische Nachweise. I n Griechenland (ebd. S. 32 ff.) u n d Rom (S. 40 ff.) gab es für den F a l l mehrerer A l t e r n a t i v e n keine geregelten Verfahren. 17 Z u m Begriff s. Kemmler (Anm. 16), S. 85 ff.; Schneider, K a r l Georg, Die A b s t i m m u n g unter besonderer Berücksichtigung der verschiedenen M e h r heitsbegriffe, Diss. Heidelberg 1951, S. 18 f.; Tecklenburg, Adolf, Die parlamentarische Beschlußfassung, JöR 8 (1914), S. 75 ff. (S. 80); zur E n t w i c k l u n g dieser Abstimmungsform i n England, Kemmler, S. 52 ff.; i n USA, ebd. S. 56 ff.; i n der Schweiz ebd. S. 67 ff. 18

I n folgender F o r m A > B > C > D usw. Jeder Abstimmende muß jede A l t e r n a t i v e i m Verhältnis zu jeder anderen A l t e r n a t i v e bewerten, Black (Anm. 1), S. 52: " t h a t he values each m o t i o n i n relation to every other"; u n d nachfolgend Kemmler (Anm. 16), S. 202. 20 Soweit i n Parlamenten — i n England u n d U S A — i m Wege der Eventualabstimmung vorgegangen w i r d , w i r d die strenge F o r m jedoch nicht eingehalten. Black (Anm. 1), S. 52; Kemmler (Anm. 16), S. 202. Zusätzlich müßte i m Grunde noch zum Abschluß darüber abgestimmt werden, ob die k o l l e k t i v bevorzugte Präferenz durchgeführt w i r d , denn die Präferenz sagt noch nichts über ihre isolierte Wünschbarkeit aus. 19

136

I V . Die S t r u k t u r der Mehrheitsentscheidung

Zahl der vorliegenden Alternativen entspricht 21 , w i r d das Paradoxon aufgedeckt, ohne beseitigt werden zu können 2 2 . Einen wesentlichen Nachteil der differenzierten, die jeweilige Präferenzordnung zum Ausdruck bringenden Eventualabstimmungen bewirkt die Tatsache, daß der Abstimmende die Vorschläge nicht unmittelbar ablehnen oder annehmen, sondern ausschließlich die bevorzugte Reihenfolge der Alternativen bestimmen kann 2 3 . Gegen das i n der Parlamentspraxis übliche vereinfachte Verfahren der Eventualabstimmung, nach dem jeweils die bei einer Einzelabstimmung unterlegene Alternative wegfällt, sind weitere Einwände zu erheben. Das Entscheidungsergebnis ist dort i n erheblichem Maß von der Reihenfolge der Abstimmung abhängig 24 . Diese Tatsache w i r d außerdem dadurch verschärft, daß die Abstimmenden verleitet werden, aus taktischen Gründen gegen ihre Überzeugung zu stimmen, u m die voraussichtlich ihrer eigenen Präferenz gegenüber erfolgreichen Alternativen vorzeitig zu Fall zu bringen 2 5 . Die Abhängigkeit des Ausgangs der Mehrheitsentscheidung von der Reihenfolge der Vorschläge und die Manipulationsmöglichkeiten der Abstimmenden sind generell und zwingend m i t jeder Mehrheitsentscheidung verbunden, die mehrere Alternativen betrifft und i m Wege mehrfacher Abstimmung ergeht 26 . I m übrigen bringen alle anderen Verfahren m i t mehreren Abstimmungsvorgängen keine Präferenzordnung zum Ausdruck und umgehen infolgedessen das Abstimmungsparadox, verfallen aber, abgesehen von ihrer weitaus geringeren Differenziertheit, anderen gravierenden Fehlern. I n der kontinentalen Methode der Reihenfolgeabstimmung 27 w i r d über die Alternativen i n einer meist i m voraus genau festgelegten 21 s. Kemmler (Anm. 16), S. 204; i n den Parlamenten k a n n das Paradox zu irrationalen Entscheidungen führen, da die Alternativen, die i n einer A b s t i m m u n g unterliegen, aus dem Verfahren ganz ausscheiden, so daß infolge eines nicht entdeckten Falls des Paradoxons eine minoritäre Präferenz Wirksamkeit erlangt, vgl. Riker, W i l l i a m H., The Paradox of V o t i n g and Congressional Rules for V o t i n g on Amendments, APSR 52 (1958), S. 349 ff., vgl. auch Kemmler, S. 204 f. 22 Vgl. Kemmler (Anm. 16), S. 204. 23 s. auch Müller, Peter Felix, Das Wahlsystem, Zürich 1959, S. 282 f.; Kemmler (Anm. 16), S. 202 f. 24 Black (Anm. 1), S. 40; Kemmler (Anm. 16), S. 205 f. 25 Vgl. Kemmler (Anm. 16), S. 207. 26 Das w i r d , weitgehend m i t mathematischen Methoden nachgewiesen v o n Kern (Anm. 1), S. 340 ff. m w N . 27 Dies Verfahren verdankt seine E i n f ü h r u n g i n Frankreich, v o n w o es i n anderen Ländern übernommen wurde, einem Mißverständnis der englischen strengen Gliederung i n Unteranträge; s. Kemmler (Anm. 16), S. 59 ff. Es g i l t als Abstimmungsmethode auch i m Bundestag; vgl. § 46, 81 I I GeschOBT u n d Kemmler, S. 13 ff.; ebd. S. 71 ff. auch zur historischen E n t w i c k l u n g i n Deutschl a n d u n d ebd. S. 80 i n Österreich.

. Das

b j e k t der Mehrheitsentscheidung

137

Reihenfolge einzeln abgestimmt. Ein Vorschlag ist angenommen, wenn die einfache oder absolute Mehrheit zustimmt, worauf die restlichen Alternativen ohne weitere Abstimmung ausscheiden 28 . Hat keine Alternative die Mehrheit erreicht, bleibt es beim status quo ante 2 9 . Das entscheidende, bereits angesprochene Problem springt sofort ins Auge. Die Reihenfolge der Alternativen gibt den Ausschlag für das Ergebnis der Abstimmung 3 0 . A m sinnvollsten w i r d die Reihenfolge nach inhaltlichen Kriterien bestimmt 3 1 , indem entweder der weitestgehende oder der nächstliegende Antrag zuerst zur Abstimmung gestellt w i r d 3 2 und i n der weiteren Folge der Abstimmungen sich die Alternativen dem Hauptantrag bzw. status quo nähern oder davon entfernen 33 . Die Ausführung dieser nicht ganz unproblematischen Regel gestaltet sich außer i n rein finanziellen Fragen 34 außerordentlich schwierig. Oft ist es sogar unmöglich zu bestimmen, welcher Antrag nun der weitergehende ist 3 5 . Eine reine Verlegenheitslösung stellt i n dieser Hinsicht die — zufallsbedingte — Anordnung der Anträge nach dem Zeitpunkt ihrer Einbringung dar 3 6 . Bei der koordinierten Abstimmung 3 7 , die i n Wahlen 3 8 , seltener bei Sachentscheidungen 39 praktiziert wird, werden sämtliche Alternativen 28 Vgl. Kemmler (Anm. 16), S. 84 f., 156 ff.; Tecklenburg (Anm. 17), S. 80 f., Schneider (Anm. 17), S. 16 f. u n d bereits Trendelenburg (Anm. 1), S. 55 ff.; Lotze, Hermann, L o g i k (1874), Leipzig 1912, S. 472. 29 Die A l t e r n a t i v e n werden i m allgemeinen als Hauptanträge, die Ä n d e rungsanträge u n d Unteränderungsanträge teils selbständig, teils i n A b h ä n gigkeit v o m Hauptantrag formuliert. 30 Je früher eine A l t e r n a t i v e zur A b s t i m m u n g gelangt, desto größer ist die Chance, daß sie die Mehrheit gewinnt, s. Tecklenburg (Anm. 17), S. 95; Schneider (Anm. 17), S. 16 f.; Kemmler (Anm. 16), S. 156 f., 167 f., 187, 191; dafür sind natürlich taktische Gesichtspunkte bestimmend. 31 A l l g e m e i n zur Bestimmung der Reihenfolge, Kemmler (Anm. 16), S. 157 ff. 32 Kemmler (Anm. 16), S. 160 ff.; Lotze (Anm. 28), S. 472 vergleicht diese A r t m i t der Technik des Herab- u n d Hinaufbietens bei einer Versteigerung; Beispiele aus der Praxis des Bundestags bei Kemmler, S. 17 ff.; das taktische Abstimmungsverhalten w i r d dadurch allerdings nicht v ö l l i g vermieden. 33 Die A n w e n d u n g der beiden verschiedenen Möglichkeiten v a r i i e r t nach den verschiedensten Gesichtspunkten; teils werden beide v o n denselben A u t o r e n gleichzeitig j e nach Sachlage befürwortet, vgl. die Übersicht über die verschiedenen Begründungen bei Kemmler (Anm. 16), S. 161 ff. 34 Die Beispiele entstammen dementsprechend meist dem Gebiet der Staatseinnahmen oder Staatsausgaben, s. Kemmler (Anm. 16), S. 164 ff.; vgl. auch Lotze (Anm. 28), S. 472 f. 35 Z u den Schwierigkeiten i m einzelnen, Kemmler (Anm. 16), S. 171 ff.; vgl. auch bereits Trendelenburg (Anm. 1), S. 55 ff. 38 Bei einer größeren Zahl v o n Anträgen w i r d dieses Verfahren aber i m Bundestag angewendet, s. Kemmler (Anm. 16), S. 160. 37 Dazu Kemmler (Anm. 16), S. 87 f., 193 ff.; Schneider (Anm. 17), S. 20 ff.; Tecklenburg (Anm. 17), S. 79. Dies Verfahren ist i n der Schweiz gebräuchlich. Kemmler, S. 69 f.; Tecklenburg, S. 83 f.

I V . Die S t r u k t u r der Mehrheitsentscheidung

138

z u g l e i c h z u r A b s t i m m u n g gestellt. E r r e i c h t k e i n e d e r A l t e r n a t i v e n d i e e r f o r d e r l i c h e M e h r h e i t , w i r d e r n e u t a b g e s t i m m t , n a c h d e m einige A l t e r n a t i v e n , i n d e r Regel d i e j e n i g e n m i t d e n g e r i n g s t e n

Stimmenzahlen,

e l i m i n i e r t w o r d e n s i n d 4 0 . Diese Regel schließt aber n i c h t aus, daß e i n V o r s c h l a g v o r z e i t i g ausscheidet, d e r anfangs n u r eine g e r i n g e A n z a h l v o n Stimmen erhalten hat, i n einer endgültigen

Schlußabstimmung

j e d o c h die M e h r h e i t h i n t e r sich v e r s a m m e l t h ä t t e , w ä h r e n d a n f ä n g l i c h mit

hohen

Stimmenzahlen

ausgestattete

Alternativen

unterliegen

können41. D i e seltenste F o r m ist die sog. p r i n z i p i e l l e A b s t i m m u n g 4 2 , i n d e r zuerst ü b e r e i n e n H a u p t a n t r a g oder G r u n d s a t z p o s i t i v oder n e g a t i v entschieden u n d anschließend ü b e r a l t e r n a t i v e Ä n d e r u n g s a n t r ä g e a b gestimmt w i r d , falls der H a u p t a n t r a g nicht abgelehnt w i r d . Der A n w e n d u n g s b e r e i c h dieser M e t h o d e ist höchst b e g r e n z t u n d e r m ö g l i c h t n u r i n geringem U m f a n g die Reduzierung v o n A l t e r n a t i v e n 4 3 . 38 Vgl. etwa die französischen Parlaments- u n d Präsidentschaftswahlen (dazu näher unten A n m . 65). 39 s. § 50 GeschOBT. 40 I n der Schweiz w i r d über die E l i m i n i e r u n g zwischen den beiden A l t e r nativen m i t der geringsten Stimmenzahl i n einem zusätzlichen A b s t i m mungsvorgang abgestimmt. Kemmler (Anm. 16), S. 198, 87 A n m . 11; i m Bundestag w i r d erneut über die beiden A l t e r n a t i v e n m i t den höchsten S t i m m zahlen abgestimmt u n d alle übrigen A l t e r n a t i v e n fallengelassen. Wieder anders verläuft das Verfahren i n Frankreich, s. A n m . 38. 41 s. Kemmler (Anm. 16), S. 197, der das Beispiel der W a h l Saragats zum italienischen Staatspräsidenten i m Jahr 1965 anführt. Dieser mißliche A u s gang des Verfahrens ist eine Folge des bereits v o n Borda entdeckten Effekts, daß der nach relativer Mehrheit sich durchsetzende Vorschlag v o n der absol u t e n Mehrheit v ö l l i g abgelehnt werden kann. 42 s. Kemmler (Anm. 16), S. 88 f.; Tecklenburg (Anm. 17), S. 97. Die p r i n z i pielle A b s t i m m u n g wurde früher i n der Schweiz u n d i n Bayern praktiziert u n d ist heute noch aus der Knesset i n Israel bekannt, s. Kemmler, S. 81 f. 43 I n demokratischen Abstimmungen nicht verwendbar ist die i n Gerichtsverfahren praktizierte Gründeabstimmung, wonach über Vorfragen einzeln abgestimmt w i r d , deren Ergebnisse f ü r das ganze K o l l e g i u m i n nachfolgenden Fragen bindend sind, dazu Kemmler (Anm. 16), S. 208 ff.; Haymann, Franz, Die Mehrheitsentscheidung. I h r Sinn u n d ihre Schranken, i n Festgabe Rudolf Stammler, B e r l i n u . a . 1926, S. 395 ff. (414 ff.); Schneider (Anm. 17), S. 24; dahinter steht die Auffassung v o n einem Richterkollegium als einem logisch denkenden I n d i v i d u u m , Tecklenburg (Anm. 17), S. 89 f.; Kemmler, S. 209. Diese Methode k a n n i n einzelnen Fällen zu höchst widersinnigen E r gebnissen führen, s. Tecklenburg, S. 90; Haymann, S. 416; Kemmler, S. 209; vgl. jetzt etwa das U r t e i l des Supreme Court v. 28.6.78 i n der Sache Regents of the University of California vers. Bakke, das sich aus sechs verschiedenen Voten zusammensetzt u n d v o n v ö l l i g uneinheitlichen Mehrheiten getragen w i r d , dazu s. Beyerlin, Ulrich, Umgekehrte Rassendiskriminierung u n d Gleichbehandlungsgebot i n der amerikanischen Verfassungsrechtsprechung, ZaöRVR 39 (1979), S. 496 ff., speziell zu den Mehrheitsverhältnissen S. 548 f. Deshalb haben sich i n Gerichtsverfahren weitgehend die Kombinationsmethode (vgl. § 196 GVG), die die einander nächst stehenden Meinungen vereinigt (dazu Tecklenburg, S. 89; schon i n Rom u n d der frühen Neuzeit

. Das

b j e k t der Mehrheitsentscheidung

139

Neben den angeführten inhaltlichen Problemen sollten die technischen Komplikationen nicht übersehen werden, da die mehrfachen A b stimmungen zeitraubend, umständlich und aufwendig und bereits deswegen nicht allzu häufig anwendbar sind. I n gewisser Weise bedeutet der doppelte Wahlvorgang bei Parlamentswahlen — die Wahl der Parlamentarier und die Bestellung oder meist die Bestätigung der Regierung i m Parlament — ebenfalls ein gestuftes Verfahren der Alternativenreduzierung, indem i m Parlament erst durch Koalitionsbildung die Scheidung i n Regierung und Opposition erfolgt, während die Parlamentswahlen noch eine Vielfalt von Richtungen hervorbringen. Aufgrund alles dessen empfiehlt sich das Bestreben, bei jeder Mehrheitsentscheidung eine geringe Anzahl von Alternativen zur Auswahl zu stellen, die sich i m Idealfall auf zwei beläuft 4 4 . Das gilt sowohl für eine Kandidatur für ein A m t wie für Entscheidungsvorschläge i n sachlicher Hinsicht. Das heißt bei Sachentscheidungen, daß für eine Frage nur die Zustimmung oder Ablehnung übrig bleibt, die sich i n einem klaren j a oder nein zu einem Gesetz oder einer sonstigen Entscheidung äußert. Entweder w i r d die vorgeschlagene Maßnahme ergriffen, oder der status quo w i r d beibehalten. Gibt es zwei positiv formulierte Entscheidungsvorschläge, muß das Verharren i n der gegenwärtigen Situation als dritte Alternative betrachtet werden und bereits stillschweigend oder ausdrücklich ausgeschlossen worden sein, wenn es auf den reinen Gegensatz zweier Antworten ankommen soll. Dieses Dilemma des Mehrheitsprinzips zwingt dazu, entweder neue Verfahren zu entwickeln oder vorhandene Verfahren zu erhalten und zu verbessern, die i n der Lage sind, die Anzahl der jeweiligen A l t e r nativen auf ein Mindestmaß, i m Idealfall auf zwei, zu verringern, und gleichzeitig erlauben und gewährleisten, daß über eine angesichts der Vielfalt und Komplexität der zu lösenden Probleme und zu bewältigenden Aufgaben hinreichende Anzahl von Fragen und damit korrespondierenden Alternativen entschieden wird. Die Aufgabe der Quadratur des Zirkels lautet also, u m den Sachverhalt schlagwortartig zu formulieren: Die Zahl der entscheidbaren Alternativen muß i n einem Vorgang erhöht und reduziert werden 4 5 . bekannt) u n d die Resultatsabstimmung, die über das Ergebnis abstimmt (dazu Tecklenburg, S. 91), durchgesetzt. Z u r Abstimmungsproblematik bei mehreren Fragen i m B V e r f G s. auch Geiger, W i l l i , Recht u n d P o l i t i k i m Verständnis des Bundesverfassungsgerichts, Bielefeld 1980, S. 38 f. 44 Hier fallen absolute u n d relative Mehrheit bei Ausschluß der S t i m m enthaltung exakt zusammen. 45 Ohne unmittelbaren Bezug auf das Mehrheitsprinzip w i r d diese N o t wendigkeit v o n der Systemtheorie besonders hervorgekehrt. I n deren D i k -

140

I V . Die S t r u k t u r der Mehrheitsentscheidung a) Die Hervorbringung durch

eine Reduzierung

des der

Objekts Alternativen

46

I n d e n P a r l a m e n t e n v o l l z i e h t sich d i e S e l e k t i o n d e r sachlichen A l t e r n a t i v e n m e i s t noch w e i t g e h e n d i n n e r h a l b d e r K ö r p e r s c h a f t selbst, w e n n auch die G e s e t z e n t w ü r f e b e r e i t s v i e l f a c h v o n d e r R e g i e r u n g , d. h . p r a k tisch d e r M i n i s t e r i a l b ü r o k r a t i e , e i n g e b r a c h t w e r d e n 4 7 u n d d a m i t e i n T e i l d e r V o r b e r e i t u n g d e r E n t s c h e i d u n g i m Gesetzgebungsprozeß d e m P a r l a m e n t f a k t i s c h entzogen ist. I m m e r h i n w e r d e n d i e E n t w ü r f e i m p a r l a m e n t a r i s c h e n G e s e t z g e b u n g s v e r f a h r e n i n j e n a c h B e d e u t u n g abgestufter Intensität überprüft, kritisiert, verändert u n d —

gelegentlich



verbessert oder v e r w o r f e n . Angesichts d e r ü b e r w ä l t i g e n d e n F ü l l e d e r M a t e r i e h a t auch i m P a r l a m e n t eine V e r l a g e r u n g dieser T ä t i g k e i t

in

besondere Ausschüsse s t a t t g e f u n d e n 4 8 , die sich als noch k l e i n e r e G r e m i e n als a r b e i t s f ä h i g e r e r w e i s e n 4 9 u n d das P l e n u m i n v i e l e n D e t a i l s t i o n läßt sich diese Aufgabe folgendermaßen ausdrücken. Es gilt einen weiten Selektionsbereich bei gleichzeitiger Reduktion der K o m p l e x i t ä t durch die E l i m i n i e r u n g v o n A l t e r n a t i v e n zu erhalten, vgl. Luhmann, Niklas, Legitimat i o n durch Verfahren, Neuwied 1969, S. 173. 48 s. dazu grundlegend f ü r den Bereich der Wahlen, Sternberger, Dolf, Vorschlag u n d Wahl, i n Nicht alle Staatsgewalt geht v o m V o l k aus, S t u t t gart 1971, S. 121 ff. 47 Eine vergleichende Übersicht über die überwiegende Quantität der Regierungsentwürfe i n Herman , Valentine, Parliaments of the World, B e r l i n 1976, S. 633 ff. 48 Vgl. Brunner, Georg, Vergleichende Regierungslehre, Bd. 1, Paderborn 1979, S. 238 f.; i n I t a l i e n u n d Spanien (dort seit 1978) können die Ausschüsse selbst zum T e i l bereits die Gesetze beschließen, vgl. Lucius, Robert von, Gesetzgebung durch Parlamentsausschüsse, AöR 97 (1972), S. 568 ff. unter Erwägung einer entsprechenden Reform des deutschen Parlamentsrechts; ebd. S. 570 ff. zur Situation i n Italien. Anstatt mehrfacher A b s t i m m u n g k o m m t es deswegen häufig dazu, daß Änderungsanträge v o n den Ausschüssen i n den Hauptantrag eingearbeitet werden u n d erst dann erneut abgestimmt w i r d . s. Kemmler (Anm. 16), S. 21 f.; an dieser Stelle t r i t t die F u n k t i o n der Ausschüsse, die A l t e r n a t i v e n zu reduzieren, besonders deutlich vor die Augen. Die Geschichte der E n t w i c k l u n g des Ausschußwesens ist eine Geschichte der zunehmenden Verlagerung der entscheidenden A r b e i t i n die Ausschüsse, s. insbes. Dechamps, Bruno, Macht u n d A r b e i t der Ausschüsse, Der Wandel der parlamentarischen Willensbildung, Meisenheim 1954, S. 76 ff., 106 ff.; ebd. S. 3 ff. findet sich eine ausführliche Geschichte der Ausschüsse, vgl. dazu auch Frost, Herbert, Die Parlamentsausschüsse, ihre Rechtsgestalt u n d ihre Funktionen, dargestellt an den Ausschüssen des Deutschen Bundestags, AöR 95 (1970), S. 38 ff. (41 ff.). Häufig findet ein d i r e k ter K o n t a k t der Ausschüsse m i t der Regierung statt, ohne daß das Plenum eingeschaltet w i r d ; s. Kewenig, W i l h e l m , Staatsrechtliche Probleme parlamentarischer Mitregierung am Èeispiel der A r b e i t der Bundestagsausschüsse, Bad Homburg u. a. 1970, S. 14 ff. 49 I n kleinen Gremien läßt sich manche Alternativenreduzierung i m Wege der informellen gegenseitigen A b s t i m m u n g u n d Verhandlung erreichen, je größer das G r e m i u m ist, u m so stärker muß der Entscheidungsprozeß f o r malisiert werden. Einen guten Eindruck v o n dem m i t der Größe des Gremiums zunehmenden Formalisierungsprozeß bei der Mehrheitsabstimmung

. Das

141

b j e k t der Mehrheitsentscheidung

e n t l a s t e n k ö n n e n , o h n e daß v o n e i n e r q u a l i t a t i v e n B e e i n t r ä c h t i g u n g d e r Repräsentationsfunktion

der Vertretungskörperschaft

geredet

werden

kann, v o r a l l e m da die endgültige Entscheidung nach w i e v o r

dem

P l e n u m v o r b e h a l t e n b l e i b t 5 0 . D i e f ü r eine E n t s c h e i d u n g d u r c h die M e h r heit unbedingt erforderliche

D i s k u s s i o n , die sich f r ü h e r n a h e z u aus-

schließlich i n n e r h a l b d e r m e i s t ö f f e n t l i c h e n D e b a t t e i m P a r l a m e n t a b spielte, f i n d e t n u n m e h r i n e i n e r d u r c h I n t e r e s s e n g r u p p e n , Sachverständige u n d ö f f e n t l i c h e M e i n u n g e r w e i t e r t e n Ö f f e n t l i c h k e i t 5 1 statt, ohne ihre überragende Bedeutung f ü r die L e g i t i m i t ä t der Entscheidung zu v e r l i e r e n . I n d e n P a r l a m e n t e n l ä ß t sich i m G r u n d e eine ä h n l i c h e T e i l u n g d e r E n t s c h e i d u n g s g e w a l t i n V o r s c h l a g u n d E n t s c h e i d u n g beobacht e n , w i e sich i n V o l k s w a h l e n V o r s c h l a g u n d W a h l aus e i n e m e i n h e i t l i c h e n V o r g a n g a u s e i n a n d e r s p a l t e t e n 5 2 , n u r m i t d e m U n t e r s c h i e d , daß das Z w i s c h e n s t a d i u m d e r B e r a t u n g u n d g e l e g e n t l i c h e n Ä n d e r u n g n o c h eher d e m B e s c h l u ß k ö r p e r e r h a l t e n b l e i b t . F ü r die a l l g e m e i n e n W a h l e n h a b e n i m w e s e n t l i c h e n d i e P a r t e i e n die A u f g a b e a n sich gezogen, die K a n d i d a t e n 5 3 z u n o m i n i e r e n 5 4 . T e i l s gevermittelt

Eschenburg,

Theodor, Staat u n d Gesellschaft

in

Deutschland,

Stuttgart 1956, S. 128 ff. Eschenburg unterscheidet insofern zwischen K o l l e 50 gial-, VersammlungsAußerdem sitzenu ni nd Massenentscheidungen. den Ausschüssen die Fachleute, die das A b s t i m mungsverhalten der F r a k t i o n nachher i n erheblichem Maß bestimmen, u n d des weiteren bleibt i n den Ausschüssen der Parteienproporz i m wesentlichen erhalten; auch Kewenig (Anm. 48), S. 48 ff. h ä l t eine Beeinträchtigung der Repräsentationsfunktion nicht f ü r gegeben. Vgl. i n diesem Zusammenhang auch BVerfGE 44, S. 308 ff. (316 ff.). 51 s. Scheuner, Ulrich, Das Mehrheitsprinzip i n der Demokratie, Opladen 1973, S. 59. N u r i n der Einschränkung der Öffentlichkeitsfunktion durch die Ausschußarbeit ist die Repräsentationsfunktion berührt, was durch die „erweiterte Öffentlichkeit" aber wieder aufgewogen w i r d . 52 So Sternberger (Anm. 46), S. 121 ff.; dessen Trennung v o n Vorschlag u n d W a h l auf die i n der amerikanischen L i t e r a t u r verbreitete Unterscheidung von Aufstellung u n d W a h l der Kandidaten f ü r Kongreß u n d Präsidentschaftswahlen wegen der offensichtlich getrennten Verfahren zurückgeht, vgl. bei Penniman, H o w a r d R., Sait's American Parties and Elections, 4 ed. New Y o r k u. a. 1948, S. 409 ff., 509 ff. die K a p i t e l Nominations u n d Elections. 53 Das g i l t i m wesentlichen auch für den Regierungschef, der heute eher v o n den jeweiligen Gesamtparteien nominiert w i r d , obwohl den Parlamentsfraktionen häufig erhebliches Gewicht zukommt. Charakteristisch für diesen T r e n d sind jetzt auch die neuerlichen Bemühungen der englischen Labour Party, das Recht der Nominierung des Premierministers der ausschließlichen Kompetenz der Parlamentsfraktion zu entziehen, die jetzt auch vorläufig zum Erfolg geführt haben, s. N Z Z Nr. 20 v. 27.1.81, S. 1 f. Nach der neuen Regelung w i r d der Parteichef v o n einem W a h l k o l l e g i u m gewählt, das zu 40 o/o v o n den Gewerkschaften u n d zu j e 30 °/o v o n der Unterhausfraktion u n d den Wahlkreissektionen besetzt ist. Zudem k a n n jedes Jahr der Parteitag die Neuwahl des Parteichefs verlangen, i m Gegensatz zu bisher auch w e n n Labour an der Regierung ist u n d der Parteichef Premier ist. 64 A l l g e m e i n zu dieser F u n k t i o n der Parteien i n vergleichender Sicht Duverger, Maurice, Die Politischen Parteien, Tübingen 1959, S. 360 ff.; spe-

142

I V . Die S t r u k t u r der Mehrheitsentscheidung

setzlich 55 , meist aber faktisch ist es ihnen gelungen, die Aufstellung zu monopolisieren' 56 . Nur i n den amerikanischen Vorwahlen, den Primaries 57 , hat sich eine stärkere Beteiligung des Wahlvolks durchgesetzt, dem es allerdings nicht gelungen ist, die Vorschlagsgewalt den Parteien, dem Einfluß der Parteiführung oder der lokalen Führungsgruppen gänzlich zu entreißen 58 . Indem die Parteien zu den bestimmenden Vorschlagskörperschaften 59 herangewachsen sind, erfüllen sie i n den Demokratien die Funktion, die Anzahl der personellen Alternativen auf wenige, manchmal nur zwei, zu verringern, u m Mehrheitsentscheidungen i n Wahlen überhaupt erst zu ermöglichen. Gerade das Mehrheitsprinzip hat deshalb zur Entstehung und zum Erstarken der Parteien beigetragen, da solche Zusammenschlüsse, anfangs zu Fraktionen, die Gewinnung einer Mehrheit von Stimmen erleichtern 60 . Die Tätigkeit der Parteien erschöpft sich nicht i n der Reduzierung der personellen Alternativen, sondern ihre Organisation separiert aus der Unzahl der denkbaren sachlichen Alternativen diejenigen, die zur Regierungspolitik erhoben werden oder erst für den Fall des Wahlsieges erhoben werden sollen. Die Programmatik w i r d von den Parteien nicht ziell auf das Mehrheitsprinzip bezogen Eschenburg, Theodor, Der Mechanismus der Mehrheitsentscheidung, München 1970, S. 38 f.; parteiunabhängige Abgeordnete u n d Kandidaten gibt es daher fast überhaupt nicht, vgl. Schröder, Heinrich Josef, Die Kandidatenaufstellung u n d das Verhältnis des Kandidaten zu seiner Partei i n Deutschland u n d Frankreich, B e r l i n 1971, S. 35 ff. für Deutschland; S. 52 ff. für Frankreich; für England vgl. Ranney, Austin, Pathways to Parliament, Madison 1965. 55 Übersicht über die Voraussetzungen des passiven Wahlrechts u n d die Vorschlagsmöglichkeiten, Herman (Anm. 47), S. 71 ff. 56 Duverger (Anm. 54), S. 362. 67 s. dazu Penniman (Anm. 53), S. 409 ff. u n d die neueren Monographien Magiera, Siegfried, Die V o r w a h l e n (Primaries) i n den Vereinigten Staaten, F r a n k f u r t 1971 u n d Kölsch, Eberhard, V o r w a h l e n zur Kandidatenaufstellung i n den USA, B e r l i n 1972. 58 Sternberger (Anm. 46), S. 147; dort allgemein zusammenfassend zur amerikanischen Entwicklung, S. 142 ff., zur Geschichte der Kandidatennominierung ausführlich Penniman (Anm. 52), S. 267 ff.; kurz Magiera (Anm. 57), S. 37 ff. Für den Einfluß der Parteien, die aber nicht solche organisatorische Festigkeit gewonnen haben w i e die europäischen Parteien u n d eher reine Wahlkampforganisationen sind s. Magiera, S. 95 f., 110 f., 137 ff.; vgl. auch S. 127; Kölsch (Anm. 57), S. 66 ff. insbes. S. 77 ff., ebd. auch zu den v o n Parteien bestimmten "preprimary conventions, nominating conventions" u n d den "comittee endorsements". 59 Sternberger (Anm. 46), S. 151; diese F u n k t i o n der Parteien unterstreicht der apodiktische Satz v o n Schattschneider, Eimer Eric, Party Government, New Y o r k 1942, S. 100 " A party must make nominations i f i t is to be regarded as a party at all", vgl. auch ebd. S. 64. β0 Vgl. Schutt, Eberhard, Wahlsystemdiskussion u n d Parlamentarische Demokratie, Diss. Hamburg 1973, S. 69 f.; die Fraktionsbildung geht der Parteiengründung meist voraus.

. Das

b j e k t der Mehrheitsentscheidung

143

entwickelt, ohne auf die erwartete und vermutliche oder durch Meinungsumfragen und Veröffentlichungen manifestierte öffentliche Meinung zu blicken und auf diese Weise auch wieder den Auffassungen der Bürger indirekt eine Chance der Einflußnahme zu eröffnen, da es das Ziel jeder Regierung und der sie bildenden Parteien sowie der Opposition ist, bei den nächsten Wahlen die Macht durch Mehrheit zu erringen 61 . Nicht das isolierte Faktum einer alle paar Jahre erfolgenden Wahl, sondern allein der Schatten, den sie vorauswirft, allein die Gewißheit, daß von Zeit zu Zeit die nächste Wahl abgehalten wird, die unwiderruflich näher rückt, übt einen permanenten Druck auf die Parteien aus, die erahnte Meinung der Mehrheit zu berücksichtigen unabhängig davon, ob diese Mehrheit sich nun wirklich i n einer Dezision aktualisiert. Die Notwendigkeit, Alternativen aufzuarbeiten und auszusondern, schlägt sich ebenfalls i m Bereich der Referenden 62 nieder. Selten können sich ad hoc bildende, kleine Gruppen ohne feste Organisation die Vorschlagsgewalt für die zur Abstimmung vorgelegten Alternativen i n den wenigen Reservaten unmittelbarer Demokratie an sich ziehen und eine ausreichende Zahl von Gleichgesinnten für ein Volksbegehren mobilisieren 6 3 . Eine starke Parteienzersplitterung kann der Verringerung der A l t e r nativen sehr i m Wege stehen und bewirken, daß noch nicht i n der allgemeinen Wahl, vielmehr erst i m Parlament durch Koalitionsverhandlungen die Zahl der Alternativen wenigstens so weit reduziert wird, daß sich eine Mehrheit i m Parlament bilden kann, die eine Regierung tragen kann. Deshalb muß i n einem solchen System i m Parlament i n einem zweiten Verfahren das nachgeholt werden, was sich sonst innerhalb der beiden Parteien vor den Wahlen vollzieht 6 4 . Bei zahlreichen 61 Präsident Carter hat diesen Einfluß der öffentlichen Meinung deutlich, fast k a r i k a t u r h a f t demonstriert. 62 s. I V , B, 2, a. 63 Das zeigen nicht n u r die Fälle, i n denen Volksentscheide v o m Parlament oder der Regierung ausgehen oder sogar ausgehen müssen, sondern eben häufig auch die Volksbegehren, die v o n Parteien i n i t i i e r t oder unterstützt werden. Kritisch zu der Einleitung v o n Volksentscheiden durch Parteien Schambeck, Herbert, Das Volksbegehren, Tübingen 1971, S. 27 ff., 37 f.; v i e l fach w i r d deswegen das Volksbegehren zu einem Instrument organisierter Interessen, die neben den Parteien einzig i n der Lage sind, einem V o l k s begehren zum Erfolg zu verhelfen, s. Kerr, H e n r y H., Die S t r u k t u r der Opposition i n der schweizerischen Bundesversammlung, ZParl. 8 (1977), S. 357 ff.; s. auch Wildhaber, Luzius, Vertrag u n d Gesetz — Konsensual- u n d Mehrheitsentscheid i m schweizerischen Staatsrecht, ZSR 94 (1975), S. 113 ff. (138 f.) zum Verbändeeinfluß aufgrund der Referendumsdrohung. 64 Die Gefahr dieses Prozesses liegt darin, daß anschließend zwischen Mehrheitsmeinung i m V o l k u n d der i m Parteiengerangel i m Wege des logr o l l i n g entstandenen Parlamentsmehrheitsmeinung ein A b g r u n d klaffen

144

I V . Die S t r u k t u r der Mehrheitsentscheidung

Parteien und Kandidaten bleibt i m Fall der absoluten Mehrheitswahl nur die Entsendung des Abgeordneten aufgrund eines zweiten Wahlvorgangs übrig 6 5 , da i m ersten Wahlgang die absolute Mehrheit oft nicht erreicht wird. b) Erweiterung der Alternativen durch das Parteienwesen und das Repräsentationsprinzip Die Rolle der Parteien i m Rahmen der allgemeinen Wahlen hat unter dem Aspekt der Mehrheitsentscheidung noch eine andere Seite. Parteien und Repräsentationsprinzip w i r k e n derart zusammen, daß die wenigen, vom Volk i n Gestalt der Abgeordneten und Parteien direkt entschiedenen Alternativen gleichzeitig eine vielgestaltige Fülle mittelbar beschlossener Alternativen i n sich bergen und somit die Summe der vom demokratischen politischen System ausführbaren Alternativen beträchtlich erhöht wird, so daß die enge Begrenzung der unmittelbar entscheidbaren Vorschläge i n nicht unerheblichem Maß überwunden w i r d 6 6 . Der Wähler kann zwar nicht zwischen mehr Alternativen wählen, er entscheidet faktisch aber über große Bündel von Alternativen. Dem Erfordernis des Systems, daß zahlreiche Alternativen entschieden werden müssen, w i r d auf diese Weise genügt. Die Konstituierung einer repräsentativen Versammlung vermag die mittelbar vom Volk entschiedenen Alternativen i n zeitlicher Perspektive schon rein zahlenmäßig zu steigern, indem die gewählten Vertreter für den Zeitraum bis zur nächsten Wahl i n die Lage versetzt werden, eine Vielzahl anliegender Probleme durch Maßnahmen und Gesetze zu lösen, auch soweit sie zum Zeitpunkt der Wahl noch gar nicht erkennbar waren 6 7 . Vermittels des Gedankens der Repräsentation, der als wesentliches Element die rechtliche Fähigkeit enthält, aufgrund der kann, w e i l der Zusammenhang zwischen Wähler- u n d Parteienmehrheit gelockert, w e n n nicht gelöst w i r d u n d das politische System an einem Legitimationsdefizit der verbindlichen Parlamentsentscheidungen leidet. Demgegenüber k a n n der V o r t e i l der Vielfalt der repräsentierten Ansichten geringer wiegen. 85 Das ist i n den Systemen m i t absoluter Mehrheitswahl (Präsidentschaftsw a h l e n i n Frankreich, Österreich, Portugal) notwendig, bei denen eine (zweite) Stichwahl stattfindet. Noch anders w i r d bei den französischen Parlamentswahlen vorgegangen, wo i n einem zweiten Wahlgang bei reduzierter Z a h l der Bewerber die relative Mehrheit ausreicht. 68 Z u m Verhältnis zwischen Personalentscheidung u n d Sachentscheidung (plebiszitärer Charakter der Wahl) s. i m einzelnen u. I V , B, 2, b. 87 Die vorgetragenen A u s w i r k u n g e n sind keine historischen Erklärungsversuche dergestalt, daß der moderne Flächenstaat die „Erfindung" der Repräsentationsverfassung provoziert habe, sondern eine Darstellung der faktischen Wirkungsweise des Mehrheitsprinzips, die allerdings m i t der Überlegung v e r k n ü p f t ist, daß diese Tatsachen das historisch gewachsene System i n gewissem Ausmaß zu rechtfertigen vermögen.

Β . Das Objekt der Mehrheitsentscheidung

145

engen Beziehung zu dem Ganzen für die Vertretenen i n einer Versammlung, i n der die Verschiedenheit der Interessen und das Streben nach dem Gemeinwohl zugleich Ausdruck finden, verbindlich zu handeln und zu entscheiden 68 , kann demokratische Legitimität m i t vielseitiger Entscheidungsfindung vereint werden. Das Mehrheitsprinzip als Verfahrensregel verdankt seine Durchsetzung weitgehend der mit der Idee der Repräsentation — wenn auch nicht notwendig — verbundenen Vorstellung des freien Mandats, da erst die Lösung von der A u f tragsbindung eine freie Willensbildung i n der Vertretungskörperschaft erlaubt 6 9 . Die Anwendung der Mehrheitsregel i m Parlament ist aber auch Voraussetzung der erst dann einsetzenden Demokratisierung des Wahlrechts 70 . Wenn das Repräsentationsprinzip und das freie Mandat die Kette möglicher entscheidbarer Alternativen i n zeitlicher Hinsicht verlängern, dann verbreitern die einzelnen Parteien durch ihre Programme, ihren Apparat und ihre teilweise spezialisierten Mitglieder das Spektrum der Alternativen über die ganze Bandbreite politischer Sachfragen. Jede Partei präsentiert ein Paket von Sachaussagen, die die Richtung für ihre zukünftige Politik weisen sollen 71 . Diese komplexen Aussagenbündel der verschiedenen Parteien werden sich jeweils teils unterscheiden, teils überschneiden und deshalb nicht immer ein für den Wähler i n den Einzelheiten klares B i l d abgeben und eindeutige Entscheidungen von Alternativen erlauben 7 2 . Nicht zu bezweifeln ist aber die Auswirkung, daß die Wahlentscheidung hinsichtlich der Entscheidung möglichst vieler Alternativen durch die „Übersetzung" der Parteien eine große Breitenwirkung entfaltet. 2. Entscheidungsarten

Bei der Untersuchung der Möglichkeiten mehrheitlicher Entscheidung i n einer Demokratie muß zunächst ein hervorstechendes Charakteristi68 s. Scheuner, Ulrich, Der Staat (1965), jetzt i n Staatstheorie u n d Staatsrecht, B e r l i n 1978, S. 19 ff. (S. 30); vgl. auch Hofmann, Hasso, Repräsentation, B e r l i n 1974, S. 191 ff., 338 ff. 69 Vgl. für diesen Zusammenhang Müller, Christoph, Das imperative u n d freie Mandat, Leiden 1968, S. 212 ff.; vgl. auch oben I I . Außerdem würde durch, selbst mehrheitlich beschlossene, Instruktionen gerade der Effekt der Alternativenerweiterung weitgehend verlorengehen. 70 Vgl. dazu oben I I . 71 A n dieser Stelle w i r d die Programmatik einer Partei nur unter dem Aspekt faktischer Erweiterung der entschiedenen A l t e r n a t i v e n untersucht, nicht, ob der Wähler bewußt m i t seiner W a h l eine Sachentscheidung fällt, dazu s. unten I V , B, 2, b. 72 Z u r Frage der A l t e r n a t i v e n b i l d u n g zwischen Regierung u n d Opposition s. unten I V , B, 2, b.

io Heun

146

I V . Die S t r u k t u r der Mehrheitsentscheidung

k u m festgehalten werden. Das Mehrheitsprinzip als demokratisches Verfahren beinhaltet, daß die jeweilige Mehrheit i m Volk oder i m Parlament w i r k l i c h eine Entscheidung fällt und nicht bereits getroffenen, i m Grunde unabänderlichen Entscheidungen ihr Plazet gibt. W i r d i n totalitären Staaten die von der Führung, gleichgültig ob diese bei einem einzelnen Diktator oder kollektiven kleinen Gremien konzentriert ist, beschlossene Maßnahme, an deren Richtigkeit ernsthaft zu zweifeln prinzipiell ausgeschlossen ist, vom Volk oder der zuständigen Vertretungskörperschaft i n einer Einmütigkeit ausdrückenden oder vortäuschenden Akklamationshandlung bestätigt 7 3 , ist i m Gegensatz dazu der Ausgang einer demokratischen Mehrheitsentscheidung grundsätzlich offen 7 4 und nicht i m voraus bestimmt. Das setzt eine Mehrzahl von klar unterschiedenen Alternativen voraus 7 5 , zwischen denen die Mehrheit durch Dezision 76 ihre Wahl vornimmt, während Akklamation praktisch keine Alternativen oder nur eine A n t w o r t kennt. Ohne Konkurrenz erkennbar auseinander zu haltender Möglichkeiten der Entscheidung sind demokratische Mehrheitsentscheidungen nicht denkbar 7 7 . Der Begriff der Offenheit bedeutet aber auch, daß zumindest rechtlich jeder vorstellbaren Alternative die Chance eingeräumt ist, zu einer mehrheitlichen Entscheidung vorgelegt, zur Wahl gestellt zu werden. Aktives und passives Wahlrecht müssen i n demokratisch offener Form gewährleistet sein 78 . Die Kombination von Scheinalternativen, subjektiver Fragestellung und faktischem, äußerem Zwang lassen die höchst sporadischen 79 Sachentscheidungen zu Akklamationen ohne 78 Z u A k k l a m a t i o n u n d i h r e m ideologischen H i n t e r g r u n d Sternberger, Dolf, G r u n d u n d A b g r u n d der Macht, F r a n k f u r t 1962, S. 81 ff.; vgl. auch Leng, Hermann-Otto, Die allgemeine W a h l i m bolschewistischen Staat, Meisenheim 1973, S. 71, 84 ff.; das Kirchenrecht kennt deshalb die Unterscheidung z w i schen „electio" u n d „acclamatio". 74 Vgl. Luhmann (Anm. 45), S. 155, 161; zur Notwendigkeit der Offenheit i n anderer Hinsicht s. u n t e n V , B. u n d C. 75 Offenheit heißt erst einmal A u s w a h l zwischen vorhandenen A l t e r n a t i ven, die bereits die Bahnen der Mehrheitsentscheidung i n gewisser Weise kanalisieren. 76 Vgl. die Begriffe der A k k l a m a t i o n s - u n d Dezisionswahl bei Friedrich, Carl Joachim, Demokratie als Herrschafts- u n d Lebensform, Heidelberg 1959, S. 119 A n m . 2. 77 Dementsprechend differenziert Nohlen, Dieter, Wahlsysteme der Welt, München 1978, S. 18 ff. zwischen kompetitiven u n d nicht-kompetitiven Systemen, zwischen die sich noch die autoritären S t r u k t u r e n semi-kompetitiver Systeme schieben. 78 Vgl. dazu noch unten I V , C, 4. 79 I n den Volksdemokratien gibt es k a u m derartige Sachentscheidungen; ein Volksentscheid ist n u r i n der D D R vorgesehen, andere osteuropäische Staaten kennen n u r Volksdiskussionen u n d Volksbefragungen, die aber alle keine praktische Bedeutung besitzen, s. Brunner, Georg, Legitimitätsdoktrinen u n d Legitimierungsverfahren i n östlichen Systemen, i n Kielmansegg, Peter Graf / Matz, Ulrich, Die Rechtfertigimg politischer Herrschaft, Freiburg

Β . Das Objekt der Mehrheitsentscheidung

147

Entscheidungscharakter absinken, ebenso wie Einheitslisten, die entweder angenommen oder verworfen werden können, Wahlen determinieren und zu propagandistischen Veranstaltungen degradieren 80 . Volkswahlen und Parlamentsentscheidungen i n Diktaturen dienen ausschließlich der Bekräftigung und sollen längst entschiedenen Maßnahmen noch das Siegel einhelliger, allgemeiner Zustimmung aufdrücken 81 . Von demokratischen Mehrheitsentscheidungen zu unterscheiden sind die konsultativen Volksabstimmungen oder Volksbefragungen 82 , die zusätzlich zu den wirklichen Entscheidungsfunktionen treten, auch wenn sie einen erheblichen, politischen und psychologischen Druck auf die zuständigen Entscheidungsorgane ausüben können. Demokratische Mehrheitsentscheidungen zerfallen i n inhaltlicher Hinsicht i n zwei Gruppen. Während i n Abstimmungen Sachentscheidungen getroffen werden, werden i n Wahlen Personalentscheidungen gefällt 8 3 , wenngleich die theoretisch scharfen Konturen beider Arten i n der politischen Realität bisweilen zerfließen und verschwimmen 84 . a) Sachentscheidungen —

Abstimmungen

I n den repräsentativen Demokratien werden die Aufgaben sachlicher Entscheidungen nach dem Mehrheitsgrundsatz vorrangig von den Parlamenten i m Sinne praktischer Arbeitsteilung 8 5 wahrgenommen 86 . Die 1978, S. 155 ff. (171 f.), aber das nationalsozialistische D r i t t e Reich kannte sachliche Volksentscheidungen, die gleichzeitig ein personalplebiszitäres Element enthielten; s. dazu Berger, Wolfgang, Die unmittelbare Teilnahme des Volkes an staatlichen Entscheidungen durch Volksbegehren u n d Volksentscheid, Diss. Freiburg 1978, S. 94 ff. t0 Nominierungs- u n d Entscheidungsgewalt fallen i n den Händen der Partei praktisch zusammen. Erst i n jüngerer Zeit k a n n der Wähler gelegentlich i n eng umgrenztem Rahmen mehrere A l t e r n a t i v e n vorfinden, s. Brunner (Anm. 27), S. 176 ff.; Lammich, Siegfried, Grundzüge des sozialistischen Parlamentarismus, Baden-Baden 1977, S. 57 ff. 81 Z u den sonstigen Funktionen der Wahlen i n totalitären Staaten k u r z Nohlen (Anm. 77), S. 25 ff.; Lammich (Anm. 80), S. 45 ff. 82 Vgl. Brunner (Anm. 48), S. 217 f.; Gerstein, Dietmar, Das Funktionieren der unmittelbaren Demokratie i n rechtsvergleichender Sicht, Diss. Lausanne 1969, S. 6; Jaenicke, Günter, Plebiszit, HdSW Bd. 8, Göttingen 1964, S. 341 ff. (341 f.); zu den konsultativen Volksabstimmungen i n Schweden s. Stjernquist, Wils, Die schwedische Verfassung v o n 1975, JöR N.F. 26 (1977), S. 315 ff. (329 f.); vgl. auch die Volksbefragungsgesetze v o n Hamburg u n d Bremen i m Jahre 1958, die v o m B V e r f G für nichtig erklärt wurden, BVerfGE 8,104 ff. 83 Die Differenzierung findet sich auch bei Brunner (Anm. 48), S. 204 ff.; Berger (Anm. 27), S. 24. 84 Dazu näher unten I V , B, 2, b. 85 Der Gedanke der Arbeitsteilung ist bereits v o n Sieyes erkannt worden, s.o. I I . 86 Die sachlichen Entscheidungen des Staates durch Regierung u n d V e r w a l t u n g sowie die Gerichte bleiben hier naturgemäß außer Betracht, obwohl sich auch dort Mehrheitsentscheidungen finden lassen. 10*

148

I V . Die S t r u k t u r der Mehrheitsentscheidung

Abstimmungen i n den repräsentativen Körperschaften betreffen i n erster Linie Normen, die meist i n der Form des einfachen Gesetzes87 ergehen, aber auch verfassungsändernde Gesetze sein können. Als Ausfluß des Budgetrechts bedürfen die staatlichen Ausgaben, i m wesentlichen zusammengefaßt i m Haushaltsplan, mehrheitlicher Billigung des Parlaments. Erforderlich ist i n der Regel weiterhin die mehrheitliche Zustimmung zu den von der Regierung ausgehandelten Staatsverträgen, bevor sie endgültig ratifiziert werden. Andernfalls bedarf jedenfalls das Transformationsgesetz der parlamentarischen Zustimmung. Bei beiden Entscheidungen handelt es sich i n der Regel u m formelle Gesetze, nicht unbedingt aber u m materielle Gesetze. Dagegen werden ohne Rechtsverbindlichkeit, obwohl sie erhebliche politische Bedeutung aufweisen, Entschließungen zu allen politischen Fragen mehrheitlich verabschiedet, die sowohl programmatischen Inhalts sein als auch den Abschluß eines Kontrollverfahrens bilden können. Derartige unverbindliche Beschlüsse sind allerdings keine eigentlichen Entscheidungen mehr, obwohl sie sich faktisch oft so auswirken werden. Die ganz anders gearteten, gerichtsähnlich ausgestalteten Verfahren der Staatsanklage i n den Parlamenten 8 8 , wobei deren Erhebung wie das anschließende Urteil nach dem Mehrheitsprinzip beschlossen werden können, enthalten i n eigentümlicher Mischung sachliche und personelle Elemente 8 0 . Damit sind die inhaltlich verschiedenen A r t e n parlamentarischer Mehrheitsentscheidungen umrissen. Daneben findet das Mehr87 Der Begriff des formellen Gesetzes ist an das Parlament gebunden. Materielle Gesetze, besser abstrakt generelle Normen, werden vielfach auch v o n der Exekutive i n der Gestalt v o n Verordnungen erlassen. Nach w i e vor bleiben die Grundentscheidungen aber i m wesentlichen dem Parlament v o r behalten. s. i n diesem Zusammenhang auch die Wesentlichkeitstheorie des BVerfG, v o r allem BVerfGE 40, 237 (248 ff.), 41, 251 (259 ff.). Z u m Begriff der Grundentscheidung u n d der dahinterstehenden Funktionenlehre Brunner, Georg, K o n t r o l l e i n Deutschland, K ö l n 1972, S. 63 ff.; vgl. auch Löwenstein, K a r l , Verfassungslehre, 2. A u f l . Tübingen 1969, S. 39 ff.; zu den A r t e n parlamentarischer Entscheidung vgl. auch den Überblick bei Brunner (Anm. 48), S. 236 ff. über die Parlamentsfunktionen, zu den relativ wenigen Gesetzgebungsakten i n den sozialistischen Ländern s. Lammich (Anm. 80), S. 96 ff. 88

Das Verfahren ist allerdings aufgrund der politischen Verantwortlichkeit i n parlamentarischen Regierungssystemen praktisch überflüssig geworden, außer gegenüber Staatspräsidenten, die eben nicht dem Parlament politisch verantwortlich sind, sowie i n präsidentiellen Systemen, w i e das drohende Impeachment gegen N i x o n 1974 zeigt. Die Urteilsfindung ist zudem häufig Verfassungsgerichten, Sondergerichten oder dem höchsten Gericht übertragen; zur historischen Bedeutung der Staatsanklage vgl. Beyme, Klaus von, Die Parlamentarischen Regierungssysteme i n Europa, München 1970, S. 399 ff. Als überflüssiges R e l i k t findet sich die Ministeranklage aber noch i n zahlreichen deutschen Länderverfassungen. A r t . 57 BW., 59 B V , 115 Hessen, 31 Niedersachsen, 63 N.-W., 131 Rhld-Pf., 96 Saarland. 89 Die Beurteilung der staatsrechtlichen Verfehlung ist eher sachlicher Natur, Zweckrichtung u n d Konsequenzen sind eher personeller Natur.

. Das heitsprinzip

außerhalb

149

b j e k t der Mehrheitsentscheidung des P l e n u m s

auch i n d e n

parlamentarischen

Ausschüssen, die i m a l l g e m e i n e n p r o p o r t i o n a l z u d e n

Kräfteverhält-

nissen i m ganzen P a r l a m e n t zusammengesetzt sind, A n w e n d u n g . O b w o h l d i e K o m p e t e n z f ü r Sachentscheidungen h e u t e b e i m P a r l a ment konzentriert Verfassung

durch

ist, w i r d i n m e h r e r e n S t a a t e n d i e plebiszitäre

Komponenten90

repräsentative

ergänzt.

Insgesamt

k o m m t d e n V o l k s a b s t i m m u n g e n a u ß e r h a l b d e r Schweiz j e d o c h geringes G e w i c h t z u 9 1 . A m ehesten w i r d das V o l k noch i n V e r f a s s u n g s f r a g e n e i n geschaltet, b e i d e r B e s t i m m u n g d e r S t a a t s f o r m 9 2 , d e r

Verfassungsge-

b u n g 9 3 u n d v e r f a s s u n g s ä n d e r n d e n Gesetzen 9 4 . H i n u n d w i e d e r

kommt

das M e h r h e i t s p r i n z i p ebenfalls b e i einfachen Gesetzen i n e i n e m V o l k s entscheid95

zur

Geltung, w o b e i die Gesetzesinitiative

entweder

von

T e i l e n d e r S t i m m b e r e c h t i g t e n ausgehen k a n n , d i e e i n V o l k s b e g e h r e n 9 6 90 Fraenkel, Ernst, Deutschland u n d die westlichen Demokratien, Stuttgart, 7. A u f l . 1979, S. 113 ff. über die repräsentative u n d die plebiszitäre Komponente i m demokratischen Verfassungsstaat; zum Zusammenspiel v o n Referenden u n d Repräsentation i n der Schweiz vgl. Imboden, M a x , Die p o l i tischen Systeme, Basel u. a. 1962, S. 35 ff. 91 Vgl. die kurze Übersicht bei Brunner (Anm. 48), S. 216 ff.; die Übersicht über die Regelungen der Länder bei Abelein, Manfred, Plebiszitäre Elemente i n den Verfassungen der Bundesrepublik, ZParl. 2 (1971), S. 187 ff.; vgl. auch die Klassifikationen der Referenden bei Huber, Hans, Das Gesetzesreferendum, i n Rechtstheorie, Verfassungsrecht, Völkerrecht, Bern 1971, S. 541 ff. (547) u n d i m einzelnen Butler, D a v i d / Ranney, Austin, Referendums, A Comparative Study of Practice and Theory, Washington 1978 u n d ebd. S. 7, 222 die Tabellen über die Häufigkeit v o n Referenden. 92 s. die Abstimmungen i n Island 1944, I t a l i e n 1946, Griechenland 1946 u n d 1973/74. 93 Abstimmungen über einen fertigen Verfassungsentwurf fanden i n folgenden Fällen statt: Schweiz 1848/1874; I r l a n d 1937; Island 1944; Dänemark 1953; Frankreich 1946/1958; T ü r k e i 1961; Spanien 1978 u n d i n Deutschland i n den Ländern der amerikanischen u n d französischen Zone nach dem zweiten W e l t k r i e g Bayern, Hessen, Bremen, Württemberg-Baden, Rheinland-Pfalz, Baden, Württemberg-Hohenzollern. 94 Teils obligatorisch, Schweiz A r t . 123; Österreich 44 I I ; Spanien A r t . 168 Verf. 78 bei einer Totalrevision, bei sonstigen verfassungsändernden Gesetzen n u r auf A n t r a g 1 /io der Mitglieder einer jeden Kammer (Art. 167 I I I ) ; kurze Übersicht bei Brunner (Anm. 48), S. 218 f., s. auch A r t . 75 I I BV. 95 Der Begriff des Volksentscheids w i r d v o r allem f ü r Volksabstimmungen über Gesetzentwürfe aber auch f ü r die Auflösung des Parlaments durch Volksabstimmung (vgl. A r t . 43 BW.; 18 I I I B V ; 391 Bln.; 1091b Rhld-Pf.; 70 b i V m 110 Brem.) u n d für die Neugliederung des Bundes (29, 118 GG) v e r wendet; zum Begriff vgl. Berger (Anm. 79), S. 23 ff. F ü r Sachentscheidungen durch Volksabstimmungen m i t dem Schwerpunkt auf der Gesetzgebung w i r d auch der Begriff des Referendums gebraucht. Das g i l t insbesondere für die Schweiz (dort gibt es auch Finanz- u n d Verwaltungsreferenden), s. Berger (Anm. 79), S. 29 ff.; Huber (Anm. 91), S. 541 ff., der aber den Volksentscheid aufgrund eines Volksbegehrens nicht als Referendum bezeichnen w i l l , ebd. S. 551; so auch Ger stein (Anm. 82), S.3 f. I m Englischen verwenden Butler / Ranney (Anm. 91) einheitlich „Referendum" s. ebd. S. 4. 96 Volksbegehren ist das v o n Teilen des Volkes ausgehende Begehren auf einen Volksentscheid. Z u m Begriff s. Gerstein (Anm. 82), S. 4 f.; Berger

150

I V . Die S t r u k t u r der Mehrheitsentscheidung

l a n c i e r e n k ö n n e n , oder das I n i t i a t i v r e c h t d e m P a r l a m e n t 9 7 , e i n e r P a r l a m e n t s m i n d e r h e i t 9 8 , d e m P r ä s i d e n t e n 9 9 oder d e r R e g i e r u n g 1 0 0 z u g e w i e sen ist. T e i l w e i s e müssen z w e i O r g a n e 1 0 1 z u s a m m e n w i r k e n , u m

die

V o l k s g e s e t z g e b u n g i n G a n g z u setzen, t e i l s b e s t e h e n m e h r e r e V e r f a h r e n der I n i t i a t i v e n e b e n e i n a n d e r 1 0 2 . D i e r e c h t l i c h e n R e g e l u n g e n k ö n n e n s o w o h l d e n E r l a ß eines Gesetzes d u r c h e i n R e f e r e n d u m v o r s e h e n 1 0 3 w i e d e m V o l k s e n t s c h e i d i n d e r G e s t a l t des „ r e f e r e n d u m a b r o g a t i v o "

allein

die M ö g l i c h k e i t e r ö f f n e n , das Gesetz m i t e i n e m V e t o z u F a l l z u b r i n g e n 1 0 4 . I n i n h a l t l i c h e r H i n s i c h t s i n d abschließend noch die F i n a n z - 1 0 5 u n d V e r w a l t u n g s r e f e r e n d e n 1 0 6 , sowie d i e B i l l i g u n g v o n S t a a t s v e r t r ä g e n 1 0 7 zu nennen, w ä h r e n d die Volksabstimmungen über territoriale u n d die G l i e d e r u n g des S t a a t e s

109

Fragen108

als e i n m a l i g e V o r g ä n g e insbesondere

i n d e r Z e i t n a c h d e m 1. W e l t k r i e g das S e l b s t b e s t i m m u n g s r e c h t n a t i o n a l e r G r u p p e n v e r w i r k l i c h e n sollten.

(Anm. 79), S. 22 f. Der F a l l des Ineinandergreifens v o n Volksbegehren u n d Volksentscheid k a n n m i t Schmitt, Carl, Volksentscheid u n d Volksbegehren, B e r l i n u. a. 1927, S. 10 als Volksgesetzgebung bezeichnet werden; ebenso Ger stein, S. 140. Verankert w a r u n d ist das Volksbegehren v o r allem i n der Schweiz 89bis, 120 I ; Weimar 73 I I I W R V ; I t a l i e n 71 I I ; Österreich 41 I I sowie i n einigen Bundesländern: 74 B V , 68 I N.-W.; 124 Hessen. 07 z. B. 70 b Bremen; d. h. natürlich der Parlamentsmehrheit. 98 s. 72, 73 I I W R V , allerdings n u r i m Verein m i t einem T e i l der S t i m m berechtigten, w i e w o h l überhaupt einer Parlamentsminderheit allein das Initiativrecht aus einsichtigen Gründen nirgends zugestanden w i r d . 99 z. B. 73 I, 74 I I I W R V ; faktisch w o h l auch dem französischen Staatspräsidenten 111 Verf. 58. 100 z. B. 68 I I I N.-W. 101 z. B. 72, 73 I I W R V ; 111 frz. Verf. 58 (Präsident u n d Regierung). 102 V o r allem i n der Schweiz u n d der Weimarer Republik. 103

So die Regelung i n den meisten Ländern. Italien 1 Verf. 47; Schweiz 89 I I Verf. 1848/74; Begriff bei Huber (Anm. 91), S. 544. 105 I n der Schweiz s. Gerstein (Anm. 82), S. 58 ff.; s. auch Hernekamp, K a r l , Formen u n d Verfahren direkter Demokratie, F r a n k f u r t 1979, S. 130 ff., 199; 73 I V W R V s. Gerstein, S. 147 f. 108 I n der Schweiz, Gerstein (Anm. 82), S. 58. 107 I m kantonalen Bereich i n der Schweiz s. Gerstein (Anm. 82), S. 57 sowie 89 I V SchweizBV, s. Hernekamp (Anm. 103), S. 197 ff., 129 f. 136; für die u m strittene Lage i n der Weimarer Republik s. Gerstein, S. 149 f.; erhebliche Bedeutung hatten derartige Volksabstimmungen 1972 bei der Frage des Beit r i t t s zu den Europäischen Gemeinschaften i n Irland, Dänemark u n d N o r wegen (hier n u r Volkskonsultation, die aber negativ ausfiel) u n d i n Großbritannien 1975 (dazu s. Butler, David, United Kingdom, i n B u t l e r / Ranney (Anm. 91), S. 211 ff. (213 ff.). 104

108

s. Brunner (Anm. 48), S. 221; Löwenstein (Anm. 87), S. 272 ff. 18 W R V ; dazu Gerstein (Anm. 82), S. 194 ff.; A r t . 29, 118 GG, dazu Gerstein, S. 196 ff.; A r t . 132 I t a l i e n Verf. 47; vgl. jetzt auch die Autonomieabstimmungen i n Spanien. 109

. Das

b j e k t der Mehrheitsentscheidung

151

D e u t l i c h zeigt sich b e i V o l k s a b s t i m m u n g e n die A b h ä n g i g k e i t v o n d e r Fragestellung u n d den vorgelegten A l t e r n a t i v e n 1 1 0 . Letztlich sind n u r w e n i g e F r a g e n , m e i s t eine einzige s i n n v o l l d u r c h V o l k s e n t s c h e i d n a c h d e m M e h r h e i t s p r i n z i p entscheidbar, selbst w e n n U n t e r f r a g e n zugelassen w e r d e n k ö n n e n . I n diesem Z u s a m m e n h a n g ist a l l e r d i n g s u n b e d i n g t e r f o r d e r l i c h , daß d i e F r a g e n u n d A l t e r n a t i v e n n e u t r a l u n d n i c h t suggestiv f o r m u l i e r t w e r d e n 1 1 1 u n d d i e E i n h e i t d e r M a t e r i e g e w a h r t w i r d , da geschickte K o p p e l u n g s f r a g e n die m e h r h e i t l i c h e W i l l e n s m e i n u n g des V o l k e s v e r f ä l s c h e n k ö n n e n , i n d e m e i n i n d i r e k t e r Z w a n g a u f die A b s t i m m e n d e n ausgeübt w i r d 1 1 2 . Z u s ä t z l i c h k a n n die W a h l des Z e i t p u n k tes f ü r d i e A b s t i m m u n g das E r g e b n i s s t a r k b e e i n f l u s s e n 1 1 3 . Das P r o b l e m 110

Vgl. Schmitt (Anm. 96), S. 36 f.; Schneider, Hans, Volksabstimmungen i n der rechtsstaatlichen Demokratie, i n Gedächtnisschrift Walter Jellinek, München 1955, S. 155 ff. (169 ff.). Meinungsumfragen, die keine Entscheidung treffen müssen, können m i t umfangreichen Fragekatalogen wesentlich differenzierter vorgehen, s. Schneider, S. 170. I n die Problematik der A l t e r n a t i v e n spielt der Begriff des Plebiszits hinein, über den einige V e r w i r r u n g herrscht; teilweise w i r d er i n umfassendem Sinn auf alle Volksabstimmungen u n d sogar Wahlen ausgedehnt, vgl. K i p p , Heinrich, „Plebiszit" Staatslexikon, 6. Aufl., Bd. V I , Freiburg 1961, S. 291 ff.; s. auch die Bezeichnung der modernen Demokratie als plebiszitär bei Leibholz; kritisch dazu Sternberger, Zur K r i t i k der dogmatischen Theorie der Repräsentation, i n Nicht alle Staatsgewalt (Anm. 46), S. 9 ff. (29 ff.). Bei einer Durchsicht der L i t e r a t u r lassen sich i m wesentlichen drei Bedeutungskerne herausschälen: 1. Volksabstimmungen über Sachfragen unter Ausschluß der Gesetzgebung, die, ad hoc von der Regierung gestellt, praktisch n u r m i t j a oder nein zu beantworten sind. Diese Bedeutung deutet bereits auf die 2. h i n : ad hoc v o n der Staatsführung verlangte persönliche Vertrauenserklärungen, die sich auch i n Sachentscheidungen m i t starkem persönlichen Bezug kleiden u n d zu bloßer A k k l a m a t i o n degenerieren können. Das g i l t für die napoleonischen Plebiszite des 2. Empire, für die faschistischen u n d nationalsozialistischen Volksabstimmungen u n d i n eingeschränkter F o r m für die de Gaulle'schen Referenden, s. dazu auch i n diesem Zusammenhang Wright , Vincent, France, i n B u t l e r / Ranney (Anm. 91), S. 139 ff. (144 ff.). Bezeichnenderweise k o m m t der französische Begriff i m 2. Kaiserreich i n diesem Sinne auf, s. Denquin, JeanMarie, Référendum et Plébiscite, Paris 1976, S. 3 f.; ebd. auch zur römischen H e r k u n f t u n d französischen Begriffsgeschichte u n d -Verwirrung, S. 1 ff.; vgl. auch ebd. S. 263 ff., 325 f.; sowie Sternberger, S. 30; 3, w i r d der Begriff i m völkerrechtlichen Bereich für die Territorialplebiszite verwendet. Z u m Begriff des Plebiszit vgl. auch Gerstein (Anm. 82), S. 5 f.; Berger (Anm. 79), S. 24; Löwenstein (Anm. 87), S. 271 ff.; Brunner (Anm. 48), S. 221; Butler / Ranney (Anm. 91), S. 4 u n d noch anders Hernekamp (Anm. 105), S. 20 ff., 24 ff., 31 ff., der diesbezüglich zwischen bedingter u n d unbedingter A b s t i m m u n g unterscheiden w i l l . 111 s. Gerstein (Anm. 82), S. 352; kritisch gegenüber den Schweizer Referenden unter dem Aspekt steigender K o m p l e x i t ä t legislatorischer Entscheidungen Neidhart, Leonhard, Plebiszit u n d pluralitäre Demokratie, Bern 1970, S. 296 f.; andererseits f ü r eine Erweiterung direkt-demokratischer Elemente i n der Bundesrepublik m i t allerdings w e n i g überzeugenden Argumenten Pestalozza, Christian Graf von, Der Popularvorbehalt. Direkte Demokratie i n Deutschland, B e r l i n 1981 u n d ders., Volksbefragung — das demokratische M i n i m u m , N J W 1981, S. 733 ff. 112 Vgl. zu den Referenden de Gaulle's Gerstein (Anm. 82), S. 350 ff. 113 s. Schneider (Anm. 110), S. 171 f.

152

I V . Die S t r u k t u r der Mehrheitsentscheidung

der Stimmbeteiligung t r i t t bei Volksabstimmungen i n besonderem Maß hervor, da häufige Sachabstimmungen die Bevölkerung schnell ermüden können 1 1 4 und die Einführung der Stimmpflicht jedenfalls i n der Schweiz einen eminent konservativen Effekt bewirkt h a t 1 1 5 . b) Personalentscheidungen

— Wahlen

Außer ihrer legislativen und sonstige Sachentscheidungen beinhaltenden Tätigkeit, die von Anfang an den K e r n parlamentarischen Handelns ausmacht, bestellen die repräsentativen Körperschaften 116 zum großen Teil die übrigen höchsten Staatsorgane oder wirken an deren Bestellung mit, u m den gewählten Personen demokratische Legitimation zu verleihen 1 1 7 . Die Wahlen erstrecken sich auf fünf Ämtergruppen. Die wichtigste Aufgabe ist die mehrheitliche Wahl oder Bestätigung der Spitzen der Exekutive wie der republikanischen Staatsoberhäupter und der Regierungschefs, deren Bezeichnungen zwischen Ministerpräsident, Premierminister und Bundeskanzler variieren, sowie der gesamten Regierung i m Schweizer Direktorialsystem. I n parlamentarischen Regierungssystemen können Mehrheitsentscheidungen des Parlaments i n verschiedenster Weise den Sturz der Regierung herbeiführen, ohne daß es sich u m eigentliche Wahlen handeln muß. Infolge des Prinzips der politischen Verantwortlichkeit können das Scheitern der Vertrauensfrage 118 und allgemeine Abstimmungsniederlagen 1 1 9 den Rückt r i t t auslösen. Eine besondere Form der A b w a h l stellt das förmliche Mißtrauensvotum 1 2 0 dar, das i n der Bundesrepublik Deutschland 121 und 114 Ob allerdings der deutliche Rückgang der Stimmbeteiligung i n der Schweiz (vgl. Tabelle bei Aubert, Jean François, Switzerland, i n Butler / Ranney (Anm. 91), S. 39 ff. (45)) u n m i t t e l b a r i n diesen Zusammenhang gebracht werden kann, erscheint zweifelhaft, s. Engler, Urs, Stimmbeteiligung u n d Demokratie, Bern u. a. 1973, S. 20 ff., 5 f., sehr diesen Zusammenhang befürwortend m i t fundierten Argumenten u n d Zahlen jetzt Riklin t Alois, Stimmbeteiligung i n der direkten Demokratie, i n Recht als Prozeß u n d Gefüge, Festschrift Hans Huber, Bern 1981, S. 513 ff. (516 ff.). 115 Ger st ein (Anm. 82), S. 59 f.; überhaupt dürfte sich die Praxis der V o l k s abstimmungen eher i n konservativer Richtung auswirken, s. o. Butler / Ranney (Anm. 91), S. 16, einschränkender S. 224. 116 Das können jeweils beide Kammern, u n d zwar vereint oder getrennt, oder n u r eine der K a m m e r n sein; vgl. auch die besondere Einrichtung der Bundesversammlung bei der W a h l des Bundespräsidenten gem. A r t . 54 I I I GG, die i m Grunde eine mittelbare Folge des Bundesratsprinzips ist. 117 Vgl. Brunner (Anm. 48), S. 256 f. 118 s. Bey me (Anm. 88), S. 646 ff. 119 s. Beyme (Anm. 88), S. 679 ff.; i n diesem F a l l k a n n eine reine Sachentscheidung u n m i t t e l b a r zugleich eine Personalentscheidung enthalten. 120 Beyme (Anm. 88), S. 623 ff. 121 s. A r t . 67 GG.

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b j e k t der Mehrheitsentscheidung

153

i n Spanien 1 2 2 als konstruktives Mißtrauensvotum so ausgestaltet ist, daß der Erfolg erst mit der gleichzeitigen mehrheitlichen Wahl eines neuen Regierungschefs eintreten kann 1 2 3 . Als spezieller Fall der Abberufung des Regierungschefs, einzelner Minister, des Staatspräsidenten oder anderer Organe ist bereits die Absetzung i m Wege der Staatsanklage erwähnt worden 1 2 4 . Außerdem sind die Parlamente gelegentlich an der Bestellung von Richtern der obersten Gerichtshöfe 125 , der Spitzen der Finanzkontrolle 1 2 6 , der für eine Verwaltungskontrolle und den Bürgerschutz eingesetzten Ombudsmänner 1 2 7 sowie ausnahmsweise des leitenden Personals des diplomatischen Dienstes 128 beteiligt, wobei manchmal qualifizierte Mehrheiten gefordert werden 1 2 9 , u m eine gewisse Neutralität der Gewählten zu fördern und einseitige parteipolitische Motive bei der Wahl auszuschalten. Für das Volk konkretisiert sich das Mehrheitsprinzip i n einigen Ländern ausschließlich, i n anderen Staaten neben plebiszitären Wirkungsmöglichkeiten, i n den allgemeinen Wahlen, i n denen die parlamentarischen Körperschaften und teilweise — i n präsidentiellen und gemischtpräsidentiellen Systemen 130 — die Staatspräsidenten 131 bestellt werden. Dagegen ist die Auflösung des Parlaments 1 3 2 oder die Abberufung der 122

A r t . 113 Verf. 78. Eine Regierungsliste m i t den einzelnen Rücktrittsgründen findet sich bei Beyme (Anm. 88), S. 901 ff. 124 s. oben I V , B, 2, a. 125 Etwa die W a h l der Verfassungsrichter i n der Bundesrepublik (Art. 9412 GG) u n d i n I t a l i e n (Art. 1351 I t a l . V e r f . 47); der Richter des Bundesgerichts i n der Schweiz (Art. 107 Abs. I Schweiz. BV); sowie die Zustimmung des US-Senats zu der Ernennung der Bundesrichter am Supreme Court (Art. 2 sec. 2). Erinnert sei hier an Montesquieus Zuordnung des demokratischen Elements zur Justiz, Esprit des Lois X I , 6. 126 ζ. Β . der Präsident des Rechnungshofes i n B e r l i n A r t . 83 I I Verf. Bln., die Zustimmung des Landtags ist i n Niedersachsen erforderlich, A r t . 53 I I I Verf. Niedersachsen. 127 s. Kap. 12, § 6 Schwed. Regierungsform 1975. I n diesem Zusammenhang k a n n m a n auch i n der Bundesrepublik den Wehrbeauftragten A r t . 45 b GG, die Organe nach dem G 10 (§ 9) u n d die Kontrollkommission f ü r die Nachrichtendienste aufführen. 128 I n den USA u n d Venezuela. 129 z.B. bei der W a h l der Richter zum Bundesverfassungsgericht § 6 V , 7 BVerfGG; vgl. dazu Billing, Werner, Das Problem der Richterwahl zum Bundesverfassungsgericht, B e r l i n 1969, S. 128; Stern, Klaus, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Band I I , München 1980, S. 361 ff. K r i t i s c h zur jetzigen Praxis Schiaich, Klaus, Verfassungsgerichtsbarkeit i m Gefüge der Staatsfunktionen, W D S t R L 39 (1980), S. 99 ff. (142). 130 N u r j n Österreich w i r d trotz der parlamentarischen Regierungssystems t r u k t u r der Bundespräsident i n einer allgemeinen W a h l erkoren (Art. 60 Österr. Verf.). 123

131

1919).

I n den USA, Frankreich (Art. 6 Verf. 58), F i n n l a n d (§ 23 Regierungsform

154

I V . Die S t r u k t u r der Mehrheitsentscheidung

Regierung als ganzer 1 8 3 oder einzelner Regierungsmitglieder 134 durch Volksentscheid 135 nur selten zulässig und bisher nicht zu praktischer Bedeutung gelangt 1 3 6 . Für den Bereich der Wahlen ist bereits auf die Nominierungsfunktion der Parteien hingewiesen worden, die i n einem internen Ausleseprozeß die Kandidaten für die Wahl der Parlamente und der Staatspräsidenten 1 3 7 kreieren und durch die Verringerung der personellen Alternativen eine Mehrheitsentscheidung des Wählervolkes ermöglichen. Dieser Vorgang kommt einer Teilung der Wahlgewalt i n Vorschlag und Entscheidung, einer Trennung i n Selektion und Dezision gleich 1 3 8 . Damit gerät außerdem eine der wesentlichen Funktionen der Aufteilung des Parlaments i n Regierungsparteien und Opposition i n das Blickfeld, die auf diese Weise die politischen Alternativen für den Wähler entwickeln und darstellen. I n Mehrparteiensystemen w i r d dieser Dualismus weiter aufgefächert und doch i n mancher Hinsicht von dem Grundkonflikt zwischen Regierung und Opposition überlagert. I n der Beschreibung der Alternativenauswahl muß zwischen den verschiedenen Mehrparteiensystemen 139 differenziert werden. I m rein dualistischen Zweiparteiensystem, das die reinste und klassische Form der Gegenüberstellung von Regierung und Opposition repräsentiert, sind die Alternativen für den Wähler k l a r und eindeutig zu unterscheiden und zu entscheiden. Eine ähnliche Struktur und vergleichbare Auswirkungen weist ein m i t dem Terminus Zweikräftesystem zu umschreibendes Spektrum mehrerer Parteien auf, die sich i n zwei Gruppierungen polarisieren und i n dieser Konstellation u m die Macht konkurrieren. Von einem reinen Zweiparteiendualismus hebt 132 Vgl. die bundesdeutschen Länderverfassungen A r t . 43 BW.; 18 I I I B V ; 39 I Bln.; 109 I b Rhld-Pf.; 70 b i V m 110 Brem. 133 A r t . 70 i V m 110 Brem. 134 A r t . 70 i V m 110 Brem. 136 Z u m Begriff s. A n m . 93 oben; der Volksentscheid k a n n meist durch Volksbegehren eingeleitet werden, A r t . 43 BW.; 18 I I I B V ; 39 I Bln.; 109 I b Rhld-Pf. 136 Einem Volksbegehren, das bereits die notwendige Stimmenzahl erreicht hatte, k a m das Abgeordnetenhaus v o n B e r l i n durch Selbstauflösung i m J a h r 1981 zuvor. 137 Das gilt auch für die Auslese des Kandidaten für die W a h l des Bundespräsidenten durch die Bundesversammlung i n der Bundesrepublik, vgl. Sternberger (Anm. 46), S. 127 ff. 138 s. oben I V , B, 2, a. 139 Die folgenden Ausführungen beruhen auf den Klassifizierungen v o n Brunner (Anm. 48), S. 346 ff.; vgl. auch Sartori, Giovanni, Parties and Party Systems, Bd. I, A Framework for Analysis, Cambridge 1976, S. 125 ff., 282 ff.; u n d etwas veraltet Duverger (Anm. 54), S. 221 ff., insbes. 247 ff.

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b j e k t der Mehrheitsentscheidung

155

sich dieses System zuweilen nur geringfügig ab, da die großen Volksparteien vielfach i n verschiedene Strömungen und Flügel, „correnti", zerfallen 1 4 0 , deren interne Machtkämpfe sich zu einer Härte steigern können, die den Auseinandersetzungen zwischen verschiedenen Parteien i n nichts nachsteht. I n einem derartigen Zweikräftesystem w i r d andererseits dem Wähler ein stärkerer Einfluß auf die Stellung der verschiedenen Parteien verschafft, als i h m bei bloßen Flügelkämpfen auszuüben möglich ist. Der Wähler gewinnt eine zusätzliche Differenzierungsmöglichkeit unter Beibehaltung einer polaren Struktur der Alternativen. I n einem trialistischen System können die grundsätzlichen Alternativen zahlreicher sein, verlieren aber an Konturen, und ihre jeweilige Verbindung nach der Wahl, die bei prinzipieller Koalitionsfähigkeit meist notwendig wird, da keine Partei allein regierungsfähig ist, ist i m voraus oft nicht kalkulierbar. Die Erhöhung der Anzahl der Wahlmöglichkeiten w i r d deswegen m i t einer Verminderung des direkten Einflusses der Wählerschaft auf die Regierungsbildung und das Entscheidungsergebnis bezahlt 1 4 1 . I m trialistischen System allerdings ist die jeweilige Opposition i n der Lage, eine klare Alternative zu bilden, da sie i n ihrer Struktur kohärent ist 1 4 2 . Als problematisch erweisen sich die zentristischen und die diffusen Mehrparteiensysteme, obwohl dem Wähler eine größere Zahl von Alternativen zur Auswahl steht. I m ersten Fall, i n dem das Herrschaftspotential sich i n der Mitte der Parteienlandschaft herauskristallisiert, fluktuiert die Regierungsmehrheit i n ihrer Zusammensetzung nur i n geringem Maß, es findet nur ein „glissement des alliances" 1 4 3 statt. Deshalb entscheidet der Wähler nicht über einen Machtwechsel, sondern über eine Machtverschiebung oder Akzentverlagerung, die dazuhin eher den Verhandlungen der Parteien untereinander als der Dezision der Wählerschaft überlassen ist. Die daraus hervorgehenden Regierungen bewirken zwar eine gewisse Kontinuität der Staatsleitung, neigen aber andererseits zu Unbeweglichkeit. I n einem diffusen System sind die Alternativen sehr vielfältig, die sich nur i n sehr heterogenen, 140 Vgl. v o r allem die Volksparteien Democrazia Christiana i n I t a l i e n u n d die Liberalkonservativen i n Japan, die allerdings nicht i n Zweiparteiensystemen zu finden sind. 141 Es sei denn, es w i r d i m voraus eine klare Koalitionsaussage getroffen, u n d die Parteien halten sich daran. 142 Z u diesem Begriff s. Sternberger, Dolf, Lebende Verfassung, Meisenh e i m 1956, S. 134; differenziert Schneider, Hans-Peter, Die Parlamentarische Opposition i m Verfassungsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. I : Grundlagen, F r a n k f u r t 1974, S. 103 ff.; vgl. auch Duverger (Anm. 55), S. 419 ff. 143 Hamon, Leo, Pouvoirs 1977, zitiert nach Scheuner, Ulrich, Der M e h r heitsentscheid i m Rahmen der demokratischen Grundordnung, i n Festschrift W. Kägi, Zürich 1979, S. 301 ff. (322).

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I V . Die S t r u k t u r der Mehrheitsentscheidung

kurzlebigen Koalitionen zu einer Mehrheit vereinigen und zusammenfügen. Der Wahlentscheid des Bürgers prädisponiert dabei die Regierungsbildung i n sehr geringem Ausmaß, da die Regierungsbildung sich nahezu ausschließlich i m parlamentarischen Raum durch Vereinbarungen permanent wechselnder Partner vollzieht und abspielt. I m Verhältnis der Parteien untereinander kann sich die Bildung und Aufbereitung der Alternativen i n dreierlei Gestalt vollziehen 1 4 4 , die sich durch eine unterschiedliche Intensität der Konkurrenz auszeichnen. Die schwächste, beileibe jedoch nicht unwichtige Form ist die Aufstellung einer Führungsmannschaft, die Präsentierung eines überzeugenden personellen Angebots. I n politisch homogenen Gesellschaften, deren Parteien kaum ideologisch ausgerichtet sind, w i r d sich die Bedeutung der Parteienorganisationen darauf beschränken 145 . Daneben w i r d i m allgemeinen die Herausstellung anderer Methoden zur Erreichung der allseits akzeptierten und i n einen Grundkonsens einbezogenen Ziele und Werte, die Ausarbeitung und Formulierung sachlicher M i t t e l und Wege treten, die zur Verwirklichung der gesetzten Ziele geeignet erscheinen. Schließlich kann darüber hinaus eine alternative, andersartige Zielsetzung, eine andere Wertordnung i m Extremfall, zum Programm erhoben werden. Die i n den Wahlen unterlegenen Minderheitsparteien können eine prinzipielle 1 4 6 Opposition betreiben und versuchen, eine grundsätzliche Alternative zur Regierungspolitik zu erarbeiten. A l l e r dings muß selbst diese fundamentale Opposition sich i m Rahmen der Verfassung bewegen, andernfalls w i r d diese Opposition illegitim 1 4 7 . Wenn angesichts der Vielfalt der Möglichkeiten inhaltlicher Opposition eine Formalisierung des Oppositionsverhältnisses 148 , indem es rein ver144 s. Friedrich, Manfred, Opposition ohne Alternative, K ö l n 1962, S. 54; Gehrig, Norbert, Parlament — Regierung — Opposition, München 1969, S. 23 f., 152; vgl. auch Duverger (Anm. 54), S. 423 ff.; zu den Formen der Opposition i n den verschiedenen Ländern s. Dahl, Robert Α., Political Oppositions i n Western Democracies, New Haven u. a. 1966. 145 I n den USA etwa sind die Parteien reine Wahlorganisationen. Das zeigt, daß die Parteien nicht unbedingt scharfe A l t e r n a t i v e n entwickeln müssen. Ist der Konsens i n der Bevölkerung relativ groß, können die Parteien sich k a u m i n extremen A l t e r n a t i v e n bewegen. 146 s. Schneider (Anm. 142), S. 113 ff.; vgl. die Kategorie des „polarisierten Dualismus" hinsichtlich der Parteiensysteme bei Brunner (Anm. 48), S. 349. 147 s. Schneider (Anm. 142), S. 85 ff.; i l l e g i t i m verstanden i m Sinne demokratischer Legitimität; vgl. den Terminus des „extremen Dualismus" bei Brunner (Anm. 48), S. 349, sowie den Begriff der „loyalen Opposition" bei Sternberger (Anm. 142), S. 134; bei Schneider, S. 106 ff. w i r d dieser Begriff anders verwendet. Die Anerkennung u n d Durchsetzung des Prinzips einer legalen Opposition ist eine Errungenschaft des englischen Parlaments i m 18. Jh., s. Kluxen, K u r t , Das Problem der politischen Opposition, Freiburg 1956, S. 167, 169, 207 ff. 148 Sternberger, (Anm. 142), S. 133; Gehrig (Anm. 144), S. 154; Schneider (Anm. 142), S. 117 ff.

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b j e k t der Mehrheitsentscheidung

157

fassungspolitisch b e g r i f f e n w i r d , als s i n n v o l l e r k a n n t w i r d , k a n n das die f o r m a l e F u n k t i o n d e r A l t e r n a t i v e n b i l d u n g u n t e r s t r e i c h e n . D i e b i s h e r i g e n A u s f ü h r u n g e n w e i s e n d a r a u f h i n , daß die E n t w i c k l u n g e i n e r A l t e r n a t i v e als A u f g a b e v o r a l l e m d e n O p p o s i t i o n s p a r t e i e n

zufällt 149,

w ä h r e n d die j e w e i l i g e R e g i e r u n g b e m ü h t sein m u ß , i h r e P o l i t i k d u r c h zusetzen u n d d e r Ö f f e n t l i c h k e i t gegenüber d a r z u s t e l l e n u n d ü b e r z e u gend zu begründen.

Koalitionsparteien

stehen d a n n m e i s t

vor

der

S c h w i e r i g k e i t , i h r e n E n t s c h e i d u n g s a n t e i l h e r v o r h e b e n z u müssen o h n e den Koalitionspartner zu verprellen. D i e A r t d e r A u s e i n a n d e r s e t z u n g b e e i n f l u ß t auch die A n t w o r t auf d i e Frage, i n w i e w e i t die P a r l a m e n t s w a h l e n als Sachentscheidungen des W ä h l e r s z u q u a l i f i z i e r e n sind. N u n b e i n h a l t e t die B e s t e l l u n g der A b g e o r d n e t e n m i t t e l b a r i m m e r eine Sachentscheidung i n s o f e r n , als die g e w ä h l t e n R e p r ä s e n t a n t e n e r m ä c h t i g t u n d b e a u f t r a g t sind, w ä h r e n d d e r L e g i s l a t u r p e r i o d e Sachentscheidungen v e r b i n d l i c h f ü r das gesamte G e m e i n w e s e n z u t r e f f e n , u n d sich auch danach r i c h t e n 1 5 0 . D i e S t r e i t frage u m d i e N a t u r m o d e r n e r W a h l e n 1 5 1 d r e h t sich b e i g e n a u e r e r 149 Z u r Aufgabe der A l t e r n a t i v e n b i l d u n g durch die Opposition vgl. BVerfGE 24, 300 (348); Schneider (Anm. 142), S. 154 ff.; 395 f.; Hennis , W i l h e l m , P o l i t i k als praktische Wissenschaft, München 1968, S. 121; bei Bolingbroke k o m m t diese F u n k t i o n n u r sehr schwach zum Vorschein, vgl. Kluxen (Anm. 147), S. 169, allerdings w i r d seit Bolingbroke die Notwendigkeit der Opposition nicht n u r i n speziellen Einzelfragen anerkannt, sondern das Ziel einer systematischen Opposition entworfen (system of conduct), s. Kluxen, S. 140 ff., 168; zur Alternativenbildung durch die Opposition bei Bolingbroke vgl. auch Gehrig (Anm. 143), S. 98 f.; besonders hebt diese F u n k t i o n hervor Landshut, Siegfried, Formen u n d Funktionen der parlamentarischen Opposition, i n Festschrift Alexander Rüstow, Zürich 1955, S. 214 ff. (223 ff.), vgl. jetzt auch A r t . 23 a I I 2 Hbg. Verf. 150 Vgl. die Formulierung bei Imboden (Anm. 90), S. 40, 39 ff. v o m w a h l immanenten Sachentscheid. 151 F ü r Sachentscheidung v o r allem Leibholz, Gerhard, Das Wesen der Repräsentation u n d der Gestaltwandel der Demokratie i m 20. Jahrhundert, 3. A u f l . B e r l i n 1966, S. 232 ff.; ders., Strukturprobleme der modernen Demokratie, Karlsruhe 1958, 3. A u f l . 1967, S. 108; vgl. die dahingehende Tendenz bei Sternberger (Anm. 142), S. 146 f. sowie die Hinweise bei Friesenhahn, Ernst, Parlament u n d Regierung i m modernen Staat, V V D S t R L 16 (1958), S. 9 ff. auf die Erörterung der Sachfragen i m Wahlkampf (S. 31) u n d das Regierungsprogramm (S. 48); gegen den Charakter der W a h l als Sachentscheidung Gehrig (Anm. 144), S. 155 f.; Forsthoff, Ernst, Strukturwandlungen der modernen Demokratie (Berlin 1964), S. 11, jetzt i n ders., Rechtsstaat i m Wandel, 2. A u f l . München 1976, S. 90 ff. (92 f.); Grube, K o n r a d Dieter, Die Stellung der Opposition i m Strukturwandel des Parlamentarismus, Diss. K ö l n 1965, S. 21; Sternberger, G r u n d u n d A b g r u n d der Macht (Anm. 73), S. 184 f.; Kissler, Leo, Der deutsche Bundestag, JöR N.F. 26 (1977), S. 39 ff. (57 f.); Scheuner, Ulrich, Entwicklungslinien des parlamentarischen Regierungssystems i n der Gegenwart (1969), i n Staatstheorie u n d Staatsrecht, B e r l i n 1978, S. 317 ff. (325 f.); ders., Die Parteien u n d die A u s w a h l der p o l i tischen Leitung i m demokratischen Staat, Z u r verfassungsrechtlichen Stell u n g der Parteien (1958), Staatstheorie, S. 347 ff. (354 f.); Badura, i n B K

158

I V . Die S t r u k t u r der Mehrheitsentscheidung

Nachforschung u m einen anderen Punkt: Stellt sich die Wahl der parteigebundenen Abgeordneten i n der Motivation des Wählers als Sachentscheidung dar, entscheidet er sich nach vorwiegend sachlichen Gesichtspunkten, nach Wahlversprechen und Parteiprogrammen oder steht für i h n die Person der Parlamentariers und des Regierungschefs i m Vordergrund? Und w i r d zweitens die sachliche Arbeit i m Parlament, werden Regierungspolitik und Oppositionsverhalten durch die Wahl überhaupt und gegebenenfalls weitgehend oder nur geringfügig bestimmt oder programmiert, oder muß dieser Zustand wenigstens angestrebt werden? 1 5 2 . Der Streit entzündet sich i m wesentlichen an der Rolle der Parteien i n der modernen Demokratie. Je stärker deren Bedeutung akzentuiert wird, u m so nachdrücklicher w i r d das Gewicht auf den sachentscheidenden Charakter der Wahlen gelegt. Das Problem erschließt sich allerdings nur einer differenzierten Betrachtung. „Die Entscheidung der Wähler aber ist jeweils sach- und personenbezogen zugleich. Und ebenfalls ist kaum zu bestimmen, ob die Person mehr i m Dienste der Partei oder diese vor allem i m Dienste der Person steht. Sach- oder Personalentscheidung, Persönlichkeits- oder Parteiwahl sind auf dieser Ebene untrennbar geworden, sie sind keine Gegensätze mehr. Sachfragen können vielmehr i n Personen eine Anschaulichkeit gewinnen, die sie selbst für den Wähler schon lange verloren haben 1 5 3 ." Zweifelhaft kann allein das Gewicht der beiden Momente sein, das aber zwischen den verschiedenen demokratischen Systemen und i n den einzelnen Ländern von Wahl zu Wahl variiert. I n reinen Verhältniswahlsystemen 1 5 4 m i t starker Parteienzersplitterung und i m Fall prinzipieller und stark von sachlich-methodischen Überlegungen bestimmter Opposition w i r d der sachlich-programmatische Faktor i n der Motivation der Wähler schärfer hervortreten als i n vornehmlich von den Parteiführern geprägten Wahlkampfauseinandersetzungen. Die Verfechter einer SachentscheiA r t . 38, Rdn. 39 ff. („nicht an Wahlprogrammen orientiert" Rdn. 47); Narr, W o l f Dieter / Naschold, Frieder, Theorie der Demokratie, Stuttgart 1971, S. 177 f.; i n der Analyse verneinend auch Flohr, Heiner, Parteiprogramme i n der Demokratie, Göttingen 1968, S. 58 ff.; vgl. auch Duverger (Anm. 54), S. 423 ff. 152 Das letztere ist v o r allem Flohrs Anliegen, Flohr (Anm. 151), S. 45 ff.; ähnliche I n t e n t i o n bei Achterberg, Norbert, Das rahmengebundene Mandat, B e r l i n 1975, S. 36 ff., der eine Rahmenbindung des Abgeordneten an das Parteiprogramm befürwortet. iss varain, Heinz Josef, Das Parlament i m Parteienstaat, PVS 5 (1964), S. 339 ff. (343), vgl. auch Ritter, Gerhard Α., Deutscher u n d britischer Parlamentarismus, Tübingen 1962 (Recht u n d Staat Heft 242/243), S. 36 „Sachreferendum u n d Personalplebiszit sind untrennbar miteinander v e r k n ü p f t " ; vgl. auch Emden, Cecil S., The People and the Constitution, 2 ed. London 1962, S. 238 ff. ,δ4

Vgl. auch Duverger

(Anm. 54), S. 365.

. Das

b j e k t der Mehrheitsentscheidung

159

dung erliegen weitgehend einer Betrachtungsweise, die sich auf den einzelnen Wahlkreisabgeordneten konzentiert 1 5 5 , während die Wahlentscheidung sich vorrangig auf die leitenden Persönlichkeiten richtet, die sich selbst an der Spitze von kleinen Parteien i n einer zerklüfteten Parteienlandschaft dem Bewußtsein des Wählers einzuprägen vermögen 1 5 6 . Politische Leistung i n der sachlichen Regierungsarbeit und politische Aussagen der verschiedenen Politiker gehen sicher i n das B i l d der Persönlichkeit ein 1 5 7 , dennoch w i r d der Wähler sich an dem dadurch geformten Eindruck der herausragenden Personen orientieren, der verbunden ist m i t einem allgemeinen Urteil über die Gesamtrichtung der Partei 1 5 8 , auch wenn man berücksichtigt, daß selbst die Spitzenkandidaten natürlich als Einzelne keine ausreichenden Stimmenzahlen ohne den Rückhalt der Partei, die sie führen, erlangen könnten 1 5 9 . Der Faktor der jeweiligen Persönlichkeit hängt bei den einzelnen Wahlkreiskandidaten i m übrigen auch von der Größe der Wahlkreise, dem Charakter des Wahlkampfes zwischen den Kandidaten der Parteien und der Stärke der Persönlichkeit des Einzelnen ab 1 6 0 . Nicht ganz zutreffend erscheint i n diesem Zusammenhang auch die Einschätzung der Macht der Fraktion über den einzelnen Abgeordne155 Die einzelnen Wahlkreis abgeordneten werden allerdings i n der Tat fast ausschließlich nach Parteizugehörigkeit gewählt. So bereits Forsthoff, Ernst, Z u r verfassungsrechtlichen Stellung u n d inneren Ordnung der Parteien, in: ders. / Löwenstein, K a r l / Matz, Ulrich, Die politischen Parteien i m Verfassungsrecht, Tübingen 1950, S. 5 ff. (18); empirischer Nachweis jetzt f ü r England bei Lakeman, E n i d / Lambert, James D., V o t i n g i n Democracies, London o. J., S. 37 ff. 156 M a n denke an die Republikaner Giscard d'Estaings, an die Deutsche Volkspartei Stresemanns. 157 Vgl. Badura i n B K A r t . 38, Rdn. 40 „Sachfragen sind lediglich Maßstäbe bei Wahlen". 158 s. die Formulierung bei Scheuner, Entwicklungslinien (Anm. 151), S. 325 f. Dem entsprechen i m wesentlichen auch die empirischen Untersuchungen, vgl. etwa E M N I D , Der Prozeß der Meinungsbildung dargestellt a m Beispiel der Bundestagswahl 1961, Bielefeld 1962, S. 40 ff., Kaltefleiter, Werner, Vorspiel zum Wechsel. Eine Analyse der Bundestagswahl 1976 (Verfassung u n d Verfassungswirklichkeit 11/1974), S. 195; ebd. S. 195 ff. auch zur Bewertung u n d Bekanntheit der leitenden Persönlichkeiten; zusammenfassend m w N zum Einfluß der Sachfragen (issues) auf die Wahlentscheidung jetzt Rattinger, Hans, Empirische Wahlforschung auf der Suche nach dem rationalen Wähler, ZfP 27 (1980), S. 44 ff. 159 Deswegen sind die Ergebnisse der detaillierten empirischen U n t e r suchungen über die Situation i n England über den Einfluß der leitenden Persönlichkeiten bei Butler, D a v i d / Stokes, Donald, Political Change i n Britain, 2 ed., The evolution of Electoral Choice, London 1974, S. 352 ff., daß der Einfluß der Partei überwiege, ebd. S. 362 ff. m i t Zurückhaltung zu bewerten, abgesehen v o n i h r e r Ausrichtung auf England. 160 So Duverger (Anm. 54), S. 364 f., wobei die Größe der Wahlkreise w e n i ger geographisch als v o n der Z a h l der Wähler bestimmt verstanden werden muß.

160

I V . Die S t r u k t u r der Mehrheitsentscheidung

ten. D i e B i n d u n g a n die F r a k t i o n s l i n i e b e i A b s t i m m u n g e n b e r u h t n i c h t a l l e i n a u f d e m M o m e n t d e r M a c h t , s o n d e r n i n e r h e b l i c h e m Maße a u f e i n e m G e f ü h l d e r S o l i d a r i t ä t m i t d e r P a r t e i 1 6 1 . D e r einzelne P a r l a m e n tarier berücksichtigt bei den A b s t i m m u n g e n die heute unumgängliche S p e z i a l i s i e r u n g seiner F r a k t i o n s k o l l e g e n , die die j e w e i l i g e M a t e r i e v o r bereitet haben162, u n d k a n n i m übrigen i n den Fraktionssitzungen u n d - b e r a t u n g e n v o r d e r A b s t i m m u n g seine A u f f a s s u n g i n d e n E n t s c h e i dungsprozeß e i n b r i n g e n , d e r v i e l f a c h z u v o r i n e i n e n M e h r h e i t s b e s c h l u ß d e r F r a k t i o n e i n m ü n d e n w i r d 1 6 3 , o h n e daß der A b g e o r d n e t e d a d u r c h unvermeidlich zu einer bestimmten Stimmabgabe gezwungen w i r d 1 6 4 . I n P a r l a m e n t e n , i n d e n e n die sachlich-politische A u s s c h u ß a r b e i t d o m i niert, verfügt die Selbständigkeit der Abgeordneten i m Vergleich z u m englischen P a r l a m e n t ü b e r e i n e n w e i t e n S p i e l r a u m 1 6 5 . A b z u l e h n e n ist auch die A n s i c h t , daß d i e W a h l R e g i e r u n g u n d O p p o s i t i o n i n d e m S i n n b i n d e , daß die P a r t e i e n n u r eine P o l i t i k b e t r e i b e n d ü r f e n , die i h r e n z u r W a h l v o r g e l e g t e n P r o g r a m m e n v ö l l i g e n t s p r i c h t 1 6 6 . Das hieße d e n P a r 181 Die Solidarität hebt zu Recht Scheuner, Entwicklungslinien (Anm. 151), S. 326 hervor. 162 vgl Löwenberg, Gerhard, Parlamentarismus i m politischen System der Bundesrepublik Deutschland, Tübingen 1969, S. 420 „Auffassung der Experten ist allgemein maßgebend", s. auch Badura i n B K A r t . 38, Rdn. 79. 163 v g l . Laun, Rudolf, Mehrheitsprinzip, Fraktionszwang u n d Zweiparteiensystem, i n Gedächtnisschrift Walter Jellinek, München 1955, S. 175 ff. (183 f.), der die Gefahren des Mehrheitsprinzips i n der doppelten A n w e n d u n g F r a k tion-Parlament aber überzeichnet. 184

Vgl. Scheuner, Entwicklungslinien (Anm. 149), S. 326. Das gelegentlich abweichende Stimmverhalten verschiedener Abgeordneter legt dafür ein beredtes Zeugnis ab; i n den USA liegt die Parteisolidar i t ä t bei den Demokraten bei 63,1 °/o u n d bei den Republikanern bei 66,3 % ; Löwenstein, K a r l , Über die parlamentarische Parteidisziplin i m Ausland, i n Forsthoff, E. / ders. / Matz, U., Die Politischen Parteien i m Verfassungsrecht, Tübingen 1950, S. 25 ff. (29); i n England liegt die Fraktionsdisziplin sehr v i e l höher; ebd. S. 31 ff., während sie i n der franz. I V . Republik sehr l a b i l war, ebd. S. 37 ff.; zur relativ hohen Fraktionsdisziplin i n der Weimarer Republik u n d den Anfängen der Bundesrepublik Markmann, Heinz, Das Abstimmungsverhalten der Parteifraktionen i n deutschen Parlamenten, Meisenheim 1955, Indices S. 24 f., zusammenfassend S. 74 f., 134. 188 Insoweit überzeugen die modellhaften Ausführungen Flohrs (Anm. 151), S. 45 ff. u n d Achterbergs (Anm. 152), S. 36 ff. nicht; die englische Mandatstheorie (dazu s. Hennis (Anm. 149), S. 52 f.; Badura, i n B K A r t . 38, Rdn. 45; Birch, A n t h o n y Harold, Representative and Responsible Government, L o n don 1964, S. 115 ff. s. auch Löwenstein, K a r l , Staatsrecht u n d Staatspraxis v o n Großbritannien, B e r l i n 1967, Bd. I, S. 47 f.; Wade, E. C. S. / Bradley, Α . W., Constitutional Law, 7. A u f l . London 1965, S. 124) enthält eine gewisse B i n d u n g höchstens i n herausragenden Einzelfragen, die i m Wahlkampf besonderes Gewicht erhalten, fordert aber keine generelle exakte Ausrichtung der politischen F ü h r u n g am Parteiprogramm, s. Emden (Anm. 153), S. 302 ff.; die Regierungen Großbritanniens haben sich deshalb v o n Bindungen w e i t gehend frei gefühlt, Birch, S. 117. Für eine Übertragung der theory of m a n date auf die deutsche Situation plädiert Oppermann, Thomas, Das Parlamentarische Regierungssystem des Grundgesetzes, Anlage-Erfahrung-Zukunfts185

. Das

b j e k t der Mehrheitsentscheidung

161

lamentariern Ketten anlegen, die einerseits flexible Reaktionen auf ständig neu auftretende Probleme verhinderten, und andererseits den permanenten fruchtbaren Auseinandersetzungen mit anderen gesellschaftlichen Gruppen, Sachverständigen aus Bürokratie und Wissenschaft und der öffentlichen Meinung weitgehend die Grundlage entziehen würden, dadurch daß die Möglichkeiten der Einflußnahme und Änderung der politischen Entscheidungen beschnitten würden, und außerdem die Kompromißfähigkeit auch der Parteien untereinander einschränken müßten. Ohne die Vorstellung von einem von Vertrauen getragenen offenen Auftrag, einem trust, ist die moderne Demokratie nicht funktionsfähig und der Vielfalt der Probleme nicht gewachsen 167 . Jede Form des imperativen Mandats würde auch „die Verantwortung auflösen" 1 6 8 . Das bedingt allerdings ein stark persönliches Element der Wahl. Abschließend bleibt noch festzuhalten, daß sich auch das umgekehrte Phänomen beobachten läßt, daß nämlich vordergründig Sachentscheidungen betreffende Abstimmungen gleichzeitig darauf angelegt sein können, personelle Angelegenheiten zu entscheiden. I n dieser Hinsicht können Abstimmungsniederlagen i n sachlichen politischen Fragen den Sturz einer Regierung bewirken 1 6 9 und Volksabstimmungen dazu dieeignung, V V D S t R L 33 (1975), S. 8 ff. (53 f.); solange außerdem der einzelne Abgeordnete die F r a k t i o n wechseln kann, ist eine derartige B i n d u n g auch widersprüchlich. Z u dieser Möglichkeit s. n u r Säcker, Horst, Abgeordnetenmandat u n d Fraktionswechsel, ZParl. 3 (1972), S. 347 ff. 167 A n v e r t r a u u n g schafft eben nicht einfach unkontrollierte Macht; so aber Flohr (Anm. 151), S. 30; ebd. S. 24 ff. zur K r i t i k am Gedanken des trust. Eine Bindung durch Vertrauen setzt allerdings Verantwortung voraus. Schließlich w i r d der " t r u s t " auch durch zahlreiche Kontrollmechanismen i n westlichen Demokratien institutionell abgesichert. Z u m trust vgl. Sternberger, Grund u n d A b g r u n d (Anm. 151), S. 184 f.; Scheuner, Ulrich, Das repräsentative Prinzip i n der modernen Demokratie (1961), i n Staatstheorie (Anm. 151), S. 245 ff. (254 f.); ders., Entwicklungslinien (Anm. 151), S. 326 f.; ders., Die Parteien (Anm. 151), S. 354 f.; Hennis (Anm. 150), S. 51 ff.; zum trust bei Locke s. Gough, J. W., J o h n Lockes Political Philosophy, Oxford 1950 (Rep r i n t 1956), S. 136 ff.; Seliger, M a r t i n , The Liberal Politics of John Locke, London 1968, S. 356 ff.; vgl. zur Entstehung auch Gralher, M a r t i n , Demokratie u n d Repräsentation i n der Englischen Revolution, Meisenheim 1973, S. 53 ff.; Tuck, Richard, Natural Rights Theories, Cambridge u . a . 1979, S. 146 ff. Gerade auch zur Bewältigung der komplexen Fragen ist Vertrauen als Möglichkeit der Reduktion v o n K o m p l e x i t ä t unbedingt erforderlich. Dabei läßt sich das Systemvertrauen i n — legitime — politische Macht m i t K o n trollen vereinbaren; s. Luhmann, Niklas, Vertrauen, 2. A u f l . Stuttgart 1973, S. 58 ff.; i n den USA w a r das Vertrauen i n die Regierung v o r allem aufgrund des Vietnamkrieges stark geschwunden; s. Miller, A r t h u r H., Political Issues and Trust i n Government 1964 - 1970, APSR 68 (1974), S. 951 ff. (958 ff.), wobei generell bei Schwarzen ein geringeres Vertrauen feststellbar ist, ebd. S. 954 ff. 168 Scheuner, Ulrich, Das imperative Mandat i n Staat u n d Gemeinde. Eine kritische Untersuchung, Festschrift Hans Peter Ipsen, Tübingen 1977, S. 143 ff. (157, 159 ff.). 169 s. oben I V , B, 2, a.

i l Heun

162

I V . Die S t r u k t u r der Mehrheitsentscheidung

nen, Vertrauen für die politische Führung zu mobilisieren und durch diese Legitimierung zusätzlichen Rückhalt zu geben 1 7 0 .

C. Das Verfahren 1. Die Notwendigkeit einer Verfahrensordnung:

Eine Mehrheitsentscheidung kann nur i n einer geordneten Form 1 ergehen. Das erfordert eine genaue Regelung des Verfahrens, die u m so notwendiger wird, je größer die Zahl der Entscheidenden und je komplexer die Entscheidung ist. Jedem aktiv und passiv Beteiligten muß der Kreis der Stimmberechtigten klar erkennbar sein, schon u m seinen möglichen A n t e i l an der Entscheidung einschätzen zu können, aber vor allem, u m zu wissen, ob er selbst sich an der Entscheidung beteiligen kann. Das setzt die objektive Bestimmbarkeit des Umfangs des Zahlenganzen wie seiner individuellen Zusammensetzung voraus 2 . Der jeweiOrt und Zeitpunkt der Abstimmung oder Wahl müssen festgelegt sein. Auch der Gegenstand der Mehrheitsentscheidung muß exakt bestimmt und den Beteiligten zur Kenntnis gebracht werden. Die Vielfalt der Mehrheitsarten bedingt, daß das jeweilige Stimmenverhältnis, das zur Entscheidung notwendig ist, genau bestimmbar und den Abstimmenden bekannt ist. Es kann darüber hinaus erforderlich sein, noch weitere Modalitäten der Abstimmung i m voraus festzulegen. Das bet r i f f t etwa die A r t der Stimmabgabe oder den Zeitpunkt und die Form der Bekanntgabe des Gegenstandes der Mehrheitsentscheidung 3 . Obwohl die Bedingung eines geordneten Verfahrens als höchst t r i v i a l erscheint, ist die eminente Bedeutung einer Verfahrensregelung evident. Ohne sie könnte keine Mehrheitsentscheidung getroffen werden, formlos kann allein die Entscheidung eines Einzelnen gefällt werden. Objektive Festsetzung und die Vermittlung der subjektiven Kenntnis der Beteiligten sind die Funktionen dieser Regelungen, ohne deren 170 Vgl. insbesondere die Referenden des Gaulles (dazu s. o. A n m . 110) u n d die nicht demokratischen Volksabstimmungen unter H i t l e r , dazu Berger (Anm. 79), S. 94 ff. 1 s. Höpker, Heinrich, Grundlagen, E n t w i c k l u n g u n d Problematik des Mehrheitsprinzips u n d seine Stellung i n der Demokratie, Diss. K ö l n 1957, S. 106; Varain, Heinz Josef, Die Bedeutung des Mehrheitsprinzips i m Rahmen unserer politischen Ordnung, ZfP 11 (1964), S. 239 ff. (244); Eschenburg, Theodor, Der Mechanismus der Mehrheitsentscheidung, München 1970, S. 11. 2 Dem dienen etwa die Normierung der Wahlvoraussetzungen u n d die Registrierung der Wähler. 3 Vgl. i n diesem Zusammenhang die Ladungsvorschriften für die Gemeindevertretungen; für alle: A r t . 45 i V m 47 I I , I I I BayGO.

C. Das Verfahren

163

Erfüllung eine Teilnahme an Entscheidungen nicht denkbar ist. Deshalb kann das Mehrheitsprinzip sich erst dann w i r k l i c h durchsetzen 4 , wenn ein geordnetes, festes Verfahren, das generelle Gültigkeit besitzt, eine unproblematische Anwendung gestattet und die Mehrheitsregel nicht nur gelegentlich i m Einzelfall ad hoc vereinbart wird. I n diesen technischen Aspekten kommt deutlich zum Ausdruck, daß das Mehrheitsprinzip zuerst ein bloßes Verfahren 5 ist, das erst i n den demokratischen Staatswesen eine weiterreichende Bedeutung gewinnt. Die Grundzüge einer Verfahrensregelung enthält auch meist der Grundkonsens. 2. Formales Vorverfahren

Außer der Notwendigkeit einer Reduzierung der Alternativen unter der Gewährleistung hinreichender Komplexität, die überwiegend von den Parteien vorgenommen wird®, bedarf die Mehrheitsentscheidung einer Vorbereitung durch eine A r t formales Vorverfahren, das u m so aufwendiger ausfallen muß, je größer die Zahl der Beteiligten ist. Die Durchführung von Abstimmungen i m Parlament ist deshalb einfacher als die Abhaltung der Volksabstimmungen und allgemeinen Wahlen. I m Parlament sind die wichtigsten Verfahrensschritte, die zur Vorbereitung der Abstimmung zählen, die Einberufung 7 oder die Festsetzung und schlichte Mitteilung des Sitzungstages 8 und die Bestimmung einer Tagesordnung 9 . Manchmal muß die Beschlußfähigkeit festgestellt werden 1 0 , während die formale Fragestellung durch den Präsidenten oder Speaker 11 obligatorisch ist. Sie beschränkt sich aber naturgemäß auf diesen formalen A k t . Sind i n der Versammlung verschiedene A b stimmungsarten vorgesehen, muß, wenn von der üblichen Methode abgewichen wird, noch ausdrücklich verkündet werden, auf welche Weise abgestimmt werden soll 1 2 . Erst i m Anschluß an diese Schritte kann nach dem Mehrheitsprinzip entschieden werden. 4 Gerade daran scheiterte v o r allem die Durchsetzung des Mehrheitsprinzips i m Deutschen Reichstag des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation, s. Schiaich, Klaus, Maioritas-protestatio-itio i n partes-corpus Evangelicorum. Das Verfahren i m Reichstag des H l . Römischen Reiches Deutscher Nation nach der Reformation, Z R G 94 (1977) Kan. A b t . 63, S. 264 ff. (280 ff.). 5 s. A n m . 2, Einleitung. β Vgl. zum ganzen I V , Β , 1. 7 Vgl. § 21 GeschOBT; Achterberg, Norbert, Die parlamentarische V e r handlung, B e r l i n 1979, S. 58 ff. 8 § 20 I GeschOBT, vgl. Achterberg (Anm. 7), S. 59. 9 § 20 GeschOBT, s. Achterberg (Anm. 7), S. 62 ff. 10 § 45 GeschOBT, vgl. Achterberg (Anm. 7), S. 97 ff. 11 § 46 GeschOBT, vgl. Achterberg (Anm. 7), S. 102 ff. 12 Dazu vgl. u n t e n I V , C, 5.

11*

164

I V . Die S t r u k t u r der Mehrheitsentscheidung

Weit umfangreicher sind die Vorbereitungen bei allgemeinen Wahlen. Der Wahltag 1 8 muß bestimmt werden, und dann müssen eingehende organisatorische Maßnahmen getroffen werden, die einen ordnungsgemäßen Ablauf des Wahlverfahrens sichern sollen. Es müssen die Wahlorgane bestellt 1 4 , die Wählerlisten erstellt 1 5 und dementsprechend die Benachrichtigungen und Wahlscheine verschickt werden 1 6 . Bevor die einzelnen Wahlvorschläge eingereicht und geprüft werden 1 7 , müssen die Kandidaten förmlich aufgestellt 18 und die Bewerber sowie die Bewerberlisten endgültig zugelassen werden 1 9 . Die Wahllokale müssen i n einer solchen Weise eingerichtet werden, daß Freiheit und Geheimheit der Wahl gewahrt sind 2 0 . Schließlich müssen die Wahlzettel gedruckt und bereitgehalten werden 2 1 . I n verschiedenen Demokratien w i r d zusätzlich die Möglichkeit zur Briefwahl gewährt 2 2 , die ebenfalls vorbereitet werden muß. Die bloße Aufzählung der einzelnen Verfahrensschritte w i r d noch eindrucksvoller, wenn man sich vergegenwärtigt, daß diese Vorgänge sich i n jedem Wahlbezirk abspielen müssen. Volksabstimmungen bedürfen i m wesentlichen entsprechender Vorkehrungen. Statt der Wahlvorschläge und Kandidatenlisten müssen sachliche Fragen vorgelegt werden, die allerdings einheitlich für das gesamte Abstimmungsgebiet gelten. Andererseits ist das Einleitungsverfahren i m Fall eines Volksbegehrens noch besonders herausgehoben 23 . Diese formalen Vorbereitungshandlungen als Voraussetzung jeglicher geordneter Abstimmung begründen über die Bedeutung bei der Auswahl und Erstellung der Alternativen hinaus die hervorragende Stellung der jeweiligen Leitungsgremien, deren Gewicht proportional zur Größe der Versammlung wächst 24 . Der Einfluß der Leitung einer solchen Versammlung w i r k t sich nicht zuletzt auch bei der Führung der einer Abstimmung vorausgehenden Diskussion aus. Von dem Geschick des Moderators einer schweizerischen Gemeindeversammlung hängen Mäßigung der Auseinandersetzungen und Ausgang einer Entscheidung 13

s. § 16 BWahlG. § 9 BWahlG. 15 § 17 I BWahlG. 16 § 17 I I BWahlG. 17 § 19 BWahlG. 18 § 21 BWahlG. 19 § 26, 28 BWahlG. 20 Vgl. unten I V , C, 4. 21 § 30 BWahlG. 22 Vgl. § 17 I I , 36 BWahlG. 23 Dazu näher oben I V , B, 2, a. 24 V i e l stärker machte sich diese Machtstellung i n den antiken Volksversammlungen bemerkbar, vgl. oben I I . 14

C. Das Verfahren

165

i n erheblichem Maße ab 2 5 . Je größer die versammelte Gruppe ist, desto leichter läßt sie sich sogar durch eine bewegliche Führung lenken. 3. Gleichzeitigkeit des Abstimmungsvorgangs

Es ist eine Besonderheit dieses Entscheidungsverfahrens, daß die Mehrheitsentscheidung gleichzeitig von allen Beteiligten getroffen werden muß 2 6 . Aufgrund der Tatsache, daß Meinungen und Ansichten einem ständigen Wandel unterworfen sind und sich i m Fluß befinden, kann eine Abstimmung nach dem Mehrheitsprinzip nicht über einen längeren Zeitraum erstreckt werden. Andernfalls ist es durchaus möglich, daß zu dem Zeitpunkt, i n dem die Mehrheit der Stimmen erreicht wird, die Entscheidung einiger Beteiligter, die bereits zu dieser Mehrheit beigetragen haben, anders als zuvor lauten würde, da etwa die Verhältnisse sich geändert haben oder andere Argumente nunmehr überzeugender wirken. Daher muß ein längeres Verfahren der Meinungsbildung, der Beratung und allgemeinen Aussprache der endgültigen Mehrheitsentscheidung vorausgehen. Die jeweilige Mehrheitsentscheidung kann immer nur den Abschluß eines Prozesses der Entscheidungsfindung bilden, steht dann aber sozusagen unverrückbar fest. Ihre Änderung verlangt, soweit sie überhaupt möglich ist, einen ausdrücklichen, neuen Entscheid, der wiederum durch gleichzeitigen Mehrheitsbeschluß ergehen muß. Diese nicht unerhebliche Starrheit der Mehrheitsentscheidung, die durch das Offenhalten für eine Änderung durch Mehrheit nur abgeschwächt werden kann, setzt der Flexibilität und Anpassungsfähigkeit dieses Entscheidungsverfahrens Grenzen. Auch 2 7 deswegen ist es sinnvoll und notwendig, daß Mehrheitsentscheidungen i n vielen Angelegenheiten einen umgrenzten Spielraum lassen, den flexiblere Institutionen und Entscheidungsträger ausnutzen können 2 8 . 25 Vgl. dazu Friedrich, Carl Joachim, Demokratie als Herrschafts- u n d Lebensform, Heidelberg 1959, S. 57 f. 26 Ausdrücklich weist darauf h i n Schindler, Dietrich, Über die B i l d u n g des Staatswillens i n der Demokratie, Zürich 1921, S. 86 f.; sonst w i r d dies offensichtlich stillschweigend angenommen. Schindler, ebd., hebt hervor, daß i n folge der Gleichzeitigkeit jeder erwarten kann, zur Mehrheit zu gehören, u n d deshalb eine höhere Stimmbeteiligung gefördert w i r d . I n der Tat liegt i n der Gleichzeitigkeit ein Moment der Offenheit des Ausgangs der Mehrheitsentscheidung beschlossen; vgl. auch bereits Bentham, Jeremy, Essay on Political Tactics, c 25; frz. i n Oeuvres, 3. ed. Brüssel 1840, Bd. I , S. 343 ff. (399). 27 Noch entscheidender sind die Begrenzungen der Mehrheitsentscheidung, die aus den geringen Möglichkeiten resultieren, andauernd Abstimmungen abzuhalten, oder anders v o n der Vielzahl notwendiger Entscheidungen herrühren. 28 Vgl. Naschold, Frieder, Organisation u n d Demokratie, Stuttgart 1969, S. 56, der generell zwischen simultanen u n d sequenzhaften Informationsprozessen unterscheidet.

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I V . Die S t r u k t u r der Mehrheitsentscheidung

Unter dem Gesichtswinkel der Gleichzeitigkeit ist die Möglichkeit der Briefwahl etwas problematisch, da die Stimme bereits einige Zeit vor dem eigentlichen Wahltermin abgegeben werden kann und ζ. T. sogar muß, u m ihren Zweck, an der Wahl verhinderten Personen die Ausübung ihres Wahlrechts zu ermöglichen erfüllen zu können. Allerdings w i r d der Zeitraum, i n dem eine Briefwahl zulässig ist, so eng gehalten, daß das Ergebnis der Abstimmung nicht verfälscht wird, abgesehen davon, daß die Briefwahl die Ausnahme bleiben muß und nicht die Regel werden darf. Trotz steigender Tendenz 29 wählt nur eine geringe Anzahl der Wahlberechtigten i n dieser Form. Zu Recht w i r d insofern dem Gedanken der Wahlbeteiligung Vorrang vor diesen Bedenken 80 eingeräumt. 4. Freiheit und Geheimheit der Abstimmungen und Wahlen

Wenn die Mehrheitsentscheidung als wirkliche Entscheidung angesehen werden soll, muß gesichert sein, daß die Abstimmenden ihren Willen tatsächlich ohne Einschränkung äußern können. Deshalb ist der Grundsatz der freien Wahl bei allgemeinen Wahlen m i t dem Durchbruch des Mehrheitsprinzips i n der amerikanischen und der französischen Revolution eng verbunden 3 1 . Nach heute praktisch übereinstimmender Auffassung erfordert der Begriff der freien Wahl, daß der Stimmberechtigte seinen wirklichen Willen unverfälscht zum Ausdruck bringen und deswegen sein Wahlrecht ohne Zwang oder eine sonstige unzulässige Beeinflussung von außen ausüben kann 3 2 . Das Prinzip verbietet jegliche Druckausübung durch die Öffentliche Gewalt wie durch private Mächte, etwa wirtschaftliche und gesellschaftliche Gruppen 3 3 . 29 Vgl. Seifert, Karl-Heinz, Bundeswahlrecht, 3. A u f l . München 1976, § 36 BWahlG, Rdn. 1, S. 228. 30 Z u anderen Bedenken, insbesondere hinsichtlich des Grundsatzes der Geheimheit der W a h l s. Maunz, i n Maunz / D ü r i g / Herzog / Scholz, A r t . 38, Rdn. 54; Seifert (Anm. 29), A r t . 38, Rdn. 37, S. 62 f. m w N ; vgl. auch BVerfGE 21, 200 (204 ff.). 31 Vgl. die frz. Verfassung v. 1791, t i t r e I I I , art. I I I , sowie die Declaration of Rights of V i r g i n i a sect. 6; zur geschichtlichen E n t w i c k l u n g des G r u n d satzes der Freiheit, Heyl, A r n u l f von, Wahlfreiheit u n d Wahlprüfung, B e r l i n 1975, S. 46 ff.; Jacobi, E r w i n , Z u m geheimen Stimmrecht, i n Gedächtnisschrift W a l t e r Jellinek, München 1955, S. 141 ff. (141 ff.). 32 s. Seifert (Anm. 29), A r t . 38, Rdn. 14, S. 47 m w N ; vgl. auch BVerfGE 7, 63 (69). 33 s. Seifert (Anm. 29), A r t . 38, Rdn. 14, S. 47 m w N ; für die W R V s. Anschütz, Gerhard, Die Verfassung des Deutschen Reiches, Kommentar, 14. A u f l . 1933 (Nachdruck Darmstadt 1960), A r t . 125, Rdn. 3; der Wähler darf weder eingeschüchtert, noch dürfen i h m Nachteile angedroht u n d zugefügt werden. Die Abgrenzung zu übersteigerter Wahlpropaganda k a n n i n diesem Z u sammenhang bedeutsam werden, vgl. Maunz t i n Maunz / D ü r i g / Herzog / Scholz, A r t . 38, Rdn. 47. Vgl. auch B V e r w G E 18, S. 14 ff. O V G Münster JZ 1962, S. 767 ff. (Hirtenbrief).

C. Das Verfahren

167

Der öffentliche oder gesellschaftliche unerlaubte Druck darf sich auch nicht gegen geschlossene Gruppen oder Minderheiten richten, da dieser auf den Einzelnen und dessen Entscheidungsfreiheit durchschlägt. Zulässig ist dagegen die Einführung einer gesetzlichen Wahlpflicht, da sie die Entscheidung selbst insofern offenläßt, als allein die Stimmabgabe, die Teilnahme an der Mehrheitsentscheidung vorgeschrieben w i r d 8 4 . Diese Grundsätze gelten naturgemäß i n gleicher Weise für Volksabstimmungen, obgleich sie für Wahlen entwickelt worden sind 3 5 . I m Bereich der allgemeinen Wahlen folgt daraus auch der Grundsatz der unmittelbaren Wahl 3 6 , da auf diese Weise denkbare Manipulationen der Wahlmänner von vornherein ausgeschlossen sind. Jedenfalls würden Wahlmänner der Mehrheitsentscheidung der Wähler teilweise den Entscheidungscharakter nehmen. Die Bedeutung des Grundsatzes der Freiheit der Wahlen und A b stimmungen strahlt auch auf deren Gegenstände aus, auf die Objektseite der Mehrheitsentscheidung, ohne deren Berücksichtigung die Abstimmung keine Entscheidung mehr darstellen würde. Das impliziert notwendig eine Auswahlmöglichkeit zwischen mehreren Alternativen 3 7 sowie die ungehinderte Chance jeder Alternative 3 8 , zur Entscheidung gestellt zu werden und Eingang i n den Entscheidungsprozeß zu finden. Unvereinbar ist m i t dem Mehrheitsprinzip deswegen vor allem die Monopolisierung der Vorschlagsrechte i n der Hand einer Partei, die das beherrschende Kennzeichen nicht-kompetitiver 3 9 Systeme ist, das 34 Z u Bedenken gegen die Wahlpflicht unter diesem Aspekt s. Seifert (Anm. 29), A r t . 38, Rdn. 15, S. 48; vgl. auch Lang, Gerhard, Das Problem der W a h l u n d Stimmpflicht, seine Lösung i m geltenden Recht der europäischen Staaten u n d seine Grundlagen i n der Bundesrepublik Deutschland, Diss. Freiburg 1962, S. 17 f., 248 ff. 35 Vgl. Fuss, Ernst-Werner, Die Nichtigerklärung der Volksbefragungsgesetze v o n Hamburg u n d Bremen, AöR 83 (1958), S. 383 ff. (395, 397); Α n schütz (Anm. 33), A r t . 125, Rdn. 4, 7. 86 Heyl (Anm. 31), S. 178; Maunz, i n Maunz / D ü r i g / Herzog / Scholz, A r t . 38, Rdn. 64; faktisch ist u n t e r dem Aspekt der Freiheit der W a h l das W a h l männerverfahren i n den USA bei den Präsidentschaftswahlen unmittelbaren Wahlen gleichgestellt, da die Wahlmänner nicht rechtlich, aber politisch an den A u f t r a g der Wähler gebunden sind, vgl. auch zur U n m i t t e l b a r k e i t BVerfGE 7, 63 (68 f.). 87 Z u den faktischen, praktisch unumgänglichen Einschränkungen s. oben I V , B. 38 Die allerdings sich i m Rahmen der Verfassung bewegen muß, w e n n sie i h n auch ausschöpfen kann, u m die Bedingung der L e g i t i m i t ä t einzuhalten, vgl. Einleitung u n d V. 39 Das sind v o r allem die totalitären Systeme, aber auch verschiedene autoritäre Diktaturen, während die semi-kompetitiven Systeme sich durch einen gewissen Bewegungsspielraum auszeichnen, der hinsichtlich des G r u n d satzes der Freiheit verschiedene Einschränkungen erfährt, so daß n u r eine „gemäßigte" Opposition sich halten kann.

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I V . Die S t r u k t u r der Mehrheitsentscheidung

von Beeinträchtigungen der Wahlfreiheit des Einzelnen bei der Stimmabgabe begleitet wird. A l l e i n diese beiden Merkmale würdigen eine Wahl oder Abstimmung zur Farce herab. Trotz aller Bedenklichkeit widerspricht die Beschränkung des Wahlvorschlagsrechts auf den Kreis der organisierten Parteien jedenfalls dann nicht dem Mehrheitsprinzip, wenn ihre Gründung und Bewegungsfreiheit nicht über leicht erfüllbare formale Voraussetzungen hinaus erschwert w i r d 4 0 . I n den Parlamenten spielt der Gedanke der Entscheidungsfreiheit angesichts der Verantwortlichkeit gegenüber der Wählerschaft eine differenzierte Rolle, obwohl der Grundsatz sich i n der Gestalt des freien Mandats, das durch das m i t dem Aufkommen der Parteien verbundene Moment der Fraktionsdisziplin und Fraktionssolidarität vielfältig modifiziert wird, i n den modernen Demokratien durchgesetzt hat 4 1 . Gemeinwohl, politischer Auftrag und öffentliche Kontrolle binden den Abgeordneten hier i n den Rahmen der Verfassung ein. Eine der Freiheit der Wahl und Abstimmung dienende Funktion erfüllt das Prinzip der Geheimheit 42 . Damit w i r d i n allgemeinen Wahlen und Volksabstimmungen jede offene, anderen erkennbare Stimmabgabe 43 als Abstimmungsform untersagt, indem verlangt wird, daß jeder Stimmberechtigte sein Stimmrecht auf eine Weise ausüben kann, die 40 E i n m a l abgesehen v o n den faktischen Monopolen der Parteien. E i n gesetzliches Monopol besteht insbes. i n Finnland, vgl. Herman , Valentine, Parliaments of the World, B e r l i n u. a. 1976, S. 71 ff., die herrschende Auffassung i n der Bundesrepublik h ä l t ein solches gesetzliches Monopol f ü r v e r fassungswidrig, s. Seifert (Anm. 29), A r t . 38, Rdn. 16, S. 48 f. m w N . 41 Vgl. dazu Müller, Christoph, Das imperative u n d freie Mandat, Leiden 1966; Scheuner, Ulrich, Das imperative Mandat i n Staat u n d Gemeinde — Eine kritische Untersuchung, i n Festschrift Hans Peter Ipsen, Tübingen 1977, S. 143 ff.; Achterberg, Norbert, Das rahmengebundene Mandat, B e r l i n 1975, S. 16 ff. zum Begriff des freien Mandats. 42 Seifert (Anm. 29), A r t . 38, Rdn. 33, S. 60; Maunz, i n Maunz / D ü r i g / H e r zog / Scholz, A r t . 38, Rdn. 54; vgl. auch Jacobi (Anm. 31), S. 142; zum Zusammenhang v o n Freiheit u n d Geheimheit ausführlich Heyl (Anm. 31), S. 183 ff.; zur geschichtlichen E n t w i c k l u n g seit Ende des 18. Jh. s. Jacobi, S. 142 ff. Z u r Geltung dieses Prinzips i n den italienischen Stadtstaaten der Renaissance s. Moulin, Léo, Les origines religieuses des techniques éléctorales et déliberatives modernes, Revue Internationale d'Histoire politique et constitutionnelle, Nouv. Série, Bd. I I I , Paris 1953, S. 106 ff. (113 f.); i n den kirchlichen Wahlen hat sich der Grundsatz endgültig erst auf dem K o n z i l v o n Trient (1545 - 1563) durchgesetzt, Moulin, S. 136. 43 Während Rousseau, die offene Stimmabgabe noch für die unverdorbene, eigentlich demokratische Stimmweise hielt, Contrat Social I I I , 4 u. 15, dazu Jacobi (Anm. 31), S. 142 f.; aus anderen Gründen folgt Schmitt, Carl, V e r fassungslehre, München u. a. 1928 (Nachdruck B e r l i n 1954), S. 280 f., Rousseau: „Eine Zusammenzählung dessen, was Privatleute p r i v a t i m (nämlich i n geheimer A b s t i m m u n g d. Verf.) meinen, ergibt weder eine echte öffentliche M e i n u n g noch eine echte politische Entscheidung":; vgl. auch ders., Volksentscheid u n d Volksbegehren, Leipzig u. a. 1927, S. 33 ff.

C. Das Verfahren

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jeder anderen Person eine Kenntnisnahme der konkreten individuellen Entscheidung unmöglich macht 4 4 . Entsprechend dem Grundsatz der Freiheit der Entscheidung und damit die innere Verbindung aufzeigend, richtet sich die Geheimheit gegen die öffentliche Gewalt wie gegen Privatpersonen 45 . Die Stimme muß unbeobachtet von Dritten abgegeben werden können 4 6 . Zu diesem Zweck müssen die die A l t e r nativen vollständig aufführenden Stimmzettel verdeckt sein, die Wahlurnen entsprechend gesichert werden und geschützte Wahlkabinen oder Wahlzellen zur Verfügung stehen 47 . I n scheinbarem Widerspruch w i r d die geheime Stimmabgabe durch die Öffentlichkeit des Verfahrens garantiert 4 8 insofern, als nur i n aller Öffentlichkeit die Einhaltung des Grundsatzes überprüft und deshalb geschützt werden kann 4 9 . Aufgrund der möglichen Auswirkungen 5 0 einer offenen Stimmabgabe auf die anderen Wähler, wegen der möglichen Beeinflussung und Beeinträchtigung der freien Entscheidung der übrigen Abstimmenden, muß i n dem jeweiligen Abstimmungslokal auch dafür gesorgt werden, daß die Abstimmenden nicht selbst dem Prinzip der Geheimheit zuwiderhandeln, indem sie ihre Entscheidung laut kundtun 5 1 , ohne es dem Einzelnen zu verschließen, außerhalb des geschützten Ortes über seine Entscheidung Auskunft zu geben 52 . I n den Parlamenten beansprucht der Grundsatz nicht die gleiche Geltung. Das Abstimmungsgeheimnis steht hier i n einem gewissen Spannungsverhältnis zwischen der Sicherung des freien Mandats und dem Gesichtspunkt, daß für die Öffentlichkeit die Entscheidungen der A b 44

Seifert (Anm. 29), A r t . 38, Rdn. 33 f., S. 60 f. Maunz, i n Maunz / D ü r i g / Herzog / Scholz, A r t . 38, Rdn. 54. 46 Das Prinzip g i l t selbstverständlich gleichermaßen für den Nicht-Wähler, der sich der Stimme oder der Stimmabgabe enthält; auch diese Entscheidung muß geheim bleiben; Seifert (Anm. 29), A r t . 38, Rdn. 38, S. 63; Maunz, i n Maunz / D ü r i g / Herzog / Scholz, A r t . 38, Rdn. 54. 47 E i n besonderes Verfahren m i t Lochkarten u n d Computern, das die Geheimhaltung besonders schützt, hat Schweden entwickelt, s. Nohlen, Dieter, Wahlsysteme der Welt, München 1978, S. 45. 48 Vgl. Seifert (Anm. 29), A r t . 38, Rdn. 35, S. 61. 49 Insoweit ist die Β rief w ä h l gewissen Bedenken ausgesetzt, s. Maunz, i n Maunz / D ü r i g / Herzog / Scholz, A r t . 38, Rdn. 54; Seifert (Anm. 29), A r t . 38, Rdn. 37, S. 62 f. m w N ; das Bundesverfassungsgericht hat die B r i e f w a h l unter den Aspekten der Wahlfreiheit u n d des Wahlgeheimnisses für verfassungsmäßig gehalten, BVerfGE 21, 200 (204 ff.). 60 s. Seifert (Anm. 29), A r t . 38, Rdn. 36, S. 62 m w N . 61 s. Seifert (Anm. 29), A r t . 38, Rdn. 36, S. 62; Jacobi (Anm. 31), S. 147. 52 s. Seifert (Anm. 29), A r t . 38, Rdn. 36, S. 62; Maunz, i n M a u n z / D ü r i g / Herzog / Scholz, A r t . 38, Rdn. 54. Mittelbare W i r k u n g entfaltet der Grundsatz für die Wahlvorschläge insofern, als zu hohe Unterschriftenquoren als unzulässig betrachtet werden müssen, s. Seifert, A r t . 38, Rdn. 35, S. 61 f. m w N ; u. v o r allem BVerfGE 4, 375; 5, 77. 45

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I V . Die S t r u k t u r der Mehrheitsentscheidung

geordneten wegen ihres Vertrauensauftrages und ihrer Verantwortlichkeit gegenüber der Wählerschaft überprüfbar und kontrollierbar bleiben müssen und sich nicht unter dem Mantel der Geheimheit vollziehen dürfen 5 3 . Deshalb finden sich i n den Parlamenten neben verdeckten meist offene Abstimmungsverfahren, wobei i n der Praxis offene Abstimmungen erheblich überwiegen' 54 . 5. Arten des Abstimmungsverfahrens

I n den repräsentativen Versammlungen gibt es eine Vielzahl von Abstimmungsverfahren 5 5 , während i n allgemeinen Wahlen und Volksabstimmungen die Anzahl der Methoden i m Lauf der Zeit 5 6 faktisch auf eine geschrumpft ist, nämlich das Ausfüllen von Stimmzetteln 5 7 , die nicht zuletzt am geeignetsten erscheinen, Eindeutigkeit m i t Geheimheit zu verbinden. Dagegen erfreut sich i n den Parlamenten die schon der Antike geläufige 5 8 Methode des Zurufs noch häufiger Beliebtheit 5 9 , soweit es nicht zu knappen Mehrheiten kommt, da die Lautstärke nur eine grobe Schätzung erlaubt. Nahezu gleiche Anciennität kann das verbreitete Verfahren beanspruchen, die Mehrheit durch Erheben der Hände 6 0 zu ermitteln. Die kontinentale Praxis bevorzugt allerdings bei offenen 53 s. Grewe, W i l h e l m , Fraktionszwang u n d geheime Abstimmung, A ö R 75 (1949), S. 468 ff. Je nach dem Wert, den m a n auf einen der beiden gegensätzlichen Gedanken legt, w i r d m a n geheime oder offene A b s t i m m u n g i m Parlament bevorzugen. Grewe, S. 470 plädiert unter Berufung auf das freie Mandat u n d die befürwortete Umgehung der Fraktionsdisziplin f ü r die geheime Abstimmung; ebenso Küster, Otto, Das Gewaltenproblem i m modernen Staat, AöR 75 (1949), S. 397 ff. (399); Dreher, Eduard, Z u m Fraktionszwang der Bundestagsabgeordneten, N J W 1950, S. 661 ff. (664); Jacobi (Anm. 31), S. 152; neu aufgenommen ist diese Diskussion worden v o n Klein, Hans H., M e h r geheime Abstimmungen i n den Parlamenten, ZRP 1976, S. 81 ff. u n d dagegen Buschmann, Hans R. / Ostendorf, Heribert, Die geheime A b s t i m m u n g i m Parlament-Postulat oder Relikt, ZRP 1977, S. 153 ff. 64 s. Herman (Anm. 40), S. 400 f.; vgl. auch Achterberg (Anm. 7), S. 109 ff. 55 Vgl. dazu v o r allem die umfassende Übersicht bei Herman (Anm. 40), S. 400 ff. m i t Tabellen S. 405 ff., die, soweit nicht anders aufgeführt, die Quelle f ü r die nachfolgenden Länderangaben sind. 66 Z u r historischen E n t w i c k l u n g s. o. I I . 57 N u r i n den Gemeindeversammlungen der Schweiz sind noch offene Abstimmungsverfahren gebräuchlich. Die Lochkarten i n Schweden können dagegen als moderne F o r m der Stimmzettel gelten. 58 Die Apella i n Sparta u n d das englische Parlament (by voices) stimmten auf diese Weise ab, s. o. I I . 59 V o r allem i n Großbritannien, USA u n d Japan; vgl. auch Schneider, K a r l Georg, Die A b s t i m m u n g unter besonderer Berücksichtigung der verschiedenen Mehrheitsbegriffe, Diss. Heidelberg 1951, S. 14 ff. 60 Die athenische Volksversammlung v e r f u h r so; s. o. I I ; heute i n F r a n k reich u n d Israel sowie i m Bundesrat der Bundesrepublik (§ 29 I GeschOBR) üblich.

C. Das Verfahren

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Abstimmungen das Erheben von den Sitzen 61 , das gegenüber dem Recken der Hände eine exaktere Form darstellt 6 2 . Da diese Verfahren jedoch i n der Regel bei der Größe der Versammlungen nur überblicksartige Schätzungen ermöglichen, haben sich einige Methoden herausgebildet, die eine genaue Feststellung der Mehrheit gestatten, aber langwieriger sind. A u f die längste Tradition kann das Verfahren der „Division" zurückblicken, das i m deutschen Sprachraum als Hammelsprung bezeichnet w i r d 6 3 , wobei die Abgeordneten auseinandertreten bzw. durch verschiedene Türen wieder i n den Plenarsaal treten. Eine besondere, exaktere A r t des Zurufs zeigt die namentliche Aufrufung jedes einzelnen Abgeordneten, der jeweils mit ja oder nein auf die Frage antworten muß 6 4 . Bei wichtigen Abstimmungen greift dann auch i m Parlament die Methode Platz, die Stimmenverhältnisse nach Stimmzetteln 6 5 , Kugeln 6 6 oder hölzernen Zeichen 67 festzustellen, die anonym, w i l l heißen geheim, oder namentlich gekennzeichnet sein können 6 8 . Schließlich hat die moderne Technik nicht vor den Parlamenten halt gemacht. Elektrische Mechanik und Computer vereinen Genauigkeit mit Schnelligkeit, wobei das Ergebnis auf anonyme wie namentlich zurechenbare Weise gefunden werden kann 6 9 . 61 V o r allem i m Bundestag (§ 48 I GeschOBT) u n d i n Schweden gebräuchlich, s. auch Schneider (Anm. 59), S. 12. 62 So auch Herman (Anm. 40), S. 402; dieses Verfahren ist auch aus den italienischen Stadtstaaten der Renaissance bekannt, wobei i n Florenz sich jeweils die Opposition erheben mußte, s. Moulin (Anm. 42), S. 113. 63 Gelegentlich i n Sparta angewendet u n d dann v o m britischen Unterhaus aufgenommen, s. o. I I , während die italienischen Städte n u r selten auf diese Weise die Mehrheiten ermittelten, s. Moulin (Anm. 42), S. 113; zum H a m m e l sprung vgl. auch Schneider (Anm. 59), S. 12 f.; Achterberg (Anm. 7), S. 114 f. 64 I m englischen als r o l l - c a l l bezeichnet. Anwendungsbeispiele sind Israel, Österreich, Italien, die Niederlande, die USA, Norwegen; der Nationalrat i n der Schweiz; anfänglich auch der deutsche Bundestag (Schneider (Anm. 59), S. 13), der aber jetzt zu namentlichen Stimmkarten (§ 52 GeschOBT) übergegangen ist, s. auch Achterberg (Anm. 7), S. 112 ff. β5 Meistens bei geheimen Abstimmungen verwendet; so auch i m Bundestag (§ 49 GeschOBT). 66 Vgl. bereits die altrömische Praxis (s.o. I I ) ; heute i n I t a l i e n u n d seit 1976 i n Spanien i n Anwendung. 67 So verfährt das japanische Parlament; zu anderen Zeichen u n d i h r e m unterschiedlichen Gebrauch i n italienischen Städten der Renaissance s. Moulin (Anm. 42), S. 113 f. 68 Letzteres ist selten, s. aber die namentlichen Abstimmungskarten i m Bundestag (§ 52 GeschOBT); Schneider (Anm. 59), S. 13; Achterberg (Anm. 7), S. 112 ff.; sonst aus Elfenbeinküste u n d Senegal, also keinen reinen Demokratien, bekannt. eö Meist namentliche Zurechnung, s. Herman (Anm. 40), S. 403; i n den a l l gemeinen Wahlen i n Schweden verbürgen die Lochkarten u n d Computer aber gerade die A n o n y m i t ä t .

172

I V . Die S t r u k t u r der Mehrheitsentscheidung

A l l e erwähnten Verfahren setzen die Anwesenheit der Abstimmenden voraus. Deshalb wurden i n Parlamenten infolge der Bedeutung der Parteien zwei Möglichkeiten entwickelt, Stimmenverschiebungen aufgrund der Abwesenheit einzelner Parlamentarier abzugleichen. Bei der stellvertretenden Stimmabgabe w i r d ein Abgeordneter von einem anderen dazu ermächtigt, i n einem bestimmten Sinn abzustimmen 70 . Anders w i r d bei dem aus England stammenden Pairing verfahren. Ein abwesendes Mitglied des Parlaments veranlaßt einen Anhänger der jeweiligen gegnerischen Partei, während seiner Abwesenheit gleichfalls nicht an Abstimmungen teilzunehmen 71 , was allerdings eine Einschränkung des freien Mandats zugunsten parteienstaatlicher Herrschaft bedeutet. 6. Die Feststellung des Abstimmungsergebnisses und der Vollzug der Mehrheitsentscheidung

Während i n kleinen, überschaubaren Gremien die Mehrheitsverhältnisse jedem anwesenden Mitglied klar erkennbar sind und oft i m Wege informeller Abstimmung ohne formales Verfahren ermittelt werden können, muß i n größeren Gremien, Versammlungen die Zählung der Stimmen besonderen Organen überlassen werden, entweder einem einzelnen Vorsitzenden oder Präsidenten oder einem kollektiven Präsidium 7 2 . Bei sehr strittigen Fragen w i r d sich allerdings selbst i n kleinen Gremien eine formale Feststellung empfehlen. I n allgemeinen Wahlen ist die Auszählung den jeweiligen Wahlorganen 7 3 vorbehalten. Diese Organe setzen nach der Zählung dann, möglicherweise nach erneuter Prüfung, das Ergebnis verbindlich fest 74 , das anschließend verkündet wird75. Wenn das Ergebnis der Mehrheitsentscheidung feststeht, muß die Entscheidung i n Konsequenz ihrer Verbindlichkeit ausgeführt werden. Der Vollzug der Mehrheitsentscheidungen obliegt i n den modernen 70

Unter den demokratischen Staaten kennt n u r Frankreich diese Option. Auch i n Belgien, Kanada, Norwegen u n d den USA, seltener i m deutschen Bundestag gebräuchlich. Das setzt i m Grunde allerdings eine scharfe Dichotomie v o n Regierung u n d Opposition voraus; zu anderen Bedenken Achterberg (Anm. 7), S. 115 f. 72 § 511 GeschOBT, sowie deren Hilfspersonen w i e etwa beim Hammelsprung den Schriftführern, § 51 I I GeschOBT; vgl. Achterberg (Anm. 7), S. 114. Es k o m m t hinzu, daß gelegentlich bei Zweifeln an der Feststellung eine Wiederholung stattfinden muß, s. Schmitt, Horst, Das legislative Votum. Eine parlamentsrechtliche Untersuchung über die Beratung u n d A b s t i m m u n g der gesetzgebenden Körperschaften, Diss. Bonn 1960, S. 121 ff.; ebd. S. 168 ff. generell zur Wiederholung der A b s t i m m u n g bei Verfahrensfehlern. 73 § 64, 65 BWahlO. 74 § 37, 41 1, 42 I, I I B W a h l G ; § 63, 73, 74, 75 BWahlO. 75 § 51 I I 7 GeschOBT; § 67, 76 BWahlO. 71

C. Das Verfahren

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Demokratien den Staatsorganen und dem ausgebildeten staatlichen Amtsapparat der Verwaltung 7 6 und unterliegt außerdem der Kontrolle durch die verschiedensten Institutionen 7 7 , wobei die Rechtskontrolle durch die Gerichte als Durchführungskontrolle gerade der Mehrheitsentscheidungen überwiegt. Die Vollziehung und ihre Kontrolle durch staatliche Organe ist wesentlich für das Mehrheitsprinzip, weil ohne sie der Mehrheitsentscheidung die Realisierung der Verbindlichkeit fehlt, das eine Entscheidung durch die Mehrheit erst sinnvoll macht. Während i m modernen Staat die Durchführung der Gesetze einer unabhängigen Verwaltung obliegt, die als neutraler Körper fungiert und ohne Rücksicht auf die Parteiungen i m Parlament die Gesetze anwendet, war i m Reichstag des Heiligen Römischen Reiches die Exekution der Reichstagsbeschlüsse, wie etwa die Einziehung der bewilligten Steuern, den Ständen überlassen, die selbst an der Entscheidung beteiligt und weitgehend unabhängige Territorialstaaten waren. Die unterlegene Minderheit hatte auf diese Weise die Gelegenheit, die Entscheidungen der Mehrheit auf der Ebene des Vollzugs zumindest zu verschleppen, wenn nicht völlig zu blockieren. Diese Situation w i r k t e natürlich auf die Entscheidungsfindung i m Reichstag zurück und verhinderte die völlige Durchsetzung des Mehrheitsprinzips i m Reichstag 78 . Resümee: Die fünf Grundelemente jeder Mehrheitsentscheidung

Nach den Untersuchungen über die Struktur der Mehrheitsentscheidung i n der Demokratie lassen sich fünf Merkmale erkennen, die jeder Mehrheitsentscheidung, gleichgültig i n welchem Gremium und i n welcher Anzahl der Teilnehmer, notwendig anhaften. Jede Mehrheitsentscheidung bedarf eines fest geregelten, geordneten Verfahrens, das jedem Stimmberechtigten die Kenntnis aller erforderlichen Modalitäten der Abstimmung vermittelt und i n dessen Bahnen die Mehrheit festgestellt werden kann. 7« Schiaich (Anm. 4), S. 288; auch v o n daher gewinnt hinsichtlich der V e r bindlichkeit der Mehrheitsentscheidung i n föderalen Gebilden der Bundeszwang (s. A r t . 37 GG) seinen Sinn. 77 Vgl. Brunner, Georg, K o n t r o l l e i n Deutschland, K ö l n 1972, S. 139 ff. 78 Schiaich (Anm. 4), S. 284 ff., insbes. 287. Das entscheidende ist dabei die Eigenstaatlichkeit der Stände, die den Vergleich m i t völkerrechtlichen S t r u k turen nahelegt. Die Bedeutung des Vollzugs der Mehrheitsentscheidungen zeigt auch die geschichtliche E n t w i c k l u n g i n Frankreich, w o die Befugnisse der regionalen Ständevertretungen i n dem Moment erstarben, als die E i n ziehung der Steuern aus der Hand ständischer Bürokraten i n die der k ö n i g lichen V e r w a l t u n g überging; diesen K a m p f u m die Steuereinziehung schildert eindringlich Major, Russell J., Representative Government i n E a r l y Modern France, New Haven 1980. Z u r Bedeutung der Durchsetzbarkeit heute, jetzt auch Gusy, Christoph, Das Mehrheitsprinzip i m demokratischen Staat, AöR 106 (1981), S. 329 ff. (336 f.).

174

I V . Die S t r u k t u r der Mehrheitsentscheidung

Zweitens setzt bereits der Begriff der Mehrheit eine Zahlenganzheit voraus, deren Mitgliederkreis mindestens drei Personen umfassen muß, die zu einer meist rechtlich konzipierten Einheit zusammengeschlossen sind. Grundlage der Errechnung der Mehrheit ist drittens eine Gleichheit der Stimmen, da die Rechnungseinheit kommensurabel sein muß. Mathematisch ausgedrückt muß es einen Stimmenwert geben, der einen kleinsten gemeinsamen Nenner besitzt. Nur die Verteilung der Stimmen i m Sinne eines gleichen Stimmwerts kann ungleich sein. Die Zuordnung eines einheitlichen Stimmwerts zu Personen kann unterschiedlich sein. Das läßt sich klar an mehrheitlichen Entscheidungen der Eigentümerversammlung von Aktiengesellschaften demonstrieren, wo die A k t i e n bzw. deren Geldwert die gleiche Berechnungsgrundlage bilden, die aber i n verschiedenem Ausmaß den jeweiligen Besitzern zustehen können. Viertens müssen sich die Abstimmenden zwischen mindestens zwei verschiedenen Alternativen entscheiden können. Das bedeutet auch, daß kein wirklicher Zwang besteht, sich für eine Alternative entscheiden zu müssen. Steht nur eine einzige Alternative zur Abstimmung, kann sich keine Mehrheit bilden, sondern allein Einmütigkeit vorgeführt werden. Allerdings führt andererseits eine zu große Vielzahl von Alternativen leicht zur Ausweglosigkeit. Fünftens bedingt das Mehrheitsprinzip eine Gleichzeitigkeit der A b stimmung, die sich höchstens innerhalb eines relativ kurzen Zeitraumes bewegen kann. Andernfalls beinhaltet sie eventuell keine Entscheidung der Mehrheit mehr 7 9 .

79 Die Ratifikation u n d Inkraftsetzung multilateraler Verträge i m V ö l k e r recht, w e n n eine bestimmte A n z a h l v o n Staaten i n einem längeren Zeitraum dem Vertrag b e i t r i t t , ist eben* i n diesem Sinn keine Mehrheitsentscheidung. Das liegt einerseits auch am Fehlen eines umgreifenden Ganzen u n d andererseits i n Besonderheiten des Völkerrechts begründet, die eine B i n d u n g an bereits vollzogene Ratifikationen auch nach längerer Zeit bewirken. A l l e n Mehrheitsentscheidungen i n Staat u n d Gesellschaft, Geschichte u n d Gegenw a r t haftet dagegen ein Moment der Gleichzeitigkeit an.

V. Die Voraussetzungen des Mehrheitsprinzips in der Demokratie Wenn die strukturellen Elemente der Mehrheitsentscheidung einschließlich eines geordneten Verfahrens vorliegen, heißt das nur, daß die Möglichkeit zu einer mehrheitlichen Abstimmung besteht. Die Legitimität des demokratischen Mehrheitsprinzips setzt aber mehr voraus, was unter anderem auch daran deutlich wird, daß der Mehrheitsgrundsatz i n den Rahmen einer Verfassungsordnung eingespannt ist. Mehrheitsentscheidungen können i n einem politischen System nur dann ergehen, wenn die getroffene Entscheidung von der Gesamtheit der Bürger akzeptiert, ihre Verbindlichkeit von allen wenigstens hingenommen wird. Die Anerkennung der Mehrheitsentscheidungen bleibt deswegen an die Legitimität des politischen Systems insgesamt 1 sowie an einzelne besondere Voraussetzungen gebunden 2 , die sich aus der Strukt u r des Mehrheitsprinzips insofern erklären, als der obsiegenden Mehrheit immer eine unterliegende Minderheit, die die Mehrheitsentscheidung nicht trägt, korrespondiert, als das Gemeinwesen sich i n Mehrheit und Minderheit spaltet. Aus diesem Grund sind die folgenden Voraussetzungen für das dauerhafte Funktionieren des Mehrheitsprinzips unbedingt notwendig, damit die Minderheit die Mehrheitsentscheidung für sich anerkennen kann und diese Anerkennung wirklich erfolgt. Das Mehrheitsprinzip beruht auf diesen Voraussetzungen, weil sie der Integration der Minderheit i n die politische Ordnung dienen, i n der das Mehrheitsprinzip ein wesentliches Element bildet, und auf diese Weise Mehrheitsentscheidungen erst ermöglichen. I m Unterschied zu der ideellen Rechtfertigung des Mehrheitsprinzips aus den demokratischen Grundsätzen der Selbstbestimmung und Gleichheit, liegen diese Voraussetzungen i m Bereich des Faktischen, der sozialen und politischen Wirklichkeit begründet. Daher können die nachfolgenden Bedingungen demokratischer Stabilität durch rechtliche Regelungen allein nicht abgesichert werden, sondern Verfassung und Gesetz können höchstens unabdingbare Grundlagen normieren. Die politischen Voraussetzungen des Mehrheitsprinzips sind außerdem dadurch gekennzeichnet, daß sie weniger aus den persönlichen Eigenschaften der einzelnen Staatsbürger 1 2

Z u r demokratischen Legitimität s. o. Einleitung. Die immer auch zur Legitimität der Gesamtordnung beitragen.

V. Die Voraussetzungen des Mehrheitsprinzips

176

erwachsen als e i n C h a r a k t e r z u g des gesamten p o l i t i s c h e n Systems s i n d u n d dessen S t r u k t u r entscheidend p r ä g e n , auch w e n n sich dies v o n i n d i v i d u e l l e n M o m e n t e n n i c h t ganz t r e n n e n l ä ß t . I n i h r e m a u f das ganze politische G e m e i n w e s e n bezogenen C h a r a k t e r u n t e r s c h e i d e n sich die p o l i t i s c h e n V o r a u s s e t z u n g e n v o r a l l e m v o n d e n sich die

politischen

V o r a u s s e t z u n g e n auch i m S i n n e e i n e r B e s c h r ä n k u n g des

immanenten

Begrenzungen.

Gleichwohl

wirken

Mehrheits-

p r i n z i p s aus.

A . Homogenität des Gemeinwesens und politischer Grundkonsens Es ist eine durchaus geläufige, m e i s t aber n u r k u r z e r w ä h n t e k e n n t n i s , daß eine D e m o k r a t i e u n d insbesondere das Mehrheitsprinzip

eine gewisse H o m o g e n i t ä t 3 des p o l i t i s c h e n

wesens voraussetze u n d

Er-

demokratische Gemein-

eines g e m e i n s a m e n G r u n d k o n s e n s e s 4 ,

eines

3

Heller, Hermann, Politische Demokratie u n d soziale Homogenität, i n Gesammelte Schriften, Leiden 1971, Bd. I I , S. 421 ff.; vgl. auch Niebuhr, Reinhold, Consensus i n einer demokratischen Gesellschaft, PVS 2 (1961), S. 202 ff. (203); Kaiser, Joseph H., Finanz- u n mot d'esclave (Rousseau). Z u r Verfassungskrise der V i e r t e n Republik, DÖV 1 (1948), S. 76 f.; Varain, Heinz Josef, Die Bedeutung des Mehrheitsprinzips i m Rahmen unserer politischen Ordnung, ZfP 11 (1964), S. 239 ff. (244); Weber, Alfred, Die Krise des modernen Staatsgedankens i n Europa, B e r l i n u. a. 1925, S. 51 spricht v o n „geistiger Homogenität" ; Kelsen, Hans, Das Problem des Parlamentarismus, W i e n u. a. 1925, S. 36 f.; Dahl, Robert Α., Democracy i n the United States. Promise and Performance, 3. ed. Chicago 1976, S. 30; anstatt Homogenität verwendet „Zielgemeinschaft" Brocke, E r w i n , Einstimmigkeit, Mehrheitsprinzip u n d schiedsrichterliche Entscheidung als M i t t e l der Willensbildung, Diss. M a r b u r g 1948, S. 24 ff.; noch anders die Formulierung v o n Smend, Rudolf, Verfassung u n d Verfassungsrecht (1928), i n Staatsrechtliche Abhandlungen, 2. A u f l . B e r l i n 1968, S. 119 ff. (155): „Nicht i n Frage gestellte Wertgemeinschaft". 4 Scheuner, Ulrich, Das Mehrheitsprinzip i n der Demokratie, Opladen 1973, S. 54 ff.; ders., Der Mehrheitsentscheid i m Rahmen der demokratischen Grundordnung, i n Festschrift W. Kägi, Zürich 1979, S. 301 ff. (312 f.); Friedrich, Carl Joachim, Der Verfassungsstaat der Neuzeit, B e r l i n u. a. 1953, S. 187 f., 368 ff.; ders., Demokratie als Herrschafts- u n d Lebensform, Heidelberg 1959, S. 61 f.; Schatz, K u r t , Prinzip, Grenzen u n d Konsequenzen der Majorität, Diss. Heidelberg 1951, S. 49; Hättich, Manfred, Demokratie als Herrschaftsordnung, Opladen 1967, S. 41, 48; Mayo, Henry B., A n Introduct i o n to Democratic Theory, New Y o r k 1960, S. 298 ff.; Simmel, Georg, Soziologie, Leipzig 1908, S. 192 f. stellt auf den „Einheitswillen" ab; Jahrreiss, Hermann, Demokratie — Selbstbewußtsein — Selbstgefährdung — Selbstschutz, Festschrift Richard Thoma, Tübingen 1950, S. 71 ff. (75 f., vgl. auch 86) meint m i t „Vorordnung" i m Grunde ähnliches; Redlich, Josef, Recht u n d Technik des englischen Parlamentarismus, Leipzig 1905, S. 794 ff. h ä l t eine „gleiche Staatsgesinnung" f ü r notwendig; s. auch Schindler, Dietrich, Uber die B i l d u n g des Staatswillens i n der Demokratie, Zürich 1921, S. 41 ff. Bei Fraenkel, Ernst, Strukturanalyse der modernen Demokratie, i n Reformismus u n d Pluralismus, Hamburg 1973, S. 404 ff. (410) ist die Rede v o m consensus omnium.

Α . Homogenität des Gemeinwesens u n d politischer Grundkonsens

177

a g r e e m e n t o n f u n d a m e n t a l s 5 b e d ü r f e , u m die g l e i c h z e i t i g i n verschiedene, d i f f e r e n z i e r t e S t r ö m u n g e n u n d M e i n u n g e n z e r f a l l e n d e n p o l i t i schen G r u p p e n , d e r e n A u s e i n a n d e r s e t z u n g e n u n d K o n f l i k t e e i n b e d e u tendes L e b e n s e l e m e n t e i n e r i n t a k t e n D e m o k r a t i e b i l d e n 6 , i n e i n e r O r d n u n g z u s a m m e n z u h a l t e n u n d d e r u n t e r l e g e n e n M i n d e r h e i t es z u e r l e i c h t e r n , w e n n n i c h t erst z u e r l a u b e n , die M e h r h e i t s e n t s c h e i d u n g h i n zunehmen u n d zu akzeptieren. B e r e i t s Rousseau 7 h a t die A b h ä n g i g k e i t d e r D e m o k r a t i e v o n d e r H o m o g e n i t ä t des G e m e i n w e s e n s b e t o n t , u n d C a r l S c h m i t t h a t diese E r k e n n t n i s bezeichnenderweise z u m A n l a ß g e n o m m e n , d e n d e m o k r a tischen P a r l a m e n t a r i s m u s angesichts d e r Z e r r i s s e n h e i t d e r W e i m a r e r R e p u b l i k als ü b e r h o l t e s R e l i k t des L i b e r a l i s m u s z u k r i t i s i e r e n u n d z u verwerfen 8. Die verschiedenartige

V e r w e n d u n g der Begriffe

Homogenität

und

Konsens v e r l a n g t zuerst n a c h e i n e r K l ä r u n g . Es besteht e i n e r k e n n b a 5 Friedrich, Demokratie (Anm. 4), S. 67 ff. Der Begriff w i r d neben Consensus i n der amerikanischen Politikwissenschaft häufig verwendet; s. Prothro, James W. / Grigg, Charles M., Fundamental principles of democracy Bases of agreement and disagreement, JoP 22 (1960), S. 276 ff.; Pennock, Roland J., i n Cultural Prerequisites to a successfully Functioning Democracy, A Symposium, APSR 50 (1956), S. 101 ff. (132); das agreement on fundamentals k a n n sich allein auf grundlegende materiale Werte beziehen (Pennock) oder auch die Einigung über Verfahrensregeln einschließen. Friedrich, S. 74 ff. grenzt die letzte Übereinstimmung allerdings v o n dem agreement on f u n damentals ab; Hermens, Ferdinand Α., Verfassungslehre, F r a n k f u r t u. a. 1964, S. 219 ff. verwendet die Figur des agree to disagree. 0 Das SpannungsVerhältnis v o n Einheit u n d Gegensatz hat die amerikanische Soziologie unter dem Stichw o r t "consensus and cleavage" stark beschäftigt. Vgl. etwa Berelson, Bernard, Voting, Chicago 1954, S. 185 ff., 318 ff.; Parsons, Talcott, V o t i n g and the E q u i l i b r i u m of the American Political System, i n Sociological Theory and Modern Society, New Y o r k 1967, S. 223 ff. (243 ff.); Almond, Gabriel A. / Verba, Sidney, The Civic Culture. Political Attitudes and Democracy i n Five Nations Princeton 1963, S. 490 f., Pennock, Roland J., Democratic Political Theory, Princeton 1979, S. 247 ff., vgl. auch Fraenkel (Anm. 4), S. 410: Divergenz i n Einzelfragen u n d K o n v e r genz i n allen Grundfragen; zur Notwendigkeit u n d Fruchtbarkeit des K o n flikts i n einer Demokratie s. Dahrendorf, Ralf, Gesellschaft u n d Demokratie i n Deutschland, München 1968, S. 170 ff. 7 s. Rousseau, Contrat Social I I I , 4; dazu Fetscher, Iring, Rousseaus p o l i tische Philosophie, Neuwied u. a. 1968, S. 183 ff. 6 Schmitt, Carl, Legalität u n d Legitimität, München u . a . 1932 (2. A u f l . B e r l i n 1968), S. 27 f. Die Anklänge bei Carl Schmitt an Rousseau sind überhaupt i m m e r wieder frappierend. Das w i r d auch deutlich an der Behauptung der Identität v o n Mehrheits- u n d Minderheitswillen, i n Schmitt, Carl, Der Hüter der Verfassung, München u. a. 1931 (Nachdruck B e r l i n 1969), S. 86; vgl. auch I V , C, 4, A n m . 43; zum fehlenden sachlichen Konsens i n der Weimarer Republik s. Scheuner, Ulrich, Grundrechte u n d Verfassungskonsens als Stützen der Verfassungsordnung i n Weimar als Erfahrung u n d Argument, i n Ansprachen u n d Referate anläßlich der Feier des 25jährigen Bestehens der Kommission für Geschichte des Parlamentarismus u n d der politischen Parteien, Bonn 1977, S. 25 ff. (29 ff.).

12 Heun

178

V. Die Voraussetzungen des Mehrheitsprinzips

r e r U n t e r s c h i e d z w i s c h e n e i n e r H o m o g e n i t ä t , die ethnisch, n a t i o n a l , r e ligiös, k u l t u r e l l u n d sozial b e s t i m m t w e r d e n k a n n u n d sich als eher soziologische K a t e g o r i e b e g r e i f e n l ä ß t , u n d e i n e m G r u n d - o d e r F u n d a mentalkonsens9 i m Sinne einer Übereinstimmung der politischen Überz e u g u n g e n 1 0 , d e r auch d i e w e s e n t l i c h e n V e r f a h r e n s r e g e l n e i n b e z i e h t . D a m i t s o l l e n gegenseitige B e d i n g t h e i t e n b e i d e r P h ä n o m e n e n i c h t gel e u g n e t w e r d e n , die v o r a l l e m i n d e n E i n f l ü s s e n d e r B e s t i m m u n g s f a k t o r e n d e r H o m o g e n i t ä t a u f die p o l i t i s c h e n A u f f a s s u n g e n l i e g e n . D e r G r u n d k o n s e n s ist a u ß e r d e m n i c h t gleichzusetzen m i t d e r Z u s t i m m u n g der Bürger, dem consent11, zu demokratischer Herrschaft u n d i h r e n e i n z e l n e n H e r r s c h a f t s a k t e n , d i e auch als A u t o r i t ä t s k o n s e n s bezeichnet w e r d e n k a n n 1 2 , o b g l e i c h eine b r e i t e Z u s t i m m u n g d e r B ü r g e r a u f eine w e i t g e h e n d e Ü b e r e i n s t i m m u n g d e r A u f f a s s u n g e n ü b e r die G r u n d l a g e n d e r D e m o k r a t i e h i n d e u t e t 1 3 u n d als Z e i c h e n d e r L e g i t i m i t ä t d e r p o l i tischen O r d n u n g g e w e r t e t w e r d e n k a n n , d i e o h n e e i n e n solchen G r u n d konsens n i c h t d e n k b a r i s t 1 4 . 9 I n Abgrenzung zu einem Problemkonsensus, der sich auf politische E i n zelfragen richtet. Lehmbruch, Gerhard, Strukturen ideologischer K o n f l i k t e bei Parteienwettbewerb, PVS 10 (1969), S. 285 ff. (291 f.), der diese Begriffsb i l d u n g aus den amerikanischen Untersuchungen zum Konsensus übernommen hat, die zwischen "issue consensus" u n d "consensus on fundamentals" differenzieren. Z u m issue consensus s. u. a. McClosky, Herbert / Hoffmann , Paul J. / O'Hara, Rosemary, Issue conflict and consensus among party leaders and followers, APSR 54 (1960), S. 406 ff. 10 Lehmbruch (Anm. 9), S. 286 — Niebuhrs (Anm. 3), S. 203 Bezeichnung der Homogenität als „unbewußten Konsens" erscheint dagegen wenig sinnvoll. Dabei sind rassische, soziale u n d auch nationale Homogenität nahezu ausschließlich soziologisch bestimmt, während religiöse u n d k u l t u r e l l e Homogen i t ä t weitgehend auf historisch geprägten Auffassungen beruhen, die aber nicht rein politischer N a t u r sind — vgl. auch die Unterscheidung einer Fragmentierung i n Wertorientierungen u n d strukturalen gesellschaftlichen Spaltungen. Berg-Schlosser, D i r k , Politische K u l t u r . Eine neue Dimension p o l i t i k wissenschaftlicher Analyse, München 1972, S. 140, die aber das eigentliche politische Element des Grundkonsenses nicht so hervortreten läßt. 11 Vielfach i n der F o r m des "tacit consent" vgl. John Locke, T w o Treatises on Government I I , § 119, 121, vgl. auch § 74, 75, der allerdings dort auch den consensus o m n i u m meint; vgl. dazu Seliger, M a r t i n , The Liberal Politics of John Locke, London 1968, S. 219 ff. 12 Lehmbruch (Anm. 9), S. 292, der sowohl Zustimmung zu A u t o r i t ä t als auch zu einzelnen A k t e n der A u t o r i t ä t umfaßt. Lehmbruch weist auch zutreffend auf die Schwierigkeiten einer empirischen Erfassung eines derartigen Autoritätskonsenses hin, da die Stimmabgabe bei Wahlen noch nicht die generelle Zustimmung zu der konkreten demokratischen A u t o r i t ä t beweist. 13 Die Überschneidungen der verschiedenen Konsensbegriffe sind auf die „Multidimensionalität" des Konsenses zurückzuführen, Lehmbruch (Anm. 9), S. 292 f. 14 Das ist bei einer Zustimmung, die sich an den politischen Herrschaftsleistungen orientiert, nicht so deutlich, w i e bei einer A n k n ü p f u n g des A u t o r i tätskonsenses an die Grundlagen des politischen Systems, w e n n auch beide A r t e n der Zustimmung meist k o n f o r m gehen werden. Gerade die Bevölker u n g der Bundesrepublik w a r aber eher auf die jeweiligen Regimeleistungen

Α . Homogenität des Gemeinwesens u n d politischer Grundkonsens

179

Ganz allgemein w i r d man zur Notwendigkeit der verschiedenen A r ten der Homogenität und des Grundkonsenses sowie ihrem Verhältnis zueinander i m voraus sagen können, daß nicht alles zugleich und jeweils i n hoher Intensität vorliegen muß, u m den i n Mehrheit und M i n derheit zerfallenden Verband zusammenzuhalten, sondern Mängel oder sogar das gänzliche Fehlen einzelner verbindender Elemente durch eine Anzahl anderer Elemente und deren stärkeres Hervortreten aufgewogen und ausgeglichen werden können. Erst das sich ergänzende Zusammenspiel aller einigenden Momente schafft den Zusammenhalt, der den Entscheidungskörper zu einer solchen Einheit verschmilzt, die eine unterlegene Minderheit die Mehrheitsentscheidung hinnehmen und völlig akzeptieren läßt 1 5 . Demokratie und damit auch das Mehrheitsprinzip setzt i n erster Linie voraus, daß der staatliche Verband nicht durch rassische Gegensätze zerrissen w i r d 1 6 . I n Westeuropa ist dies durchgängig nicht zu beobachten und nie zum Problem geworden ganz i m Gegensatz zu den Vereinigten Staaten, deren schwarze Bevölkerung 1 7 erst nach dem 2. Weltkrieg allmählich i n die Gesellschaft und das politische System integriert w i r d 1 8 , während dies bei den verschiedenen Nationalitäten weitgehend von Anfang an aufgrund der Eigenart der Vereinigten Staaten als Einwanderungsland gelungen ist. I n Südafrika bildet dagegen die Rassenfrage nach wie vor die entscheidende Barriere für eine Erweiterung des allgemeinen und gleichen Wahlrechts auf die Farbigen 19 , und die Spaltung zwischen Malaien und Chinesen hat zweifellos fixiert, als daß sie sich m i t den demokratischen Institutionen identifizierte; vgl. Almond (Anm. 6), S. 19, 106 ff.; Pye, Lucian W. / Verba , Sidney (Hrsg.), Political Culture and Political Development, Princeton 1965, S. 140 ff. 15 Dabei können für den Zusammenhalt keine exakt meßbaren, e m p i r i schen Daten angegeben, sondern n u r generelle, typologische Aussagen gemacht werden, die sich an H a n d der geschichtlichen E n t w i c k l u n g u n d aktueller politischer Probleme ergeben. 16 Niebuhr (Anm. 3), S. 203 spricht hier v o n ethnischer Homogenität; v o n Heller (Anm. 3), S. 431 f. als „anthropologische Homogenität" bezeichnet, wobei die k u l t u r e l l e n Unterschiede entscheidend sein werden, aber i n der Hautfarbe einen sichtbaren Ausdruck finden u n d deshalb noch schwieriger zu überwinden sind als nationale Unterschiede. V o r allem i n Südamerika ist dagegen i n diesem P u n k t eine stärkere Verschmelzung gelungen. 17 Die indianische Urbevölkerung hat nach ihrer Dezimierung i m 19. Jh. dagegen aufgrund i h r e r geringen zahlenmäßigen Bedeutung keine solche Rolle gespielt u n d beginnt erst jetzt wieder v i r u l e n t zu werden. Das indianische Problem gilt i n ähnlicher Weise für die Indianer i n Kanada sowie die australische Urbevölkerung. 18 Die minoritäre Position der schwarzen Bevölkerung ist dadurch bestimmt, daß sie eine bedeutende, aber keine überwiegende Z a h l der Gesamtbevölkerung ausmacht, während i n Südafrika gerade die Minderheit regiert. 19 Eine Demokratisierung ließe sich sowohl hinsichtlich der Realisierbarkeit w i e der demokratisch notwendigen Berücksichtigung der Interessen der — weißen — Minderheit w o h l n u r nach dem Modell einer Konkordanzdemo12*

180

V . Die Voraussetzungen des Mehrheitsprinzips

i n M a l a y s i a m i t g e w i r k t , d i e D e m o k r a t i e i n eine a u t o r i t ä r e H e r r s c h a f t s f o r m u m z u g e s t a l t e n 2 0 . Diese F o r m d e r I n h o m o g e n i t ä t e r h ä l t m e i s t z u sätzliche S p r e n g k r a f t

aus d e r Tatsache, daß die soziale S t r u k t u r

die

Gegensätze v e r t i e f t u n d sich infolgedessen z w e i F a k t o r e n p o t e n z i e r e n , d i e f ü r sich a l l e i n b e r e i t s z u s c h w e r w i e g e n d e n G e f ä h r d u n g e n p o l i t i s c h e r Einheit führen können21. A u ß e r d e m ist d i e n a t i o n a l e E i n h e i t e i n wesentliches E l e m e n t Verbindung i n demokratischen Staaten22. Der Nationalgedanke s o w o h l a u f historische, s p r a c h l i c h - k u l t u r e l l e

Gemeinsamkeit23

der kann

zurück-

gehen, als auch s t ä r k e r s t a a t l i c h - p o l i t i s c h o r i e n t i e r t 2 4 sein. E n t s c h e i d e n d für

die national-staatliche

E i n h e i t ist d i e soziale I d e n t i f i k a t i o n

der

B ü r g e r 2 5 m i t d e r e i g e n e n N a t i o n , a u f w e l c h e n E l e m e n t e n sie auch b e r u h t . A u f g r u n d i h r e s e g a l i s i e r e n d e n M o m e n t s h a b e n n a t i o n a l e Idee u n d liberale Demokratie, nationale u n d individuelle Selbstbestimmung ihren gemeinsamen Ursprung i m Zeitalter

d e r französischen

Revolution26,

u n d deswegen ist d e r K a m p f u m die E r f ü l l u n g b e i d e r V o r s t e l l u n g e n i m 19. J h . w e i t g e h e n d p a r a l l e l v e r l a u f e n 2 7 . D i e N a t i o n a l i t ä t e n f r a g e

hat

kratie erreichen vgl. Hanf, Theodor, Koexistenz durch Konkordanzdemokratie i n Südafrika, F A Z v. 4.3.81, S. 7 f., ders. / Weiland, Heribert / Vierdag Gerda, Südafrika: Friedlicher Wandel?, München 1978, S. 401 ff. 20 Z u r Situation i n Malaysia zu Zeiten demokratischer Herrschaft Wiesner, Joachim, Demokratische Stabilität i n einer Mehrrassengesellschaft. Politische Wahlen i n Malaia 1955 - 1964, Verfassung u n d Verfassungswirklichkeit 1 (1967), S. 63 ff.; u n d nach der Wendung zum Autoritarismus seit 1968 ders., Verfassungspolitischer Wandel i n Malaysia, ZfP 16 (1970), S. 439 ff. Während der demokratischen Phase standen daher auch konsensuale Entscheidungsformen i m Vordergrund s. Lijphart, Arend, Democracy i n Plural Societies. A Comparative Exploration, New Haven 1977, S. 150 ff. 21 Das gilt insbesondere für die gemischtrassigen Staaten Lateinamerikas; soweit kommen k u l t u r e l l e Besonderheiten zu den beiden anderen U n t e r schieden noch hinzu. 22 s. Heller (Anm. 3), S. 432; vgl. auch Jellinek, Georg, Das Recht der Minoritäten, W i e n 1898, S. 27 f. 23 Wie es v o r allem für Deutschland u n d I t a l i e n charakteristisch ist. 24 Wofür i n erster L i n i e Spanien, Frankreich u n d England stehen, obwohl der sprachlich-kulturelle Faktor wesentlich bleibt; vgl. aber zu den neuerlichen Regionalisierungstendenzen i n Spanien Nohlen, Dieter / Geiseihard, Edgar, Konstitutionsbedingungen u n d Entwicklungstendenzen der Regionalismen i n Spanien, i n Gerdes, D i r k (Hrsg.), Aufstand der Provinz. Regionalismus i n Westeuropa, F r a n k f u r t 1980, S. 107 f. 25 Vgl. Berg-Schlosser (Anm. 10), S. 84 ff.; vgl. auch Pye / Verba (Anm. 14), S. 529 ff. 26 Die französische Revolution m a r k i e r t den historischen Durchbruch dieser Gedanken, deren Vorläufer w e i t zurückreichen. F ü r die demokratische Selbstbestimmung s. oben I I , für den Nationalgedanken vgl. u. a. Kohn, Hans, Die Idee des Nationalismus, F r a n k f u r t 1967. 27 I n dieser Hinsicht bedeutet die deutsche Geschichte eine gewisse Sonderentwicklung, als nach der Reichsgründung das Kaisertum die nationalstaatliche Idee als Legitimationsidee okkupierte u n d das Parlament als

Α . Homogenität des Gemeinwesens u n d politischer Grundkonsens

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deswegen von Anfang an eine völlige Durchsetzung des Mehrheitsprinzips i n der österreichischen K. u. K . Monarchie verhindert 2 8 und diesen Staat letztlich zerbrechen lassen. Dagegen gelang es der Schweiz, die sprachlich-kulturell verschiedenen Volksgruppen dank ihrer geringen Anzahl, der von Beginn an föderalen Struktur und der Ausklammerung der die sprachlichen Gruppen berührenden Fragen aus dem Entscheidungsbereich des Mehrheitsprinzips 2 9 zu einer Staatsnation zusammenzubinden 30 . I n den jungen Staaten insbesondere Afrikas verhindern die tradierten und neu aufgekommenen Stammesrivalitäten dagegen bereits i n einem frühen Stadium die Entwicklung demokratischer Strukturen, da die durch zum Teil willkürliche Grenzen i n einem Staat zusammengeführten Stämme oft nur von autoritären Regimen gewaltsam i n staatlicher Einheit gehalten werden können 3 1 . Außer von nationaler Einheit hängt die Anwendung des Mehrheitsprinzips und die demokratische Stabilität auch von einer religiös-kulturellen Homogenität ab 3 2 . Bereits die konfessionelle Spaltung i m Zeitalter der Reformation hat religiöse Angelegenheiten den Mehrheitsentscheidungen entzogen 33 , m i t der Folge, daß wenigstens i n anderen Fragen die Mehrheit entscheiden konnte, auch wenn das konfessionelle Problem die Tendenz zur Ausweitung auf andere Entscheidungen wie Steuerbewilligungen i n sich trug. Der moderne Säkularisierungsprozeß hat der Religionsfrage einen Teil ihrer W i r k u n g genommen. Die sprachdemokratisches Vertretungsorgan zugunsten einer bürgerlichen Interessenvertretung zurücktrat, so daß trotz des allgemeinen, gleichen Wahlrechts zum Reichstag der Prozeß der Parlamentarisierung n u r zögernd einsetzte, während der Kaiser eine cäsaristische, akklamatorische L e g i t i m i t ä t auf sich konzentrierte. Vgl. Hofmann , Hasso, Das Problem der cäsaristischen L e g i t i m i t ä t i m Bismarckreich, i n : Der Bonapartismus, hrsg. v. K . Hammer / P. C. Hartmann, München 1977, S. 77 ff. (95 ff., 99 f.). 28 s. Zenker, E r n s t - V i k t o r , Der Parlamentarismus, sein Wesen u n d seine Entwicklung, W i e n 1914, S. 161 f., vgl. auch S. 28, 38. 29 s. oben I I u n d unten V I I , A , 2, a. 30 Demnach muß i n der Schweiz auf die verschiedenen Nationalitäten i m einzelnen Rücksicht genommen werden. E i n eingehender Minderheitenschutz ist die Voraussetzung der staatlichen Einheit; auch i n Belgien w i r d zunehmend der Weg der Föderalisierung m i t dem Ziel der Erhaltung des einheitlichen Staates verfolgt. Z u r ersten großen Verfassungsrevision s. Löwer, Wolfgang, Verfassungsrevision i n Belgien, Die V e r w a l t u n g 7 (1974), S. 496 ff., s. bes. für unseren Zusammenhang S. 514 ff., einen Überblick über die weitere Entwicklung, v o r allem auch zum sog. Egmont-Pakt v. 1977 u n d der E n t w i c k l u n g bis 1980 geben Clauss, Jan U. / Baumann, Franz, Die Regionalisierung Belgiens — A r i t h m e t i k eines Sprachenstreites, i n Gerdes, D i r k (Hrsg.), Aufstand der Provinz. Regionalismus i n Westeuropa, F r a n k f u r t 1980, S. 84 ff. 31 Vgl. Niebuhr (Anm. 3), S. 220 ff. 82 Vgl. Niebuhr (Anm. 3), S. 206 ff., der diesen Faktor für die U S A h e r v o r hebt. 33 s. ο. I I .

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V. Die Voraussetzungen des Mehrheitsprinzips

l i c h - k u l t u r e l l e , historische u n d n a t i o n a l e E i n h e i t b i l d e t h e u t e i n d e n europäischen D e m o k r a t i e n e i n stärkeres B a n d u n d h a t die r e l i g i ö s e n A u s e i n a n d e r s e t z u n g e n ü b e r l a g e r t u n d z u r ü c k g e d r ä n g t . I n w e n i g e r gef e s t i g t e n Staatswesen k a n n d i e religiöse S p a l t u n g e i n d e m o k r a t i s c h a n gelegtes S y s t e m a u s e i n a n d e r b r e c h e n lassen, w i e d e r Z e r f a l l des b r i tisch-indischen Kolonialreiches nach E r l a n g u n g der Unabhängigkeit die f e i n d l i c h e n S t a a t e n I n d i e n u n d P a k i s t a n d e m o n s t r i e r t h a t 3 4 .

in Der

d u r c h n a t i o n a l e u n d soziale S p a n n u n g e n aufgeladene K o n f l i k t z w i s c h e n P r o t e s t a n t e n u n d K a t h o l i k e n setzt h e u t e noch i n N o r d i r l a n d e i n e r a l l seits a n e r k a n n t e n G e l t u n g des M e h r h e i t s p r i n z i p s d e u t l i c h e G r e n z e n 3 5 . D i e A n e r k e n n u n g des M e h r h e i t s p r i n z i p s ist l a n g f r i s t i g auch a n eine gewisse soziale H o m o g e n i t ä t d e r Gesellschaft g e b u n d e n . Gesellschaftl i c h e Unterschiede, die sich i n abgeschlossenen K l a s s e n v e r f e s t i g t h a b e n u n d i n scharfen Gegensätzen ausprägen, setzen d i e politische E i n h e i t Z e r r e i ß p r o b e n a u s 3 6 u n d v e r m i t t e l n d e r u n t e r l e g e n e n Klasse das B e w u ß t s e i n , ausschließlich b e h e r r s c h t z u w e r d e n 3 7 , t r o t z f o r m a l e r

Gleich-

34 H i e r verbinden sich rein religiöse m i t historisch begründeten Ressentiments. 35 Die zum T e i l durch das Wahlrecht verschärften Benachteiligungen der katholischen Minderheit könnten n u r durch einen ausgeprägten Minderheitenschutz u n d vertragsförmige Entscheidungsverfahren aufgefangen u n d ausgeglichen werden. Z u r Situation i n N o r d i r l a n d s. Everding, Ulrich, N o r d irland: Zwischen „Religionskrieg" u n d regionaler Emanzipation, i n Gerdes, D i r k (Hrsg.), Aufstand der Provinz. Regionalismus i n Westeuropa, F r a n k f u r t / M . 1980, S. 214 ff. u n d v o r allem zum politischen System u n d den gesellschaftlichen Strukturen Nordirlands Stadler, Klaus, N o r d i r l a n d — Analyse eines Bürgerkriegs, München 1979, S. 94 ff. 36 s. Heller (Anm. 3), S. 427 f.; vgl. auch Laski, Harold J., The State i n Theory and Practice, London 1935, S. 165 " T h e u n i t y of the state can only be broken b y the antagonisms of the class struggle. A l l other oppositions, r e l i gious, national, racial, w h i c h result i n open conflict may change the personnel of the government, b u t they w i l l never break the fundamental u n i t y of state." Die letzte Aussage ist allerdings offensichtlich unrichtig; vgl. auch Eckstein, Harry, Division and Cohesion i n Democracy. A Study of Norway, Princeton 1966, S. 132 f. u n d bereits Mill, John Stuart, Betrachtungen über die repräsentative Demokratie (1861), Paderborn 1971, S. 113 ff., 153, 150. Der Begriff der Klasse w i r d hier nicht i m marxistischen Sinn verstanden u n d deshalb nicht durch sein Verhältnis zu den Produktionsmitteln bestimmt, sondern als eine geschlossene soziale Gruppe begriffen, die durch ein gemeinsames soziales Bewußtsein geeint ist u n d eine v o n den anderen Gruppen abgesonderte Identität erlangt hat. Das 19. Jh. hat i n Europa daher lange an Wahlrechtsbeschränkungen festgehalten. 37 Die marxistisch-leninistische Klassenlehre ist i n dieser Hinsicht durchaus konsequent und, die Richtigkeit der Analyse unterstellt, auch realistisch, w e n n sie dem Mehrheitsprinzip — jedenfalls theoretisch — n u r innerhalb einer Klasse, insbesondere i n Z u k u n f t i n der Arbeiterklasse, Geltung zukommen lassen w i l l . Geht m a n v o n einem Klassenkampf, einer Spaltung der Gesellschaft i n antagonistischen Klassen aus, ist dem Mehrheitsprinzip die Grundlage entzogen. Andererseits erhält diese Theorie dadurch i h r e n a n t i demokratischen Charakter. Vgl. Vyshinskij, A n d r e j Janarievic, The L a w of the Soviet State, New Y o r k 1951, S. 171 f.; die Konzeption des Revisionismus,

Α . Homogenität des Gemeinwesens u n d politischer Grundkonsens

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Stellung nicht wirklich teilzuhaben an den politischen Entscheidungen, und müssen zur Ablehnung der getroffenen Mehrheitsentscheidungen durch die sozial bestimmte Minderheit führen. Soziale Homogenität erfordert allerdings nicht, daß jegliche soziale Differenzierung verschwunden ist, solange der Abstand zwischen den einzelnen soziologisch erfaßbaren Schichten gering und vertikale Mobilität individuell möglich bleibt 3 8 . I n diesem Sinn sind die modernen demokratisch verfaßten Industriestaaten weitgehend homogen, was nicht zuletzt auf dem Mehrheitsprinzip selbst innewohnende Tendenzen zu einer Egalisierung zurückzuführen ist, da die Interessen der breiten Mehrheit der Bevölkerung die Entscheidungen sowohl des Volkes wie des Parlaments bestimmen werden. Auch die größere Homogenität der Eliten 3 9 kann i n repräsentativen Demokratien die strukturelle Heterogenität des Staatsvolkes kaum entscheidend überwinden, da sich die gesellschaftlichen Gegensätze i n den verschiedenen Strömungen i m Parlament fortsetzen und widerspiegeln werden, so daß ein höherer Konsens der Elite sich nur begrenzt über die fundamentalen Unterschiede hinwegsetzen kann 4 0 . Die strukturellen Differenzen schlagen vor allem deswegen auf die Anwendung des Mehrheitsprinzips durch, weil die Probleme, die unmittelbar auf diesen Unterschieden beruhen, durch Mehrheitsentscheidung keiner Lösung zugeführt werden können, da die Interessen der strukturellen Minderheit keine Berücksichtigung bei der Mehrheit erfahren. Außer dieser strukturellen gesellschaftlichen Homogenität 4 1 beruht politische Gemeinschaft, die die Grundlage jeder Mehrheitsentscheidung darstellt, auch auf einer eher diffusen Übereinstimmung politischer Wertvorstellungen und Verhaltensweisen, die sich am besten m i t dem Begriff der politischen K u l t u r 4 2 umschreiben lassen. Dazu gehören die davon ausgeht, daß die Arbeiterschaft die Mehrheit der Bevölkerung stellt u n d deswegen i m Wege des demokratischen Mehrheitsprinzips an die Macht kommen kann, stellt i m Gegensatz dazu diese Problematik nicht i n Rechnung. 88 Pennock (Anm. 6), S. 231 weist darauf h i n , daß v o r allem Ungleichheit i m Landbesitz i m Gegensatz zu ungleicher Einkommensverteilung Demokratie k a u m aufkommen läßt. Dies g i l t jedenfalls, solange der Staat noch durch feudale Strukturen geprägt ist u n d die industrielle E n t w i c k l u n g noch nicht w e i t fortgeschritten ist. 89 Vgl. zur Homogenität der Elite i n Deutschland: Dahrendorf, Ralf, Gesellschaft u n d Demokratie i n Deutschland, München 1968, S. 299 ff. 40 Vgl. zum höheren Konsens der Spitzeneliten unten. 41 Vgl. Berg-Schlosser (Anm. 10), S. 140. 42 Z u m Begriff der politischen K u l t u r s. v o r allem Almond, Gabriel Α., Z u m Vergleich politischer Systeme, i n Doeker, Gunther (Hrsg.), Vergleichende Analyse politischer Systeme, Freiburg 1971, S. 57 ff. (63 ff.) zum K o n zept als politischer Theorie Beyme, Klaus von, Die politischen Theorien der

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V. Die Voraussetzungen des Mehrheitsprinzips

natürlich die sozialen Identifikationsmuster m i t den übergreifenden Einheiten der Nation und eventuell der gemeinsamen Religion, abgesehen davon, daß die gesellschaftlichen Strukturen wiederum die Wertvorstellungen und Verhaltensweisen prägen und damit die politische K u l t u r beeinflussen. Insoweit spiegelt eine homogene politische K u l t u r weitgehend homogene gesellschaftliche Strukturen wider. Die politische K u l t u r entfaltet aber darüber hinaus Wirkung. Selbst i n strukturell fragmentierten Gesellschaften kann die Gleichförmigkeit einzelner Elemente der politischen K u l t u r dem demokratischen Gemeinwesen einen inneren Zusammenhalt verschaffen 43 , der auch Mehrheitsentscheidungen ermöglicht. Für die Anerkennung des Mehrheitsprinzips sind deshalb zum einen eine gewisse Homogenität der politischen K u l tur, ganz unabhängig von den konkreten Elementen i n der jeweiligen Demokratie, zum anderen aber auch besonders auf das Mehrheitsprinzip bezogene inhaltliche Elemente der politischen K u l t u r von Bedeutung. Letzteres betrifft vor allem über die Notwendigkeit einer Grundbildung 4 4 hinaus das individuelle staatsbürgerliche Kompetenzbewußtsein, das die Auffassungen über Möglichkeiten und Formen politischer A k t i o n 4 5 einschließt, sowie die A r t und Intensität des politischen Vertrauens gegenüber der Regierung und ebenso gegenüber Minderheiten und Mitbürgern 4 6 , die Fähigkeit zu Toleranz 4 7 gegenüber Mitbürgern, aber auch ganzen Gruppen teilweise minoritärer Natur und die Gegenwart, 4. A u f l . München 1980, S. 179 ff.; u n d v o r allem Berg-Schlosser (Anm. 10), S. 84 ff. zu den wesentlichen Elementen: soziale Identifikation, politisch relevante Persönlichkeitscharakteristika, ökonomische, soziale, r e l i giöse Einstellungen, politische Wertvorstellungen u n d Orientierungen. Eine umfassende, konsistente Theorie der politischen K u l t u r existiert aber bisher noch nicht, empirische Einzelanalysen beherrschen das B i l d , s. Dias, Patrick V., Der Begriff Politische K u l t u r i n der Politikwissenschaft, i n Oberndörfer, Dieter (Hrsg.), Systemtheorie, Systemanalyse u n d Entwicklungsländerforschung, B e r l i n 1971, S. 409 ff. (442 f.). 43 Nach Eckstein (Anm. 36), S. 134 ff., 155 ff. bildet die Homogenität der Autoritätsstrukturen ein entscheidendes Moment der "cohesion" i n N o r wegen, das i m übrigen eine ziemlich fragmentierte Gesellschaft zeigt; Heller (Anm. 3), S. 431 weist i m Grunde auf eine solche Homogenität der politischen K u l t u r hin, w e n n er konstatiert, „daß eine Homogenität der Alltagskonventionen, wie sie sich i n der Schweiz u n d i n den Vereinigten Staaten bis zu einem gewissen Grad herausgebildet h a t " , soziale Disparität überdecken kann. 44 Vgl. Pennock (Anm. 6), S. 243 f. u n d s. bereits Mill (Anm. 36), S. 146 ff., hier liegt zweifellos ein entscheidendes Handikap der indischen Demokratie. 45 Vgl. Berg-Schlosser (Anm. 10), S. 105 ff.; zu den politischen A k t i o n s formen jetzt Barnes, Samuel H. / Kaase, M a x , Political Action: Mass P a r t i cipation i n Five Western Democracies, Beverly H i l l s 1979, gerade hier haben i n jüngster Zeit Änderungen der Wertsysteme zu Verhaltensänderungen geführt, vgl. ebd. S. 204 ff., 305 ff. 46 s. Berg-Schlosser (Anm. 10), S. 98 f.; Pye / Verba (Anm. 14), S. 522, 535 ff., speziell zum trust i n England S. 95 f. 47 s. Berg-Schlosser (Anm. 10), S. 107.

Α . Homogenität des Gemeinwesens u n d politischer Grundkonsens

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i m Grunde daraus folgende Bereitschaft zu Kompromissen 48 , die einerseits die Mehrheitsbildung überhaupt erst ermöglichen und andererseits dazu beitragen, daß Mehrheitsentscheidungen von Minderheiten akzeptiert werden, da sie eine Mäßigung der Entscheidungen bewirken können. Neben einer Homogenität i n dem Bereich der strukturellen Gegebenheiten und der politischen K u l t u r setzt das Mehrheitsprinzip auf den ersten Blick einen politischen Grundkonsens voraus, eine Übereinstimmung i n politischen Grundüberzeugungen, auf deren Boden ein Konf l i k t i n Einzelfragen auf gemäßigte Weise ausgetragen werden kann, obwohl ein formeller Sozialvertrag, den die ältere Zeit zugrunde legte 4 9 , nicht existiert und realistischerweise nicht angenommen werden kann 5 0 . Die auch auf B u r k e 5 1 und Bagehot 52 zurückgehende Vorstellung 5 3 über einen Grundkonsens oder ein agreement on fundamentals ist i n ihrem sachlichen Gehalt von empirischen Untersuchungen teils bestätigt, teils korrigiert und modifiziert worden 5 4 , wie sich i n folgendem zeigt, und findet bereits i n der athenischen Demokratie gewisse Anhaltspunkte 5 5 . Ein derartiger Konsens i n der Wählerschaft über grundsätzliche demokratische Werte und demokratische Verfahrensregeln ist tatsächlich feststellbar. Der Konsens ist aber außerordentlich abstrakt, so daß über die Prinzipien der Freiheit und politischen Gleichheit nahezu völlige Einigkeit erzielt werden kann 5 6 , während die Einigkeit schnell zusammenbricht, wenn es u m konkrete Folgerungen aus diesen Grund4

8 Z u Vertrauen, Toleranz u n d Kompromißbereitschaft als Bedingungen der Demokratie s. Friedrich, Demokratie (Anm. 4), S. 74 ff.; Pennock (Anm. 6), S. 241 ff. 49 Vgl. aber Scheuner, Mehrheitsprinzip (Anm. 4), S. 54 f.; zu den Sozialvertragslehren s. ο. I I . 50 Vgl. dazu Einleitung u n d I I I ; w i e es sich bei Buchanan / Tullock findet. 51 Burke, Edmund, A n Appeal from the New to the O l d Whigs (1791), i n The Works, Bd. I I I , London 1872, S. 1 ff. (31, 44 f., 76). 52 Vgl. Bagehot, Walter, Die englische Verfassung (The English Constitut i o n 1867), Neuwied 1971, C. V I I I , S. 222 f. 53 K r i t i s c h zu diesem angelsächsischen Theorem Friedrich, Demokratie (Anm. 4), S. 67 ff., da inhaltliche Bindungen meist zur A b w e h r demokratischer Entwicklungen mißbraucht wurden. 54 Einen ausgezeichneten Überblick gibt Lehmbruch (Anm. 9), S. 285 ff. 55 I n der athenischen Demokratie fand der Grundkonsens seinen Ausdruck i m wesentlichen i n der Beschränkung der Gleichheit auf den politischen Bereich s. Meier, Christian, Entstehung u n d Besonderheit der griechischen Demokratie, ZfP 25 (1978), S. 1 ff. (29 f.). 56 s. Prothro / Grigg (Anm. 5), S. 284 ff.; dabei steht das Prinzip der Gleichheit heute bei den Bürgern eher i m Vordergrund, vgl. Jaffa, H a r r y V., Value consensus i n Democracy. The Issue i n the Lincoln-Douglas Debates, APSR 52 (1958), S. 745 ff. (748, 753); Budge, Ian, Agreement and the Stability of Democracy, Chicago 1970, S. 114 ff.

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V . Die Voraussetzungen des Mehrheitsprinzips

werten geht. Dann kommt es zu divergierenden Äußerungen, die oft demokratischen Vorstellungen diametral entgegengesetzt sind 5 7 . Es ist allerdings fraglich, ob ein genau definierbarer Grundkonsens wirklich nötig ist. Jedenfalls vermittelt eine diffuse Loyalität und Bindung an das jeweilige demokratische politische System dem Staatswesen einen ausreichenden Zusammenhalt und hinreichende demokratische Stabilität58. Dagegen ist innerhalb der politischen Eliten ein derartiger Konsens breiter, eingehender bestimmt und auch auf spezifische Folgerungen bezogen 59 und umschließt außerdem die demokratischen Verfahrensregeln 6 0 . Weitgehend können die gezeigten Unterschiede zwischen beiden Arten des Grundkonsenses m i t der höheren Bildung der Eliten erklärt werden, die den Zusammenhang zwischen den abstrakten Werten und den sich daraus logisch ergebenden Folgerungen erst erkennen läßt 6 1 . I n der Wählerschaft übt andererseits der stärker ausgeprägte Problemkonsens zusätzlich einigenden Einfluß aus 62 , während i n der politischen Elite der "issue conflict" breiten Raum einnimmt 6 3 . Bei politischen Systemen, die von einer schärferen Polarisierung gekennzeichnet sind 6 4 , ist nach empirischen Untersuchungen diese Polarisierung auf der mittleren Ebene, nämlich der Masse der Parteimitglieder, konzen57 s. Lehmbruch (Anm. 9), S. 293; McClosky, Herbert, Consensus and ideology i n American Politics, APSR 58 (1964), S. 361 ff. (366 f.); Prothro / Grigg (Anm. 5), S. 284 ff. 68 s. Almond/Verba (Anm. 6), S. 242, 246; allgemein zum "system affect" ebd. S. 101 ff.; Wahlke f John, Policy Demands and System Support, B r i t i s h Journal of Political Science 1 (1971), S. 271 ff. (284 ff.); auch Prothro / Grigg (Anm. 5), S. 294 meinen, daß ein bewußter Konsens w o h l nicht erforderlich sei. 59 Lehmbruch (Anm. 9), S. 293 f.; McClosky (Anm. 56), S. 366 f. Einen zu den Bürgern über die politisch Interessierten zu den Berufspolitikern steigenden Konsens zeigt detailliert für Großbritannien auf Budge (Anm. 56), insbesondere S. 105 ff. 90 McClosky (Anm. 57), S. 364 f.; vgl. auch Parsons (Anm. 6), S. 243: Konsens über "common framework of institutional norms"; ebenso Berelson (Anm. 6), S. 213, s. auch Budge (Anm. 56), S. 105 ff. β1 Prothro / Grigg (Anm. 5), S. 287 ff., 291; Lehmbruch (Anm. 9), S. 293 ff. mwN. 62 Key , V. O., Public Opinion and American Democracy, New Y o r k 1961, S. 50 vermutet sogar, daß die Summe der Übereinstimmungen i n Einzelfragen letztlich mehr Einigung b e w i r k t als der sogenannte Grundkonsens. 63 McClosky / Hoffmann / O'Hara (Anm. 9), S. 410 ff.; McClosky (Anm. 57), S. 374; das hat allerdings aus Gründen der A l t e r n a t i v e n b i l d u n g (s.o. I V , B, 1) durchaus seine Berechtigung. Bei McClosky, S. 374 heißt es zusammenfassend, daß, während die " p o l i t i c a l elite, w h i c h tends to be united on basic values, but divided on issues b y party affiliation, the voters divide on many basic values and adopt stands on issues w i t h l i t t l e reference to t h e i r p a r t y affiliation". 64 Das gilt insbesondere für Frankreich.

Α . Homogenität des Gemeinwesens u n d politischer Grundkonsens

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t r i e r t , w ä h r e n d die Basis, die W ä h l e r s c h a f t , i n g e r i n g e m A u s m a ß p o l a r i s i e r t ist u n d f ü r die Spitze d e r p o l i t i s c h e n E l i t e , die P a r l a m e n t a r i e r , e i n ausgeprägter F u n d a m e n t a l k o n s e n s c h a r a k t e r i s t i s c h i s t 6 5 . D a r a u s i s t i m L i c h t e des M e h r h e i t s p r i n z i p s das F a z i t z u ziehen, daß d i e b e i d e n E n t s c h e i d u n g s k ö r p e r , i n d e n e n das M e h r h e i t s p r i n z i p A n w e n d u n g f i n det u n d d i e u n t e r l e g e n e M i n d e r h e i t z u r H i n n a h m e d e r M e h r h e i t s e n t scheidung g e z w u n g e n ist, n ä m l i c h W ä h l e r s c h a f t u n d P a r l a m e n t , d u r c h e i n e n G r u n d k o n s e n s v e r b u n d e n sind, d e r bezeichnenderweise i m P a r l a m e n t , w o M e h r h e i t s e n t s c h e i d u n g e n p e r m a n e n t f a l l e n , besonders ausg e b i l d e t ist. E i n anderes K o n s e n s m u s t e r w e i s e n die „ s u b k u l t u r e l l s e g m e n t i e r t e n p o l i t i s c h e n S y s t e m e " 6 6 auf, i n d e n e n S e k t i o n a l i s m u s , r e g i o n a l e G l i e d e r u n g u n d soziale V e r s ä u l u n g 6 7 d i e Gesellschaft f r a g m e n t i e r e n . I n diesen F ä l l e n g e w i n n t d e r G r u n d k o n s e n s d e r S p i t z e n e l i t e eine h e r a u s r a g e n d e Bedeutung f ü r die politische Entscheidung68. Dennoch t r i t t i n sozial69, n a t i o n a l 7 0 u n d r e l i g i ö s 7 1 gespaltenen D e m o k r a t i e n das M e h r h e i t s p r i n z i p als E n t s c h e i d u n g s v e r f a h r e n z u n e h m e n d z u r ü c k u n d w i r d v o n F o r m e n d e r E n t s c h e i d u n g s f i n d u n g abgelöst, die u n t e r d e m A s p e k t d e r P a r i t ä t 7 2 65 Lehmbruch (Anm. 9), S. 296 f., 304 f. Converse , P h i l i p E. / Dupeux, Georges, Politicization of the electorate i n France and the United States, Public Opinion Quarterly 26 (1962), S. 1 ff., bes. 10, 14 ff., 21 f. E i n rückläufiger T r e n d der Polarisierung i n der Bundesrepublik bis etwa 1970 ist eher charakteristisch f ü r die Parteimitglieder als f ü r die Wählerschaft, w e i l eine Polarisierung der Wählerschaft k a u m vorhanden war. Lehmbruch, S. 297 ff., bes. 300; eine gewisse Ähnlichkeit m i t Frankreich weist auch die Situation i n Österreich auf, Lehmbruch, S. 307 ff. ββ Lehmbruch (Anm. 9), S. 310 f. 67 Begriffe bei Lehmbruch, Gerhard, Proporzdemokratie, Tübingen 1967, S. 33; zur Versäulung i n den Niederlanden s. Koch, Rainer / Lassow, Monika, Politische K u l t u r u n d Parteiensysteme i n den Niederlanden, ZParl. 2 (1971), S. 463 ff. (464 ff.). 68 s. Lehmbruch (Anm. 9), S. 310 f., zum agreement on fundamentals i n den Niederlanden s. Lijphart, Arend, The politics of accomodation, Pluralism and democracy i n the Netherlands, Berkeley 2. ed. 1975, S. 103, vgl. auch S. 124. 69 Das gilt für die Niederlande w i e f ü r Österreich bis i n die sechziger Jahre (Große K o a l i t i o n bis 1966). 70 Trotz aller staatlich-politischen Homogenität ist hier das Modell der Schweizer Großen K o a l i t i o n zu nennen, s. Lehmbruch, Proporzdemokratie (Anm. 67), S. 53 f., während i n den Referenden als Gegengewicht das M e h r heitsprinzip uneingeschränkt gilt. Z u m vertragsähnlichen Aushandeln der Gesetze i n der Schweiz auch Wildhaber, Luzius, Vertrag u n d Gesetz — K o n sensual- u n d Mehrheitsentscheidung i m schweizerischen Staatsrecht, ZSR 94 (1975), S. 113 ff. (133 ff.). 71 Die Niederlande gehören dazu. A n dieser Stelle ist aber insbesondere an das H l . Römische Reich deutscher Nation zu erinnern, dem es auf diese Weise gelang, dem Schicksal einer verfassungspolitischen, völligen Spaltung zu entgehen. 72 s. dazu Heckel, M a r t i n , Parität, E v S t L 2. Auflage 1975, Sp. 1753 ff. u n d oben I I , A n m . 151.

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V. Die Voraussetzungen des Mehrheitsprinzips

auch i n E i n z e l f r a g e n d e r t ä g l i c h e n p o l i t i s c h e n A r b e i t e i n e n a l l g e m e i n e n K o n s e n s 7 3 z u e r r e i c h e n suchen, i n d e m K o m p r o m i s s e n a c h d e r M e t h o d e des Paketeschnürens u n d des J u n k t i m s geschlossen w e r d e n 7 4 . Gerade i n f r a g m e n t i e r t e n p o l i t i s c h e n S y s t e m e n k a n n d e m M e h r h e i t s p r i n z i p aber e i n b r e i t e r e r A n w e n d u n g s b e r e i c h v e r s c h a f f t w e r d e n , w e n n sich die v e r s c h i e d e n e n abgeschlossenen G r u p p e n i n e i n e m G r u n d k o n s e n s e i n i gen, die S t r e i t f r a g e n u n d K o m p l e x e v o n e i n e r R e g e l u n g n a c h d e m M e h r h e i t s g r u n d s a t z auszunehmen, g e w i s s e r m a ß e n a u s z u k l a m m e r n 7 5 , d i e die G r u p p e n e x i s t e n t i e l l b e r ü h r e n u n d b e i d e n e n infolgedessen eine U n t e r w e r f u n g der betroffenen Minderheit unter den Mehrheitsbeschluß n i c h t e r w a r t e t w e r d e n k a n n . A n d e r e r s e i t s w i r d es i m Interesse des G a n z e n auch i n h o m o g e n e n , v o n e i n e m G r u n d k o n s e n s g e t r a g e n e n S y s t e m e n s i n n v o l l sein, b e i a u ß e r gewöhnlichen, tiefgreifenden Entscheidungen anstatt bloßer

Mehrheit

e i n e n ü b e r g r e i f e n d e n Konsens a n z u s t r e b e n 7 6 . D a r a n w i r d auch d e u t l i c h , daß der G r u n d k o n s e n s i n e i n e m p e r m a n e n t e n Prozeß h e r g e s t e l l t u n d s t ä n d i g e r n e u e r t w e r d e n m u ß 7 7 , w e i l er stets g e f ä h r d e t ist u n d v e r l o r e n gehen kann.

73 Z u m Spitzenkonsens i n den Niederlanden s. Lijphart (Anm. 68), S. 112 f., 126; ders., Consociational democracy, W o r l d Politics 21 (1968/69), S. 207 ff. (216 ff.); selbst w e n n Mehrheitsentscheidungen möglich sind, w i r d eine M e h r heitsentscheidung teilweise unterlassen, Lijphart, Politics of accomodation, S. 125; auch i n Schweden ist teilweise eine konsensuale S t r u k t u r der p o l i tischen Entscheidungsfindung zu konstatieren, s. A n i o n , Thomas J., PolicyM a k i n g and Political Culture i n Sweden, Scandinavian Political Studies 1969, S. 88 ff. (94, 99 f.). Die Übergänge zwischen Konkordanz- u n d Wettbewerbssystemen sind dabei fließend. V o r allem erstrangige K o n f l i k t e werden i m Konsensualverfahren geregelt (z.B. i m Libanon), s. Lehmbruch, Gerhard, Konkordanzdemokratie i m Internationalen System, PVS 10 (1969), Sonderheft 1, S. 139 ff. (144 f.); vgl. auch Lijphart, Democracy (Anm. 20), S. 25 ff. zu den Elementen der Großen K o a l i t i o n u n d dem gegenseitigen Veto i n segmentierten Gesellschaften, ebd. S. 147 ff., 153 ff. zum Libanon. 74 Lehmbruch (Anm. 67), S. 44 f.; zum Kompromiß u n d einer P o l i t i k des Ausgleichs i n den Niederlanden Koch / Lasswell (Anm. 67), S. 468 ff. 76 Key (Anm. 62), S. 40 f. 76 Vgl. etwa die Herbeiführung eines solchen Konsenses i n der Frage der Wiederbewaffnung der Bundesrepublik s. Wildenmann, Rudolf, Macht u n d Konsens als Problem der I n n e n - u n d Außenpolitik, 2. A u f l . K ö l n u. a. 1967, S. 261 f. 77 Vgl. Scheuner, Ulrich, Konsens u n d Pluralismus als verfassungsrechtliches Problem (1976), i n Staatstheorie u n d Staatsrecht, B e r l i n 1978, S. 135 ff. (158 ff.); vgl. auch Key (Anm. 62), S. 41: "consensus has a considerable element of f l e x i b i l i t y " ; „der täglich praktisch erneuerte Grundkonsens ist es, dessen die pluralistische Gesellschaft u n d der demokratische Staat bedarf", Schwan, Alexander, Grundwerte, Grundrechte, Grundkonsens, i n ders., Grundwerte i n der Demokratie, München 1978, S. 29 ff. (55). Auch insofern überzeugt die A b l e h n u n g eines Grundkonsenses bei Friedrich, Demokratie (Anm. 4), S. 57 ff. nicht.

Α . Homogenität des Gemeinwesens u n d politischer Grundkonsens

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I n Verfassungen 78 gewinnt der Grundkonsens zumeist eine juristische Gestalt. I m Begriff des Verfassungskonsenses 79 spiegelt sich noch entfernt der Sozialvertragsgedanke 80 . Die rechtliche Fixierung der staatlichen Grundlagen i n einer geschriebenen Verfassung vermeidet die Unschärfe und Unsicherheiten eines bloßen Konsenses der politischen Uberzeugungen und stellt das Mehrheitsprinzip i n einen klar erkennbaren, eindeutigen und abgegrenzten Rahmen, der eine Begrenzung und Mäßigung der Mehrheitsentscheidung garantiert 8 1 und damit der Minderheit die Annahme der Entscheidung ermöglicht. Aus der Funktion der Verfassung, den Grundkonsens festzuhalten, folgen auch das Erfordernis der qualifizierten Mehrheit für eine Verfassungsänderung sowie der absolute Schutz des Kernbestandes der Verfassung i n A r t . 79 I I I GG, dessen Änderung selbst dem Verfassungsgesetzgeber entzogen bleibt 8 2 . Die Integrationsfunktion von Grundkonsens und Verfassung 83 w i r d daran sichtbar und vermag langfristig eine Bindung der Bürger an die Verfassung hervorzurufen, die sich i n einem Verfassungspatriotismus 84 äußert. I n diesem Schutz durch Verfassung hat die juristische Anerkennung des Mehrheitsprinzips ihre Grundlage. Gleichzeitig gewährleistet die Verfassung als Grundkonsens gewissermaßen i m Ausgleich die verbindliche Geltung des Mehrheitsgrundsatzes als Verfahrensregel 85 . Seine Geltung beruht auf dieser Begrenzung, deshalb w i r d beides i n der Verfassung normiert 8 6 . Funktion und Bedeutung des politischen Grundkonsenses treten offen zu Tage, wenn politische 87 Minderheiten sich von dem vom Konsens 78 Vgl. Scheuner, Mehrheitsprinzip (Anm. 4), S. 55; s. auch Schwan (Anm. 77), S. 51 ff. 79 s. Schneider, Hans Peter, Die Parlamentarische Opposition i m Verfassungsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. I : Grundlagen, F r a n k f u r t 1974, S. 100, 115, 167, 375, 403; Wildenmann (Anm. 76), S. 65, 70 u n d öfter. 80 s. Scheuner, Mehrheitsprinzip (Anm. 4), S. 54 f.; vgl. auch Badura, Peter, Verfassung u n d Verfassungsgesetz, i n Festschrift Ulrich Scheuner, B e r l i n 1973, S. 19 ff. (25, 32). 81 s. Scheuner, Mehrheitsprinzip (Anm. 4), S. 56. 82 Vgl. dazu auch noch u n t e n V I I , B. 83 Grundkonsens u n d Verfassung sind nicht identisch. Das mag ein Beispiel illustrieren. Die derzeitige Wirtschaftsordnung der sozialen M a r k t w i r t schaft ist w o h l Bestandteil des Grundkonsenses i n der Bundesrepublik, w i r d aber i n dieser Form jedenfalls nicht durch die Verfassung normiert. 84 Sternberger, Dolf, Ist unsere Verfassung nicht demokratisch genug?, i n Nicht alle Staatsgewalt geht v o m V o l k e aus, Stuttgart 1971, S. 111 ff. (115). 85 Juristische Geltung u n d theoretische Rechtfertigung sind dennoch auseinanderzuhalten. 86 s. dazu noch unter V I I , Α , Β . 87 I m Unterschied zu den erwähnten strukturellen Minderheiten; die p o l i tische Minderheit muß nicht durch ein festes, gemeinsames ideologisches Überzeugungssystem als Band vereint sein, sondern k a n n sich auch an beson-

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V . Die Voraussetzungen des Mehrheitsprinzips

getragenen demokratischen System zurückziehen und Mehrheitsentscheidungen die Anerkennung verweigern. Wenn der Konsens bricht, besteht die Gefahr, daß ein Richtigkeits- und Wahrheitsanspruch die Überhand gewinnt, der andere Überzeugungen, vor allem soweit sie i n verbindlichen Beschlüssen der Mehrheit konkretisiert werden, nicht zu akzeptieren vermag. Darin liegt das Problem jeder, demokratische Verfahren negierenden, revolutionären Minderheit, die sich deswegen immer auf andere, nicht demokratische Legitimitätsprinzipien berufen w i r d 8 8 . Derartige Kollisionen zwischen Mehrheit und Minderheit drohen andererseits besonders i n den Fällen, i n denen weittragende und möglicherweise einschneidende Entscheidungen getroffen werden, die jedenfalls nach Ansicht der Minderheit nicht mehr vom vorausgesetzten Grundkonsens umfaßt werden, wie i n letzter Zeit das Beispiel der Kernenergie zeigt 8 9 . Die Intensität der Überzeugung 90 kann dann leicht von einem demokratisch legitimen Vertreten eigener Auffassungen i n illegitimen, teilweise sogar gewaltsamen Widerstand auch gegenüber ergangenen Mehrheitsentscheidungen umschlagen 91 . B. Meinungsfreiheit und öffentliche Meinung Die freie Entscheidung ist ein lebensnotwendiges Element des demokratischen Mehrheitsprinzips. Sie w i r d durch den Grundsatz der Freiheit der Wahl und das freie Mandat unmittelbar rechtlich abgesichert 92 , setzt ihrerseits aber voraus, daß die Entscheidenden sich ihre Meinung frei bilden können 9 3 , u m überhaupt i n der Lage zu sein, die entscheidderen einzelnen Problemen orientieren. Je spezieller die Frage, desto heterogener w i r d allerdings die Zusammensetzung der politischen Gruppierung sein. Das demonstriert die ökologische Alternativbewegung, die Grünen. 88 Das ist bei marxistischen Parteien v o r allem die Gesetzlichkeit der historischen Entwicklung. F ü r die ökologische Bewegung hat Offe, Claus, Die L o g i k des kleineren Übels, Die Zeit Nr. 46 v. 9.11. 79, S. 76 ebenfalls ein eigenes Legitimationsprinzip, den Prioritätsanspruch der Erhaltung des Lebens, das i n Gegnerschaft zu dem Legitimationsprinzip demokratischer M e h r heitsentscheidung steht, i n Anspruch genommen. Es handelt sich typischerweise u m ein rein inhaltlich bestimmtes Legitimations Verständnis. 89 Vgl. dazu unter dem Aspekt des Mehrheitsprinzips Guggenberger, Bernd, Krise der repräsentativen Demokratie, i n ders. / Kempf, Udo, B ü r gerinitiativen u n d Repräsentatives System, S. 18 ff. (30 ff., insbes. 32 ff., 37 ff.). 90 Deren unterschiedliche Qualität i n Mehrheitsentscheidungen keinen Ausdruck finden kann; zum Intensitätsproblem s. u n t e n V I , C. 91 Vgl. Fraenkel (Anm. 4), S. 413; außerparlamentarische Opposition ist zulässig, solange sie nicht i n außerparlamentarische Obstruktion übergeht. 92 s. oben. 93 Eine freie Meinungsbildung w a r bereits gewichtiges Element der athenischen Demokratie, s. Tarkiainen, T u t t u , Die Athenische Demokratie, Zürich 1966, S. 297 ff.

Β . Meinungsfreiheit u n d öffentliche Meinung

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baren Alternativen nach sachlichen Kriterien i n Ausmaß und Reichweite, Inhalt und Auswirkungen beurteilen zu können. Politischer W i l lensbildung müssen Informationen und Diskussion 94 vorausgehen. Das bedeutet i n erster Linie die Notwendigkeit einer freien öffentlichen Meinungsbildung 9 5 , denn unbeschadet der herausragenden Rolle der Kleingruppen i m Meinungsbildungsprozeß 96 , lebt die freie Meinung von der Kommunikation i m öffentlichen Raum. Ein breiter, ungehinderter Fluß der Informationen 9 7 , die vielstimmige und differenzierte A r t i k u l a t i o n von Meinungen i n allen Medien, Presse 98 wie Rundfunk und Fernsehen 99 , die die Entfaltung und Ausbreitung ihrer Begründungen einschließt, geben den Entscheidungsträgern erst das Material an die Hand, aufgrund dessen sie sich selbst ihre eigene Meinung bilden können, ohne daß Zufälligkeiten und individual- wie sozialpsychologische Faktoren nichtrationaler Natur auf diese Weise gänzlich ausgeschaltet und eliminiert werden könnten. Vielfalt, Lebendigkeit, Stil und Qualität der Äußerungen und Diskussionen i n den verschiedenen Medien sind ein entscheidender Bestandteil des demokratischen Entscheidungsverfahrens, der nicht allein durch rechtliche Sicherungen hergestellt werden kann, sondern weitgehend den gesellschaftlichen Kräften und Institutionen, ihrer Initiative und ihrem Einfallsreichtum überlassen ist und ein Element der politischen K u l t u r eines Landes darstellt. Das Recht kann durch Verfassung und Gesetz nur Grundbedingungen schaffen, die die Möglichkeit zu solcher Information und Diskussion eröffnen, nur einen Rahmen stecken, der der Ausfüllung durch das politische und gesellschaftliche Leben bedarf. I n dieser Hinsicht kann das Recht der Meinungsfreiheit 1 0 0 einen Freiraum, i n dem private 1 0 1 und 04 Das Moment der Diskussion hebt die angelsächsische Theorie der Demokratie als government b y discussion besonders hervor. 95 s. Ridder, H e l m u t K . J., Meinungsfreiheit, i n Neumann / Nipperdey / Scheuner, Die Grundrechte, Bd. I I , B e r l i n 1954, S. 243 ff. (256). 96 s. Katz, E l i h u / Lazarsfeld, Paul F., Persönlicher Einfluß u n d Meinungsbildung, München 1962, S. 58 ff., vgl. auch die Zusammenfassung der modernen Kommunikationsforschung bei Jarass, Hans D., Die Freiheit der Massenmedien, Baden-Baden 1978, S. 46 ff. 97 Das Grundgesetz sichert deshalb ausdrücklich die Informationsfreiheit i n A r t . 5 GG als Grundrecht ab, während es i n anderen Demokratien v o n dem Grundrecht der Meinungsfreiheit abgedeckt ist. 98 Presse- u n d Meinungsfreiheit sind v o r allem i n der liberalen Auffassung des 19. Jh. eng verknüpft. Z u r Pressefreiheit s. insbesondere Scheuner, Ulrich, Pressefreiheit, V V D S t R L 22 (1965), S. 1 ff. 99 Vgl. A r t . 5 GG. 100 Z u Recht hat Ridder (Anm. 95), S. 256 ff. m i t Nachdruck auf die öffentliche F u n k t i o n der Meinungsfreiheit i m demokratischen Willensbildungsprozeß hingewiesen. Es bleibt allerdings außerdem w e i t e r h i n die Meinungsfreiheit als liberales Abwehrrecht zu berücksichtigen, s. Herzog, i n Maunz /

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V. Die Voraussetzungen des Mehrheitsprinzips

öffentliche Meinungsbildung sich vollziehen können, dadurch schaffen, daß es einen durchsetzbaren rechtlichen Anspruch auf Schutz vor staatlichem und gesellschaftlichem 102 Druck gewährt. Erst die rechtlich gesicherte Meinungsfreiheit erlaubt eine freie Willensbildung, die allein demokratische Mehrheitsentscheidungen hervorzubringen vermag 1 0 3 . Zur Sicherung der freien Meinungs- und Willensbildung treten neben die Meinungs- und Pressefreiheit ergänzend die Grundrechte der Versammlungs- 1 0 4 und Vereinigungsfreiheit 1 0 5 , soweit sie ein kommunikatives Element enthalten, das eine enge Beziehung zum demokratischen Willensbildungsprozeß aufweist 1 0 6 . Denn Bestandteil demokratischer Meinungs- und Willensbildung ist nicht nur die individuelle, sondern auch die gemeinschaftliche Meinungsformung und -artikulation i n Gruppen, für die das Zusammenspiel der Grundrechte der Meinungs-, Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit eine Grundbedingung darstellt und den notwendigen Spielraum i n individueller wie gruppenspezifischer Hinsicht gewährleistet, u m Mehrheitsentscheidungen zu ermöglichen, die von den Bürgern i n freier Selbstbestimmung getroffen werden können. Eine breite und freie, offene Erörterung der verschiedenen Alternativen unter allen möglichen Aspekten ist außerdem sowohl Voraussetzung der demokratischen individuellen Teilhabe an den Entscheidungen wie Grundlage eines adäquaten, vernünftigen und gemeinwohlbezogenen Inhalts der Mehrheitsentscheidung 107 , des Ergebnisses der D ü r i g / Herzog / Scholz. Kommentar zum GG, A r t . 5, Rdn. 5 ff.; zu den Gefahren einer funktionell-demokratischen Grundrechtsinterpretation der M e i nungsfreiheit s. Klein, Hans H., öffentliche u n d private Freiheit. Z u r Auslegung des Grundrechts der Meinungsfreiheit, Der Staat 10 (1971), S. 145 ff. insbes. S. 160 ff.; neben Abwehrrecht u n d öffentlicher F u n k t i o n bedeutet Freiheit auch „lebendige Anteilnahme am Ganzen, Mitgestaltung u n d M i t verantwortung", Scheuner, Pressefreiheit (Anm. 98), S. 20. Dies gilt i n besonderem Maß für die Meinungsfreiheit, die dem einzelnen Bürger die Möglichkeit eröffnet, durch seine Meinungsäußerungen Einfluß auf das politische Geschehen zu nehmen. Diese F u n k t i o n des Grundrechts steht zwar i n engem Zusammenhang m i t der Stellung der Meinungsfreiheit i m Prozeß der B i l dung des Mehrheitswillens, ist aber davon zu unterscheiden, vgl. auch BVerGE 7, 198 (212). 101 D a r i n k o m m t besonders der abwehrende Charakter des Grundrechts zum Ausdruck. 102 s. BVerfGE 25, 256 (265) gegen unverhältnismäßigen, privaten Druck. 103 Politische Systeme, die die Wahlfreiheit beschränken, beschneiden deshalb m i t Zensur u n d anderen Methoden meist bereits die Meinungsfreiheit. 104 s. A r t . 8 GG. 105 s. A r t . 9, 21 GG. ιοβ D e r k o m m u n i k a t i v e Aspekt dieser Grundrechte hat auch eine r e i n i n d i viduelle, private Komponente ohne Bezug zur demokratischen W i l l e n s b i l dung insofern, als sie Selbstverwirklichung durch K o m m u n i k a t i o n ermöglichen sollen; zum Bezug der beiden Grundrechte auf den demokratischen Willensbildungsprozeß s. Herzog, i n Maunz / D ü r i g / Herzog / Scholz, A r t . 8, Rdn. 2; Scholz, ebd. A r t . 9, Rdn. 8; vgl. i m Bereich des GG auch A r t . 21, dessen Bedeutung Ridder (Anm. 95), S. 257 aber insofern überzeichnet.

Β . Meinungsfreiheit u n d öffentliche Meinung

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Abstimmung. Mehrheitsentscheidungen können insofern nur dann Vorrang beanspruchen, wenn gründliche Debatten und Diskussionen vorausgehen und sie auf diese Weise vorbereitet werden 1 0 8 . Die Mehrheitsentscheidung erhält ihre Legitimation nicht zuletzt auch i m Hinblick auf die unterlegene Minderheit zwar einerseits von der demokratischen Beteiligung, andererseits jedoch von ihrer inhaltlichen Qualität, die wesentlich durch die offene Austragung der Meinungsgegensätze, die der Minderheit argumentative Einflußnahme erlaubt, bestimmt wird. I m parlamentarischen Meinungs- und Willensbildungsprozeß gewinnt dieser Gesichtspunkt materieller Entscheidungsqualität überragende Bedeutung, andererseits ist die freie Entscheidung an den politischen A u f t r a g 1 0 9 der Wählerschaft, der auch i m Gedanken der Verantwortlichkeit zum Ausdruck kommt, und das Gemeinwohl 1 1 0 gebunden. Obgleich das Gemeinwohl i n einem dauernden Prozeß des Interessenausgleichs und der Konsensbildung ständig neu ermittelt werden muß 1 1 1 , w i r d dadurch die Verantwortung des Parlaments und der Mehrheit gegenüber der Gesamtheit hervorgehoben 112 . Auftragsgedanke und Gemeinwohl erzwingen daher eine Berücksichtigung vielfältiger Interessen und verschiedener politischer Argumentationen. I m Hinblick darauf ist die öffentliche Diskussion, die heute weitgehend nicht mehr auf den engeren Bereich des Parlaments beschränkt bleibt, sondern sich i n einem durch die Sachverständigen aus Bürokratie, Interessenverbänden und unabhängigen Institutionen, durch die veröffentlichte Meinung i n Presse und anderen Medien, durch Verbände und Interessengruppen erweiterten Kreis der Beteiligten, gelegentlich durch repräsentative 107 s. oben Einleitung, i n der Trias der Legitimitätsbedingungen die Effekt i v i t ä t der Herrschaftsleistungen. 108 s. Scheuner, Pressefreiheit (Anm. 98), S. 28, zur Bedeutung der vorherigen Diskussion vgl. auch bereits Lewis, George Cornewall, A n Essay on the Influence of A u t h o r i t y i n Matters of Opinion, London 1849, S. 215 ff. 109 I m Gegensatz zu einer rechtlich unmittelbaren Bindung des imperat i v e n Mandats entfaltet das freie Mandat keine solche Bindung. Dafür k e h r t das freie Mandat sehr v i e l stärker das Prinzip der Verantwortlichkeit hervor, das seinerseits eine gewisse Entscheidungsfreiheit voraussetzt, vgl. Scheuner, Ulrich, Das imperative Mandat, i n Staat u n d Gemeinde. Eine kritische Untersuchung, Festschrift Η . P. Ipsen, Tübingen 1977, S. 143 ff. (157, 159 ff.). 110 Das heißt nicht, daß die Gemeinwohlinhalte a p r i o r i feststehen, sondern eine B i n d u n g an die Interessen der Gesamtheit. 111 Schneider (Anm. 79), S. 35; Scheuner, Mehrheitsentscheid (Anm. 4), S. 314; ders., Mehrheitsprinzip (Anm. 4), S. 58; Fraenkel, Ernst, Deutschland u n d die westlichen Demokratien, Stuttgart 7. A u f l . 1979, S. 197 ff.; Häberle, Peter, Öffentliches Interesse als juristisches Problem, Bad H o m b u r g 1970, S. 60, 709; BVerfGE 44, 125 (141 f.). 112 Vgl. BVerfGE 44, 125 (147); nachfolgend Scheuner, Mehrheitsentscheidung (Anm. 4), S. 314, s. aber auch abweichendes V o t u m BVerfGE 44, 181 (184), das das Programm der Mehrheitspartei m i t dem Gemeinwohl gleichsetzt.

13 Heun

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V . Die Voraussetzungen des Mehrheitsprinzips

Meinungsumfragen beeinflußt, vollzieht 1 1 3 , ein unabdingbares Moment des offenen Willensbildungsprozesses. Die öffentliche Meinung trägt durch ihre K r i t i k , Kontrolle und öffentliche Diskussion zur Legitimität der Mehrheitsentscheidung bei, abgesehen von ihrer Funktion, außerhalb der Beteiligung an den Mehrheitsentscheidungen eine Chance der Einflußnahme auf den öffentlichen Verfassungsprozeß zu eröffnen. Ein notwendiges Element des zur Mehrheitsentscheidung hinführenden Entscheidungsprozesses ist die Offenheit gegenüber verschiedenen Auffassungen 114 , gerade weil die abschließende Entscheidung nur einer Alternative Verbindlichkeit verleiht. Deshalb kommt dem Pluralismus, verstanden als „Offenheit des Gemeinwesens gegenüber verschiedenen politisch-sozialen Meinungen, Strömungen und auch organisierten K r ä f t e n " 1 1 5 für das demokratische Mehrheitsprinzip grundlegende Bedeutung zu. Das Ringen der verschiedenen sozialen und wirtschaftlichen Interessen u m Einfluß und Durchsetzung erschöpft sich nicht i m Streit der Argumente, sondern umfaßt auch Machtkämpfe, soweit sie noch die Fähigkeit zum demokratischen Ausgleich behalten 1 1 6 . C. Die Chance des Mehrheitswechsels und die Änderbarkeit der Mehrheitsentscheidung Neben der Bereitschaft zur Öffnung gegenüber verschiedenen politischen Meinungen und gesellschaftlichen Strömungen ist die Offenheit des demokratischen Entscheidungsverfahrens nach der Mehrheitsregel noch i n anderer Hinsicht bedeutsam, die sich i n Kürze mit der Erforderlichkeit einer Offenheit i n zeitlicher Perspektive umschreiben läßt. Die Mehrheit der Wählerschaft darf nicht zu einer festen Gruppierung erstarren 1 1 7 , nicht zu einem unwandelbaren Block gefrieren. Die 113

Scheuner, Mehrheitsprinzip (Anm. 4), S. 59. Z u dieser Offenheit s. Hesse, Konrad, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 12. A u f l . Heidelberg u . a . 1980, S. 65ff.; Scheuner, Mehrheitsprinzip (Anm. 4), S. 57 ff., die gleichzeitig die A n e r k e n n u n g einer Opposition nach sich zieht, s. Scheuner, S.57 f.; Schneider (Anm. 79), S. 35; BVerfGE 27, 195 (201); vgl. auch Schiaich, Klaus, Neutralität als verfassungsrechtliches Prinzip, Tübingen 1972, S. 24 f., 244. Ausdruck u n d Gewähr dieser Offenheit sind v o r allem die Prinzipien der Neutralität (dazu Schiaich, S. 244 ff.) u n d Toleranz; dazu Schiaich, S. 253 ff. 115 Scheuner, Konsens (Anm. 77), S. 145, vgl. ebd. S. 145 ff.; so verstanden ist Pluralismus weniger die Beschreibung des modernen Verbandswesens als ein — eher — normativer Aspekt des demokratischen Entscheidungsprozesses, dem allerdings Grenzen gesetzt werden müssen. 116 Vgl. Scheuner, Mehrheitsprinzip (Anm. 4), S. 58. 117 V o n Wiese, Leopold, System der allgemeinen Soziologie als Lehre v o n den sozialen Prozessen u n d den sozialen Gebilden der Menschen, B e r l i n 1955 (3. Aufl.), S. 393, beschreibt deshalb zugleich ein F a k t u m u n d ein Desiderat, w e n n er feststellt, daß Mehrheit u n d Minderheit keine „sozialen Gebilde" sind. 114

C. Die Chance des Mehrheitswechsels

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Zusammensetzung der Mehrheit muß sich i n einem dauernden Wechsel ändern, i n dem sich nur jeweilige 1 1 8 Mehrheiten bilden und dem einzelnen Bürger die Chance bleibt, einmal zur siegreichen Mehrheit, ein anderes Mal zur unterlegenen Minderheit zu gehören 119 . Diese potentielle Möglichkeit des Wechsels muß sich jedenfalls bis zu einem gewissen Grad auch verwirklichen. M i t dieser Voraussetzung ist auch verbunden die Notwendigkeit der Offenheit des Ausgangs der jeweiligen Mehrheitsentscheidung, die sich rechtlich i m Erfordernis der Freiheit der Entscheidung kristallisiert 1 2 0 . Die Möglichkeit wechselnder Mehrheiten heißt zudem, daß sich das ganze Spektrum des politischen Willens der Bevölkerung verschieben und verlagern kann und daher die gesamtgesellschaftliche Entwicklung grundsätzlich offen gehalten werden muß 1 2 1 , auch wenn Mehrheitsentscheidungen sich nicht über gesellschaftliche und politische Rahmenbedingungen demokratischer Herrschaft hinwegsetzen können und dürfen. Diese Offenheit und Einbindung der Mehrheitsentscheidung i m gesellschaftlichen Bereich findet ihre juristische Entsprechung i n der Notwendigkeit einer funktionellen Offenheit der Verfassung 122 und der Ermöglichung des Verfassungswandels 123 , die gleichzeitig den i n der 118

Schmitt, Legalität (Anm. 8), S. 41; BVerfGE 2, 1 (12); 5, 85 (140, 199). Scheuner, Mehrheitsprinzip (Anm. 4), S. 58; Hesse (Anm. 112), S. 58; Sternberger, Dolf, Lebende Verfassung, Meisenheim 1956, S. 145; D'Alimonte, Roberto, Regola de maggioranza, stabilità e equidistribuzione, Rivista I t a liana de Scienza Politica 4 (1974), S. 43 ff. (68 ff., 103 ff.); Varain (Anm. 3), S. 246; Starosolskyj, Wolodymyr, Das Majoritätsprinzip, W i e n 1916, S. 27; vgl. auch Berg, Elias, Democracy and the M a j o r i t y Principle, Göteborg 1965, S. 150 ff.; Schindler (Anm. 4), S. 87 ff.; vgl. bereits Aristoteles, P o l i t i k 1317 b; schon f ü r die athenische Volksversammlung w a r es v o n Bedeutung, daß es keine Fraktionen, sondern wechselnde Mehrheiten gab, Meier (Anm. 55), S. 26 ff.; jetzt zur Bedeutung der Revisibilität der Mehrheitsentscheidung eingehend Gusy, Christoph, Das Mehrheitsprinzip i m demokratischen Staat, A ö R 106 (1981), S. 329 ff. (342 ff., 348, 353). 120 s. oben I V , C, 4. 121 s. Scheuner (Anm. 77), S. 145 f.; vgl. auch BVerfGE 5, 85 (197) u n d Hesse (Anm. 112), S. 65 ff. 122 Schneider (Anm. 79), S. 27; vgl. auch Häberle, Peter, Zeit u n d Verfassung Prolegomena zu einem „zeit-gerechten" Verfassungsverständnis, ZfP 21 (1974), S. 111 ff. (bes. 129), w o er feststellt, daß die Interpretationsmethoden selbst u n d die Rechtsnorm den Zeitfaktor i n sich tragen. Häberle hat an anderer Stelle (Die offene Gesellschaft der Verfassungsinterpreten, JZ 1975, S. 297 ff.) die Bedeutung der Interpretation durch die Verfassungswirklichkeit herausgestellt. „Wer die N o r m lebt, interpretiert sie auch m i t " (ebd. S. 297). Es ist ein hervorragendes M e r k m a l der parlamentarischen Demokratie, daß sie so „auf u n d i n die Zeit s t r u k t u r i e r t ist", Häberle, Zeit u n d V e r fassung, S. 119. 123 s. Schenke, Wolf-Rüdiger, Verfassung u n d Zeit — v o n der entzeiteten zur zeitgeprägten Verfassung, AöR 103 (1978), S. 566 ff. (585 ff.); diese Offenheit ist gleichzeitig aber auch Voraussetzung f ü r Dauerhaftigkeit u n d K o n t i n u i t ä t ; s. Scheuner, Ulrich, Die F u n k t i o n der Verfassung für den Bestand der politischen Ordnung, i n Regierbarkeit, hrsg. v. W i l h e l m H e n n i s / P e t e r Graf Kielmansegg / U l r i c h Matz, Bd. 2, Stuttgart 1979, S. 102 ff. (124 f.). 119

13·

196

V . Die Voraussetzungen des Mehrheitsprinzips

Zeit sich verändernden Grundkonsens nicht außer acht lassen dürfen und dadurch eingegrenzt sind. Dagegen unterhöhlt die Existenz permanenter, struktureller 1 2 4 oder identifizierbarer 1 2 5 Minoritäten die Bereitschaft dieser Minderheit, die Mehrheitsentscheidungen zu akzeptieren oder sogar nur hinzunehmen 1 2 6 . Westliche Demokratien zeichnen sich deshalb dadurch aus, daß sie keine homogenen, sondern unterschiedliche, wechselnde Mehrheiten kennen 1 2 7 . Eine gleichbleibende, ständige, blockartig erstarrte Mehrheit birgt für die Minderheit die Gefahr einer Tyrannei der Mehrheit 1 2 8 i n sich, und die Mehrheitsherrschaft w i r d schnell als eine solche Tyrannei empfunden werden. Diese Wirkung kann durch eine föderale Struktur nicht aufgehoben, höchstens gemildert werden 1 2 9 . Darüber hinaus kann das Problem, das solche Minoritäten aufwerfen, nur gelöst werden, indem die Minderheit sich völlig aus dem Staatsverband der Mehrheit löst 1 3 0 oder indem die spezifischen, die Minderheit unmittelbar berührenden Fragen aus dem Geltungsbereich des Mehrheitsprinzips i n einem Grundkonsens ausgeklammert werden 1 3 1 , was meist durch Formen der Willensbildung ergänzt wird, die einen übergreifenden, alle Gruppen einbeziehenden Konsens, der i n allseitigen Verhandlungen herbeigeführt w i r d 1 3 2 , erzielen. Während die Beweglichkeit des Mehrheitsprinzips sich bei der Wählerschaft i n der Chance wechselnder Zugehörigkeit zur Mehrheit äußert, manifestiert sich diese Flexibilität i m Parlament i m wesentlichen 1 3 3 i n der Chance des Regierungswechsels, i m potentiellen Macht124

Begriff bei Scheuner, Konsens (Anm. 76), S. 166. Lively , Jack, Democracy, Oxford 1975, S. 26. 126 v g l . Scheuner, Mehrheitsprinzip (Anm. 4), S. 58 f., 60, da sie damit zum Objekt fremder Entscheidung werden (S. 60); v o r allem i n N o r d i r l a n d ist dies höchst augenscheinlich; s. Stadler (Anm. 34), S. 112 ff.; vgl. auch Smend (Anm. 3), S. 156 zur dauernden Entfremdung dauernder Minderheiten. 125

127

Lively (Anm. 123), S. 25. Die zumindest v o n der Minderheit als solche empfunden werden w i r d ; zu dem Begriff u n d seiner Geschichte vgl. die Monographie Hüglin, Thomas O., Tyrannei der Mehrheit, B e r n u. a. 1977. 129 s. bereits, The Federalist Nr. 10; i n der Bundesrepublik hat der Bundesstaat für die i m B u n d i n die Opposition verwiesenen Parteien, früher SPD, heute CDU/CSU, durch die Regierungsmöglichkeiten i n den Ländern einen Ausgleich geschaffen u n d das Problem der alternierenden Regierungsparteien entschärft; vgl. auch Scheuner, Ulrich, Kooperation u n d K o n f l i k t , Das Verhältnis v o n B u n d u n d Ländern i m Wandel (1972), i n Staatstheorie u n d Staatsrecht, B e r l i n 1978, S. 399 ff. (413 f.). 130 Klassisches Beispiel ist hierfür das Auseinanderbrechen der K u K - M o n archie. 131 Die konfessionelle Spaltung hat i m Reich u n d i n der Schweiz zu dieser Regelung geführt, s. ο. I I . 132 s. o. die Ausführungen über die Konkordanzdemokratien. 128

197

C. Die Chance des Mehrheitswechsels Wechsel z w i s c h e n R e g i e r u n g u n d O p p o s i t i o n 1 8 4 . D i e O p p o s i t i o n n i c h t a l l e i n die rechtliche, v i e l m e h r

auch d i e tatsächliche,

muß

effektive

M ö g l i c h k e i t 1 3 6 h a b e n , a n die R e g i e r u n g z u gelangen, n i c h t z u l e t z t u m d a m i t d e m W i l l e n e i n e r m ö g l i c h s t v o n d e m die b i s h e r i g e

Regierung

tragenden Wählerkreis deutlich unterschiedenen, anderen W ä h l e r m e h r h e i t A u s d r u c k z u verschaffen. A b e r g l e i c h z e i t i g besitzt d e r M e h r h e i t s wechsel eigenständige B e d e u t u n g f ü r die a m V e r f a s s u n g s l e b e n b e t e i l i g t e n P a r t e i e n , die a u f diese Weise i n das politische S y s t e m i n t e g r i e r t u n d r e g i e r u n g s f ä h i g w e r d e n 1 3 6 . Diese C h a n c e ist a m ehesten i n r e n d e n 1 3 7 Z w e i p a r t e i e n - u n d Z w e i k r ä f t e s y s t e m e n 1 3 8 , aber auch

in

trialistischen

Parteiensystemen

gewährleistet.

Zentristische

P a r t e i e n s y s t e m e zeichnen sich dagegen n i c h t d u r c h scharf rende Machtwechsel, s o n d e r n d u r c h p a r t i e l l e

alternieweitgehend

kontrastie-

Machtverschiebungen139

aus, i n d e n e n die i n a l l e n V i e l p a r t e i e n s y s t e m e n bestehende daß d i e R ä n d e r d e r P a r t e i e n l a n d s c h a f t v o n d e r R e g i e r u n g

Gefahr,

dauerhaft

ausgeschlossen b l e i b e n 1 4 0 , schärfer h e r v o r t r i t t .

133

Auch dort sind trotz der modernen Parteien wechselnde Mehrheiten möglich. Eine deutliche Anerkennung dieser Möglichkeit ist die rechtliche Stellung der Mehrheit i m Verfassungsgerichtsprozeß. Die Mehrheit ist nach übereinstimmender Auffassung nicht Partei i m Organstreit, s. BVerfGE 2, 143 (160 ff.), Achterberg, Norbert, Die parlamentarische Verhandlung, B e r l i n 1979, S. 45. 134 Schneider, Opposition (Anm. 79), S. 36, 399 ff. vgl. auch BVerfGE 5, 85 (199); hier unterscheidet sich scharf die osteuropäische kommunistische Lehre, die einen Mehrheitswechsel dann ablehnt, w e n n u n d sowie die k o m m u n i s t i sche Partei einmal die Herrschaft erlangt hat. s. jetzt die Äußerungen auf der „Internationalen wissenschaftlichen Konferenz" Revolution u n d Demokratie, Probleme des Friedens u n d des Sozialismus 22 (1979), S. 904 ff., 1063 ff., 1185 ff., 1327 ff. (1068 f., 1189, 1192 f.) u n d dazu Seliger, K u r t , Macht u n d Mehrheit. Die kommunistische Ideologiekonferenz v o n Tihany, Osteuropa 30 (1980), S. 379 ff. (380 ff.). Zweifelhaft ist auch, ob i n dieser Hinsicht bei den Eurokommunisten ein Wandel eingetreten ist. s. Hornung, Klaus, Eurokommunismus — ein Konzept der Machteroberung, i n Wehling, H a n s - G e o r g / Pawelka, Peter, Eurokommunismus u n d die Z u k u n f t des Westens, Heidelberg u. a. 1979, S. 143 ff. (149 ff.). 135 Schneider, Opposition (Anm. 79), S. 384. lae Regierungsfähigkeit setzt zum T e i l eben Regierungserfahrung voraus. Dies w a r das Dilemma der SPD 1918. 137

I m Gegensatz zu einem hinkenden Zweikräftesystem: zur Terminologie

s. o. 138

Z u r Terminologie s. o. Scheuner, Mehrheitsentscheidung (Anm. 4), S. 322. 140 Das betraf v o r den Weltkriegen v o r allem die sozialistischen Parteien u n d heute die westeuropäischen kommunistischen Parteien, s. die Zusammenstellung bei Scheuner, Mehrheitsentscheidung (Anm. 4), S. 321. Der A u s schluß dieser Randgruppen muß nicht auf zentristische Systeme beschränkt sein. Bis 1981 stellt die frz. V . Republik ein Beispiel f ü r ein hinkendes Z w e i kräftesystem dar, das die Kommunisten ausschließt. Ähnliches gilt für Italien, w o zudem die Neofaschisten u n d Monarchisten ausgeschlossen sind. 139

198

V. Die Voraussetzungen des Mehrheitsprinzips

I n diffusen Systemen steht die Gelegenheit zur Beteiligung an der Regierungsbildung zwar meist allen Kräften offen, andererseits ist die Entscheidungsweise oft unübersichtlich, droht das Gegenteil der Erstarrung, der zu häufige Wechsel, drohen i n repräsentativen Demokratien die notwendigen, klaren Verantwortlichkeiten zu verschwimmen, die der Kontinuität stabiler Regierungsmehrheiten bedürfen. Die Labilität der Mehrheit w i r d unter anderem i m Hinblick auf den möglichen Machtwechsel eher zur Berücksichtigung der Interessen und Auffassungen der Minderheit führen 1 4 1 . Die lange Dauer der Herrschaftsausübung einer Partei oder Gruppierung i n bipolar ausgerichteten Parteisystemen aber, die zugleich m i t dem Einfluß mächtiger Verbände wie den Gewerkschaften verbunden ist 1 4 2 , entzieht auf lange Sicht den Mehrheitsentscheidungen ein wesentliches legitimierendes Element 1 4 3 . Abgesehen von diesem Legitimationsaspekt kann das Verharren i n permanenter Opposition die benachteiligten Randgruppen i n eine Ablehnung des ganzen politischen, demokratischen Systems der Mehrheitsherrschaft treiben, wie umgekehrt allerdings die Negierung der demokratischen Herrschaftsstrukturen die Minderheitspartei i n das A b seits ewiger Opposition zu stellen vermag 1 4 4 . Die Chance des Machtwechsels kann nicht durch rechtliche Regelungen garantiert werden 1 4 5 . Es können aber rechtliche Grundbedingungen für die Sicherung des Mehrheitswechsels geschaffen werden, die eine Diskriminierung und bewußte Behinderung oppositioneller Parteien und Gruppierungen ausschließen, ohne durch eine überschießende Kompensierung der nachteiligen Situation der Opposition den Mehrheitswillen der Wählerschaft zu verfälschen. Es müssen m i t anderen Worten die Chancengleichheit von Regierung und Opposition 1 4 6 , die 141

Vgl. Schneider, Opposition (Anm. 79), S. 211; BVerfGE 5, 85 (199). Wie es sich v o r allem i n England u n d Schweden beobachten läßt. 143 s. Scheuner, Mehrheitsentscheidung (Anm. 4), S. 323 f.; die Gefahren einer maggioranza predominante werden sehr deutlich beschworen bei D' Alimonie (Anm. 119), S. 68 ff. 144 Diese sich u. U. gegenseitig hochschaukelnden Effekte lassen sich zumindest i m Ansatz bei den sozialistischen Parteien i m 19. Jh. u n d den k o m m u nistischen Parteien i m 20. Jh. studieren. 145 A l l e i n K o l u m b i e n hat einen derartigen Machtwechsel verfassungsrechtlich zu garantieren versucht i n A r t . 114 der Verfassung, der die W a h l des Präsidenten aus den beiden Parteien der Liberalen u n d Konservativen alternierend unabhängig v o m Wahlergebnis vorschreibt; zur kolumbianischen Verfassungsstruktur s. Suârez, Ramirez Α., Die verfassungsrechtliche E n t w i c k l u n g i n Kolumbien, JöR N. F. 19 (1970), S. 413 ff., ebd. i m Anschluß ist auch der Verfassungstext abgedruckt; zur paritätischen Ämterverteilung u n d dem vereinbarten Machtwechsel zwischen Konservativen u n d Liberalen s. Kerbusch, Ernst J., K o l u m b i e n v o r dem Ende eines Regierungssystems auf Zeit, ZfP 19 (1972), S. 130 ff. (vor allem 139 ff.). 146 Das ist v o m Mehrheitsprinzip aus gesehen der Grundgedanke. Speziell zur Chancengleichheit v o n Regierung u n d Opposition s. Gehrig, Norbert, 142

199

C. Die Chance des Mehrheitswechsels gleichen r e c h t l i c h e n A u s g a n g s b e d i n g u n g e n f ü r M e h r h e i t u n d

Minder-

h e i t g e w ä h r l e i s t e t sein. D i e m o d e r n e P a r t e i e n s t a a t l i c h k e i t e r z w i n g t aus diesem G e d a n k e n h e r a u s d i e C h a n c e n g l e i c h h e i t d e r P a r t e i e n 1 4 7 , die es i m p o l i t i s c h e n R a u m n u r i m Recht, n i c h t i m tatsächlichen E r f o l g geben k a n n 1 4 8 . D i e C h a n c e n g l e i c h h e i t gebietet — auch n u r — d e r ö f f e n t l i c h e n Gewalt die Gleichbehandlung der Parteien 149. Die Stärke jeder Partei muß letztlich v o n der Wählerschaft unverfälscht b e s t i m m t w e r d e n u n d aus e i n e m f r e i e n S p i e l d e r p o l i t i s c h e n K r ä f t e u n d

gesellschaftlichen

Strömungen hervorgehen. Der Begriff der Chancengleichheit

umfaßt

i m H i n b l i c k a u f die Chance des Machtwechsels v o r a l l e m w i e d e r u m eine O f f e n h e i t des G e m e i n w e s e n s 1 5 0 i m S i n n e e i n e r p l u r a l i s t i s c h e n O r d n u n g , d i e sich i n N e u t r a l i t ä t u n d T o l e r a n z als V e r f a s s u n g s p r i n z i p i e n 1 5 1 gegenü b e r d e n v e r s c h i e d e n e n Interessen, G r u p p e n u n d P a r t e i e n ä u ß e r t u n d die A n e r k e n n u n g e i n e r s t ä n d i g e n O p p o s i t i o n 1 5 2 sowie die M ö g l i c h k e i t Parlament — Regierung — Opposition, München 1969, S. 83 f., 98 f., 265 ff.; Schneider, A n m . 79), S. 218 f., 400 f.; BVerfGE 2, 1 (13); 5, 85 (140, 224). Aus anderen verfassungsrechtlichen Gründen w i r d das Prinzip allerdings fast ausschließlich auf die Parteien bezogen, v o r allem i n Mehrparteiensystemen. 147 Erstmals Heller, Hermann, Europa u n d der Faschismus (1929), i n Gesammelte Schriften, Leiden 1971, Bd. I I , S. 463 ff. (554); rechtsvergleichende Übersicht über die Chancengleichheit der Parteien bei Hegels, Ernst W., Die Chancengleichheit der Parteien i m deutschen u n d ausländischen Recht — ein Vergleich, Diss. München 1967, dort w i r d deutlich, daß die Chancengleichheit überragende Bedeutung n u r i n der Bundesrepublik erlangt hat. Z u r deutschen Situation s. Jülich, Heinz-Christian, Chancengleichheit der Parteien, B e r l i n 1967; Hesse, Konrad, Die verfassungsrechtliche Stellung der p o l i t i schen Parteien i m modernen Staat, V V D S t R L 17 (1959), S. 11 ff. (20 ff., 36 ff.) i n ausführlichster Auseinandersetzung m i t der Rechtsprechung des BVerfG: Lipphardt, Hanns-Rudolf, Die Gleichheit der politischen Parteien vor der öffentlichen Gewalt, B e r l i n 1975; aus der Rspr des B V e r f G s. v o r allem BVerfGE 14, 121 u n d 20, 56; speziell zu dem Zusammenhang zwischen M e h r heitsprinzip u n d Chancengleichheit BVerfGE 52, 63 (93). 148 Lipphardt (Anm. 147), S. 33; Parteienfinanzierung u n d Sendezeitenvergabe waren die Streitfragen, i n denen die Chancengleichheit eine besondere Rolle spielte, dazu Lipphardt, S. 364 ff., 412 f. u n d 457 ff., 500 ff., 624 ff. 149 Lipphardt (Anm. 147), S. 33. 150 Ebd. S. 39 ff. 181 Lipphardt rechnet außerdem noch die Elemente der Parität u n d des Relativismus zur Offenheit. Parität ist aber eher spezieller u n d nachrangig gegenüber der Neutralität, vgl. auch Püttner, Günter, Toleranz als Verfassungsprinzip, B e r l i n 1977, S. 16 f.; u n d der Relativismus ist als Demokratieprinzip problematisch, s. o. Einleitung u n d I I I , zur Neutralität s. Schiaich (Anm. 114), S. 244 ff., zur Toleranz ebd. S. 253 ff.; sowie Scheuner, Mehrheitsentscheidung (Anm. 4), S. 314, BVerfGE 41, 29 (52); 41, 65 (78); Bäumlin, Richard, Demokratie E V S t L Sp. 362 ff. (369); Hättich, Manfred, Demokratie als Herrschaftsordnung, K ö l n u. a. 1967, S. 49. Das Moment der Toleranz i m Verhältnis Mehrheit — Minderheit hebt auch hervor Rendtorff, Trutz, E t h i k , Bd. I I , Stuttgart 1981, S. 92 ff. 152 Lipphardt (Anm. 147), S. 77 ff.; erstmals i n England seit Ende des 18. Jh., was Bolingbroke zum T e i l zu verdanken ist; s. Kluxen, K u r t , Das Problem der politischen Opposition, Freiburg 1956, S. 157 ff., 197 ff.

200

V. Die Voraussetzungen des Mehrheitsprinzips

einer i n gleicher Weise freien und ungehemmten Entfaltung der Tätigkeit der Parteien 1 5 3 beinhaltet. I n der Dichotomie von Mehrheit und Minderheit, von Regierung und Opposition ausgedrückt, bedeuten die beiden letzten Elemente der Chancengleichheit die Gewähr der Oppositionsfreiheit 1 5 4 . Dabei kann die Aufrechterhaltung der Chance des Mehrheitswechsels über die bloße Gleichbehandlung hinaus ein gewisses Maß an Minoritätenschutz verlangen 1 5 5 . Die Möglichkeit der Ablösung der alten durch eine neue Mehrheit erfordert über die Gewährleistung der rechtlichen Chancengleichheit hinaus eine tatsächliche Offenheit des politischen Prozesses, die i n einer Form erhalten werden muß, daß anderen zukünftigen Mehrheiten Entscheidungsspielraum für die Durchführung ihrer eigenen politischen Vorstellungen bleibt. Gerade da jede Entscheidung die möglichen A l ternativen auf eine reduziert und dadurch eine über diese einzelne Entscheidung hinausgehende Eigendynamik entfaltet, eigene Entwicklungen einleitet, liegt i n lang andauernder Herrschaftsausübung einer politischen Partei die Gefahr begründet, daß i n Verbindung m i t gesellschaftlichen Kräften und Mächten ein unumkehrbarer Entwicklungsprozeß i n Lauf gesetzt wird, der von einer aus bisheriger Opposition zur Regierung gelangten Mehrheit höchstens verlangsamt, jedoch kaum entscheidend mehr i n anderer Richtung beeinflußt werden kann. Werden tiefgreifende, einschneidende und infolgedessen langwirkende, richtungsweisende Fundamentalentscheidungen getroffen, kann es sich deshalb empfehlen, i m Interesse der notwendigen demokratischen Offenheit eher auf Ausgleich bedachte Verfahren anzuwenden und einen weitgehenden, über die Regierungsmehrheit hinausgreifenden Konsens herzustellen, dem sich allerdings i n bipolaren Systemen höhere Hürden und größere Hindernisse entgegensetzen als i n Mehrparteiensystemen m i t trialistischer, zentristischer oder diffuser Struktur, die i n dieser Hinsicht von vornherein weniger gefährdet sind 1 5 6 . Es läßt sich natürlich nicht für alle Zukunft verhindern, daß der Konsens später einmal zerbricht. Damit ist bereits ein weiteres Moment der für das Mehrheitsprinzip bedeutsamen Offenhaltung des politischen Prozesses berührt, das 163 Lipphardt (Anm. 147), S. 82 ff.; Freiheit der Parteien durch Gleichheit; die angeführten Elemente dürften eher eine rein formale Gleichbehandlung gebieten als ein W i l l k ü r v e r b o t i. S. A r t . 3 GG, auch Ungleiches ungleich zu behandeln, beinhalten Lipphardt, S. 113 ff., insbes. 118, 692 ff., der unter diesem Gesichtspunkt die Rspr des B V e r f G heftig kritisiert. 154 Schneider (Anm. 79), S. 209 ff., 335 ff. 155 Ebd. S. 236 f.; zum Minderheitenschutz s. u. ΐ5β vgl. Scheuner, Mehrheitsentscheidung (Anm. 4), S. 323 f.; i n K o n k o r danzsystemen stellen diese Fragen sich i n geringerem Ausmaß, da hier häufig ein allgemeiner Konsens angestrebt w i r d .

C. Die Chance des Mehrheitswechsels

201

durchaus eigenständiger Heraushebung und Betonung bedarf und i m Grundsatz rechtlicher Regelung zugänglich ist 1 5 7 . Die getroffene Mehrheitsentscheidung muß zwar das demokratische Entscheidungsverfahren zum verbindlichen Abschluß bringen, durch diese Entscheidung die Alternativen dem Streit entziehen und die beschlossene Alternative dem Vollzug zuführen, die einmal getroffene Entscheidung muß jedoch insoweit revisibel bleiben, als sie durch eine erneute Mehrheitsentscheidung, möglicherweise von einer nunmehr anders zusammengesetzten Mehrheit abgeändert, das heißt i n einem neuen Verfahren verworfen, bestätigt oder modifiziert werden kann. Wenn auch einerseits das Mehrheitsprinzip durch die Entscheidung eine Wahl trifft, können durch die Anerkennung der Funktionen der Minderheit, der Chance des Machtwechsels und der Revisibilität der Entscheidung die anderen Alternativen potentiell als Möglichkeit erhalten bleiben 1 5 8 . Man w i r d die Revisibilität der Mehrheitsentscheidung nicht zur unabdingbaren Begrenzung jeder Entscheidung erheben dürfen, da dies vielfach gar nicht möglich sein wird, sie muß aber grundsätzlich i n Betracht gezogen werden. I n diesem Zusammenhang rückt als überwölbender Gesichtspunkt für die Sicherung dieser Voraussetzungen der Gedanke der Mäßigung 1 5 9 in den Vordergrund, der der Minderheit die Annahme der jeweiligen Mehrheitsentscheidung erleichtert und anderen Richtungen, Meinungen und Entwicklungen die Chance der Realisierung ihrer Ziele nicht völlig abschneidet.

157 Auch die Theorie der Parlamentssouveränität i n England enthält diese Einschränkung. 158 Vgl. auch unten V I I I . 159 v g l . Scheuner, Mehrheitsprinzip (Anm. 4), S. 56; ders., Mehrheitsentscheidung (Anm. 4), S. 307; Kägi, Werner, Die Verfassung als rechtliche Grundordnung des Staates, Zürich 1945, S. 152; vgl. bereits Montesquieu, Esprit des Lois X I , 4 u n d dazu Kägi, Werner, V o n der klassischen Dreiteilung zur umfassenden Gewaltenteilung, i n Rausch, Heinz (Hrsg.), Zur heutigen Problematik der Gewaltentrennung, Darmstadt 1969, S. 286 ff. (292 f.).

V I . Immanente Begrenzungen des Mehrheiteprinzips I n den modernen Demokratien unterliegt die Anwendung des Mehrheitsprinzips vielfältigen Begrenzungen. Diese ergeben sich einerseits unmittelbar aus den einzelnen Grundelementen der Mehrheitsregel 1 und sind insoweit dem Mehrheitsprinzip immanent 2 , ohne daß es rechtlicher oder anderer gesetzter, gewissermaßen äußerer Schranken bedarf. Diese immanenten Begrenzungen liegen i n den Eigenschaften der individuell Abstimmenden begründet und können deshalb bei einer unbeschränkten Anwendung des Mehrheitsprinzips nicht überwunden werden, auch wenn ihre Relevanz und ihre Berücksichtigung erst aus dem Zusammenhang m i t dem politischen System fließen. Andererseits w i r d das Anwendungsfeld der Mehrheitsentscheidung durch Rechtsgrundsätze und faktische Einwirkungen beschnitten, die sich nicht direkt aus dem Mehrheitsprinzip herleiten lassen, sondern aus der Einordnung i n das demokratische Regierungssystem, der Funktionsfähigkeit des Systems und zum Schutz der wertgebundenen Grundordnung, m i t h i n auch der Voraussetzungen des Mehrheitsprinzips selbst, begründet werden können. Es liegt i n der Natur der Sache, daß dies teilweise i m Rückgriff auf die Elemente der Legitimität der Demokratien 3 geschieht. Terminologisch können die ersten Begrenzungen als immanent und die letzteren als heteronom bezeichnet werden. Die immanenten Begrenzungen resultieren, wenn auch i n unterschiedlichem Grad, i m wesentlichen aus dem Moment der Gleichheit, das allen Mehrheitsentscheidungen anhaftet 4 . Deshalb können diese inneren Begrenzungen eine Ausdehnung des Geltungsbereichs des Mehrheitsprinzips verbieten, wenn i m Hinblick auf Entscheidungssubjekt oder Entscheidungsgegenstand sich Mehrheitsentscheidungen unter einem der nachfolgenden Gesichtspunkte als ungeeignet erweisen. Dagegen stellt der Begriff des Politischen kein K r i t e r i u m dar®, nach dem die Anwendungsbereiche des Mehrheitsprinzips abgegrenzt wer1

s. o. Resümee. Deshalb sind diese Begrenzungen m i t jeder A r t v o n Mehrheitsentscheidung verbunden u n d treten nicht n u r i m Rahmen demokratischer Mehrheitsentscheidungen auf. 8 s. o. Einleitung. 4 s. o. Resümee. 5 Vgl. etwa Scheuner, Ulrich, Das Mehrheitsprinzip i n der Demokratie, Opladen 1973, S. 8, 61. K r i t i s c h dazu Häberle, Peter, Das Mehrheitsprinzip als 2

Α . Entscheidungsbereitschaft

203

den könnten, und das gleichzeitig sich unmittelbar aus dem Mehrheitsgrundsatz ableiten ließe oder sich aus den heteronomen Begrenzungen direkt ergeben würde. I m Ergebnis mag man eine solche Beschränkung für sinnvoll halten, obwohl es dem Begriff an Trennschärfe mangelt, man bedarf dazu jedoch als Argumentationsbrücke der nachfolgenden Gesichtspunkte. Als alleiniger Hinweis erklärt die Formel von der Beschränkung auf den Bereich der Politik nur wenig. A. Entscheidungsbereitschaft Obgleich sich eine Mehrheit als numerische Größe auch bei einer geringen Anzahl von Teilnehmern errechnen läßt, ist es doch für ein dauerhaftes, sinnvolles Funktionieren des Mehrheitsprinzips notwendig, daß sich die Entscheidungsbeteiligung 6 auf einem relativ hohen Niveau bewegt. Der Abstand zwischen der Zahl derjenigen, die zur Entscheidung berechtigt und von i h r betroffen sind, und der Zahl derjenigen, die an der Abstimmung oder Wahl teilnehmen, darf sich nicht zum Abgrund auswachsen. Die Mehrheitsregel stößt an ihre inneren Grenzen, wenn den Berechtigten die Entscheidungsbereitschaft fehlt. „ K e i n politisches Recht vermag zu bestehen, wo der Wille fehlt, es auszuüben 7 ." Die psychologische Bereitschaft und die ihr folgende tatsächliche Beteiligung werden von der politischen K u l t u r des Gemeinwesens 8 beeinflußt und sind zugleich ein Teil dieser politischen K u l t u r . Wo nicht eine generelle Ablehnung der demokratischen Ordnung den Stimmberechtigten zur Abstinenz von jeder Teilnahme bestimmt 9 , geben psychologisch das Bewußtsein, durch die Teilnahme an der Mehrheitsentscheidung den Gang des politischen Geschehens entscheidend zu beeinflussen 10 , verbunden m i t einem M i n i m u m an politischem Interesse 11 sowie Strukturelement der Demokratie (JZ 1977, S. 241 ff.), jetzt i n ders., Verfassung als öffentlicher Prozeß, B e r l i n 1978, S. 565 ff. (571); zum Zusammenhang m i t dem Begriff des öffentlichen s. u. V I I , A n m . 29. 6 s. ο. I V , A , 3. 7 Varain, Heinz Josef, Die Bedeutung des Mehrheitsprinzips i m Rahmen unserer politischen Ordnung, ZfP 11 (1964), S. 239 ff. (250). 8 Z u m Begriff der politischen K u l t u r s. ο. V , A . 9 Vgl. ο. I V , A , 3. 10 Z u m staatsbürgerlichen Kompetenzbewußtsein s. Berg-Schlosser, Dirk, Politische K u l t u r . Eine neue Dimension politikwissenschaftlicher Analyse, München 1972, S. 105 ff., s. auch Radtke, Günter D., Stimmenthaltung bei politischen Wahlen i n der Bundesrepublik Deutschland, Meisenheim 1972, S. 17 ff.; eine Demokratie m i t starker Beteiligung u n d entsprechendem Kompetenzbewußtsein k a n n als participatory (teilnahmeorientiert) klassifiziert werden i m Gegensatz zu solchen, deren Legitimitätsbewußtsein v o r allem an den Herrschaftsleistungen (output) orientiert ist. s. Almond, Gabriel A . /Verba, Sidney, The Civic Culture Political Attitudes and Democracy i n Five Nations, Princeton 1963, S. 15 f.; Berg-Schlosser, S. 48 ff. Z u r O u t p u t Orientierung i n der Bundesrepublik der fünfziger u n d sechziger Jahre s.

204

VI.

e t e Begrenzungen des Mehrheitsprinzips

ein staatsbürgerliches Pflichtgefühl 1 2 den Ausschlag zugunsten einer aktiven Betätigung des eigenen politischen Willens. Diese politischen Einstellungen können i n der Bevölkerung i n einer Demokratie erst i m Lauf einer gewissen Zeit 1 3 heranwachsen, müssen auf Dauer durch die politische Sozialisation, durch Erziehung und Aufklärung herangezogen werden, wenn das Mehrheitsprinzip funktionsfähig bleiben soll 1 4 . Bereits die Vertragstheoretiker gaben der richtigen Einsicht Ausdruck, „daß die Einfügung i n ein politisches Gemeinwesen nicht sein kann ohne Übernahme von Pflichten und Begrenzung von Ansprüchen" 15 . Jede Entscheidung, gerade auch die Mehrheitsentscheidung, muß gegenüber den Betroffenen verantwortet werden 1 6 . Wenn eine Entscheidung einer Gesamtheit aufgegeben ist, beeinflußt auch jede Enthaltung von einer Entscheidungsbeteiligung den Ausgang, das Ergebnis der Mehrheitsentscheidung. Darin ist die ethische, politische Verpflichtung der Abstimmungsberechtigten begründet. Das Beteiligungsrecht eröffnet aber, das ist der andere, positive Aspekt, zugleich die Chance zu lebendiger Teilhabe am politischen Entscheidungsprozeß, am Verfassungsleben durch die Verwirklichung des eigenen Mitbestimmungsrechts, das nur erkannt und wahrgenommen sein w i l l . I m Rahmen des Mehrheitsprinzips selbst kann einem Mangel an Entscheidungsbereitschaft allein und nur vordergründig durch die Fixierung anderer Zahlenganzheiten als derjenigen der Abstimmungsberechtigten 17 , von der ausgehend die Mehrheit berechnet wird, Rechnung getragen werden, u m die Anwendbarkeit der Mehrheitsregel zu sichern. Quoren und Wahlpflicht vermögen das Maß der Entscheidungsbeteiligung anzuheben 18 , darüber hinaus kann das Mehrheitsprinzip Verba, Sidney, i n Pye, Lucian W . / V e r b a , Sidney (Hrsg.), Political Culture and Political Development, Princeton 1965, S. 140 ff. 11 Allgemein ist das Interesse an der P o l i t i k i n den Demokratien sogar ziemlich gering, Schonfeld, W i l l i a m R., The Meaning of Democratic Participation, W o r l d Politics 28 (1975/76), S. 139 ff. (154 f.) m w N , bei Nichtwählern allerdings noch geringer; s. Lancelot, A l a i n , L'Abstentionnisme électorale en France, Paris 1968, S. 165 f. 12 Das überwog i m Deutschland der fünfziger u n d sechziger Jahre, s. Verba (Anm. 10), S. 148 f. 13 Deshalb sind junge Demokratien i n dieser Hinsicht anfangs sehr gefährdet. 14 A u f die strukturellen Bedingungen, die die Wahlenthaltung m i t t e l b a r beeinflussen (soziale, religiöse, regionale Faktoren), k a n n i n diesem Zusammenhang n u r hingewiesen werden. 15 Varain (Anm. 7), S. 250. 18 Insofern sie dann nicht n u r Selbstbestimmung, sondern auch Fremdbestimmung beinhaltet s. Kielmansegg, Peter Graf, Volkssouveränität, S t u t t gart 1977, S. 244 f. 17 s. oben I V , A , 1. 18 s. oben I V , A , 3.

Β . Betroffenheit

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jedoch nicht dem Dilemma entrinnen, das i n einem weiten Auseinanderfallen der Zahl der Abstimmungsteilnehmer und derjenigen der berechtigten Gesamtheit als eigentlicher Ausgangsgröße liegt. Insoweit die Entscheidungsbereitschaft ein Moment der politischen K u l t u r darstellt, ist sie eine Funktionsbedingung des Mehrheitsprinzips, die sich aber aufgrund dessen, daß sie eine Eigenschaft der einzelnen Abstimmungsteilnehmer ist, i n erster Linie als immanente Begrenzung erweist und jedem Mehrheitsentscheid auch außerhalb des demokratischen Systems anhaftet. I m Grunde kann infolge solchen Verhaltens das Mehrheitsprinzip i n Minderheitsherrschaft pervertiert werden. I m Parlament beruht die Entscheidungsbereitschaft auf anderen Momenten. Das Recht auf Entscheidungsteilhabe t r i t t hier hinter der Beteiligungspflicht zurück, die aus dem Bewußtsein der Verantwortung gegenüber den Wählern und dem Volk das Abstimmungsverhalten der Abgeordneten über das eigene Interesse hinaus prägt oder sie zumindest bei der Entscheidung bewegen sollte. Der politische Auftrag durch die Repräsentierten fordert die tatsächliche Ausübung der den Repräsentanten verliehenen Rechte und die Erfüllung ihrer Aufgaben durch Entscheidungen nach der Mehrheitsregel. Das moderne Fraktionswesen kann es gelegentlich, entweder bei einer über alle Parteien gleichmäßig verteilten Beteiligung und vorheriger Abklärung innerhalb der Fraktionen oder bei einer i m voraus festgestellten Übereinstimmung zwischen den Fraktionen, gestatten, daß nicht alle Fraktionsmitglieder zur Abstimmung schreiten. Ähnliches gilt i m Verhältnis zwischen Ausschüssen und Plenum, soweit die Ausschüsse einen wesentlichen Teil der Parlamentsarbeit übernommen haben und daher die endgültige Abstimmung i m Plenum nach ausgiebiger Beratung und Diskussion i n den Ausschüssen, nachdem dort ein Ausgleich und einzelne Kompromisse erzielt worden sind, einen eher formalen Charakter gewinnt. Dennoch sind selbstverständlich die grundsätzlichen Entscheidungen, vor allem wenn sie umstritten sind, i n ihrer abschließenden Wirkung ausschließlich dem Plenum vorbehalten und erfordern aus diesem Grund eine komplette Besetzung des Parlaments und eine generelle Beteiligung der Abgeordneten an der Mehrheitsentscheidung. Ein leerer Plenarsaal ist denn auch weniger bei den entscheidenden Wahlen und Abstimmungen, also den Mehrheitsentscheidungen selbst, als bei den vorausgehenden Debatten zu beobachten. B. Betroffenheit Soweit das Mehrheitsprinzip lediglich als kollektive Entscheidungsregel ohne demokratischen Gehalt benutzt w i r d und als rein formales Mittel der Entscheidungsfindung dient, läßt sich die Betroffenheit als

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VI.

e t e Begrenzungen des Mehrheitsprinzips

Maßstab und Begrenzung seines Anwendungsbereichs nicht einführen. Besonders dort, wo Fachgremien über spezifische Probleme und Fragen zu entscheiden und zu urteilen haben, die sie selbst nicht unmittelbar persönlich angehen und zu denen sie aufgrund ihrer fachlichen Kompetenz Stellung nehmen 1 9 , versagt das K r i t e r i u m der Betroffenheit als Merkmal immanenter Begrenzung. Anderes gilt aber für das demokratische Mehrheitsprinzip, das auf dem Gedanken gleicher Selbstbestimmung beruht 2 0 . Dieses Rechtfertigungselement zieht dem demokratischen Mehrheitsprinzip jedenfalls theoretisch von seinen gedanklichen Voraussetzungen h e r 2 1 Grenzen. Das Prinzip der Selbstbestimmung setzt überhaupt erst einmal irgendeine Betroffenheit durch die Entscheidung voraus, u m die Beteiligung rechtfertigen zu können, und gleiche Selbstbestimmung gründet sich auf der Vorstellung, daß die Entscheidungsberechtigten auch i m wesentlichen i n gleicher Weise von den Entscheidungen, ihren Folgen und Auswirkungen berührt werden. Die Selbstbestimmung des Einzelnen ist aber u m so stärker und schärfer beeinträchtigt, je mehr der Einzelne durch eine Entscheidung betroffen ist. Konsequenz dieser Auffassung ist es, daß die Notwendigkeit eines Mitentscheidungsrechts proportional mit der Betroffenheit ansteigt. Sind die einzelnen Subjekte der Mehrheitsentscheidung i n sehr unterschiedlicher Weise betroffen, so kann eine kleine aber intensiv tangierte Minderheit durch eine zahlenmäßig große, aber von der Entscheidung kaum berührte Mehrheit majorisiert werden. I n diesem Fall kann für die unterlegene Minderheit das Mitentscheidungsrecht der anderen, der weniger betroffenen Mehrheit die i n der Mitentscheidung verwirklichte Selbstbestimmung i n eine Fremdbestimmung durch die Mehrheit umschlagen lassen. Damit hat allerdings die Mehrheitsentscheidung gleichzeitig ihre demokratische Rechtfertigung verloren. Die Betroffenheit erweist sich deshalb auch als Gradmesser demokratischer Selbstbestimmung. Dieser Gesichtspunkt setzt einer weiteren Demokratisierung i m Sinne mehrheitlicher Entscheidungen vielfach Hindernisse entgegen. Das Bundesverfassungsgericht hat deswegen zu Recht eine schrankenlose 22 19

Vgl. oben I I I zu dem Unterschied der Rechtfertigung der Mehrheitsentscheidimg i n derartigen Gremien u n d des demokratischen Mehrheitsprinzips. Das Moment der Gleichheit setzt hier Gleichheit der Kompetenz voraus. 20 s. oben I I I . 21 Praktisch sind die Grenzen fließend: absolute Gleichheit der Betroffenheit ist meist nicht gegeben. Außerdem ist diese innere Begrenzung des Mehrheitsprinzips realiter leicht zu übertreten. Trotzdem ist diese i m m a nente Schranke dem demokratischen Mehrheitsprinzip so eigentümlich, daß sie zu den immanenten Begrenzungen zu rechnen ist. 22 Die i m Hochschulgesetz festgelegte D r i t t e l p a r i t ä t bedeutete allerdings bereits eine Einschränkung der absoluten Gleichheit aller Beteiligten.

Β . Betroffenheit

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Anwendung des Mehrheitsprinzips i m Universitätsbereich untersagt, indem es unter anderem auf die Dauer der Zugehörigkeit zur Universität und die daraus resultierende unterschiedliche Betroffenheit abgestellt hat 2 3 . I n der Frage der Unternehmensmitbestimmung hat das Problem der Betroffenheit eine noch hervorragendere Rolle gespielt. Hier standen sich als Grundgegensatz 24 das Selbstbestimmungsrecht der Arbeitnehmer des Betriebes und das durch die gesellschaftsrechtliche Form vermittelte Eigentumsrecht gegenüber 25 . U m diesen unterschiedlichen Graden und verschiedenen, teilweise i n ihrem Interesse gegenläufigen A r t e n der Betroffenheit gerecht zu werden, bieten sich daher eher korporative, einem ständischen Kuriensystem vergleichbare Formen der Kooperation und Entscheidungsfindung an 2 6 , i n denen jeweils nur innerhalb der Gruppierungen das Selbstbestimmungsrecht und damit das Mehrheitsprinzip Geltung beanspruchen können, während zwischen den Gruppen ein Ausgleich durch Kompromisse und gegenseitiges Aushandeln erzielt wird. Eine Anwendung des Mehrheitsprinzips i m gesamten, von beiden Gruppen besetzten Entscheidungskörper bleibt fragwürdig, „da sich i n der Frage der Unternehmensverfassung Gesichtspunkte privatautonomer Selbstbestimmung, der Partizipation der Arbeitnehmer und des gesamtwirtschaftlichen Interesses begegnen, die alle nicht auf der Basis individueller Zahlengleichheit behandelt werden können" 2 7 . Andererseits ist allerdings, abgesehen vom Stichentscheid des Vorsitzenden oder eines neutralen Schiedsrichters, keine andere Lösung i n Sicht, wenn man eine Lähmung und Blockierung 23

BVerfGE 35, 79 (127, 131, 138, 140) erwähnt die Dauer der Zugehörigkeit als K r i t e r i u m ; zum Gesichtspunkt unterschiedlicher Qualifikation s.u. V I , D; dazu kommen natürlich praktische Schwierigkeiten, die sich aus der n o t wendigen Reduzierung der A l t e r n a t i v e n ergeben (s. ο. I V , Β , 1) u n d die den Leitungsgremien i n größeren Versammlungen entsprechend der Ausdehnung des Mehrheitsprinzips zusätzliche Macht verschaffen. 24 Daneben sind für die Unternehmensmitbestimmung auch die Gedanken einer sozialen Unternehmenspolitik, dazu Schwerdtfeger, Günther, Unternehmerische Mitbestimmung der Arbeitnehmer u n d Grundgesetz, F r a n k f u r t 1972, S. 88 ff., u n d der sozialen Integration, dazu Schwerdtfeger, S. 106 ff., leitend; n u r daraus k a n n auch die Beteiligung externer Gewerkschaftsmitglieder gerechtfertigt werden, während das Prinzip der Selbstbestimmung der Arbeitnehmer allein die Mitbestimmung der Belegschaft begründen kann; s. Schwerdtfeger, S. 82 ff., bes. S. 84 ff., 87, auf der Seite der Arbeitgeber spielen Vereinigungs-, Koalitions- u n d Berufsfreiheit neben dem Eigentumsrecht eine gewisse Rolle. 25 Z u m Selbstbestimmungsrecht u n d der Betroffenheit der Arbeitnehmer, Schwerdtfeger (Anm. 24), S. 72 ff.; zur Betroffenheit der Eigentümer, Schwerdtfeger, S. 133 ff., 217 ff.; zum Eigentumsrecht u n d seiner gesellschaftsreditlichen V e r m i t t l u n g i n Aktiengesellschaften BVerfGE 50, 290 (342 ff.). Je mehr das Eigentumsrecht i n Frage gestellt w i r d , u m so schwächer ist natürlich auch die Position der Arbeitgeber. 26 Scheuner, Mehrheitsprinzip (Anm. 5), S. 46 f., 49 f. 27 Ebd. S. 47 (Zitat ist leicht umgestellt).

208

VI.

e t e Begrenzungen des Mehrheitsprinzips

wichtiger Entscheidungen nicht i n Kauf nehmen w i l l . Nur entfallen damit wesentliche Rechtfertigungselemente des Mehrheitsprinzips. Auch auf dem Gebiet der Verwaltung ist i m Hinblick auf eine Demokratisierung die unterschiedliche Intensität und die Verschiedenartigkeit der Betroffenheit zu berücksichtigen. Der Gedanke der Betroffenheit ist zur Begründung einer Mitbestimmung der Verwaltungsangehörigen i m Vergleich zur Rechtfertigung der Partizipation der Arbeitnehmer i n privatwirtschaftlich organisierten Betrieben weniger geeignet und insgesamt gering zu bewerten, da die wirtschaftliche Entwicklung der Unternehmen unmittelbar auf den einzelnen Arbeitsplatz und die Entlohnung einwirkt, und außerdem die Gestaltungsmöglichkeiten der Arbeit und ihres Ablaufs vor allem i n der Industrie vielfältiger und i n ihren Auswirkungen einschneidender sind als i n der staatlichen A d m i nistration. Bei einer Mitbestimmung der durch die Verwaltungsentscheidung Betroffenen nach den Regeln des Mehrheitsprinzips stellen sich mehrere Fragen, die bisher noch wenig systematisch geklärt sind, die aber vor einer Einführung irgendwelcher Mitentscheidungsrechte beantwortet werden müßten. Es muß der Kreis der etwa gleichermaßen durch die Verwaltungsentscheidung Betroffenen i n seiner Zusammensetzung und Ausdehnung festgestellt werden. Damit hängt unmittelbar das Problem zusammen, welche A r t der Entscheidungen der Mitbestimmung unterliegen sollen, insbesondere, ob nur normativ formulierbare Grundsatzentscheidungen 28 , die dann möglicherweise infolge lokaler Beschränkungen m i t übergeordneten und benachbarten Entscheidungen kollidieren, oder auch Einzelfallentscheidungen mehrheitlicherAbstimmung unterworfen werden sollen. Bei Einzelfallentscheidungen bedürfte die Qualität der Entscheidung, ihre — eventuell über den lokalen Umkreis hinausreichenden — Auswirkungen und der Intensitätsgrad der Betroffenheit, bei dem die Schwelle zu einem Mitentscheidungsrecht überschritten wird, der exakten Klärung. Der verwaschene Begriff der Partizipation verdeckt diese auftauchenden Schwierigkeiten und muß daher so konkretisiert werden, daß eine erschöpfende A n t w o r t auf diese Fragen möglich ist 2 9 . Andererseits zeigen diese wenigen Fragen bereits auf, daß einer Partizipation, die über die heute weitgehenden informellen Beteiligungsformen i n der Form von Anhörungen 3 0 hinausgehen, äußerst enge Grenzen gezogen sind. Die Bürgerinitiativen bilden insoweit kein Modell, da sie immer nur einen Ausschnitt aus 28 Hier wäre an kommunalen Satzungen vergleichbare Entscheidungen zu denken. 29 Die Demokratisierungsdebatte e n t w i r f t hier teilweise bereits „Strategien der Demokratisierung", ohne i m Detail nach ihrer Legitimation zu fragen. 30 Wie insbesondere i n den verschiedensten Planungsbereichen.

C. Das Intensitätsproblem

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dem Kreis der Betroffenen 3 1 darstellen und sich i n diesen Initiativen eher eine aktive Minderheit artikuliert, als daß eine angemessene A b grenzung der Betroffenen vorgenommen wird. Eine besondere Spannungslage ergibt sich dann, wenn von Entscheidungen, die i m gewichtigen Interesse eines weiteren Kreises der Allgemeinheit getroffen werden, auf einen kleineren Kreis unmittelbare, eingreifende W i r k u n gen ausgehen und dementsprechend letzterer i n verstärktem Maß Einfluß n i m m t 3 2 . Dagegen kann bei den demokratischen Mehrheitsentscheiduiigen des Volkes i n repräsentativen Demokratien davon ausgegangen werden, daß die Wahl- und Abstimmungsberechtigten i m großen und ganzen i n gleicher Weise von den getroffenen Entscheidungen berührt werden. Insofern kann eine Begrenzung der Mehrheitsentscheidungen auf den Bereich des Politischen durchaus einen Sinn haben, wenn der Begriff auch unscharf ist und den eigentlichen Hintergrund i m Dunkeln läßt. Jedenfalls w i r d man bei demokratischen Wahlen eine gleiche Betroffenheit konstatieren können, während dies bei Volksentscheiden schon differenziert werden kann. Hier spielt ein Moment der Orientierung am Gemeinwohl hinein, das den Gedanken der Selbstbestimmung zurücktreten lassen kann. Je spezieller die Materie, u m so lockerer ist unter Umständen der Zusammenhang m i t der Intention der gleichen Selbstbestimmung, so daß unter diesem Aspekt eine Volksabstimmung problematisch werden kann 3 3 . C. Das Intensitätsproblem 84 Der dem demokratischen Mehrheitsprinzip immanente Gleichheitsgrundsatz verbietet eine Stimmenwägung. Das gleiche Stimmgewicht kann daher einem unterschiedlichen Grad der Intensität des politischen 81 Z u m Problem der Zahlenganzheit s.o. I V , A , 1; B ü r g e r i n i t i a t i v e n erstreben zwar meist nicht unmittelbar Mehrheitsentscheidungen, andererseits suchen sie natürlich ein Mitentscheidungsrecht zu gewinnen. 82 Der abstrakt formulierte Satz t r i f f t i n besonderem Maß auf die Erricht u n g v o n Kraftwerken, aber auch Flughäfen u n d Fernstraßen zu. Andererseits k a n n eine außerordentliche, extrem ausgeprägte Betroffenheit einer Mehrheitsentscheidung ein wesentliches Element der L e g i t i m i t ä t rauben; vgl. oben bereits V , u n d u n t e n V I I . 33 Unproblematisch ist die Betroffenheit bei den Territorialplebisziten u n d der Verfassungsgesetzgebung. Gerade aber einzelne Sachfragen sind unter dem Gesichtspunkt der Betroffenheit schwerer einem Volksentscheid zu unterwerfen. 34 Das Problem wurde i n breiter F o r m aufgeworfen 1963 (engl. Ausgabe) v o n Dahl, Robert Α., Vorstufen zur Demokratietheorie, Tübingen 1976, S. 45 ff., 85 ff., findet sich aber bereits ausgedrückt bei Lotze, Hermann, Logik (1874), Leipzig 1912, S. 464; w i c h t i g auch Kendali, Willmoore / Carey, George W., The Intensity Problem and Democratic Theory, APSR 62 (1968),

14 Heun

210

VI.

e t e Begrenzungen des Mehrheitsprinzips

Meinens und Wollens keinen Ausdruck verleihen 3 5 . Wenn man von der einfachen Tatsache einmal absieht, daß die Intensität schwer und jedenfalls kaum exakt meßbar ist 3 6 , da sie sich i m Raum subjektiver Einschätzung bewegt, sind zahlreiche Verteilungskurven der Intensität bezogen auf jeweils eine Frage i m Spektrum der politischen Meinungen zwischen ihren Vertretern theoretisch denkbar 3 7 . Unter dem Gesichtsw i n k e l der immanenten Begrenzungen des Mehrheitsprinzips ist allerdings eine Situation besonders problematisch, wenn nämlich einer Mehrheit an Stimmen, hinter der sich aber eine schwache Intensität des politischen Willens verbirgt, eine Stimmenminderheit m i t stark ausgeprägter Präferenz gegenübersteht 38 , wenn also Stimmenverteilung und Intensitätsverteilung sich nicht decken, sondern die Verteilungskurven entgegengesetzt verlaufen, so daß Stimmenmehrheit und „ I n tensitätsmehrheit" an verschiedenen Punkten des Meinungsspektrums liegen 3 9 . Dieses theoretische Problem verliert aber erheblich an Brisanz durch den empirischen Befund, daß eine derartige, widerstreitende Intensitäts- und Stimmenverteilung bei allgemeinen politischen Fragen relat i v selten auftritt 4 0 , während i n Spezialfragen, die partielle Interessen S. 5 ff., Lane, Robert Edwards / Sears, D a v i d O., Public Opinion, Prentice H a l l 1964, S. 94 ff., die sich auch den Ursachen der Intensität zuwenden; vgl. auch Rae, Douglas / Taylor, Michael, Some Ambiguities i n the Concept of I n t e n sity, Polity 1 (1969), S. 297 ff.; eine eigenartige Behandlung erfährt das Thema bei Krippendorf, Ekkehard, L e g i t i m i t ä t als Problem der Politikwissenschaft, ZfP 9 (1962), S. 1 ff. 35 Dagegen erlaubte die alte Methode des Zurufs, insbesondere das Geschrei der Spartiaten (s. o. I I ) durchaus i n begrenztem Umfang einen unterschiedlichen Ausdruck der Intensität der eigenen Überzeugung, vgl. Stawski, Joseph, Le principe de la majorité, Gedani 1920, S. 13. 36 Darauf weist Dahl (Anm. 34), S. 94 h i n ; zu der Notwendigkeit des doppelten Vergleichs zwischen a) verschiedenen A l t e r n a t i v e n u n d b) den v e r schiedenen Personen sowie der Schwierigkeit inhaltlicher Konkretisierung vor allem eingehend Rae / Taylor (Anm. 34), S. 299 ff.; theoretisch läßt die Intensität sich jedoch als kontinuierliche Variable begreifen s. Kendall / Carey (Anm. 34), S. 9. 37 Vgl. die verschiedenen Verteilungskurven bei Dahl (Anm. 34), S. 88 ff. 38 Dahl (Anm. 34), S. 94. 39 Bei einer Deckungsgleichheit v o n Intensitäts- u n d Stimmenverteilung k o m m t dem mangelnden Ausdruck der Intensität durch die gleiche S t i m m abgabe i m Effekt k a u m Bedeutung zu. Mittelbare A u s w i r k u n g e n sind aber dann zu verzeichnen, w e n n die Ränder des Spektrums der Uberzeugungen eine starke u n d die politische M i t t e eine schwache Intensität aufweisen; i n diesem F a l l droht die beim Mehrheitsprinzip vorausgesetzte Einheit u n d Homogenität auseinanderzubrechen (vgl. ο. I V , A , 1 u. V, Α.). 40 Lane / Sears (Anm. 34), S. 111 ff.; ein historisch nachgewiesener F a l l ist die umstrittene Person McCarthys, der sich auf eine schwach motivierte Mehrheit stützen konnte, aber v o n der Minderheit vehement abgelehnt wurde. Lane, S. 113 m i t i n s t r u k t i v e r Graphik auf S. 112; allerdings sind diese amerikanischen Untersuchungen n u r vorsichtig generalisierbar.

C. Das Intensitätsproblem

211

unmittelbar berühren, eine kleine Stimmenminderheit m i t einem hohen Intensitätspotential häufiger beobachtet werden kann 4 1 . Hier berührt sich das Problem der Intensität m i t der Frage der Betroffenheit 4 2 . Es ist jedoch vom demokratischen Gedanken her gesehen völlig verfehlt, aus einer solchen Lage auf die „extreme Illegitimität" der Stimmenmehrheit zu schließen 43 . Abgesehen von den Schwierigkeiten praktischer A r t , den Grad der Intensität bei Abstimmungen zu erfassen 44 , beruht der demokratische Gedanke eben i n mancher Hinsicht auf einer fiktiven politischen Gleichheit der Bürger, deren Infragestellung dem ganzen Gebäude das Fundament entzieht. Bedenken gegen diese Auffassung sind darüber hinaus aus einem anderen Grund angebracht. Extreme Einstellungen und radikale Ideologien bewirken und fördern eine hohe Intensität der Überzeugung, während eine differenzierte Betrachtungsweise die Intensität deutlich schwächt 45 . Einseitigkeit und Radikalität, also hohe Intensität, sind der Rationalität einer Entscheidung deshalb eher abträglich 4 6 . I m übrigen können i m Bereich der Wahlen die sog. cross pressures eine entscheidende Rolle für einen schwachen Intensitätsgrad spielen. Anders formuliert heißt das, daß die Intensität der Präferenz i n dem Maß zunimmt, je mehr Punkte der Parteiprogramme, der Aussagen der Parteimitglieder und des politischen Verhaltens der Partei m i t der eigenen persönlichen Überzeugung übereinstimmen 4 7 . Diese Sachlage verdient 41 Lane / Sears (Anm. 34), S. 111, der etwa Steuern u n d Zölle als Beispiele nennt. 42 Stärke der Betroffenheit u n d Intensitätsgrad der Überzeugung werden teilweise korrespondieren. 43 So aber allen Ernstes Krippendorf (Anm. 33), S. 4 unter Bezugnahme auf die Parteien; Krippendorf verlangt konsequenterweise „über die E r r i n gung quantitativer Mehrheiten hinaus" für die L e g i t i m i t ä t einer Regierung, daß sie „sich auf eine qualitative Mehrheit stützen k a n n " ; ebd. S. 5 f.; die minoritäre, antidemokratische Einstellung Krippendorfs w i r d dann unverzüglich offenbar, w e n n er die gewaltsame Machtübernahme einer intensiven Minderheit als l e g i t i m ansieht m i t der absonderlichen Begründung, daß Desinteresse doch w o h l zumeist „passive Zufriedenheit" m i t den bestehenden Zuständen bedeute (ebd. S. 6); bezeichnenderweise h ä l t er v o n mehreren konkurrierenden politischen Vorstellungen n u r eine (!) für w a h r , w e n n diese Aussage auch immer n u r für eine bestimmte Zeitspanne gelte (ebd. S. 9); hier liegen totalitäre Ideologien nicht mehr fern. 44 Krippendorf w i l l deshalb an die Mitgliederstärke der Parteien als Indiz der Intensität anknüpfen, die — w i e zu vermuten — zugunsten der A r b e i t e r parteien, jedenfalls zum damaligen Zeitpunkt, ausfällt; dagegen halten sich 1980 i n der Bundesrepublik die bürgerlichen Parteien u n d die SPD hinsichtlich der Mitgliederzahlen etwa die Waage. 45 Lane / Sears (Anm. 34), S. 105 f. 46 Wobei die Rationalität einer demokratischen Mehrheitsentscheidung überhaupt nicht allzu hoch einzuschätzen ist; vgl. oben V I I , u n d u n t e n V I , D. 47 Lane / Sears (Anm. 34), S. 97 f.; zum mäßigenden Einfluß v o n crossCitting cleavages s. auch Goodin f Robert E., Cross-Cutting Cleavages and Social Conflict, B r i t i s h Journal of Politic Sciences 5 (1975), S. 516 m w N .

14·

212

VI.

e t e Begrenzungen des Mehrheitsprinzips

aber keine dahingehende Stimmenbewertung, daß nunmehr die Stimme der Wähler, die ihre Auffassung i n mehreren Parteien unterschiedlich vertreten sehen, geringer gewichtet werden als die Stimmen derjenigen, die sich m i t einer Partei identifizieren. Das Intensitätsproblem kann auch i n mancherlei Hinsicht entschärft werden. Vor allem das Moment der Mäßigung 4 8 der politischen Entscheidungen, das zu tief i n die Sphäre der Betroffenen einschneidende Maßnahmen vermeidet und dadurch aus hoher Intensität geborene, scharfe Reaktionen umgeht 4 9 , erlangt hier Bedeutung. Auch die Homogenität des Gemeinwesens 50 und der verbindende Grundkonsens 51 als Elemente und Voraussetzungen 52 eines gouvernement modéré tragen zu einer Milderung des Intensitätsproblems bei 5 3 . Gerade die Ausklammerung politisch explosiver Streitfragen aus dem Bereich der Mehrheitsentscheidung i n einem Grundkonsens ist ein geeignetes Verfahren dafür 5 4 . Schließlich ermöglichen Kompromisse einen Intensitätsausgleich 55 . Diese Vorkehrungen betreffen unmittelbar das Mehrheitsprinzip und sind darauf zugeschnitten. Das demokratische System gibt aber neben der Beteiligung an den Mehrheitsentscheidungen Raum für andere Formen der Partizipation 5 6 , ermöglicht es, auf anderen Kanälen Einfluß auszuüben. Hier eröffnen sich für den Einzelnen vielfältige Chancen, 48

s. ο. V , C. Vgl. Lane / Sears (Anm. 34), S. 104; da die public affairs i n den U S A n u r eine " l i m i t e d sphere" einnehmen, sind die Überzeugungen nicht allzu intensiv; Kendall / Carey (Anm. 34), S. 16 ff. meinen einen ähnlichen Sachverhalt, wenn sie i n der "correct reciprocal anticipation" der möglichen Reaktionen, wenn diese vorgenommen u n d bedacht w i r d , eine Linderung des Intensitätsproblems erblicken. 60 So.Kendall / Carey (Anm. 34), S. 17. 61 So Almond / Verba (Anm. 10), S. 359 f. 62 Vgl. dazu V . 53 Auch die institutionelle Gewaltenteilung w i r k t mäßigend u n d verringert das Intensitätsproblem i n mittelbarer Weise, w e n n auch weder der Supreme Court (s. Dahl (Anm. 34), S. 94 ff., 106) noch der amerikanische Senat (Dahl, S. 106 ff.) einen unmittelbaren Schutz intensiver Minderheiten verbürgen. Dennoch enthalten sie „Elemente des Ausgleichs", s. Scheuner, Ulrich, V e r fassungsgerichtsbarkeit u n d Gesetzgebung, DÖV 33 (1980), S. 473 ff. (479); vgl. auch Kendall / Carey (Anm, 34), S. 22 f., die das Federalistmodell zur Lösung der Spannungen aufgrund der Intensität der Überzeugungen befürworten. 54 Vgl. Key, V . O., Public Opinion and American Democracy, New Y o r k 1961, S. 40 f. z. B. Nationalitätsfragen, Religionsangelegenheiten. 65 s. das Beispiel bei Kendall / Carey (Anm. 34), S. 13, vgl. ebd. S. 19. 56 Vgl. die Übersicht über Partizipationsformen bei Schonfeld, W i l l i a m R. / Toinet, Marie-France, Les abstentionnistes ont-ils toujours tort? L a participation électorale en France et aux Etats-Unis, RFSP 25 (1975), S. 645 ff. (667); vgl. auch jetzt das Buch v o n Barnes, Samuel H. / Kaase, Max, Political Actions: Mass Participation i n Five Western Democracies, Beverly H ü l s 1979. 49

213

C. Das Intensitätsproblem

seinem politischen — möglicherweise „intensitätsgeladenen" — W i l l e n s t ä r k e r e n A u s d r u c k z u geben u n d eine d i r e k t e r e , k o n k r e t e r e

Wirkung

zu entfalten. I n der offenen pluralistischen Gesellschaftsordnung k a n n der B ü r g e r durch öffentliche Meinungsäußerungen, durch die Organisierung u n d Mitgliedschaft i n Parteien, Interessengruppen u n d neuerdings i n e i n e r V i e l z a h l v o n B ü r g e r i n i t i a t i v e n sich a k t i v p o l i t i s c h b e t ä t i gen, eigene p o l i t i s c h e I n t e r e s s e n w a h r n e h m e n u n d a u f v i e l f ä l t i g e Weise versuchen, andere v o n d e r eigenen M e i n u n g z u ü b e r z e u g e n 5 7 . D i e V e r w i r k l i c h u n g u n d A u s ü b u n g der dem B ü r g e r zustehenden Grundrechte i n s o n d e r h e i t d e r p o l i t i s c h e n G r u n d r e c h t e , ist e i n T e i l d e r l e b e n d i g e n Anteilnahme

a m V e r f a s s u n g s p r o z e ß 5 8 . Je o f f e n e r

sich das

politische

S y s t e m f ü r d e r a r t i g e andere E i n f l u ß k a n ä l e h ä l t , desto g e r i n g e r sich das I n t e n s i t ä t s p r o b l e m s t e l l e n 5 9 . D i e N o t w e n d i g k e i t

wird

zusätzlicher

P a r t i z i p a t i o n s m ö g l i c h k e i t e n e r w e i s t sich schon d a r a n , daß das M e h r heitsprinzip bei einer großen A n z a h l v o n Beteiligten d e m Einzelnen n u r e i n e n m i n i m a l e n , unspezifischen E i n f l u ß a u f das E r g e b n i s z u w e i s t 6 0 . 57 A n dieser Stelle sei nochmals an die wichtige Rolle des Meinungsführers i m Prozeß der Meinungsbildung erinnert (s.o. I I I ) ; ähnlich der Gedanke Dahls (Anm. 34), S. 99, daß eine aktive Minderheit die Unterstützung einer schwachen Mehrheit finden u n d damit selbst zur Mehrheit werden könne. Diese Möglichkeit dürfte u. a. dafür verantwortlich sein, daß Intensitätsund Stimmenverteilung i n allgemeinen politischen Fragen selten k o n t r ä r sind. 68 Vgl. Häberle, Peter, Die offene Gesellschaft der Verfassungsinterpreten (JZ 1975, 297 ff.), jetzt i n ders., Verfassung als öffentlicher Prozeß, B e r l i n 1978, S. 155 ff. vgl. auch Smend, Rudolf, Das Recht der freien Meinungsäußerung (1927), Staatsrechtliche Abhandlungen, 2. A u f l . B e r l i n 1968, S. 89 ff. (93, 95 f.). 59 Scharpf, Fritz, Die politischen Kosten des Rechtsstaates. Eine vergleichende Studie der deutschen u n d amerikanischen Verwaltungskontrollen, Tübingen 1970, hat deswegen i n dem sehr ausgeprägt pluralistischen E n t scheidungsverfahren der V e r w a l t u n g i n den U S A (dazu ebd. S. 62 ff.) eine zusätzliche, über die Betätigung an allgemeinen W a h l e n hinausgehende E i n flußchance auf Programme, v o n denen die jeweiligen Gruppen besonders betroffen sind (ebd. S. 64 f.) u n d damit eine Entschärfung des Intensitätsproblems gesehen (ebd. S. 66). 60 „Je unmittelbarer das V o l k als Vielheit sich äußern w i l l , u m so einflußloser w i r d es auf den I n h a l t dessen, was w i r k l i c h geschieht", so bereits Kaufmann, Erich, Z u r Problematik des Volkswillens (Berlin u. a. 1931, S. 13), jetzt i n Matz, Ulrich, Grundprobleme der Demokratie, Darmstadt 1973, S. 20 ff. (26); Kielmansegg (Anm. 16), S. 253 f. hebt hervor, daß einerseits f ü r keinen Beteiligten die Bedeutung seines Engagements noch evident wäre und andererseits, daß, w e n n Partizipation als Chance individueller Entfaltung verstanden u n d gerechtfertigt w i r d , der Möglichkeit der Egalisierung des Einflusses (und damit dem Mehrheitsprinzip) verhältnismäßig enge Grenzen gezogen sind. Olson, Mancur, Die L o g i k des k o l l e k t i v e n Handelns. K o l l e k tivgüter u n d die Theorie der Gruppen, Tübingen 1968, S. 54, 63 f. weist darauf hin, daß wegen des geringen Einflusses des Einzelnen i n Großgruppen der Einzelne erst gar nicht versuchen w i r d , eigene Beiträge bei K o l l e k t i v e n t scheidungen zu leisten. Vgl. auch Downs , A n t h o n y , Ökonomische Theorie der Demokratie, Tübingen 1968, S. 238 f.

214

VI.

e t e Begrenzungen des Mehrheitsprinzips

Egalitäre Massenpartizipation läßt dem Einzelnen nur „infinitesimale Einwirkungschancen" 6 1 , so daß sich allein aus diesem Grund andere, nicht-egalitäre Mitwirkungsrechte neben der Teilhabe an Mehrheitsentscheidungen rechtfertigen. D. Sachkompetenz Die Gleichheit der Abstimmenden, das gleiche Stimmgewicht bringt es notwendig m i t sich, daß das Mehrheitsprinzip unterschiedlichen Qualifikationen und Fähigkeiten nicht Rechnung tragen kann. Diesen Mangel gleicht auch der empirisch feststellbare Leistungsvorteil einer Gruppe, der die jeweilige Gruppenleistung die jeweilige individuelle Höchstleistung überschreiten läßt 6 2 , nicht aus, denn dies gilt i m Grunde nur bei Erkenntnissen, bei denen für alle Teilnehmer i m wesentlichen gleiche Ausgangsbedingungen vorliegen, bei denen es auf die Qualifikation, auf durch Spezialisierung erworbenes Wissen nicht ankommt 6 3 . Daher drückt Pufendorfs Satz „equidem i n decidendis veritatibus theoreticis sententiae non numerantur, sed ponderantur" 6 4 , noch immer eine richtige Erkenntnis aus. Gerade i m Bereich der wissenschaftlichen Forschung kann die Gewinnung von Erkenntnissen und die Findung der Wahrheit nicht von quantitativer Mehrheitsbildung bestimmt werden, weil es „auf die überprüfbare Richtigkeit einer Einsicht oder die auf persönlicher geistiger Kraft und Tiefe beruhende schöpferische Denkleistung ankommt" 6 5 . Aus verwandtem Grund ist das Mehrheitsprinzip nicht anwendbar auf dem Gebiet des Unterrichts und der Erziehung und sonstigen personalen Beziehungen auch affektiver A r t wie innerhalb der Familie und i m Verhältnis zwischen Lehrer und Schüler 66 . Daher hat auch der Gesetzgeber i m Hochschulrecht und i n noch dezidierterer Weise das Bundesverfassungsgericht die Mitbestimmung i n den Universitäten i m Blick auf die Unterschiede i n Qualifikation, Funktion und Verantwortung differenziert 6 7 und damit diese paritätischen 81

Kielmansegg (Anm. 16), S. 253; vgl. auch Luhmann, Niklas, Grundrechte als Institution. E i n Beitrag zur politischen Soziologie, B e r l i n 1965, S. 150: Wahlen geben n u r einen „unspezifischen m i n i m a l e n u n d wenig treffsicheren Einfluß". 62 Hofstätter, Peter, Gruppendynamik, Hamburg 1957, S. 27 ff.; vgl. bereits oben I I I . 88 I n aus gleich-qualifizierten Sachverständigen zusammengesetzten Grem i e n k o m m t der Leistungsvorteil wieder zur Geltung. 64 Pufendorf, Samuel von, De Jure Naturae et Gentium L i b r i Octo, Ed. Gottfridus Mascovius, F r a n k f u r t 1759 (Nachdruck F r a n k f u r t 1967) V I I , c.2, § 15. 65 Scheuner, Mehrheitsprinzip (Anm. 5), S. 8. ββ Ebd. S. 9, 48 f. 67 BVerfGE 35, 79 (131, 138); u n d bei Beschlüssen, die die Lehre u n m i t t e l b a r betreffen, müssen die Stimmen der Professoren besonders stark gewichtet

D. Sachkompetenz

215

Beteiligungsformen ständisch-korporativen Strukturen angenähert. Hier hat die Mehrheitsentscheidung „nur mehr formale Bedeutung, also keine Beziehung mehr auf demokratische Strukturen. Ihre legitimierende Kraft ist daher auch von vornherein geringer" 6 8 . Auch i m Bereich der Wirtschaftsverfassung i n Großunternehmen sind einer Mitbestimmung der Arbeitnehmer unter diesem Gesichtspunkt Grenzen gesetzt 69 . Das Rentabilitätsprinzip erfordert einen optimalen Markterfolg und einen optimalen Einsatz aller Mittel. Deshalb bedarf es zur Leitung des jeweiligen Unternehmens umfassender Kenntnis der Marktlage und Marktchancen, der konjunkturellen und strukturellen wirtschaftlichen Entwicklung und der Möglichkeiten der Verwendung technischer Mittel, der Ressourcen und der Arbeitsverteilung. Mitbestimmung der Arbeitnehmer kann i m Rahmen der Leitung der Unternehmen deswegen nicht unmittelbar nach dem Mehrheitsprinzip verwirklicht werden 7 0 . I n organisatorischer Hinsicht muß ein Vertretungskörper eingerichtet werden, der aus genügend qualifizierten Kräften zusammengesetzt ist, deren Entsendung i n dieses Gremium die Mitbestimmungsregeln sichern muß 7 1 . Die Zweck- und Zielorientierung der Unternehmen 7 2 drängt zu einem überwiegenden Einsatz von Qualifikation und Sachverstand. Ins Allgemeine gewendet bedeutet das folgendes: Der Sachzwang w i r d dort vorherrschend, wo bestimmte, genau umgrenzte, geschlossene werden, u m die Freiheit der wissenschaftlichen Tätigkeit u n d die Funktionstüchtigkeit der Universität zu sichern BVerfGE 35, 79 (142), Scheuner, M e h r heitsprinzip (Anm. 5), S. 49 sieht daher darin „keine demokratischen V o r gänge, sondern Umformungen der heute notwendig gewordenen A d m i n i s t r a t i o n der Wissenschaftspflege, innerhalb deren eine Partizipation der Beteiligten i n sachgemäßer F o r m durchaus ihren Sinn hat, unter Vorstellungen, die einen ständisch organisierten K a m p f der Gruppen, eine dem Sachbereich fremde Politisierung u n d damit eine sichtbare Schwächung der Funktionsleistung herbeigeführt haben". ® 8 Scheuner, Mehrheitsprinzip (Anm. 5), S. 49; darin k o m m t dann der r e i n technische Aspekt des Mehrheitsprinzips deutlich zum Vorschein. 69 s. dazu Schwerdtfeger (Anm. 24), S. 112 ff. 70 Eine unmittelbare Mitbestimmung könnte daher n u r bei der direkten Arbeitsplatzgestaltung ansetzen. 71 Scherdtfeger (Anm. 24), S. 114; die Richtigkeit der unternehmerischen Entscheidung ist allerdings nicht das einzige K r i t e r i u m , sondern für die Einführung der Mitbestimmung spielen soziale Gesichtspunkte eine entscheidende Rolle, vgl. auch oben V I , B. 72 Dazu Graetz, Wolfhard, Demokratisierung der Wirtschaft durch M i t bestimmung. Möglichkeiten u n d Grenzen eines Postulats i n der Unternehmung, Diessenhofen 1974, S. 139 ff.; eine optimale F ü h r u n g der Unternehmen liegt auch nicht allein i m Interesse der Eigentümer u n d Arbeitnehmer, sondern letztlich ebenfalls i m Interesse der Verbraucher; allerdings hängt das Gewicht des Effizienzgedankens entscheidend v o n der Bedeutung ab, die m a n dem Eigentum i m Gegensatz zu dem Selbstbestimmungsrecht der A r b e i t nehmer beimißt.

216

VI.

e t e Begrenzungen des Mehrheitsprinzips

Z i e l e das H a n d e l n d e r B e t e i l i g t e n b e s t i m m e n m ü s s e n u n d s o l l e n 7 3 . Je funktionaler

eine O r g a n i s a t i o n , e i n V e r b a n d o d e r eine

ausgerichtet ist, u m so m e h r müssen d e m o k r a t i s c h e

Körperschaft

Willensbildungs-

prozesse, d i e a u f d e r A n n a h m e d e r G l e i c h h e i t basieren, z u r ü c k t r e t e n 7 4 . E i n „sachgebundener M a ß s t a b " 7 5 v e r t r ä g t sich schlecht m i t e i n e m K o n zept d e r g l e i c h e n S e l b s t b e s t i m m u n g , d e r V e r w i r k l i c h u n g eines s u b j e k t i v e n freien Willens. Ähnliches gilt für den Bereich der V e r w a l t u n g , i n dem neben der übergreifenden

Aufgabe

das Gesetz als „ S c h r a n k e u n d A u f t r a g "

77

der

Gemeinwohlerfüllung 76

eine n o r m a t i v e B e g r e n z u n g 7 8

d a r s t e l l t u n d d i e Z i e l r i c h t u n g der T ä t i g k e i t a n g i b t , d i e e i n e freie, p o l i tische S e l b s t b e s t i m m u n g beschränken, w e i l auch sachliche K o m p e t e n z f ü r die E r f ü l l u n g der F u n k t i o n nicht entbehrt w e r d e n kann. A l s Beitrag z u e i n e r h ö h e r e n R a t i o n a l i t ä t d e r V e r w a l t u n g s e n t s c h e i d u n g l ä ß t sich die Beteiligung der externen Betroffenen 79 w o h l i m wesentlichen n u r d a n n begreifen, w e n n die Partizipation einen i n f o r m e l l e n

Charakter

b e i b e h ä l t u n d a u f diese W e i s e i h r n i c h t die e i g e n t l i c h e E n t s c h e i d u n g z u wird80.

f ä l l t oder letztere v o n den Partizipierenden nicht erzwungen I n f o r m e l l e P a r t i z i p a t i o n ist aber k e i n e M e h r h e i t s e n t s c h e i d u n g 73

81

.

Vgl. Ryffel, Hans, Der demokratische Gedanke i m politischen u n d i m sozialen Bereich, i n Demokratie u n d Verwaltung, B e r l i n 1972, S. 191 ff. (200). 74 Vgl. Ryffel (Anm. 73); Oertzen, Hans-Joachim von, Demokratisierung u n d Funktionsfähigkeit der Verwaltung, Stuttgart 1974, S. 129. Soweit die Demokratisierung auch eine Politisierung b e w i r k t u n d bezweckt, ist allerdings j a auch gerade e i n Zurücktreten des Sachverstandes intendiert; vgl. kritisch dazu Scheuner, Mehrheitsprinzip (Anm. 5), S. 49; Hennis , W ü h e l m , Demokratisierung. Z u r Problematik eines Begriffs, K ö l n u. a. 1970, S. 27. 75 Scheuner, Mehrheitsprinzip (Anm. 5), S. 8. 76 Zwischen dem über den lokalen u n d regionalen Bereich hinausreichenden Gemeinwohlinteressen u n d dem durch die Bürgerinitiativen verfolgten Gruppeninteresse besteht insofern oft ein erheblicher Gegensatz; vgl. dazu Oertzen (Anm. 74), S. 64 ff.; Bürgerinitiativen dienen jedenfalls zumeist der Wahrnehmung kurzfristiger privater Interessen, so auch Mayntz, Renate, Funktionen der Beteiligung bei öffentlicher Planung, i n Demokratie u n d Verwaltung, B e r l i n 1972, S. 341 ff. (342). 77 Scheuner, Ulrich, Das Gesetz als A u f t r a g der V e r w a l t u n g (DÖV 69, S. 585 ff.), jetzt i n Staatstheorie u n d Staatsrecht, B e r l i n 1978, S. 545 ff. (562 ff.); zum Gesetz als A u f t r a g s. auch Müller, Georg, I n h a l t u n d Formen der Rechtssetzung als Problem der demokratischen Kompetenzordnung, Basel u. a. 1979, S. 78 ff.; die F u n k t i o n der Ermächtigung ist dagegen keine Begrenzung. 78 Bei Oertzen (Anm. 74), S. 80 findet sich der Ausdruck „normative Fremdbestimmung". Diese Begrenzung g i l t sowohl für eine Mitbestimmung der Bediensteten w i e der Betroffenen u n d zwar aufgrund der höheren demokratischen Legitimation des Gesetzes. M i t Einschränkung w i r d hier das Gebiet der immanenten Begrenzungen bereits verlassen. Es interessiert hier vor allem der Bezug zwischen sachlicher Kompetenz u n d Auftragserfüllung. 79 Z u m Verhältnis v o n Effizienz u n d Mitbestimmung der Bediensteten s. Oertzen (Anm. 74), S. 79 f. 80 Es lassen sich w o h l drei mögliche F u n k t i o n e n der Beteiligung feststellen: 1. V e r w i r k l i c h u n g v o n Selbstbestimmung, 2. Rationalitätserhöhung (dies g i l t

D. Sachkompetenz

217

Das Spannungsverhältnis zwischen der dem Mehrheitsprinzip immanenten Gleichheit und der Rationalität der Entscheidung 82 , soweit sie der Sachkompetenz bedarf, ist noch i n viel umfassenderem Sinn zu verstehen und bedingt i n erheblichem Umfang die modernen Formen politischer Herrschaft. Die Komplexität moderner Gesellschaften erzwingt eine weitgehende Arbeitsteilung, die auf allen Gebieten zu einer auch den Bereich der Politik erfassenden Spezialisierung und Professionalisierung führt. Die Erfüllung der vielfältigen komplexen und differenzierten Aufgaben politischer Herrschaft, die auch ein wesentliches Element demokratischer Legitimität bilden, erfordert eine derartige Professionalisierung 83 . Das gilt i n verstärktem Maß i n den modernen Demokratien, die den Umfang staatlicher Aufgaben ständig erweitern. Diese Spezialisierung bedeutet die Notwendigkeit einer Institutionalisierung politischer Kompetenzen i n Ämtern, die politische Verantwortlichkeit und Kontrolle politischer Macht ermöglicht 8 4 . Eine solche Professionalisierung läßt sich außerdem auch unmittelbar aus der Struktur des Mehrheitsprinzips rechtfertigen: Mehrheitsentscheidungen setzen voraus, daß Alternativen zuvor aufgearbeitet und eliminiert werden 8 5 . Selbst i m engeren Kreis des Parlaments ist die zunehmende arbeitsteilige Spezialisierung augenfällig. Dazu trägt sowohl das Fraktionswesen, das unter einem Dach eine ganze Anzahl von Fachleuten für bestimmte Aufgabengebiete vereinigt, wie die wachsende Bedeutung der Ausschüsse bei, die der Rationalität der jeweiligen Entscheidung dienen. Die Rationalität der Entscheidung ist wiederum ein wesentliches Element demokratischer Legitimität, da die Leistungsfähigkeit des Systems davon abhängt. Insoweit ist die Sachkompetenz auch eine heteronome Begrenzung des demokratischen Mehrheitsprinzips.

aber w o h l n u r für eine informelle Beteiligung), 3. Förderung der Bereitschaft zur Akzeptierung der Verwaltungsentscheidungen, Mayntz (Anm. 76), S. 341. 81 s. ο. I, u n d I V , B. 82 Kielmansegg (Anm. 16), S. 251 f. h ä l t m i t Recht fest, „daß Mitbestimmung ohne ein M i n i m u m an Rationalität der Entscheidung weder als V e r w i r k lichung individueller Autonomie verstanden noch als Verfügung über D r i t t e gegenüber den Betroffenen gerechtfertigt werden k a n n " . Insofern sind Demokratie u n d Effizienz k e i n sich gegenseitig ausschließendes Begriffspaar, so aber Fach, Wolfgang, Demokratie u n d Effizienz, ARSP 64 (1978), S. 35 ff. 88 Vgl. zum ganzen Kielmansegg (Anm. 16), S. 250 ff. s. zum Zusammenhang von Repräsentation u n d Professionalisierung bereits Lewis, George Cornewall, A n Essay on the Influence of A u t h o r i t y i n Matters of Opinion, London 1849, S. 267 ff. sowie Oppermann, Thomas, Das Parlamentarische Regierungssystem des Grundgesetzes, Anlage — Erfahrung — Zukunftseignung, V V D S t R L 33 (1975), S. 8 ff. (43). 84 s. Kielmansegg (Anm. 16), S. 250. 85 s. ο. I V , B, 1; vgl. auch Kielmansegg (Anm. 16), S. 251.

218

VI.

e t e Begrenzungen des Mehrheitsprinzips

Dagegen ist i n Sachverständigengremien und i n Gerichten gerade die Gleichheit der Qualifikation, der Kenntnisse und der Erfahrung die Voraussetzung für die Gleichheit der Stimmen für die Anwendung des Mehrheitsprinzips, die keine Beziehung zu einer demokratischen Selbstbestimmung aufweist 8 6 . Die Gleichheit der Urteilenden fließt hier aus der Anerkennung der richterlichen Unabhängigkeit, die auf der Aufgabe der Erkenntnis 8 7 sowie der sozialen und ethischen Wertung beruht und über das Mehrheitsprinzip einen offenen Rechtsfindungsprozeß i m Dienst der Gerechtigkeit erlaubt 8 8 , was auch die Respektierung und Anerkennung der Minderheit einschließt. E. Verschiedenartigkeit größerer Verbände (Interessengruppen, staatliche Verbandseinheiten) Ungleiche Qualifikation ist i m Grunde nur eine besonders hervorstechende Ausprägung des Phänomens, daß häufig die Entscheidungssubjekte nicht gleich sind, wie es das Mehrheitsprinzip voraussetzt. Das springt noch deutlicher ins Auge, wenn ganze Gruppen, kollektive Einheiten i n einem Entscheidungsorgan zusammengefaßt werden. Es erscheint deshalb äußerst problematisch, das Mehrheitsprinzip i n Vertretungskörpern anzuwenden, die sich nicht aus individuell gleichen Mitgliedern, sondern korporativen Einheiten wie Interessengruppen zusammensetzen, so daß das Gewicht der zugrundeliegenden Interessen und nicht die individuelle Zahlengleichheit die eigentliche Basis der Mehrheitsbildung darstellt 8 9 . Die Festlegung der Gruppenanteile, die vielfach die späteren Entscheidungen prägt und vorwegnimmt und deshalb meist heftig umkämpft ist, kann nicht die Fragwürdigkeit der Berechnung des Gewichtes i n bestimmte Stimmzahlen verschleiern, denn es fehlt an einem Vergleichsmaßstab, der eine exakte Präzisierung der Bedeutung der Gruppen und ihre Umsetzung i n Stimmenanteile i m Rahmen einer Gesamtrepräsentation angesichts der Verschiedenartigkeit der Gruppen 86 Die Identität der Aufgabe der Rechtsfindung ist demgegenüber nicht so entscheidend. So aber Scheuner, Mehrheitsprinzip (Anm. 5), S. 47. 87 s. Eichenberger, K u r t , Die richterliche Unabhängigkeit als staatsrechtliches Problem, B e r n 1960, S. 83 ff., 96 f.; deshalb bedarf der Richter der besonderen Qualifikation, die Voraussetzung der Gleichheit ist. 88 s. Scheuner, Mehrheitsprinzip (Anm. 5), S. 47 f. die angelsächsische E i n richtung des dissenting vote legt diesen Entscheidungsprozeß m i t der Möglichkeit unterschiedlicher Bewertung offen, während die Einheit des Richterspruchs nach außen die Streitschlichtung i n den Vordergrund stellt, wobei der Gedanke der Folgepflicht der Minderheit zweifellos noch nachwirkt; Scheuner, S. 48. 89 s. Scheuner, Mehrheitsprinzip (Anm. 5), S. 49 f.

219

E. Verschiedenartigkeit größerer Verbände

u n d ihres Machteinflusses z u l i e ß e 9 0 . Infolgedessen k ö n n e n die e i n z e l n e n G r u p p e n falsch eingeschätzt, a n d e r e v ö l l i g ü b e r g a n g e n w e r d e n

oder

einige i n eine stete M i n d e r h e i t s p o s i t i o n geraten. Schließlich ü b e r l a g e r t d e r Gegensatz v o n A r b e i t g e b e r n u n d A r b e i t n e h m e r n diese E i n t e i l u n g u n d e r z w i n g t m e i s t z u d e m eine p a r i t ä t i s c h e S t i m m e n z u w e i s u n g 9 1 . D i e W i r t s c h a f t s r ä t e s i n d deshalb z u Recht als B e r a t u n g s g r e m i e n k o n z i p i e r t u n d haben keine Stellung m i t Entscheidungsfunktionen erlangt 92. diesen B e d i n g u n g e n scheitern s o w o h l e i n e w i r k l i c h e

An

Gesamtrepräsen-

t a t i o n 9 3 w i e die A n w e n d u n g des M e h r h e i t s p r i n z i p s , d e r e n enge V e r k n ü p f u n g auch h i e r s i c h t b a r w i r d . I m B e r e i c h der Z u s a m m e n a r b e i t d e r S t a a t e n i m V ö l k e r r e c h t ist es eher d i e aus d e r S o u v e r ä n i t ä t r e s u l t i e r e n d e f o r m a l e G l e i c h h e i t 9 4 , die die V e r s c h i e d e n a r t i g k e i t d e r S t a a t e n i n Größe, M a c h t u n d w i r t s c h a f t l i c h e r B e d e u t u n g m i t e i n e r F i k t i o n 9 5 ü b e r s p i e l t , die eine A n w e n d u n g der M e h r h e i t s r e g e l einerseits e r m ö g l i c h t , andererseits aber v e r h i n d e r t , da die g r o ß e n M ä c h t e n i c h t b e r e i t sind, sich v o n e i n e r V i e l z a h l v o n kleineren Staaten gebildeten M e h r h e i t e n i n grundlegenden Fragen 96 zu u n t e r w e r f e n 9 7 . I n s o f e r n v e r m a g eine S t i m m e n w ä g u n g d e r tatsächlichen 90 Vgl. zu diesen Schwierigkeiten Bryde, B r u n - O t t o , Zentrale Wirtschaftspolitische Beratungsgremien i n der Parlamentarischen Verfassungsordnung, F r a n k f u r t / M . 1972, S. 101 ff.; Sperling, Dietrich, Wirtschaftsräte i m Europäischen Verfassungssystem, JöR N. F. 14 (1965), S. 195 ff. (285 f.); allg. zur Zusammensetzung Bryde, S. 98 ff. 91 Vgl. Bryde (Anm. 90), S. 99 f. 92 Vgl. das Buch v o n Bryde (Anm. 90); u n d Sperling (Anm. 89), S. 286 f. 93 Politische Repräsentation setzt eine korporative Einheit voraus; s. Scheuner, Ulrich, Das repräsentative Prinzip i n der modernen Demokratie (1961), i n Staatstheorie u n d Staatsrecht, B e r l i n 1978, S. 245 ff. (251) u n d d . h . heute, daß der Repräsentationskörper homogen sein muß; vgl. auch Kaiser, Joseph H., Die Repräsentation organisierter Interessen, B e r l i n 1956, S. 349 ff.; Gesamtrepräsentation durch führende Machtgruppen ist i n der Gegenwart, i m Unterschied zur älteren Zeit, keine legitimierende Basis der Repräsentat i o n m e h r w i e Scheuner, Mehrheitsprinzip (Anm. 5), S. 49 feststellt. Solange die ständischen Vertretungen noch i n die verschiedenen Stände gegliedert waren u n d n u r dort das Mehrheitsprinzip galt, w u r d e n i n erster Linie nicht das Ganze, sondern die ständischen Gruppen vertreten. 94 s. Scheuner, Mehrheitsprinzip (Anm. 5), S. 50 ff.; zur rechtlichen Gleichheit i m Völkerrecht auch bes. Schaumann, Wilfried, Die Gleichheit der Staaten, W i e n 1957, S. 120 ff. 95 s. Honoré, A n t o n y M., Die menschliche Gemeinschaft u n d das Prinzip der Mehrheitsregel, i n Recht u n d Gesellschaft, Festschrift H . Schelsky, B e r l i n 1978, S. 229 ff. (237). 96 Das Mehrheitsprinzip findet allerdings i n eher technischen u n d weniger bedeutsamen Organisationen eher Anwendung, Scheuner, Mehrheitsprinzip (Anm. 5), S. 52; Fleiner, Thomas, Die Kleinstaaten i n den Staatenverbindungen des 20. Jahrhunderts, Zürich 1966, S. 73; oft verbunden m i t einer Stimmenwägung s. Fleiner, S. 98 ff. 97 Scheuner, Mehrheitsprinzip (Anm. 5), S. 52; Schaumann (Anm. 94), S. 124; dennoch ist diese formelle Gleichheit ein Schutz der Schwachen, Schaumann,

220

VI.

e t e Begrenzungen des Mehrheitsprinzips

U n g l e i c h h e i t gerechter z u w e r d e n 9 8 . G l e i c h z e i t i g 9 9 b i l d e t die S o u v e r ä n i t ä t als G r u n d u n d F o l g e d e r G l e i c h h e i t d e r S t a a t e n das entscheidende H i n d e r n i s d e r g e s t a l t , daß es a n e i n e r ü b e r g r e i f e n d e n r e c h t l i c h e n E i n heit, der Homogenität der internationalen, universalen O r d n u n g f e h l t 1 0 0 . D i e S o u v e r ä n i t ä t zeigt eine ä h n l i c h e A m b i v a l e n z w i e d e r

Grundsatz

des „ Q u o d omnes t a n g i t " 1 0 1 u n d e r l a u b t es j e d e m Staat, sich a u f i n t e r nationalen Konferenzen

mit Mehrheit

angenommenen

Konventionen

durch den Vorbehalt der Ratifikation zu entziehen102. Der Übergang zu Mehrheitsentscheidungen

wirkliche

i n Staatenverbindungen

setzt

e i n hohes M a ß a n i n n e r e r I n t e g r a t i o n v o r a u s 1 0 3 . E i n e d e r a r t i g e I n t e g r a t i o n w i r d erst i n f ö d e r a l e n G e b i l d e n e r r e i c h t , d i e n u r e r g ä n z e n d n e b e n dem zentralen unitarischen, demokratischen Repräsentationsorgan, dem Parlament, ein teils auf formaler Gleichheit der Bundesstaaten104, teils

S. 132, Scheuner, S. 51, da sie hierdurch ein Gegengewicht gegen das faktische u n d i n gewissem Umfang i n der UNO durch ständige Ratssitze u n d Vetorecht verankerte Übergewicht der Großmächte erhalten. Dazu s. Fleiner (Anm. 96), S. 92 ff., auch zum Völkerbund; ebd. S. 346 auch zur Einstimmigkeit als Schutz der Kleinstaaten. 98 Z u r Stimmenwägung s. Schaumann (Anm. 94), S. 129 ff.; Fleiner (Anm. 96), S. 72 ff., 79 ff., 127 ff.; Schwarz-Liebermann v. Wahlendorf, Hans Albrecht, Mehrheitsentscheid u n d Stimmenwägung. Eine Studie zur E n t w i c k l u n g des Völkerverfassungsrechts, Tübingen 1953, bes. S. 235 ff. 99 Die völkerrechtliche Souveränität ist Voraussetzung u n d Hindernis zugleich. 100 s. Scheuner, Mehrheitsprinzip (Anm. 5), S. 52 „fehlende Organisation u n d fehlende institutionelle Gestaltung"; zum Zusammenhang zwischen Souveränität u n d Einstimmigkeit s. auch Schwarz-Liebermann (Anm. 98), S. 14 „ i n dem Maß, i n dem der klassische Souveränitätsbegriff liquidiert w i r d , w i r d das Mehrheitsprinzip nach vorne rücken". 101 s. ο. I I . 102 s. Schaumann (Anm. 94), S. 124 f.; Scheuner, Mehrheitsprinzip (Anm. 5), S. 51 m i t Beispiel: Diese Vorgehensweise f ü h r t deutlich v o r Augen, daß, w e n n Entscheidungen getroffen werden sollen, das Mehrheitsprinzip n o t wendig ist. Die K o m b i n a t i o n v o n mehrheitlicher A b s t i m m u n g über den V e r tragsentwurf u n d den zweiten Schritt der Unterzeichnung u n d Ratifikation ermöglicht es, wenigstens zu einem einheitlichen Vertragstext zu kommen, ohne der Souveränität Abbruch zu tun. Vgl. auch Fleiner (Anm. 96), S. 327 ff.; vgl. auch ebd. S. 310 ff., 315 ff. zum Verhältnis v o n Mehrheitsentscheidung u n d staatlichem Kündigungsrecht. 103 Herzog, Roman, Allgemeine Staatslehre, F r a n k f u r t 1971, S. 409 f.; Fleiner (Anm. 96), S. 295; Scheuner, Mehrheitsprinzip (Anm. 5), S. 52; dieses Maß an Integration haben die Europäischen Gemeinschaften noch nicht erreicht. Deswegen hat sich entgegen den Bestimmungen der Verträge i m entscheidenden Organ, dem Ministerrat, das Einstimmigkeitsprinzip erhalten, dazu s. Ipsen, Hans Peter, Europäisches Gemeinschaftsrecht, Tübingen 1972, S. 492 ff.; Bleckmänn, A l b e r t , Europarecht, 2. A u f l . K ö l n u. a. 1980, S. 18 ff. 104 Das g i l t etwa für die Schweizer Kantone; s. dazu Schindler, Dietrich, Die Gleichheit der Kantone, i n Recht, Staat, Völkergemeinschaft, Zürich 1948, S. 147 ff.; sowie für die Einzelstaaten der USA. H i e r ist die staatliche Qualität der Länder noch ganz offensichtlich. Vgl. auch Huber, Hans, Die Gleichheit der Gliedstaaten i m Bundesstaat, ÖZöR 18 (1968), S. 247 ff.

E. Verschiedenartigkeit größerer Verbände auf e i n e r d e n r e a l e n B e v ö l k e r u n g s z a h l e n angemessenen teilung

oder

Stimmenwägung105

beruhendes

221 Stimmenver-

Entscheidungsorgan

kennen106.

105 So das System der Stimmenverteilung i m Bundesrat; zur proportionalen Vertretung der Länder i n Österreich s. Schambeck, Herbert, Der Bundesrat der Republik Österreich, JöR N . F . 26 (1977), S. 215 ff. (220 ff.); vgl. auch die Ländervertretungen i n Kanada u n d Australien. 106 Hier zeigt sich eine „gewisse Verbindung demokratischer u n d korporat i v e r Elemente", Scheuner, Mehrheitsprinzip (Anm. 5), S. 53; prägnant auch Fleiner (Anm. 96), S. 115, 126. Die Stimmenwägung i m Bundesrat stellt einen Kompromiß zwischen Staatengleichheit u n d Individualgleichheit dar.

V I I . Heteronome Begrenzungen 1 des Mehrheitsprinzips in der Demokratie A . N o r m a t i v e Begrenzungen Eine verbreitete Auffassung identifiziert Demokratie m i t einer "absolute m a j o r i t y r u l e " 2 . Das W e s e n d e r D e m o k r a t i e erschöpft sich j e d o c h nicht i m Mehrheitsprinzip. „Das Mehrheitsprinzip k a n n unmöglich den Wesensgehalt d e r D e m o k r a t i e a u s f ü l l e n . D e r G e d a n k e , daß eine P a r t e i v o n 50 % p l u s e i n e r S t i m m e eine T y r a n n e i a u s ü b e n d a r f , ist d e m o k r a t i s c h e m D e n k e n ebenso u n e r t r ä g l i c h w i e der, daß eine P a r t e i v o n 50 °/o m i n u s e i n e r S t i m m e es d ü r f t e 3 . D i e Z a h l k a n n also n i c h t das a l l e i n E n t scheidende s e i n 4 . " D i e V e r t r e t e r des K o n z e p t s d e r a b s o l u t e n M e h r h e i t s h e r r s c h a f t e n t g e g n e n diesem A r g u m e n t , daß D e m o k r a t i e i n d e r F o r m d e r absolute m a j o r i t y r u l e als I d e a l k o n z i p i e r t sei u n d die V o l k s s o u v e r ä n i t ä t das Recht a u f — drastisch f o r m u l i e r t — S e l b s t m o r d einschließe. D i e faktische M ö g l i c h k e i t , sich selbst aufzulösen, b e r ü h r e die R i c h t i g k e i t d e r D e m o k r a t i e v o r s t e l l u n g n i c h t 5 . C. S c h m i t t ü b e r t r i f f t diesen 1

Z u m Begriff der heteronomen Begrenzungen s. o. V I . Vgl. hierzu v o r allem die Diskussion i m Journal of Politics: McClosky, Herbert, The Fallacy of Absolute M a j o r i t y Rule, JoP 11 (1949), S. 638 ff.; Kendall , Willmoore, Prolegomena to any Future W o r k on M a j o r i t y Rule, JoP 12 (1950), S. 694 ff.; Thorson, Thomas Landon, Epilogue on Absolute M a j o r i t y Rule, JoP 23 (1961), S. 557 ff.; Ranney, Austin, Postlude to the Epilogue, JoP 23 (1961), S. 566 ff.; f ü r den deutschen Sprachraum vgl. die Äußerungen bei Mot stein-Marx, Fritz, Beiträge zum Problem des parlamentarischen M i n d e r heitenschutzes, Hamburg 1924, S. 46: „Der Majoritätsabsolutismus ist schrankenlos". Einen einprägsamen Ausdruòk hat dieser Gedanke i n einem Schweizer Sprichwort gefunden: „Die Mehrheit ist K ö n i g " , zitiert bei MorsteinMarx, S. 40. Demgegenüber hat sich systematisch als erster für eine M i l d e r u n g der Mehrheitsherrschaft eingesetzt i m Sinne einer M i l d e r u n g u n d Begrenzung des Mehrheitsprinzips Tocqueville, Alexis de, Über die Demokratie i n A m e r i k a (1835/40), München 1976, S. 302 ff., w e n n m a n einmal v o n einzelnen Bemerkungen i m Federalist absieht. 3 H i e r w i r d allerdings offensichtlich Mehrheit u n d Parlamentsmehrheit gleichgesetzt, w i e bereits i m Federalist (s. ο. II). Das n i m m t der Aussage aber nichts v o n ihrer generellen Gültigkeit. 4 Laun, Rudolf, Mehrheitsprinzip, Fraktionszwang u n d Zweiparteiensystem, Gedächtnisschrift W a l t e r Jellinek, München 1955, S. 175 ff. (191 f.). 6 Kendall (Anm. 2), S. 704; Ranney (Anm. 2), S. 568; bei Kendall wird diese Schlußfolgerung aus dem Gedanken der Souveränität auch dadurch erleichtert, daß Kendall, S. 706, zwischen dem "problem of the l i m i t s of sovereignty power of the community and the problem of the method b y w h i c h community is to make its decisions" unterscheidet. Erst i n der V e r bindung m i t dem Mehrheitsprinzip gewinnt der Absolutheitsanspruch der Volkssouveränitätsdoktrin seine Gefährlichkeit. 2

Α . Normative Begrenzungen

223

Ansatz noch an Radikalität, wenn er überhaupt die Existenz schutzwürdiger Interessen gegenüber der Mehrheit bestreitet, da die Gesamtheit sich immer wieder neu i n Mehrheit und Minderheit teile, weil ein permanenter Mehrheitswechsel stattfinde 6 . Die Anhänger des Mehrheitsabsolutismus verfallen einer statischen Betrachtungsweise, indem sie übersehen, daß eine Abdankung der Mehrheit, der rechtliche Verzicht auf weitere Mehrheitsentscheidungen die Rechte aller künftigen Mehrheiten abschneidet. I m Interesse der Mehrheitsherrschaft muß die Chance des Mehrheitswechsels möglicherweise gegen den Willen einer aktuellen Mehrheit 7 aufrechterhalten werden, muß das System sich selbst erhalten und darf deshalb nicht seine eigenen Voraussetzungen beseitigen 8 . Die Kombination von Souveränitätsdoktrin und Mehrheitsprinzip mißachtet infolge ihrer Fixierung auf das Souveränitätsdenken zudem die demokratischen Rechte der jeweiligen Minderheit. Das Postulat des Mehrheitsabsolutismus berücksichtigt außerdem nicht, daß der einzelne Bürger nicht i n politischer Entscheidungsbeteiligung aufgeht. Die Legitimität des demokratischen Systems beruht auf der breiteren Basis der drei Kriterien Teilhabe an Herrschaft, Schutz vor Herrschaft und Qualität der Herrschaftsleistungen 9 . Das Mehrheitsprinzip ist insofern i n einen normativen Zusammenhang eingebettet 10 , aus dem sich i n verschiedener Hinsicht die Begrenzungen des Mehrheitsprinzips i n einer repräsentativen Demokratie ergeben. Unter normativen Aspekten muß das Mehrheitsprinzip i n dreifacher Hinsicht und m i t einer doppelten Zielrichtung i n repräsentativen Demokratien eingeschränkt werden, wobei normativ i n diesem Zusammenhang nicht i n dem juristischen Sinn einer abstrakt-generellen Regelung, sondern darunter die dem demokratischen System zugrundeliegenden Werte verstanden werden, die allerdings i n juristischen Normen Ausdruck finden können. — Mehrheitsentscheidungen dürfen nicht eingreifen i n einen gewissen, nicht zeitlos fest umrissenen und gleichbleibenden, sondern auch β Schmitt, Carl, Legalität u n d Legitimität, München u. a. 1932 (2. A u f l . Berl i n 1968), S. 43; auch an dieser Stelle w i r d die rousseauistische Demokratieauffassung C. Schmitts deutlich; vgl. auch oben V , A n m . 8. 7 Schmitt setzt den Mehrheitswechsel faktisch voraus u n d sieht sich deshalb einer normativen Gerantie dieser Chance enthoben. 8 McClosky (Anm. 2), S. 643 ff., u n d Thorson (Anm. 2), S. 560, argumentieren m i t dem Selbsterhaltungsinteresse jedes politischen Systems. 9 s. o. Einleitung. 10 Gegen den Mehrheitsabsolutismus auch Kägi, Werner, Die Verfassung als rechtliche Grundordnung des Staates, Zürich 1946, S. 153, 181 ff.; ders., Rechtsstaat u n d Demokratie. A n t i n o m i e u n d Synthese (1953), i n Matz, U l r i c h (Hrsg.), Grundprobleme der Demokratie, Darmstadt 1973, S. 107 ff.; vgl. auch bereits The Federalist Nr. 10; Tocqueville , A l e x i s de, Über die Demokratie i n A m e r i k a (Anm. 2), S. 302 ff., 300.

224

V I I . Heteronome Begrenzungen des Mehrheitsprinzips

stets neu zu bestimmenden und belebenden Autonomiebereich, der dem Einzelnen Raum zu individueller Selbstentfaltung beläßt und zudem i n einem absoluten Kern immer unantastbar bleiben muß. — Darüber hinaus ist identifizierbaren, strukturellen Minderheiten ein Autonomiebereich zu sichern, innerhalb dessen die Angehörigen derartiger Minoritäten i n ihren Gruppenbindungen und Gruppenbeziehungen vor dem Zugriff der Mehrheit geschützt sind. — Die Voraussetzungen des Mehrheitsprinzips, die Bedingungen des demokratischen Entscheidungsprozesses müssen einfachen Mehrheitsbeschlüssen entzogen werden, soweit sie überhaupt rechtlicher Regelung zugänglich sind 1 1 . Das gilt einerseits für die notwendigen Verfahrensgrundsätze und schließt andererseits auch den Schutz politischer Minderheiten ein 1 2 . Repräsentative Demokratien geben diesen Begrenzungen ihren rechtlichen Ausdruck vor allem i n ihren Verfassungen und wiederum ganz besonders i n den Grundrechten 13 , die i n zweifacher Richtung Wirkung entfalten 1 4 . Verfassung und Grundrechte binden einmal die Mehrheit i n ihren Entscheidungen 15 , soweit sie Volksmehrheit ist und Staatsgewalt i n Wahlen und Abstimmungen ausübt 16 . Sie richten sich aber gleichfalls i m Interesse aller Bürger gegen die bestellten Herrschaftsträger, da eine Demokratie, nicht zuletzt das Mehrheitsprinzip selbst 17 , institutionelle Formen der Herrschaft erzwingt und infolgedessen die Repräsentierten gegenüber ihren Repräsentanten 18 und dem staat11

s. ο. V . Individualschutz, Schutz struktureller Minderheiten, Schutz politischer Minderheiten u n d Schutz* der demokratischen Entscheidungsprozesse gehen vielfach ineinander über u n d sind k a u m ganz zu trennen. Diese thematische Gruppierung steht ganz unter dem Aspekt des Mehrheitsprinzips. 18 Vgl. insbesondere BVerfGE 44, 125 (141 f.) u n d dazu Häberle, Peter, Öffentlichkeitsarbeit der Regierung zwischen Parteien u n d Bürgerdemokratie (JZ 77, S. 361 ff.), jetzt i n ders., Verfassung als öffentlicher Prozeß, B e r l i n 1978, S. 526 ff. (532 ff.). 14 M a n k a n n auch anders formulieren, nämlich v o m Objekt her: diese Begrenzungen w i r k e n gegen zwei A r t e n der Mehrheitsentscheidimg: gegen Mehrheitsentscheidungen des Volkes u n d gegen Mehrheitsentscheidungen der Volksvertretung. 15 Vgl. Krüger, Herbert, Allgemeine Staatslehre, 2. A u f l . Stuttgart 1966, S. 536: „Grundrechte sind Schutz der Minderheit vor M e h r h e i t " ; ebenso Herzog, Roman, Allgemeine Staatslehre, F r a n k f u r t 1971, S. 364; s. auch Kägi, Verfassung (Anm. 10), S. 157: „jede Grundrechtsverankerung bedeutet E i n schränkung der Mehrheitsentscheidung"; vgl. auch Schneider, Hans-Peter, Die Parlamentarische Opposition i m Verfassungsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. I : Grundlagen, F r a n k f u r t 1974, S. 381 f.; Klein, Hans H., Die Grundrechte i m demokratischen Staat, Stuttgart u. a. 1972, S. 33. 18 s. A r t . 20 I I GG. 17 s. o. Einleitung u n d I V , B, 1. 18 So ausdrücklich neben dem Minderheitenschutz Herzog (Anm. 15), S. 364. 12

A . Normative Begrenzungen

225

liehen Vollzugsapparat, der Exekutive 1 9 , durch rechtliche Einbindung und differenzierte Kontrollsysteme geschützt werden müssen. Die Notwendigkeit der letzteren Schutzrichtung gewinnt durch die Mehrheitsregel sogar noch an Dringlichkeit, da i m Parlament wiederum i m allgemeinen die Mehrheit entscheidet 20 , ohne unmittelbar gezwungen zu sein, die Interessen der Minderheit i n ihre Entscheidung einzubeziehen, sondern i n der Lage ist, harte Eingriffe vorzunehmen, auch wenn das Gemeinwohl eine leitende Idee i n dem Sinn bleibt, daß immer das subjektive Bewußtsein der Entscheidenden erhalten werden muß, an das Wohl des Ganzen gebunden zu sein. Die verschiedenen verfassungsstaatlichen Begrenzungen des Mehrheitsprinzips stehen letztlich unter einem überwölbenden, übergreifenden Gedanken. Politische Entscheidungen nach dem Mehrheitsprinzip werden zur Begrenzung der Reichweite und Intensität der Eingriffe stets ein Element der Mäßigung und Zurückhaltung enthalten müssen. I n der verfassungsstaatlich eingebundenen Demokratie sind Reichweite, Umfang und Intensität staatlicher Herrschaft i m Gegensatz zu totalitären Systemen eingeschränkt 21 . Das ist eine elementare Bedingung demokratischer Legitimität 2 2 . Diese Restriktionen staatlicher Herrschaft, denen auch Mehrheitsentscheidungen unterliegen, sind gleichzeitig eine notwendige Voraussetzung der A k zeptanz und Legitimität des Mehrheitsprinzips selbst. Jeder Einzelne sowie ganze Minderheiten können Mehrheitsentscheidungen nur dann akzeptieren, hinnehmen und anerkennen, wenn ihnen ein weitgehender autonomer Bereich bleibt, wenn die von der Mehrheitsentscheidung für sie ausgehende Fremdbestimmung noch ein ausreichendes Maß an individueller Selbstbestimmung erlaubt. Die Erhaltung autonomer Räume der Selbstentfaltung, individueller Möglichkeiten der Gestaltung und freier Wirkungskreise erweist sich für die Legitimität der Mehrheitsentscheidung auch i m Hinblick auf diejenigen einzelnen Bürger als erforderlich, die zur Mehrheit gehörend die Mehrheitsentschei19 w e g e n der Begrenzung auf das Thema des Mehrheitsprinzips w i r d die über die Vollzugsfunktion hinausreichende staatsleitende Tätigkeit der Regierung hier außer Betracht gelassen; s. dazu n u r Scheuner, Ulrich, Der Bereich der Regierung (1952), i n Staatstheorie u n d Staatsrecht, B e r l i n 1978, S. 455 ff., bes. S. 486 ff. 20 Es k o m m t i n diesem Zusammenhang n u r darauf an, daß i m Parlament k e i n allgemeiner Konsens, sondern n u r die absolute oder einfache Mehrheit erreicht werden muß, sodaß eine „Tyrannei der Mehrheit" der Repräsentanten ohne Einbindung nicht ausgeschlossen werden kann. 21 s. Kielmansegg, Peter Graf, Krise der Totalitarismustheorie, ZfP 21 (1974), S. 311 ff. (324 f.); Brunner, Georg, Politische Soziologie der UdSSR, Wiesbaden 1977, Bd. I I , S. 188 f.: i n totalitären Systemen sind Herrschaftsumfang u n d -Intensität nahezu unbegrenzt u n d die Entscheidungsgewalt monopolisiert. 22 Vgl. bereits die Begründung der Trias demokratischer Legitimität, o. E i n leitung, die eine Begrenzung der Mehrheitsentscheidungen impliziert. 15 Heun

226

V I I . Heteronome Begrenzungen des Mehrheitsprinzips

dung mittragen. Da Mehrheitsentscheidungen eine Reduzierung der Alternativen vorausgehen muß 2 3 , die individuellen Auffassungen also zu wenigen Alternativen integriert werden müssen, gilt, daß nahezu für jeden die aktuell gefällte Mehrheitsentscheidung nicht deckungsgleich mit der eigenen Überzeugung ist. Mehrheitsentscheidungen bedeuten daher auch für die einzelnen Mitglieder der Mehrheit fast immer Fremdbestimmung. Noch deutlicher ist der Zusammenhang zwischen der Legitimität der Mehrheitsentscheidung und ihrer Begrenzung bei dem Komplex der Einschränkungen, die die Funktionsfähigkeit des demokratischen W i l lensbildungsprozesses unmittelbar betreffen. I n diesem Punkt steht und fällt das Mehrheitsprinzip mit seiner Eingrenzung. I m Lichte der Bedingungen demokratischer Legitimität heißt dies, daß der Schutz autonomer Bereiche durch eine Begrenzung des Mehrheitsprinzips und die Sicherung der Individual- und Gruppenautonomie durch staatliche Herrschaftsakte und Eingriffe, die zur Aufgabe demokratischer Herrschaft zählt 2 4 und i n den letzten Jahren wachsende Bedeutung erlangt hat, i n ein ausgewogenes Gleichgewicht gebracht wermüssen 25 . Auch wenn infolge dieser Entwicklung die liberale Vorstellung einer Trennung von Staat und Gesellschaft 26 einer bloßen Unterscheidung 27 als nur „beschreibender Abbreviatur zweier Sphären des 23

s.o. I V , B. 1. s. Einleitung. 25 Auch hier spielt sich ein wesentlicher Teil der theoretischen u n d rechtlichen Bewältigung der T h e m a t i k auf dem Gebiet der Grundrechtstheorie ab. Es geht u m das Spannungsverhältnis zwischen der — historisch gesehen — ursprünglichen F u n k t i o n der Grundrechte als Abwehrrechte zur Sicherung autonomer Sphären u n d der neuerdings stärker akzentuierten F u n k t i o n der Grundrechte als Leistungsrechte, die eher zu einer Weitung des Umfangs und der Intensität staatlicher Herrschaft u n d zu größerer staatlicher Eingriffsdichte führt; vgl. auch Hesse, Konrad, Bestand und Bedeutung der Grundrechte i n der Bundesrepublik Deutschland, EuGRZ 1978, S. 427 ff. (434), wo er einen Widerspruch zwischen der F u n k t i o n der Grundrechte als originäre Teilhaberechte u n d der demokratischen Ordnung insofern konstatiert, als dadurch die Entscheidung des Gesetzgebers eingeengt w i r d . 24

26

Z u dem historischen H i n t e r g r u n d kurz s. Wegener, Roland, Staat und Verbände i m Sachbereich Wohlfahrtspflege, B e r l i n 1978, S. 69 ff. m w N . 27 s. v o r allem Böckenförde, Ernst-Wolfgang, Die Bedeutung der Unterscheidung v o n Staat u n d Gesellschaft i m demokratischen Sozialstaat der Gegenwart, in: ders., Staat, Gesellschaft, Freiheit, F r a n k f u r t 1976, S. 185 ff., der allerdings insofern dieser Unterscheidung größeren Wert beimißt. Böckenförde, S. 198 f., h ä l t diese Unterscheidung gerade i m Interesse individueller Freiheitssicherung für notwendig; vgl. auch Kröger, Klaus, Grundrechtstheorie als Verfassungsproblem, Baden-Baden 1978, S. 41 f., sowie Isensee, Josef, Subsidiaritätsprinzip u n d Verfassungsrecht, B e r l i n 1968, S. 152; kritisch gegenüber dieser Position Schmidt, Walter, Die Entscheidungsfreiheit des einzelnen zwischen staatlicher Herrschaft u n d gesellschaftlicher Macht, AöR 101 (1976), S. 24 ff.; Hesse, Konrad, Bemerkungen zur heutigen Problematik u n d

Α . Normative Begrenzungen

227

Gemeinwesens" 28 gewichen ist, ist doch an einer i n Umfang, Reichweite und Intensität begrenzten Wirkungsmöglichkeit staatlicher Eingriffe festzuhalten, die eine engere Privatsphäre weitestmöglich unangetastet läßt, i m Bereich des Öffentlichen 29 , des Wirkungskreises der pluralistischen Gruppen und der über die private Umgebung hinausreichenden Einwirkung auch einzelner Personen, eine abgestufte Einschränkung erfährt und i m Feld der eigentlichen staatlichen Tätigkeit sich am weitestgehenden, wenn auch immer noch begrenzt, entfalten kann. Diese normativen Begrenzungen des Mehrheitsprinzips, die sich aus den Legitimitätsbedingungen des demokratischen Systems i m allgemeinen und des Mehrheitsprinzips i m besonderen ergeben, haben meist ihren Ausdruck i n den verschiedensten Rechtssätzen und vor allem i n den einzelnen Verfassungen gefunden. Die rechtlichen Einschränkungen sind allerdings allein keine Garantie dafür, daß das prekäre Gleichgewicht zwischen Autonomie und Mehrheitsentscheidung stets aufrechterhalten wird. Es bedarf auch hier ergänzend politischer Anstrengung und politischen Augenmaßes i m geschichtlichen Wandel der Aufgaben demokratischer Herrschaft. 1. Individualautonomie — Grundrechte

Da sich Individualautonomie nicht i n Teilhabe an politischer Herrschaft, i n Mitbestimmung auflösen läßt 3 0 , ist die Sicherung einer autonomen Sphäre für den Einzelnen ein wesentliches Element der Legitimität einer Demokratie und auch speziell des Mehrheitsprinzips. Der Schutz vor dem Zugriff des Staates muß sich deshalb gerade gegen die Mehrheitsentscheidungen des Parlaments und ebenso des Staatsvolkes richten. Beide Entscheidungsträger sind in den Rahmen der Verfassung Tragweite der Unterscheidung v o n Staat u n d Gesellschaft, D Ö V 75, S. 437 ff.; vgl. auch Ehmke, Horst, Staat u n d Gesellschaft als verfassungstheoretisches Problem, i n Festgabe R. Smend, Tübingen 1962, S. 23 ff. 28 Scheuner, Ulrich, Staat (1965), i n Staatstheorie u n d Staatsrecht, B e r l i n 1978, S. 19 ff. (34); differenziert auch Schiaich, Klaus, Neutralität als verfassungsrechtliches Prinzip, Tübingen 1972, S. 247 ff., sowie stärker die Unterscheidung betonend Wegener (Anm. 26), S. 96 ff. 29 Z u dem Begriff s. Smend, Rudolf, Z u m Problem des öffentlichen u n d der Öffentlichkeit (1954), i n Staatsrechtliche Abhandlungen, 2. A u f l . B e r l i n 1968, S. 462 ff.; Scheuner, Ulrich, Das System der Beziehungen v o n Staat u n d K i r chen i m Grundgesetz. Z u r Entwicklung des Staatskirchenrechts, i n Hdb. StKirchR, B e r l i n 1974, Bd. I, S. 5 ff. (70) m w N ; kritisch zu dem Begriff Wegener (Anm. 26), S. 77 ff. Der Begriff des Politischen stimmt i m wesentlichen m i t diesem Begriff überein; s. Brunner, Georg, Vergleichende Regierungslehre Bd. I, Paderborn 1979, S .15 f.; dieser Begriff entbehrt zwar weitgehend des juristischen Gehalts, ist aber trotz seiner Unbestimmtheit als deskriptiver Begriff fruchtbar. 30

s. Klein (Anm. 15), S. 53 ff.; Böckenförde oben Einleitung. 1

(Anm. 27), S. 198 f.; vgl. auch

228

V I I . Heteronome Begrenzungen des Mehrheitsprinzips

eingebunden und i n ihren Entscheidungen i n Umfang, Reichweite und Intensität begrenzt. Selbst der „Volkssouverän" ist unter der Herrschaft einer Verfassung nicht i m eigentlichen Sinn Souverän 31 . I n den verfassungsstaatlichen Demokratien ist die Macht der Mehrheit daher nicht unumschränkt oder absolut, sondern i n ein vielfältiges Netz von Bindungen eingespannt, das seinen umfassendsten Ausdruck i n dem Gedanken des Rechtsstaates und seinen verschiedenen Ausprägungen und Elementen gewonnen hat 3 2 . Eine von der normativen Prämisse der Demokratie geforderte Eingrenzung der Mehrheitsentscheidungen muß sich vor allem i n dieser rechtsstaatlichen Bindung durch Gesetz und Verfassung verwirklichen. Der Rechtsstaat erfüllt insoweit die Aufgabe, „rechtlich ausgestaltete und geschützte Lebensbereiche der Unabhängigkeit, der spontanen Selbstentfaltung und Selbstgestaltung individuellen und sozialen Lebens" 3 3 auch gegenüber dem Mehrheitsprinzip zu bewahren. I n den meisten repräsentativen Demokratien 3 4 bewirkt die Verfassungsstaatlichkeit 35 eine derartige Rechtsgebundenheit 36 des nach der Mehrheitsregel entscheidenden Gesetzgebers. Die verschiedenen Grundrechte 37 und ein generelles Übermaßverbot 3 8 bilden eine Schranke zum Schutz des Einzelnen gegenüber der Mehrheitsherr81 So v o r allem Kriele, M a r t i n , E i n f ü h r u n g i n die Staatslehre. Die geschichtlichen Legitimitätsgrundlagen des demokratischen Verfassungsstaates, Hamburg 1975, S. 111 ff.; vgl. auch noch weitergehend Kielmansegg, Peter Graf, Volkssouveränität, Stuttgart 1977, S. 240 ff., der die Gestalt des Souveräns v o n dem Konzept der Souveränität ablösen w i l l . Kritisch deshalb auch gegenüber der Auffassung, daß das V o l k als Verfassungsgeber (was bei Kielmansegg m E m i t dem Verfassungsgesetzgeber verwechselt wird) souverän sei; so Kriele, S. 113; dementsprechend sind einmal i n den repräsentativen Demokratien Volksabstimmungen n u r enumerativ i n der jeweiligen Verfassung aufgeführt u n d dann an die Verfassung gebunden. Eine Erweiterung dieser Kompetenz bedürfte dagegen der Verfassungsänderung, die einem besonderen Verfahren vorbehalten ist. Repräsentation ist der Grundsatz, Plebiszit äre Elemente bedürfen der besonderen Zuweisung. 82 Z u r Rechtsstaatlichkeit u n d ihren Elementen s. i n vergleichender Sicht Brunner, Regierungslehre (Anm. 29), S. 168 ff.; zur deutschen Situation Stern, Klaus, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. I , München 1977, S. 599 ff. m w N . 33 Hesse, Konrad, Der Rechtsstaat i m Verfassungssystem des Grundgesetzes, i n Festgabe R. Smend, Tübingen 1962, S. 71 ff. (87 f.); vgl. a u d i Scheuner, Ulrich, Die neuere E n t w i c k l u n g des Rechtsstaats i n Deutschland (1960), i n Staatstheorie u n d Staatsrecht, B e r l i n 1978, S. 185 ff. (206 f.). 34 Keine Verfassungen i m formellen Sinn haben n u r England, Neuseeland u n d Israel. 85 Vgl. Brunner, Regierungslehre (Anm. 29), S. 171 ff.; Stern, Staatsrecht, Bd. I (Anm. 32), S. 621. 3e s. Stern, Staatsrecht, Bd. I (Anm. 32), S. 628 f., 624. 37 s. ebd. S. 621 ff.; Brunner, Regierungslehre (Anm. 29), S. 174. 38 Stern, Staatsrecht, Bd. I (Anm. 32), S. 671 ff., u n d die klassische A b h a n d l u n g v o n Lerche, Peter, Ubermaß u n d Verfassungsrecht, K ö l n u. a. 1961. Das Übermaßverbot ist die vielleicht spezifischste Ausformung des allgemeinen Gesichtspunkts der Mäßigung.

Α . Normative Begrenzungen

229

schaft. Selbst wenn die individuelle Selbstentfaltung nicht allein durch Ausgrenzung einer staatsfreien Sphäre ermöglicht werden kann 3 9 , behalten die Grundrechte ihre Bedeutung als Abwehrrechte zum Schutz eines der Herrschaftsgewalt auch des demokratischen Gesetzgebers entzogenen Raumes autonomer Selbstgestaltung 40 . Zwar bedeutet ein M i n i m u m an Staat oder Herrschaftsgewalt keineswegs ein Maximum an Freiheit 4 1 , es bleibt aber ebenfalls richtig, daß ein Maximum an Staat den größten Freiheitsraum nicht gewährleistet 42 . Neben den anderen Funktionen ist deshalb der Abwehrcharakter der Grundrechte als wesentliches Element demokratischer Rechtsstaatlichkeit und Legitimität weiterhin besonders zu betonen 43 . Dieser weitreichenden Begrenzung des Mehrheitsprinzips durch die deutsche Ausformung 4 4 des Rechtsstaats m i t einem sehr ausgebildeten Grundrechtssystem stehen i n anderen Demokratien andere Einschränkungen i m Hinblick auf die Individualautonomie gegenüber, die sich deutlich i n geringerem Maß von rein rechtlichen Bindungen leiten lassen. Während sich die Situation i n den Vereinigten Staaten noch am ehesten m i t der deutschen vergleichen läßt und die civil liberties i n der Verfassung ihren Niederschlag gefunden haben 4 5 , setzen i n Großbritannien die rule of l a w 4 6 und die Grundrechte der B i l l of Rights und 39

Hesse, Rechtsstaat (Anm. 33), S. 85 f. s. vor allem Klein (Anm. 15), S. 65 ff., u n d m i t Hervorhebung der p r i mären Bedeutung als Abwehrrechte Kröger (Anm. 27), S. 34 ff.; vgl. auch Böckenforde, Ernst-Wolf gang, Grundrechtstheorie u n d Grundrechtsinterpretation (NJW 74, 1529 ff.), jetzt i n ders., Staat, Gesellschaft, Freiheit, F r a n k furt 1976, S. 221 ff. (244), der die liberale Grundrechtstheorie n u r sozial einbinden w i l l . Vgl. auch BVerfGE 7, 198 (204 f.), sowie Grabitz, Eberhard, Freiheit u n d Verfassungsrecht, Tübingen 1976, S. 3 ff., u n d bereits Hatschek, Julius, Deutsches u n d Preußisches Staatsrecht, Bd. I, B e r l i n 1922, S. 173. 41 Hesse, Rechtsstaat (Anm. 33), S. 86. 42 Klein (Anm. 15), S. 59. 43 Eine Übersicht über die Grundrechtstheorien bei Kröger (Anm. 27), S. 15 ff., u n d Böckenförde, Grundrechtstheorie (Anm. 40), S. 221 ff.; vgl. auch Schneider, Hans-Peter, Eigenart u n d Funktionen der Grundrechte i m demokratischen Verfassungsstaat, i n Pereis, Joachim (Hrsg.), Grundrechte als F u n dament der Demokratie, F r a n k f u r t 1979, S. 11 ff. (29 ff.); Bleckmann, Albert, Allgemeine Grundrechtslehren, K ö l n u. a. 1979, S. 155 ff. 44 Der Rechtsstaatsgedanke g i l t i n vergleichbarer Weise i n Österreich, s. Walter, Robert, österreichisches Bundesverfassungsrecht, W i e n 1972, S. 111 ff., der (ebd. S. 109 ff.) Gewaltenteilung u n d das liberale Prinzip der Freiheitsrechte gesondert aufführt; Adamovich, Ludwig, Handbuch des österreichischen Verfassungsrechts, 6. A u f l . W i e n 1971, S. 94 ff.; u n d i n der Schweiz s. Giacometti, Z. / Fleiner, Fritz, Schweizerisches Bundesstaatsrecht, Zürich 1949 (Neudruck 1978), S. 30 ff., u n d zu den Freiheitsrechten ebd. S. 240 ff. 45 I m 1 - 1 0 Amendment; zur Geltungsweise der Freiheitsrechte s. Löwenstein, K a r l , Verfassungsredht u n d Verfassungspraxis der Vereinigten Staaten, B e r l i n 1959, S. 473 ff., 479 ff. 46 s. dazu das klassische W e r k v o n Dicey , Α. V., Introduction to the Study of the L a w of the Constitution, London 1885 (10. ed. 1959), S. 183 ff., 328 ff., 40

230

V I I . Heteronome Begrenzungen des Mehrheitsprinzips

Habeas-Corpus-Akte

der

Parlamentssouveränität

jedenfalls

rechtlich

u n d t h e o r e t i s c h k e i n e G r e n z e n 4 7 . H i e r l i e g e n die G a r a n t i e n des persönl i c h e n F r e i h e i t s r a u m e s v i e l m e h r i n d e r h i s t o r i s c h gewachsenen p o l i t i schen K u l t u r u n d T r a d i t i o n b e g r ü n d e t 4 8 . E i n e m i t t l e r e P o s i t i o n n i m m t dagegen F r a n k r e i c h ein. T r o t z d e r fast p r o p a g a n d i s t i s c h e n K o n z e p t i o n d e r l i b e r t é s p u b l i q u e s als I d e a l 4 9 e n t f a l t e n die G r u n d r e c h t e d e r D é c l a r a t i o n , die i n d i e V e r f a s s u n g i n k o r p o r i e r t ist, i n d e r V . R e p u b l i k auch gegenüber d e m Gesetzgeber m a t e r i e l l - r e c h t l i c h e aber d u r c h eine u n g e n ü g e n d e

gerichtliche

Bindungskraft 50,

Verfahrenssicherung

die hin-

s i c h t l i c h des Rechtsschutzes gegen P a r l a m e n t s a k t e abgeschwächt w i r d 5 1 . E i n e zusätzliche, w e n n auch g e r i n g f ü g i g e S t ä r k u n g h a b e n die F r e i h e i t s rechte i m S i n n e e i n e r E i n s c h r ä n k u n g des einfachen Gesetzgebers d u r c h verschiedene v ö l k e r r e c h t l i c h e K o n v e n t i o n e n e r f a h r e n 5 2 , w o b e i a n erster 406 ff.; außerdem Wade, E. C. S. / Bradley, A . W., Constitutional L a w , 7. A u f l . London 1965, S. 60 ff.; Jennings, Ivor, The L a w and the Constitution, 5. A u f l . London 1959, S. 42 ff.; vgl. auch Kriele, Staatslehre (Anm. 31), S. 114, 123 ff., 224 ff.; Löwenstein, K a r l , Staatsrecht u n d Staatspraxis v o n Großbritannien, B e r l i n 1967, Bd. I, S. 74 ff., u n d für die Commonwealth-Staaten Kanada, Australien, I n d i e n Doeker, Gunther, Parlamentarische Bundesstaaten i m Commonwealth of Nations: Kanada, Australien, Indien. E i n Vergleich, Bd. I, Tübingen 1980, S. 167 ff., allerdings gibt es hier i m Gegensatz zu England formelle Verfassungen. 47 " T h e supreme powers of Parliament come from the Law, but the l a w cannot l i m i t the exercise of these powers", Jennings (Anm. 46), S. 60; vgl. auch Wade / Bradley (Anm. 46), S. 75; zur Parlamentssouveränität s. Dicey (Anm. 46), S. 39 ff.; Jennings, S. 137 ff., bes. S. 144 ff.; Wade / Bradley, S. 44 ff.; zum Verhältnis v o n rule of L a w u n d supremacy s. Dicey , S. 406 ff.; zur U n terscheidung Diceys zwischen juristischer Parlamentssouveränität u n d politischer Volkssouveränität s. Petersmann, Hans G., Die Souveränität des B r i t i schen Parlaments i n den Europäischen Gemeinschaften, Baden-Baden 1972, S. 265 f. 48 Vgl. Löwenstein, Staatsrecht Großbritannien (Anm. 46), Bd. I I , S. 266 f.; ebd. S. 264 ff. allgemein zur Geltung der Freiheitsrechte. 49 Brunner, Regierungslehre (Anm. 29), S. 175. 50 Dies gilt i m Grunde erst seit der Entscheidung des Conseil Constitutionnel v o m 16. 7.1971; zur Grundrechtsgeltung s. Ress, Georg, Der Conseil Const i t u t i o n n e l u n d der Schutz der Grundfreiheiten i n Frankreich, JöR N. F. 23 (1974), S. 121 ff. (149 ff.); aus der französischen L i t e r a t u r zu den libertés publiques s. Burdeau, Georges, Les Libertés Publiques, 2. A u f l . Paris 1961, S. 21 f., für die Lage vor 1971; u n d jetzt Rivero, Jean, Les Libertés publiques, Bd. I, Paris 1973, S. 150 ff., 156 f.; Robert, Jacques, Libertés publiques, 2. A u f l . Paris 1977, S. 102 ff. 51 Dazu s. Ress (Anm. 50), S. 165 ff.; Robert (Anm. 50), S. 129 ff.; Colliard, Claude Albert, Libertés publiques, 5. A u f l . 1975, S .145 ff.; ohne Berücksichtigung der Entscheidung v o n 1971 noch Buerstedde, Ludger, K o n t r o l l e der rechtsetzenden Gewalt durch den Conseil Constitutionnel u n d Conseil d'Etat nach der französischen Verfassung v o m 4.10.1958, JöR N. F. 12 (1963), S. 145 ff. (153 ff.). 52 Die E r k l ä r u n g der Menschenrechte v o m 10.12.1948 ist n u r eine Absichtserklärung, dagegen sind die Menschenrechtspakte der Vereinten Nationen rechtsverbindlich, k r a n k e n aber an einem mangelhaften Rechtsschutz; s. Seidl-Hohenveldern, Ignaz, Völkerrecht, 3. A u f l . K ö l n u. a. 1975, S. 281 f.

231

Α . Normative Begrenzungen S t e l l e die europäische M e n s c h e n r e c h t s k o n v e n t i o n m i t d e m

Geltungs-

b e r e i c h d e r europäischen D e m o k r a t i e n zu n e n n e n i s t 5 3 . A u c h i n a n d e r e n europäischen L ä n d e r n s i n d G r u n d r e c h t e i n verschied e n s t e m U m f a n g i n d e r V e r f a s s u n g v e r a n k e r t , w o b e i gerade i n d e n l e t z t e n J a h r e n die G r u n d r e c h t e e n t w e d e r i n d e n n e u e n V e r f a s s u n g e n A u f n a h m e g e f u n d e n oder i m W e g e d e r V e r f a s s u n g s r e v i s i o n eine v e r stärkte Ausformung erfahren haben54. Diese G e w ä h r l e i s t u n g e n u n d die T e n d e n z e n z u e i n e m

verstärkten

Grundrechtsschutz i n d e n m o d e r n e n D e m o k r a t i e n w e i s e n a u f die B e deutung der Grundrechte f ü r die L e g i t i m a t i o n demokratischer

Struk-

t u r e n u n d des M e h r h e i t s p r i n z i p s d e u t l i c h h i n .

2. Gruppenautonomie und Minderheitenschutz D i e E x i s t e n z jedes E i n z e l n e n ist n i c h t a l l e i n a u f sich selbst bezogen, s o n d e r n ist i n größere soziale E i n h e i t e n e i n g e b u n d e n . J e d e r B ü r g e r ist M i t g l i e d sozialer G r u p p e n , u n d d i e i n d i v i d u e l l e S e l b s t e n t f a l t u n g v o l l z i e h t sich i n e i n e m v i e l f ä l t i g e n Geflecht v o n G r u p p e n b e z i e h u n g e n . V o n d a h e r r e c h t f e r t i g t d i e I n d i v i d u a l a u t o n o m i e auch die S c h u t z w ü r d i g k e i t ganzer G r u p p e n u n d M i n d e r h e i t e n i n i h r e r spezifischen S e i n s w e i s e 5 5 . A u f g r u n d dieser sozialen B i n d u n g e n u n d d e r B e s o n d e r h e i t e n d e r G r u p p e n e x i s t e n z k a n n M i n d e r h e i t e n n i c h t ausschließlich ü b e r d i e i n d i v i d u e l 59 Vgl. aber die Kündigungsvorschrift A r t . 65 M R K ; zur innerstaatlichen Geltung i n Europa s. Golsong, Heribert, Der Schutz der Grundrechte durch die Europäische Menschenrechtskonvention u n d seine Mängel, i n Mosler, H. / Bernhardt, R . / H i l f , M. (Hrsg.), Grundrechtsschutz i n Europa, B e r l i n u . a . 1977, S. 7 ff. (16 f.); A r t . 20 ff., 38 ff. M R K geben auch die Möglichkeit eines Rechtsschutzes; allgemein zur Geltung internationaler Grundrechte i n der Bundesrepublik Bleckmann (Anm. 43), S. 13 ff. 64 Grundrechtsgewährleistungen finden sich sowohl i n den neuen Verfassungen v o n Griechenland (1975), Portugal (1976), Spanien (1978), w i e die V e r fassungsrevisionen i n Schweden (1975/76) u n d die vorbereiteten Revisionen i n der Schweiz u n d den Niederlanden den Grundrechten eine besondere Stellung einräumen; s. dazu Starck, Christian, Europas Grundrechte i m neuesten Gewand, i n Recht als Prozeß u n d Gefüge, Festschrift Hans Huber, Bern 1981, S. 467 ff.; zur Grundrechtsgeltung gegenüber dem Gesetzgeber i n I r l a n d s. Boldt, Hans Julius, Grundrechte u n d Normenkontrolle i m Verfassungsrecht der Republik Irland, JöR N. F. 19 (1970), S. 229 ff. (239 f.); f ü r Spanien s. Weber, Albrecht, Die Spanische Verfassung v o n 1978, JöR N . F . 29 (1980), S. 209 ff. (216 ff., v o r allem 220 f.); f ü r Portugal s. Schmid, Gerhard, Die portugiesische Verfassung v o n 1976, AöR 103 (1978), S. 204 ff. (214 ff.); auch der Politologe Bay, Christian, The Structure of Freedom, Stanford 1958, w i l l die Menschenrechte v o n der A n w e n d u n g des Mehrheitsprinzips ausnehmen (S. 7, 371). 65 I n den dreißiger Jahren w u r d e n die Gruppenrechte eher k o l l e k t i v , gemeinschaftsbezogen begründet, w e i l aufgrund der „soziologischen Volkspersönlichkeit" das V o l k s t u m als objektiver Wert betrachtet wurde; s. die nationalsozialistisch beeinflußten Ausführungen bei Veiter, Theodor, Nationale Autonomie, Wien u. a. 1938, S. 51, 24 ff., dort gegen die individualistische A u f fassung S. 22 ff.

232

V I I . Heteronome Begrenzungen des Mehrheitsprinzips

l e n Grundrechte der notwendige Autonomiebereich u n d weite W i r k u n g s k r e i s g e w ä h r l e i s t e t w e r d e n 5 8 , o b w o h l die G r u n d r e c h t e i n g r o ß e m M a ß dazu b e i t r a g e n 5 7 u n d f u n k t i o n e l l z u m T e i l i n diese R i c h t u n g w e i s e n 5 8 . V i e l m e h r b e d a r f es e r g ä n z e n d besonderer G r u p p e n - u n d M i n d e r h e i t e n r e c h t e 5 9 , die gruppenspezifische B e s o n d e r h e i t e n d u r c h rechtliche R e g e l u n g e n i n h e r v o r g e h o b e n e r Weise schützen u n d d i e Z u g e h ö r i g k e i t des E i n z e l n e n z u e i n e r G r u p p e , d e r er besonders v e r b u n d e n ist, a n erkennen u n d ermöglichen. Die Spaltung der Gesamtheit i n jeweilige Mehrheiten u n d Minderh e i t e n m a c h t selbst i n h o m o g e n e n G e m e i n w e s e n e i n e n M i n d e r h e i t e n schutz n o t w e n d i g 6 0 , i n i n h o m o g e n e n D e m o k r a t i e n steigert sich die E r f o r d e r l i c h k e i t n o c h 6 1 . Diese D i f f e r e n z i e r u n g l ä ß t z w e i verschiedene A r t e n des M i n d e r h e i t e n s c h u t z e s i m R a h m e n der M e h r h e i t s h e r r s c h a f t

als

w i c h t i g erscheinen. Es g i l t einerseits, p e r m a n e n t e , s t r u k t u r e l l e M i n d e r h e i t e n , d e n e n es v e r s a g t ist, j e m a l s als geschlossene G r u p p e die M e h r h e i t z u e r l a n g e n , z u m i n d e s t i n d e n B e r e i c h e n z u schützen, d i e sie als 68 Demokratische Staaten neigen daher dazu, Minderheiten allein durch die Grundrechte als ausreichend geschützt anzusehen; s. Veiter, Theodor, Das Recht der Volksgruppen u n d Sprachminderheiten i n Österreich, W i e n 1970, S. 138 f. 67 Vgl. bereits Hatschek (Anm. 40), S. 173; Schäppi, Peter, Der Schutz sprachlicher u n d konfessioneller Minderheiten i m Recht v o n B u n d u n d Kantonen, Zürich 1971, S. 148 ff.; Fleiner, Thomas, Die Stellung der Minderheiten i m Schweizer Staatsrecht, i n Menschenrechte, Föderalismus, Demokratie, Festschrift W. Kägi, Zürich 1979, S. 115 ff. (126). 58 Das g i l t v o r allem f ü r die Vereinigungs-, Versammlungs- u n d Religionsfreiheit. 59 Das setzt allerdings eine feststellbare Gruppenförmigkeit u n d ein Gruppenbewußtsein m i t eigenem Anspruch voraus; daher können reine Zahlenminderheiten n u r politische Rechte geltend machen. Eine Mittelstellung nehmen Zuwanderungsminderheiten m i t der Tendenz zur Assimilation ein (zu diesen Minderheitsarten s. Veiter, Theodor, Nationalitätenkonflikt u n d Volksgruppenrecht i m 20. Jh., Bd. I, München 1977, S. 179). Hier ist v o r allem auf das typische Einwanderungsland USA hinzuweisen, i n dem eine Vielzahl v o n M i n o r i t ä t e n existiert (s. die Ubersicht bei Morden, Charles F. / Meyer, Gladys, Minorities i n American Society, 2. ed. New Y o r k 1962, S. 10 ff., 68 ff.); vgl. auch die Klassifizierung u n d Differenzierung bei Jellinek, Georg, Das Recht der Minoritäten, W i e n 1898, S. 39, zwischen organisierten u n d unorganisierten Minderheiten. Das bedeutet: Schutz politischer Minderheiten. Insofern ist dies gleichzeitig die Sicherung des demokratischen Prozesses. 81 Bereits Jellinek (Anm. 59), S. 27 f., hat die Voraussetzung der Homogenität für das Mehrheitsprinzip erkannt u n d die daraus folgende Notwendigkeit des Minoritätenschutzes betont. — Vgl. auch oben V , A ; trotz aller Teilung i n Minoritäten muß ein Staat i n einer übergreifenden Gemeinsamkeit v e r eint sein. Insofern ist die Schweiz auch eine einheitliche Nation, s. Fleiner (Anm. 52), S. 120; vgl. auch Stawski, Joseph, Le principe de l a majorité, Gedani 1920, S. 123: „Dans le domaine politique le princiDe de la majorité se fonde sur l'idée de l'unité d u peuple." — Vgl. außerdem Commager, Henry Steele, Die Rechte der Minderheit i m Rahmen der Mehrheitsherrschaft, 2. A u f l . Wiesbaden 1953, bes. S. 116 ff.

Α . Normative Begrenzungen

233

Gruppe speziell tangieren, und andererseits der jeweiligen politischen Minderheit die Chance offen zu halten, zur Mehrheit zu werden oder zur Mehrheit zu gehören. Die letztere A r t des Minderheitenschutzes ist vor allem i m Parlament ausgeprägt und hat funktionellen Charakter, bedarf m i t h i n anderer Gestaltung als diejenige einer Gewährung unabhängiger Lebensräume für strukturelle Minderheiten. a) Strukturelle

Minderheiten

Das Problem eines gesonderten, gruppenspezifischen Schutzes werfen die strukturellen Minderheiten auf, zu denen vor allem die ethnischen, die nationalen 6 2 oder anders formuliert sprachlich-kulturellen 6 3 sowie die religiösen 64 und konfessionellen 65 Minderheiten gerechnet werden können. Dagegen sind soziale 66 oder wirtschaftliche 67 Gruppen i n minoritärer Position ein aufgrund der Arbeitsteilung und sozialen Differenzierung unvermeidliches Charakteristikum moderner Gesellschaften, das sich kaum i n die Kategorie einer strukturellen Minderheit einfügen läßt 6 8 , da soziale Unterschiede allein keine festgefügten, geschlossenen Gruppen ergeben. I n den westlichen Industriegesellschaften sind die Übergänge zwischen den sozialen Schichten meist fließend und nicht rechtlich fixiert, die vertikale Mobilität verhindert eine Erstarrung des gesellschaftlichen Gefüges, so daß es häufig auch an einem spezifischen Gruppenbewußtsein fehlt, obwohl organisatorische Zusammenschlüsse das Bewußtsein einer Gruppenzugehörigkeit bis zu einem gewissen Grad vermitteln können 6 9 . Noch entscheidender ist aber ein zweiter Gesichtspunkt. Soziale und wirtschaftliche Fragen können auch deshalb nicht aus dem Entscheidungsbereich demokratischer Mehrheitsentscheidungen ausgeklammert werden, weil eine Wirtschafts- und Sozialpolit i k gerade angesichts der Bedingungen demokratischer Legitimität zu 62

s. Stawski (Anm. 61), S. 125 f. So etwa Schäppi (Anm. 57), S. 14 ff. 84 s. Stawski (Anm. 61), S. 124. 66 Die Protestanten waren i m Reichstag des H l . Römischen Reiches die strukturelle Minderheit par excellence der deutschen Verfassungsgeschichte, deren Existenz das Mehrheitsprinzip praktisch außer K r a f t setzte; s. Schiaich, Klaus, Maioritas — protestatio — itio i n partes — corpus Evangelicorum, Das Verfahren i m Reichstag des H l . Römischen Reiches Deutscher Nation nach der Reformation, 2. Teil, Z R G 95 (1978), Kan. A b t . 64, S. 139 ff. (144 f.); Heckel, M a r t i n , I t i o i n Partes, Z R G 95 (1978), Kan. A b t . 64, S. 180 ff. ββ So aber Stawski (Anm. 61), S. 126 f. 67 s. Schäppi (Anm. 57), S. 52 f. 68 Solange die sozialen Unterschiede nicht die Beschreibung als Klassen i n dem i n A n m . 35, T e i l V geschilderten Sinn notwendig erscheinen lassen. 69 Letztlich würde die Anerkennung als M i n o r i t ä t die pluralistischen I n t e r essengruppen einer politischen Regelung durch eine Mehrheitsentscheidung entziehen. A l l e i n die wechselnde Zusammensetzung verbietet aber eine solche Einordnung der sozialen Gruppen. 63

234

V I I . Heteronome Begrenzungen des Mehrheitsprinzips

den zentralen Aufgaben eines demokratischen Gemeinwesens gehören, obwohl es auch hier Autonomiebereiche wie die Tarifautonomie gibt. Die sozialen und wirtschaftlichen Gruppen haben zudem immer eine soziale Funktion innerhalb des Gemeinwesens. Eine restlose Auflösung jeder Differenzierung würde hier gerade die Funktionsfähigkeit einer Gesellschaft aufheben. Vielmehr bietet sich hier der Vergleich mit politischen Minderheiten an. Da der demokratische Gleichheitsgedanke die Möglichkeit verschließt, das zentrale, die Einheit des Staates verkörpernde Vertretungsorgan i n verschiedene korporative Einheiten wie Kurien oder Kollegien zu gliedern 7 0 , erweisen sich andere Formen des Minderheitenschutzes gegenüber Mehrheitsentscheidungen als notwendig. Die strenge Geltung des Mehrheitsprinzips läßt sich auf verschiedene Weise begrenzen. Den weitesten Raum zu eigener Entfaltung sichert eine ausgeprägte Gruppenautonomie 71 , die der jeweiligen Minderheit die Gestaltung der Gruppenangelegenheiten selbst überläßt. Eine andere Methode bei der Berücksichtigung der Minderheitsinteressen bei Entscheidungen ist die Gewährung von Mitbestimmungsrechten 72 i n Fragen, die die Minderheiten besonders berühren, unter Ausschluß des reinen Mehrheitsprinzips. Auch eine strikte Bindung der Mehrheit an einen übereinstimmend festgelegten Proportionalitätsschlüssel 73 bei der Verteilung 70 s. Jellinek (Anm. 59), S. 5; das historische V o r b i l d ist die österreichische K u K Monarchie, die unter anderem i m mährischen Ausgleich v o n 1905 zu einer derartigen Lösung fand, s. dazu Hugelmann, K a r l Gottfried, Das Nationalitätenrecht des A l t e n Österreich, Wien 1934, S. 226 ff.; Veiter, Nationale Autonomie (Anm. 55), S. 117 ff.; vgl. auch den Hinweis Jellineks, S. 30 ff., auf Österreich. I n Österreich mußte gerade die Demokratisierung des Wahlrechts eine verhältnismäßige Vertretung aller Nationalitäten bewirken, s. Hugelmann, S. 100; zur nationalen Verteilung der Parlamentssitze nach der Einführung des allgemeinen Wahlrechts ebd. S. 238 ff. I n nationalen Fragen galt i m Zentralparlament aufgrund dieser Situation das Mehrheitsprinzip faktisch nicht; „das Parlament k o m m t i n diesen Fragen n u r noch als deklaratives Organ für die Kodifizierung fertiger außerparlamentarischer K o m p r o misse i n Betracht", konstatiert daher Zenker, Ernst V i k t o r , Der Parlamentarismus, sein Wesen u n d seine Entwicklung, W i e n 1914, S. 161. 71 Die m a n auch als „internes Selbstbestimmungsrecht" bezeichnen kann. Veiter, Nationalitätenkonflikt (Anm. 59), S. 182 f.; vgl. auch Lijphart, Arend, Democracy i n Plural Societies. A Comparative Exploration, New Haven 1977, S. 41 ff. 72 Schäppi (Anm. 57), S. 134, 153 ff., bes. 161 f. 73 s. ebd. S. 158 ff.; Lijphart (Anm. 71), S. 38 ff. V o r allem i m Libanon fand sich diese F o r m des Minderheitenschutzes sogar bis i n das Parlament u n d die Regierung hinein. Seit 1926 w a r das konfessionelle Gleichgewicht als Grundsatz i n der Verfassung festgelegt, woraus sich i m einzelnen die proportionale Besetzung v o n Regierung u n d V e r w a l t u n g entwickelte, die dann i m Nationalpakt v o n 1943 (Mithag al-Watani) bestätigt wurde. Danach w a r Präsident stets ein Maronit, Ministerpräsident ein Sunnit u n d Sprecher des Parlaments ein Schiit. Die Verteilung wurde aufgrund der Zahlen der Volkszählung v o n 1932 vorgenommen; s. Entelis, John P., Pluralism and Party Transformation i n Lebanon, Leiden 1974, S. 25 ff.; Kewenig, W i l h e l m , Die

Α . Normative Begrenzungen

235

von Leistungen und bei Stellenbesetzungen erscheint als ein geeignetes Mittel des Minderheitenschutzes. Wenn die strukturelle Minderheit i n bestimmten, umgrenzten und geschlossenen Gebieten zentriert ist und eine territoriale Minderheit 7 4 bildet, kann der föderative Aufbau 7 5 des Staates eine territoriale Autonomie 7 6 gewährleisten. Eine entsprechende Verwaltungsdezentralisation 7 7 vermag einer Gliederung i n Bundesstaaten und Gemeinden zusätzliches Gewicht zu verleihen. I n den autonomen Einheiten kann allerdings gleichfalls das demokratische Mehrheitsprinzip als Ausfluß des gleichen Selbstbestimmungsrechts Anwendung finden 7 8 , eine Einschränkung erfährt dann nur das Recht der Mehrheitsentscheidung des Gesamtverbandes. Die Grenzen des unitarischen Mehrheitsprinzips sind je nach Ausgestaltung der einer Autonomie vorbehaltenen Bereiche unterschiedlich gezogen. Für das Mehrheitsprinzip entscheidend ist, ob die Autonomie sich i n ihrem ursprünglichen Wortsinn auch auf den Erlaß eigenständiger Normen, eine A r t Gesetzgebung, erstreckt oder auf eine reine Selbstverwaltung beschränkt bleibt 7 9 , wobei die Übergänge naturgemäß fließend sind 8 0 . I n sachlicher Hinsicht kann der Zuständigkeitsbereich relativ umfassend ausgestaltet sein 81 , so daß den Entscheidungsträgern Koexistenz der Religionsgemeinschaften i m Libanon, B e r l i n 1965, S. 71 ff.; zu den verschiedenen ethnisch-konfessionellen Gruppen s. Schiller, David Thomas, Der Bürgerkrieg i m Libanon. Entstehung, Verlauf, Hintergründe, M ü n chen 1979, S. 27 ff.; Kewenig, S. 36 ff. Die Nichtanpassung des Proportionalschlüssels an die Bevölkerungsentwicklung w a r dann allerdings eine der Spannimgsursachen, die zum Zusammenbruch geführt haben. Vgl. auch Lijphart, S. 147 ff., 153 ff. zum Libanon. 74 Veiter, Nationale Autonomie (Anm. 55), S. 59 f.; Schäppi (Anm. 57), S. 7 f.; das g i l t v o r allem für nationale Minderheiten, da diese meist t e r r i t o r i a l zusammengedrängt sind, während religiöse u n d konfessionelle Minderheiten meist zerstreut leben; so liegt auch die Situation der Schweiz, s. Schäppi, S. 8. 75 Unabhängig v o n der jeweiligen Begründung des Föderalismus schränkt die bundesstaatliche S t r u k t u r den Bereich des Mehrheitsprinzips auf gesamtstaatlicher Ebene ein; vgl. auch Stawski (Anm. 61), S. 127 f. 76 Veiter, Nationale Autonomie (Anm. 55), S. 59 f.; Schäppi (Anm. 57), S. 7 f. 77 s. Schäppi (Anm. 57), S. 144 ff. 78 Das gilt vor allem für eine bundesstaatliche S t r u k t u r wie i n den USA, der Schweiz u n d der Bundesrepublik, die außer i n der Schweiz aber weniger strukturelle Minderheiten i m besonderen schützen w i l l . Dagegen werden i n Kanada u n d Indien auch ethnische u n d sprachliche Minderheiten durch eine regionale Autonomie geschützt; s. Doeker (Anm. 46), S. 200 ff. 79 Z u r etymologischen H e r k u n f t u n d dem Begriff der Autonomie s. Schick, Walter, Autonomie, EvStL, 2. A u f l . Stuttgart 1975, Sp. 118 ff.; schärfer akzentuiert den Unterschied zwischen Autonomie i n Gesetzgebung u n d V e r w a l t u n g Veiter, Nationale Autonomie (Anm. 55), S. 55. 80 I m Bereich der gemeindlichen Selbstverwaltung ist ein T e i l Rechtssetzung i n der Form des Satzungsrechts zu finden. Auch der Erlaß inneren K i r chenrechts k a n n hier erwähnt werden. 81 Kurz ausgedrückt handelt es sich u m eine politische Autonomie.

236

V I I . Heteronome Begrenzungen des Mehrheitsprinzips

d e r Z e n t r a l g e w a l t n u r w e n i g e K o m p e t e n z e n z u s t e h e n 8 2 , oder auf e i n zelne b e s t i m m t e Sachgebiete b e g r e n z t s e i n 8 3 . N u r B u n d e s s t a a t e n k e n n e n eine solche w e i t r e i c h e n d e p o l i t i s c h e A u t o n o m i e , o b w o h l eine föder a l e S t r u k t u r s e l t e n u n m i t t e l b a r d e n Schutz s t r u k t u r e l l e r M i n d e r h e i t e n i n t e n d i e r t . I n a l l e n w e s t l i c h e n D e m o k r a t i e n w i r k t a b e r die F o r d e r u n g nach e i n e r V e r e i n h e i t l i c h u n g d e r L e b e n s u m s t ä n d e 8 4 A u t o n o m i e r e g e l u n g e n entgegen u n d engt diese z u n e h m e n d ein. Sachlich begrenzte, spez i e l l e F o r m e n d e r A u t o n o m i e u n d i h r e G e w ä h r l e i s t u n g e n b e w e g e n sich v o r r a n g i g a u f d e m k u l t u r e l l e n S e k t o r 8 5 , aber auch i m sozialen B e r e i c h 8 6 , w ä h r e n d eine f i n a n z i e l l e A u t o n o m i e 8 7 sich i m G r u n d e a l l e i n z u r E r g ä n z u n g u n d U n t e r s t ü t z u n g a n d e r e r sachlicher Z w e c k e eignet. E i n e besondere B e d e u t u n g k o m m t auch a l l e n F o r m e n e i n e r r e l i g i ö s e n A u t o n o m i e , die sich v o r a l l e m i n D e u t s c h l a n d i n e i n e r w e i t g e h e n d e n k i r c h l i c h e n A u t o n o m i e 8 8 ausprägt, zu. W e n n die s t r u k t u r e l l e M i n d e r h e i t i n ausge82 Das markanteste Beispiel hierfür dürften die U S A sein, wo dem B u n d neben der Außen- u n d M i l i t ä r p o l i t i k i m wesentlichen subsidiäre Zuständigkeiten zustehen, die n u r v o n der Zentralgewalt wahrgenommen werden k ö n nen. Schutz v o n Minderheiten bedeutet dies i n der Regel nur, w e n n i n L ä n dern u n d i m B u n d unterschiedliche Mehrheiten bestehen. 83 Uber die verschiedenen begrifflichen A r t e n einer Autonomie vgl. Veiter, Nationale Autonomie (Anm. 55), S. 70 f. 84 Vgl. Scheuner, Ulrich, Wandlungen i m Föderalismus der Bundesrepublik (1966), i n Staatstheorie u n d Staatsrecht, B e r l i n 1978, S. 435 ff. (445); Hesse, Konrad, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 12. A u f l . Heidelberg u. a. 1980, S. 91. 85 Das betrifft v o r allem den schulischen Bereich; die K u l t u r h o h e i t der Länder ist dementsprechend i m Bundesstaat der Bundesrepublik ein ganz wesentliches Element. 86 H i e r m i t ist die Bewältigung sozialer Probleme, nicht eine pluralistische Gruppenautonomie als Ausfluß der Privatautonomie angesprochen, der sich z. B. auch die Kirchen angenommen haben. 87 Eine gewisse finanzielle Autonomie — auch etwa der Kirchen — ist als sachliche Ergänzung u m so notwendiger, da — das zeigt deutlich nicht n u r die gemeindliche Selbstverwaltung — der Geldgeber über den Hebel finanzieller Zuwendungen erheblichen Einfluß auf die Gestaltung der jeweiligen eigentlich autonomen Tätigkeit ausüben kann. 88 Deren Hauptelemente i n den beiden folgenden A r t i k e l n zum Ausdruck kommen, s. Listi, Joseph, Glaubens-, Gewissens-, Bekenntnis- u n d Kirchenfreiheit, i n Handbuch des Staatskirchenrechts der Bundesrepublik Deutschland, B e r l i n 1974, Bd. I, S. 363 ff.; Hesse, Konrad, Das Selbstbestimmungsrecht der Kirchen u n d Religionsgemeinschaften, i n Handbuch, Bd. I, S. 409 ff. Fragwürdig w i r d der Minderheitenschutz dann, w e n n das ganze gesellschaftliche Leben v o n religiösen Regelungen zugunsten einer Minderheit so durchdrungen ist, daß sich die Mehrheit ihnen unterwerfen u n d anpassen muß. Dies ist i n Israel der Fall, w o die Auffassungen der Orthodoxie weitgehend auch das sonstige öffentliche Leben beherrschen; s. zu diesem K o n f l i k t z w i schen der nicht-orthodoxen Mehrheit u n d der orthodoxen Minderheit Smooha, Sammy, Israel. Pluralism and Conflict, London 1978, S. 25 ff. Dagegen ist der Gegensatz zwischen Sephardim u n d Aschkenasim eher w i r t schaftlich-sozialen Ursprungs; s. ebd. S. 21 ff., 151 ff., während die M i n d e r heitenrechte der Araber nicht das Gemeinwesen dominieren; s. dazu Waelès, Raoul, Israël, Paris 1969, S. 239 ff.

237

Α . Normative Begrenzungen sprochener

Streulage

siedelt,

sind

allein

Formen

personaler

Auto-

n o m i e 8 9 m ö g l i c h , d i e s c h w i e r i g e r z u v e r w i r k l i c h e n ist als eine t e r r i t o r i a l e R e g e l u n g u n d sich deswegen a m ehesten i m k u l t u r e l l e n 9 0 u n d r e l i giösen B e r e i c h durchsetzen l ä ß t . I m a l l g e m e i n e n ist e i n Schutz d e r a r t i ger M i n d e r h e i t e n n u r d u r c h d i e G e w ä h r u n g v o n

Selbstorganisations-

rechten u n d einer Sicherung bestimmter F r e i r ä u m e zu erreichen 91, die aber k a u m ü b e r das h i n a u s g e h e n , w a s die G r u n d r e c h t e b e r e i t s g e w ä h r leisten92. Staatliche N e u t r a l i t ä t 9 3 k a n n auch f ü r s t r u k t u r e l l e M i n d e r h e i t e n i n s o w e i t e r h ö h t e B e d e u t u n g e r h a l t e n , als selbst d e r Gesetzgeber z u e i n e r Einschränkung strenger Mehrheitsherrschaft angehalten w i r d . D a r a n w i r d a u ß e r d e m d e r enge Z u s a m m e n h a n g z w i s c h e n M i n d e r h e i t e n s c h u t z u n d e i n e r p l u r a l i s t i s c h e n V e r f a s s u n g s o r d n u n g e r k e n n b a r 9 4 , die b e i spielsweise auch d i e K i r c h e n e r f a ß t 9 5 u n d i n d e r G e s t a l t d e r T a r i f autonomie96, i m Gebot der paritätischen B e h a n d l u n g der Sozialpartner als e i n e r besonders h e r a u s g e h o b e n e n F o r m e i n e r p l u r a l i s t i s c h e n G r u p p e n a u t o n o m i e e i n e n A u s d r u c k f i n d e t , die z u d e m d e m M e h r h e i t s g r u n d satz eine verfassungsrechtliche Schranke z i e h t .

89 Z u dieser Unterscheidung zwischen territorialer u n d personaler M i n d e r heit oder Autonomie s. Veiter, Nationale Autonomie (Anm. 55), S. 59; Schäppi (Anm. 57), S. 7 f. 90 Einen bedeutenden F a l l k u l t u r e l l e r Autonomie stellt die estnische K u l turautonomie zwischen den beiden Weltkriegen dar; dazu s. Veiter, Nationale Autonomie (Anm. 55), S. 109 ff.; allgemein zur Gewährung k u l t u r e l l e r A u t o nomie i n dieser Zeit s. Erler, Georg H. J., Das Recht der nationalen M i n d e r heiten, Münster 1931, S. 384 ff. 91 H i e r ist etwa an die Einrichtung u n d Förderung v o n Minderheitenschulen zu denken, die beispielsweise entsprechend A r t . 7 GG über eine P r i v a t schulfreiheit gesichert werden können. 92 Insbesondere Koalitions-, Versammlungs- u n d Vereinigungsfreiheit geben einen ähnlichen Spielraum. 98 s. v o r allem Schiaich, Neutralität (Anm. 28), S. 40 ff. zu den verschiedenen Funktionen der Neutralität u n d dem Bedeutungsgehalt des Prinzips, vgl. auch Meyer-Teschendorf, Klaus, Staat u n d Kirche i m pluralistischen Gemeinwesen, Tübingen 1979, S. 145 ff.; selbst neutrale Außenpolitik k a n n einen Ausgleich i m Sinne des Minderheitenschutzes bedeuten, s. Schäppi (Anm. 57), S. 165 ff.; Lehmbruch, Gerhard, Konkordanzdemokratie i m Internationalen System, PVS 10 (1969), Sonderheft 1, S. 139 ff. (157 f.). 94 Freiheit der pluralistischen Gruppen bedeutet auch Freiheit struktureller Minderheiten. 95 Z u r Einfügung der Kirche i n das Pluralismuskonzept s. Meyer-Teschendorf (Anm. 93), S. 54 ff. 96 A r t . 9 I I I GG; zum Zusammenhang m i t der Neutralität s. Schiaich, Neut r a l i t ä t (Anm. 28), S. 112 ff.; zur T a r i f autonomie als Begrenzung des M e h r heitsprinzips s. Scheuner, Ulrich, Das Mehrheitsprinzip i n der Demokratie, Opladen 1973, S. 61. K r i t i s c h gegenüber derartigen Eingrenzungen des M e h r heitsprinzips Preuß, U l r i c h K., Politische Ordnungskonzepte für die Massengesellschaft, i n Habermas, Jürgen (Hrsg.), Stichworte zur „Geistigen Situation der Zeit", F r a n k f u r t 1979, S. 340 ff. (352 ff.).

238

V I I . Heteronome Begrenzungen des Mehrheitsprinzips

Dieser Möglichkeit der Distanz 97 hat der Säkularisierungsprozeß den Weg gebahnt. Der Vorgang zeigt i m historischen Aufriß diese Lösung und Spielart des Minderheitenschutzes durch das Prinzip der Neutralität noch einmal i n seiner Beziehung zum Mehrheitsprinzip auf. Wenn die spezifische Problematik der Minderheit entschärft wird, indem diese Frage eine gewisse Gleichgültigkeit gewinnt 9 8 , kann dieser Komplex aus dem Entscheidungsbereich des Mehrheitsprinzips herausgenommen oder ausgeklammert werden, wie aber andererseits letzteres gleichzeitig dazu dienen kann, dem Gegensatz zwischen Mehrheit und Minderheit die Spitze zu nehmen. Eine wirksame Begrenzung des Mehrheitsprinzips bedarf rechtlicher Einbindung und Sicherung, die die Minderheitenrechte einfachen Mehrheitsentscheidungen entzieht. Die strikteste rechtliche Bindung erreicht eine Verankerung der Autonomierechte i n der Verfassung, die als höherrangige Norm den von den verschiedenen Gruppen innerstaatlich ausgehandelten, oft kompromißhaften Grundkonsens formal fixiert 9 9 , der Grundlage und Begrenzung des Mehrheitsprinzips enthält. Gleichfalls i n eine rechtlich bindende Form w i r d die Begrenzung des Mehrheitsprinzips gekleidet, wenn die Autonomierechte zwischen dem Gesamtstaat und den Minderheiten oder Gruppen durch deren jeweilige Organe und Vertreter ausgehandelt und dann i n einem regelrechten Vertrag niedergelegt werden 1 0 0 . Dieser Form der Begrenzung des Mehrheitsprinzips und Sicherung der Autonomie bedienen sich auch die völ-, kerrechtlichen Verträge zum Schutz einzelner Minderheiten oder Gruppen 1 0 1 , die sich jedoch nur dann anbieten, wenn ein anderes Völkerrechtssubjekt sich zum Anwalt der betroffenen Minderheit macht. 97

Scheuner, Kirche u n d Staat, HdbStKirchR I (Anm. 28), S. 50 f. I n Entsprechung zum säkularisierten Staat tauchte daher i m nationalitätenzerrissenen Ostmitteleuropa zwischen den Kriegen der Gedanke eines „anationalen" Staates auf; s. Viefhaus, E r w i n , Nationale Autonomie u n d Parlamentarische Demokratie. Zur Minderheitenproblematik i n Ostmitteleuropa nach 1919, i n Politische Ideologien u n d nationalstaatliche Ordnung, Festschrift Th. Schieder, München 1968, S. 377 ff. (387 f.); Erler (Anm. 90), S. 35 ff. 99 s. Schäppi (Anm. 57), S. 173 ff.; vgl. auch oben V , A , dort auch zu den konsensualen Willensbildungsformen. 100 So etwa i n der Vergangenheit den Mährischen Ausgleich v o n 1905 (s. o. A n m . 70); heute bedeutsam vor allem die zahlreichen innerstaatlichen K i r chenverträge für die Bundesrepublik, s. dazu den Uberblick bei Hollerbach, Alexander, Die vertragsrechtlichen Grundlagen des Staatskirchenrechts, i n Handbuch des Staatskirchenrechts der Bundesrepublik Deutschland, B e r l i n 1974, Bd. I, S. 267 ff. ιοί F ü r die nationalen Minderheiten w a r diese Form des Minderheitenschutzes i m Europa zwischen den Kriegen vorherrschend; Erler (Anm. 90), S. 129 ff.; vgl. auch Schäppi (Anm. 57), S. 178 ff.; vgl. auch A r t . 7 des Staatsvertrags über Österreich; zum Minderheitenschutz i n Österreich siehe auch Ermacora, Felix, Volksgruppenausgleich i n Österreich, Z a ö R V R 37 (1977), S. 276 ff. 98

Α . Normative Begrenzungen

239

Praktische Bedeutung hat diese Möglichkeit daher nur für nationale Minderheiten und i m Bereich der katholischen Kirche gewonnen 102 . A l l e n Verträgen haftet i m Sinn einer Einschränkung des Mehrheitsprinzips allerdings der Nachteil an, daß sich die Vertragsparteien von der Bindung mittels einer Kündigung lösen können, wenn entweder eine Kündigungsklausel i m Vertrag enthalten ist, eine Einigung m i t dem Vertragspartner erzielt w i r d oder sonstige Erlöschens- oder A u f hebungsgründe vorliegen 1 0 3 . Andererseits gewähren derartige Verträge einen Schutz insofern, als mit dem formalen A k t der Kündigung erhebliche politische Schwierigkeiten verbunden sein können, die faktisch eine sehr wirksame Schranke bilden können. Ein Minderheitenschutz und die Gewährung einer Autonomie durch einfache Gesetze 104 stellt nur noch faktisch und politisch eine Beschränkung des Mehrheitsprinzips dar. b) Politische Minderheiten

— Opposition

Der Schutz und die Autonomiebereiche struktureller Minderheiten sind gerade i m Hinblick auf das Mehrheitsprinzip notwendig, u m diese Minderheit i n das demokratische System zu integrieren, andernfalls kann die Minderheit ständiger Fremdbestimmung durch die Mehrheit ausgesetzt sein, ohne innerhalb ihrer Autonomie die Möglichkeit zu eigener Entfaltung zu besitzen. Dann droht der minoritäre Widerstand gegen Mehrheitsentscheidungen zu bürgerkriegsähnlichen Auseinandersetzungen zu eskalieren 105 , wenn nicht der einheitliche Staat auseinanderbricht. Die Einfügung der permanenten Minderheit i n das Gemeinwesen bleibt eine ständige Aufgabe, der ein gewisses statisches Moment anhaftet, während der Schutz politischer Minderheiten seinen besonderen Charakter aus der Beziehung zu dem dynamischen politischen Prozeß gewinnt, auch wenn man die Stellung der Minderheit als eigenen Wert anerkennt 1 0 6 . Die politischen Minderheitenrechte sollen den politischen Prozeß offenhalten, den Mehrheitswechsel ermöglichen, Konsens und Dissens i n einem i n ständigem Widerspiel sich verändern102 Auch das Konkordat v o n 1933 zwischen H l . Stuhl u n d dem Deutschen Reich gilt noch heute. 103 Vgl. Seidl-Hohenveldern, Völkerrecht (Anm. 52), S. 92 ff. 104 Z u r innerstaatlichen Minderheitengesetzgebung für die Zeit v o r dem 2. Weltkrieg s. Erler (Anm. 90), S. 175 ff., eine Ubersicht über Minderheiten u n d ihren Schutz durch gesetzliche Regelungen i m Nachkriegseuropa bei Gru lieh, Rudolf / Pulte, Peter, Nationale Minderheiten i n Europa, Opladen 1975. los w i e sie sich derzeit i n Nordirland abspielen; s. dazu Stadler, Klaus, Nordirland — Analyse eines Bürgerkrieges, München 1979, S. 241 ff. 108 So Achterberg, Norbert, Die parlamentarische Verhandlung, B e r l i n 1979, S. 50; selbstverständlich ist jede Minderheit auch u m ihrer selbst w i l l e n geschützt. M a n verkennt aber die Funktionen der Minderheitenrechte, w e n n man sie darauf reduzieren, darin i h r e n einzigen Sinn sehen w i l l .

240

V I I . Heteronome Begrenzungen des Mehrheitsprinzips

d e n F l u ß h a l t e n 1 0 7 . D i e G e w ä h r u n g eigener A u t o n o m i e ist deshalb v o n geringerer

Bedeutung. Der Minderheitenschutz

d u r c h die

politischen

Grundrechte der Bürger, die insoweit nicht allein den Einzelnen bevorr e c h t i g e n w o l l e n , soll eine V e r f e s t i g u n g u n d E r s t a r r u n g d e r M e h r h e i t s v e r h ä l t n i s s e v e r h i n d e r n , soll die Chance o f f e n h a l t e n , i n d e n A b s t i m m u n g e n i m Wechsel z u r u n t e r l e g e n e n u n d z u r ü b e r l e g e n e n P a r t e i z u gehören. D i e p o l i t i s c h e n , d e m o k r a t i s c h e n G r u n d r e c h t e v e r s c h a f f e n d e n Minderheiten

einen

Spielraum,

um

durch

Selbstartikulation u n d Selbstorganisation

109

Kritik

und

Kontrolle108,

, die Bedingungen f ü r

den

Mehrheitswechsel zu bereiten. Daneben kompensiert der grundrechtlich gesicherte F r e i r a u m d i e M i n d e r h e i t s p o s i t i o n u n d g l e i c h t das U n t e r l i e g e n i n d e r E n t s c h e i d u n g aus. I m Parlament politischen 107

tritt

Prozeß

d i e F u n k t i o n des M i n d e r h e i t e n s c h u t z e s 1 1 0 ,

offenzuhalten,

nodi

stärker

hervor 111.

Hier

den sind

Z u r Offenheit s. ο. V, C. I n diesem Zusammenhang sind vor allem Meinungs- u n d Pressefreiheit v o n Bedeutung. 109 Hier sind i n erster L i n i e Vereinigungs-, Versammlungs- u n d Demonstrationsfreiheit zu nennen. 110 Z u m parlamentarischen Minderheitenschutz s. rechtsvergleichend Wollmann, Helmut, Die Stellung der Parlamentsminderheiten i n England, der Bundesrepublik Deutschland u n d Italien, Den Haag 1970; Paul, Hansjürgen, Parlamentarischer Minderheitenschutz. Eine rechtsvergleichende Betrachtung an Hand der geltenden Verfassungs- u n d Geschäftsordnungsnormen i n Deutschland, Frankreich u n d Italien, Diss. Göttingen 1953; Lehmann, K u r t , Das Recht der parlamentarischen Minderheiten, B e r l i n 1933, S. 117 ff.; zur deutschen Situation siehe v o r allem Schäfer, Friedrich, Der Bundestag, 2. A u f l . Opladen 1975, S. 73 ff.; Lorken, Goswin, Die Rechte der parlamentarischen Minderheiten u n d der einzelnen Abgeordneten nach dem Geschäftsordnungsrecht des deutschen Bundestages, Diss. K ö l n 1963; Trossmann, Hans, Parlamentsrecht des Deutschen Bundestages, München 1977, S. 175 ff.; Achterberg, Verhandlung (Anm. 106), S. 49 ff.; ders., Die Grundsätze der parlamentarischen Verhandlung, DVB1. 95 (1980), S. 512 ff. (520 f.); Schneider, Opposition (Anm. 15), S. 236 ff.; eine Übersicht über die gesetzlichen Regelungen i m B u n d bei Vonderbeck, Hans-Josef, Die Minderheitenrechte i m Deutschen Bundestag, ZParl. 6 (1975), S. 150 ff. u n d die Regelungen i n den Ländern, zusammengestellt v o n der Bürgerschaftskanzlei Hamburg, K o n t r o l l - u n d M i n derheitenrechte i n den Parlamenten v o n B u n d u n d Ländern. Eine Synopse der Regelungen u n d Fundstellen, ZParl. 6 (1975), S. 9 ff. 111 Vgl. Schneider, Opposition (Anm. 15), S. 236 f. „Minderheitenrechte dienen heute i n erster L i n i e zur Aktualisierung u n d Effektivierung politischer Kontrolle u n d potentiell alternativer F ü h r u n g der parlamentarischen Opposition, m i t h i n der Machtbegrenzung durch parlamentarische Gegenmacht, u n d n u r zu einem äußerst kleinen T e i l noch dem Minderheitsschutz i m überkommenen Verständnis."; der funktionale Gesichtspunkt der Sicherung des Mehrheitswechsels findet sich bereits bei Lehmann (Anm. 110), S. 22, v e r fehlt insoweit Achterberg, Verhandlung (Anm. 106), S. 50 f., w e n n er unter dem Aspekt des Machtwechsels für einen Minderheitsschutz k a u m Anlaß sieht, da die Minderheit j a die Möglichkeit habe, ihre Vorstellungen durchzusetzen; vgl. auch Schmitt, Legalität (Anm. 6), S. 33 f., 36 ff., 40 ff. Das setzt aber einen Machtwechsel voraus, den der Minderheitenschutz gerade offenhalten u n d garantieren w i l l . 108

Α . Normative Begrenzungen

241

„Minderheitenschutz u n d Gewährleistung politischer Chancengleichheit funktional weitgehend identisch"112. Die Minderheitenrechte sind vor a l l e m ein I n s t r u m e n t der Opposition113, der potentiellen M e h r h e i t v o n m o r g e n 1 1 4 . D i e t e i l s i n d e n V e r f a s s u n g e n u n m i t t e l b a r 1 1 5 , m e i s t aber i n den jeweiligen Geschäftsordnungen 116 verankerten

Minderheitenrechte

b e g r e n z e n d e n A k t i o n s r a d i u s d e r M e h r h e i t 1 1 7 , i n d e m sie z w a r i n d e n w e n i g s t e n F ä l l e n sachliche M e h r h e i t s e n t s c h e i d u n g e n v e r h i n d e r n

kön-

n e n 1 1 8 , aber m i t v e r f a h r e n s r e c h t l i c h e n M i t t e l n u n d d u r c h d e n A p p e l l a n die Öffentlichkeit die M e h r h e i t zur Mäßigung u n d zur V e r a n t w o r t l i c h keit

gegenüber

der

Gesamtheit

und

dem

Gemeinwohl

veranlassen

sowie g l e i c h z e i t i g d a m i t d e n B o d e n f ü r e i n e n z u k ü n f t i g e n M a c h t w e c h s e l bereiten können. Die Vielgestaltigkeit110

der Minderheitenrechte

sich i n P a r t i z i p a t i o n s r e c h t e

120

, Artikulationsrechte

i m Parlament, 121

,

die

Demonstrations-

112 Schneider, Opposition (Anm. 15), S. 237; siehe auch Hesse, Grundzüge (Anm. 84), S. 63 ff. 113 s. Schneider, Opposition (Anm. 15), S. 236 ff.; die Argumentation Achter bergs, Verhandlung (Anm. 106), S. 51, zielt am K e r n vorbei, w e n n er erstens die idealtypische Regelung des Parlamentsrechts, die eine Opposition gar nicht kennt, gegen die Verfassungswirklichkeit ausspielt u n d zweitens meint, Opposition u n d Minderheit dürften nicht identifiziert werden. Natürlich müssen Opposition u n d Minderheit nicht identisch sein, sind es aber meistens, vgl. Schneider, S. 233, 242; zudem geht Achterberg v o n einem Begriff der Opposition als festem Block aus, die Minderheitsrechte sollen aber der jeweiligen Opposition u n d Minderheit zugute kommen. 114 BVerfGE 44, 125 (142); s.a. Häberle, Peter, Das Mehrheitsprinzip als Strukturelement der freiheitlich-demokratischen Grundordnung (JZ 1977, S. 241 ff.), i n ders., Verfassung als öffentlicher Prozeß, B e r l i n 1978, S. 565 ff. (573). 115 s. etwa A r t . 39 I I I , 42 I , 44, 76 I , 79 I I GG. 118 Oder auch den englischen Konventionalregeln; zur Rechtsnatur der Geschäftsordnung s. Schneider, Opposition (Anm. 15), S. 233 ff. 117 Soweit Minderheitsrechte i n der Verfassung niedergelegt sind. Die Geschäftsordnung w i r d dagegen m i t einfacher Mehrheit beschlossen, jedoch ist eine Abweichung i m Einzelfall gem. § 126 GeschOBT n u r m i t Vs-Mehrheit möglich; eine weitere Frage ist allerdings, i n w i e w e i t sich Minderheitsrechte aus dem Gesamtzusammenhang der Verfassung ergeben. Z u r Einschränkung der Verfahrensherrschaft der Mehrheit i m Parlament i n I t a l i e n s. Tosi , Silvano, Systemkonträre Opposition u n d Stabilität des Regierungssystems. Oppositionelles Verhalten i n Italien, i n Oberreuter, Heinrich (Hrsg.), Parlamentarische Opposition, Hamburg 1975, S. 106 ff. (116 ff.). 118 s. Schäfer (Anm. 110), S. 74, 77; was aber nicht heißt, daß Mehrheitsentscheidungen ausschließlich Sachfragen betreffen u n d Minderheitenrechte n u r Verfahrensentscheidungen beinhalten. Insoweit richtig Achterberg, V e r handlung (Anm. 106), S. 51 f. gegen Schäfer. 119 s. Schneider, Opposition (Anm. 15), S. 238 ff., dort auch die folgenden zusammenfassenden Begriffe. 120 z . B . M i t w i r k u n g i n Bundestagspräsidium u n d Ältestenrat; Einhaltung des Fraktionsproporzes i n den Ausschüssen; dazu s. auch Wollmann (Anm. 110), S. 100. 121 V o r allem Rederechte.

16 Heun

242

V I I . Heteronome Begrenzungen des Mehrheitsprinzips

rechte 122 und Informationsrechte 123 , Kontrollrechte 1 2 4 , Einberufungs- 1 2 5 und Vetorechte 126 einteilen lassen, entspricht eine Vielfalt politischer Funktionen 1 2 7 . Die K r i t i k und Kontrolle auch mittels der Information der Öffentlichkeit, die Möglichkeit der M i t w i r k u n g und Korrektur i m Fall einer Mehrheitsentscheidung, die Alternativenbildung 1 2 8 durch eine partielle Polarisierung schaffen die Voraussetzungen eines möglichen Mehrheitswechsels. Dazu trägt wesentlich die „Verlängerung der Opposition i n die Öffentlichkeit" 1 2 9 bei. Die Öffentlichkeit wiederum ist i n der Beurteilung der Politik der Regierung und der sie tragenden Mehrheit vielfältig auf diese Oppositionsfunktionen angewiesen. Das Moment der Legitimation durch Verfahren 1 3 0 , das der Mehrheitsentscheidung auch durch die Einbeziehung minoritärer Anstöße und Einsichten vermittelt wird, vermag zur Integration der Minderheit beizutragen und damit den offenen Prozeß demokratischer Willensbildung zu fördern. Eine effektive Beschränkung des Mehrheitswillens bedeuten allein die absoluten Minderheitsrechte 131 , über die sich die einfache Mehrheit nicht hinwegsetzen kann, während die relativen Minderheitsrechte 132 i m Grunde nur das eigene politische Wollen der Opposition nach außen deutlich machen können, da sie von der Mehrheit weitgehend übergangen werden können 1 3 3 . Allerdings ist die Mehrheit i n 122 z . B . namentliche Abstimmung; absichtliche Erzeugung der Beschlußunfähigkeit. 123 Ansprüche auf Auskunftserteilung; die sog. „ K l e i n e Anfrage". 124 Einsetzung v o n Untersuchungsausschüssen. 125 Ältestenrat u n d Plenum. 128 z . B . gegen den Ausschluß der Öffentlichkeit; Verhinderung v o n Beratungen außerhalb der Tagesordnung. 127 s. Schneider, Opposition (Anm. 15), S. 242. 128 Dazu s. auch Wollmann (Anm. 110), S. 144 ff. 129 s. Kluxen, K u r t , Die U m f o r m i m g des parlamentarischen Regierungssystems i n Großbritannien beim Ubergang zur Massendemokratie, i n ders. (Hrsg.), Parlamentarismus, 3. A u f l . K ö l n 1971, S. 112 ff. (136) u n d ders., E i n führung (in T e i l 6) ebd. S. 393 ff. (395): „Die Verlängerung der Regierung ins Parlament h i n e i n hatte die Verlängerung der Opposition i n die Öffentlichkeit h i n e i n b e w i r k t . " Z u r Bedeutung des Öffentlichkeitsprinzips des Parlaments i n dieser Hinsicht (Kontrollfunktion) s. Kissler, Leo, Die Öffentlichkeitsfunktion des Deutschen Bundestages, B e r l i n 1975, S. 306. 130 s. Luhmann, Niklas, Legitimation durch Verfahren, Neuwied 1969, S. 174 ff.; Schneider, Opposition (Anm. 15), S. 240. 131 A u f die die Mehrheit keinen Einfluß nehmen kann; s. Schneider, Opposition (Anm. 15), S. 238 ff.; Wollmann (Anm. 110), S. 33 spricht v o n echten Minderheitsrechten. 132 Schneider, Opposition (Anm. 15), S. 241 f.; Wollmann (Anm. 110), S. 33. 133 Obwohl die Mehrheit auch bei absoluten Minderheitsrechten den W i l l e n der Minderheit z u m T e i l überspielen kann; zu dem besonderen F a l l der E i n setzung eines Untersuchungsausschusses u n d der — möglichen — Änderung des Gegenstandes der Untersuchung durch die Mehrheit s. Hemp fer, Walter, Z u r Änderungsbefugnis der Parlamentsmehrheit bei Minderheitsanträgen auf Einsetzung v o n Untersuchungsausschüssen, ZParl. 10 (1979), S. 295 ff.;

Α . Normative Begrenzungen

243

funktionierenden Demokratien noch an zahlreiche ungeschriebene, konventionelle, teilweise zu Gewohnheitsrecht erstarkte Regeln gebunden 1 3 4 , die sie i m eigenen Interesse nicht verletzen wird. Die Konventionalregeln weisen darauf hin, daß die Stellung der Minderheiten nicht bloß von rechtlicher Sicherung abhängt, sondern wesentlich auf der politischen K u l t u r , auf einer Atmosphäre der Toleranz und Achtung der Minoritäten i m Bewußtsein und Verhalten der Bürger und Politiker beruht 1 3 5 . Minderheitsrechte sind insofern immer auch auf eine Selbstbeschränkung der Mehrheit zurückzuführen 1 3 6 . A n dererseits, das beweist die parlamentarische Obstruktion durch Minderheiten, muß i m Interesse der Entscheidungsfähigkeit des Parlaments eine Balance zwischen der Macht der Mehrheit und den Rechten der Minderheiten gefunden werden 1 3 7 . 3. Verfahrensvoraussetzungen der Mehrheitsentscheidung

Individualautonomie und Minderheitenschutz sind eine entscheidende Voraussetzung der Legitimität des Mehrheitsprinzips. Bereits der Schutz politischer Minderheiten, jeglicher Opposition, wies aber eine engere Beziehung zum Mehrheitsgrundsatz auf, die i n der Funktion der Sicherung des Mehrheitswechsels liegt. Noch unmittelbar unter dem Aspekt der Mehrheitsregel steht der Schutz der eigentlichen Elemente des demokratischen Entscheidungsverfahrens, ohne die eine Mehrheitsentscheidung gar nicht zustandekommt 1 3 8 . I n erster Linie darf daher das Mehrheitsprinzip selbst als Abstimmungsregel nicht i m Wege der Mehrheitsentscheidung abgeschafft werden 1 3 9 . Auch die einzelnen Elemente einer freien Entscheidung der Mehrheit, wie sie vor allem i n den Wahlrechtsgrundsätzen fixiert sind, demgegenüber sind zu unterscheiden die sog. unechten Minderheitsrechte, die vorwiegend der Mehrheit zugute kommen, w i e der A n t r a g auf Ausschluß der Öffentlichkeit oder auf Einberufung des Vermittlungsausschusses, s. Schneider, Opposition (Anm. 15), S. 242. 134 Nicht n u r i n England, w o ein formelles Parlamentsrecht weitgehend fehlt, s. für die Bundesrepublik Schneider , Opposition (Anm. 15), S. 234, 243. 135 s. Berg-Schlosser, D i r k , Politische K u l t u r , München 1972, S. 107. 138 s. Schäfer (Anm. 110), S. 76. 137 s. ebd. S. 83. 138 Vgl. auch McClosky (Anm. 2), S. 643 ff., der die Voraussetzungen des Mehrheitsprinzips selbst schützen w i l l . 139 s. Sternherger, Dolf, G r u n d u n d A b g r u n d der Macht, F r a n k f u r t 1962, S. 212; dementsprechend ist die Mehrheitsregel i n A r t . 42 I I G G verankert worden u n d der einfachen Mehrheit entzogen; gleichfalls i n diese Richtung weist das Verbot zu weitgehender gesetzgeberischer Delegation, w i e es i n A r t . 80 GG Ausdruck gefunden hat; vgl. dazu Doehring, K a r l , Staatsrecht der B u n desrepublik Deutschland, 2. A u f l . F r a n k f u r t 1980, S. 193 f. 16·

244

V I I . Heteronome Begrenzungen des Mehrheitsprinzips

müssen vor dem Zugriff der Mehrheit bewahrt werden 1 4 0 . Ferner muß sich der offene demokratische Meinungs- und Willensbildungsprozeß frei vollziehen können 1 4 1 , ohne daß die Mehrheit diesen Prozeß behindert, die Mehrheitsentscheidung also i m voraus determiniert. Das Entscheidungsrecht der Mehrheit bildet das Ende der Formung des demokratischen Willens, bildet den Schlußpunkt eines Prozesses freier Auseinandersetzung u m das Gemeinwohl. Daraus resultiert die Notwendigkeit der Begrenzung des Mehrheitsprinzips. Gleichermaßen ist die Periodizität der Wahlen i n repräsentativen Systemen zu sichern 1 4 2 und die Mehrheitsentscheidung soweit wie möglich revisibel zu halten 1 4 3 . Meist werden diese Grundsätze ausdrücklich i n der Verfassung niedergelegt sein oder sich aus dem verfassungsrechtlichen Zusammenhang ergeben. A u f diese Weise w i r d der Spielraum der Mehrheitsentscheidung rechtlich begrenzt. Dies findet vornehmlich i n den politischen Grundrechten seinen Ausdruck, die damit auch eine funktionelle Grundlage der Demokratie darstellen 1 4 4 . Die Verfassung grenzt insoweit die Momente einer freien und lebendigen Teilnahme am politischen Prozeß, der i n die Mehrheitsentscheidungen mündet, aus dem Entscheidungsbereich des Mehrheitsprinzips aus. Verfahrensvoraussetzungen, Individualautonomie und Minderheitenschutz decken sich i n dieser Hinsicht i n weiten Teilen. Außer dieser rechtlichen Beschränkung des Mehrheitsprinzips kann an die Bedeutung der politischen K u l t u r und faktisch wirksamer Einflüsse für die Zurückhaltung der Mehrheitsentscheidungen erinnert werden. B. Verfassung und Gewaltenteilung Individual- und Gruppenautonomie sind die grundsätzlichen Wertvorstellungen, die das Mehrheitsprinzip begrenzen und zugleich aus dem Gedanken der Selbstbestimmung erwachsen. I n Verfassung und Gewaltenteilung erhalten diese Grundsätze ihre juristische und institutionelle Verwirklichung und Ergänzung. 140

s. ο. I V , C., insbes. 4. Vgl. ο. V, B. 142 s. ο. V , C. 143 s. ο. V, C. 144 So v o r allem Häberle, Peter, Die Wesensgehaltsgarantie des A r t . 19 Abs. 2 Grundgesetz, 2. A u f l . Karlsruhe 1972, S. 17 ff.; Ridder, H e l m u t K . J., Meinungsfreiheit, i n Neumann / Nipperdey / Scheuner, Die Grundrechte, Bd. I I , B e r l i n 1954, S. 243 ff. (256 ff.); Schneider, Opposition (Anm. 15), S. 381; ders. f Grundrechte (Anm. 43), S. 29. Eine weitere, andere Frage ist, ob u n d welche Konsequenzen aus dieser F u n k t i o n f ü r die Auslegung der G r u n d rechte zu ziehen sind; kritisch zu der funktionell-demokratischen Grundrechisinterpretation : Klein (Anm. 15), S. 16 f.; ders., Öffentliche u n d private 141

Β . Verfassung u n d Gewaltenteilung

245

Grundrechte und Minderheitenschutz haben i n der Regel 1 4 5 Eingang i n die geschriebenen Verfassungen gefunden und werden ergänzt durch die verfassungsrechtlichen Grundprinzipien, die über die einzelnen Rechte hinaus das gesamte staatliche Handeln bestimmen und begrenzen. Die Verfassung schränkt die Mehrheitsherrschaft aufgrund ihrer erschwerten Abänderbarkeit und ihrer Höherrangigkeit rechtlich ein. Zweck und Funktion 1 4 6 einer Verfassung liegen ganz wesentlich i n der Eingrenzung staatlicher Macht 1 4 7 , die i m Zeichen der Demokratie i n erster Linie von der jeweiligen Mehrheit i n Volk und Parlament ausgeübt wird. Der Inhalt der Verfassung erschöpft sich nicht i n der Festlegung der Grund- und Leitprinzipien und der Gewährung der Grundrechte und Minderheitenrechte, die die Mehrheit rechtlich binden, sondern w i l l mittels der Einrichtung der Gewaltenteilung 1 4 8 die materiellen Rechte und Prinzipien institutionell und verfahrensrechtlich absichern. Traditionell verbindet sich m i t dem Begriff der Gewaltenteilung die klassische dreigliedrige Aufteilung der drei Funktionen Gesetzgebung, Verwaltung und Rechtsprechung auf entsprechende, organisatorisch und personell verschiedene Funktionsträger i m Sinne einer horizontalen Gewaltenteilung. Angesichts des Vorrangs der vom Mehrheitsprinzip geprägten Legislative, die sich aus der Volkssouveränitätsdoktrin ergibt, bedeutet diese Gewaltenteilung i n ihrer ursprünglichen F o r m 1 4 9 Freiheit, zur Auslegung des Grundrechts der Meinungsfreiheit, Staat 70 (1971), S. 145 ff. (160 ff.); Böckenförde, Grundrechtstheorie (Anm. 40), S. 235 ff. 145 England, Neuseeland u n d Israel sind die bedeutendsten Ausnahmen, die keine Verfassung haben; zu den historischen Hintergründen i n Israel s. Klinghoff er, Hans, Die Entstehung des Staates Israel, JöR N. F. 10 (1961), S. 439 ff. (456 ff., 477 ff.). 146 Z u den Verfassungsfunktionen s. Badura, Peter, Verfassung u n d V e r fassungsgesetz, Festschrift U. Scheuner, B e r l i n 1973, S. 19 ff.; Scheuner, U l rich, Verfassung (1963), i n Staatstheorie u n d Staatsrecht, B e r l i n 1978, S. 171 ff. (172 ff.); Stern,, Staatsrecht, Bd. I (Anm. 32), S. 61 ff. m w N . 147 Löwenstein, K a r l , Verfassungslehre, 2. A u f l . Tübingen 1969, S. 127 ff.; Friedrich, Carl Joachim, Der Verfassungsstaat der Neuzeit, B e r l i n u. a. 1953, S. 196; Badura (Anm. 146), S. 22 ff.; Stern, Staatsrecht, Bd. I (Anm. 32), S. 73. 148 s. bereits A r t . 16 Deklaration der Menschen- u n d Bürgerrechte v. 26.8. 1789; zum Problem der Gewaltenteilung s. n u r Forsthoff, Ernst, Gewaltenteilung, EvStL, Sp. 857 ff.; Kägi, Werner, Z u r Entstehung, Wandlung u n d Problematik des Gewaltenteilungsprinzips, Zürich 1937; den Sammelband zur heutigen Problematik der Gewaltenteilung, hrsg. v. Heinz Rausch, D a r m stadt 1969, sowie Stern, Klaus, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. I I , München 1980, S. 513 ff. 149 Die traditionelle Auffassung versteht unter Gewaltenteilung sogar eine strikte Gewaltentrennung, die i m Grunde den Verfassungszustand Englands u n d der USA Ende des 18. Jh. widerspiegelt u n d heute, erklärlich aus der Entstehungszeit, i n den U S A herrscht. Montesquieu vertrat dagegen eine differenziertere Auffassung i m Sinne einer Gewaltenteilung, nicht aber einer Gewaltentrennung, die n u r für die Judikative galt; s. Lange, Ulrich, Teilung u n d Trennung der Gewalten bei Montesquieu, Staat 19 (1980), S. 213 ff. (218 ff.).

246

V I I . Heteronome Begrenzungen des Mehrheitsprinzips

eine geringe Hemmung des Mehrheitsprinzips 1 5 0 . Gewaltenteilung ist aber heute i n einem umfassenden Sinn zu begreifen 1 5 1 und dient einer generellen Mäßigung 1 ' 52 der Mehrheitsherrschaft. Neben der klassischen Gewaltentrennung i n Legislative, Exekutive und Judikative, die einer vielfältigen Gewaltenverschränkung und -Überschneidung vor allem i n den parlamentarischen Regierungssystemen i m Spannungsfeld von Regierung und Parlament gewichen ist, kann unter dem Aspekt des Mehrheitsprinzips und dessen Beschränkung i m Bereich der Volksentscheidungen das Repräsentationsprinzip als Element einer weit verstandenen Gewaltenteilung begriffen werden. I n den repräsentativen Demokratien t r i f f t die Volksmehrheit i m allgemeinen nur i n den Wahlen, die i n größeren zeitlichen Abständen stattfinden 1 5 3 , selbst die Entscheidungen, während direkte Volksabstimmungen 1 5 4 nicht i n allen Ländern abgehalten werden. Dort treten sie auch nur i n wenigen Fällen neben die Entscheidungen des Parlaments und sind besonderen, wichtigen Materien vorbehalten 1 5 5 . Das Repräsentationsprinzip übt m i t dieser Begrenzung der Entscheidungen von Volk und Parlament eine gewaltenteilende W i r k u n g aus, so daß repräsentative Demokratien durch ein starkes Element der Mäßigung staatlicher Herrschaft geprägt sind 1 5 6 . Die Bürger können nur i n periodischen Abständen selbst politische Entscheidungen m i t Mehrheit treffen und sind innerhalb dieses Zeitraums an die Entscheidungen eines anderen Machtträgers, des Parlaments gebunden. Das Parlament aber ist gleichfalls — gewissermaßen spiegelbildlich — der temporalen Gewaltenteilung 1 5 7 der wiederkehren150 Gewaltentrennung jedenfalls n i m m t dem Entscheidungsbereich des Mehrheitsprinzips wenig. Das Gesetz des Parlaments ist keinen bedeutsamen Einschränkungen unterworfen. England, Gegenstand wichtiger Passagen des Werkes v o n Montesquieu, läßt das Mehrheitsprinzip nahezu unbeschränkt zur Geltung kommen. Die erste französische Revolutions Verfassung begründet geradezu durch die Gewaltenteilung die Herrschaft des Gesetzes, die m i t der Herrschaft der Mehrheit zusammenfällt. 151 s. insbes. Steffani, Winfried, Gewaltenteilung i m demokratisch-pluralistischen Rechtsstaat (1962), i n Rausch (Anm. 148), S. 313 ff.; Kägi, Werner, V o n der klassischen Dreiteilung zur umfassenden Gewaltenteilung (1961), i n Rausch, S. 286 ff.; Stern,, Staatsrecht, Bd. I I (Anm. 148), S. 546 ff. i m Gegensatz zur bisher herrschenden Auffassung i n der Staatsrechtslehre w i r d Gewaltenteilung i n dieser A r b e i t faktisch, nicht n o r m a t i v verstanden. 152 s. bereits Montesquieu, Charles, De l'Esprit des Lois (1748), X I , 4. 153 Die regulären Wahlperioden reichen v o n drei bis fünf Jahren, bei den französischen Präsidentschaftswahlen sogar 7 Jahre; vgl. auch oben V , C. 154 s. I V , B, 2, a. 155 Die Begrenzung auf wenige Materien u n d Gegenstände ergibt sich zum T e i l bereits aus der S t r u k t u r des Mehrheitsprinzips, s. ο. I V , B, 1 sowie V I . 156 s. Scheuner, Ulrich, Das Mehrheitsprinzip i n der Demokratie, Opladen 1973, S. 41; Butler, D a v i d / Ranney, Austin, i n Referendums. A Comparative Study of Practice and Theory, Washington 1978, S. 36; für Sieyes s. Roels, Jean, Le concept de représentation politique au dixhuitième siècle français, Louvain - Paris 1969, S. 127 f. 157 Kägi, umfassende Gewaltenteilung (Anm. 151), S. 306; Steffani (Anm. 151), S. 337 ff.

247

Β . Verfassung u n d Gewaltenteilung

d e n W a h l e n u n t e r w o r f e n , da es v o n diesen i n s e i n e m B e s t a n d a b h ä n g i g ist. D i e V o l k s v e r t r e t e r w e r d e n d a d u r c h a u ß e r d e m ü b e r d i e bloße P e r i o dizität

hinaus

während

der

zur

permanenten

Berücksichtigung

ganzen W a h l p e r i o d e

angehalten158.

des Diese

Volkswillens gegenseitige

A b h ä n g i g k e i t u n d V e r a n t w o r t l i c h k e i t m ä ß i g t auch die j e w e i l i g e M a c h t a u s ü b u n g u n d b e d e u t e t eine G e w a l t e n t e i l u n g . I n r e p r ä s e n t a t i v e n D e m o k r a t i e n , d i e d u r c h eine s t ä r k e r e K o m b i n a t i o n r e p r ä s e n t a t i v e r

und

p l e b i s z i t ä r e r K o m p o n e n t e n gekennzeichnet sind, e r h ä l t die V o l k s m e h r heit

i n der

Balancierung

der

Macht

zwischen R e p r ä s e n t a n t e n

und

R e p r ä s e n t i e r t e n größeres G e w i c h t . I n der Schweiz t r e t e n P a r l a m e n t s mehrheit

und

Volksmehrheit

über

die

temporale

Gewaltenteilung

d u r c h W a h l e n h i n a u s i n K o n k u r r e n z u n d k o n t r o l l i e r e n sich gegenseitig. Volksbegehren

und

Volksentscheid

werden

deshalb

weitgehend

als

Instrument der K o n t r o l l e jeder A r t v o n Opposition empfunden 159. D i e klassische h o r i z o n t a l e G e w a l t e n t e i l u n g t r i t t i n d e r n e u e r e n Z e i t z u r ü c k 1 6 0 gegenüber d e r B e g r e n z u n g des M e h r h e i t s p r i n z i p s d u r c h d i e föderative S t r u k t u r i n vielen Staaten161. Die modernen Bundesstaaten v e r t e i l e n die M a c h t einerseits a u f verschiedene d e m o k r a t i s c h l e g i t i m i e r t e 1 6 2 selbständige E n t s c h e i d u n g s z e n t r e n 1 6 8 i m S i n n e e i n e r v e r t i k a 158

Die Einrichtung der Meinungsforschung k a n n andererseits die Parlamentarier zu Sklaven wechselnder statistischer Erhebungen des Mehrheitswillens des Volkes degradieren u n d sie ihre selbständige Aufgabe u n d V e r antwortung aus den Augen verlieren lassen. 159 Z u r K o n t r o l l f u n k t i o n des Referendums i n den Händen der Opposition s. Schambeck, Herbert, Das Volksbegehren, Tübingen 1971 (Recht u n d Staat 400/401), S. 36; Lehmbruch, Gerhard, Porporzdemokratie, Tübingen 1965, S. 50; da i m Plebiszitär geöffneten System eine kontinuierliche Tätigkeit gegen eine referendumsfähige Opposition auf Dauer nicht möglich ist, ist die Referendumsmöglichkeit eine der Wurzeln der Schweizer Konkordanzdemokratie, s. Neidhart, Leonhard, Plebiszit u n d pluralitäre Demokratie, B e r n 1970, S. 287 ff. Steiner, Jürg, Proporzdemokratie u n d Opposition, Die Schweizerische Referendumsdemokratie, i n Oberreuter, Heinrich (Hrsg.), Parlamentarische Opposition, Hamburg 1975, S. 128 ff. (136 ff.). 160 s. Stern, Staatsrecht, Bd. I I (Anm. 148), S. 553; Peters, Hans, Die Gewaltentrennung i n moderner Sicht (1954), i n Rausch (Anm. 148), S. 78 ff. (91 f.). 161 Vgl. Vile, M . J.C., The Structure of American Federalism, Oxford 1961, S. 30 "Federalism denies the v a l i d i t y of simple m a j o r i t y rule over the whole country on all issues". Eine vergleichende Übersicht über die verschiedenen Bundesstaaten findet sich bei Ermacora, Felix, Allgemeine Staatslehre, B e r l i n 1970, S. 621 ff. 162 s. eingehend Böckenförde, Ernst-Wolf gang, Sozialer Bundesstaat u n d parlamentarische Demokratie, i n P o l i t i k als Gelebte Verfassung, Festschrift F. Schäfer, Opladen 1980, S. 182 ff. (189 f.). 163 Scheuner, Ulrich, S t r u k t u r u n d Aufgabe des Bundesstaates i n der Gegenwart. Z u r Lehre v o m Bundesstaat (1962), i n Staatstheorie u n d Staatsrecht, B e r l i n 1978, S. 415 ff. (418, 427) hat diesen Begriff i n die Diskussion eingebracht, der weitgehend aufgegriffen wurde; s. Hesse, Konrad, Bundesstaatsreform u n d Grenzen der Verfassungsänderung, AöR 98 (1973), S. 1 ff. (14 f.) m w N , sowie Stern, Staatsrecht, Bd. I (Anm. 32), S. 492.

248

V I I . Heteronome Begrenzungen des Mehrheitsprinzips

l e n G e w a l t e n t e i l u n g 1 6 4 u n d ergänzen diese andererseits d u r c h F o r m e n e i n e r h o r i z o n t a l e n G e w a l t e n t e i l u n g 1 6 5 , die m i t d e r z u n e h m e n d e n N o t w e n d i g k e i t u n d F o r d e r u n g , e i n h e i t l i c h e L e b e n s v e r h ä l t n i s s e z u sichern, e r h ö h t e B e d e u t u n g e r l a n g e n , da diese T e n d e n z des m o d e r n e n Sozialstaats z u r U n i t a r i s i e r u n g d i e s t a a t l i c h e n A u f g a b e n des B u n d e s e r h e b l i c h a u s w e i t e t 1 6 6 . A l s F o l g e dieses Prozesses 1 6 7 h a t sich z u n e h m e n d e i n kooperativer

Föderalismus168

e n t w i c k e l t , d e r eine ganze P a l e t t e

Koordinations- u n d Kooperationsformen zwischen B u n d u n d

von

Ländern

sowie z w i s c h e n d e n e i n z e l n e n L ä n d e r n u m s c h l i e ß t 1 6 9 . Dieser V o r g a n g h a t nicht n u r den hinsichtlich der Aufgaben u n d Kompetenzen verflochten e n B u n d e s s t a a t d e r B u n d e s r e p u b l i k D e u t s c h l a n d 1 7 0 , s o n d e r n auch die

164 Kägi, umfassende Gewaltenteilung (Anm. 151), S. 307; Steffani (Anm. 151), S. 340 ff.; Stern, Staatsrecht, Bd. I I (Anm. 148), S. 553 m w N . 165 Hesse, Konrad, Der unitarische Bundesstaat, Karlsruhe 1962, S. 27; ders. f Bundesstaatsreform (Anm. 163), S. 12; Stern, Staatsrecht, Bd. I (Anm. 32), S. 493. 168 Hesse, Bundesstaat (Anm. 165), S. 13; Lerche, Peter, Föderalismus als nationales u n d internationales Ordnungsprinzip, V V D S t R L 21 (1964), S. 66 ff. (68 ff.); Ehringhaus, Henner, Der kooperative Föderalismus i n den Vereinigten Staaten v o n A m e r i k a , F r a n k f u r t 1971, S. 61 f., 188 f. 187 Nicht zuletzt als Gegengewicht gegen die Konzentrierung der Kompetenzen beim B u n d s. Häfelin, Ulrich, Der kooperative Föderalismus i n der Schweiz, Referate u n d M i t t e i l u n g e n des Schweizerischen Juristenvereins 103 (1969), ZSR N. F. 88 I I (1969), S. 549 ff. (571); gleichzeitig w i r k t diese Kooperat i o n wiederum unitarisierend s. Hesse, Konrad, Aspekte des kooperativen Föderalismus i n der Bundesrepublik, i n Festschrift Gebhard Müller, T ü b i n gen 1970, S. 141 ff. (145). 188 Z u diesem Begriff s. Kewenig, W i l h e l m , Kooperativer Föderalismus u n d bundesstaatliche Ordnung, A ö R 93 (1968), S. 433 ff. (439 ff.); Häfelin (Anm. 167), S. 572 ff.; Scheuner, Ulrich, Kooperation u n d K o n f l i k t . Das Verhältnis v o n B u n d u n d Ländern i m Wandel (1972), i n Staatstheorie u n d Staatsrecht, B e r l i n 1978, S. 399 ff. (399 A n m . 2) u n d die zahlreichen Nachweise bei Lerche (Anm. 166), S. 70 f. A n m . 18; vgl. auch vergleichend Bothe, Michael, Die K o m petenzstruktur des modernen Bundesstaates i n rechtsvergleichender Sicht, B e r l i n u. a. 1977, S. 276 f., 278 ff.; i m Sinne einer gegenseitigen Hemmung i m H i n b l i c k auf das Mehrheitsprinzip k o m m t hier i n erster L i n i e das M i t - u n d Gegeneinander zwischen B u n d u n d Ländern, weniger das — kooperative — Nebeneinander der Länder i n Betracht (zur Terminologie s. Stern, Staatsrecht I (Anm. 32), S. 493). 189 Vgl. etwa Häfelin (Anm. 167), S. 577 ff.; Dominicé, Christian, Fédéralisme coopératif. Referate u n d M i t t e i l u n g e n des Schweizerischen Juristenvereins 103 (1969), ZSR N. F. 88 I I (1969), S. 743 ff. (795 ff.); Ehringhaus (Anm. 166), S. 72 ff. 170 Dazu Böckenförde, Sozialer Bundesstaat (Anm. 162), S. 185 ff. m w N ; vgl. auch Scheuner, Kooperation u n d K o n f l i k t (Anm. 168), S. 399 ff.; ders., Wandlungen i m Föderalismus (Anm. 84), S. 448 ff.; Hesse, Aspekte (Anm. 167), S. 141 ff. sowie die die informelle Koordination beschreibende p o l i t i k wissenschaftliche Analyse v o n Kunze, Renate, Kooperativer Föderalismus i n der Bundesrepublik, Stuttgart 1968, u n d Kisker, Gunter, Kooperation i m Bundesstaat, Tübingen 1971; dort zur Kooperation v o n B u n d u n d Ländern. S. 72 ff., 158 ff.

Β . Verfassung u n d Gewaltenteilung

249

a u f eine schärfere F u n k t i o n e n t r e n n u n g a n g e l e g t e n 1 7 1 V e r e i n i g t e n Staat e n 1 7 2 erfaßt. Ä h n l i c h e E n t w i c k l u n g e n lassen sich i n d e n föderalistischen Staaten der Schweiz173, v o n Österreich 174, K a n a d a u n d A u s t r a l i e n 1 7 5 beobachten. A u f g r u n d ihrer demokratischen S t r u k t u r u n d Legitimation w i r k e n die verschiedenen M e h r h e i t e n d e r L ä n d e r u n d des B u n d e s i n e i n e m M i t - u n d G e g e n e i n a n d e r a u f sich gegenseitig e i n u n d e r f ü l l e n a u f diese Weise F u n k t i o n e n d e r B e s c h r ä n k u n g u n d K o n t r o l l e . W e n n C a l h o u n i m l e t z t e n J a h r h u n d e r t d i e A u t o n o m i e d e r B u n d e s s t a a t e n überzeichnete, e n t s p r i c h t seine V o r s t e l l u n g v o n d e n c o n c u r r e n t m a j o r i t i e s 1 7 6 h e u t e fast eher d e r W i r k l i c h k e i t . A l l e r d i n g s b e w i r k t die a l l g e m e i n e T e n d e n z z u e i n e m k o o p e r a t i v e n F ö d e r a l i s m u s , daß das M e h r h e i t s p r i n z i p i n f o l g e einer generellen Schwächung der Parlamente an Bedeutung verliert, da d i e F o r m e n d e r K o o p e r a t i o n , d i e K o o r d i n a t i o n d u r c h V e r t r ä g e u n d d i e besseren, s t ä n d i g e n K o n t a k t m ö g l i c h k e i t e n d e r E x e k u t i v e diese e i n d e u t i g b e v o r z u g e n u n d i h r stärkeres G e w i c h t v e r l e i h e n 1 7 7 . 171 s. Fraenkel, Ernst, Das amerikanische Regierungssystem, 3. A u f l . Opladen 1976, S. 104 ff.; Wheare, K . C. (Federal Government), Föderative Regierung, München 1959, S. 1 ff., bes. 6, 12 f., 16, 22, 45 f.; Steinberger, Helmut, Konzeption u n d Grenzen freiheitlicher Demokratie, B e r l i n u. a. 1974, S. 104; zum dual federalism s. auch Hilf, Meinhard, Das 10. Amendment i m Wandel des Föderalismus i n den Vereinigten Staaten v o n Amerika, JöR N. F. 22 (1973), S. 595 ff. (603 ff.). 172 s. ViZe (Anm. 161), S. 66 f., 193 ff.; Birch , A n t h o n y Harold, Federalism, Finance and Social Legislation i n Canada, Australia and the United States, Oxford 1955, S. 39 ff.; Hilf (Anm. 171), S. 612 ff.; Kewenig (Anm. 168), S.433 ff.; Scheuner, Kooperation u n d K o n f l i k t (Anm. 168), S. 418 A n m . 13; ders., Wandlungen i m Föderalismus (Anm. 84), S. 449 f.; sowie Ehringhaus (Anm. 166); u n d zuletzt Riechmann, Volkhard, Die Vorbereitung bundeseinheitlicher gliedstaatlicher Gesetzgebung i n den Vereinigten Staaten v o n A m e r i k a als Problem des kooperativen Föderalismus, F r a n k f u r t 1978, S. 10 ff. 173 s. Häfelin (Anm. 167), S. 570 ff.; Dominicé (Anm. 169), S. 791 ff. z u m Zurückdrängen des bundesstaatlichen Mehrheitsprinzips, Siegrist, Ulrich K., Die schweizerische Verfassungsordnung als Grundlage u n d Schranke des interkantonalen kooperativen Föderalismus, Bd. I : Grundlagen, Zürich 1976, S. 80 ff. 174 Ermacora, Felix, österreichischer Föderalismus. V o m patrimonialen zum kooperativen Bundesstaat, W i e n 1976, S. 141 ff. 175 Birch (Anm. 172), S. 290 f., 304 ff.; zur neuesten E n t w i c k l u n g des kanadischen Föderalismus vgl. auch McWhinney, Edward, Quebec Nationalism and Canadian Federalism. JöR Ν . F. 28 (1979), S. 673 ff.; auch i n Indien k o m m t es zu einer Kooperation v o n B u n d u n d Ländern, s. Birch , S. 293 ff. 179 Vgl. Calhoun , John C., A Discourse on the Constitution and Government of the United States, i n Works Vol. I, Columbia 1851, S. 111 ff. (229 ff., vgl. auch 274 f.). 177 Kisker (Anm. 170), S. 120 ff., 229 f.; Hesse, Aspekte (Anm. 167), S. 148; Schneider, Herbert, Länderparlamentarismus, Opladen 1979, S. 17 ff. auch w e i l Verantwortung nicht mehr zurechenbar ist ebd. S. 20; das g i l t gleichermaßen für die Schweiz, dazu Siegrist (Anm. 173), Bd. I I : Schranken, Zürich 1978, S. 93 ff. u n d bedeutet dort zudem auch eine Schwächung der plebiszitä-

250

V I I . Heteronome Begrenzungen des Mehrheitsprinzips

Darüber hinaus kann die konsensuale Einigungsform die Maßgeblichkeit des demokratischen Mehrheitswillens des gesamten Volkes i m Bund i m Wege einer A r t Allparteienregierung verringern 1 7 8 und die Anwendung des Mehrheitsprinzips weiter zurückdrängen. Hier droht die Gewaltenteilung und Mäßigung soweit zu gehen, daß sie politische Mehrheitsentscheidungen und die Verantwortlichkeit der Mehrheit i m Parlament geradezu verhindern. Eine fragwürdige Durchbrechung der Gewaltenteilung zugunsten des unitarischen Mehrheitsprinzips bedeutet es dagegen, wenn die Bundesorgane nach einem Wahlsieg ihrerseits die Länderparlamente auflösen können 1 7 9 . Keine konsensuale Struktur i m Sinne des kooperativen Föderalismus 1 8 0 zeigt die horizontale Gewaltenteilung durch eine die Länderinteressen verkörpernde zweite Kammer 1 8 1 . Unitarisches und föderatives Organ sind hier zu einer M i t w i r k u n g gezwungen, die i n der Regel zu einer Übereinstimmung der jeweiligen Mehrheiten beider Beschlußkörper führen muß, gelegentlich aber sogar eine Annäherung an einen einstimmigen Konsens erfordert, wenn unterschiedliche Parteienmehrheiten die beiden Kammern beherrschen und die parteipolitischen Präferenzen die Länderinteressen überlagern 1 8 2 . Ein anderes Modell doppelter, sich kontrollierender Mehrheiten stellt ein Zweikammersystem dar, das nicht i n der föderativen Struktur begründet ist, sondern eine Kammer kennt, die weder nach dem Senats- noch dem Bundesratsprinzip gebildet wird, wie etwa das m i t geringen Kompetenzen ausgestattete englische Oberhaus 183 . Die verschiedenen Wirtschaftsräte 1 8 4 ren Elemente, ebd. S. 99 ff.; wesentliche Bedeutung haben i n diesem Zusammenhang aucii die informellen Kontakte u n d Kooperationsformen, s. dazu Bothe (Anm. 168), S. 107 ff.; u n d für die Besprechungen der Regierungschefs gleichfalls vergleichend Kunze (Anm. 170), S. 46 ff. 178 Vgl. Böckenförde, Sozialer Bundesstaat (Anm. 162), S. 192 ff.; bis zu einem gewissen Grad ist das sicher i m Sinn einer Gewaltenteilung, allerdings gilt es nur, das richtige Maß zu finden. 179 Z u dieser indischen Besonderheit s. Kapur, J. L., The Nature and Structure of Federalism i n India, JöR Ν . F. 26 (1977), S. 539 ff. (574 ff.). 180 So etwa ausdrücklich Hesse, Aspekte (Anm. 167), S. 153; zur Zusammenarbeit der Länder u n d dem Prinzip der Einstimmigkeit s. auch Feuchte, Paul, Die bundesstaatliche Zusammenarbeit i n der VerfassungsWirklichkeit der Bundesrepublik Deutschland, AöR 98 (1973), S. 473 ff. (499 ff.). 181 Da hier das Mehrheitsprinzip gilt; z . B . der Senat der USA; der B u n desrat i n der Bundesrepublik u n d i n Österreich sowie der Ständerat i n der Schweiz. 182 Hier gewährt die Bundesrepublik i n den letzten Jahren reichlich A n schauungsmaterial. 183 s. dazu Löwenstein, Staatsrecht Großbritannien (Anm. 46), Bd. I, S. 255 ff.

251

Β . Verfassung u n d Gewaltenteilung üben

dagegen m i t

Senats

186

Ausnahme

des I r i s c h e n 1 8 5

und

des

Bayerischen

r e i n b e r a t e n d e F u n k t i o n aus, ohne das u n i t a r i s c h e M e h r h e i t s -

prinzip i m Parlament wesentlich zu hemmen. D i e B u n d e s s t a a t l i c h k e i t sichert z u m e i n e n die i n d i v i d u e l l e

Freiheit

durch Machtteilung u n d Machtbalance187, enthält ein Element der Mäßig u n g 1 8 8 , g e w ä h r t z u m a n d e r e n i m H i n b l i c k a u f das M e h r h e i t s p r i n z i p i n besonderem Maß einen Minderheitenschutz, der sowohl

strukturellen

M i n d e r h e i t e n 1 8 9 w i e jeder politischen Opposition190 zugute k o m m t u n d als I n t e g r a t i o n s f a k t o r f u n g i e r t . Gleichfalls

einen Minderheitenschutz

i m Interesse d e r

Gesamtheit

bezweckt das E r f o r d e r n i s d e r q u a l i f i z i e r t e n M e h r h e i t 1 9 1 , das j e d e n f a l l s 184 s. n u r Sperling, Dietrich, Wirtschaftsräte i m Europäischen Verfassungssystem, JöR N. F. 14 (1965), S. 195 ff.; Bryde, B r u n - O t t o , Zentrale Wirtschaftspolitische Beratungsgremien i n der Parlamentarischen Verfassungsordnung, F r a n k f u r t 1972; kurzer Überblick bei Winterhoff, Karsten, Historischer u n d vergleichender Überblick über Modelle eines Wirtschafts- u n d Sozialrats i n Deutschland u n d i n den Nachbarstaaten, JöR N. F. 25 (1976), S. 115 ff. 185 A r t . 20 ff. Irische Verfassung, dazu Winterhoff (Anm. 184), S. 125. ΐ8β fat 3 4 f f Β γ . d a z u Schweiger, i n Nawiasky / Leusser / Gerner / Schweiger / Zacher, Die Verfassung des Freistaates Bayern, Kommentar, 2. A u f l . München 1976, A r t . 34 ff. 187 Die gewaltenteilende F u n k t i o n w i r d zum T e i l als entscheidende Legitimation des Bundesstaates angesehen; i n diesem Sinne s. bereits Tocqueville (Anm. 2), S. 128 f.; vgl. auch 302 f. sowie The Federalist Nr. 10; Hesse, B u n desstaat (Anm. 165), S. 26 ff.; Peters (Anm. 160), S. 101; Kägi, umfassende Gewaltenteilung (Anm. 151), S. 307; Stern, Staatsrecht, Bd. I I (Anm. 148), S. 553; Ermacora, Staatslehre (Anm. 161), S. 622, 650 f.; Schambeck, Herbert, Föderalismus u n d Gewaltenteilung, Festschrift für Geiger, Tübingen 1974, S. 643 ff. (661 ff.); BVerfGE 12, 205 (229); ablehnend demgegenüber jedenfalls hinsichtlich alleiniger Legitimation Lerche (Anm. 166), S. 78 ff.; zu anderen Funktionen des Bundesstaats u n d gleichfalls gegen Gewaltenteilung Scheuner, Ulrich, Das Grundgesetz i n der Entwicklung zweier Jahrzehnte, AöR 95 (1970), S. 350 ff. (399); sehr kritisch zum Bundesstaat unter dem Aspekt der Parlamentssouveränität Dicey (Anm. 46), S. 175, da der Föderalismus eine Begrenzung (der Mehrheit) durch die Verfassung beinhalte, der letztlich zu einer Herrschaft der Richter führe. 188 s. McWhinney, Edward, Federalism, Nationalism and Constitution-making, JöR Ν . F. 16 (1967), S. 67 ff. (73); " w o r k i n g federalism rests on the notion of compromise and a general spirit of moderation and political give and take". 189 s. insbes. für die Schweiz Schäppi (Anm. 57), S. 138 ff. 100 Diese F u n k t i o n t r i t t dort i n den Vordergrund, w o stammesmäßige, k o n fessionelle Unterschiede u n d historische Bindungen zurücktreten, s. Hesse, Bundesstaat (Anm. 165), S. 12; ders., Bundesstaatsreform (Anm. 163), S. 13; vgl. auch Scheuner, Grundgesetz i n der E n t w i c k l u n g (Anm. 187), S. 399; Schambeck, Föderalismus (Anm. 187), S. 667 f.; andererseits k a n n der B u n d gleichzeitig wieder der A n w a l t für Minderheiten i n dem einzelnen Land sein, s. McWhinney, Edward, Die Nützlichkeit des Föderalismus i n einem revolutionären Zeitalter, i n Laufer, Heinz (Hrsg.), Föderalismus, München 1973, S. 53 ff. (67 ff.). 191 Meist w i r d das Erfordernis qualifizierter Mehrheiten n u r erhebliche politische Minderheiten schützen, da strukturelle Minderheiten oft nicht so

252

V I I . Heteronome Begrenzungen des Mehrheitsprinzips

die Zustimmung eines Teils der bei einfachen Mehrheiten ausgeschlossenen Minderheit voraussetzt 102 . Soweit Verfassungen nur auf diese Weise geändert werden können, kommt darin die Funktion der Verfassung, den rechtlichen Grundkonsens, der auch den Individual- und Minderheitenschutz zum Teil fixiert und einschließt, einfachen Mehrheitsentscheidungen zu entziehen, zum Ausdruck. Die qualifizierten Zustimmungserfordernisse verdeutlichen das komplizierte Geflecht der demokratischen Legitimitätsbedingungen, i n die das Mehrheitsprinzip eingebunden ist. Qualifizierungserfordernisse können sowohl für Volksabstimmungen wie auch i m Bereich des Parlaments gelten 1 9 3 , wobei die Qualifizierung i m Parlament letztlich auch der Wählermehrheit Grenzen setzt. Das Vetorecht einer Minderheit, die Sperrminorität 1 9 4 , ist i n den Auswirkungen fast identisch m i t einem entsprechenden Erfordernis einer qualifizierten Mehrheit, wenn die Begrenzung des Mehrheitsprinzips auch i n Umkehrung der qualifizierten Mehrheit eine ausdrückliche Entscheidung der Minderheit verlangt. Das Vetorecht des Präsidenten i n den Vereinigten Staaten, das i h m erlaubt, einfachen Mehrheitsentscheidungen des Kongresses die Wirksamkeit zu versagen, es sei denn, dort bestätigt eine qualifizierte Mehrheit die ursprüngliche Entscheidung 195 , groß sind, daß sie über eine Sperrminorität i n V o l k u n d Parlament verfügen. Über den Minderheitenschutz hinaus dient aber das Qualifizierungserfordernis der Stabilität der Verfassung als eines geordneten Rahmens u n d besitzt verfassungsschützende Funktion. Weniger bedeutsam ist der Gesichtsp u n k t höherer Vernünftigkeit, der durch eine qualifizierte Mehrheit b e w i r k t werden soll (s. o. I I I ) ; vgl. zum Gesichtspunkt der Begrenzung des Mehrheitsprinzips auch Stawski (Anm. 61), S. 129 ff.; gleichzeitig k o m m t die vertragliche Komponente der Verfassung i n dem Qualifizierungserfordernis zum Vorschein. Gerade w e n n Minderheiten i n einem Staat vereinigt sind, k o m m t der Vertragscharakter einer Verfassung deutlich zum Ausdruck. So begreift auch McWhinney, Nützlichkeit des Föderalismus (Anm. 190), S. 61, die kanadische Verfassung als Vertrag zwischen englischen u n d französischen Kanadiern. Darüber hinaus w i l l Ehmke, Horst, Grenzen der Verfassungsänderung, B e r l i n 1953, S. 128, jede Verfassungsänderung davon abhängig machen, daß sie jedenfalls nicht gegen den W i l l e n der Opposition erfolgt. 192 Insoweit ist das Qualifizierungserfordernis k e i n eigentliches M i n d e r heitenrecfrt i m Sinne eines Anspruchs, s. Schäfer (Anm. 110), S. 81 f.; vgl. auch BVerfGE 44, 125 (141). 193 Z u den Einzelheiten s. ο. I V , A , 4. 194 Die scharfe Gegenüberstellung v o n Sperrminorität u n d qualifizierter Mehrheit bei Achterberg, Verhandlung (Anm. 106), S. 51 ist daher i m Grunde verfehlt. Der qualifizierten Mehrheit dürfte, da die positive Entscheidung u n d aktive Rolle der Mehrheit zugewiesen ist, sogar stärkere W i r k u n g zukommen als dem Veto, bei dem die M i n o r i t ä t a k t i v mittels einer eigenen Entscheidung der Mehrheit entgegentreten muß; allgemein zum Veto i n der Demokratie als Moment der Konkordanzdemokratie Lijphart (Anm. 71), S. 36 ff. 195 A r t . 1 Sect. 7 Abs. 2 US-Verf.; s. dazu Fraenkel, A m e r i k . Regierungssystem (Anm. 171), S. 320 ff. vgl. auch Stawski (Anm. 61), S. 132 f.

Β . Verfassung u n d Gewaltenteilung

253

s t e l l t dagegen eher d i e n o t w e n d i g e B a l a n c e i n e i n e m v o n s t r i k t e r G e w a l t e n t r e n n u n g b e h e r r s c h t e n S y s t e m h e r als e i n e n M i n d e r h e i t e n s c h u t z z u beabsichtigen. E i n e absolute S c h r a n k e f ü r d e n M e h r h e i t s w i l l e n e r r i c h t e n p o s i t i v e V e r f a s s u n g s b e s t i m m u n g e n , d i e einzelne g r u n d l e g e n d e M a t e r i e n v o n j e d e r Ä n d e r u n g a u s n e h m e n 1 9 6 . A u ß e r d e m ist d e r Verfassungsgesetzgeb e r a n e i n i g e G r u n d l a g e n d e m o k r a t i s c h e r V e r f a s s u n g s s t a a t l i c h k e i t geb u n d e n , d i e aus d e m V e r f a s s u n g s z u s a m m e n h a n g z u erschließen s i n d u n d teilweise m i t naturrechtlichen Vorstellungen korrespondieren 197. I n diesen F ä l l e n ist das M e h r h e i t s p r i n z i p v ö l l i g außer G e l t u n g gesetzt. E i n e — m ö g l i c h e — andere E n t s c h e i d u n g des p o u v o i r c o n s t i t u a n t , die diese G r e n z e n ü b e r s c h r e i t e n w ü r d e , w ü r d e d a m i t d i e B e d i n g u n g e n d e m o k r a t i s c h e r L e g i t i m i t ä t ü b e r s e h e n u n d deshalb i l l e g i t i m s e i n 1 9 8 . Eine institutionelle Stärkung u n d Garantie erfährt Verfassung u n d der Grundrechte v o r wechselnden

d e r Schutz d e r Parlamentsmehr-

h e i t e n d u r c h eine ausgebildete V e r f a s s u n g s g e r i c h t s b a r k e i t 1 9 9 , d i e d i e i n . ,• j 19β s. insbes. A r t . 79 I I I GG; 112 13 N o r w . V e r f . ; 139 I t a l . V e r f . ; 89 V frz. Verf. 58. 197 s. Ehmke, Grenzen der Verfassungsänderung (Anm. 191), S. 85 ff.; zu einer B i n d u n g des Mehrheitsprinzips an überpositives Recht u n d Naturrecht s. BVerfGE 1, 14 (18, 61); aus den Beratungen des Parlamentarischen Rates s. JöR N.F. 1 (1951), S. 29, 42; vgl. auch Doehring (Anm. 139), S. 179, 185 ff.; vgl. außerdem Bachof, Otto, Verfassungswidrige Verfassungsnormen (1951), jetzt i n Wege zum Rechtsstaat, Königstein/Ts. 1979, S. 1 ff.; andererseits darf — u m der historischen E n t w i c k l u n g w i l l e n — nicht jede Verfassungsänderung v o n dem Erfordernis der Einstimmigkeit abhängig gemacht werden; s. Ehmke, S. 127; zum Naturrecht als Grenze der Mehrheitsentscheidung s. auch Commager (Anm. 61), S.95 ff. 198 Insofern ist das Volkssouveränitätsprinzip i n seiner absoluten F o r m demokratisch illegitim. 199 Kurzer vergleichender Überblick unter dem Gesichtspunkt der Begrenzung des Gesetzgebers bei Cappelletti , Mauro / Ritterspach, Theodor, Die gerichtliche K o n t r o l l e der Verfassungsmäßigkeit der Gesetze i n rechtsvergleichender Betrachtung, JöR N. F. 20 (1971), S. 65 ff.; für die USA vgl. Haller, Walter, Supreme Court u n d P o l i t i k i n den USA, B e r n 1972, S. 320 ff.; f ü r I r l a n d Boldt (Anm. 54), S. 244 ff.; für Frankreich s. Ress (Anm. 50), S. 143 ff., 165 ff.; zu Recht betont Scheuner, Ulrich, Verfassungsgerichtsbarkeit u n d Gesetzgebimg, DÖV 33 (1980), S. 473 ff. (479 f.) deshalb die Bedeutung der Verfassungsgerichtsbarkeit i n den USA, der Schweiz u n d der Bundesrepublik als Element des Ausgleichs gegenüber einer reinen Mehrheitsherrschaft; neuerdings ist eine Verfassungsgerichtsbarkeit auch i n Griechenland, Portugal u n d Spanien sowie i n Schweden (seit 1979) vorgesehen. Z u r verfassungsgerichtlichen Normenkontrolle i n Portugal s. Schmid (Anm. 54), S. 227 f.; zur Normenkontrolle i n Spanien Faller, Hans-Joachim, Das spanische Verfassungsgericht, JöR N. F. 29 (1980), S. 279 ff. (283 f.); eine Verfassungsbeschwerde gegen Gesetze ist allerdings nicht möglich, ebd. S. 289; zu den eingeschränkten Möglichkeiten einer Normenkontrolle i n den Commonwealth Staaten s. Doeker (Anm. 46), S. 116 ff., für Schweden s. Bergh, Carl Herman, Grundrechtsschutz i m schwedischen Verfassungsrecht, EuGRZ 7 (1980), S. 579 ff. (588).

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V I I . Heteronome Begrenzungen des Mehrheitsprinzips

der Verfassung niedergelegten Individualrechte 2 0 0 und Minderheitenrechte 2 0 1 vor Eingriffen des einfachen Gesetzgebers bewahrt. Die umfassend ausgestalteten Befugnisse des Bundesverfassungsgerichts leiten sich aus der von der geschichtlichen Erfahrung bewegten Sorge des Verfassungsgebers u m die Verfassung her 2 0 2 . I n anderen Ländern konnte mehr auf die Verankerung der Verfassung i n den Grundüberzeugungen der Bevölkerung und der E l i t e 2 0 3 vertraut werden. Die i n der politischen K u l t u r und der Rechtstradition begründete, nicht ausdrücklich fixierte Einbindung des Parlaments und seiner jeweiligen Mehrheit entfaltet eine subtilere Wirksamkeit und legt diesen m i t eher sanfter Gewalt eine eigentümliche Zurückhaltung auf 2 0 4 . Diese unsichtbare Schranke lenkt den Blick auf andere außerrechtliche Begrenzungen des Mehrheitsprinzips. Mehrheitsentscheidungen i n Volksabstimmungen und i m Parlament sind vielfältige faktische Grenzen gesetzt 205 , die oft verfassungsrechtlich legitimiert sind, jedoch weit über den verfassungsrechtlichen Rahmen hinausreichende Wirkungen entfalten. I n erster Linie ist an die Gegenmacht der öffentlichen Meinung i n allen Ausfächerungen zu denken, die i n vielem die ursprünglich dem Parlament der Regierung gegenüber obliegende Kontrollfunktion nunmehr gegenüber der Parlamentsmehrheit w a h r n i m m t 2 0 6 . Zudem vermag i n einer pluralistischen Gesellschaft die Macht der Verbände 2 0 7 und gesellschaftlichen Gruppen außer ihrem Einfluß auf Mei200 i 3 e r Grundrechtsschutz n i m m t i m allgemeinen den größten T e i l der Aufgaben des jeweiligen Verfassungsgerichts ein, i m amerikanischen System spielt eine besondere Rolle auch die due process clause, die "key-concept i n the establishment of constitutional l i m i t a t i o n by j u d i c i a l review" ist, Pritchett , C. Hermann, The American Constitution, New Y o r k 1959, S. 488, ebd. S. 488 ff. zum due process; s. auch dazu Deppeier, Rolf, Due Process of Law. E i n Kapitel Amerikanischer Verfassungsgeschichte, B e r n 1957. 201 A l s Minderheitenschutz begreifen die Verfassungsgerichtsbarkeit Kelsen, Hans, Wesen u n d Entwicklung der Staatsgerichtsbarkeit, V V D S t R L 5 (1929), S. 30 ff. (80 f.); Steffani, Winfried, Verfassungsgerichtsbarkeit u n d demokratischer Entscheidungsprozeß, i n Häberle, Peter (Hrsg.), Verfassungsgerichtsbarkeit, Darmstadt 1976, S. 374 ff. (380 ff.); minderheitsschützende W i r k u n g entfalten i m wesentlichen allerdings wiederum n u r die Grundrechte. 202 Scheuner, Verfassungsgerichtsbarkeit (Anm. 199), S. 479. 203 s. ο. V , A . 204 s. Löwenstein, Staatsrecht Großbritannien (Anm. 46), Bd. I I , S. 266 f. 205 Selbst der klassische Vertreter unbegrenzter Parlamentssouveränität hat bereits de facto Grenzen anerkannt, Dicey (Anm. 46), S. 76 ff.; vgl. dazu Petersmann (Anm. 47), S. 268. 206 Die „Verlängerung der Opposition" deutet bereits auf diese E n t w i c k l u n g hin. 207 Vgl. den T i t e l einer Studie v o n Theodor Eschenburg „Herrschaft der Verbände" u n d die Studie v o n Böckenförde, Ernst-Wolf gang, Die politische F u n k t i o n wirtschaftlich-sozialer Verbände u n d Interessenträger i n der sozialstaatlichen Demokratie. E i n Beitrag zum Problem der „Regierbarkeit", Staat 15 (1976), S. 457 ff.

Β . Verfassung u n d Gewaltenteilung

255

nungen und Willensbildung und auf das Gesetzgebungsverfahren einen Druck auszuüben, der Mehrheitsentscheidungen auch i n der Form von Gesetzen i m Ansatz erstickt, Mehrheitsentscheidungen blockiert 2 0 8 . Wenn die neuere Entwicklung sogar Beispiele vorführt, daß parlamentarische Mehrheitsentscheidungen unterlaufen werden oder, noch bedenklicher, infolge offenen Widerstandes und öffentlicher Nichtbeachtung durch mächtige Interessengruppen i m Grunde gegen den Willen der Mehrheit wieder rückgängig gemacht werden müssen, ist m i t der Verbindlichkeit der Entscheidung auch das Mehrheitsprinzip insgesamt i n Frage gestellt 2 0 9 . Zusätzlich engt die Komplexität des modernen Sozialstaats den Spielraum politischer Mehrheitsentscheidungen ein 2 1 0 . Die umfassenden Aufgaben des Sozialstaats, die Sachgesetzlichkeit der wissenschaftlich-technischen Zivilisation und die Notwendigkeit langfristiger und weitreichender Planungen, die zudem vielfältiger gegenseitiger Abstimmung bedürfen, lassen nur wenige und begrenzte Alternativen zu m i t der Folge, daß die Möglichkeit zu freier, politischer Willensentscheidung zurückgedrängt w i r d zugunsten ausschließlich sachverständiger Entscheidung, die sich nurmehr als die Ermittlung der „Resultante einer komplexen Tatsachensituation" 211 darstellen und begreifen läßt. Diese Entwicklung ist auch für die Gewichtsverlagerung vom Parlament auf Regierung und Verwaltung verantwortlich, die der Bürokratie heute einen weitreichenden Einfluß selbst i n dem Gesetzgebungsprozeß verschafft 212 . Hiergegen muß dem Mehrheitswillen aber immer wieder ein weiter Gestaltungsspielraum eröffnet werden.

208 I n diesem Sinne wäre etwa i n der Bundesrepublik eine Aufhebung der industriellen Mitbestimmung zweifellos nicht möglich. I n gleicher Weise ist sogar jede Regelung des Gewerkschaftswesens i n Großbritannien derzeit blockiert. Z u m Konzept der non-decision als Entscheidung s. Bachrach, Peter / Baratz, M o r t o n S., Decisions and Non-decisions: A n A n a l y t i c a l Framework, APSR 57 (1963), S. 632 ff., insbes. S. 641 f. 209 Die Regierung Heath ist m i t ihrer Gewerkschaftsgesetzgebung i n dieser Hinsicht gescheitert, u n d hier w u r d e n i m Unterschied zu einem legitimen Widerstandsrecht nicht die Grundlagen des demokratischen Systems oder essentielle Elemente der Autonomie berührt. 210 s. Forsthoff, Ernst, Strukturwandlungen der modernen Demokratie (1964), i n Rechtsstaat i m Wandel, München 2. A u f l . 1976, S. 90 ff. (96 ff.); Hesse, Grundzüge (Anm. 84), S. 67 f. 211 Forsthoff, Strukturwandlungen (Anm. 210), S. 96. 212 Das ist letzlich der Realitätsgehalt und Anstoß der neuen Gewaltenteilungskonzeption v o n Jarass, Hans D., P o l i t i k u n d Bürokratie als Element der Gewaltenteilung, München 1975, dessen normative Komponente allerdings nicht überzeugend erscheint; erstmals i n diesem Sinne i m übrigen Kägi, U m fassende Gewaltenteilung (Anm. 151), S. 305.

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V I I . Heteronome Begrenzungen des Mehrheitsprinzips

C. Faktische Grenzen Der vorangegangene Abschnitt hat aufgezeigt, daß die Struktur moderner pluralistischer und verfassungsstaatlicher Demokratien und die Komplexität der differenzierten, wissenschaftlich-technisch geprägten Industriegesellschaft den Spielraum der demokratischen Mehrheitsentscheidungen verengen, das Mehrheitsprinzip vielfältigen Beschränkungen unterwerfen. Die Beschreibung dieser Einbindung des Mehrheitsprinzips i n das demokratische System gab aber weitgehend nur die tatsächlichen Verhältnisse wieder. Die Forderungen nach einer weiteren Demokratisierung geben Anlaß, darüber hinaus die faktischen Grenzen zu betrachten, die sich dann aus der Struktur der Mehrheitsentscheidung ergeben, wenn die Mehrheitsregel i m Bereich der Massenpartizipation angewendet w i r d und deshalb die Möglichkeiten, demokratische Entscheidungsteilhabe größerer Gruppen zu erweitern, begrenzen. Die nachfolgenden Schwierigkeiten gelten für alle Mehrheitsentscheidungen, steigern sich aber m i t wachsender Größe des Kreises der Beteiligten und hindern insoweit eine Demokratisierung i m Sinne einer Entscheidungsbeteiligung 213 . 1. Das Effektivitäts- und Zeitproblem

Auch i n den demokratischen Systemen ist die Gesellschaft insgesamt und jeder Einzelne darauf angewiesen, daß Entscheidungen getroffen werden 2 1 4 . Die vielfältigen Probleme eines modernen Gemeinwesens verlangen nach einer Lösung und Bewältigung, die jeweils definitiver, eine Vielzahl anderer möglicher Alternativen abschneidender, verbindlicher Entscheidung bedarf. Einen — speziellen — verfassungsrechtlichen Niederschlag hat der Gedanke der Effizienz i m Sozialstaatsprinzip gefunden 215 . Die Geltung des Mehrheitsprinzips selbst weist bereits i n diese Richtung, indem es auf Einstimmigkeit verzichtet 2 1 6 . Dennoch ist dies nur ein erster Schritt. Massenpartizipation i m Sinne des Mehrheitsprinzips bedeutet i m Hinblick auf die einzelne Sachentscheidung eine Einbuße an Effizienz. Dafür ist einmal das Moment der Gleichheit verantwortlich, das die unterschiedlichen Qualifikationen nicht berücksichtigen kann 2 1 7 . Das Spannungsverhältnis zwischen Massenpartizipation und Effektivität ist damit jedoch nicht erschöpft. Der Ablauf und der Charakter einer Mehrheitsentscheidung bedingen ganz einfache, pragmatische Probleme, die allerdings erhebliches Gewicht besitzen. 213 I m Gegensatz zu einer Partizipation i m Sinne bloßer Information u n d Anhörung, für die diese Schwierigkeiten i n geringerem Maß Gültigkeit haben. 214 s. o. Einleitung. 215 Ebd. 216 s. o. I I I . 217 s. o. V I , D.

C. Faktische Grenzen

257

Je mehr Akteure m i t Einwirkungsrechten und Einwirkungsmöglichkeiten am gesamten Entscheidungsprozeß beteiligt sind, desto schwieriger w i r d es, zu einer Entscheidung zu gelangen 218 . Eine an Richtigkeit und Vernünftigkeit orientierte Konzeption w i r d zum ersten durch die Kompromisse häufig Abstriche erfahren, da die Zustimmung i n der Regel ein Eingehen auf die jeweiligen Interessen der Beteiligten erforderlich macht. Das heißt gerade bei der Mehrheitsregel nicht immer, daß die Entscheidung i n ihrem Ergebnis i m Sinn der Gesamtheit optimal ausfällt, da vielfach besonders betroffene Partikularinteressen den heftigsten Widerstand ausüben. Zum zweiten gestaltet sich der Entscheidungsprozeß i n seinem Verlauf erheblich langwieriger. Der Zeitaufwand der Konsensfindung steigt, wenn nicht von vornherein die Auffassungen völlig übereinstimmen, proportional m i t der Ausdehnung des Kreises der Beteiligten 2 1 9 . Häufige Konsensfindungsprozesse strapazieren das Zeitbudget 2 2 0 . Die meisten Probleme entstehen dagegen innerhalb eines bestimmten Zeitraumes, sind nur für eine bestimmte Zeitspanne relevant und müssen daher schnell gelöst, bewältigt und entschieden werden. Eine Mehrheitsentscheidung wäre vielfach zu umständlich und würde die notwendige Entscheidung zu sehr verzögern 2 2 1 . Die Verknappung der Zeit durch das Aushandeln der Kompromisse bewirkt einen Zeitdruck, unter dem oft eine optimale Entscheidung dann nicht mehr möglich ist 2 2 2 . Kontakte zwischen wenigen Personen, die oftmals hierarchischer Natur sind, können wesentlich schneller geschlossen werden 2 2 3 , so daß eilige Entscheidungen i n geringer Zeit gefaßt werden. Die hohe Komplexität moderner Gesellschaften erfordert auch i m Hinblick auf die Knappheit der Zeit eine hohe Rollendifferenzierung 2 2 4 . Rollendifferenzierung heißt für den Einzelnen Spezialisierung, die wiederum nur die Kenntnis begrenzter Wirklichkeitsausschnitte erlaubt und auf diese Weise die unterschiedlichen Qualifikationen und Fähigkeiten der Bürger hervorbringt und fördert. Hier schließt sich der 218

Kielmansegg (Anm. 31), S. 253. s. Escheriburg, Rolf, Der ökonomische Ansatz zu einer Theorie der V e r fassung, Tübingen 1977, S. 46 ff.; jede Mitbestimmungsregelung auch i m Bereich der Wirtschaft verlängert den Entscheidungsprozeß. Die paritätische Unternehmensmitbestimmung setzt deshalb zu Recht an dem Unternehmensorgan an, das am wenigsten unter Zeitdruck steht, dem Aufsichtsrat, nicht dagegen etwa beim Vorstand. 220 Luhmann, Niklas, Die Knappheit der Zeit u n d die Vordringlichkeit des Befristeten, Die V e r w a l t u n g 1 (1968), S. 3 ff. (6). 221 Z u dem Aspekt, daß für den Einzelnen der Zeitaufwand gleichfalls ein Kostenproblem i m weitesten Sinn ist, s. u. V I I , C, 2. 222 Luhmann (Anm. 220), S. 7. 228 s. ebd. S. 15. 224 s. ebd. S. 6 f.; ganz abgesehen v o n den individuellen Fähigkeiten. 219

17 Heun

258

V I I . Heteronome Begrenzungen des Mehrheitsprinzips

Kreis zu der immanenten Begrenzung des Mehrheitsprinzips infolge ungleicher Sachkompetenz 225 . Zudem ist die physisch-psychische Informationsaufnahme- und -Verarbeitungskapazität des Menschen begrenzt 226 . Die Vielzahl und Komplexität notwendiger Entscheidungen ist nur mit einem Maß an Informationen zu bewältigen, das die Fähigkeiten des Einzelnen weit übersteigt 227 . Zielerreichungseffizienz 228 ist zwar nicht der einzige Legitimitätsfaktor politischer Entscheidungen i n einer Demokratie, keinesfalls aber können Entscheidungsregeln ausschließlich unter dem Aspekt der gewährten Partizipationschancen beurteilt werden. Zwischen beiden Zielen müssen Kompromisse gefunden werden. „Das Prinzip egalitärer Partizipation ignoriert die Spannung vollständig; es ist eine Entscheidungsregel ohne Kompromißcharakter 2 2 9 ." Ohne Effektivität ist jedoch demokratische Legitimität nicht denkbar. 2. Das Kostenproblem

Der Faktor Kosten erscheint wie das Zeitproblem als reale Begrenzung des Mehrheitsprinzips trivial, was aber seiner Bedeutung nichts nimmt. Der Begriff der Kosten w i r d hier i n einem umfassenden Sinn verstanden, der über den bloßen Geldwert hinausgeht. Jede Wahl und jede Abstimmung verursacht für die Gesamtheit erstens rein finanzielle Kosten i n erheblicher Höhe. Wenn das ganze Volk abstimmt, sind allein für die formale Durchführung der Wahl oder des Volksentscheids beträchtliche M i t t e l aufzubringen 2 3 0 . Dazu kommen die Aufwendungen für die vorherige Information der Abstimmenden, die Aufarbeitung der Alternativen und die Kandidatenauslese sowie deren Präsentation 231 . Über diese finanziellen Lasten hinaus ist 226

s. o. V I , D. Vgl. Kirsch, Werner, Entscheidungsprozesse I, Verhaltenswissenschaftliche Ansätze der Entscheidungstheorie, Wiesbaden 1970, S. 61 ff. 227 Unter dem Aspekt der Nichtvergeudung der eigenen Kapazität k a n n dies auch als Kostenproblem verstanden werden, s. Eschenburg (Anm. 219), S. 83. 228 Z u dem Begriff s. Leisner, Walter, Effizienz als Rechtsprinzip (Recht u n d Staat 402/403), Tübingen 1971, S. 7. 229 Kielmansegg (Anm. 31), S. 253. 230 v g l die notwendigen Verfahrensschritte ο. I V , C.; allein die den L ä n dern nach § 50 Β W G erstatteten Kosten für die Bundestagswahl 1976 betrugen 35 613 000 D M , s. die Übersicht bis einschließlich 1976 bei Schreiber, W o l f gang, Handbuch des Wahlrechts zum deutschen Bundestag, Bd. I : K o m mentar zum Bundeswahlgesetz, 2. A u f l . K ö l n u. a. 1980, § 50, Rdn. 3. 226

231

Bei Volksentscheiden, die auf V o l k s i n i t i a t i v e n zurückgehen, spielen nicht umsonst finanzkräftige Interessengruppen eine kritisierbare Rolle, s. o. I V , B, 2, a.

C. Faktische Grenzen

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der individuelle und kollektive Zeitaufwand i n Rechnung zu stellen, der nicht i n geldwerte Kosten eingeht. Jede Massenpartizipation müßte m i t entsprechenden finanziellen Aufwendungen rechnen. Bereits jetzt w i r d aber der Zeitaufwand und der daraus resultierende Verschleiß der führenden Politiker i n den Wahlkämpfen beklagt 2 3 2 , die vor allem i n föderalistischen Systemen m i t zeitlich verschobenen Wahlen den ständigen Einsatz der Spitzenpolitiker provozieren. Der Wahlkampf i m Vorfeld der amerikanischen Präsidentschaftswahlen beansprucht i n k l u sive der Primaries den Präsidenten sogar ein ganzes Jahr und lähmt nicht zuletzt deswegen während dieser Zeit den gesamten Regierungsbetrieb. Diese Kosten würden sich natürlich bei einer Erweiterung des Anwendungsbereichs der Mehrheitsentscheidung jeweils entsprechend der Zahl der Beteiligten und der Entscheidungen vermehren. Kosten i m weitesten Sinn entstehen aber gleichzeitig für den Einzelnen. Neben der eigentlichen Teilnahme an der abschließenden Mehrheitsentscheidung, die den geringsten Kostenanteil ausmacht, verursachen die Informationsbeschaffung sowie das Erzielen der Kompromisse, die Alternativen erst mehrheitsfähig werden lassen, den Löwenanteil an den Aufwendungen. Das Erkennen der Problematik, das A u f finden und Beschaffen des Informationsmaterials und dessen intellektuelle Verarbeitung kosten den einzelnen Bürger einen Aufwand an Zeit und möglicherweise Geld, den er für politische Zwecke zu tragen nur i n einem begrenzten Umfang bereit ist 2 3 3 . Die Teilnahme am Entscheidungsprozeß fordert Opfer an anderen Werten wie Muße, Unabhängigkeitsgefühl und anderer individueller Selbstentfaltung. Zudem 232

Vgl. etwa Dönhoff, M a r i o n Gräfin, Jenseits v o n W a h l u n d Wahlkampf, Die Zeit Nr. 40 v. 26.9.1980, S. 1. 233 Z u den Informationskosten u n d ihrer Bedeutung für den Einsatz des Einzelnen i n politischen Fragen s. v o r allem Downs , A n t h o n y , ökonomische Theorie der Demokratie, Tübingen 1968, S. 202 ff.; sowie Eschenburg (Anm. 219), S. 82 ff. Empirische Untersuchungen über den tatsächlichen Zeitaufwand gibt es w o h l auch aus praktischen Gründen nicht; selbst nicht für die Schweiz. Anhaltspunkte für die Zeiteinteilung geben allerdings die U n t e r suchungsergebnisse v o n Giger, Andreas, Der politische Bürger, Diss. Zürich 1976, S. 52 ff. Danach rangiert i n der Schweiz der Bereich der P o l i t i k i n der Einschätzung nach der persönlichen Wichtigkeit w e i t h i n t e r den Bereichen Familie, Beruf, Fortbildung, noch h i n t e r Unterhaltung/Entspannung, u n d fast auf gleicher Ebene, jedoch knapp v o r Sport. Bei stärker politisch I n t e r essierten w i r d der intellektuelle u n d zeitliche A u f w a n d für die P o l i t i k m i t geringerem A u f w a n d für den Bereich der Unterhaltung/Entspannung k o m pensiert. Auch hier ist das Zeitbudget aber natürlich begrenzt. Bezeichnend auch, daß bei häufiger Abwesenheit v o m Heimatort die Teilnahme am sozialen Leben der Gemeinde u n d damit auch das politische Interesse stark abn i m m t ; s. Steiner, Jürg, Die Anteilnahme der Stimmbürger am politischen Leben ihrer Gemeinde, Diss. B e r n 1961, S. 73. Selbst i n der Schweiz sind daher das politische Interesse, der Informationsstand u n d etwa die Häufigkeit politischer Gespräche außerhalb der engsten Familie gering; s. Steiner, S. 33 ff., 40 ff. 17·

260

V I I . Heteronome Begrenzungen des Mehrheitsprinzips

w i r d der Einzelne durch Mitentscheidung i n Verantwortung genommen, die er manchmal vermeiden w i l l 2 3 4 . Die Bereitschaft zu derartigem Aufwand stößt dann schnell an die Grenzen, die infolge der Arbeitsteilung durch den eigenen Beruf, der erhebliche Zeit frißt, und das Bedürfnis nach Entspannung gezogen werden. Die Kosten wachsen mit der Häufigkeit und Intensität der Partizipation und schnellen bald unerträglich i n die Höhe 2 3 5 . Hier liegt ein Grund für das geringe Interesse an der Politik i n den westlichen Demokratien 2 3 6 . Die Kosten aktiver Verwicklung i n den politischen Bereich stehen dann i n krassem Mißverhältnis zu dem möglichen Nutzen für den Einzelnen 2 3 7 , so daß er daran interessiert ist, nicht zu sehr involviert zu sein. Denn angesichts der infinitesimalen Einwirkungschancen ist der individuelle Nutzen bei Massenpartizipation eher gering einzuschätzen 238 .

234 s. Schonfeld, W i l l i a m R., The Meaning of Democratic Participation, W o r l d Politics 28 (1975/76), S. 134 ff. (153). 236 Kielmansegg (Anm. 31), S. 252. 236 Diesen Zusamenhang konstatiert Schonfeld (Anm. 234), S. 154 f.; zum geringen politischen Interesse s. o. V I , A u n d I V , A , 3. 237 Das ist letztlich der tragende Gesichtspunkt v o n Downs ökonomischer Demokratietheorie; vgl. auch Schonfeld (Anm. 234), S. 153, 156. 238 s. bereits oben.

V I I I . Funktionen und Bedeutung des Mehrheitsprinzips in der Demokratie Der Rückblick auf die Voraussetzungen, die Struktur und die Begrenzungen des Mehrheitsprinzips i n allen Ausformungen erlaubt zum Abschluß eine Beurteilung der Funktionen, die das Mehrheitsprinzip i n der Demokratie erfüllt, und eine kurze zusammenfassende Einschätzung seiner Bedeutung. I n unmittelbarer Anknüpfung an die Überlegungen zur Rechtfertigung des Mehrheitsprinzips ergibt sich als erster Gesichtspunkt die Legitimationsfunktion. A u f der Grundlage der Gedanken der Selbstbestimmung und Gleichheit dienen Wahlen und Abstimmungen nach der Mehrheitsregel der demokratischen Legitimierung der Entscheidung. Die Zustimmung der Mehrheit verleiht dem Gesetz oder jeder anderen Entscheidung Geltung und Verbindlichkeit, vermittelt dieser Entscheidung über den i m Grundkonsens eingebetteten Mehrheitswillen die Anerkennung der rechtlich zur Einheit verfaßten Gesamtheit der Bürger. Das Hervorbringen der Entscheidung durch die Mehrheit sichert, daß die Entscheidung als legitim anerkannt und i m Bewußtsein ihrer Legitimität befolgt w i r d 1 . Demokratisch legitime Entscheidungen ruhen — neben ihrer inhaltlichen Qualität 2 — auf dem mehrheitlichen Konsens der Bürger, der i n den modernen, komplexen, industriell geprägten Demokratien der vielfältigen Vermittlung ineinandergreifender Institutionen bedarf und i m Sinne eines Legitimationsstrangs sich auch entfernteren, nicht-mehrheitlichen Entscheidungen i n der Abhängigkeit von mehrheitlichen Grundentscheidungen mitteilt. Die Legitimationsfunktion des Mehrheitsprinzips liegt i n der Erzeugung einer Entscheidung nach einem demokratischen Verfahren. Damit ist weniger die prozessuale Teilhabe am Entscheidungsverfahren intendiert, die zu Eingriffen i n die Rechte des Einzelnen führen, als die demokratische Teilhabe an Entscheidungen, die den Einzelnen als Glied des politischen Gemeinwesens angehen. Teilhabe i m Rahmen des Mehrheitsprinzips verwirklicht ganz wesentlich die Teilhabe an Herrschaft, die neben der Begrenzung von Herrschaft und ihrer Leistungsfähigkeit eines der drei Grundelemente der Legitimität des demokratischen Systems darstellt 3 . 1 2 3

s. bereits Marsilius s. o. Einleitung. s. o. Einleitung.

von Padua, Defensor Pacis 112 § 6; s. o. I I , A n m . 132.

262

V I I I . Funktionen u n d Bedeutung des Mehrheitsprinzips

Infolge seiner egalitären Struktur vermag das Mehrheitsprinzip aber nur bei einer — zumindest annähernd — gleichmäßigen Betroffenheit der Beteiligten i n einem zu einer Einheit oder Ganzheit zusammengeschlossenen Kreis seine Legitimationswirkung zu entfalten. Insoweit fallen prozessuale und demokratische Teilhabe wiederum zusammen und bewirkt das Mehrheitsprinzip eine Form der Legitimation durch Verfahren 4 . M i t dem Moment der Legitimation durch Verfahren ist eine weitere Funktion des Mehrheitsprinzips angesprochen, deren Akzent nicht auf der demokratischen Entscheidungsbeteiligung, sondern vielmehr i n der Ermöglichung einer Entscheidung liegt 5 . Diese Entscheidungsfunktion ist i n der Beweglichkeit des Mehrheitsprinzips gegenüber der starren Entscheidungsform der Einstimmigkeit begründet. Unter der Voraussetzung gleicher Selbstbestimmung und der daraus resultierenden Entscheidungsbeteiligung aller Bürger vermag nur die Mehrheitsregel dem Erfordernis demokratischer Legitimität zu genügen, daß jedes Gemeinwesen fortlaufender Entscheidungsarbeit bedarf, u m menschliche und gesellschaftliche Existenz zu sichern, was durch das Einstimmigkeitsprinzip blockiert werden würde. Gleichzeitig beendet die Mehrheitsentscheidung durch ihren verbindlichen Charakter den Streit der Meinungen und schafft eine neue, klare Situation, von der ein erneuter Meinungskampf seinen Ausgang nehmen kann. Vorerst jedoch w i r d durch die Mehrheitsentscheidung der Streit geschlichtet. Allerdings ist diese Friedensfunktion 6 keine einzigartige Besonderheit des Mehrheitsprinzips, vielmehr teilt die Mehrheitsentscheidung diese Funktion 7 m i t jeder anderen — auch i n einem geordneten Verfahren ergehenden — verbindlichen Entscheidung, auch wenn diese nicht m i t mehrheitlicher Zustimmung gefaßt wird. Ausschlaggebend ist weniger die Form des Zustandekommens als die rechtliche und politische Verbindlichkeit 8 . Typisch für das Mehrheitsprinzip ist daher nicht so sehr die Friedensfunktion wie die Integrationsfunktion, die das Mehrheitsprinzip in 4 Nach dem T i t e l v o n Luhmann, Niklas, Legitimation durch Verfahren, Neuwied 1969. δ Vgl. auch Laufer, Heinz, Die demokratische Ordnung. Eine Einführung, Stuttgart 1966, S. 98. β So Hättich, Manfred, Demokratie als Herrschaftsordnung, K ö l n u. a. 1967, S. 128; Eschenburg, Theodor, Der Mechanismus der Mehrheitsentscheidung, München 1970, S. 8; Berg, Elias, Democracy and the M a j o r i t y Principle, Göteborg 1965, S. 120 f. 7 Scheuner, Ulrich, Der Mehrheitsentscheid i m Rahmen der demokratischen Grundordnung, i n Menschenrechte, Föderalismus, Demokratie, Festschrift W. Kägi, Zürich 1979, S. 301 ff. (311 f.). 8 Insoweit anders Scheuner, Mehrheitsentscheid (Anm. 7), S. 311 f.

V I I I . Funktionen u n d Bedeutung des Mehrheitsprinzips

263

zweierlei Hinsicht erfüllt. Das erste Integrationsmoment ist sozialpsychologischer Natur und knüpft an die grundsätzliche Entscheidungsbeteiligung, die bloße Teilhabe am politischen Prozeß der demokratischen Mehrheitsentscheidung an, nicht aber an die Mehrheitsregel selbst. Smend hat diesen Vorgang m i t dem Begriff der funktionellen Integration 9 i m Sinne geistiger Integration 1 0 zu erfassen versucht, wenn sich die Staatsgemeinschaft immer wieder neu als Willensverband herstellt. Die Integrationswirkung beruht dabei vorwiegend auf dem Kampf der Meinungen und Interessen, i n dem die bestehenden Spannungen zu einer Lösung und zu einer erneuerten Einheit zu finden versuchen und der durch die Mehrheitsentscheidung zu einem Ende gebracht w i r d 1 1 . Integration setzt also Wahlkampf, Streit der sachlichen Positionen voraus. Dadurch w i r d eine Bindung an das politische System erzeugt 12 . Gleichzeitig lassen Wahlen und Abstimmungen nur eine i m Grunde dauernde Sozialbeziehung 13 Wiederaufleben und erneut manifest werden. Der integrierende Lebensakt der Gemeinschaft erfaßt nicht allein die Mehrheit, sondern auch die Minderheit, da der Austrag der Gegensätze und nicht die abschließende Mehrheitsentscheidung das entscheidende Element der Integration i n diesem Sinn ist. Der andere Integrationseffekt ist eher sachlicher Natur. Die Bildung jeder Mehrheit verlangt, daß sich partikulare Interessen verständigen und ausgleichen 14 . Die Reduzierung und Aufbereitung von Alternativen, die notwendige Voraussetzung jeder Mehrheitsentscheidung ist 1 5 , erfolgt i n einem der endgültigen Entscheidung vorgelagerten Verfahren, i n dem die verschiedenen Gruppen, Interessen und sachlichen Auffassungen sich einander soweit nähern, daß sie sich zu einer konsensfähigen Alternative zusammenfügen, die die Zustimmung einer Mehrheit finden kann. Dieser Integrationsvorgang ist auf die V o r w i r k u n g des Mehrheitsprinzips zurückzuführen. I n diesem Punkt erlangt allerdings entscheidende Bedeutung die Voraussetzung, daß sich die Verringerung 9 Smend, Rudolf, Verfassung u n d Verfassungsrecht, i n Staatsrechtliche A b handlungen, B e r l i n 1968, 2. Aufl., S. 119 ff. (148 ff.); zur Integrationsfunktion der Wahlen bei Smend s. auch Badura, Peter, Über Wahlen, AöR 97 (1972), S. 1 ff. 10 Smend (Anm. 9), S. 150; vgl. auch S. 85. 11 Ebd. S. 150 ff. 12 Dasselbe meint w o h l Heyl, A r n u l f von, Wahlfreiheit u n d Wahlprüfung, B e r l i n 1975, S. 134, w e n n er von einer „Selbstverpflichtung auf das politische System" spricht. 18 Heyl (Anm. 12), S. 134. 14 Scheuner, Ulrich, Das Mehrheitsprinzip i n der Demokratie, Opladen 1973, S. 58; vgl. a u d i Eschenburg (Anm. 6), S. 15 f.; nicht ganz deutlich ist, welchen Integrationsvorgang das Bundesverfassungsgericht bei seiner Rechtsprechung i m Auge hat, s. BVerfGE 6, 84 (93); 14, 121 (136). 15 s. ο. I V , B, 1.

264

V I I I . Funktionen u n d Bedeutung des Mehrheitsprinzips

der Alternativen i n einem offenen Prozeß der Meinungs- und Willensbildung vollzieht, i n den i n ausreichendem Maß Interessen und Meinungen einfließen, so daß der Entscheidungsvorschlag schließlich w i r k lich eine Mehrheit der Auffassungen und Interessen i n sich aufnimmt. I n dieser Hinsicht w i r k t sich das Mehrheitsprinzip i m Bereich der Volksentscheidungen i n einem sozialpsychologischen Integrationseffekt aus. Die Erwartung, daß eine Alternative die Zustimmung der Mehrheit erhalten wird, sichert dieser Wahlmöglichkeit weiteren Zulauf von Bürgern, die bisher unentschieden waren oder sogar anderen Auffassungen anhingen. Die Anpassungsbereitschaft des einzelnen Abstimmungsberechtigten bringt diesen sogenannten „Bandwagon-Effekt" nachweislich hervor 1 6 . Allianzen der Interessengruppen und log-rolling erscheinen unter diesem Gesichtswinkel als Technik der Zusammenführung punktueller Einzelinteressen zu mehrheitsfähigen Alternativen 1 7 . Die Geltung des Mehrheitsgrundsatzes setzt dieser Integration andererseits eine Grenze. Denn i m allgemeinen werden sich Koalitionen nur i n dem Umfang zusammenschließen, der zur Bildung einer — knappen — Mehrheit notwendig ist. I n spieltheoretischer Übersteigerung gilt daher das Gesetz der minimum-winning coalition 1 8 : " I n n-person, zero sum games, where side-payments are permitted, where players are rational 1 9 , and where they have perfect information, only m i n i m u m winning coalitions occur." Das Gesetz läßt sich tatsächlich i n sozialen Situationen, die der idealtypischen vergleichbar sind, beobachten 20 . Die den Integrationsprozeß beendende Mehrheitsentscheidung läßt die Gesamtheit i n Mehrheit und Minderheit zerfallen. Das Mehrheitsprinzip erfüllt damit eine für den offenen demokratischen Prozeß notwendige Polarisierungsfunktion 21 . Es schafft klare Verantwortlichkeit und ermöglicht die Freiheit zum Dissens. Die Mehrheitsentscheidung ist die Scheidegrenze zwischen einer integrativen, konsensorientierten Willensbildung und einer dissensbezogenen, gewaltenbalancierenden Herrschaftskontrolle durch eine minoritäre Opposition 22 . 16 s. Lazarsfeld, Paul F. / Berelson, Bernard / Gaudet, Hazel, Wahlen u n d Wähler, Neuwied 1969, S. 145 ff. 17 s. Truman , David, The Governmental Process, New Y o r k 1951, S. 362 ff. 18 Riker, W i l l i a m M., The Theory of Political Coalition, New Haven u. a. 1962, S. 32; dazu S. 32 ff.; die logisch-mathematische A b l e i t u n g findet sich auf S. 247 ff. 19 Z u der Bedingung der Rationalität u n d der Nullsummenannahme Riker (Anm. 18), S. 16 ff. 20 Riker (Anm. 18), S. 32 f., 47 ff. 21 Schneider, Hans-Peter, Die Parlamentarische Opposition i m Verfassungsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. I : Grundlagen, Tübingen 1974, S. 384.

V I I I . Funktionen u n d Bedeutung des Mehrheitsprinzips Diese S p a l t u n g i n M e h r h e i t

und Minderheit

sichert

des

weiteren

einen offenen Meinungs- u n d Willensbildungsprozeß 23. Die Offenhalt u n g der unterlegenen A l t e r n a t i v e n , die Möglichkeit der Revision i n der A n e r k e n n u n g der Opposition erlaubt u n d fördert den dauernden Prozeß d e r V e r ä n d e r u n g 2 4 . D i e I n n o v a t i o n s f u n k t i o n

der

Opposition25

d u r c h K r i t i k u n d A n r e g u n g , d u r c h die ständige D a r s t e l l u n g u n d B e h a u p t u n g einer v o n

der

Mehrheitsmeinung

abgesetzten

Alternative

k a n n d a h e r m i t t e l b a r auch d e m M e h r h e i t s p r i n z i p zugerechnet w e r d e n 2 6 . Seit d e r A n t i k e h a t das M e h r h e i t s p r i n z i p i n seiner d e m o k r a t i s c h e n A u s f o r m u n g , d e r B e t e i l i g u n g d e r b r e i t e n B e v ö l k e r u n g , stets h e f t i g e K r i t i k h e r v o r g e r u f e n , die a n seine i m m a n e n t e S t r u k t u r , a n d i e B e d i n g u n g d e r G l e i c h h e i t , a n k n ü p f t e u n d diese d e n u n g l e i c h e n F ä h i g k e i t e n d e r Menschen g e g e n ü b e r s t e l l t e 2 7 . D i e drastische F o r m u l i e r u n g „ l ' a v i s de l a m a j o r i t é ne p e u t ê t r e que l ' e x p r e s s i o n de l ' i n c o m p e t e n c e " 2 8 b r i n g t dies i n k n a p p e r F o r m d e u t l i c h z u m A u s d r u c k . S o w e i t sich die K r i t i k gegen d i e A n w e n d u n g des M e h r h e i t s p r i n z i p s a u f spezielle G e b i e t e w i e die d e r Wissenschaft r i c h t e t 2 9 , v e r d i e n t sie Z u s t i m m u n g . A n d e r e s g i l t 22

Schneider (Anm. 21), S. 394. s. Hofmann, Hasso, Legitimität u n d Rechtsgeltung, B e r l i n 1977, S. 87 ff. 24 Hofmann (Anm. 23), S. 88 f., w i l l darin sogar den alleinigen Rechtfertigungsgrund des Mehrheitsprinzips sehen. 25 s. Schneider (Anm. 21), S. 242. 26 s. Jarass, Hans D., P o l i t i k u n d Bürokratie als Elemente der Gewaltenteilung, München 1975, S. 119 A n m . 40. 27 Dig — ehrwürdige — Ahnenreihe beginnt m i t Heraklit, Fragment Β 121 (Diels, Hermann, Die Fragmente der Vorsokratiker, 11. A u f l . Zürich u. a. 1964, Bd. I, S. 178); Piaton, Politela 488; vgl. auch Plutarch, Solon c 5 ; Plinius, Briefe I I , 12 u n d setzt sich i n der Neuzeit fort m i t Bodins K r i t i k and der Demokratie, Bodin, Jean, Six Livres de la Republique, Paris 1583 (Nachdruck Aalen 1961), V , c. 1, S. 663 ff. u n d V I , c.4, S. 937 ff., bes. 939 ff.; Pascals scharfen W o r t e n i n seinen Pensées Nr. 301, vgl. auch Nr. 299, 878 (Ausgabe Brunschvicq); Schillers Fiesco, 2. Aufzug, 8. A u f t r i t t u n d Demetrius, 1. A k t , 468 ff.; Burke f Edmund, A n Appeal from the New to the Old Whigs (1791), The Works Vol. I l l , London 1872, S. I f f . (76ff.); Tocquevilles Ablehnung einer Tyrannei der Mehrheit i n der Nachfolge des Federalist (Nr. 10), Über die Demokratie i n Amerika, S. 300; Keller, Gottfried, der das Gedicht „ M a j o r i tät" verfaßte, i n Sämtliche Werke u n d ausgewählte Briefe, München 1963, Bd. I I I , S. 386; Goethe, Johann Wolfgang, W i l h e l m Meisters Wanderjahre I I Buch (Nr. 165), Werke Bd. 8, Zürich 1961, 2. Aufl., S. 330; Ibsen, Hendrik, Der Volksfeind, i n Sämtliche Werke, B e r l i n o. J., Bd. 7, S. 91 ff., s. v o r allem S. 160, 177 ff., 195; s. auch den Brief v o n Carl J. Burckhardt an Hugo v o n Hofmannsthal aus dem Jahr 1926, i n Burckhardt, Carl J., Briefwechsel m i t Hugo v. Hofmannsthal, F r a n k f u r t 1956, S. 218 ff. sowie den Fragebogen bei Frisch, Max, Tagebuch 1966 - 71, F r a n k f u r t 1974, S. 10 Nr. 12; Nachweise aus der politischen L i t e r a t u r bereits oben I I I , A n m . 107. 23

28 s. o. Guénon, René, La crise du monde moderne, Paris 1946 c. V I (dt. Die Krise der Neuzeit, K ö l n 1950, S. 113). 29 s. etwa Goethe, Johann W o l f gang, W i l h e l m Meisters Wanderjahre, I I I Buch Nr. 86 u n d 88, Werke (Anm. 27), S. 506 f.; sowie Pufendorf, Samuel, De

266

V I I I . Funktionen u n d Bedeutung des Mehrheitsprinzips

jedoch für das Mehrheitsprinzip als demokratische Entscheidungsregel. M i t der Anerkennung des Rechtes jedes Menschen auf gleiche Selbstbestimmung verliert der „horror majoritatis" 3 0 an Berechtigung. Solang die abendländische Tradition der Überzeugung von der Individualautonomie des Einzelnen ihre Kraft nicht eingebüßt hat, ist das Mehrheitsprinzip für die grundlegenden Entscheidungen, vor allem den A k t der Anvertrauung herrschaftlicher Befugnisse, unabdingbar. Gleichzeitig aber muß das Mehrheitsprinzip i n doppelter Hinsicht beschränkt bleiben. Das Mehrheitsprinzip w i r d einerseits durch die anderen Grundelemente demokratischer Legitimität begrenzt und muß darüber hinaus begrenzt werden, u m selbst als legitim empfunden zu werden. Anders formuliert: Die Legitimität 3 1 des Mehrheitsprinzips selbst ist an seine eigene Begrenzung gebunden. Auch die Struktur des Mehrheitsprinzips setzt zudem einer weiteren Ausdehnung der Entscheidungsbeteiligung aller Bürger äußerst enge Grenzen. Innerhalb dieser Schranken allerdings hat sich die Überlegenheit aristokratischer Herrschaft, erblicher oder kooptativer A r t , nicht erwiesen. Den Schwankungen, Ausschlägen und Fehlern des „Zeitgeistes" sind Eliten sogar stärker ausgesetzt. Demokratische Legitimität ist deshalb wesentlich an demokratische Mehrheitsentscheidungen gebunden. Trotz aller Begrenzungen ist das Mehrheitsprinzip daher i m Bereich politischer Grundentscheidungen unentbehrlich und muß innerhalb des politischen Systems das notwendige Gewicht erhalten. Zu der Mehrheitsentscheidung als dem eigentlichen demokratischen Kern des politischen Entscheidungsprozesses gibt es keine Alternative.

Jure Naturae et Gentium, Ed. Gottfridus Mascovius, F r a n k f u r t 1759 (Nachdruck F r a n k f u r t 1967), V I I , c. 2, § 15. 30 Dieses W o r t entstammt: Sternberger, Dolf, Lebende Verfassung, Meisenh e i m 1956, S. 81. 81 L e g i t i m i t ä t ist weiter zu begreifen als Rechtfertigung i m Sinne von oben I I I .

Auswahlbibliographie I m folgenden w i r d eine Auswahlbibliographie der L i t e r a t u r angegeben, die einen engen Zusammenhang m i t dem Mehrheitsprinzip aufweist u n d damit einen unmittelbaren Zugriff auf das Thema eröffnet. E i n vollständiges V e r zeichnis der i n dieser A r b e i t verwendeten L i t e r a t u r hätte einen zu großen Umfang gewonnen u n d wäre zudem wenig hilfreich gewesen. I m übrigen w i r d die L i t e r a t u r i n den Anmerkungen jeweils bei erstmaliger Verwendung m i t den vollständigen bibliographischen Angaben zitiert u n d i m weiteren durch Verweisungen erschlossen. Bei Sammelbänden findet i m allgemeinen n u r der T i t e l des Sammelbandes, nicht jedoch der einzelne Aufsatz i n der B i b l i o graphie Aufnahme.

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