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German Pages 199 [200] Year 1985
STUDIEN ZUR D E U T S C H E N LITERATUR
Herausgegeben von Wilfried Barner, Richard Brinkmann und Friedrich Sengle
Band 80
Bernhard Sorg
Das lyrische Ich Untersuchungen zu deutschen Gedichten von Gryphius bis Benn
2., unveränderte Auflage
Max Niemeyer Verlag Tübingen 1985
1. Auflage 1984
Als Habilitationsschrift auf Empfehlung der Philosophischen Fakultät der Universität Bonn gedruckt mit Unterstützung der Deutschen Forschungsgemeinschaft.
CIP-Kurztitelaufnahme der Deutschen Bibliothek Sorg, Bernhard: Das lyrische Ich : Unters, zu dt. Gedichten von Gryphius bis Benn / Bernhard Sorg. — 2., unveränd. Aufl. - Tübingen : Niemeyer, 1985. (Studien zur deutschen Literatur ; Bd. 80) NE: GT ISBN 3-484-18080-3
ISSN 0081-7236
© Max Niemeyer Verlag Tübingen 1985 Alle Rechte vorbehalten. Ohne Genehmigung des Verlages ist es nicht gestattet, dieses Buch oder Teile daraus photomechanisch zu vervielfältigen. Printed in Germany Satz und Druck: Sulzberg-Druck GmbH, Sulzberg im Allgäu Einband: Heinr. Koch, Tübingen
Inhaltsübersicht
Einleitung I. Kapitel: BAROCK
1 23
Einführung
23
Einzelinterpretationen
25
Hoffmannswaldau: Vergänglichkeit der Schönheit
25
Hoffmannswaldau: W o sind die stunden
29
Gryphius: Einsambkeit
33
Greiffenberg: Sehnlichster Weißheit = Wunsch
36
Greiffenberg: H e r z / w e r d e voller glut!
38
Systematischer Teil a) Das Sonett
40 40
b) Die Metapher
44
c) Die Selbstanrede
47
II. Kapitel: GOETHE
52
Einführung
52
Einzelinterpretationen
57
Maifest
57
Prometheus
61
Auf dem See
68
Erlkönig Systematischer Teil
72 78
a) I c h - N a t u r
78
b) Genie
82
c) Erlebnis
83
d) Konvention — Originalität III. Kapitel: KELLER
86 91
Einführung
91
Einzelinterpretationen
94 V
Unser ist das Reich der Epigonen
94
Winterabend
96
Erwiderung auf Justinus Kerners Lied: Unter dem Himmel Ich hab in kalten Wintertagen Willkommen, klare Sommernacht Systematischer Teil: Zur politischen Lyrik IV. Kapitel: TRAKL
107 110 124
Einführung
124
Einzelinterpretationen
127
Deprofundis
127
Kaspar Hauser Lied Grodek Systematischer Teil
131 136 139
a) Das Gleichbleibende
139
b) Faszination des Bösen
144
c) Das Dunkle
150
V. Kapitel: BENN
155
Einführung
155
Einzelinterpretationen Das späte Ich
158 158
Gedichte Quartär-
·
163 168
Systematischer Teil a) Das absolute Gedicht
174 174
b) Alexandrinismus
179
c) Selbstzitat und Abschied
182
Literaturverzeichnis
VI
98 102
188
Einleitung
»Über Gedichte ist schwer reden.« 1 Kommereils lapidarer Satz faßt eine Einsicht und ein Unbehagen zusammen, dem keiner entgehen kann, der sich mit Lyrik und Literatur über Lyrik beschäftigt. Schon die Vorverständigung, ob man überhaupt das Gedicht zum Gegenstand wissenschaftlichen Nachdenkens machen könne und dürfe, ist nicht leicht zu erreichen; zumindest der Einwand, jeder lyrische T e x t widersetze sich, durch seine reine Existenz, begrifflicher Subsumierung, scheint stringent und bekräftigt als Theorie den Argwohn gegen Theorie. Dennoch läuft die Position, gleich allen kompromißlos radikalen, ins Leere; und bereits in den Prämissen steckt, genauer betrachtet, die Möglichkeit ihrer auch theoretischen Uberwindung. In der Antinomie von Poesie und Begriff, lyrischer Konkretion und gedanklicher Abstraktion, verbirgt sich ja nicht nur der Antagonismus von Einzelnem und Allgemeinem, der, so isoliert, zur ausweglosen Widersprüchlichkeit verkürzt wäre, sondern vor allem eine notwendige Spannung — notwendig zur gegenseitigen Bestimmung und Abgrenzung. Damit ist schon die absolute M o n a denexistenz des lyrischen Ausdrucks aufgebrochen; indem das Gedicht auf seiner Andersartigkeit besteht, gibt es dem Leser die implizite Erlaubnis, nach dem Gegenpol des Poetischen zu fragen. Ob dieser Prozeß der Definition — und zwar im Hinblick auf die konstitutiven Faktoren des jeweils singulären lyrischen Texts — »wissenschaftlich« zu nennen wäre, läßt sich nicht vorab dekretieren; einzig das interpretatorische Ergebnis, also das bessere Verstehen, rechtfertigt die Untersuchung. Neben das Aussprechen der »inneren Erfahrung« 2 des Lesers (in Analogie zum Verfahren des Dichters) tritt, als Widerspruch und Ergänzung, die Reflexion, und das heißt: Die Struktur der Lyrik, ihr Ineinander von Bedingtheit und Freiheit, Zeitlichkeit und Zeitenthobenheit, fordert geradezu diese Verbindung von Einfühlung und überprüfbarer Begrifflichkeit. Hält das Gedicht einen M o m e n t in der Geschichte fest, wobei gar nicht entschieden werden soll, ob es sich dabei um eine Individualgeschichte oder 1 2
Max Kommereil: Gedanken Kommerell, S. 7.
über Gedichte.
Frankfurt am Main 1943, S. 7.
1
eine kollektive, abgeleitete Befindlichkeit handelt, so ist denkbar, daß die Realisation des Moments die Abwandlung eines immer Gleichen fixiert oder ein tatsächlich jeweils Anderes beschwört. Beides muß abstrakter Festlegung zugänglich sein. Zusätzlich verwickelt sich folglich die Lyrik-Interpretation in die Schwierigkeit, eine Autonomie (nichts anderes beschreibt die obige Definition) des Gedichts als Voraussetzung des Nachdenkens über seine Historizität zwingend annehmen zu müssen. Verwirft die Theorie eine Autonomie, so entzieht sie sich ihr eigenes Fundament, macht sich überflüssig, weil dann die zu bestimmenden heteronomen Faktoren auch zuständig sind für die Beschreibung und szientifische Zuordnung der lyrischen Elemente, die als bedingte einer eigenen Methode und Sprache nicht mehr bedürfen. Es ist also wirklich nicht leicht, über Gedichte zu reden. Nicht in der Theorie und nicht in der Praxis. M a n kann es sich freilich leicht machen, indem man die skizzierten Spannungen und Widersprüche entweder ignoriert oder durch Insistenz auf dem Vorrang jeweils eines Aspekts ihrer weitreichenden Konsequenzen beraubt. Die gängigste Form solcher De-Literarisierung von Lyrik ist ihre Einordnung in ein philosophisches System. Damit ist zunächst allen geholfen: die Philosophie beweist ihre Zuständigkeit auch für die individuellste der literarischen Gattungen und zieht Gewinn aus der allgemeinen Hochschätzung, die dem Gedicht mehr aus Tradition denn aus Uberzeugung entgegengebracht wird. Die Lyrik sieht sich, vor allem wenn ihrer freundlich gedacht ist, als signifikante Artikulation eines relevanten Prinzips; denn die pure Tatsache ihrer Behandlung sichert ihr eine über die hilflose Vereinzelung weit hinausragende Bedeutung. Dabei erweist es sich als unerheblich, ob dem präzise benennbaren Text Recht oder Unrecht geschieht, ob überhaupt die philosophische Verfügung an das Gedicht heranreicht — wichtig ist einzig die, fast stets geschichtsphilosophische, Verankerung in einem größeren Ganzen, von dem aus der abgespaltene Teil Statur und Würde erhält. 3 Die Totalität existiert nicht als Summe gleichberechtigter
3
2
Angespielt wird natürlich auf Hegel: Vorlesungen über die Ästhetik, Dritter Teil, Dritter Abschnitt, Drittes Kapitel, II (»Die lyrische Poesie«) (Theorie - Werkausgabe Suhrkamp, Band 15, S. 4 1 5 - 4 7 4 ) . Die einleitenden Gedanken (S. 415—417) sind, in ihrer prägnanten Allgemeinheit, eine in sich geschlossene theoretische Fundierung ihres Sujets. Sie gründen die »lyrische Poesie« ohne pejorative Färbung auf die Subjektivität und den »Gehalt und die Tätigkeit des innerlichen Lebens« (S. 416). Die Beschreibung des Gedichts als das »von jeder Zufälligkeit der Stimmung gereinigt(e) Objekt, in welchem das befreite Innere zugleich in befriedigtem Selbstbewußtsein frei zu sich zurückkehrt und bei sich selber ist« (S. 417) wäre, als pure Deskription, zutreffend, wird jedoch entwertet durch die Subordination der Dichtung unter die Philosophie als höherer Betätigung des Geistes. Gerade Hegels
und gleichrangiger Entitäten, sondern konstituiert als causa efficiens und causa finalis die versprengten Partikel der empirischen Welt, wozu, kategorial nicht unterschieden, Kunst wie selbstverständlich gehört. Zum Verstehen des Gedichts — genauer: zur adäquaten Artikulation eines Verstehens bedarf es folglich weder einer eigenen Theorie noch einer eigenen Begrifflichkeit. Das philosophische System reduziert die lyrische Äußerung auf die Bestätigung der umfassenden Richtigkeit dieses Systems, das an sich der Kunst exterritorial ist. Selbst wenn der Kunst oder, als einem ihrer Segmente, der Lyrik ausdrücklich der Charakter des Besonderen konzediert wird, ist dieses Besondere doch subsumierbar und findet so Rechtfertigung, ja Berechtigung bloß in einer übergeordneten Idee. Die Teilhabe an einem Gedankengebäude, an der Größe und einschüchternden Kraft der philosophischen Weltbeherrschung soll entschädigen für den Verlust an Autonomie und Eigen-Sinn. D a ß die Dichter seit je sich diesem Anspruch nicht gebeugt haben, ist bekannt; aber auch die Literaturwissenschaft hat sich, freilich recht langsam und gegen nie nachlassende Widerstände, vom Diktat der Philosophie emanzipiert. Nur um nicht selten begriffslos und hilflos vor dem konkreten Gedicht in nachstammelnder Verehrung zu verharren. Denn es gibt, idealtypisch verknappt, zwei Möglichkeiten der Annäherung jenseits von philosophischer Suprematie und, als äußerstem Gegensatz, feuilletonistischer Beliebigkeit: die eine versteht Gedichte als isolierbare, durch einfühlende, sympathetische Beschreibung vollkommen zu verstehende Sprachgebilde ohne textrelevante Historizität, die ihren Sinn und ihre Fundierung in dieser Ein- und Nachfühlbarkeit besitzen und aus deren je vorhandener oder nicht vorhandener »Stimmung« Wertkriterien gezogen werden können; die andere begreift und deutet Gedichte als Produkt und Ergebnis, wobei die inhaltliche Designierung dieser als zentral supponierten Kausalität letztlich unerheblich bleibt — ob Tradition, reale gesellschaftliche Zustände, Leben des Autors oder was immer. Gemeinsam ist beiden die Dominanz der textimmanenten Fragiestellung; praktisch, wenngleich nicht theoretisch, auch in dem zweiten Ansatz, weil er zwar eine benennbare Abhängigkeit als Prämisse formuliert, sie jedoch nicht als dem Gedicht prinzipiell überlegene Seinsweise postuliert. Das trennt ihn entscheidend von dem philosophischen Primat der Totalität; das Gedicht sieht sich seiner autonomen Dignität beraubt, nicht aber vereinnahmt zum Belegexemplar des Waltens eines Höheren. Die zwei literaturwissenschaftlichen Strategien, die natürlich nicht auf Lyrik beschränkt sind, stehen, und deshalb geschieht ihrer hier so relativ ausführEinsichten in die lyrische Produktivität, denen ernstlich nicht widersprochen werden kann, lassen seine prinzipielle Abwertung ästhetischen Schaffens um so schärfer als arbiträre Konstruktion hervortreten.
3
lieh Erwähnung, gleichsam quer zur Vorgehensweise dieser Arbeit. Bevor die entfaltet wird, sollen sie konkreter dargelegt und diskutiert werden. Sie weiterdenkend, hoffen meine Interpretationen ihre Insuffizienzen vermeiden und ihre Stärken nutzen zu können. Beispielhaft werden Emil Staigers Grundbegriffe der Poetik (1946) und Walther Killys Elemente der Lyrik (1972) herangezogen. Staigers ambitionierter Entwurf unterscheidet bekanntlich die drei Gattungen Epik, Lyrik und Dramatik kategorial von den sie konstituierenden Befindlichkeiten »episch«, »lyrisch« und »dramatisch«. Jene seien, so Staiger, Einteilungen aufgrund äußerer Merkmale wie Vers, Reim, verteilte Sprecher, Erzählsituation etc.; diese Grundmöglichkeiten menschlicher und poetischer Welt- und Kunstauffassung. Schon hier, noch ohne weiteres Eindringen in Staigers Theorie, darf auf einen entscheidenden Gewinn verwiesen werden: die Trennung von Außen und Innen, Gattung und Stimmung (im weitesten Sinne) leistet eine eminent wichtige Differenzierung, die selbst bei einer Ablehnung der übrigen Schritte nicht mehr übergangen werden kann. Denn sie gestattet die Definition der literarischen Gattungen allein aus sich heraus, genauer: durch Kontrastierung der konstitutiven Faktoren. Weder m u ß ein geschichtsphilosophischer Überbau errichtet werden, noch beschränkt sie sich auf die positivistische Darlegung überlieferter Muster. Die innerliterarische Separierung etwa von »Drama« und »dramatisch« impliziert sowohl ihre spezifische Z u o r d n u n g wie produktive Trennung, ohne daß eine andere Begrifflichkeit inauguriert werden müßte und ohne daß es notwendig würde, kausal das eine vom anderen abzuleiten oder beide von einem einer anderen ontologischen Sphäre angehörenden Dritten. Staigers kurze »Einleitung« faßt dies zusammen. Das Lyrische, das Epische, das Dramatische wird als Idee bestimmt. 4 Der Hinweis auf Husserls Terminus »ideale Bedeutung« sucht weniger Unterstüzung bei einer Autorität als daß er auf einer höheren Ebene die Scheidung von empirischer Bestimmbarkeit (Epik, Lyrik, Dramatik) und platonischer Vor-Bildlichkeit wiederholt. Das Lyrische, abgesetzt von jeglicher Historizität, bedarf zu einer präzisen Beschreibung keiner gattungsgeschichtlichen Vergewisserung, ja überhaupt keiner extraliterarischen Paradigmata. Es existiert als reine Vorstellung in jedem und gleichzeitig jenseits aller individuellen Bedingtheit. N u r so wird zweierlei möglich: die adäquate Erkenntnis des Lyrischen in allen literarischen Formen und die perennierende Kraft des Kunstwerks, soweit es an diesen zeitlosen Ideen teilhat. Staigers Gedanke fundiert jede ernsthafte Interpretation in der Gewißheit der transhistorischen Gültigkeit ihres Untersuchungsobjekts, falls es sich der Gattungsidee annä4
4
Emil Staiger: Grundbegriffe
der Poetik.
Zürich 6 1963, S. 9.
hert. Ihre rein formale, d.h. ihre inhaltliche und letztlich auch sprachlich nicht gefüllte, Struktur, die in Staigers näherer Beschreibung dann doch, wie wir sehen werden, Konturen und wertende Akzente bekommt, hypostasiert den Begriff des Lyrischen (wie den des Epischen und Dramatischen) hin auf eine anthropologische und grundsätzlich unableitbare Größe, die vor aller Literatur und ohne sie besteht. Wie in Piatons Ideenwelt existiert zwischen dem Lyrischen und seiner Realisation (:dem lyrischen Gedicht) keine Kausalbeziehung; einzig der zurückschauende Leser oder Hörer vermag den Grad der erreichten Annäherung, das Maß der poetischen Perfektibilität, zu messen und zu bewerten. Radikaler dürfte nie der Lyrik ihre Geschichtlichkeit ausgetrieben worden sein — die sich freilich durch etliche Hintertüren wieder hereinschleicht, und zwar schon in Staigers eigenen Ausführungen. Wie definiert Staiger das Lyrische? Strenggenommen könnte er nur Annäherungen an das Ideal aufführen, das selber unbeschreibbar bleiben müßte. Das ist eine sehr unbefriedigende Situation. Er entgeht ihr durch eine Mischung von Deskription und schwach verhüllter normativer Anweisung. Was theoretisch fragwürdig und methodologisch unsauber genannt zu werden verdient, leistet doch die ihm gestellte Aufgabe, eine anschauliche Vorstellung des Lyrischen, als den Texten Vorgängiges und aus ihnen zu Deduzierendes, zu geben. Aus den Gedichten, die ihm als lyrisch gelten, gewinnt er die signifikanten und einheitsstiftenden Züge und gelangt zu einer ersten Verständigung über die lyrischen Momente: »Einheit der Musik der Worte und ihrer Bedeutung, unmittelbare Wirkung des Lyrischen ohne ausdrückliches Verstehen (1); Gefahr des Zerfließens, gebannt durch den Kehrreim und Wiederholungen anderer Art (2); Verzicht auf grammatischen, logischen und anschaulichen Zusammenhang (3); Dichtung der Einsamkeit, welche nur von einzelnen Gleichgestimmten erhört wird (4): Alles bedeutet, daß in lyrischer Dichtung keinerlei Abstand besteht.«5 Die strikt typologische Auflistung schlägt eine Brücke zu jener literaturhistorischen Vorstellung, die bislang verborgen im Hintergrund lag. Denn natürlich ist Staigers Beschreibung des Lyrischen eine Beschreibung des Lieds der deutschen Klassik und Romantik. Das hat der Autor en passant und ohne ausdrücklichen Hinweis auf die zu ziehenden Konsequenzen bereits bestätigt: »Der Einwand, solche Parataxe sei insbesondere romantischer Stil, ist nur berechtigt, sofern die deutsche Romantik einen weltliterarischen Höhepunkt des Lieds und damit der reinsten lyrischen Dichtung erreicht.«6 Wenn wir schon jetzt, noch ehe alle methodologischen Probleme annähernd gelöst sind, die Folgerungen aus Staigers Prämissen zu ziehen suchen, so weil sie sich hier unabweisbar anbieten. Theoretisch postu5 6
Staiger, S. 5 1 . Staiger, S. 3 9 . Hervorhebung von mir, B . S .
5
liert sein Ansatz die strikteste Trennung von Idee und konkreter Realisation, von Einzelgedicht und Gattung, punktueller Existenz des Poetischen und kausaler Verflechtung des Empirischen, ja macht sie zur conditio sine qua non des Lyrischen. Die unerläßliche Konkretisierung visiert jedoch sofort Gattung und Epoche an: Lied und Romantik. In ihnen komme das Lyrische zu sich, materialisiere sich, trete ein in die Welt der Worte und Dinge — so deutlich und nachdrücklich wie vorher und nachher nicht. Implizit gerinnt ihm die scheinbar radikal deskriptive, phänomenologisch orientierte Poetik zur normsetzenden Geschichte des Lyrischen (mit dem Epischen und Dramatischen verhält es sich ähnlich, ohne daß uns dies zu kümmern hätte). Zwar wird nie statuiert, der Wert eines Gedichts hänge von dem Grad des in ihm verwirklichten Lyrischen ab, 7 Aufbau und Vokabular der Analysen und Beispiele lassen freilich keinen anderen Schluß zu. Oder, weniger apodiktisch gefaßt: Staigers Zentralvorstellung, die »Einheit der Stimmung«, von der im folgenden die Rede sein muß, realisiert sich einzig in der Epiphanie des Lyrischen. Da die Einheit der Stimmung das Wesen der Lyrik unmittelbar sinnlich ist, gewährt sie die größtmögliche Annäherung an das platonische Ideal: »Wir lesen an romantischen Liedern, an Liedern, die Goethe gedichtet, und andern Liedern, die diesen ähnlich sind, das Wesen des Lyrischen ab.« 8 Es hieße, die Konsequenzen der eigenen Radikalität verleugnen, wollte man nicht eingestehen, daß damit ein Wertmaßstab errichtet und ein Urteil gesprochen wurde. Die Abwehr aller extraliterarischen Kriterien und jeder historisierenden Gleich-Gültigkeit schafft, durch die pure Konstruktion einer innerliterarischen Idee, wieder, jenseits bloßer Beschreibung, eine geschichtliche Dimension, aber eine auf Nähe oder Ferne zum Ideal gegründete und dadurch tendenziell ordnende und rangordnende. Alle Momente des Lyrischen sind Ausdruck der »Einheit der Stimmung«. Das Kapitel über das Lyrische kulminiert in der Diskussion dieses Begriffs. Dabei geht Staiger mit keinem Satz auf Kommerells grundlegende Entfaltung von Wort und Sache ein.9 Dessen Reflexionen erheben keinen Anspruch auf definitorische Endgültigkeit, sondern initiieren einen Prozeß des Nachdenkens über das »Wirkliche, Besondere und Bestimmte eines Zustande im Gegensatz
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8 9
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Sogar oft expressis verbis negiert: z.B. S. 241ff. Da streiten die Konsequenz aus der Prämisse mit der Erfahrung und dem literarischen Geschmack - theoretisch bleibt die Spannung jedenfalls unausgetragen. Staiger, S. 2 4 3 . Kommereil, S. 18ff. Mit größter Wahrscheinlichkeit hat er Kommerells Buch bei der Abfassung seiner Überlegungen nicht gekannt. Aber auch spätere Auflagen verzichten auf einen Hinweis.
zu seinem allgemeinen Begriff«. 10 Die so eingeführte »Stimmung«, die »die Zeit anhält«, einen Augenblick schafft, in dem »unser Dasein ausdrücklich wird«, 1 1 leistet als Fundamentalkategorie der Lyrik die notwendige Verknüpfung von Produzent, Produziertem und Rezipienten, um es in moderner Terminologie zu sagen. Sie synthetisiert die begrifflich getrennten Sphären von vorliterarischer Erfahrung, literarischer Konstruktion und interpretatorischer Aufnahme: »Die Stimmung eines Gedichtes ist also etwas sehr Zusammengesetztes. In ihr war der Dichter gestimmt, ist das Gedicht gestimmt und wird der Leser gestimmt.« 12 Die diffuse Unordnung und alogische Vielfalt der empirischen Welt liefert zwar die Basis für Entstehung und Verstehen des Gedichts, aber nur die Stimmung als weitester Ausdruck für künstlerische Zusammenschau gestattet ein Gelingen im erfüllten lyrischen Moment. Das schwierige Verhältnis von Dingwelt und Kunst hat Kommerell unter der letztlich Metapher bleibenden »Stimmung« zusammenzufassen gewußt: »Dies Mehrfache, das durch die Stimmung einheitlich wird, ist also nicht nur in der Seele; es ist auch außer ihr, in Dingen, die — für die Dauer einer Stimmung - aufeinander gestimmt sind, und es ist vor allem in der Seele und den Dingen zugleich, da die Dinge mit der Seele in der Stimmung verständigt werden, sei es nun, daß sich die Dinge nach der Seele stimmen, oder sich die Seele nach den Dingen stimmt.« 13 Wenn Artikulation und Sinngebung so eins werden, stellt sich, wie später bei Staiger, die Frage nach der literaturhistorischen Verbindlichkeit eines an sich typologischen Modells. Und gleich Staiger wird der teleologische Grundzug der auf »Stimmung« gegründeten Lyrik zunächst bloß kurz angedeutet, im weiteren Verlauf des Buches allerdings ausgiebig behandelt, in langen Goethe-Interpretationen. Noch enger als Staiger bezieht Kommerell nämlich Einmaligkeit und Stimmung auf Goethes Gedichte als deren tiefste Realisation: »{...) nicht als ob es früher keine Stimmung gegeben, sie im Gedicht nicht gegolten hätte; doch wurde sie erst später erkannt, vom Gedicht gefordert und im Gedicht beabsichtigt. Wenn in diesem Sinn die Lyrik fortschreitend zu sich selber kommt, so schließt dies nicht aus, daß sie wieder zu ihrer ältesten und ersten Verlautbarung zurückkehrt.« 14 In Goethe, so wäre diese Stelle zu deuten, verbindet sich die Modernität des Bewußtseins mit dem Besitz der »ältesten und ersten Verlautba-
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Kommereil, S. 18f. Kommerell, S. 19. Kommereil, S. 25. Kommereil, S. 23. Kommereil, S. 19f. Daß Goethe gemeint ist, zeigt schon der nächste Gedanke: »Was also der Lyrik durch und mit Goethe zuwuchs, wird neu genannt auf die Gefahr, daß sich dies Neue zuletzt als ein wiederauflebendes oder umgewandeltes Alte enthülle.« (S. 20).
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rung«; die Entwicklung des Gedichts mündet im Moment der Erfüllung seiner Bestimmung in die reflektierte Einfachheit der nicht näher gefaßten »alten Grundformen«. 1 5 Staigers Einlassungen zielen präziser auf definitorische Ergebnisse; Stimmung wird weniger beschreibend umkreist als zur weiteren Klärung des Lyrischen funktional eingesetzt. Als unabdingbare Voraussetzung des Lyrischen erschließt sie das Dasein unmittelbar, verwandelt sie alles Seiende aus einem Gegenstand in einen Zustand. 1 6 Die Distanz zwischen Subjekt und Objekt fällt, aus dem Neben- und Nacheinander wird ein Ineinander. 1 7 Das Gedicht leistet also in sich, im Akt der Konstitution, die Differenz zur Welt der Erscheinungen: es löscht die Kausalität, hebt die Teilung in Subjekt und Objekt, Bedingendes und Bedingtes auf. Tendenziell verknüpft die lyrische Gestimmtheit das Lyrische mit dem Mystischen; freilich akzentuiert Staiger mit Recht die unüberbrückbaren Differenzen: wo das Mystische sich nach Übereinstimmung mit dem Ewigen sehnt, da das Lyrische mit dem Vergänglichen; nicht Ruhe ist das Telos des Gedichts, sondern Bewegtheit. 1 8 Zudem bedarf das Lyrische selbstverständlich der Sprache; in der Sprache, im Wort liegt jedoch der Keim zu jenem Widerstand gegen Staigers Bestimmung, den er nur kurz streift und nicht in seiner vollen Bedeutung würdigt. Das Wort ist immer Sinn- und Konnotationsträger, lyrisches Sprechen immer referentiell bezogen auf Alltagserfahrung und Alltagssprache. Von ihr sucht es sich zu lösen (das steckt in Staigers Resümee: » L y r i s c h e s D i c h t e n aber ist jenes an sich unmögliche Sprechen der Seele, das nicht >beim Wort genommen< sein will«), 1 9 Autonomie zu erreichen — ein Wort, das allerdings bei ihm nicht vorkommt. Hier ist der Platz, wo die geschichtliche Realität in die hermetische Welt der poetologischen Reflexion einzubeziehen wäre. Denn die Stimmung vollzieht sich zwar im Gedicht, aber als Bewegung zwischen zwei Polen: dem lyrischen Subjekt und noch nicht genauer zu designierenden Objekten. Auch die Art der Bewegung ist eine Funktion historischer Bedingtheit: davon handeln die folgenden Kapitel. Für Staiger ist »Stimmung« die Basis des Lyrischen, von der aus er verschiedene Konklusionen ableitet: daß das Lied nichts beweist; seelenvoll, aber geistlos ist und der lyrische Dichter kein Schicksal hat. 2 0 Meiner Arbeit liegt ein Begriff von Lyrik und dem Lyrischen zugrunde, der in »Stimmung« ein Sekundäres sieht, das Produkt eines komplizierten Prozes15 16 17 18 19 20
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Vgl. Kommereil, S. 2 0 . Staiger, S. 61f. Staiger, S. 6 2 , S. 76. Staiger, S. 6 4 . Staiger, S. 7 8 . Staiger, S. 8 0 - 8 2 .
ses, der präziser Begrifflichkeit und Beschreibung ebenso bedarf wie zugänglich ist. Ins Zentrum rückt, und davon wird noch zu reden sein, die Selbstbestimmung des lyrischen Subjekts als des eigentlichen und einzigen Konstituens von Lyrik, das kein Einzelnes, sondern ein Zusammengesetztes, spannungsvoll sich erst Aufbauendes genannt werden muß. An einer solchen dynamischen Komponente mangelt es Staigers Ansatz — »dynamisch« verstanden als Frage nach dem Warum einer jeweiligen Ausformung des Gedichts, nach seinem Gestaltwandel im Lauf der Jahrhunderte. Staigers vorgeblich umfassender und fundamentaler, in Wahrheit jedoch extrem punktueller Versuch reduziert die Komplexität der Lyrik, dabei gleichzeitig den Anspruch von Universalität erhebend, auf ein sie bedingendes Parameter und klammert zusätzlich noch dessen geschichtliche Variabilität aus. Das Fehlen jedes Instrumentariums, mit dem die Veränderungen in der Lyrik verstanden werden könnten, entwertet die an sich richtige Idee von der Existenz eines ahistorisch Lyrischen. Sogar Staigers Lieblingsvorstellung von der Nähe und Ferne zum Lyrischen bleibt unentfaltet, weil als factum brutum bestenfalls konstatiert, nie aber als literarisches Epochenproblem diskutiert. Folgerichtig geraten gelegentliche Einzelinterpretationen flach und substanzlos; 2 1 die Radikalität der These verhüllt nur unzureichend ihre mangelnde Ergiebigkeit. Seine Entschlossenheit zur Verbindung von phänomenologischer Beschreibung und unableitbarer Idee, zum Widerstand gegen jeden Hauch von Kausalität lenkt (und wissenschaftsgeschichtlich muß man sagen: lenkte nicht ohne Gewinn) die Aufmerksamkeit auf das innere Gefüge des Gedichts und bewahrt es davor, als bloßes Produkt depotenziert zu werden. Notwendigerweise führt das zu einer Statik, die schließlich alle Erkenntnis restringiert. Ist dem Leser so jede weitere Frage verwehrt, enfällt auch die Möglichkeit einer eingehenden Begründung, zu der es kategorialer Erweiterungen bedarf. Wie könnten die aussehen? D a Staigers Verfahren das Bleibende betonte im Gegensatz zur Veränderung, die ideale Bedeutung gegenüber der konkreten Realisation, liegt es nahe, in einer konträren Akzentuierung ein ergänzendes und umfassenderes Modell zu suchen. Wenn dazu Walther Killys Lyrikbuch herangezogen wird, 2 2 so muß gleich angemerkt werden, daß es in Programmatik und Durchführung weniger einen Gegensatz als vielmehr eine Problemverschiebung ankündigt, keine Historisierung der Lyrik, sondern eine komplexe Verbindung von typologischem und geschichtlichem Denken. Killys Einleitung macht deutlich, daß er in zumindest zwei Punkten von Staiger 21
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Vgl. die von »Auf dem See«, S. 26f.; im II. Kapitel dieser Arbeit wird versucht, dem Gedicht etwas näher zu kommen und mehr Gerechtigkeit widerfahren zu lassen. Elemente der Lyrik. München 1972.
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abweicht (ohne daß dessen Name erwähnt würde): Eine noch dazu wertsetzende Idee des Lyrischen existiert nicht, und, zweitens, die Tradition ist entscheidender für nahezu alle Epochen der Lyrik als die Originalität. Daraus ergeben sich zahlreiche Folgerungen, explizite und implizite. Expressis verbis gerät die Uberlieferung als konstitutives Element ins Zentrum der Diskussion: »(...) und es wird sich von selbst ergeben, daß das Gleichbleibende zum Gradmesser des Wandelbaren wird«. 2 3 Mithin ist »die Beschreibung der Elemente, die von alters her ein Gedicht begründet haben« 2 4 keine selbstgenügsame Auflistung im Geist des Positivismus, sondern die Voraussetzung jeder Interpretation und qualitativen Einordnung. Präzisere Untersuchungen an den Gedichten aller Jahrhunderte (und potentiell auch aller Sprachen und Kulturen) können natürlich bloß Einzelaspekte herauslösen, gerade diese Einzelaspekte jedoch, so insistiert Killy mit Recht, machen die Singularität jedes Gedichts aus, weil sich in ihnen Entwicklung, Änderung und Verharren, als poetische Strukturprinzipien sedimentiert haben. Als erkenntnisleitende Fragen schlägt Killy beispielsweise vor: »Warum und wie spricht Lyrik immer noch mit Hilfe der Natur? Wie funktioniert die dem Gedicht immanente Form, die sich durch Wiederholung, Abwandlung, Entsprechung verwirklicht und der Silbenmessung entzieht?« 2 5 Das skizziert Problemstellung und Inhalt der ersten beiden Kapitel und markiert bereits den scharfen Bruch mit aller Nachfühlungspoetik im Geiste Staigers. Im Gedicht entfaltet sich nicht eine ahistorische Idee, strebt kein Lyrisches zur adäquaten Manifestation im autonomen Text. Die Bedingtheit der Lyrik wird exemplarisch anschaulich, die Dominanz der Variaton über die Originalität quantitativ deutlich und theoretisch zumindest nicht abgewertet. Sanfte Polemik schleicht sich stets dann ein, wenn von der romantischen Theorie und dem lyrischen Ich die Rede ist. Dabei zieht Killys Historismus, vom eigenen Schwung mitgerissen, den Verfasser oft übers Ziel hinaus: »(...) das »lyrische Ich< bleibt zumeist vor der Türe, weil seine Nützlichkeit für die Mehrzahl der Zeiten und Gegenstände bezweifelt werden darf«. 2 6 Daran wäre nur auszusetzen, daß es für eine nicht ganz belanglose Minderzahl der Zeiten und Gegenstände durchaus nützlich ist und daß hier sich in die Deskription ein Urteil mischt. Killys Sympathie (auch wissenschaftstheoretisch völlig legitim) gilt ersichtlich dem in Kategorien des Überlieferten verstehbaren Gedicht, sein Vorbehalt gegen alle Originalität und Autonomie verknüpft fachliche mit existentiellen Bedenken: »Der Eintritt in das Reich einer absoluten Poesie wird erkauft um den Preis
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Killy, S. 1.
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Killy, S. 1.
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Killy, S. 3 .
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Killy, S. 4 .
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des Weltzusammenhangs (.. .)«. 27 Indem er das lyrische Ich und die Subjektivität als Produktivkraft nicht ohne Logik abwertet und weitestgehend ignoriert, begibt er sich andererseits der Chance, seinen historischen Ansatz zu einem umfassenden zu erweitern, im Gedicht nicht bloß die Variation einer Tradition, sondern zu bestimmten Epochen vor allem den Kampf einer nach Selbständigkeit strebenden Subjektivität mit den Forderungen der Gattung und denen der empirischen Realität zu sehen. In der »Einleitung« spricht er von dem »Irrtum«, »Literatur werde weniger der Tradition als einer individuellen Spontaneität verdankt«. 2 8 Aus der quantitativen Korrektheit des Satzes kann aber nicht, in planer Revision Staigers, die Tradition als s u m m u m b o n u m von Lyrik schlechthin inauguriert werden unter Vernachlässigung der Tatsache, daß nicht die unproduktivsten Epochen es waren, die Tradition vorwiegend als Z w a n g erlebten oder zumindest an eine andere Tradition als die gerade herrschende anknüpften, was in sich schon einen zeitweiligen Primat der Originalität voraussetzt. An Killys Behandlung der »Stimmung« 2 9 lassen sich zusammenfassend sowohl der Kontrast zu Kommereil/Staiger wie die Grenzen seines Lyrikverständnisses dartun. Der Terminus wird durchgängig negativ evaluiert, die Epoche seines theoretisch untermauerten Hervortretens, also die Empfindsamkeit in der Mitte des 18. Jahrhunderts, als leer und trivial gescholten. »Nicht zuletzt mit Hilfe des Ossian fand die für Deutschland so folgenreiche Vermählung des Lyrischen mit dem sogenannten Naturgefühl statt.« 3 0 Als Gegengift zu Staigers hymnischer Feier der Vereinigung von Lyrischem und Lyrik behalten Killys Abwertungen ihr Recht; sie fallen jedoch als ebenso apodiktische Urteile unter den Verdacht des vorwissenschaftlichen Ressentiments. Als N o r m postuliert Killy, inhaltlich völlig konträr zu Staiger, aber in formal identischem Verfahren, »Reflexion, Einsicht, Perspektive« 3 1 und setzt so seine Hochschätzung rationaler Konstruktivität und nachvollziehbarer Weltschau fort. Daß die »Stimmungspoesie« der trivialen Lyrik näher steht als der »wahrhaften«, 3 2 darf dann kein Argument sein, wenn sie in ihren reichsten und tiefsten Entfaltungen die Wahrheit des Ausdrucks, ihres autonomen Ausdrucks, erreicht. Daran verwendet Killy keinen Gedanken. Stattdessen qualifiziert er sie pauschal als »asoziale Poesie« 3 3 ab, auf vertrackte 27
Killy, S. 3 3 .
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Killy, S. 2 .
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Killy, S. 1 1 4 - 1 2 8 .
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Killy, S. 1 1 5 .
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V g l . Killy, S. 1 2 6 f .
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Killy, S. 1 1 9 .
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Killy, S. 1 2 3 .
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Weise die Fahne der Tradition und des meist anderen Vorbildern verpflichteten Utilitarismus schwenkend. Z w a r wehren sich Killy und Staiger überzeugend gegen außerliterarische Ableitungen des lyrischen Gedichts; Killys Immanenz schlägt freilich eine gedankliche Volte, wenn er die mengenmäßige Dominanz der aus tradierbaren Elementen bestehenden T e x t e in eine qualitative Superiorität umstandslos verwandelt. Dadurch zwingt er das einzelne lyrische Gebilde in eine neue Kausalität: die der Überlieferung. Fügt sich eine Epoche, eine Gedichtform, nicht in diese Ableitung, muß sie als bedenkliche Aberration attackiert werden. Kein Erklärungsversuch beginnt die eigentliche hermeneutische Aufgabe, das Verstehen des scheinbar Fremden. Wahrscheinlich ist das von den Prämissen her gar nicht möglich, verweigert sich das voraussetzungslose Suchen nach dem Zusammenhang von Ich und Welt, Subjekt und O b j e k t der ahistorischen Insistenz auf der Konstanz des Historischen. Darin geht er mit Staiger d'accord — nur daß der die entgegengesetzte Richtung einschlug. Beiden ist die Vorstellung vom prozessualen Charakter des lyrischen Gedichts fremd, jedes einzelnen Gedichts. Die Defizienz von Killys Entwurf liegt in ihrer strikt literatur-historischen
Betrachtensweise der T r a -
dierung von Formen. D a ß in ihnen sich mehr abspielen könnte als Aufnahme oder Verweigerung, wird nirgends evident. Der dezidierte Standpunkt Killys gegen Staigers Einfühlungspoetik und gegen die krude Reduzierung auf gesellschaftsverändernde M o m e n t e 3 4 führt ihn zu rasch aus der lyrischen Innenwelt und der widerständigen empirischen Realität in das Reich der bestätigten und sich stets neu bestätigenden »Elemente«. Deren Gültigkeit ist unleugbar: ebenso unleugbar, daß ihre Geschichte noch nicht die Geschichte der lyrischen Formen ausmacht. Die Geschichte der lyrischen Formen: damit ist keine Darlegung beabsichtigt in Analogie zur Geschichte der Ballade oder des Liedes. 3 5 Jeder Ansatz einer referierenden Historiographie wird ebenso ausgeschlossen wie die Beschreibung literarischer Konstanten oder Varianten. Ausgehend von der Tatsache eines außerordentlichen Wandels in der lyrischen Thematik und Bildlichkeit vom B a r o c k bis in die Gegenwart, soll dennoch dieser Befund weder als Ergebnis hypostasiert noch als vordergründige Täuschung unter Rekurs auf eine Idee des Lyrischen geleugnet werden. Vielmehr liegt der Arbeit die Inten34 35
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Killys Buch erschien 1972, als die Polemik durchaus nicht überflüssig war. Beispielsweise: Karl Vietor: Geschichte der deutschen Ode. München 1923. Günther Müller: Geschichte des deutschen Liedes. München 1925. Wolfgang Kayser: Geschichte der deutschen Ballade. Berlin 1936. Friedrich Beissner: Geschichte der deutschen Elegie. Berlin 1941. Ein unlängst erschienenes Beispiel für solche Art von Literaturhistoriographie: Theodore Ziolkowski: The Classical German Elegy, 1795-1950. Princeton 1980.
tion zugrunde, in exemplarischer Deutung die Entstehung der lyrischen Form als Resultat der Spannung von Autonomieanspruch des Subjekts und empirischer Heteronomie nachzuzeichnen. Die Vorstellung vom Gedicht als Kampfplatz divergierender Intentionen mag als allzu martialische Konstruktion verdächtigt und in Staigers Terminologie »dramatisch« genannt werden; und in der Tat scheinen die meisten der interpretierten Gedichte prima vista dem sehr fern zu stehen, gar die Kategorie des Kämpferischen durch ihre Existenz zu dementieren. Dabei visiert »Spannung« vorab nichts Inhaltliches an, sie entwirft lediglich die fundamentale Voraussetzung aller lyrischen Befindlichkeiten: die Existenz eines Sprechenden, des Subjekts, und eines Themas, worüber gesprochen wird, des Objekts. Das klingt wie alle grundlegenden Bestimmungen trivial, hat aber, einmal akzeptiert und in seiner ganzen Folgeträchtigkeit erkannt, unabweisbare Konsequenzen. In welcher Beziehung stehen diese beiden zueinander, das entwerfende Subjekt und das entworfene Objekt? Kann jenes ein beliebiges Ding (ein beliebiges Wort) zu seinem Gegenüber machen? Wie frei in der Objektwahl ist es überhaupt? Bereits diese Frage holt die Geschichte in die literarische Spekulation, denn die Gegenständlichkeit des Gedichts ist zweifellos auch in historischer Notwendigkeit, vielleicht bloß in historischer Konventionalität, sicher in trans-voluntaristischer Zwangsläufigkeit gegründet. Andererseits gewährleistet die je andere Individualität des Autors und die tendenziell je andere Individualität des lyrischen Ich ein stets anderes Ergebnis in dem antagonistischen Konflikt. Sieht sich beispielsweise das Ich als abgeleitete Größe, nicht als Subjekt im emphatischen Sinn, so wird es sich den Forderungen der Objektwelt, sei sie nun innerliterarisch als Tradition oder außerliterarisch als vorgegebenes Material (»Thema«) existent, eher unterwerfen als zu Zeiten der Prädominanz des Subjekts. Je unklarer die Beziehung des Ich zu den Dingen, desto größeres Gewicht und drückende Gegenwart werden sie erhalten. Die Relationen lassen sich fast endlos vermehren. Auf ihre abstrakte Formulierung gibt es allerdings keine, nicht einmal abstrakte Antwort. Allein am literarischen Text, also dem herausgehobenen Gedicht, können sie begrifflich fixiert und argumentativ bestimmt werden. Programmatisch stellt sich die Arbeit also die Aufgabe, das Gedicht als Abdruck eines Ringens von Ich-Bewußtsein und Welt-Präsenz und als Ausdruck einer nur hic et nunc gefundenen Synthese, als ein Neues, nachvollziehbar zu machen. Wenn, wie oben entfaltet, als ein Pol in diesem Konstitutionsprozeß das erlebende und schreibende Ich (kategorial nicht identisch mit dem des Autors) benennbar ist, so muß dessen Entwicklung im Gedicht, als Findung oder Verlust, ein Thema von wahrhaft zentraler Relevanz sein. Der Begriff des »lyrischen Ich« oder des »lyrischen Subjekts« (über den Unterschied im Sprachgebrauch an geeigneter Stelle mehr) erweist sich als Kristallisationskern und Katalysator; er gestattet poetologi-
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sehe Einsichten in das Entstehen lyrischer Texte überhaupt und ihre Differenz im historischen Wandel, und er verspricht einen neuen Ansatz literaturhistorischen Systematisierens. Diese wenigen vorgreifenden Sätze dürften klargemacht haben, daß die Arbeit nicht den Versuch einer Geschichte der Lyrik unter dem Aspekt der Subjektivität intendiert. Ein solches Unterfangen wäre schon quantitativ kaum zu bewältigen und vermöchte schwerlich die notwendige Intensität und Prägnanz aufzubieten. Die erwähnte Spannung von Autonomieanspruch des Subjekts und empirischer Heteronomie wird vielmehr exemplarisch an Gedichten vom Barock bis in die Gegenwart demonstriert und als Entwicklung dimensioniert. Der Epochen- und Gedichtauswahl liegt eine These zugrunde, die natürlich in ihrer ganzen Tragweite erst am Ende überblickt und eingeschätzt werden kann, aber jetzt schon, als vorläufige Arbeitsgrundlage und Verständnishilfe, zu formulieren wäre. Sie besagt, daß das lyrische Subjekt ein geschichtlich entstandenes und somit auch geschichtlich vergehendes Formprinzip ist, in dem sich die Antinomien von lyrischem Ich und Objektwelt, wozu die literarische Tradition genauso zählt wie die alltäglichen Dinge, in äußerster Konzentration als ästhetische ausdrücken. Das meint, unter anderem, zweierlei: erstens postuliert es die radikale Historizität des lyrischen Gebildes, weit über die inhaltliche Widerspiegelung hinaus, die als der Problematik unangemessenes, weil normativ simplifizierendes Denkmuster abgelehnt wird; zweitens geht es von der Autonomie des gelungenen Gedichts als Realisation seiner Bedingtheit und ihrer gleichzeitigen Uberwindung aus. Historizität und Autonomie: unter diesen beiden Leitbegriffen soll die Eigenbewegung des ästhetischen Materials als Auseinandersetzung von Ich und abgespaltener Faktizität deutlich werden. Jede Epoche, jeder Autor, ja jedes einzelne Gedicht muß eine eigene Lösung finden; charakteristisch unterscheiden sie sich dann, wenn sie den authentischen Ausdruck ihres Entwurfs von Subjektivität mit der Objektivität von Form, Sprache und Ding produktiv in Einklang bringen. Streng historisch wird die Arbeit vorgehen, weil lediglich auf diese Weise das sehr abstrakte Verhältnis überhaupt einsichtig gemacht werden kann. Folgerichtig schlägt die Untersuchung einen weiten Bogen; anders ist die Veränderung in der Konstruktion von lyrischer Subjektivität nicht zu zeigen. So ist sie in der Lage, die markantesten Wende- und Höhepunkte in präziser Einzelinterpretation des konkreten Textes hervorzuheben und in einen Zusammenhang zu integrieren. Wenn es gelingt, den genauen Standort von Ich und Welt zueinander und im Hinblick auf die Konstituanten Historizität und Autonomie zu designieren, ergibt sich eine Entwicklungsgeschichte der Lyrik, die die Entfaltung und Regression von lyrischer Subjektivität beschreibt. 14
Keine andere Interpretation von Lyrik ist dadurch explizit widerlegt, wie mein Ansatz durch keinen anderen explizit zu widerlegen ist. Einzig die immanente Stimmigkeit (auch da, wo sie nicht von »Stimmung« handeln) der Analysen entscheidet über seine Valenz. Auch durch Gedichte anderer Epochen und Sprachen wird die Beweisführung nicht tangiert; ihre Schlüssigkeit kann durch sie weder minimalisiert werden noch erscheint es notwendig, von außen her Unterstützung zu holen. Eine Diskussion mittelalterlicher oder antiker Texte wäre von höchstem Interesse, überschreitet aber weit den Rahmen des hier Möglichen. Die Exemplarizität des Vorgehens bewahrt, zumindest theoretisch, die Arbeit vor apodiktischem Systemzwang; sie versucht, zwischen der Scylla der nachempfindenden Unverbindlichkeit und der Charybdis begrifflicher Zementierung einen am T e x t orientierten Mittelweg zu bahnen, der eine vorgegebene Richtung, nicht jedoch ein Ziel besitzt und damit den Gedichten ähnelt, zu denen er hinführt. Die inhaltliche Konkretisierung der zunächst ganz abstrakten These bedarf der Interpretation ausgewählter Autoren und Gedichte, sie kann hier nicht vorweggenommen werden. Zumindest die wichtigsten Fragestellungen und terminologischen Grundlagen werden schon jetzt skizziert, um die Geschlossenheit des Entwurfs und seine notwendigen Verknüpfungen anzudeuten. Das erste Kapitel geht einen Schritt hinter die Epoche zurück, mit der man gemeinhin die lyrische Subjektivität beginnen läßt, die Zeit von Empfindsamkeit und Sturm und Drang nämlich, und untersucht das mögliche Auftreten einer lyrischen Subjektivität im Barock. Unbestreibar finden wir dort, und das ist natürlich kein Spezifikum, viele lyrische Ichs, aber nicht jene lyrische Subjektivität, deren unabdingbare Voraussetzung das Bewußtsein der unwiederholbaren Individualität in einer von keinem vorgegebenen Sinn strukturierten Welt bildet. Somit müssen die Spannungen, von denen die Barocklyrik bis in ihren Wortschatz hinein bestimmt wird, von fundamental anderer Art sein als die der Goethe-Zeit oder des Realismus. Sie zeigen ein Ich, dem nicht der Rekurs auf eine unableitbare Innerlichkeit, sondern der Ausbruch in die (geglaubte oder nur mehr noch konventionelle) Transzendenz einer geoffenbarten Religion die endliche Möglichkeit einer Lösung anbietet. Es fehlt der Wille des lyrischen Ich, in einer mit unvorhersehbarem Ausgang auszutragenden Konfrontation seine Grenzen zu eruieren und alle Objekte auf sich als einzige Instanz zu zentrieren. An Sonett und religiösem Lied, religiöser Dichtung im weiteren, wird die Ausformung des Verhältnisses zu zeigen sein. Denn da, wo das System der rhetorischen Schemata am wirkungsvollsten angewendet wird, im Sonett, findet sich die strengste Ordnung, die einer elementaren Emotionalität keinen Einlaß gewährt. Jedenfalls nicht so, daß sie
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sich ihre eigene Form schaffen dürfte; noch (literaturtheoretisch gesehen) gilt der Primat des Objektiven über die Subjektivität, der tradierten Autorität über eine kreative auctoritas. Die Religiöses thematisierende Lyrik gewährt dagegen einer tatsächlichen oder scheinbaren Unmittelbarkeit R a u m , die zwar strikt auf eine jenseitige Sphäre bezogen ist, einmal existent und als textkonstitutiv etabliert aber den Keim der Entwicklung, d a s Potential einer Säkularisierung in sich trägt. Die programmatische Wendung gegen eine transzendente Sinngebung der eigenen Existenz vollzieht die Lyrik des jungen Goethe im ästhetischen Material nach. Er führt die Lyrik von der überlieferten Heteronomie zur künstlerischen Autonomie. D a s heißt, und das muß im Einzelfall belegt werden: er schafft ein Reich der ästhetischen Versenkung (und individuellen Befreiung) anstelle religiöser Entäußerung. Diese Ästhetisierung der Welt (was streng geschieden sein muß vom l'art pour l'art späterer Zeiten, wenngleich dieses nur die letzte Konsequenz von jenem darstellt) initiiert die Wendung zum eigenen Ich als dem G r u n d jeder Erfahrung und dem Adressaten des zunächst objektlosen Gefühls. Die dabei sich ergebenden Stadien in der Relation von Ich und Welt — Abhängigkeit, Identifikation, vielleicht gar Identität — konkretisieren die einzelnen Entwicklungsschritte der sich mehr und mehr befreienden und seine Freiheit auslotenden lyrischen Subjektivität. D a s als a u t o n o m sich entwerfende Ich beschreibt im Gedicht seine Emanzipation und ihren ersten Gewinn: die Apotheose der lyrischen Subjektivität im säkularisierten Gebet. Die zum Ausdruck ihrer Freiheit gelangte Emotionalität (als d a s primäre Resultat der Subjektivierung) richtet sich nicht mehr wie im Gebet nach oben, sondern auf den eigenen imaginären Mittelpunkt (die Parallelen zum Pietismus sind oft genug ausgeführt worden); durch diese außerordentliche, in psychoanalytischer Terminologie nur als libidinös-narzißtische Besetztheit zu bezeichnende Konstruktion wird das Mittel zum Z w e c k , der Weg zum Ziel: D a s Gedicht erscheint als Absolutum, indem es den Akt der Subjektivierung des Subjekts beispielhaft leistet. Die Inthronisation des unverwechselbaren und schöpferischen lyrischen Subjekts führt zur Geburtsstunde einer »neue n « , ebenfalls unverwechselbaren und schöpferischen lyrischen Sprache, die die Schalen einer von außen herangetragenen Konstruktivität abschüttelt und, s o wie das schreibende Ich, nach reflektierter Identität mit sich selbst strebt. D e m verschränkt ist das Naturgefühl, das sich nun Bahn bricht und nicht bloß thematisch von zentraler kategorialer Bedeutung wird. N u r scheinbar artikulieren die Texte des jungen Goethe eine bruchlose und ein für allemal nachvollziehbare Übereinstimmung. Z w a r erfährt das Ich im Verlauf seiner Subjektwerdung die N a t u r als mit sich, seiner Substanz, identisch und das Gedicht als Ausfluß dieser Partizipation an der großen natura naturans,
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aber die Emanzipation des Bewußtseins, notwendige Voraussetzung jeder Subjektivität, fördert eine zunächst noch verdeckte Trennung von Mensch und Natur. Diese existentielle Spannung gestattet und gestaltet die Lyrik des jungen Goethe und eröffnet gleichzeitig eine Fremdheit, die die nachfolgenden Epochen mit immer prekärerem Erfolg zu mindern suchen. Das läßt sich in besonderer Klarheit an Gottfried Keller zeigen. Er bewahrt so viel an Romantischem auf, in seinen Gedichten ist die Romantik so unverzichtbare Folie bei der Selbstfindung und noch so präsent, daß es legitim ist, von Goethe gleich zum Realismus überzuleiten, der ohne Romantik nicht gedacht werden kann. Die erste Schwierigkeit bei der Analyse Kellers ist Folge der Tatsache, daß der Realismus seine ästhetische Erfüllung nicht in der Lyrik gefunden hat. Dies muß als logische Folge der programmatischen Forderungen der Dichter und der objektiven Verhältnisse begriffen und anschaulich gemacht werden. Die Trennung von Welt und Mensch war die Voraussetzung für die totale Verfügbarkeit über alle Objekte (tendenziell auch über das sich zum Objekt werdende menschliche Subjekt), d.h. über die als Fremdes verstandene und betrachtete Natur. Der romantische Versuch, diese drohende und unumkehrbare Spaltung durch Hypostasierung des Ichs zu kompensieren, war, am deutlichsten in der Lyrik Hölderlins, gescheitert. Die Ubermacht der empirischen Außenwelt über die selbst-bewußte Subjektivität kann nicht mehr durch poetische Anstrengung bekämpft, nur noch durch Hereinnahme und teilweise Verinnerlichung konterkariert werden. Das gibt den Romanen des 19. Jahrhunderts ihre realitätsgesättigte Fülle und ihr genaues Pathos. Das lyrische Sprechen findet es entschieden schwerer, die historische Spannung ästhetisch zu bewältigen. Es verstand sich seit Goethe als avancierteste Position der weltschaffenden Subjektivität und, als Folge davon, der Präponderanz autonomen Kunstwollens. Der seismisch gefühlte Weltverlust kann im Gedicht nicht voluntaristisch überwunden werden; lediglich durch bewußte Registrierung und Protokollierung der Veränderung kann das Gedicht hoffen, dem immer noch bejahten Ziel, unmittelbarer Ausdruck von Individualität zu sein, nicht untreu zu werden. Die Nennung alltäglicher Dinge, Erfahrungen und Worte ist der erste Schritt auf diesem Weg. Gleichzeitig behalten, zumindest bei Keller, die Objekte noch einen magischen Zauber — besser: sie gewinnen ihn im Prozeß der imaginativen Verarbeitung neu hinzu. Je rascher sich die Welt dem Dichter als das Fremde uneinholbar entzieht, um so sehnsüchtiger klammert er sich an die einzelnen und vereinzelten Teile, die sich im Gedicht, kraft dessen ästhetischem Willen, zu sinnvollen Bildern des Ganzen ordnen. Dieser kreative Prozeß bleibt nicht ohne Rückwirkung auf das lyrische Subjekt: einerseits reagiert es durch Aufnahme von Welt auf seine eigene zunehmende Weltlosigkeit (die parallel läuft
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einer zunehmenden Dominanz der entfesselten Welt-Teile), andererseits verwandelt es durch diese Anpassung die disiecta membra zu stimmigen Bausteinen einer poetischen Welt, des Gedichts, und damit sich selbst, so daß am Ende eine Art von Versöhnung stehen kann, mit der das lyrische Gedicht noch einmal schöpferisch die Subjekt-Objekt-Spannung nutzt. Die Jahre des neuen Jahrhunderts bis zum Ende des Ersten Weltkriegs bringen eine unerhörte Verschärfung dieser antagonistisch werdenden Distanz. Beispielhaft wird das Oeuvre Trakls herangezogen. In ihm treffen sich traditionelle Bildlichkeit und avantgardistisch-kühne Neuschöpfungen. Aber die Tradition ist erloschen, und das Neue paradoxerweise doch an das Alte gebunden. Die asyndetische Reihung seiner Bilder gehorcht keiner anderen Logik als der des sie zusammenzwingenden Subjekts. In ihrer Vereinzelung negieren sie die Wörtlichkeit, mit der sie dastehen und ihre Vergangenheit evozieren, ohne die sie zwar nicht verständlich wären, die alleine jedoch nicht mehr die Basis ihrer Bedeutung abgeben kann. Die Natur erscheint, als würde sie aus einer unterirdischen Höhle beschworen: fragmentarisch, hypertroph, bei aller Schönheit kalt und fremd. Dem lyrischen Subjekt gelingt eine äußerste Komprimierung seiner Situation im Rekurs auf die Außenwelt, die unmittelbaren Zugang bereits verweigert, aber die Substantialität dieses Subjekts erschöpft sich in der resignativen Konstatierung der Unmöglichkeit einer genuinen Beziehung zu den Dingen. Deren literarisierte Geschichte tritt an die Stelle der Sache selbst: der Lyriker findet sich nicht mehr in der Natur und ihren Bildern, er verliert sich in ihnen. Die Erweiterung der poetischen Freiheiten erweist sich als Kompensationsphänomen — was nicht als Werturteil mißverstanden werden darf. Die an sich ungemein anschaulich-sinnlichen Adjektive in Trakls Lyrik haben etwas von diesem Doppelcharakter: indem sie die Erinnerung an jeden dichterischen Kontext bewahren, dem sie jemals Glanz gaben, gefrieren sie zu austauschbaren Versatzstücken lyrischer Konstruktion. Ihr Auftauchen gehorcht kaum noch individuellem Formwillen, eher einer transindividuellen anonymen Instanz, als deren Exekutor Trakl auftritt. Das lyrische Subjekt entäußert sich völlig aller »subjektiven« Prätention in der Hoffnung, so der Übermacht von Welt und Tradition standhalten zu können. Bei Gottfried Benn gibt es keine solche Hoffnung mehr; sie wird ersetzt von einem radikalen Bekenntnis zur Epigonalität als angemessener Lebens- und Dichtungsform. Sein lyrisches Ich definiert sich als »spätes« und gewinnt Substanz nur durch die Konstruktion einer sekundären Subjektivität, einer rein artistischen, der Weltzugang und Weltschöpfung beinahe einzig noch im Zitat sowie »antiker« und »südlicher« Bildlichkeit erfahrbar sind. Der chi18
märische Gewinn solcher Reduktion durch Erweiterung liegt in der Verfügung über Alles: Zeiten, Räume, Stile, Bilder. Nun zeigt gerade die Omnipotenz des lyrischen Subjekts dessen Leere: alles ist möglich und nichts mehr substantiell. Das »absolute Gedicht« Benns, das er stets eher beschrieben und gefordert als realisiert hat, ist die poetologische Parodie auf die in der Tat absoluten Gedichte Goethes, der letzte Versuch, mit der und gleichzeitig gegen die Vergangenheit an der Idee von lyrischer Subjektivität festzuhalten. Darin manifestiert sich die deutlichste Distanz zu Epochen, die über sie unmittelbar verfügten. Die lyrische Subjektivität zeigt sich nicht mehr direkt, sondern als Vermögen, lyrische Subjektivität zitierend und erinnernd zu evozieren. Denn real und formschaffend war sie als Sehnsucht nach einer Ubereinstimmung von Ich und Welt. Nach dem Schwund der Selbstverständlichkeit dieser Vereinigung tritt auch die lyrische Subjektivität ins Zeitalter des Alexandrinismus ein. Wenn die Konstruktivität lyrischen Sprechens vom Dichter selbst als notwendig und unvermeidlich erkannt wird, löst sich Lyrik endgültig von der Idee eines einmaligen und unverwechselbaren Subjekts, das ihren Äußerungen zugrunde liegen müßte. Ihre grenzenlose Freiheit ist in Wahrheit nichts anderes als die Freiheit zu jeder Form von Epigonalität. In diesem Stadium befindet sich das Gedicht — und jetzt könnte von lyrischer Subjektivität nur noch ironisch, in Anführungszeichen, gesprochen werden — in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Je näher der Interpret seiner eigenen Zeit kommt, desto unschärfer und dabei farbig-verwirrender gestaltet sich ihm das Bild. Zu konträr und divergierend sind oder scheinen die lyrischen Entwicklungen, als daß eine verbindliche Fortführung gestattet ist. Somit endet die Arbeit bei Benn; eine theoretisch hinreichende Entfaltung des gegenwärtigen Zustands hätte mit vielen im schlechten Sinn subjektiven Faktoren zu rechnen, deren Valenz im einzelnen nicht eingeschätzt werden kann und die eine tragfähige Extrapolation der entwickelten Thesen übers akzeptable Maß hinaus erschweren. Dennoch soll zumindest angedeutet werden, welche Richtung künftige Überlegungen nehmen mögen. Das allen lyrischen Versuchen der Konkreten Poesie und ihr verwandter Bestrebungen Gemeinsame ist der Unernst, oder, weniger pejorativ klingend formuliert: ihr Überschuß an Spielerischem. Sie stellen sich der geschichtlichen Lage auf diese sympathetische Weise. Das tut sehr häufig ebenfalls die quantitativ und im öffentlichen Bewußtsein so vorherrschende politische Lyrik. Nun gehorcht sie, als tendenziell aktionistische, anderen Gesetzen, weil für sie die Spaltung von Subjekt und Welt durch Kapitulation des Subjekts vor der Welt ( — auch und gerade bei einem Wunsch nach radikaler Änderung) prinzipiell überwindbar ist. Da sie keinen wahrhaften (also unlösbaren) 19
Antagonismus von Individuum und Gesellschaft anerkennen darf, ergeben sich für sie ganz andere Formprobleme als die hier diskutierten. Im Realismus-Kapitel wird dafür Platz sein: Kellers Lyrik artikuliert die »politische« Frage, löst sie freilich durchaus anders. Die Konkrete Poesie als theoretisch deutlichster Widersacher der aktionistischen Lyrik zieht die radikalsten Konsequenzen aus dem Absterben des lyrischen Subjekts: sie reinigt ihre Texte von jeder Erinnerung daran. In Zitat, Montage, zufälligen Wertkombinationen und bewußter Destruktion drückt Lyrik in mimetischer Angleichung die Erschütterungen aus, die Idee und Realität eines autonomen Subjekts erfahren haben. Gleichzeitig dazu laufen zwei parallele Phänomene: erstens der Versuch des entsubjektivierten lyrischen Subjekts, sich in der Konkreten Poesie eine denn doch angemessene Form zu schaffen, als vermittelt unmittelbares Hervortreten von Sprache selbst; unmittelbar, weil das Zeichen auf dem Papier die vorgestellte Realität umstandslos vertritt, vermittelt, weil auch dies einem geschichtlichen Konsensus folgen muß, um überhaupt registriert und rezipiert zu werden. Zweitens verlangt der spielerische Duktus, der schon erwähnte Unernst, einen Leser, der kraft seiner eigenen Individualität den Ort der Gedichte bestimmen kann. Die Kombinatorik der nicht mehr lyrischen Lyrik setzt also frei, von dessen Erlöschen sie kündet: Phantasie. Die Texte sind identisch nur noch mit sich; die lyrische Subjektivität ist an ein Ende gekommen. Ähnlich wie in der Mitte des 18. Jahrhunderts kündigt sich ein Wechsel in der ästhetischen Verarbeitung der elementaren Spannung von Subjekt und empirischer Welt an, ein Wechsel, der radikal an den Bedingungen der Möglichkeit von Lyrik rüttelt, indem er deren bisherige Basis, die lyrische Subjektivität, irreversibel zu vernichten droht. Uber Gedichte ist schwer reden, kein Zweifel. Aber nicht unmöglich; denn das Gedicht handelt, wann immer ein Ich zu sich findet, auch vom Du, vom Leser: nostra res agitur. Die historische Ferne und faktische Unzeitgemäßheit löst sich auf, dechiffriert ein heutiges Ich im Alten seine eigene Geschichte, die individuelle und die allgemeine. Intentionslos spricht das Gedicht von der Überwindung der empirischen Endlichkeit in der je anderen und doch immer gleichen Vollkommenheit der Kunst. Dadurch partizipiert es, und nur dadurch, an der Unsterblichkeit, dessen wortgewordenen Traum es verkörpert. So behauptet es sich gegen die Zeit: gegen die Ubermacht des verrinnenden Lebens, gegen das Vergessen, gegen die deprimierende Wiederholung des Alltäglichen und den Tod. Der Interpret kann nichts anderes tun, als die Sehnsucht des Gedichts begrifflich nachzuzeichnen, bedroht von eigener Stummheit oder Geschwätzigkeit, Unverständnis oder Arroganz, angetrieben von der Hoffnung auf Teilhabe am Prozeß der Selbstfindung durch lyrische Entäußerung. Der Weg vom Barock in die Gegenwart, den diese Arbeit zurück-
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legt, führt folgerichtig nicht teleologisch an ein Ziel, sondern hin zu differierenden Ausformungen einer perennierenden Spannung, deren volle Artikulation die eine Epoche gestattet, die andere verwehrt oder nicht entfalten will. Alle sind jedoch kategorial gleichwertig und qualitativ abhängig einzig von dem Grad der konsequenten sprachlichen Realisierung der historisch vorgegebenen Dichotomie von Ich und Welt. Was sie daraus schaffen, bildet einen fundamentalen Anspruch: Entwurf und Vollendung zugleich. Weil das so ist, so vorläufig und so abgeschlossen, ist über Gedichte schwer reden, müssen aber Entwurf und Vollendung im deutenden Wort eingeholt und dargestellt werden.
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I. Kapitel: BAROCK
Einführung Die Zeit zwischen Renaissance und Aufklärung war natürlich wesentlich weniger einheitlich, als der zusammenfassende Terminus Barock suggerieren könnte. Darüber herrscht Konsens, und es muß dies nicht nochmals dargelegt werden. Auch die früher beliebte Frage nach der Berechtigung, dem Sinn und Zweck der Bezeichnung Barock hat so nachhaltig ihre Unergiebigkeit erwiesen, daß sie ignoriert werden darf. In dieser Arbeit wird unter »Barock«, dem gängigen vorwissenschaftlichen wie wissenschaftlichen Usus folgend, die Gesamtheit der künstlerischen Ausdrucksformen des 17. Jahrhunderts verstanden und im besonderen die sprachlich-fiktiven. Die interpretatorische Deutung befaßt sich, das Terrain noch weiter einschränkend, mit ausgewählten Gedichten der Epoche. Ihre Subsumtion unter einen innere Geschlossenheit und deduzierbare Abhängigkeit vortäuschenden Begriff ist gerechtfertigt durch den rein operationellen Charakter des Vorgehens, nicht durch a priori behauptete Ubereinstimmung signifikanter Züge. Die an die Barocklyrik gerichteten Fragen wurden in der Einleitung knapp angedeutet und unterscheiden sich zunächst nicht von denen, die allen anderen Gedichten auch gestellt werden. Wie also, um es konkretisiert und präzisiert zu wiederholen, bestimmt sich im 17. Jahrhundert das lyrische Ich — kann hier schon von einem Subjekt als intentional unverwechselbarem Konstituens die Rede sein? Welchen formalen Ausdruck nehmen die notwendigen Spannungen zwischen Innen und Außen an und auf welche Weise präformiert, vielleicht gar deformiert, die Forderung des Tradierten und der Anspruch auf exemplarische Richtigkeit den Kunstwillen des Schreibenden? Erst in Einzelinterpretationen, dann in einem systematischen Teil werden die Gedichte auf eine Antwort hin betrachtet. Dabei soll, kurrenten Unterscheidungen zuwider, in einem bloß heuristischen Modell, das keine darüberhinausweisende Gültigkeit prätendiert, eine »weltliche« Lyrik der »religiösen« an die Seite gestellt und kontrastiert werden. Die religiöse umgreift, und das ist bisweilen ganz wörtlich zu nehmen, Themen, Thesen und Begriffe sowohl einer eher meditativrationalen Introversion wie auch einer ekstatisch-mystischen Versenkung; die
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weltliche bedient sich vor allem erotischer Motive zum Aufbau einer tatsächlich oder scheinbar säkularen Ordnung durch formale Bändigung des diesem Sujet inhärenten Chaos. Daß sich darin beide Stränge treffen und unter diesem tertium comparationis verbinden, dürfte nicht überraschen und ist für mystische Literatur oft genug konstatiert worden. Daß jedoch beide auf ihre Art und Weise zur Entfaltung eines reicheren und spannungsvolleren Ich beitragen, wird zu zeigen sein. Im systematischen Teil wird drei Phänomenen Aufmerksamkeit geschenkt, die auf je sehr differierendem Modus zum spezifischen Charakter der Barocklyrik kontribuieren: Sonett, Metapher und Selbstanrede. Ihre kategoriale Heteronomie befördert die einander stützenden Einsichten in den strukturellen Aufbau und die historische Bedeutung der Texte; ihre funktionale Identität schärft den Blick für Übereinstimmung und Divergenzen, für den allem zugrundeliegenden Charakter der sprachlichen und metasprachlichen Artikulation. Das Sonett, die repräsentative Gedichtform des Barock, wird in seiner intentionalen und trans-intentionalen Verwendung gezeigt; die Metapher als formale Lösung ästhetischer und empirischer Probleme einsichtig zu machen gesucht, und schließlich soll ein Abschnitt den Gedichten der Selbstanrede gewidmet sein, wo schon in der Überschrift (»An Sich« oder ähnlich) die Frage nach der Befindlichkeit dieses Ich auftaucht. Die rigorose Beschränkung auf einzelne Gedichte und einzelne, wenngleich schon vorgängig als zentral zu erkennende Themen stellt sich in diesem Kapitel noch rigoroser und spekulativ-herrischer dar als in den folgenden, die jeweils einem Autor, einem Lebenswerk gewidmet sind. Dies einzugestehen bedeutet keinesweg, die Basis der Untersuchung berechtigter und treffender Kritik auszusetzen. Denn die zweifellos extreme Exemplarizität des Vorgehens tangiert nirgendwo die Valenz der den Texten entnommenen Befunde zur Herausbildung einer lyrischen Subjektivität als Resultat und Voraussetzung sprachlicher und programmatischer Eigengesetzlichkeit. Ob die einzelnen Etappen dieses Autonomieprozesses sich innerhalb des Oeuvres eines Dichters entfalten oder epochenspezifische Züge tragen, bleibt sekundär angesichts des Ergebnisses. Vielleicht gehört es zur Notwendigkeit lyrischen Sprechens im 17. Jahrhundert, die Fülle des Möglichen nicht im Werk eines repräsentativen Autors, sondern wahrhaft realisiert bloß in der Totalität des erst der Nachwelt dechiffrierbaren poetischen Kosmos aufbewahrt zu haben. Anlage und Zielrichtung der Arbeit bringen es mit sich, daß der quantitativ und oft auch qualitativ außerordentlichen Barockforschung, den eindringlichen Analysen und geistesgeschichtlichen wie literaturhistorischen Übersichten nur am Rande Erwähnung geschieht. Das soll nicht Mißachtung des Geleisteten dokumentieren, sondern hinweisen auf die prinzipielle Neuheit der Fragestellungen, die die synchrone Perspektive der herkömmlichen Ly-
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rikbetrachtung zwar nicht ignorieren, aber ihre Ergebnisse in einem diachronen Kontext neu gewichten, ohne den vom Positivismus favorisierten Kausalitäten »Einfluß« und »Abhängigkeit« zu unterliegen. Sprachliche und formale Analogien täuschen eine in Wahrheit nur post festum konstruierte Dependenz vor, und selbst da, wo sie unbezweifelbar existieren, etwa als Parodie oder wörtliche Anspielung, verdeckt die vordergründige Identität der Gegenstände ihre substantielle Fremdheit und Trennung. Davon ausgehend, also die Unwiederholbarkeit eines geschichtlichen und ästhetischen Augenblicks postulierend, reduzieren die Interpretationen den Text nicht, berauben ihn nicht der historischen Dimension, sondern legen vielmehr deren volle Bedeutung dar. Die Verbindung zu Gedichten des 18., 19. und 20. Jahrhunderts wird gesehen nicht als Nachwirkung des Alten oder Antizipation eines Neuen (letzteres höchstens cum grano salis und in genau definiertem Sprachgebrauch); vielmehr sind alle Texte Versuche einer lyrischen Standortbestimmung, die zwar den — mutatis mutandis — gleichen Fragen zugänglich, aber in sich vollkommen unabhängig sind, selbst da, wo sie dem programmatischen Ideal der Autonomie nicht (noch nicht oder nicht mehr) gehorchen. Die Generalthese von der Entfaltung und dem Verlust der lyrischen Subjektivität vom Barock bis in die Gegenwart stiftet eine mögliche Kontinuität, deren akausale Kohärenz andere Kontinuitäten weder fordert noch verhindert. Von nachhaltiger Bedeutung ist allein die immanente Richtigkeit der Interpretationen und die Einsichtigkeit der je anderen Relationen zwischen Ich (tradiertem, sich findendem, noch leerem) und Welt (Überlieferung, Sprache, empirische Faktizität). Aus zwei Bedingtheiten entsteht ein Freies und Neues: das Gedicht.
Einzelinterpretationen Christian Hoffmann von H o f f m a n n s w a l d a u : Vergänglichkeit der Schönheit ES wird der bleiche tod mit seiner kalten hand Dir endlich mit der zeit um deine brüste streichen/ Der liebliche corall der lippen wird verbleichen; Der schultern w a r m e r schnee wird werden kalter sand/ Der äugen süsser blitz / die kräffte deiner hand/ Für welchen solches fällt / die werden zeitlich weichen/ Das haar / das itzund kan des goldes glantz erreichen/ Tilgt endlich tag und jähr als ein gemeines band. Der wohlgesetzte fuß / die lieblichen gebärden/ Die werden theils zu staub / theils nichts und nichtig werden/
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Denn opffert keiner mehr der gottheit deiner pracht. Diß und noch mehr als diß muß endlich untergehen/ Dein hertze kan allein zu aller zeit bestehen/ Dieweil es die natur aus diamant gemacht.
Hoffmannswaldaus Sonett 1 scheint, bis ins zweite Terzett hinein, ein düsterpathetisches Memento mori. Dem redenden Ich steht ein weibliches Du gegenüber, dem mit sadistischer Unerbittlichkeit Verfall, Siechtum und Tod am Beispiel ihres eigenen jetzt noch so begehrenswerten Körpers beschrieben werden. In fulminanter und tradierter Rhetorik entsteht, gleichsam exemplarisch, ein Bild von Schönheit und unabwendbarem Untergang. Brüste und Lippen, Schultern und Augen, die hellen Haare und der wohlgesetzte Fuß — also das Äußere der jungen Frau — sind nur genannt, um sofort lustvoll als transitorisch und damit minderen Ranges denunziert zu werden. Melancholie liegt über den Quartetten und dem ersten Terzett. Die Uberschrift erfährt eine erste, vorläufige Erfüllung. Die Situation, sofern von einer solchen schon die Rede sein kann, hält sich im Beispielhaft-Allgemeinen: nicht eine Schöne wird angeredet, alle sollen sich getroffen und betroffen fühlen; zwar beschränkt sich das mahnende Ich auf ein Du, aber ohne unterscheidbare Individuation, die ja auch, bis zur Zeile 11, der prätendierten Intention zuwiderliefe. Das zweite Terzett wendet nun das Gedicht in mannigfaltiger Hinsicht. 2 Der Erscheinung folgt das Innere, das Wesen des Mädchens, ihr Herz. In herkömmlicher Metaphorik soll es überdauern, und fast ist der Leser enttäuscht, daß alles so regelrecht und bieder vor sich geht. Aber Hoffmannswaldaus intelligente Artistik brilliert in der Schlußzeile: »Dieweil es die natur aus diamant gemacht.« Mehrere Pointen folgen hier aufeinander und erzwingen ganz andere Lesarten des Vorhergehenden. Zunächst ist der Vergleich von Herz und Diamant schmeichelhaft: der wertvollste Edelstein verbunden mit dem Sitz von Gefühl und Zuneigung. Aber der Diamant ist nicht nur der kostbarste, sondern auch der härteste aller Steine. Alles löst sich auf, Fleisch und Gebein, nur das harte Herz überdauert Leben und Tod, Werbung und Begehren. Die beschworene Vergänglichkeit der Schönheit, all die Nichtigkeitsbilder, lassen sich jetzt, vom Ende des Textes her, zwei-deutig lesen: sie zielen nicht auf Abkehr vom Irdischen, im Gegenteil akzentuieren sie ein unmißverständliches erotisches carpe diem. Das Gedicht enthüllt sich als kunstvolle Wer-
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Abgedruckt in Albrecht Schöne (Hrsg.): Das Zeitalter des Barock. Texte und Zeugnisse. München 2 1 9 6 8 , S. 480f. Auf so geistreiche und elegante Art, wie es die nachbarocken Zeiten nicht annähernd mehr erreicht (gar nicht versucht) haben. Es bleibe dahingestellt, was primär war: ein verändertes Kunstwollen, das den Witz aus der Lyrik verbannte oder ein Verfall der pointierten Verskunst, die nachträglich ideologisch gerechtfertigt wurde.
bung, es will überreden, das Mädchen von den Unsinnigkeit spröden Widerstrebens überzeugen. Warum, so fragt es, bist du (:ist dein Herz) so hart und kalt; betrachte dich sub specie mortis, deinen Körper als unvermeidlich dem Alter und der Auflösung zutreibend. Damit gewinnt das Sonett eine zuvor nicht erkennbare persönliche Dimension; die Konfrontation von Ich und Du kann nicht reduziert werden auf eine unpersönliche Situation abstrakter Lehre, in der jedes beliebige Du die Rolle des Hörenden spielen könnte. Ein Liebender redet stattdessen zur Geliebten, Begehrten. Aber schon hier ist evident, in welch außerordentlicher und charakteristischer Weise Hoffmannswaldaus lyrisches Ich von denen Goethes oder denen des 19. Jahrhunderts differiert. Die vorgebliche Unpersönlichkeit wird in der Schlußzeile zwar witzig gewendet und entlarvt sich als erotische Nähe, aber die dritte Ebene des Sonetts erheischt dann wieder eine scharfe Distanzierung von allen Entwürfen späterer Epochen. Das Ineinander von Lehre und Werbung, Konkretion und Abstraktion, Gefühl und Witz zielt endlich doch auf ein Ideal der Barocklyrik: die Exemplarizität, das Beispielhafte und Allgemeingültige. In Bildlichkeit und Aufbau, grob gesagt also der Form, folgt das Sonett den festgelegten und zum individuellen, d.h.: situativ unterschiedlich verwendbaren, Gebrauch bereitliegenden Topoi; vom »lieblichen corall der Uppen« über »der äugen süsser blitz« bis hin zum »haar/ das itzund kan des goldes glantz erreichen« ist nichts unverwechselbar eigen, neu oder kühn. In der Variation der Invarianten liegt der barocke Ehrgeiz, nicht im Finden oder Erfinden des radikal Anderen; einzig am Rand der approbierten religiösen Lyrik gewinnt, wie zu zeigen sein wird, die Idee des Un-Erhörten eine gewisse konstitutive Kraft. Unser Sonett somit konventionell zu nennen, meint keine Abwertung, tangiert nicht die Frage der Qualität. Wohl aber führt es uns ins Zentrum der Problematik, der lyrischen Subjektivität. Die Quartette und Terzette versuchen zwei Ziele in einem Anlauf zu erreichen: die ironisch gebrochene Werbung um ein Mädchen und die, gleichfalls sanft ironisierte, Einsicht in die Zeitlichkeit aller menschlichen Dinge. Beide Ideen kontrastieren innerhalb dieses Kontextes nicht nur nicht, sie unterstützen und befördern einander vielmehr in einsichtiger Weise. Somit — eine von Hoffmannswaldau schwerlich intendierte Dimension — läßt sich das Sonett dann doch als Darstellung einer Situation begreifen. Einer Situation, in der kein Ich (und also auch nicht ansatzweise ein Subjekt) einem Du gegenübersteht, sondern ein sich personifizierender Kunstwille einer Welt aus Worten und Vorstellungen. Die Konkretionen des Gedichts imitieren keinen Eindruck realer Körperlichkeit oder sinnlicher Unmittelbarkeit, ihre rhetorische Verfügbarkeit nimmt ihnen von vornherein Charakteristik und Farbe. Die Beschreibung der Partikularitäten schlägt um in die Abstraktion paradigmatischer Zeitlosigkeit, von der aus der Aufruf zur Nutzung der unwiederholba-
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ren eigenen Existenz als beliebig repetierbare Formel ins Zwielicht gerät. In einem genauen Sinn zeitlos erscheint so die Beschwörung der Vergänglichkeit: eine Immanenz, von der aus die vanitas-Bildlichkeiten keine temporäre Dimension öffnen können, sondern kategorial wie poetologisch schließen. Die T o p o i und die evozierte Zukunft (der angesprochenen Frau, aller M e n schen, alles Geschaffenen) haben keine Existenz und Funktion außerhalb der Wirkungsabsicht des redenden Ich, keine sprengende oder vertiefende lyrische Bedeutung, leicht pathetisch formuliert: kein Schicksal. Der Einzelne und das Einzelne ist bloß als Teil einer Summe, existiert lediglich als Partikel eines übergeordneten gedanklichen und ästhetischen Systems, das wiederum apriorisch konstituiert wird und nicht, als Ergebnis, am Ende eines Prozesses steht. In solchem Kontext gewinnt die Schlußpointe die Bedeutung einer programmatischen Aussage. Sie manifestiert den Primat des Witzes über die Authentizität, des Wortes über die Sache, des Tradierten über jede Spontaneität. Der einzige Ausdruck, vollgültig und von keinem Zweifel an der Identität des lyrischen Ich mit dem Substrat der empirischen Welt angekränkelt, ist die Form und vice versa: Form schafft sich einen transindividuellen Ausdruck, weil sie, als das zeitlich wie normativ Vorgängige, das Ich der Dichtung nur als eine ihrer F u n k t i o r j e n z u begreifen und auszudrücken in der Lage ist. Diese Konstellation verbietet jede Entwicklung des Ich zur werkkonstitutiven Individualität, wie wir von unserer heutigen Position aus sagen müssen. Es macht sie aber auch unnötig, wie ein verstärkteres Bemühen um historisches Begreifen hinzuzufügen hat. 3 Die Erklärung, daß die Intentionen der Barockdichter andere waren als die der Lyriker des 18. Jahrhunderts, ist nicht falsch, aber doch einigermaßen vordergründig und selbst ausgreifenderer Explikation bedürftig, ohne daß der Interpret je hoffen könnte, eine letztgültige Antwort zu erhalten. Der retrospektiv schwer abzuschüttelnde Eindruck einer etwas flachen Perfektion, einer durch Kunstfertigkeit allzu rasch restringierten Exploration der eigenen Innenwelt muß späteren Epochen als Mangel vorkommen, sofern sie nicht historistisch alles einebnen. Zweifellos reflektiert die Suprematie der tradierten (und tradierbaren) Autorität präzise den Bewußtseinsstand und die Leitvorstellungen der damaligen Zeit. Die Zurückhaltung dessen, was später Subjektivität genannt wird, ist schwerlich zu denken als voluntaristischer Akt einer die höfischen Etikette imitierenden poetischen Affektkontrolle, eher als das tatsächliche Fehlen des Bedürfnisses nach unverwechselbarer, gar narzißtischer, Exhibition, so sehr uns dies heute elementar und geschichtlich unvermittelt vorkommen mag. Zwischen Ich
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Zur Interpretation dieses und anderer Hoffmannswaldauscher Sonette vgl. Erwin Rotermund: Christian Hofmann v. Hofmannswaldau. Stuttgart 1963.
und Welt als den invarianten Polen aller Dichtung tritt bis in die Mitte des 18. Jahrhunderts in jeder Gattung ein stets applizierbarer Vorrat an Themen, Figuren und Metaphern; radikal wie sonst nirgendwo ist die Vorbildlichkeit innerhalb der Lyrik demontiert worden — das II. Kapitel handelt ausführlich davon. Daher wirkt die Lyrik der Vor-Goethezeit meist defizient, weil ihr Reichtum uns nur durch Bildungsanstrengung zugänglich ist und ihr Glanz von jenen Formen ausgeht, die vor-subjektiver Verbindlichkeit ihr Entstehen verdanken und damit nicht in die historische Entwicklung unverwandelt eingegangen sind.
Ein anderes Exempel »weltlicher Lyrik« soll das weiter verdeutlichen, Hoffmannswaldaus »Wo sind die Stunden«, postum 1 6 9 5 veröffentlicht. 4 W o sind die stunden Der süssen zeit/ Da ich zuerst empfunden/ Wie deine lieblichkeit Mich dir verbunden? Sie sind verrauscht / es bleibet doch darbey/ Daß alle lust vergänglich sey. Das reine schertzen So mich ergetzt/ Und in dem tieffen hertzen Sein merckmahl eingesetzt/ Läst mich in schmertzen/ Du hast mir mehr als deutlich kund gethan/ Daß freundlichkeit nicht anckern kan. Das angedencken Der zucker=lust/ Will mich in angst versencken. Es will verdammte kost Uns zeitlich kräncken/ Was man geschmeckt / und nicht mehr schmecken soll/ Ist freuden=leer und jammer=voll. Empfangne küsse/ Ambrirter safft Verbleibt nicht lange süsse/ Und kommt von aller krafft; Verrauschte flüsse Erqvicken nicht was unsern geist erfreut/ Entspringt aus gegenwärtigkeit.
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Ich s c h w a m m in freude/ Der liebe hand Spann mir ein kleid von seide/ D a s blat hat sich g e w a n d / Ich geh' im leide/ Ich wein' itzund / daß lieb und sonnenschein Stets voller angst und wolcken seyn.
Die fünf Strophen sind metrisch und im Reimschema identisch, zerfallen aber in sich in zwei typographisch unterschiedene Teile, die Zeilen 1—5 und 6/7. Diese äußerliche Differenzierung erscheint nicht willkürlich, sind die zwei abschließenden Zeilen doch eine Art Lehrsatz, ein Fazit aus Erlebnis und Reflexion. Die Parallelen zum freilich komplexeren und strengeren Sonett brauchen nicht ausgeführt zu werden. Hoffmannswaldaus Gedicht konstituiert sich um die Pole Erfahrung und Lehre. Die Zeilen 1 —5 jeder Strophe entwerfen die Situation eines enttäuschten, vielleicht verlassenen, jedenfalls einer besseren, liebe-volleren Zeit nachtrauernden Ich. 5 Die Schlußzeilen summieren, bemühen sich um Allgemeingültigkeit. Das lyrische Ich versenkt sich zunächst in der sehnsüchtig herbeigerufenen Vergangenheit als einem unwiederholbaren Zustand des Glücks; da hinein drängt sich sofort die Gegenwart des Ich, die, im Unterschied zur Vergangenheit, ein Ineinander von Gefühl und Reflexion nicht bloß erlaubt, sondern erzwingt. Folgerichtig kulminiert jede Strophe in einer sich vom Ich ablösenden Maxime. Welche Kohärenz hält den Text nun zusammen, wenn überhaupt? In welchem inneren Verhältnis stehen Erlebnis und Lebensweisheit, Erfahrung und Pointe jenseits der einer anderen, nämlich vorliterarischen, kategorialen Ordnung angehörenden Kausalität? Zur Beantwortung sei auf unsere Fragestellung und ihre spezifische Zielrichtung rekurriert. Das im Text sich entfaltende Ich ist von zunächst unklarer, vielleicht widersprüchlicher Befindlichkeit, bildet jedoch das einzige Zentrum der divergierenden inhaltlichen und formalen Linien. Die erinnerte Vergangenheit, reflektierte Gegenwart und aus dem Allgemeinen sich vage aufbauende Zukunft (jede Maxime inkludiert, kraft ihrer prätendierten Gültigkeit, alle denkbaren Zeiten und Konditionen) treffen sich im Ich des Gedichts als dem Schauplatz der Erfahrungen und des Nachdenkens. Das Überwuchern partikularer Erlebnisse durch tradierte und verbindliche Topoi schimmert hier noch stark und letztlich bestimmend durch, aber die Balance hat sich bereits verschoben; das lyrische Ich ist nicht mehr nur der Pointe willen da, gleichsam als Leerstelle, die aus konventionellen Gründen nicht anders ausgefüllt wird, sondern die Summa-
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Dabei bleibt offen, ob ein männliches oder weibliches Ich spricht — es ist letztlich irrelevant, bereits für Hoffmannswaldau.
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tion der Schlußzeilen erscheint als Konsequenz eines Erlebnisses, nicht als vorgängige Weisheit, deren Bestätigung der Einzelne zu liefern hätte. Dieses Verhältnis von Vorbild und Gestaltung hat sich umgekehrt. Natürlich nicht bis zur radikalen Deduktion der lyrischen Welt aus dem Anspruch des lyrischen Ich, des dann lyrischen Subjekts, aber immerhin beginnt der Primat des Objektiven, d.h. der gesellschaftlichen Konventionalität, zu wanken. Das wäre eine Art formaler Beschreibung des Vorgangs. Natürlich reicht er nur sehr ungenügend an die Sprach- und Bilderschicht unseres Textes heran. Denn die Befragung des Ich fördert keine adäquate, sich aus dem Kontext der angedeuteten Situation ergebende Antwort zutage (oder die Verweigerung einer Antwort), sondern einen doch eher mechanisch nachklappenden Rekurs auf vertraute Lebensweisheiten. Dem Aufbau einer tendenziell wirklich personalen Situation des Verlassenen und verflossenem erotischem Glück Nachtrauerndem folgt nicht (wenn überhaupt etwas folgen muß) eine ebenfalls personale Konsequenz, sondern eine Verflüchtigung ins Altbekannt-Unpersönliche: »es bleibet doch darbey/ Daß alle lust vergänglich sey.« Als Abschluß einer so hinreißend einfachen und kunstvoll genauen Strophe wirkt das wahrhaft unangemessen und heutigen Ohren gar leicht komisch. Der Rückfall in die Konvention geschieht jedoch nicht aus Einsicht in das Tröstliche jeden Rituals als überindividueller Macht, sondern eher aus Hilflosigkeit, den angeschlagenen Ton durchzuhalten oder, weniger metaphorisch formuliert, dem so konstituierten Ich eine Versöhnung aus seinen eigenen Voraussetzungen heraus zu gestatten. Als Konstitutivum des Gedichts wäre mithin ein widerspruchsvolles Ich anzusetzen, in dem Altes und Neues, Einordnung und Selbstfindung durch voraussetzungslose Selbstsuche eine ungelöste Spannung eingehen. Dabei bleibt die herkömmliche Sprache nicht auf die summierenden Schlußzeilen beschränkt; »zuckerlust«, »ambrirter safft« und ähnliches stehen wie zitiert im Kontext der Erinnerung, so als wäre der Abschied von der Geliebten ein allegorisches Bild des Abschieds von barocker Sprache und vertrauter Gebundenheit. Ohne solchen Spekulationen, die natürlich in keiner H o f f mannswaldauschen Intention Sukkurs findet, weiter Raum zu geben, muß doch angemerkt werden, daß die Situation enttäuschter Liebe in ihrer Verbindung von Erfahrung und Reflexion, Vergangenheit, Gegenwart und selbstnegierter Zukunft unübertreffliche Voraussetzungen zur Findung eines eigenen Tons schafft, falls, und das ist der entscheidende Punkt, eine literarische Tradition, in unserem Fall die des Barock, ihre formerhaltende Verbindlichkeit eingebüßt hat und ein Neues notwendig wird. Somit meint der Hinweis auf dieses Gedicht nicht, hier sei bereits so etwas wie genuine Subjektivität antizipiert (— was auch unseren Bedenken gegen jedwede Art teleologischen Denkens und Interpretierens fundamental zuwiderliefe —), vielmehr 31
kündigt es, zwischen zwei Zeiten stehend, einen Wechsel in der Auffassung und der Metaphorik der Lyrik an, ohne daß das Ich sich selbst klarer bestimmen und ausdrücken könnte. Die Kraft der Tradition ist noch stark genug, Struktur und Sprache letztendlich zu konditionieren, aber nicht mehr so formschaffend, daß sie dem Eindruck des Überlebten und nicht länger Selbstverständlichen entgegenzutreten in der Lage wäre. Das Ich ist ein anderes als das der Sonette und der gängigen Liebeslyrik; es fängt an, tastend den ihm gemäßen Ausdruck zu suchen und dabei eine je andere Existenz im lyrischen Gedicht aufzubauen. Die unauflösliche Antinomie von erahntem Ziel und den Schwierigkeiten, den Weg dorthin zu bahnen, drückt dem Text den Siegel des Vergeblichen auf. In der letzten Strophe durchdringen Ichbewußtsein und pointierte Summation einander, ohne daß aus poetischer Schönheit poetische Wahrheit würde, wenngleich einzugestehen ist, daß das Spätbarock dem nirgendwo so nahe gekommen sein dürfte wie hier: »Ich schwamm in freude/ Der liebe hand/ Spann mir ein kleid von seide/ Das blat hat sich gewand/ Ich geh' im leide/ Ich wein' itzund/ daß lieb und sonnenschein/ Stets voller angst und wolcken seyn.« Es gibt wenig andere Beispiele aus der Epoche, in denen eine nicht religiös fundierte Verinnerlichung sich so unmißverständlich ausspricht und gleichzeitig gefangen im Alten verharrt. Das Ich der Sonette blieb um eine entscheidende Dimension seiner Möglichkeiten verkürzt: um den Selbstentwurf gegen Tradition und Welt. Solange es diesen defizienten Modus nicht als solchen erkennt und dagegen aufbegehrt, drückt es sich durchaus authentisch in den Formen der Tradition und der sich in ihnen manifestierenden Suprematie des Objektiven aus. Das sich langsam einstellende Bewußtsein der Erfüllung (im doppelten Sinne) des Überlieferten und der Notwendigkeit einer Übereinstimmung von Ichgefühl und Kunstform bricht die Geschlossenheit barocken Denkens irreversibel auf (eine Geschlossenheit, die nicht mit der inhaltlichen Variabilität und quälenden Antithetik verwechselt werden darf). Das säkulare Ich Hoffmannswaldaus kommt nicht über die heute dechiffrierbare Beschreibung einer Unmöglichkeit hinaus, kann es, aus Mangel an Radikalität, die erst das 18. Jahrhundert bringt, naturgemäß gar nicht. Die, in der Theorie, der autonomen Subjektivität programmatisch feindlichste Orientierung, die religiöse also, leistet jedoch, wie zu zeigen sein wird, einen entscheidenden Schritt weg von der lyrischen Heteronomie, wenngleich auf eher verschlungenen Pfaden.
Betrachten wir als erstes der drei ausgewählten Gedichte ein Sonett von Andreas Gryphius.
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Einsambkeit. 6 IN dieser Einsamkeit/ der mehr denn öden wüsten/ Gestreckt auff wildes Kraut/ an die bemößte See: Beschaw' ich jenes Thal vnd dieser Felsen höh' Auff welchem Eulen nur vnd stille Vögel nisten. Hier/ fern von dem Pallast; weit von deß Pövels lüsten/ Betracht ich: wie der Mensch in Eitelkeit vergeh' Wie auff nicht festem grund' all vnser hoffen steh' Wie die vor abend schmähn/ die vor dem tag vnß grüßten. Die Höell/ der rawe wald/ der Todtenkopff/ der Stein/ Den auch die zeit aufffrist/ die abgezehrten bein. Entwerffen in dem Mut vnzehliche gedancken. Der Mauren alter grauß/ diß vngebaw'te Land Ist schön vnd fruchtbar mir/ der eigentlich erkant/ Das alles/ ohn ein Geist/ den GOt selbst hält/ muß wancken.
Das 1. Quartett entwirft eine scheinbar selbstvergessene Naturlandschaft, in der das Ich integriert, aber zunächst noch ohne erkennbare Funktion die Dinge »beschaut«. Das 2. Quartett spezifiziert und erweitert das reine Beschauen zum Betrachten, also visuell vermittelten Nachdenken. Weit weg von den Menschen in ihrer konkreten Existenz (»fern von dem Pallast; weit von deß Pövels lüsten«) summiert das Ich die Ergebnisse der Reflexion in knappen und konventionellen Bildern und Begriffen, daß nämlich alles eitel, wankend und vergänglich sei. Die beiden Terzette sind mehr als pointierte Resultate einer vorgängigen auf sie hin zentrierten Situation; sie vertiefen sie vielmehr und sprengen, zumindest tendenziell, die Enge der weltlichen Sonette. Das Beobachtete und die Erfahrung (um die beiden Quartette auf den knappestmöglichen Nenner zu bringen) initiieren einen bloß angedeuteten, inhaltlich nicht ausgefüllten Gedankengang, dem die Summation des 1. Terzetts Nahrung gibt, aber anfangs keine präzise Richtung. In der Schlußsequenz verschränken sich sinnliche und abstrakte Weltaufnahme mit intellektueller und religiös-gläubiger Einordnung zu einer transzendenten Ordnung des Chaotischen. Das 2. Terzett verlangt in seiner konsequenten und weitreichenden Komprimierung genaue Deutung: Menschenwerk (»Mauren« = Mauern) und Natur (»vngebaw'te Land«), an sich leer und häßlich, beleben sich für und durch das lyrische Ich, das damit bereits, als ein die Dinge strukturierendes Prinzip, zum wahren Subjekt als Gegenpol zu den von ihm entworfenen Objekten zu werden sich anschickt. Dieses Ich jedoch partizipiert, und das bezeichnet die religiöse, vor-säkulare Wendung des Textes, gleich al-
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len Dingen, an dem Geist »den G O t selbst hält«. Damit scheint mir zweierlei gesagt oder zumindest angedeutet: das lyrische Ich ist Teil dieses göttlichen Geistes 7 und folglich als produktives nicht nur angespornt sondern prinzipiell gerechtfertigt, Geist vom Geiste, Nach-Schöpfer des Ur-Schöpfers; und zum zweiten befähigt dieser Geist das inspirierte Ich zum durchschauenden Begreifen der wahren, d.h. aufs Göttliche ausgerichteten Welt. »Schön« und »fruchtbar« meinen dann nicht so sehr ästhetische oder empirische Kategorien, sondern heilsgeschichtliche; die Welt, an sich grau und verwüstet, 8 verwandelt sich dem Geisterfüllten in eine voll Schönheit und Fruchtbarkeit. Was innerhalb der religiösen Sphäre zum orthodoxen Ergebnis einer aufs Göttliche hin geöffneten und transparenten Realität führen muß, läßt als rein formale Definition das Tor offen zu einer strikt innerweltlichen Konkretion; die Idee des geisterfüllten Ich als weltveränderndem, was aber auch heißt: radikal kreativem, Subjekt liegt gerade in solchen prononciert religiösen Bestimmungen des lyrischen Ich. Von einem so begriffenen Ende ist auch der Anfang unseres Sonetts neu und reicher zu sehen. Die Naturbeschreibung des 1. Quartetts intendiert keine selbstverlorene Anschauung einer autonomen Gegenwelt wie im 18. oder 19. Jahrhundert. Sie soll stattdessen funktional das folgende vorbereiten. Jedoch kann sie, in Anwendung der Schlußreflexionen, gelesen werden als in abgelöste Objekte projektierte Spiegelung eines nicht näher definierbaren Ich. Das starke Erlebnis der Einsamkeit führt dann bruchlos in ein, allerdings auf tradierten Bahnen laufendes, Nachdenken und eine programmatische Selbstbestimmung. Die Dichte und Originalität der Bilder erzwingen jenes Eigengewicht über die angestrebte Zeigefunktion hinaus, die teilweise von der Schlußsequenz vindiziert sind, aber letztlich doch deren Verständnis von poetischer Aufgabe transzendieren. Das betrachtende Ich geht über in ein meditierendes und begreift sich dabei als exemplarisch, mit der charakteristischen Einschränkung des 2 . Terzetts, das die Beispielhaftigkeit von der Einsicht in die kreative Rolle des »Geistes« abhängig macht. Nur ansatzweise schlägt sich die herausgehobene Rolle des entflammten und inspirierten (: vom Geist angehauchten) Ich in der Sprache und einer eigenen Welt-Sicht nieder; immerhin läßt das 1. Terzett das traditionelle Summationsschema hinter sich und entfaltet eher eine dem Titel angemessene Situation; die abwechselnde Aufzählung von Imaginiertem (aus dem Umfeld von Tod und
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Liest man es religiös o r t h o d o x , ist wohl der Heilige Geist gemeint; immerhin steht »ein Geist«, gibt also schon auf der sprachlich-intentionalen Ebene zu Mißverständnissen Anlaß.
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W a s , in den Jahren unmittelbar nach dem 30jährigen Krieg, eine sehr reale Beschreibung Deutschlands gewesen ist.
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Verwesung) und Geschautem wird zwar christlich interpretiert, enthält aber soviel poetische Valenz, daß die vorgeblich oder tatsächlich angestrebte Funktionalität sekundär wird gegenüber einem unverwechselbaren Eindruck, der Darstellung einer Situation, die ohne das sich voluntaristisch schließlich ablösende Ich nicht denkbar wäre. Ein »Ich« in der »Einsamkeit«: da liegen natürlich romantische und postromantische Mißverständnisse nahe, und keineswegs soll behauptet werden, das Ich des Gryphius-Sonetts antizipiere die extrem vielfältigen Beziehungen von Ich und Natur im 19. Jahrhundert. Aber ebenso falsch wäre es, der Barockzeit grundsätzlich die Möglichkeit (und Fähigkeit) zu einer, wenn auch rudimentären, interesselosen Naturschau abzusprechen. Die lyrische Subjektivität ist, wie zuerst im Goethe-Kapitel dargelegt wird, untrennbar mit dem Naturbegriff und dem Selbstbewußtsein des Ich als Schöpfer und Träger aller sich notwendig aus der Autonomisierung von Ich und Welt ergebenden Spannung und ästhetischen Lösungen verknüpft. Mithin impliziert der Verzicht auf Subjektivierung des lyrischen Ich und das Übergewicht von Tradition und Norm das Fehlen auch einer Gegenwelt, die »Natur« zu nennen etwas verknappt, aber nicht falschjst. Das Ich in dieser Gryphius-Einsamkeit tastet sich in Bildlichkeit und Programmatik weiter vor als alle Ichs der so genannten weltlichen Gedichte. Die Naturimagines nähern sich Projektionen des Ichs und von ihm unabhängig existenter Dinge an; dieser Doppelcharakter eignet in gleicher Weise dem Ich selbst, insofern es Gefäß göttlichen Geistes und verändernd-schaffende lyrische Substanz ist, genauer gesagt: im Prozeß der Selbsterkenntnis dazu wird. Expressis verbis subsumiert das Ich alle seine neugefundene Kraft unter den Anspruch der religiösen Forderungen, und es wäre ganz irrig, etwa dem Autor Gryphius verborgene häretische Absichten zu unterstellen. Retrospektiv jedoch wirkt das eigentümlich beliebig. Denn ist erst einmal eine solche Situation aufgebaut, ein solches Ich als verwandelnd-produktives geschaffen, und sei es als Derivat eines religiös deklarierten Geistes, bietet sich der nächste Schritt von selbst an, ohne daß er sofort realisiert werden müßte oder könnte: die Genese abzuschütteln, sie zu vergessen und in säkularer Selbstbestimmung die Herrschaft über sich, seine Empfindungen und die adäquate lyrische Bildlichkeit anzutreten.
Zwei Gedichte der Catharina Regina von Greiffenberg radikalisieren die Antinomie von religiöser Entäußerung und lyrischer Ichfindung. Das erste erschien 1662. 9
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Sehnlichster W e i ß h e i t = W u n s c h Z u vorgenommenem löblichen Lobewerk A C h daß die Weißheit w a r ein Pfeil/ und mich durchdrüng'/ ein glantz und mich erhellt'; ein wasser/ und mich tränkte/ ein a b g r u n d s = t i e f f / und sie mich ganz in sie versenkte/ ein Adler/ der mit mir sich zu der Sonne schwüng; ein helle Quell'/ so in die Sinnen rinnend spriing'! A c h ! daß den K u n s t = G e i s t sie mir aller Weißen schenkte! daß nur was würdigs ich zu Gottes L o b erdenkte und seiner Wunder Preiß nach wünsch durch mich erkling! Ich such' je nicht mein L o b / die s e l b s t = E h r sey verflucht! G O t t ! G O t t ! G O t t ! ist der Z w e c k / den ihm mein kiel erkohren. Ich bin der Pinsel nur: sein H a n d mahlt selbst die F r u c h t ; Ihr zimt die E h r / wird was aus meinen Sinn gebohren. Aus GOttes trieb kan ja kein Teuffels Laster fliessen. mein einigs flugziel ist/ zu Jesus Christus Füssen!
Das Sonett setzt so fulminant ein wie kaum ein zweites, beschwört mit Emphase und Ekstatik die Sehnsucht nach Weisheit, wobei zunächst offen bleibt, wozu sie herbeigewünscht wird und was eigentlich darunter zu verstehen ist. Der Rhythmus des 1. Quartetts durchbricht souverän die meist etwas leiernde Metrik des Alexandriners, seine festen Zäsuren und Betonungen. Der ersehnte Glanz geht zumindest von diesen Zeilen unübersehbar aus; die atemlose Anhäufung der Bilder, die auch die Quartettgrenze ignoriert, ihr drängender Duktus legen sofort die Frage nahe, von welcher Art denn die Weisheit sein soll. Evident dürfte sein, daß sie keine rational-stoizistischen Qualitäten besitzt, und in der Tat, wie es der Titel andeutet, ist ihr einziges Ziel die Verkündigung des Gottes-Lobes. Jede private Ambition und dichterische Eitelkeit wird verflucht; das Künstler-Ich begreift sich als »Pinsel« des Höheren, »sein Hand mahlt selbst die Frucht«. Stärker als bei Gryphius ist die poetologische Dimension dieses Sonetts: der Dichter soll ganz sich und seine Produktivität auf den Preis Gottes ausrichten; die stets nahe Lockung der »selbst-Ehr« möge mit Gottes Hilfe unterdrückt und die Versuchungen des Teufels, also die Eitelkeit und das »weltliche« Denken, abgewehrt werden. Die beiden Schlußzeilen bekräftigen und verlassen zugleich die Sphäre der religiös-künstlerischen Produktion; wenn es heißt: »mein einigs flugziel ist/ zu Jesus Christus Füssen!«, so ist damit die Autorin selbst angesprochen, wird die ästhetische Welt lediglich als Vorstufe einer ethischen Entscheidung akzeptiert. So mag man den ersten Eindruck des Textes summieren. Ein frommes, alles Sinnen und Trachten auf Gott richtendes Ich fleht um Weisheit zum würdigeren Lob des Allmächtigen und nimmt sich und seine poetische Wichtigkeit zweimal zurück: zuerst bei der Selbstdefinition als demütiges Werkzeug
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Gottes und dann in der zitierten Schlußzeile. Damit ist aber kaum schon die intentionale Ebene ausreichend beschrieben. Denn bereits die radikale Unterwerfung, die dichterische Entäußerung setzt ja ein Gefühl von Identität und Gefährdung voraus: die Identität eines schreibenden Ich, das aufnehmend und wiedergebend die avancierteste Kunstfertigkeit erlangen will (zu welchem Zweck bleibt da sekundär), die Gefährdung eines leidenschaftlichen Erlebens und Wollens, das am Ende die Nähe der Bedrohung durch eilige Nennung und Negierung nur noch bestätigt (»Aus GOttes trieb kan ja kein Teuffels Laster fliessen«). Die exaltierte und tiefempfundene Bitte um Weisheit, und zwar ist der »Kunst=Geist«, also poetische Produktivität gemeint, ist in sich schon so poetisch und produktiv, daß die Ablehnung aller Ehren (in 111,1 und IV, 1) zweideutigen Charakter annimmt. Denn die Bildlichkeit des 1. Quartetts besitzt keine notwendige Verknüpfung mit der religiösen Thematik des Übrigen, sie präludiert der poetisch-religiösen Meditation gleichsam multifunktional, ist freier Ausdruck und damit selbst ein Teil jener erwähnten Gefährdung, die die religiöse Instanz innerhalb des lyrischen Ich aus ihrer Ambivalenz in die zielgerichtete Eindeutigkeit zu lenken bestrebt scheint. Scheint: es bleibt unübersehbar, daß das gesamte Sonett ein poetisches Manifest zur Abwertung autonomen Denkens und religiös ungebundener Dichterexistenz darstellt; erst die letzte Zeile springt da heraus und ruft zu dezidiert unpoetischer Haltung und Tätigkeit auf. Als poetisches Manifest steht es jedoch zunächst der religiösen Gebundenheit exterritorial. Einzig die bewußte Anrufung Gottes als des erklärten Telos' aller Dichtung bildet die schwankende Brücke, die poetische Imagination als etwas tendenziell Freies und religiöse Dogmatik als Paradigma von Heteronomie verbinden soll. Die deutlich gefühlte Spannung zwischen beidem prägt unser Sonett, das ohne befriedigende ästhetische Lösung (und innerhalb eines Sonetts kann es nur e'me ästhetische oder gar keine Lösung geben) die Pole Reflexion und Bildlichkeit unvermittelt nebeneinander und einzig prospektiv-programmatisch versöhnt stehen lassen muß. Ein potentiell reiches und nach noch mehr Reichtum sich sehnendes Ich bittet um Weisheit als Voraussetzung dieser Erfüllung und lenkt sogleich die reine Exemplarizität weit überragende Bewegung in die religiöse Richtung: die sich da post festum stellende Frage nach der Notwendigkeit (oder Beliebigkeit) solcher Wendung darf nicht als unhistorisch oder unangemessen beiseitegeschoben werden. Ein Ich will Alles sein — und nimmt sich soweit zurück, daß es sich dichterisch auslöschen will, aber nicht den unbedingten Willen nach Stärke, Klarheit und unendlicher Fülle, den das 1. Quartett antizipiert. Weniger die Unterwerfungsgeste als diese Sehnsucht nach einem größeren Ich überwindet die subjektlose Geschlossenheit barokker Lyrik, enthüllt sich späterem Lesen als Suche nach einer authentischen Sprache für ein sich selbst definierendes Ich. Der religiöse Duktus ist gewiß
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keine Täuschung, eher eine unbewußte Angst vor den Folgen radikaler Subjektivität (»Aus GOttes trieb kan ja kein Teuffels Laster fliessen«). Das Fehlen einer auch nur andeutungsweise präzisierten inhaltlichen Bestimmung der erflehten religiösen Lobpreisung bestätigt den Primat eines neuen Prinzips über die alten Formen. Das Ich wird als Möglichkeit, als religiös ausgerichtete Potentialität begriffen; das Sonett der Greiffenberg entfaltet und dimensioniert die Idee einer schöpferischen und unverwechselbaren Entität, die die Fülle der Erscheinungen aufnimmt und eine neue Sprache zu einem neuen Lob des Allmächtigen schafft. Deutlicher als bei Gryphius wird hier der abgeleitete Charakter der transzendenten Fundierung. Sie könnte ohne poetische Einbuße verschwinden. Nichts als der feste Glaube rettet das Ich vor der endgültigen Eigengesetzlichkeit, trennt das lyrische Ich von der Autonomie, der Subjektivität. Innerhalb der überschwenglichen und ihrer monotonen Aufgeregtheit wegen rasch ermüdenden »Des Allerheiligst- und Allerheilsamsten Leidens und Sterbens Jesu Christi Zwölf andächtige Betrachtungen« der Catharina Greiffenberg findet sich unser letztes Beispiel, ein Sonett mit den Anfangsworten »Herz/ werde voller glut« ! 1 0 H e r z / werde voller glut! Begierde/ sitz entglühet! ihr ädern/ wallt und springt/ zerschmelzet krafft und geist/ fliest in die l o b = w o r t ' aus! das J E s u s werd gepreist. Ihr glieder allzumal/ seit mit dem dank bemühet. A c h ! daß der mund mit L o b / wie eine rose blühet! Ο meine lippen/ euch auf seinen preiß befleist/ belebten B a l s a m = strich/ voll r u h m e s = r u c h / erweist. Der Seel entworfnes bild/ die d a n k e s = p f l i c h t / volziehet! D u S c h ö p f e r = p r e i ß e r i n ! rühr keinen bissen an/ k o s t keinen l a b u n g = s a f t : du hast dann lob gesaget/ der lobs=unendlichkeit. Ihr füße! mich nicht traget/ macht fallen auf die knieh/ wie die gelübd gethan. V o r alles geh sein Preis/ den du/ Ο h a n d ! erkiest/ zu schreiben/ daß sein Ehr in aller welt man list.
Nicht ohne Berechtigung ließe es sich begreifen als Erfüllung des im vorigen Gedicht geäußerten Wunsches nach weisheitsdurchglühtem Lob Gottes. Zwar kleidet es diese Realisation in eine erneute Sehnsucht, eine Aufforderung an ihren Körper, nur zum Preis Gottes dazusein, aber der Text will an sich schon das leisten, was er propagiert. Die mystische Entrückung des Ich muß, vor der völligen Vereinigung mit Jesus als höchster Form des ekstatisch gesteigerten Ich-Bewußtseins, erst durch ein Stadium der Fragmentarisierung 10
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A b g e d r u c k t bei Schöne, S. 89.
hindurch. Das lyrische Ich spricht sich an, indem es, die einzelnen Teile des Körpers aufrufend, die erotisch getönte Annäherung an den geliebten Jesus durch Verleugnung und Demut zu erreichen sicher ist. Herz und Begierde sollen nicht wie später bei Goethe heiligglühend nur sich preisen, sondern bereit sein zur Apperzeption eines von außen, oben kommenden Numinosen. Adern, Glieder, Mund, Lippen: ihnen allen wird, immer das Gleiche variierend, Lob, Preis und Dank aufgetragen. Am Ende werden Füße und Hände einbezogen; nicht stehend, nein auf den Knien soll die Hand den Preis Gottes schreibend kundtun. Die theatralische Unterwürfigkeit und exaltierte Sprache sind nicht frei von Peinlichkeit und leichter Komik. Daß dies ein großes Gedicht sei, wird niemand behaupten wollen. Es ist aber, vielleicht gerade durch seine Schwächen und Insuffizienzen, aussagekräftiger als die meisten perfekten der Epoche. Die verbale und gedankliche Hemmungslosigkeit enthüllt nämlich einen fundamentalen Ausdruckswillen, der die gängigen Schemata hinter sich lassen muß, freilich selbst zu schwach ist und zudem gefangen in der vorgegebenen religiösen Denk- und Bilderwelt, als daß ihm eine adäquate Realisation gelingen könnte. Kein »weltliches« Liebeslied exhibitioniert so sehr die an sich verborgenen Wünsche und Leidenschaften wie dieses »religiöse«, in keinem »weltlichen« insistiert so stark ein unableitbares Ich auf seiner kreativen Relevanz; die beiden Schlußzeilen »Vor alles geh sein Preis/ den du/ Ο hand! erkiest// zu schreiben/ daß sein Ehr in aller weit man list« künden nur in mattem Abglanz vom impliziten Anspruch dieses Ich. Es richtet sich, und das ist vor dem 18. Jahrhundert weder programmatisch noch realiter je irgendwo der Fall, nicht auf sich als Zentrum seiner selbst, sondern auf Gott; allerdings muß es dazu, will es dem ungeheuren Vorwurf annähernd gerecht werden, sich zunächst mit äußerstem Ernst und schon fast narzißtischer Eigenliebe zum Weltmittelpunkt machen und sich in einer Weise wichtig nehmen, wie alle anderen lyrischen Ichs das gerade nicht tun dürfen. Ohne Lösungsmöglichkeit bleibt die hymnische religiöse Lyrik der Barockzeit: sie emanzipiert sich, kraft der Forderungen des in Gedanken und Worten stets umkreisten göttlichen Du, von den Ansprüchen einer strengen und affektive Ekstase nicht duldenden Tradition, verharrt aber, ebenso folgerichtig, im Vorhof einer selbstbewußten Subjektivität, die ihr glutvolles Herz und die entglühende Begierde nicht der verinnerlichten Gewalt einer außerhalb liegenden Instanz opfern will, vielmehr das prometheische Feuer zum Lob und Preis ihrer selbst entzündet. Die unio mystica erfährt ihre Säkularisation und verbale Artikulation in dem Augenblick, in dem die Vereinigung mit dem Unsagbaren als Bewußtwerdung der autonomen Innerlichkeit keine Blasphemie mehr, sondern Anerkennung der einzigen fundamentalen Befindlichkeit des Menschen ist. Das Göttliche, begriffen als die zeugende Natur und der kreative Mensch, wird aussprechbar als Emanation eines potentiell
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abgeschlossenen Subjekts. Keine Kausalität verbindet die religiöse Barocklyrik mit Klopstock oder dem jungen Goethe, aber legitim scheint es gleichwohl, diese auch als (unbewußte) Erfüllung jener zu deuten.
Systematischer Teil a) Das Sonett Damit ist zwar schon ein Bogen zum nächsten Kapitel geschlagen, aber die Barocklyrik in ihrer Relation zur lyrischen Subjektivität noch nicht umfassend behandelt. Im zweiten, systematischen Teil wird drei Phänomenen Aufmerksamkeit geschenkt, die, wie prima vista inkohärent, ja zufällig zusammengestellt sie sein mögen, dennoch als Gedeutete und im Kontext unserer Fragen Interpretierte, Licht werfen auf die Vorgeschichte des autonomen Gedicht-Ich. Unsere ersten Überlegungen gelten dem Sonett als repräsentativer Gedichtform des 17. Jahrhunderts. Der Terminus »repräsentative Gedichtform« dürfte kaum Widerspruch erregen und ermangelt zudem einer gewissen Originalität. Genauer betrachtet eröffnet er uns, allein durch sorgfältige Untersuchung beider Begriffe, also »repräsentativ« und »Gedichtform«, einen direkten Zugang zur literaturhistorischen Bedeutung des Sonetts. Von einer literarischen Erscheinung behaupten, sie stehe repräsentativ für etwas, meint zweierlei: erstens, und das dürfte die zentralen Konnotationen angeben, die quantitativ weite Verbreitung und die symbolhaft verdichtete über sich hinausweisende Relevanz; und zweitens zeigt es die Nähe zur »Repräsentation« — der geschmückt-veräußerlichten Darstellung abstrakter oder sonst verborgener Verhältnisse und Strukturen. Die Fülle der Sonette im Barock braucht nicht eigens bewiesen zu werden; eben weil es nicht Ausdruck unverwechselbarer und unwiederholbarer Situationen, sondern typischer, zur Kombinatorik einladender, wenn nicht zwingender, Zustände ist, eignet es sich zur abrufbaren Konstruktion, mithin zur normativ regulierten Reproduzierbarkeit. Die zunächst lediglich mengenmäßige Dominanz indiziert ein tieferliegendes Bedürfnis, das nach Übereinstimmung mit literarischer Tradition und gesellschaftlicher Konvention, innerhalb derer ein Wunsch nach poetischer Selbstbestimmung nur sekundär und in den oben beschriebenen Grenzen realisiert wird. Die Strenge des Sonetts, die noch eingehender betrachtet werden soll, stellt ja nicht bloß Forderungen und Anforderungen an den Autor, sie entlastet auch das lyrische Ich durch die Gewißheit präformierter Lösungen und die Kraft eines literarisch approbierten Schemas. Der Doppelcharakter jeglicher heteronomer Form — im Unterschied zu der in der Mitte des 18. Jahrhunderts einsetzenden Suche nach sich einzig dem freien Ich verdan-
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kenden Regeln — nämlich Fessel und Stütze zu sein, läßt sich in gleicher Weise am Wesen höfischer, d. h. vorbürgerlicher, Existenz wie an der vorbürgerlichen, d.h. natürlich nicht unbedingt: höfischen, Literatur konstatieren. Repräsentativ ist das Sonett auch, weil es zu glanzvoller Repäsentation taugt, weil es in der Lage ist, ein Prinzip, Form an sich, sinnlich zu verlebendigen. Nachfolgenden Generationen fehlt diese unabdingbare Basis, in der so etwas wie Freiheit nicht programmatisches Substrat, sondern Fähigkeit zur Ornamentierung bedeutet; folglich sind ihre Sonette, selbst die Goetheschen, bloßes Kunstgewerbe. Die Etablierung eines lyrischen Subjekts erweist sich auch in solchen eher peripheren Phänomenen als irreversibel und unabhängig von der Intention des Schreibenden. In der Designierung des Sonetts als repräsentativer Gedichtform ist so zumindest in Ansätzen die Verbindung zu unseren grundlegenden Fragen hergestellt; daß die Bezeichnung »Gedichtform« nicht beliebige Benennung, sondern genaue Beschreibung ist, braucht kaum in epischer Ausführlichkeit erörtert zu werden. Das Sonett ist in der Tat, von exotischen Ausnahmen abgesehen, die einzige Gedicht-Form und insofern ein klassisches Beispiel für lyrische Form an sich. Aber nicht genug dieser etwas oberflächlichen Definition: Die innere Logik des Sonetts transzendiert das äußerliche Schema von Metrum, Reim und Strophenaufbau hin auf eine logische Ordnung, die als Analogon zu barocken Weltmodellen der außerliterarischen Sphäre anzusehen nicht outriert sein dürfte. Eben weil das Sonett die Idee einer Gedichtform am reinsten verkörpert, ist es der repräsentative Ausdruck barocker Lyrik, und eben weil der innerste Kern der barocken Lyrik die Repräsentation (: der nach außen gewendete Primat vorgängiger Normen) ist, herrscht das Sonett. Wir haben, einer präzisen Untersuchung und Evaluierung des Sonetts vorgreifend, einzig aus seiner Verbreitung und theoretisch untermauerten Vorherrschaft im 17. Jahrhundert Verbindungslinien gezogen zur Goethe-Zeit und seinen Standort innerhalb der Geschichte der lyrischen Subjektivität einzugrenzen gesucht. Bevor dieser Gedankengang abgeschlossen werden kann, müssen wir uns dem Sonett noch etwas genauer zuwenden und nach einer poetologischen Bestimmung seiner Struktur und Funktion forschen. Uber die äußere Form, ihre Genese und Varianten, muß an dieser Stelle nichts mehr gesagt werden. 11 Wie kaum eine andere Gedichtform lädt das Sonett zur Verknüpfung von »äußerer« und »innerer« Form ein, zur Spekulation über
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Grundlegend und mit ausführlichen Literaturangaben versehen sind die beiden Monographien von Walter Mönch: Das Sonett. Gestalt und Geschichte. Heidelberg 1955 und Hans-Jürgen Schlutter: Sonett. Sammlung Metzler, Stuttgart 1 9 7 9 .
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notwendige oder mögliche Folgerungen aus der Strenge von Strophenaufbau, Gliederung, Metrik und Reim für Idee, Bildlichkeit und Autorintention. Die augenfällige Zweiteilung (jeweils zwei Quartette und zwei Terzette, jeweils zwei mal zwei Reimschemata; der Alexandriner als ebenfalls dualer, wenn nicht gar polarer Vers) 12 erhöht den Wunsch des Interpreten, in soviel Bewußtsein auch innere Logik und ablesbare Bedeutung hinein- bzw. herauszudenken. Dabei scheitert meist der erste Zugriff an der Ambiguität, um nicht zu sagen: der Zwei-Deutigkeit, aller Zweiheit und Zweiteiligkeit, kann sie doch sowohl dualistisch wie dialektisch als auch, was dank des quantitativen Befundes beim Sonett unabweisbar ist, monistisch, also ohne inhärenten Gegensatz, aufgefaßt werden. 13 Wie man nun »Aufgesang und Abgesang«, »Expansion und Kontraktion«, Erwartung und Erfüllung, Spannung und Entspannung; Voraussetzung, Verwicklung, Behauptung, Analyse auf der einen, Folgerung, Lösung, Beweis, Synthese auf der anderen Seite ordnet oder zuordnet 14 und schließlich in einer stringenten Deutung zu einem besseren Verständnis nutzt - das kann einzig am konkreten Sonett erprobt werden und entbehrt in abstracto jeder Schlüssigkeit im Kontext des Versuchs einer literarischen Formengeschichte als Ausdrucksgeschichte. Immerhin gestatten die griffigen Antithesen post festum eine Bestätigung der aus den einzelnen Analysen gewonnenen Erkenntnisse und helfen mit, ein abschließendes Urteil über das Sonett als vor-subjektive Form zu artikulieren. Das vielbeklagte Prokrustesbett der metrischen und strophischen Unerbittlichkeit, die minimale Variabilität des Aufbaus ist stets als Herausforderung an den Dichter verstanden und in der Barockzeit angenommen worden. Weit mehr als ein Spiel und eine Möglichkeit unter unzähligen anderen haben die Lyriker darin gesehen: die gültige poetische Form ihres Verhältnisses zu Welt und Tradition. Denn das Sonett als Ausdruck eines heteronomen Ich reflektiert genau die Spannung ihrer Existenz und ihrer dichterischen Position: eine radikale Bewußtheit, die jedoch vor der Akzeptierung des letzten Schrittes zurückschreckt, der Bejahung eines formschaffenden Ich, und die in der Anverwandlung des Überkommenen nicht eine Minderung, sondern eine Steigerung ihres Ich erblickt, freilich der intelligenten Sterilität der Quartette und Terzette schließlich überdrüssig wird und sie entweder durch religiöse Ekstatik sprengt oder gänzlich ignoriert. Die Auflösung der konstitutiven Antithetik geschieht nicht oder nicht primär in der Schlußpointe, die sowieso in der Mehrzahl der Sonette nur rudimentär oder gar nicht vorhanden ist, sondern
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Ausgegangen wird dabei natürlich von dem gängigen Barocksonett, wie es in Deutschland prägend war. Zu den Varianten vgl. Schlutter, passim, bes. S. 3 — 13. Vgl. Schlutter, S. 9 - 1 1 . Alle Begriffe bei Mönch, S. 3 3 .
in der Gesamtheit und Geschlossenheit der Form, der eine Idee von trans-individueller Einheit zugrunde liegt, die sich fundamental von der dann bei Goethe erreichten unterscheidet. Wird bei diesem die unio lyrica begriffslose Bejahung von lyrischem Subjekt und sympathetischer Empirie sein, so dokumentiert sie hier eine objektive Gewalt, an der zu partizipieren das lyrische Ich hofft. Die erfüllte Forderung des Sonetts erscheint dem Ich als sein vollgültiger Ausdruckswille und dem Leser als adäquate Realisation dieses Ich. Jenseits aller polaren Metaphorik und Thematik, die allerdings ihrerseits Teil des Ich und seiner Beziehung zur Außenwelt sind, schafft das Sonett selbst, nicht das lyrische Ich, die Rechtfertigung seiner Existenz durch seine vorgegebene und vom Ich jeweils zu realisierende Struktur. Das Verhältnis von lyrischem Ich und lyrischer Form weist dem Ich die sekundäre Rolle zu. Was späteren Zeiten bloß als voluntaristische Unterwerfung oder artistisch-artifizielles Spiel erfahrbar werden mag und somit im strengen Sinn literaturhistorisch irrelevant ist, besitzt im Barock den Primat ohne Verlust ästhetischer Kraft und Perfektion. In der Geschlossenheit eines Mikrokosmos realisiert sich das lyrische Ich des Barock in wunschloser Angemessenheit. Zugegebenermaßen könnte so jedes gelungene Gedicht definiert werden; die spezifische Differenz liegt in der Beschaffenheit des Mikrokosmos. Er unterscheidet sich zwiefach von denen späterer Epochen: er ist an sich latent existent, besitzt also eine temporale und kausale Dominanz gegenüber dem lyrischen Ich, und er bedarf zu seiner je anderen Aktualisierung eines dienenden, nicht eines herrschenden (: normsetzenden, kreativen) Ich. Die Kreativität, die eine solche Definition dem lyrischen Ich abspricht, wird natürlich als emphatische Schöpferkraft verstanden, die prometheisch nichts gelten läßt als den eigenen allesdurchdringenden Willen. Die Freiheit des Barock-Dichters besteht nun darin, die Tradition variierend und kombinierend zu akzeptieren; daß überhaupt das Bewußtsein eines Mangels sich irgendwo ausspricht, kann nicht ernstlich statuiert werden. Was an Liedern, geistlichen wie weltlichen, neben den Sonetten produziert wird, ist zwar frei vom formalen Zwang des Sonetts, verharrt jedoch bei Bildlichkeit, Thematik und Situation so sehr innerhalb des Herkömmlichen, daß von einer Antizipation lyrischer Subjektivität nicht nur nicht gesprochen werden kann (über die äußersten Möglichkeiten des Barock ist weiter oben gehandelt worden), sondern sogar diese Lieder an Entfaltung der unerläßlichen Spannung zwischen Ich und Welt deutlich hinter dem Sonett zurückbleiben. Die radikale Geschichtlichkeit des Sonetts hat Walter Mönch in seiner Monographie hervorgehoben: »Das Sonett ist die vollendete Krasis von Gemüt und Verstand, Herz und Geist, Seelischem und Intellektuellem, der Weichheit des Empfindens und der Härte dialektischen Denkens. Mystik und Scholastik, die zwei hochentwickelten Denkformen des Mittelalters, haben in der ältesten Sonettdichtung ihre Spur hinterlassen. Das Sonett
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ist eine Geburt aus Eros und Geist.« 15 Aus dieser Synthese von Überliefertem und Erfahrenem gewinnt das Sonett seine literaturhistorische wie poetologische Relevanz — die Emanation eines Ich, das nicht Subjekt sein will. b) Die Metapher Auch die Metapher ist eine Synthese — zwar eine sui generis, aber dafür vielleicht die knappste und dem lyrischen Denken und Sprechen angemessenste. Schon der Begriff deutet es an: etwas wird »übertragen«, zwei, mindestens zwei, ontologische oder semantische Ebenen kontrastiv verbunden. Die Verknüpfung des vordem Fremden erzeugt im Hörer oder Leser wiederum ein Fremdes, das jedoch, vermöge dieser produktiven Fremdheit, erkenntnissteigernd und konstitutiv für eine poetische Welt wird. 16 Die barocke Bildlichkeit ist nun charakterisiert durch Kühnheit und Konventionalität, pointiert gesagt: durch kühne Konventionalität. Gleichzeitig strebt sie in zentralen Texten zur Entfaltung einer lustvoll addierten paradoxalen Totalität, die sich nicht innerhalb des Gedichts, sondern, als Entwurf, in einer geglaubten Transzendenz auflösen kann. Sowohl die eher »weltliche« wie die »religiöse« Metaphorik intendiert die Versöhnung an sich unversöhnlicher Verhältnisse im Medium der Kunst. Dabei hat es die weltliche Dichtung in entscheidenden Punkten leichter: ihre Synthese als Vereinigung des Unvereinbaren hat naturgemäß nur innerhalb des lyrischen Kosmos Verbindlichkeit und Wahrheit. Die empirische Faktizität, die das Material für die unermeßlich vielen Liebes-, Vanitas- und Kriegsgedichte (um nur die gängigsten zu nennen) liefert, bleibt von der Vollendung des Gedichts unberührt, was niemanden im 17. Jahrhundert verwundert und, als selbstverständlich, nicht thematisiert wird. 17 Das Leiden an der Existenz und den Zeitläuften, kein Exklusivbesitz des 20. Jahrhunderts, führt zu einer Bildlichkeit, die eben gerade nicht die Singularität solcher Schmerzen artikulieren will, sondern ihre Exemplarizität. Das läßt mit einer gewissen Logik keine Originalität als Ausdruck dichterischer Einmaligkeit (: Subjektivität) zu, sondern postuliert eine Originalität, die primär in der geschickten Anwendung tradierter und weiter tradierbarer Versatzstücke ihre Erfüllung sieht. Das hindert keineswegs die dichterische Imagination an immer stärkeren, gesuchteren, oft outrierten Bildern — die oben ange15 16
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Mönch, S. 4 0 . Die Literatur zur Metapher ist uferlos. Hingewiesen sei auf den grundlegenden Artikel im Historischen Wörterbuch der Philosophie, Bd. 5. Auf diese Problematik des »politischen«, also eingreifenden und Veränderung der empirischen Welt erhoffenden und erheischenden, Gedichts, das es, wenn ich recht sehe, im heutigen Verständnis vor dem frühen 19. Jahrhundert nicht gibt, wird das III. Kapitel, das über Gottfried Keller, ausführlich zu sprechen kommen.
führte Kühnheit. Aus ihnen spricht freilich keine lyrische Subjektivität als Kristallisationskern divergierender Impressionen, die eine auseinanderstrebende, wuchernde Metaphorik unverwechselbar zu integrieren imstande wäre. Hoffmannswaldaus »Beschreibung vollkommener Schönheit« 18 arrangiert überkommene Benennungen, also Topoi, nach den Anweisungen der Rhetorik. So entsteht im ganzen, was der Titel andeutet: ein Exemplarisches, nichts Individuelles. Weder gestaltet das lyrische Ich eine mit ihm unmittelbar verbundene Situation, noch entwirft es ein Du, das als Einmaliges vollkommen ist. Stattdessen wird eine Vollkommenheit evoziert, die noch weniger ist: nämlich als total abstrakte ein Nichts. »Ein haar, so kühnlich trotz der Berenice spricht,/ Ein mund, der rosen führt und perlen in sich heget,/ Ein Zünglein, so ein gifft vor tausend hertzen traget,/ Zwo brüste, wo rubin durch alabaster bricht.« und so weiter, und so weiter: Die Preziosität (und partielle Perfektion) der Bilder führt, wie ironisch und selbstironisch auch immer benutzt, in eine Sackgasse, aus der keine inhaltlich gefüllte Tradition einen Ausweg weisen kann. Die Konventionalität schließlich aller Barockmetaphern, die sich einem Thesaurus und nicht kreativer Subjektivität verdanken, entwertet unrettbar ihre scheinbare oder tatsächliche Kühnheit. Was originell und durch Kombinatorik von Vor-Bildern wiederum vorbildlich sein soll, sieht sich rasch in einem Kreis gefangen, aus dem es selbst durch extreme quantitative Exzesse kein kreatives Entkommen gibt. Die Barockmetapher als Synthese außerliterarischer Spannungen reflektiert das Scheinhafte solcher Versuche als Konstruktion. Keine genuine Aussöhnung zwischen antagonistischen Sphären findet statt, wenn nicht ein konstitutives Ich den Kampfplatz abgibt und in seiner Subjektivität die Spannungen und ihre Lösung in der Individualität des je anderen Gedichts austrägt. Die »weltliche« Barocklyrik grenzt nirgends so lange und verwinkelt an die »geistliche« wie in den Vergänglichkeitsgedichten und ihrer Metaphorik. Hier, und vielleicht nur hier, reihen sich die Texte in eine produktive Tradition ein, in die perennierende Sehnsucht aller Literatur nach Dauer und Überdauern. Die monotonen Beschwörungen des Endes und der vanitas der Dinge und menschlichen Verhältnisse, die Bilderhäufungen von Gebrechlichkeit und Untergang sind nicht denkbar ohne Hoffnung auf ein Weiterexistieren zumindest der Kunst, jenseits der religiösen Tröstung und doch verschwistert mit ihr. Die Metaphorik der »geistlichen« Gedichte tendiert, wie bereits gesagt, zu einer paradoxalen Totalität, also einer Spannung, die nicht im Gedicht aufgelöst werden kann und dennoch eine Synthese zu erreichen fähig ist, die weit 18
Abgedruckt bei Herbert Cysarz (Hrsg.): Barocklyrik, Band 2. Deutsche in Entwicklungsreihen, Nachdruck Darmstadt 1964, S. 2 0 0 .
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über die immanente jeder Metapher als deren a priori feststehende Definition hinausführt. Der emphatische Überschwang der religiösen Lyrik akzeptiert die Antinomien von Leib und Seele, Weltbejahung und Sündenbewußtsein; gerade seine stilistische Hemmungslosigkeit, an Sonetten der Greiffenberg exemplifiziert, weiß sich letztlich geborgen in einer transzendenten Aufhebung aller irdischen Widersprüche und einander bekämpfender Triebe und Wünsche. Das mag nicht ohne Gewaltsamkeit abgehen; immerhin markiert der salto mortale in die erlösende Kraft einer jenseitigen Existenz die entschiedene Möglichkeit sprachlicher und vor allem metaphorischer Radikalität. Tendenziell signalisiert die Fundierung der Sprache auf das religiöse Gefühl den Abschied von der Tradition und den Beginn eines eigenen lyrischen Ich — allerdings eines noch nicht selbstverantwortlichen, daher heteronomen. Bei kaum einem anderen Lyriker des 17. Jahrhunderts scheint das so klar und grell auf wie bei Quirinus Kuhlmann, dessen dichterische Qualitäten einerseits überhaupt erst von der religiösen Ekstatik freigesetzt wurden und andererseits im Sumpf seines chiliastisch getönten Obskurantismus versanken.19 Die expressive Wucht manche seiner Gedichte geht aus von einem Ich, das sich verloren hat, bevor es sich hat finden können. Die Metaphorik des »Kühlpsalters« kündet von einer poetischen Verantwortungslosigkeit des lyrischen Ich (die psychopathologische Kondition des Autors bleibe außer Betracht), wie sie nur extremer Gebundenheit und Freiheit möglich ist; Freiheit vom Anspruch kalkulierter und intellektuell ausbalancierter Gewagtheit, Gebundenheit an eine wichtigere Aufgabe als die Produktion von Kunst. Die Unterwerfung des lyrischen Ich unter die Dominanz einer ihm exterritorial stehenden Institution oder Ideologie und die Verinnerlichung ihrer Gebote und Ziele (paradigmatisch für alle religiöse und politische Lyrik) kann zwar die Sprache von einer Tradition lösen helfen, leistet aber nichts zur Konstituierung eines autonomen und zumindest programmatisch souveränen Ich. Die Totalität der religiösen Metaphorik ist so wahrhaft paradox, die Spannung nur für den Gläubigen zu überwinden. Die Konflikte spielen sich nicht im Innern des Subjekts, sondern als mechanische Konstrukte im Zentrum eines Modells ab. Daher kennen sie keinen Sieger, keinen Besiegten, überhaupt kein Ergebnis jenseits der vorgängigen, außerliterarischen Bilder und Sätze. Darin fallen weltliche und religiöse Metaphorik wieder zusammen, berühren sich in den scheinbaren Extremen. Die Befreiung vom Diktat der rhetorischen Schemata kann nicht geleistet werden und ist nicht geleistet worden durch einen Ausbruch in die Gefühlssphäre religiöser Schwärmerei, wiewohl in ihr 19
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Nachdruck des Kühlpsalters: Q . K . : Der Kühlpsalter. Hrsg. v. Robert L. Beare. 2 Bde., Tübingen 1971. Zum Leben und Dichten Kuhlmanns: Walter Dietze: Q. K., Ketzer und Poet. Versuch einer monographischen Darstellung von Leben und Werk. Berlin 1963.
zunächst diese Suprematie gebrochen wurde — um sofort von der Herrschaft eines messianischen Wahnsystems (bei Kuhlmann) abgelöst zu werden. Das lyrische Ich kann jedoch erst dann ein Schicksal haben, wenn es die Konstruktion einer poetologisch gerechtfertigten Ableitung jedweder Art konstruktiv negiert und die prekäre Freiheit dichterischer Subjektivität in Widerstand und Bewußtsein bejaht.
c) Die Selbstanrede Die vier jetzt zum Ende des Kapitels unter »Selbstanrede« zusammengefaßten Gedichte bilden keine gattungsabhängige oder -stiftende Einheit, ja selbst der Terminus »Selbstanrede« täuscht vielleicht eine Gemeinsamkeit vor, die weder intentional existiert noch rückblickend einem Teil der Barocklyrik zugemessen werden dürfte. Hingewiesen werden soll lediglich auf einen Gedichttypus, der sich in höchst unterschiedlicher Ausprägung durch das gesamt 17. Jahrhundert verfolgen läßt und dessen inhaltliche Konstitutiva als eine Art meditativer Monolog eines je anderen und doch strukturell identischen Ich zu beschreiben wäre. Paul Flemings »An sich«, David Schirmers »Über seine Träume«, Andreas Gryphius' »Thränen in schwerer Kranckheit« und Hoffmannswaldaus »Gedancken bei Antretung des funffzigsten Jahres«: ihnen gilt unser Fragen nach der Natur des sich ins Gedichtzentrum rückenden Ich. 20 Flemings bekanntes Sonett benennt bereits im Titel Adressat und, implizit, Absender der Botschaft. Gemahnt wird, von einer Instanz des Ich an eine andere, zu Gelassenheit, Ruhe, Ergebung ins selbstverschuldete Schicksal. Das »dennoch« der ersten Zeile konzediert die Stärke und Wirkung dessen, wogegen das Ich eher in apodiktischem Fatalismus als argumentativ anschreibt. Keine religiöse oder transzendente Institution wird erwähnt, kein kirchlicher Trost gespendet. Der Text bleibt streng innerhalb der empirischen Welt. Die Lehre der Stoa, verbunden mit ins Immanente gewandten vanitasVorstellungen taucht auf. Leid und Schmerz, Neid und Not: ihre Wirkung wird nicht geleugnet, wohl aber insinuiert der Text, daß das gefestigte und weise Ich in großartiger Selbstüberwindung und Selbstbeherrschung des sekundären Charakters aller Widerwärtigkeiten bewußt werden kann und sie in sich, durch sich besiegt. »Wer sein selbst Meister ist/ und sich beherrschen kan/ dem ist die weite Welt und alles unterthan.« Der Anspruch des Ich an sich selbst ist hier zweifellos der außerordentlichste, von keiner noch so verstiegenen religiösen Schwärmerei übertroffen. Und dennoch ist das Ich nur im
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Abdruck der Texte: Fleming bei Schöne, S. 717; Schirmer bei Schöne, S. 721; Gryphius bei Cysarz, S. 187; Hoffmannswaldau bei Cysarz, S. 211 f.
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formalen Sinn ein lyrisches, nicht aber als Voraussetzung und Ergebnis poetischer Selbstreflexion. Das Ich des Fleming-Sonetts artikuliert eine philosophisch-ethische Position, keine ästhetische. Entfaltet wird nicht eine lyrische Situation, sondern eine abstrakte Lehre: gereimte Philosophie. Der beherrschte Duktus, die absolut sichere Gestaltung, ja partielle Schönheit des Textes können nicht darüber hinwegtäuschen, daß kein Ich in Selbsterkundung oder fiktivem Dialog mit sich redet, sondern allen Lesern oder Hörern Mahnung und Rat zuteil wird. Einzig der manchmal durchschlagende Hintergrund allen stoischen Denkens, eine tumultuarische Welt und eine gequälte Existenz, verschaffen den Versen so etwas wie eine Innenspannung, einen Widerstand, den der Rezipient notwendigerweise addieren muß, um ihnen gerecht zu werden. Schirmers Sonett, eines der vergleichsweise seltenen deutschen in der Art Shakespeares, ist, bei aller gedanklichen Bescheidenheit, doch signifikant diffiziler in seiner Behandlung von redendem und reflektierendem Ich. Anfang und Schluß sind aufeinander bezogen: das Ich beschäftigt die Frage nach der Valenz seiner Träume, konkret eines einzelnen, in dem er seine Geliebte, die ihn verlassen oder abgewiesen hat, in nächtlicher Szene einen Schwan küssen sieht. Zum Nachdenken und zur Artikulation im Gedicht bewegt ihn die Diskrepanz zwichen der »Süssigkeit« des Traumgefühls und den »tausend Schmertzen« nach dem Erwachen. Das Erlebnis zweier Realitäten, von denen die des Tages die der Nacht zunächst dementiert, verstärkt jedoch den Wunsch und die Sehnsucht nach dem Mädchen, wider alle vernünftige Skepsis: »Sie sind nun was sie sind/ so gläub in vollen Sorgen// im Traume=Nebel liegt die Warheit doch verborgen.« Die verhüllte Wahrheit des Traums wird, in einigermaßen geradliniger Übertragung und Ausdeutung, begriffen als Möglichkeit einer Realisation der erotischen Wünsche des Ich. Sein Selbstgespräch ventiliert die Argumente einer gleichsam aufgeklärten Rationalität und läßt, was das Sonett zu einem wirklichen Dialog macht, ein zweites Ich zu, das, irrational und gläubig, die empirische Faktizität nicht abschafft, sondern erweitert. Eine eher triviale Situation wird zum Anlaß eines spielerischen Experiments, einer ebenso folgenlosen wie tendenziell genuinen Amplifikation des lyrischen Ich. Dessen Zurücknahme in den Schlußzeilen ist das paradoxe Resultat des ausgesprochenen Glaubens an die Wahrheit im »Traume=Nebel«: das epigrammatische Couplet, das die Allgemeingültigkeit des Gedankens (als Ergebnis singulärer Erfahrung) pointiert zusammenfassen soll, entindividualisiert gleichzeitig das dahinterstehende und es beglaubigende Ich. Der Ansatz einer reflektierten Unverwechselbarkeit wird bewußt und gewollt revoziert und damit nicht in einer höheren Einheit bewahrt, vielmehr letztlich ausgelöscht. 48
Müdigkeit, Schmerzen, Tränen, die Angst vor dem Tod: so beginnt das Gryphius-Gedicht. Zu lesen ist keine abstrakte Reflexion über die wohlbekannten Barock-Themen, auch fehlt der erhobene Zeigefinger wohlfeiler Didaxe. Das redende Ich wird bestimmt als leidendes und verleiht seinem Leiden den Ausdruck individueller Not. Monologisch und in der Hoffnung auf Gehör, menschliches wie göttliches, spricht ein Ich, dem die Krankheit die brillante Rhetorik verschlagen hat und das sich, tastend nach Halt und Stütze, den einfachen Worten und Sätzen anvertraut und so ein adäquates Bild seines Zustandes zu vermitteln hofft. So scheint es, aber ach, so scheint es nur. Das 1. Quartett bereitet nämlich, weit entfernt davon, vollgültiger Teil eines aufgebauten Ganzen zu sein, lediglich vor auf die kommenden Wendungen. Zunächst schleichen sich schon wieder die abgenutzten Vergleiche ein (»gleich wie ...«, »gleich als ...«), deren Beliebigkeit den Krankheits-Tränen alle Ernsthaftigkeit nimmt, dann, am Schluß des 2. Quartetts, schwingt sich das angeblich leidende Ich zur großen Geste auf: »Was ist diß Leben doch/ was sind wir/ ich und ihr?« Das Ich entläßt sich also aus seiner Individualität und ordnet sich von nun an in die erfahrungslose Abstraktheit des Wir ein. Von einem Ich ist nicht mehr die Rede, und mit dem Wir setzen die unspezifischen Vergänglichkeitstopoi ein, die jeden situativen Kontext banalisieren. Das Erlebnis schwerer Krankheit, wobei unerheblich ist, ob dem eine tatsächliche Erfahrung des Autors zugrunde liegt, befördert lediglich ansatzweise ein Gefühl von Individuation und subjektiver Vereinzelung, ein Gefühl, das sofort nach dem ihm gemäßen Ausdruck sucht; ganz rasch aber nimmt sich das Ich, gleichsam erschrocken über seine Kühnheit, demütig zurück und regrediert auf die bergende Zuflucht des Wir, dabei vordergründig sich ausweitend und vertiefend, in Wahrheit freilich bloß den Primat der Abstraktion über sein konkretes Leben bestätigend. »Itzt Blumen/ morgen Koth/ wir sind ein Wind/ ein Schaum// Ein Nebel und ein Bach/ ein Reiff/ ein Thau' ein Schatten.« Die Summation des Ich am Sonett-Ende denunziert sein eigenes Leiden des Beginns: all dies war das Ich vorher nicht, solange es litt und sein Leiden aussprach, es mit sich selber sprechend ernstnahm. Der Gryphius-Text dokumentiert wie kaum ein anderer die offenbare Unmöglichkeit der Barockzeit zu radikaler Selbstbefragung und Akzeptierung eines eigenen Schicksals; jede Lebensphase, ob freudig oder traurig stimmend, wird sogleich in einen kollektiven und bedeutungsschweren Zusammenhang integriert und ihrer ganzen Tragweite beraubt. Was unter anthropologischen Aspekten als Schutz des Ich vor durch ihn nicht zu bewältigenden Problemen gerechtfertigt sein mag, wird unter poetologischem Blickwinkel zur ambivalenten Konstellation: das Ich erscheint in den Texten als verdinglichte Instanz einer sich fraglos reproduzierenden Tradition und gleichzeitig als triumphierendes Ergebnis eines unbegrenzt wandlungsfähigen Formsubstrats.
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Die neun Strophen der Hoffmannswaldauschen Geburtstags-Gedanken sind, vom Titel her, ein Gelegenheitsgedicht. Aber eines, das in sich schon weiterungsfähig ist. Der genau bestimmte Zeitpunkt initiiert weniger Rückschau, Rechtfertigung und Selbstvergewisserung als gläubiges Vorausschauen; die Gedanken des lyrischen Ich sind primär Bitten an Gott, Hoffnungen auf ein richtiges Leben und einen gnädigen Tod. Das Gespräch mit Gott trägt allerdings, kaum an einzelnen Details faßbar und nur dem gesamten Text andeutungsweise zu entnehmen, Züge eines gesteigerten Selbstgesprächs; Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft werden einzig unter dem Aspekt des Ich betrachtet, kein Wir taucht auf, keine mystische Vereinigung mit einem subjektlosen Weltganzen ist intendiert. Hoffmannswaldaus durchaus frommes Gedicht nähert sich einem Gebet an und wahrt doch, unähnlich den drei anderen Texten, die Würde eines unwiederholbaren Individuums, das in religiöser Selbstanrede (um es in paradoxer Pointierung zu sagen) eine Möglichkeit des Ich dokumentiert, sich selbst ins Zentrum zu rücken, ohne sich, irreligiös, zum Zentrum zu machen. Die teils melancholische, teils futurisch-hoffnungsvolle Meditation nimmt auch sprachlich allen Schwulst und ekstatischen Bombast so weit zurück, daß sie, fast schlicht, die zwanghafte Fixierung barocken Dichtens auf quantitative Übersteigerung und affektive Erhitzung überwinden kann. Das Ich spricht stets von sich und Gott, von seiner Ausgerichtetheit auf den Höchsten und summiert sein Leben von der Zeugung bis zum Grabe; es ist damit unter unseren Beispielen das einzige, das nicht und dessen Ich nicht in purer Exemplarizität aufgeht. Ohne Konsequenzen daraus zu ziehen, sicher auch ohne sie nur wahrzunehmen, stellt das Ich für sich selbst einen Zusammenhang des Lebens her, der nicht in religiöser oder quasi-religiöser Unterwerfung mündet und sich so dementiert. Die religiöse Referenz aller Stationen und Ausblicke seines Lebens gewinnt fast funktionalen oder vorsichtiger formuliert: symbolischen Charakter, ohne jede Intention, einzig durch das Beharren auf der durchgängigen Identität des Ich, das zwar noch nicht die Autonomie des Subjekts erreicht hat, wohl aber dessen erste Voraussetzung, den Willen zur Einmaligkeit, der dann die situative und formale Einmaligkeit der lyrischen Äußerung notwendig nach sich zieht. Hoffmannswaldaus »Gedancken« entfalten, selbstverständlich und ohne theoretischen Anspruch, ja wahrscheinlich ohne Bewußtsein, allein durch Insistenz auf der Kohärenz seines eigenen einzigen Lebens, die Idee von der Nicht-Substituierbarkeit des Ich. Weiter kann die barocke Selbstanrede, kann das barocke Gedicht nicht gehen. Eine kurze Zusammenfassung der Gedanken zu Selbstanrede und Ichbewußtsein ist, beinahe unnötig zu sagen, eine Zusammenfassung der Ergebnisse unserer Überlegungen zum Barockgedicht als vor-subjektiver Form. Stets erwar50
tet und erlebt das Ich eine Stilisierung hin zu einem exemplarischen, damit scheinbar seine Valenz vergrößernd, in Wahrheit jedoch die Konsequenzen prospektiver Autonomie vermeidend. Die Sprache gerät zur Meta-Sprache: kein Ich spricht, sondern ein intendiertes Wir; ein Ich, wie es sein will und sein soll und dem alles, Erlebnisse wie Gedanken, zu mahnenden Zeichen werden — eine zeichenhafte Welt, reflektiert in einer zeichenhaft-topologischen Sprache. Das Ich wird zum impliziten Verkünder einer an sich vorhandenen, freilich erst von diesem Ich bildlich zu enthüllenden Ordnung der Welt; eine Sinnhaftigkeit der Dinge, die prästabilisiert nun nicht eines nachschöpferischen Subjekts harrt, sondern lediglich einer demütigen Instanz bedarf, durch sie sich offenbart. Alle Barockgedichte regredieren, wie wir von unserer Position aus wertend konstatieren müssen, auf Formeln und Floskeln; damit bezeugen sie, stärker als alle inhaltlichen Wertsetzungen, die Gewalt und die entlastende Funktion präformierter Lösungen und ritualisierter Bilder, die Macht tradierter Antworten auf tradierte Fragen. Sie lassen etwas von den Schwierigkeiten ahnen und von den Widerständen, die das lyrische Ich im Prozeß der Autonomisierungzw sich zu überwinden hat, auf dem Weg vom beliebig bestimmbaren Ich zum selbst-bewußten und einmaligen Subjekt. Mit voller Konsequenz bricht das Bewußtsein, singulär, unwiederholbar und gleichberechtiger Teil einer umfassenden Kraft zu sein, erst lange später, Mitte des 18. Jahrhunderts, durch. Da findet sich dann ein alter Gedanke der Mystik, von Angelus Silesius 1675 unüberbietbar konzis gefaßt, in der Programmatik und der ästhetischen Produktion des jungen Goethe säkular gewendet und künstlerisch erfüllt: GOtt lebt nicht ohne mich. Ich weiß daß ohne mich GOtt nicht ein Nun kan leben/ Werd' ich zu nicht Er muß von Noth den Geist auffgeben. 21 Aus dem »Cherubinischen Wandersmann« wird, ein Jahrhundert danach, der prometheische Wanderer mit seinen trotzigen Sturmliedern; ein weltlicher Mystiker, Vollendung und Anfang zugleich.
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Abgedruckt bei Schöne, S. 2 8 1 .
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II. Kapitel:
GOETHE
Einführung Goethes Lyrik ist, im einzelnen wie als ganzes, Gegenstand unübersehbar vieler Deutungen. Idealtypisch lassen sich dabei zwei Gruppen herausarbeiten: die phänomenologisch beschreibenden, meist einfühlsam nachzeichnenden Interpretationen und die genetisch vorgehenden, eine Verbindung von Text und außertextlicher Realität postulierenden Versuche. 1 Das Ergebnis mag differieren oder übereinstimmen (wobei ausgeklammert bleiben soll, ob von der Intention beider Ansätze her eine solche Konsequenz überhaupt wünschbar, erstrebenswert oder möglich sein kann), in den seltensten Fällen nur erscheinen der Weg und das Ziel der Sache, nämlich dem Gedicht, adäquat. Über die grundsätzliche Fragwürdigkeit der jeweiligen methodischen Strategien wurde in der Einleitung gesprochen. Im Fall Goethe verschärft sich die Problematik auf eindrucksvolle und erkenntnisfördernde Weise. Denn kaum ein anderer Lyriker lädt so offen zur Betrachtung seiner empirischen Zustände und Verhältnisse ein (das gilt natürlich nur für den jungen und mittleren Goethe; das Spätwerk, wenngleich nicht im strengen Sinn hermetisch, weist doch vom Autor stets weg, auch in den abundierenden Gelegenheitsgedichten) und über kaum einen anderen ist so viel bekannt, ist so ausdauernd Material gesammelt, sind so unermüdlich Lebensspuren bewahrt worden. Daraus resultiert eine nicht nur potentiell gefährliche, die Lyrik-Diskussion nachhaltig dominierende Ausrichtung: hin auf nur schwer trennbare Verknüpfung von Leben und Werk, Biographie und Gedicht. Natürlich hat Goethe selbst genug getan, um solche Betrachtensweisen zu initiieren und zu nähren. Es entschuldigt dennoch nicht die Beliebtheit des Glaubens an ein Verstehen durch kausales Ableiten, die Kontamination von Text und Erfah1
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Stellvertretend für die erste Kategorie seien die Deutungen Emil Staigers in seiner Goethe-Monographie (Zürich und Freiburg 1 9 5 2 — 1 9 5 9 ) genannt; paradigmatisch für die zweite so unterschiedliche Ansätze wie die von Hermann August K o r f f (Geist der Goethezeit, Leipzig 1923 — 1953) und Rolf Christian Z i m m e r m a n n (Das Weltbild des jungen Goethe. Zweiter Band: Interpretation und Dokumentation. München 1979) - um die Spannweite des Möglichen anzudeuten.
rungssplittern, deren tradierbare Ablagerungen oft nur zufällig auf uns gekommen sind. Der junge Goethe liefert freilich eine auf den ersten Blick bestechende Rechtfertigung für alle positivistischen Fragwürdigkeiten. Das Neue und einzig durch neue Betrachtensweisen angemessen zu Würdigende sei eben die Einheit von Leben und Werk, der literaturgeschichtlich erstmalige Zusammenfall von empirischem und lyrischem Ich, die Subjektivierung der lyrischen Sprache durch unmittelbares Sprechen eines authentischen Subjekts. Nun ist dieser Gedanke sicher einige Überlegungen wert, aber doch unvollständig und letztlich oberflächlich. Richtig an ihm dürfte sein, daß die Mitte des 18. Jahrhunderts, aus Gründen, über die gesprochen werden wird, einen tiefgreifenden Wandel im Selbstverständnis des Künstlers gebracht hat. An die Stelle der konstruktiven Variation (worin schon der Primat des Unwandelbaren enthalten ist) tritt die variierte Konstruktion. Die normative Kraft der Tradition wird als Hindernis auf dem Weg zum Ausdruck der je eigenen Norm begriffen und abgelöst durch den formbildenden Glauben an die Unverwechselbarkeit nicht nur des einzelnen Menschen, sondern jedes einzelnen Ausdrucks dieses Menschen, also beim kreativen Individuum: des Kunstwerks. Das könnte die wissenschaftliche Insistenz auf Werkdeutung durch Lebensdeutung und umgekehrt erklären. Die Probleme beginnen aber schon bei der Aufarbeitung des Materials. Wenn das Gedicht Ausdruck eines Augenblicks ist, hinter dem die unverwechselbare Individualität eines Dichters steht: was muß ich dann von dem Schöpfer zusätzlich wissen, um das Gedicht begreifen zu können? Oder, von der anderen Seite gefragt, muß ich überhaupt etwas von ihm wissen, wenn doch Leben und Werk identisch sind, die empirischen Daten also mit logischer Zwangsläufigkeit nur eine Verdoppelung des Gedichts wären? Hier lauern natürlich verschiedene Sophismen; klar dürfte allerdings sein, und damit erreichen wir den Vorwurf der Oberflächlichkeit, daß die Totalität eines Lebens zunächst im Medium der Sprache ausgedrückt werden muß, um später, beim Hörer oder Leser, sich wieder zu einem Ganzen zusammenzusetzen - einem Ganzen jedoch, an dem er, der Rezipient, durch den Prozeß des Aufnehmens, eine Veränderung vollzogen hat, die der Produzent nicht nur nicht hat vorhersehen können, die er auch in keinem Fall hätte konterkarieren dürfen, da der Leser, von den eigenen Voraussetzungen her, ja auch eine autonome Individualität darstellt. In diesem recht komplizierten hermeneutischen Vorgang verschwimmen, je öfter und insistenter man hinsieht, die Konturen des Faktischen mit beängstigender Schnelligkeit. Es bleibt nur der Text, das Gedicht. Wir gehen von der Voraussetzung aus, daß es einen historischen Augenblick des Schöpfers, und damit diesen in toto, festhält. Es erscheint uns jedoch unstatthaft und unmöglich, diesen Moment begrifflich adäquat (d.h.: auch in toto) zu fassen und zu verbalisieren. Als einziges zuverlässiges Verfahren bietet sich die skrupulöse Un-
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tersuchung der Textgestalt an. Soweit dürfte die immanente Methode auch ihre erkenntnistheoretische Richtigkeit haben. Sie verharrt allerdings ohne Not bei der Beschreibung des Textkorpus, als sei der wirklich nur eine schöne Leiche. Die das Zentrum des Kapitels bildenden Einzelinterpretationen intendieren ein Zusätzliches, das als entscheidender Schritt darüberhinaus verstanden wird: sie versuchen, aus Wort und Satz, Sprache und Form nicht so sehr die individuelle Beschaffenheit des Menschen Goethe, sondern die transindividuelle (die das Individuum nicht destruiert, sondern ganz in sich aufgenommen hat) Zuständlichkeit des lyrischen Subjekts beim Schreiben zu rekonstruieren. Das rekurriert also nicht auf Friederike oder Lotte, nicht auf den Zürichsee oder Weimarer Enttäuschungen. Vielmehr nimmt es den Anspruch der Theorie vom Genie ernst, indem es ihn von der empirischen Zufälligkeit des überhaupt Rekonstruierbaren befreit und zur Entfaltung kommen läßt im Spiegel seiner Aspirationen und Manifestation seiner Totalität: im literarischen Werk. Mißverständlich wäre diese Aussage, begriffe man sie als Hypostasierung des Werks zu einer nicht weiter ableitbaren Größe. Sein Paradoxon liegt darin, im Spannungsfeld von geschichtlicher und individueller Notwendigkeit der komprimierteste Ausdruck der Freiheit von eben dieser Notwendigkeit zu sein. So sehr das für alle Gedichte zutrifft, so in einer besonderen, geradezu emphatischen Weise für die des jungen Goethe. Das produktive Subjekt sieht sich als Teil einer Epoche, geprägt von ihr, beeinflußt von früheren Zeiten und gleichzeitig als Schöpfer des ganz Neuen, ganz anderen, als Prometheus. Die Neuentdeckung des Mittelalters (verwertbarer Teile des Mittelalters, um es ebenso präzise wie unehrerbietig zu sagen), die Hochschätzung Shakespeares, oft in ihren Gründen und Auswirkungen beschrieben, ein markanter Paradigmenwechsel wie selten einer, 2 lösen den sie aufnehmenden Dichter nicht nur von den Zwängen der noch herrschenden, aber abgelebten Überlieferung (was in sich schon ein Zeichen von Freiheit wäre), sie führen ihm auch diesen Spannungscharakter von Kunst vor Augen. 3 Shakespeare, so das Verständnis des Sturm und Drang, schuf, in Freiheit, gegen die Regeln, aber was er so schuf, war, einmal entstanden, notwendig und vorbildlich. Das Vorbildliche sollte nun aber nicht, wie in den normativen Poetiken ausgeführt, inhaltlich
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Der Begriff geht auf Thomas S. Kuhn zurück: Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen. ' 1 9 6 2 ; dt. Übers. 1 1 9 6 7 . Natürlich ist die Literatur keine Wissenschaft im Sinne Kuhns; sein Modell szientifischer Veränderungen läßt sich jedoch, vor allem in Verbindung mit analogen Überlegungen der russischen Formalisten, früchtbar machen für ein Verständnis des Wandels literarischer Vor-Bilder. Die Dialektik von geschichtlicher Notwendigkeit und persönlicher Freiheit wird von Goethe angesprochen in »Zum Shäkespears Tag« WA 3 7 , S. 1 2 7 - 1 3 5 , hier S. 1 3 3 . Alle Goethe-Texte werden zitiert nach der Weimarer Ausgabe (WA).
oder formal imitiert werden (was freilich oft genug geschah), sondern der kreative Akt selbst, das Schöpferische, war das Nachzuahmende. Damit war eine Einsicht in die paradoxale Struktur des Kunstwerks gewonnen, die substantiell nicht mehr vertieft, lediglich entfaltet und variiert werden konnte. Das Individuum erreicht erst im Akt der künstlerischen Schöpfung seine ihm innewohnende Bestimmung; das Werk, entstanden und folglich ein Abgeleitetes, transzendiert als Moment der Freiheit seinen Urheber und erhebt ihn ebendadurch. Es ist also weniger und mehr als der Dichter: weniger, weil Produkt, Teil einer virtuell unendlichen Produktivität; mehr, weil einziger Ausweis und tiefste Rechtfertigung des Subjekts als eines schöpferischen, Stätte seiner höchsten Ausformung und Freiheit. Das lyrische Subjekt als Träger des lyrischen Werkes partizipiert an der geschilderten Doppeldeutigkeit: Geschaffenes zu sein und somit unfrei, Schöpfer zu sein und also frei, d.h. letztlich: unbegreiflich. Die theoretischen Schwierigkeiten einer Interpretation der Lyrik des jungen Goethe sind damit angedeutet, der mögliche Ausweg wurde bereits erwähnt. Diese Rekonstruktion einer transindividuellen Befindlichkeit ist als Modell hinreichend abgesichert, kann jedoch ihre erkenntniserweiternde Funktion nur in der konkreten Analyse beweisen. Die Frage, was das Neue literaturgeschichtlich, und, konkreter, was es für die Entstehung und den Verfall der lyrischen Subjektivität bedeutet, soll danach zu beantworten versucht werden. Eine letzte Vorüberlegung gilt der Auswahl der untersuchten Gedichte. Sie fixieren nämlich überwiegend das sich emanzipierende Ich gegen den Hintergrund seines Naturverständnisses. Gerechtfertigt erscheint diese thematische Eingrenzung durch zwei Einsichten a priori. Die erste weiß von der überragenden Relevanz des Naturbegriffs im 18. Jahrhundert. Es genügt, hier nur auf Zentrales hinzuweisen. 4 Natur meint, die biologische Objektwelt einschließend und transzendierend, die Gesamtheit aller sich selbst nach eigenen Gesetzen regelnden Phänomene im Unterschied zur Dominanz heteronomer Prinzipien innerhalb des höfischen Lebens- und Denkkosmos. Es drückt sowohl Widerstand aus gegen die vorbürgerliche Rationalität wie gegen den bürgerlichen Utilitarismus. In der Insistenz auf der αυτονομία, der Eigenge4
Robert Spaemann: »Natur« in -.Handbuch philosophischer Grundbegriffe. Hrsg. v. Hermann Krings u.a. Bd. 4. München 1973, S. 9 5 6 - 9 6 9 . Norbert Mecklenburg (Hrsg.): Naturlyrik und Gesellschaft. Stuttgart 1976. Willi Flemming: Der Wandel des deutschen Naturgefühls vom 15. zum 18. Jahrhundert. Halle 1931. Andreas Müller: Landschaftserlebnis und Landschaftsbild. Stuttgart 1955. Richard Weiss: Das Alpenerlebnis in der deutschen Literatur des 18. Jahrhunderts. Horgen-Zürich / Leipzig 1933.
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setzlichkeit, als Vorbedingung aller moralischen und künstlerischen Richtigkeit, gehen Ästhetiker und Philosophen des 18. Jahrhunderts zusammen, bis hin zur Romantik, zu Schopenhauer, dessen Mitleid nichts anderes ist als die sich selbst auf der höchsten Stufe der Erkenntnis durchschauende und verneinende Autonomie eines innengeleiteten Subjekts. Die pessimistische Volte fehlt dem Sturm und Drang, aber wohlvertraut ist ihm die Sehnsucht nach dem Eingehen in eine als sympathetisch begriffene Natur, der sich die Dichter verwandt fühlen und deren letztlich unaufhebbare Distanz ihnen stets schmerzlich bewußt ist. Denn das Schöpferische teilen sie zwar mit der Natur, sind insofern ein Teil von ihr; aber die Intellektualität und Sensibilität, ihre künstlerische Leidensfähigkeit trennt sie von dem selbstverständlich-bewußtlosen Dasein der Natur. So ist Goethes berühmter Satz: »Und ich rufe Natur! Natur! nichts so Natur als Shakespeares Menschen.« 5 einmal höchstes Lob und begrifflich abgesicherte Inthronisation des englischen Dramatikers, aber wohl auch Eingeständnis einer dem modernen Bewußtsein nicht mehr möglichen Identität von Mensch und Natur. Die Romantiker haben diese Emanzipation des Intellekts von der Objektwelt, eine im 18. Jahrhundert ambivalent beurteilte Entwicklung hin zu mehr Selbstverantwortung und Selbstqual, mit dem Anathema »Entfremdung« belegt —was der materialistische Romantiker Marx zur erkenntnistheoretischen und moralischen Basis seiner Verdammung der Kapitalismus genannten Industriegesellschaft gemacht hat. 6 Es ergibt sich freilich logisch, daß aus der Prämisse einer potentiellen Identität von Natur (: Objektwelt) und schöpferischem Menschen (: Künstler) endlich eine Spannung, ein Kontrast, eine partielle oder totale Nichtidentität entstehen muß: der sich zur Autonomie entwickelnde Mensch kann alles andere nur als im Tiefsten zwar verwandt, aber nichtidentisch begreifen, muß schließlich der Natur und vielleicht sogar seinen eigenen Werken entgegentreten und sie als Einschränkung seiner naturähnlichen Schaffenskraft mißdeuten. Entfremdung ist weniger ein in utopischer Ferne aufhebbarer Fluch als vielmehr die notwendige Konsequenz der Emanzipation des Subjekts von ihm heteronomen Fesseln. Daß sich dieses Phänomen auch in der Lyrik Goethes andeutet und das folgende Jahrhundert, das sogenannte Zeitalter des Realismus, dominiert, wird zu zeigen sein. Die zweite Einsicht a priori entwickelt sich aus der ersten. Ein »Ich«, diese knappestmögliche Selbstvergewisserung des lyrischen Subjekts, bedarf, selbst in der mächtigsten Überhebung, eines anderen, eines Gegenüber. Zum Ich wird es durch ein Du und durch die Gewißheit der Ebenbürtigkeit dieses Du, 5 6
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WA 37, S. 133. Schopenhauer und Marx werden erwähnt, um die logischen Fluchtlinien des Naturbegriffs anzudeuten.
anders ist ein Wir nicht zu erreichen und die Gefahr des Solipsismus unvermeidlich. Ein anderes Ich kann nur eine weitere Singularität sein, wird aber notwendigerweise hinter den Ansprüchen des schöpferischen Ich zurückbleiben oder allen Glanz und Wert einzig von ihm bekommen. Lediglich die Natur als adäquater Partner gibt ihm die Möglichkeit des Selbst-Bewußtseins durch Aufnahme ihrer kreatürlichen Allmacht in seine poetische. (Einer der Gründe, weshalb alle Liebesgedichte des Nach-Leipziger Goethe auch und vornehmlich Naturgedichte sind.) Das lyrische Subjekt kann zu seiner vollen Ausprägung weder in einem objektlosen Innenraum noch in einer bereits sprachlich und gedanklich definierten Außenwelt gelangen; es bedarf sowohl der Fülle der Erscheinungen (der Naturerscheinungen, nicht der vom Menschen gemachten, die als Deprivate ursprünglicher Kreativität die lyrische Bildwelt konfundieren würden) wie der ganzen Gewalt poetischer Rede, die nur neue Worte und neue Visionen angemessen realisieren können. Der Anspruch dieses Ich, mehr noch in der Theorie als in der Praxis, wirkt revolutionär. So wurde die Lyrik des jungen Goethe schon zur Zeit ihrer Veröffentlichung auch verstanden, ohne daß die programmatischen Intentionen ganz durchschaut und gewürdigt worden wären. Ohne alles Verdienst fällt uns das leichter; auch ohne unser Verdienst haben diese Gedichte im Verlauf von 2 0 0 Jahren Dimensionen hinzugewonnen, die uns jetzt erlauben, ihre literaturgeschichtliche Bedeutung jenseits des Goetheschen Kunstwollens, nämlich als Beginn, Entwurf und Vollendung zu überblicken und zu verstehen.
Einzelinterpretationen Maifest Wie Mir Wie Wie
herrlich leuchtet die Natur! glänzt die Sonne! lacht die Flur!
Es dringen Bliithen Aus jedem Zweig Und tausend Stimmen Aus dem Gesträuch. Und Freud' und Wonne Aus jeder Brust. Ο Erd', ο Sonne! Ο Glück, ο Lust! Ο Lieb', ο Liebe! So golden schön,
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W i e Morgenwolken Auf jenen H ö h n ! Du segnest herrlich Das frische Feld, Im Blüthendampfe Die volle Welt. Ο Mädchen, Mädchen, Wie lieb' ich dich! Wie blinkt dein Auge! W i e liebst du mich! So liebt die Lerche Gesang und Lust, Und Morgenblumen Den Himmelsduft, Wie ich dich liebe M i t w a r m e n Blut, Die du mir Jugend Und Freud' und Muth Z u neuen Liedern Und Tänzen gibst. Sei ewig glücklich, Wie du mich liebst! ( W A , Bd I, 7 2 f . )
Das »Maifest«, entstanden wahrscheinlich 1 7 7 1 , veröffentlicht 1775, scheint sich einer rationalen Analyse gleichsam spielerisch zu verweigern. Der hinreißende Schwung, die atemlos sich vorantreibende Satzmelodie, die bei äußerster Kürze und konkreter Prägnanz doch den Eindruck des untrennbar Verbundenen macht, lassen es inadäquat wirken, wenn sich der sezierende Kunstverstand der Emanation des Lebens und der Liebe bemächtigt. Gleichwohl zeigt schon dieses frühe und an der Oberfläche so nur emotionale Gedicht ein überaus entwickeltes Formbewußtsein und eine, wahrscheinlich unintentionale, Reflexion auf das Verhältnis von Natur und konkretem Ich, einer universalen natura naturans, als deren empfindender, denkender, liebender und produzierender Teil das lyrische Subjekt sich teils innewird, teils im Akt des Schreibens erst konstituiert. Dabei werden, wörtlich oder in Anspielung, alle jene Begriffe und Bildwelten evoziert, die Zentrum und Umkreis der Vergewisserung und Selbst-Schaffung der lyrischen Subjektivität ausmachen: Ich, Natur, Liebe und künstlerisches Schöpfertum. Bereits die erste und zweite Zeile verklammern Subjekt und Objekt bis hin zur totalen Dependenz. Daß die Natur leuchtet, wäre schon, für sich genommen, eine sprachliche Bestimmung von Anschaulichkeit und Kraft, aber sie leuchtet dem lyrischen Ich, leuchtet für ihn — und durch ihn, wie nach Deu58
tung des ganzen Textes unzweifelhaft ist. Das Unbestimmteste und Grenzenlose, das Unableitbare und Schöpferische auf der einen Seite, das Bestimmte und Abgeschlossene, das Bedingte und Nach-Schöpferische auf der anderen: das wäre zunächst das Staunen des Kleinen vor dem Großen, wie sich das noch bis Klopstock nachweisen läßt, der natura naturata vor der natura naturans. Aber bereits hier stößt sich Goethes Gedicht von der Tradition ab und erzwingt gelassen und selbstverständlich die Gleichstellung; die Dinge sind nur, wenn sie für mich sind, die Natur leuchtet, wenn sie mir, dem vormaligen Objekt, leuchtet. Nichts könnte das die herkömmliche Denk- und Bildstruktur Auflösende klarer illustrieren als dieses völlige Verschwimmen von Subjekt und Objekt, das zunächst ein Gefühl von Identität und quasi-mystischer Einheit erzeugt (die durchgängig erotische Färbung der Worte und Bilder unterstützt den Eindruck nachhaltig). Verfolgt man die Entfaltung dieses Verhältnisses von Natur und dem ebenso unbestimmten, sich im Verlauf des Gedichts bestimmenden und dadurch virtuell von der grenzenlosen Natur abgrenzenden Ich, so dürfte ein Blick auf Aufbau und Struktur des erst 1789 so genannten »Mailieds« unabdingbar sein. Die kalkulierte Konstruktion fällt schon bei flüchtigem Ansehen auf. Drei jeweils parallelen Anrufen folgen drei ebenfalls aneinander sich steigernde und ergänzende Aussagen oder Darstellungen. Das erste der drei Paare umfaßt die ersten beiden und die Hälfte der dritten Strophe: der Naturevokation (I) ist eine Art Naturbeschreibung nachgeordnet, die von der unbelebten (»Blüthen«) über die belebte (»tausend Stimmen/Aus dem Gesträuch«) Welt hin zum Menschen reicht; gebunden sind alle drei an das Verb »dringen« (11,1), das sie nicht nur verklammert, sondern auf eine untere, vorbewußte Ebene der Selbstfindung deutet, ein kreatürliches Existieren in Harmonie, eine prälogische Identität. Das zweite Paar geht von 111,3 bis einschließlich V: die anaphorisch aneinandergereihten Ausrufe kulminieren in der zweimal genannten »Liebe«, die sich hier in völliger Abstraktheit und dennoch zwingend aus dem Vorhergehenden als Erweiterung, Ergänzung, Spezifizierung von »Natur« fassen läßt. Das Verb der zweiten Darstellung, »segnen« (V,l), markiert einen Schritt über das anfängliche »dringen« hinaus und verknüpft Liebe und Natur. Die segnende Liebe ist nicht nur logische Folgerung der emphatischen Verschwisterung von Welt und Mensch, sie entfaltet auch und im Gedicht zum erstenmal ein »Du« (V,l), sie ist das Du, dem ein lyrisches Ich im ganzen Wortsinn erst gegenübertreten kann. Gleichzeitig weist das Du auf das in VI,1 angesprochene Mädchen: damit beginnt der dritte Teil (VI-IX). Die Liebe konkretisiert sich zur und in der Geliebten, das Gegenüber wird personalisiert, wird geliebte Person. So erreicht die Trias der zentralen Verben ihren Höhepunkt im »lieben«, das viermal in kurzen Abständen verwendet wird (VI,2; VI,4; VII, 1; VIII, 1). Es schafft die eigentliche, die durch Gefühl und Reflexion hindurch-
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gegangene, Vereinigung von Ich, Natur und Geliebter. War der Beginn bereits die freilich noch gedankenlose Trennung und Gleichstellung von Subjekt und Objekt, so leistet der Durchgang (die Durchführung) des Gedichts zweierlei: er beschreibt das sich differenzierende, bewußtere Verhältnis von Ich und Außenwelt und versöhnt alles Getrennte in einer selbstbewußten, vom lyrischen Subjekt in Analogie zur schöpferischen Natur strukturierten Ordnung, als deren Krönung eben das Gedicht (dieses Gedicht und jedes andere) erscheint (»... Die du mir Jugend/ und Freud' und Muth// Zu neuen Liedern/ Und Tänzen gibst.« VIII,3—IX,2). Die Erschaffung des lyrischen Subjekts — und nichts anderes beobachten wir in diesem erstaunlichen lyrischen Text — kulminiert in der Sehnsucht nach der Erschaffung von lyrischer Subjektivität. Die Analyse des Aufbaus hat uns schon beinahe ins Zentrum des Gedichts geführt. Noch aber bleibt die Frage nach der genauen Entfaltung des Verhältnisses von Ich und Natur bloß teilweise beantwortet. Es dürfte klar geworden sein, daß von einer wie immer gearteten Kausalität nicht die Rede sein kann. Weder zeugt die unendliche Natur ein endliches Ich, noch schafft ein prometheisches Subjekt sich abhängige Objekte (im drei Jahre später entstandenen »Prometheus« versucht Goethe just diesen Ansatz, ohne daß sich die Idee dieser Hymne so summieren ließe). Natur und Ich partizipieren eher an einem identischen Substrat, das »Leben« oder »Liebe« zu nennen bereits eine begriffliche Verfestigung bedeutet, wiewohl keine anderen Worte an dieses Gefühl heranreichen mögen, das die Basis oder Bedingung der Möglichkeit allen Seins bildet. Aus ihm heraus entwickelt sich Individualität — und die historische Signifikanz dieses Gedichts liegt in der vollkommen selbstverständlichen Weise, in der dem an sich Unbelebten und Unbeseelten Leben und Seele zugesprochen wird, ohne daß es drohend oder einschränkend dem lyrischen Subjekt entgegenträte. Andererseits erfährt auch das Ich die Natur als Teil seiner selbst; kein faustischer Drang weist ihn hin zur Veränderung, Bearbeitung, Unterwerfung. Indem er im Einklang mit sich ist, ist er in Einklang mit der Natur. Indem er im Einklang mit der Natur ist, kann er, euphorisch und gelassen zugleich, ein Du neben und mit sich akzeptieren (es gehört zu den Besonderheiten der Goetheschen Jugendlyrik, daß ein solches Du nie als adäquat gezeichnet wird — es darf an der Göttlichkeit des Genies partizipieren, aber nicht am Göttlichen selbst). Das Du weist ihn, metaphorisch eher denn real, auf seine künstlerische Aufgabe, mit der er sich in die Totalität der Naturphänomene stellt, deren reflektiertester Teil er ist. Nur hier, in dem Hinzutreten von Bewußtsein und Sprache (bewußter Sprache: in der II. Strophe kündigt sich bereits die Artikulation als Zeichen eines zum Menschen und seiner Sprache strebenden Willens an) öffnet sich eine Distanz zwischen lyrischem Subjekt und den kreatürlichen Subjekten. Der da spricht, prätendiert noch zu Recht — und das ist schon der Romantik nicht mehr nachvoll60
ziehbar — als Einzelner sich im Namen des Ganzen artikulieren zu dürfen. Die Differenz zwischen der vorgeblichen Unmittelbarkeit und der nachgewiesenen Konstruktivität weist als erstes auf den Primat der intellektuellen Formung hin, der tatsächlich die angenommene Identität von Natur und Ich desavouiert: das Ich mag als unabgeleitetes und unableitbares kongenial der Natur zur Seite treten, natura naturans, das Gedicht als höchster Ausdruck des Ich, Produkt eines lyrischen Subjekts, muß natura naturata, also Schöpfung, sein. Anders ist es nicht möglich, aber genau darin liegt die sich immer mehr verschärfende Antinomie, die uns die gesamte Untersuchung hindurch beschäftigen wird: die Unmöglichkeit des lyrischen Subjekts, der Grund seiner eigenen Identität zu werden, sich, Welt und Sprache authentisch zu formulieren. Das Maifest weiß von diesen unauflöslichen Antinomien nichts; kaum, daß es sie uns ahnen läßt. Mit größter Berechtigung wäre es ein statisches Gedicht zu nennen. Benns Theorie wird uns an Ort und Stelle beschäftigen; evident ist, daß die fast völlige Spannungslosigkeit des Goethe-Gedichts unvergleichlich näher der Idee des Statischen steht als der erzwungene Quietismus des Bennschen Alterswerks. Das nunc stans Goethes hält den erfüllten Moment in der Schwebe zwischen Noch-nicht und Nicht-mehr. Die schattenlose Klarheit der knappen Sätze und Ausrufe bewahrt einen unwiederholbaren historischen Augenblick, der sich schon beim Niederschreiben in sehnsüchtiges Zurückschauen verwandelt haben mag. Er kann nie mechanisch wiederholt, nur als ein stets anderes beschworen werden.
Prometheus Bedecke deinen Himmel, Zeus, Mit Wolkendunst, Und übe, dem Knaben gleich, Der Disteln köpft, A n Eichen dich und Bergeshöhn; Mußt mir meine Erde Doch lassen stehn, Und meine Hütte, die du nicht gebaut, Und meinen Herd, Um dessen Gluth Du mich beneidest. Ich kenne nichts Ärmeres Unter der Sonn', als euch, Götter! Ihr nähret kümmerlich Von Opfersteuern Und Gebetshauch Eure Majestät,
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Und darbtet, wären Nicht Kinder und Bettler Hoffnungsvolle Thoren. Da ich ein Kind war, Nicht wußte wo aus noch ein, Kehrt' ich mein verirrtes Auge Zur Sonne, als wenn drüber war' Ein Ohr, zu hören meine Klage, Ein Herz, wie mein's, Sich des Bedrängten zu erbarmen. Wer half mir Wider der Titanen Übermuth? Wer rettete vom Tode mich, Von Sklaverei? Hast du nicht alles selbst vollendet, Heilig glühend Herz? Und glühtest jung und gut, Betrogen, Rettungsdank Dem Schlafenden da droben? Ich dich ehren? Wofür? Hast du die Schmerzen gelindert J e des Beladenen? Hast du die Thränen gestillet J e des Geängsteten? Hat nicht mich zum Manne geschmiedet Die allmächtige Zeit Und das ewige Schicksal, Meine Herrn und deine? Wähntest du etwa, Ich sollte das Leben hassen, In Wüsten fliehen, Weil nicht alle Blüthenträume reiften? Hier sitz' ich, forme Menschen Nach meinem Bilde, Ein Geschlecht, das mir gleich sei, Zu leiden, zu weinen, Zu genießen und zu freuen sich, Und dein nicht zu achten, Wie ich! (WA, Bd 2 , 7 6 - 7 8 ) N e b e n den P r o m e t h e u s h a t G o e t h e seinen G a n y m e d gestellt. Die L i t e r a t u r wissenschaft ist ihm darin nicht n u r gefolgt, sie h a t a u c h in i m m e r g e n a u e r e n A n a l y s e n die Berechtigung, ja N o t w e n d i g k e i t einer solchen K o n t r a s t i e r u n g
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des Polaren herausgearbeitet.7 Meine Prometheus-Deutung wird ohne den Ganymed auszukommen suchen. Dabei soll keineswegs an der prinzipiellen Richtigkeit der bisherigen Interpretationen gezweifelt werden. Empörung und Einverständnis, Verselbstung und Entselbstigung, um nur die gängigsten Begriffspaare zu zitieren, bilden einen konstitutiven Zug in der Dichtung nicht nur des jungen Goethe, sie bringen vielleicht sogar sein gesamtes Weltverständnis prononciert auf den Begriff. Gleichzeitig verhindern sie aber, gerade vermöge ihrer eingängigen und mit Gewinn applizierbaren Struktur, ein intensives Eindringen in das vom andern isolierte Einzelgedicht. Die Intention dieser Studie, eine Entwicklungsgeschichte des lyrischen Subjekts in markanten Wendepunkten zu entwickeln, rechtfertigt die konstruktive Naivität der isolierten Prometheus-Exegese. Denn das historisch Singuläre Goethes liegt auch darin, daß zwar nur der synthetisierende Blick dem Werk gerecht werden kann, dieser Blick jedoch zuerst die Einzelphänomene als Einzelphänomene ernst genommen haben muß. Die progredierende Subjektivierung des lyrischen Sprechens verlangt vom idealen, also gleichfalls sich progredierend subjektivierenden Leser, das Gedicht als unwiederholbare Emanation des Schöpferischen in seiner Singularität zu erkennen und zu bejahen. Damit stehen wir bereits im ideellen Zentrum der Prometheus-Hymne. Sie präsentiert sich als Rollengedicht. Das Ich wird im Titel als Prometheus bestimmt. Der mythische Titanensohn erscheint in der Antike als paradigmatischer Empörer und Aufrührer. 8 Die Überlieferung zeichnet ihn als Menschenbildner im Auftrag des Zeus, der ihnen, den Menschen, freilich das Feuer vorenthält. Die Strafe für die Übertretung dieser Beschränkung läßt ahnen, welche Dimensionen der Frevel in den Augen von Göttern und Menschen besaß. Im Anfang der Menschwerdung des Menschen lodert das Feuer: Wärme, Fortschritt, Kultur, eben Vor-Sorge, Προμήθεια. Diesen Moment schicksalhafter Emanzipation hält das Gedicht im Wort fest. Prometheus hat sich von den Göttern gelöst, von Sühne und Leiden ist noch keine Rede; die Hymne insinuiert — dies jetzt schon als Ergebnis der Analyse —, daß der Prometheus von 1774 die mythische Schreckensgeschichte in der sprachlichen Neuformung zu überwinden in der Lage ist. Wie die meisten Hymnen der sogenannten Sturm und Drang-Zeit gestattet auch diese eine Nachzeichnung des Gedankengangs. Das lyrische Subjekt re7
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»Prometheus« und »Ganymed« als notwendige Korrelate: Karl Otto Conrady in: Die deutsche Lyrik. Bd. 1, S. 2 1 4 — 2 2 6 und S. 2 2 7 — 2 3 4 . Joachim Müller: »Goethes Hymnen >Prometheus< und >GanymedGenie< aus: Physiognomische Fragmente« in: Sturm und Drang. Dichtungen und theoretische Texte. 2 Bde. Hrsg. v. Heinz Nicolai. Darmstadt 1971, Bd. 1, S. 3 4 3 - 3 5 7 . Johann Georg Hamann: »Aesthetica in nuce« in: Sturm und Drang. Bd. 1, S. 7 - 2 9 . Heinrich Wilhelm von Gerstenberg: »Briefe über Merkwürdigkeiten der Literatur. 14. —18. und 20. Brief« in: Sturm und Drang. Kritische Schriften. Heidelberg 1963, S. 9 - 5 9 . Johann Gottfried Herder: Sein Einfluß auf die Genie-Diskussion des Sturm und Drang läßt sich nicht an einem Text dokumentieren und ist überdies oft genug beschrieben worden. Das Journal meiner Reise im Jahr 1769 enthält vielleicht am reinsten das Gefühl von Aufbruch und Anfang, das diese Zeit prägt: »Wenn werde ich so weit sein, um alles, was ich gelernt, in mir zu zerstören, und nur selbst zu erfinden, was ich denke und lerne und glaube?« (In: Sturm und Drang. Kritische Schriften, S. 295).
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gungen: nur in ihr ist das Genie wahrhaft frei, nur in ihr kann jene Selbstverwirklichung unternommen werden, die im außerkünstlerischen Bereich durch die Existenz anderer behindert wird. So ist das Genie zwar der exemplarische Mensch, aber gerade deswegen scheitert er in und an der Realität. Die Künstlerproblematik des gesamten 19. und 20. Jahrhunderts leitet sich aus diesem Anspruch und dieser Ausweglosigkeit her. Die Abschüttelung jeder von außen kommenden Konstruktivität gelingt einzig im ästhetischen Werk; die großen Hymnen des jungen Goethe markieren den ersten, oft konstatierten und kommentierten, Bruch mit Sprache und Form der Vergangenheit als künstlerisches Prinzip und perennierende Forderung. Ein Rollengedicht wurde die Hymne zu Beginn der Interpretation genannt. Prometheus spreche, rechne ab mit Zeus, befreie sich von seiner Herrschaft, begründe das Geschlecht der eigenverantwortlichen Menschen. Davon ist nichts zurückzunehmen. Es dürfte jedoch deutlich geworden sein, daß der Text mit einer so restringierten Auslegung nicht adäquat erfaßt wird. Erst die aus dem Prometheus-Mythos sich ergebenden metaphorischen Dimensionen des Vater-Sohn-Verhältnisses und der Genie-Tradition-Spannung deuten die Vielfalt des Gedichts an. Daß es einen eminenten qualitativen Sprung in der Herausbildung der lyrischen Subjektivität darstellt, hat die Analyse gezeigt. Noch wurde freilich eine Frage ausgeklammert, die sich dem oberflächlichen Leser noch nicht und dem sorgfältigen vielleicht nicht mehr stellt, nämlich die nach dem eigentlichen Adressaten, dem wahren Objekt für das lyrische Subjekt. Daß dies nur Zeus sein könne, respektive die Götter, ist eine ebenso naheliegende wie allzu offensichtliche Antwort. Natürlich taucht der Göttervater schon in der ersten Zeile auf und bildet noch in der letzten Strophe den verhaßten Gegenspieler. Kompliziert wird das scheinbar einfache Verhältnis durch die vierte Strophe. Sie ist die genaue Mitte des siebenstrophigen Gedichts, was angesichts von Goethes bewußtem Arbeiten zur Aufmerksamkeit veranlassen sollte. Auch in ihr wird ein »du« angesprochen, aber dieses Gegenüber ist nicht Zeus wie sonst immer. Es ist das »heilig glühend Herz«, das Zentrum seiner, Prometheus', Existenz und des Textes. Und dieses »du« steht zudem in der mittleren, der fünften Zeile der mittleren Strophe, konstituiert also ganz exakt die emotionale und gedankliche Achse der Hymne. Damit rückt Zeus als Angeredeter in ein seltsames Zwielicht: er schrumpft, sit venia verbo, vom Objekt zum Anlaß. Will sagen: von der Mitte aus interpretiert, reduziert sich die Bedeutung des Gottes auf den Widerstand, den das Ich zur Herausbildung seiner vollen Subjektivität benötigt. Er verfällt der Belanglosigkeit; seine Inaktivität, sein Schweigen lassen ihn nicht einmal mehr als gleichberechtigtes Du erscheinen. Nur das heilig glühend Herz — das Subjekt in emphatischer Bejahung — kann ein Du sein. Das heißt freilich: nur das Subjekt kann sich selbst ein adäquates Objekt der Verehrung sein. Das
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heißt auch: die Prometheus-Hymne ist weniger, wie stets behauptet, ein Schrei der Empörung als eine Apotheose der Selbstliebe. Der lyrischen Subjektivität auf ihrer gewissesten Höhe antwortet nichts mehr als die Stimme des eigenen Herzens. Vom lyrischen Ich zum lyrischen Subjekt geworden, spricht es als erstes ein säkularisiertes Gebet an sich selbst. Ästhetische Versenkung wäre ein anderer Terminus dafür. Die irreligiöse Religiosität internalisiert vordem an ein Objekt gerichtete Frömmigkeit und entkleidet sie damit jeglicher Transzendenz, nicht aber ihrer Intensität. Zum Mittelpunkt des Universums emanzipiert sich das eigene Herz, das »alles selbst vollendet« (32). Diese drei Worte enthalten in nuce die poetische Programmatik der Prometheus-Hymne und bezeichnen unwissentlich und unwillentlich die außerordentlichen und schließlich unlösbaren Probleme, die ein solcher VorWurf, wenn ernstgenommen, nach sich zieht.
Auf dem See Und frische Nahrung, neues Blut Saug ich aus freier Welt; W i e ist N a t u r so hold und gut, Die mich a m Busen hält! Die Welle wieget unsern Kahn Im Rudertakt hinauf, Und Berge, wolkig himmelan, Begegnen unserm Lauf. Aug', mein Aug', was sinkst du nieder? Goldne T r ä u m e , k o m m t ihr wieder? Weg, du T r a u m ! so Gold du bist; Hier auch Lieb' und Leben ist. Auf der Welle blinken Tausend schwebende Sterne, Weiche Nebel trinken Rings die thürmende Ferne; Morgenwind umfliigelt Die beschattete Bucht, Und im See bespiegelt Sich die reifende Frucht. (WA, Bd 1, 7 8 )
Im Prozeß der Subjektwerdung des lyrischen Ich nimmt das Gedicht »Auf dem See« (1775) eine herausragende Stellung ein. Anders als im Prometheus definiert sich das Ich nicht in narzißtischer Abwehr sondern in gelassener Hingabe an das große Vertraut-Fremde: die Natur. Drei kunstvolle Strophen von kalkulierter Einfachheit entwickeln in These, Antithese und Synthese eine progredierende Ichfindung durch Ichverlust und kulminieren in einer 68
unio mystica, in der die divergierenden Ansätze und Ergebnisse des Maifestes und des Prometheus gesteigert bewahrt sind. Eine Beschreibung der metrisch-rhythmischen Befunde soll die Beweisführung einleiten. Die erste Strophe ist durchgängig jambisch, die Zeilen alternierend drei- und vierhebig. Der Sprechduktus ist schnell, spannungsvoll, bewegt, die Betonungen mithin eher schwach. Entscheidender als Einzelheiten wirkt das übergreifende rasche Tempo, das Ineins von Exklamation und Explikation. Gleichzeitig verhindern die ausnahmslos männlichen Kadenzen ein impressionistisches Verschwimmen von Sprachbogen und Sinn; die Strophe vermittelt das Gefühl eines frühen, klaren Morgens, lange bevor die dritte Strophe es ausdrücklich bestätigt. In der zweiten ändert sich nicht nur das metrische Schema hin zu vierhebigen Trochäen. Der rhythmische Verlauf stockt; das Tempo wird zunächst erheblich langsamer, bis es in der vierten Zeile wieder etwas anzieht. Die Akzente kommen regelmäßig, liegen vergleichsweise schwer. Die Frageform von Zeile 1 und 2 bewirkt eine deutliche Zäsur danach; das Gedicht hält inne, verweilt, sucht nach einem möglichen und richtigen Weg, der auf der rhythmischen Ebene zu definieren wäre als Verbindung von extrovertierter Spannung und introvertierter Statik. Die dritte Strophe leistet die Synthese der scheinbaren Widersprüche. Trochäen und Daktylen schaffen das metrische Gerüst für subtile rhythmische Wirkungen. Die 1., 3., 5. und 7. Zeile sind metrisch identisch, ebenfalls jeweils die 2. und 4., sowie die 6. und 8. Die 2. und 4 . enden mit einer weiblichen, die 6. und 8. mit einer männlichen Kadenz, eine ebenso artifizielle wie klare Konstruktion. Mutatis mutandis kann das auch vom rhythmischen Eindruck gesagt werden. Er kontaminiert Ausruf und Einsicht, Bewegung und Ruhe. Synthetisch faßt er die beiden vorausgehenden Strophen in einer höheren Einheit zusammen — genaue Analogie zu der ideellen Bewegung des Textes. Dabei emanzipiert sich die vom Sinn geforderte rhythmische Struktur nicht bloß tendenziell vom metrischen Schema; anders als in den tatsächlich regellosen Hymnen, die den Rhythmus allein aus der Bedeutung des herrisch gesetzten Wortes entstehen ließen, begibt sich Goethe (und da darf einmal vom Autor direkt gesprochen werden) jetzt in die Fessel metrischer Heteronomie. Freilich nur, um sie, wie alle heteronomen Zwänge, aus sich heraus zu überwinden. Das metrische Schema existiert noch, und in der oben aufgezeigten Kunstfertigkeit, aber es wird zum Medium des autonomen Ausdrucks, zu einem Teil des evozierten unwiederholbaren lyrischen Moments und der erreichten Stufe der lyrischen Subjektivität. Unser Gedicht dokumentiert, bis in welche formalen Subtilitäten hinein die normsprengende und -setzende Kraft des seine Möglichkeiten auslotenden und beschreibenden Ich ihre Wirkung entfaltet. Noch war eigentlich vom Wortlaut des Gedichts, seiner Bildlichkeit und
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gedanklichen Welt nicht die Rede. Die Interpretation wird zeigen, daß rhythmische und intellektuelle Struktur nicht einfach eng verwandt, sondern identisch sind, daß über das eine sprechen heißt, auch das andere deuten und vice versa. Der Titel legt den Ort des Geschehens fest. Das lyrische Ich erfährt sich zunächst in engster Harmonie mit der Natur, sowohl als Handelnder wie als Betrachtender. Das Vokabular läßt an die frühkindliche Mutter-Kind-Beziehung denken, 10 das Ich »saugt« »frische Nahrung, neues Blut«, und Mutter Natur hält ihr Kind am Busen. Eher beobachtend ist der zweite Teil der ersten Strophe; die unausgesprochene Verklammerung wird durch die Wasser-Metaphorik erreicht: die eine Bedeutung des ambivalenten Symbols verweist auf die Sphäre des Lebens, der Fruchtbarkeit und Zeugung, die andere, dunkle, auf die des Todes, der unergründlichen Lockung durch Nacht und Vergessen. Die erste Strophe weiß nichts von Sorge und Schmerz, sie ist reine Gegenwart, Gegenwart des Empfindens und Schauens. Ihre schattenlose Heiterkeit umgreift das lyrische Subjekt in gleicher Weise wie die erlebte Natur. Subjekt und Objekt stehen sich zwar gegenüber, als »Ich« und »Natur«, bewegen sich jedoch ähnlich wie Welle und Kahn (Zeile 5): der Kahn wird gerudert und von der Welle gewiegt (auch da mag man einen Nebensinn vermuten: es wäre die erste Strophe dann vielleicht eine aufs äußerste verknappte Beschreibung kindlicher Geborgenheit in der Abhängigkeit von der geliebten Mutter), die Berge personalisiert und aktiviert (sie »begegnen« den Fahrenden). Der vorherrschende Duktus ist der eines überwältigten und überwältigenden Gefühls in reflexionsloser Sicherheit. Nimmt man die triadische Struktur ernst, so wäre die erste Strophe als »These« zu bezeichnen und mit den Begriffen Gegenwart, Heiterkeit und reiner Emotionalität zu charakterisieren. Die zweite gestaltet einen momentanen Wechsel von Gegenstand, Ton und Tempus. Die Gegenwart wird abgelöst von einem Einbruch der Vergangenheit, wird transzendiert durch Erinnerung. Dem Ich stellt sich ein Du gegenüber, das aber weder als Naturobjekt noch als zweites Subjekt begriffen werden kann, vielmehr die eigene erwachte Reflexivität bedeutet. Ohne tiefsinnigem Etymologisieren zu verfallen muß daran erinnert werden, daß »Reflexion« Rückbeugung heißt und den evozierten Vorgang genau trifft. Sich selber in der Vergangenheit verlierend, »goldnen Träumen« nachhängend, tritt das lyrische Subjekt unwiderruflich aus der Gegenwart heraus. Dieser Augenblick der Reflexion, vordergründig bloß beliebige Unterbrechung einer selbstvergessenen »Stimmung«, erweist sich in Wahrheit als notwendige und 10
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Im Erstdruck war es überdeutlich embryonal: »Ich saug an meiner Nabelschnur / Nun Nahrung aus der Welt.« (WA 1, S. 387) Die spätere Fassung beseitigt diese pränatale Situation, behält aber immer noch den symbiotischen Charakter, eine Antizipation der Schlußsequenz.
irrevokable Emanzipation von allen Formen der reflexionslosen Anschauung und des erfahrungslosen Glücks. (Eine Transportation auf die ontogenetische Ebene könnte dem Vorgang die Dimension des pubertären Zwischenstadiums vor der selbstbewußten Reife verleihen — was eher eine Einschränkung denn eine Erweiterung unseres Verständnisses nach sich zöge.) Als »Antithese« bedeutet die zweite Strophe Vergangenheit, Beklemmung (die Erinnerungen sind durchaus nicht negativ; einzig die Tatsache ihrer Existenz legt einen Schatten auf das Gemüt des lyrischen Ich) und Reflexion. In welcher Form schafft die dritte Strophe eine Fortsetzung und Lösung der Gegensätze? Auf den ersten Blick durch größtmögliche Einfachheit. Nichts ist mehr vorhanden als Natur, angeschaute und sich spiegelnde Welt, Teile eines harmonischen Universums, die den zwingenden Eindruck eines notwendigen und selbstverständlichen Ganzen erwecken. Betrachtet man die Bilder genauer, wird ihre bedeutungsvolle Komplexität und Zuordnung deutlich, eröffnet sich die zunächst verborgene Beziehung zu den vorangegangenen Versen. Wieder wird Gegenwart evoziert, aber es ist nicht die voraussetzungslos reine der ersten Strophe, sondern das Gleichnis einer aufgehobenen Zeit, die Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft weniger in sich aufhebt als vielmehr in der Anschauung begrifflos transzendiert. In strenger poetisch-lyrischer Logik enthält die Strophe auch kein »Ich« mehr. Gerade darin drückt sich die endlich erreichte Einheit von Subjekt und Objekt, Ich und Welt aus. Das Ich löscht sich, betrachtend und selbstverloren, als abgespaltenes Teil aus, bewahrt sich jedoch in seiner reifsten Potenz, indem es die Fesseln der empirischen Apperzeptions- und Individuationsformen abstreift. Die Naturbilder sind, als wären sie von einer transindividuellen Instanz gesehen und beschrieben; und in der Tat markiert der Text den Höhepunkt der Subjektwerdung als Ichfindung durch Ichverlust in einer völlig sympathetischen Natur. Nicht nur finden und treffen sich Ich und Welt, die notwendig exemplarische Bildwelt umgreift in pointierter Auswahl Erde (»Welle«) und Himmel (»Sterne«), Ferne und Nähe (»Nebel«), so in größter Einfachheit universalen Frieden und elementare Harmonie andeutend. Die letzten Zeilen entfalten die Spiegelimago als Identitätssymbol: Natur ist, wie selbstverständlich, beseelt und personifiziert, gleichwohl nicht Subjekt eines Prozesses im herkömmlichen Sinn; »im See bespiegelt/ Sich die reifende Frucht«: ein logisches Paradoxon, aber, am Ende dieses Gedichts, eine poetische Chiffre von sinnlich erfahrener Wahrheit, die Natur und Ich nach Trennung und Entfremdung in der Synthese eines mystischen Augenblicks zusammenführt. In weitestgehender Abstraktion ließe sich die gedankliche Bewegung von »Auf dem See« so zusammenfassen: In der ersten Strophe erfährt sich das lyrische Subjekt in der Einheit des Vor-Bewußten. Die zweite bringt den Zerfall der Einheit durch Reflexion, Erinnerung, kurz: Bewußtsein. In der dritten
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vollzieht sich die Restitution der Einheit des Bewußtseins in ihrer höchsten Form: als Aufgehen in der Natur, Überschreitung der Subjektivität. Wir gelangen damit zum widerspruchsvollen Befund, daß die lyrische Subjektivität ihre tiefste Ausprägung dann erhält, wenn das lyrische Ich sich von seinen empirischen Wurzeln emanzipiert. Der Widerspruch ist ein scheinbarer, weil eben gerade dadurch das Ich so eminent welthaltig wird, daß es der voluntaristischen Aufblähung durch willkürliche Aneignung mehr oder minder partikularer Realitätsteile entraten kann, ja dies überhaupt nicht auch nur als Möglichkeit in Betracht zu ziehen braucht. Die Spannung zwischen Ich und Welt (: Natur), Subjekt und Objekt, ein durch die Emanzipation des Bewußtseins, also des Beginns der Subjektivität, notwendig einsetzender Prozeß der Entfremdung, kann an dieser frühen Stelle, beim jungen Goethe, noch fruchtbar gemacht und in freilich seltenen Momenten überbrückt, vielleicht zur Identität gebracht werden, verschärft sich aber mit zunehmendem Selbstbewußtsein des empirischen und lyrischen Ich. Denn die progredierende Autonomie des Individuums radikalisiert seine Distanz zu den Objekten, auch den poetischen, auf außerordentliche Weise; je distinkter sich das lyrische Subjekt zu bestimmen sucht, desto erzwungener, chimärischer wird die lyrische Subjektivität, weil in ihr die Welt immer weniger selbstverständlich, d.h. als Teil des Ich, aufscheint, vielmehr als stets fremder werdendes Objekt irritierend dem Subjekt entgegentritt und in einem Akt der beschwörenden Bannung integriert werden muß. Erlkönig Wer reitet so spät durch N a c h t und Wind? Es ist der Vater mit seinem Kind; Er hat den Knaben wohl in dem Arm, Er faßt ihn sicher, er hält ihn w a r m . Mein Sohn, was birgst du so b a n g dein Gesicht? — Siehst, Vater, du den Erlkönig nicht? Den Erlenkönig mit K r ö n ' und Schweif? Mein Sohn, es ist ein Nebelstreif. — » D u liebes Kind, k o m m , geh mit mir! » G a r schöne Spiele spiel' ich mit dir; » M a n c h bunte Blumen sind an dem Strand; » M e i n e Mutter hat manch gülden G e w a n d . « Mein Vater, mein Vater, und hörest du nicht, W a s Erlenkönig mir leise verspricht? Sei ruhig, bleibe ruhig, mein K i n d ; In dürren Blättern säuselt der Wind. »Willst, feiner Knabe, du mit mir gehn? » M e i n e Töchter sollen dich warten schön;
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»Meine Töchter führen den nächtlichen Reihn, »Und wiegen und tanzen und singen dich ein.« Mein Vater, mein Vater, und siehst du nicht dort Erlkönigs Töchter am diistern Ort! — Mein Sohn, mein Sohn, ich seh' es genau; Es scheinen die alten Weiden so grau. »Ich liebe dich, mich reizt deine schöne Gestalt; »Und bist du nicht willig, so brauch' ich Gewalt.« Mein Vater, mein Vater, jetzt faßt er mich an! Erlkönig hat mir ein Leids gethan! — Dem Vater grauset's, er reitet geschwind, Er hält in Armen das ächzende Kind, Erreicht den Hof mit Mühe und Noth; In seinen Armen das Kind war todt. (WA, Bd I, 167f.)
Eine zumindest partielle Antizipation dieser Entwicklung mag der heutige Interpret im »Erlkönig« (1782) erblicken. Die Bekanntheit der Ballade, die Beliebtheit, deren sie sich zumindest früher im Schulunterricht erfreute, verdekken zunächst das Befremdliche, gar Anstößige des Inhalts. Vater und Sohn reiten nachts durch eine düster-neblige Wald- und Heidelandschaft, das Kind hört Stimmen, erst lockende, dann drohende, sieht den Erlkönig, schließlich Erlkönigs Töchter, wendet sich bittend, bettelnd an den Vater um Hilfe; aber der sieht und hört nichts, versucht, den Sohn zu beruhigen, ohne Erfolg. Am Ende durchbricht die Stimme des Erlkönigs alles Decorum, spricht sein Begehren sich klar und ohne Verstellung aus: »Ich liebe dich, mich reizt deine schöne Gestalt;/ Und bist du nicht willig, so brauch' ich Gewalt.« (VII, l f ) Als Vater und Sohn das schützende Haus erreichen, ist das Kind tot. Diese Verschränkung von nächtlichem Dunkel, sexuellem Verlangen und Tod ist in ihrer Kühnheit, Selbstverständlichkeit und lapidaren Wucht auch innerhalb des Goetheschen Oeuvres beispiellos. Die literaturwissenschaftlichen Hinweise auf nordische Volksballaden, Herder und allgemeine Veränderungen im literarischen Geschmack haben den fatalen Effekt, dem T e x t seinen ganzen Ernst zu nehmen und an die Stelle eines geschlossenen singularen Phänomens das Produkt der verschiedensten Einflüsse zu setzen. 1 1 Daß aus denen als Summe nichts anderes werden kann, als was sie selbst, noch unverbunden, sind, versteht sich ohne weitere Diskussion; daß jedoch jedes gelungene Gedicht gerade deshalb gelungen ist, weil es sich jeder Art von Bedingtheit zumindest intentional entzieht und ein Neues schafft, versuchen die Interpreta-
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Vgl. die unter Anm. 12 aufgeführte allgemeine Literatur zur Ballade. Zum Erlkönig speziell: Staiger: Goethe. Bd. 1, S. 3 4 3 - 3 4 5 .
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tionen dieser Arbeit exemplarisch zu zeigen. So kann der »Erlkönig« nur adäquat verstanden werden, wenn sich der Leser von der Aufgabe dispensiert, nachzeichnen zu wollen, was Goethe im Moment der Entstehung wußte und wollte (ein, wie an anderer Stelle ausgeführt, sowieso hoffnungsloses Unterfangen), vielmehr mit Entschiedenheit fragt, was der Text, vor seinem geschichtlichen Hintergrund, bedeutet. Ballade läßt sich definieren als dramatisches Gedicht mit epischen Zügen. 1 2 Also alle Gattungen auf engstem Raum; eine knappe, auf einen Höhepunkt zutreibende Geschichte, dialogisiert und in Reim und Rhythmus gebracht. Im Erlkönig spielt das Geschehen in nächtlicher Dunkelheit. Die Natur der bisher untersuchten Goethe-Gedichte präsentierte sich anders: heiter, sonnig, erwartungsvoll. In einigen Texten bildet zwar auch die Nacht die Kulisse für Gefühle und Reflexionen, aber nie erscheint sie bedrohlich (»Willkommen und Abschied« macht keine Ausnahme, denn »Die Nacht schuf tausend Ungeheuer,/ Doch frisch und fröhlich war mein Mut« — darin liegt aller Unterschied), nie verbindet sie sich mit tödlicher Leidenschaft und Untergang. Hier kündet sie von der Heraufkunft eines Archaischen, Fremden, zunächst Unableitbaren. Natur, das heißt jetzt: Nacht, Wind, Kälte, Nebel, dürre Blätter, alte Weiden. In der ersten und letzten Strophe beschreibt ein Erzähler die notwendigen Vorgänge, sonst findet sich nur direkte Rede. Die Außenwelt wird als objektives Phänomen konstituiert und als Projektion des Innenraums der handelnden Gestalten begriffen und begreifbar gemacht. Die (angsterfüllten und beruhigenden) Beschreibungen der Natur durch Vater und Sohn setzen zwei Auffassungen, Deutungen der gleichen Vorgänge nebeneinander, sich schon dadurch von der im engeren Sinne lyrischen Bildwelt früherer Gedichte unterscheidend. Im Erlkönig ist vorab kein einheitliches lyrisches Subjekt und eine daraus sich entwickelnde lyrische Subjektivität feststellbar, bloß die Evokation einer Stimmung und zwei Reaktionen auf diese anscheinend oder scheinbar objektive Faktizität. Die Reaktion des Kindes ist irrational und rational zugleich; irrational, weil es, in schroffer Distanz zu 12
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Uber die gängigen Nachschlagewerke hinaus sind von Interesse: Wolfgang Kayser: Geschichte der deutschen Ballade. Berlin 1936. Kate Hamburger: Die Logik der Dichtung. Stuttgart 2 1968. Walter Hinck: Die deutsche Ballade von Bürger bis Brecht. Göttingen 1968. Walter Falk: »Die Anfänge der deutschen Kunstballade« in: DVjS 44, 1970, S. 6 7 0 - 6 8 6 . Maria Wagner: »Die Kunstballade und die Logik der Dichtung« in: GMR S3, 1972, S. 7 5 - 8 6 . Ulrike Trumpke: Balladendichtung um 1770. Ihre soziale und religiöse Thematik. Stuttgart 1975. Hartmut Laufhütte: Die deutsche Kunstballade. Grundlegung einer Gattungsgeschichte. Heidelberg 1979.
Aufklärung und Vernunft, das Unbelebte als belebt, das Natürliche als dämonisch erfährt, rational, weil es ja diese Erscheinungen tatsächlich erlebt, an ihrer Existenz für das Kind kein Zweifel herrscht. Vom Standpunkt des Vaters nimmt sich die Reaktion des Sohnes wahrlich verstörend irrational aus; aber seine Rationalität zeigt ihre Insuffizienz, weil sie die Gewalt eines ganz anderen nicht zu akzeptieren bereit ist. Somit stellt sich uns die Spannung zwischen Rationalität und Irrationalität als nicht ganz so eindeutig dar, wie eine rasche Formel von Vater gleich Aufklärung und Sohn gleich unaufgeklärter Emotionalität suggerieren könnte. Beide stehen unter der Wirkung eines nächtlichen Faszinosums, für beide entgrenzt sich die gewohnte Welt. Natur kehrt ihr erschreckendes, gleichzeitig lockendes und abgründiges Gesicht hervor, wird »dämonisch«. Ununterscheidbar davon ist die Überwältigung durch das innere Chaos, durch die Ängste und Sehnsüchte, die faßliche Gestalt und unbegreifliche Macht gewinnen. Mit einem Wort: das Geschehen ist, für die Beteiligten zumindest, unheimlich. Aber was ist das: unheimlich, wie läßt sich das Unheimliche definieren? Sigmund Freud hat in einem Aufsatz aus dem Jahr 1919 einen Versuch dazu unternommen. 13 Ihm möchten wir uns deshalb anschließen, weil er, jenseits der Frage nach prinzipieller Richtigkeit und Plausibilität, zur Deutung unserer Ballade Wesentliches beizutragen hat und das begriffliche Instrumentarium zur abschließenden Bestimmung der lyrischen Subjektivität des »Erlkönigs« zur Verfügung stellt. Freuds grundlegende These, die er teils mit literarischen Texten, teils durch Beispiele aus der Alltagserfahrung belegt, besagt, daß als Bedingung der Möglichkeit der Erfahrung des Unheimlichen ein Konflikt existieren muß zwischen phylogenetisch archaischen Vorstellungen und der aufgeklärten Vernunft. Die menschheitsgeschichtlich frühen Apperzeptionsformen lassen sich subsumieren unter den Begriff des Animismus, also dem Glauben an Magie, eine beseelte Welt und die Allmacht von Gedanken. Einst dominant, wurde er im Verlauf der Entwicklung von der Rationalität und dem Wissen des aufgeklärten, d.h.: sich in einem entseelten Universum findenden, Individuums zurückgedrängt. Aber nicht völlig besiegt. Spurenhaft bewahrt, so Freud, jeder in sich Reste dieses Glaubens. Und da der einzelne Mensch in seinem Leben die Menschheitsgeschichte wiederholt, jede Ontogenese also eine zeitrafferartig verkürzte Phylogenese ist, sind besonders Kinder prädestiniert für animistische Erlebnisse. Die sind freilich nicht unheimlich. Eine animistisch geglaubte Natur enthält keinen Stoff für Erfahrungen des Unheimlichen. Das kann nur entstehen, und wir folgen immer noch Freud, wenn die Rationalität eigentlich bereits die Oberhand gewonnen hat und alles uns Umgebende mit sachlichem Blick als leblos und fremd be13
Sigmund Freud: »Das Unheimliche« in: Studienausgabe.
Bd. IV, S. 2 4 1 — 2 7 4 .
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trachtet, in unserem Inneren aber sich noch Rudimente des alten Glaubens halten und darauf warten, bei jeder sich bietenden Gelegenheit hervorzubrechen. Unheimlich wird ein Ereignis also, wenn Erlebnisse die Möglichkeit nahelegen, es könne der Animismus doch ein Moment von Wahrheit enthalten, ja vielleicht die verborgene Wahrheit hinter der Gleichgültigkeit der Dinge sein. Das Unheimliche wäre dann das verdrängte, überwunden geglaubte »Heimliche«, d.h. seit jeher Vertraute, im onto- und phylogenetischen Sinn, »jede Art des Schreckhaften, welche auf das Altbekannte, Längstvertraute zurückgeht«. 1 4 Der Glaube an Geister, die Gewalt des ausgesprochenen Wortes, ein Leben nach dem Tod, hat nie so gänzlich aufgehört, wie die Aufklärung das sich selbst suggeriert hat. Er blieb sedimentiert auf dem Grund der Seele, bereit, auf den geringsten Anlaß hin gegen das nüchterne Diktum der Vernunft zu rebellieren. Deren Herrschaft, tendenziell absolutistisch wie die der Magie, gestattet kein Nebeneinander beider Welt-Anschauungen. Ihre Kollision muß folgerichtig einen Konflikt auslösen, der das Individuum schockhaft trifft, meinte es doch im Prozeß der Adoleszenz die letzten Reste der infantilen Komplexe überwunden zu haben. Da dies bloß partiell gelungen ist, so Freud, lauert das Unheimliche als Ausdruck der Unvereinbarkeit von magischem Glauben und rationalem Wissen für den modernen Menschen hinter der Alltagsfassade der ihn umgebenden Welt. Daß das Unheimliche in der Dichtung gesonderte Überlegung verdient, deutet Freud an. 1 5 Er gelangt allerdings nur zu recht vorläufigen Konklusionen, die etwas von der Schwierigkeit verraten, ein psychologisches Modell von der empirischen Ebene auf die fiktionale der Kunst zu transponieren. Immerhin wird deutlich, daß für den Leser andere Voraussetzungen bei der Erfahrung des Unheimlichen gelten als für den direkt Involvierten, daß die vermittelte Rezeption eines unheimlichen Erlebnisses nicht naturgemäß ein ähnliches Gefühl nach sich ziehen muß. Jedoch läßt sich der oben skizzierte Mechanismus der Entstehung des Unheimlichen auf die fiktionalen Charaktere einer jeden Dichtung applizieren, falls sie psychologische Richtigkeit und intersubjektive Nachvollziehbarkeit beanspruchen. Damit wären wir wieder beim Erlkönig und der noch nicht befriedigend geklärten Beziehung von Vater, Sohn und unheimlicher Erscheinung. Vorab drängt sich die polare Struktur der gesamten Ballade auf. Vater und Sohn, Erlkönig und Sohn, Lockung und Drohung, Zärtlichkeit und Gewalt, Innenraum und Außenwelt, Frage und Antwort, Rationalität und Emotionalität, Erotik und Tod: die Leichtigkeit, mit der solche Zuordnungen sich schaffen lassen, impliziert, daß sie auf ein Zentrales und Fundamentales als Struktur14 15
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Freud, S. 244. Freud, S. 2 7 1 - 2 7 4 .
prinzip verweisen. Dies sei begrifflich gefaßt als der Doppelcharakter von Natur und Ich. Den bislang untersuchten Gedichten eignete keine solche Ambivalenz, weder im Naturverständnis noch der Auffassung des Ich. Hier artikuliert sie sich mit Schärfe und Konsequenz. Zwar waltet in der Beziehung Vater — Natur und Sohn — Natur eine Art harmonischer Zuordnung, aber gerade die Sympathetik des Verhältnisses treibt ihre Abgründigkeit über das Zufällige hinaus. Dem Vater erscheint alles, was er erlebt, als übersetzbare Spiegelung seines rationalen Innern, dem Sohn dagegen verwischt sich die Grenze von Bekanntem und Unbekanntem, Versprechen und Drohung, Anziehendem und Abstoßendem. Jeder Vorstellung läßt sich eine konträre Vorstellung gegenübersetzen, ohne daß ihre Summe der Totalität des Gedichts nahekäme. Sogar in den polaren Zuordnungen findet sich diese konstitutive Spannung. Das Ich, das zum einheitlichen lyrischen Subjekt wurde, zerfällt in zwei Apperzeptionsmöglichkeiten, die mit rational und irrational ebenso eingängig wie vorläufig umschrieben werden können. In Wahrheit treibt die Vernunft die Rationalität zur Anerkennung der Existenz eines Trans-Realen, und liege dies nur in der Vorstellung des Ich (des Sohnes). Das Aufbrechen der vorrationalen Welt indiziert eine Erweiterung des Verständnisses von Ich und Welt; das Unheimliche weist hin auf die Abgründe in Natur und Mensch. Die Konstellation des »Erlkönig« gestaltet in Bild und Geschehen die Ambivalenz auch des herkömmlichen Vernunft-Begriffs. Dadurch gelingt dem Gedicht, was zunächst in der durchgängigen Gegensätzlichkeit verloren schien: lyrische Subjektivität. Nur daß sie jetzt entscheidend über die bisherige monolithische hinaus und der Antinomie ihrer selbst und der Natur innegeworden ist. Das lyrische Subjekt erfährt sich und die Objekte nicht als widerspruchsfreie Identität, sondern in den Dingen seine eigene virtuelle Zerrissenheit und in sich alle Abgründe der Natur. Der Doppelcharakter von Natur und in der Beziehung Ich — Natur visualisiert die nach außen gewendete Innenspannung der lyrischen Subjektivität und vice versa. Der »Erlkönig« dokumentiert die erste Gefährdung des lyrischen Subjekts, als es, radikal in der Auslotung seiner Tiefen, auf Bezirke stößt, die, weil archaisch und gleichsam vorbewußt, seine Subjektwerdung zu negieren drohen. Noch gelingt es, sie nicht nur einfach zu integrieren, sondern zur Stärkung und Potenzierung einzusetzen. Den Vater »grausets« am Schluß der Ballade, der Sohn ist gar tot, aber das metafigurale Subjekt des Gedichts — die Summe der drei Ich und das Ergebnis aller ihrer Wünsche, Ängste und Handlungen — hat in einer authentischen und adäquaten Realisation seiner Entstehung und Beschaffenheit zu sich selbst gefunden.
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Systematischer Teil a) Ich — Natur Nach den vier Interpretationen ist es Aufgabe der abschließenden Überlegungen, in Zusammenhang und Ausblick die dort einzeln entwickelten Gedanken thematisch zu ordnen und zu erweitern. Der erste Schwerpunkt wird das Verhältnis Ich — Natur sein. Wir haben gesehen, welche überragende Bedeutung der Natur für die Herausbildung eines lyrischen Subjekts zukommt und wie sich die Natur im lyrischen Subjekt überhaupt erst konstituiert. Beides sind Komplementärphänomene, Variationen eines identischen Substrats. Daß dabei der eine Teil sich als erkennend und Subjekt bestimmt, der andere als erkannt und Objekt erscheint, ist notwendige Konsequenz ihres In-dieWelt-Tretens, aber nicht Ausdruck einer unüberbrückbaren ontologischen Differenz. Gerade sie wird erst am Ende des 19. Jahrhunderts evident und akzeptiert. Für den jungen Goethe entfaltet sich das Subjekt einzig als pars pro toto, begreift sich die Subjektivität, die Authentizität des Ich in der emphatischen Negierung des Ich als eines Vereinzelten. Zwar tritt, und anders ist die Herausbildung eines lyrischen Subjekts im Unterschied zum beliebigen lyrischen Ich gar nicht vorstellbar, ein vereinzelter Sprecher der Gesamtheit der empirischen Welt gegenüber, aber er vermag dies nur zu tun, weil er sich als Teil der Gesamtheit weiß; er kann sein Selbstbewußtsein gewinnen, weil er es als Moment des tragenden Allgemeinbewußtseins erfährt und zu artikulieren in der Lage ist. Wir konstatieren also das scheinbare Paradoxon, daß das lyrische Subjekt im Augenblick seines Hervortretens bereits seine gültigste Ausprägung erfährt. Die unreflektierte Gewißheit der Identität von Ich und dem Ganzen schafft, in Bild und lyrische Sprache gebracht, den unüberbietbaren Ausdruck von Singularität, der das lyrische Ich, eben weil es das noch gar nicht will, ihm die Frage noch nicht zum Problem geworden ist, zum lyrischen Subjekt macht. Das Hinzutreten des Problembewußtseins markiert bereits den Punkt der grundsätzlichen Trennung von Subjekt und Objekt, zeigt den Verlust der nicht nur an sich, sondern auch für sich bestehenden Identität. Ermöglicht dieses Fehlen Goethes Naturlyrik (und damit Liebeslyrik), so gebricht es ihr doch keineswegs an einer, teils impliziten, teils expliziten, Reflexion auf die Bedingungen ihres Entstehens. Zentral ist allen poetologischen Entwürfen die Erkenntnis (oder die Konstruktion) von der Natur als nach eigenen Gesetzen sich entwickelnder, unbegrenzter Schöpfungskraft. Sie löst als konstitutives Prinzip den personalen Gott ebenso ab wie sie der Inauguration des homo faber zeitlich und logisch vorhergeht. Denn der Mensch sieht sich in dieser Weltvorstellung zwar nicht als ein von einem höheren Wesen Abhängiger, aber auch nicht (noch nicht) als Herr der Welt. Er begreift sich
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vielmehr als denkende Emanation der ewig produktiven Natur, als, wenn die Leibnizsche Terminologie hier gestattet ist, kleine Monade, die die Möglichkeit der großen vollkommen in sich trägt und folglich Geschaffenes wie Schaffendes sein muß, Geschöpf und Schöpfer. Die Beziehung Mensch — poetisches Produkt wiederholt die Relation Welt — Mensch. Auf dem Grund der lyrischen Subjektivität liegt die Autonomie von Natur und Mensch. Kein unableitbares, abstraktes Prinzip fordert Gehorsam (gegen die Reste dieses Glaubens in sich rebellierte der Prometheus der Hymne), das Eingehen auf die Natur in ihrer konkreten Faßbarkeit gewährt ein Fundament für das Verständnis von Innenwelt und Außenwelt. So wie sie in letzter Instanz ebenfalls unbegreiflich, als sich offenbarende jedoch ergründbar ist, so ist es auch der Einzelne. Das Staunen ist ein doppeltes: es meint das Verstehen der Eigengesetzlichkeit der Natur und der Tatsache, daß der Mensch als Teil der Natur und damit wie sie keiner heteronomen Ordnung unterliegt. Der poetische Ausdruck dieser Individuation ist die lyrische Subjektivität; der Träger und Produzent der dichterischen Selbstfindung das autonome lyrische Subjekt. Vom Maifest bis zum Erlkönig haben wir weniger eine chronologische oder logische Entwicklung als vielmehr das kompromißlose Ausschreiten eines erst geschaffenen Raumes konstatiert. Dieser Raum wäre, metaphorisch, zu definieren als die Spannung zwischen einem selbst-bewußten Ich und einer von ihm separierten, gleichwohl als grundsätzlich identisch begriffenen, Objektwelt. Aber auch eine ganz reale Bedeutung von Raum, die vordergründige, bestimmt die Gedichte: Raum verstanden als Natur. Darüber ist stets ausgiebig gesprochen worden und es muß davon nichts wiederholt werden. 1 6 In unserem Zusammenhang bleibt festzuhalten, daß die Naturbilder in keinem Fall ablösbar sind von der jeweiligen Befindlichkeit des lyrischen Subjekts, ja daß beide Pole nur miteinander, einander bedingend, gedacht werden können. Die vollkommene Harmonie zwischen beiden erweist sich als charakteristisch für den jungen Goethe, auch und gerade da, wo scheinbar nur von Angst, Bedrohung und Disharmonie die Rede ist, etwa im Erlkönig. Die Ballade demonstriert, daß das lyrische Subjekt, im Unterschied zu den handelnden und leidenden Personen des Inhalts, in der als dämonisch begriffenen Natur und den Abgründen der menschlichen Seele eine neue Dimension seiner selbst und der sympathetischen Natur gewinnt. Ich und Welt begegnen sich eben nicht als zwei Entitäten; die Schrecken der Natur erfährt das Subjekt vielmehr als Potentiale seines Innenraums, so wie es in der objektivierten Außenwelt seine eigenen Phantasien wiedererkennt. Das Unheimliche ist nicht ein Fremdes, sondern ein vertrauter Teil seiner selbst — ohne Freud heranziehen zu müssen, könnte dies dem Text entnommen werden. Innerhalb des so 16
Vgl. die Literatur zu A n m . 4.
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konstruierten Raumes kann es nichts Fremdes geben, weder an sich noch im direkten Verhältnis zum lyrischen Subjekt. Das Dämonische als Ausdruck der am weitesten vorangetriebenen Exploration des Subjekts sprengt folgerichtig weder das Bild der Natur noch rüttelt es an der Basis des Selbst-Vertrauens. Vielmehr erweitert es die Pole der Spannung und damit den Raum der lyrischen Produktivität. Seine Grenzen sind durch den jungen Goethe einerseits immens ausgeweitet (das die bekannte und tradierte Ansicht), andererseits nicht unerheblich restringiert worden: poetisch möglich ist jetzt nur noch die Übereinstimmung von Innen- und Außenwelt - wobei poetisch möglich meint: poetisch wahrhaftig. 1 7 Die Belebung der Objekte durch eine radikale Subjektivität wie auch der reziproke Vorgang machen ein »Fremdes« zur Unmöglichkeit. Die grundsätzliche Identität von Subjekt und Objekt bewahrt das Ich vor jenen Zweifeln, die im 20. Jahrhundert das lyrische Subjekt kennzeichnen. Es ist dies keine Minderung des lyrischen Potentials, sondern die Erfüllung des überhaupt Vorstellbaren. Immerhin gestattet der Rückblick, durch eine Negation (keine Identitätszweifel, keine Fremdheit zwischen Subjekt und. Objekt) die Position der Goethe-Gedichte genauer zu bestimmen. Das sich definierende und in die Außenwelt imaginierende Ich versteht sich bemerkenswert häufig als Künstler. In unseren vier Gedichten geschieht es zweimal: am Schluß des Maifests, wenn von »Freud' und Muth// Zu neuen Liedern/ Und Tänzen« (VIII,4—IX,2) die Rede ist, das lyrische Subjekt sich als produktives zu erkennen gibt, und durchgängig im Prometheus, dessen gleichsam reale Bildebene transparent wird für die metaphorische Bedeutung des »Formens« und der elementaren Schöpferkraft. Andere Gedichte erweitern und verdeutlichen die Relevanz des Künstlerthemas. 1 8 Es erscheint nicht zufällig als ständig wiederkehrender Topos; bei der Interpretation des Prometheus wurde auf die Idee des Genies als des gesteigerten Menschen hin-; gewiesen. Damit bewegen wir uns noch in den Intentionen des Sturm und Drang, dessen Ahnenreihe in Prometheus und Shakespeare gipfelte und dessen Denken im »Genie« den äußersten Gegensatz zur jüngstvergangenen Literatur fand und planmäßig aufbaute. Die ganze Tragweite der in der Mitte des 18. Jahrhunderts aufbrechenden Künstlerproblematik ist damit freilich
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Dieses immer wieder auftauchende Problem darf auch hier noch einmal angesprochen werden: Natürlich gibt es neben und nach den interpretierten Gedichten zahllose, auf die unser Ansatz nicht unmittelbar anwendbar ist. Sie stehen gleichsam exterritorial zur Geschichte der lyrischen Subjektivität und tangieren deren Entwicklung nicht. In der H a m b u r g e r Ausgabe, Bd. 1, hat Erich T r u n z die thematisch verwandten Gedichte dieser Epoche unter einem eigenen R u b r u m zusammengefaßt: »Die Künstlergedichte«. Es fehlen jedoch, neben den beiden genannten, andere aus dieser Z e i t , die von Produktivität im weitesten Sinn handeln.
nur unzureichend beschrieben, vor allem wäre eine stringente Beziehung herzustellen zwischen der sich emanzipierenden Subjektivität und dem Künstler-Ich der Gedichte. Daß sich das lyrische Subjekt in Analogie zur ewig schaffenden Natur ebenfalls als natura naturans versteht, dürfte klargeworden sein. Die begriffliche Festlegung, man ist versucht zu sagen: die berufliche Festschreibung, des Ich als Künstler bringt nun ein irritierendes M o m e n t von Übererfüllung in die lyrische Welt. Denn indem sich das Subjekt im Gedicht erschafft und darstellt, leistet es die Totalität des in ihm Angelegten. Die hinzutretende Reflexion, sei sie bloße Anspielung wie im »Maifest« oder textkonstitutiv (und ironisch) wie in »Künstlers Erdewallen« oder »Künstlers Apotheose«, zerstört tendenziell oder realiter die Vollkommenheit der lyrischen Subjektivität und die Geschlossenheit der evozierten Bildwelt. Die Gleichsetzung von »natürlicher« und künstlerischer Produktivität, die unabdingbare Basis des Geniebegriffs, zerbricht beim Hinzutreten der Reflexion, weil die Natur selber nicht reflexiv ist. Wir konstatieren hier eine weitere, noch nicht destruktive, wohl aber auf Gefährdung angelegte Antinomie: die von der selbstverständlichen Reflexivität des lyrischen Subjekts und der latenten Unterminierung der lyrischen Subjektivität durch Anwendung der Reflexion. 1 9 Natur kann als Gleichnis für Geschlossenheit und Produktivität nur begriffen werden als das ganz Unbestimmte, alles in sich Schließende; das zum Subjekt werdende Ich bedarf der Teilnahme an dieser Totalität, muß jedoch, um die ihm innewohnende Bestimmung, sein Telos, zu erreichen, ein Bestimmtes und dadurch Ausschließendes schaffen. Die prekäre Balance zwischen bewußtloser Partizipation und bewußter Formung zu halten, gelingt auch dem jungen Goethe nur selten. »Auf dem See« und die unter »Wandrers Nachtlied« versammelten beiden Gedichte dokumentieren vielleicht sein Reifstes. Die Hereinnahme einer Definition des lyrischen Subjekts, etwa als Künstler, in den T e x t öffnet einen Riß zwischen Subjekt und Objekt, der nur mehr noch voluntaristisch ausgefüllt werden kann. Diese Disharmonie muß sich freilich aus den Prämissen zwangsläufig entwickeln. 2 0 Einmal inauguriert, kann das lyrische Subjekt nicht anders als sich fortschreitend präziser zu definieren und dadurch stärker seiner Distanz zu den Objekten innezuwerden. In der Künstler-Thematik kündigt es sich an. Es ist, als realisiere das Aussprechen der Sache alle in ihr ruhenden Paradoxa und Gefahren — und Möglichkeiten, deren sich die Nach-Goethesche Lyrik nolens volens, nachdem die Einheit unwiederbringlich verlorenging, produktiv zu bedienen lernt.
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Das heißt natürlich nicht, daß Künstler nicht denken sollen. Aber in den vollkommenen Gedichten des jungen Goethe denkt tatsächlich kein benennbares Ich — das Gedicht ist in sich Einheit von Gefühl und Gedanke. Selbstverständlich ist das kein Werturteil, nur eine Beschreibung.
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b) Genie Eine geraume Weile nach dem Sturm und Drang und nach dem Höhepunkt der Geniediskussion, im Jahr 1790, erschien die erste Auflage der Kritik der Urteilskraft von Kant. In ihr zieht der Philosoph als Ästhetiker eine Art Schlußstrich unter die theoretischen Bemühungen des 18. Jahrhunderts, dem Phänomen der künstlerischen Produktivität und seinem Verhältnis zur empirischen Welt begrifflich angemessen zu begegnen. Dieses allgemeine Ziel rechtfertigte noch nicht eine Referierung und Anwendung in unserem Zusammenhang; die Verbindlichkeit jedoch, mit der die Relationen von Genie, Natur und Regel entfaltet werden, wird beim Verstehen der Goethe-Lyrik entscheidend weiterhelfen. Lapidar bestimmt Kant: » G e n i e ist das Talent (Naturgabe), welches der Kunst die Regel gibt.« 21 Damit ist bereits zweierlei geleistet: zum einen überwindet die Hereinnahme des Begriffs der »Regel« in die Definition des Genies die krude Regelfeindschaft des frühen Sturm und Drang, die als Oppositionshaltung verstehbar, aber in der theoretischen Dürftigkeit noch mehr kritisierbar war, und zum anderen entwirft der Satz das kunstproduzierende Subjekt als Teil der Natur und macht die Regeln von ihm abhängig — auch darin Subjekt. Nun sind Regeln Begriffe und als solche an die menschliche Denk- und Artikulationsfähigkeit gebunden; andererseits statuiert Kant, daß es der Begriff der schönen Kunst nicht gestatte, »daß das Urteil über die Schönheit ihres Produkts von irgend einer Regel abgeleitet werde, die einen B e g r i f f zum Bestimmungsgrunde habe, mithin einen Begriff von der Art, wie es möglich sei, zum Grunde lege.«22 Der etwas umständliche Satz bereitet vor und sichert den entscheidenden Gedanken, den von der Dependanz der Regeln als Teil des Kunstwerks. »Also kann die schöne Kunst sich selbst nicht die Regel ausdenken, nach der sie ihr Produkt zu Stande bringen soll. Da nun gleichwohl ohne vorhergehende Regel ein Produkt niemals Kunst heißen kann, so muß die Natur im Subjekte (und durch die Stimmung der Vermögen desselben) der Kunst die Regel geben, d. i. die schöne Kunst ist nur als Produkt des Genies möglich.« 23 »Vorhergehende Regel« meint nicht ein System a priori feststehender poetischer Verfahrensweisen, sondern die jeweils notwendige adäquate Struktur eines künstlerischen Ganzen, die unabdingbare Voraussetzung zu seiner Entscheidung ist, begrifflich aber höchstens post festum, als abgeleitete Größe, definiert werden kann. Der weitere Verlauf der Kantischen 21
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Immanuel Kant: Werke in sechs Bänden. Hrsg. v. Wilhelm Weischedel, Bd. V, S. 4 0 5 (§ 46). Vgl. dazu: Hans-Georg Gadamer: Wahrheit und Methode. Tübingen 3 1972, S. 3 9 - 7 7 . Kant, § 46, S. 406. Kant, § 46, S. 406.
Gedanken, nämlich die präzisere Bestimmung von »Genie« durch Summierung seiner Eigenschaften, bestätigt die Interpretation. Kant nennt vier (eigentlich nur drei) Spezifika: 1. Originalität — d.h. die Fähigkeit, Neues zu schaffen, ohne schon existente Regeln; 2. Exemplarizität — also nicht bloß Neues, sondern vorbildlich Neues und 3. Reflexionslosigkeit. Der Terminus steht nicht bei Kant, meint jedoch genau dessen Intention; die Regel, die das Werk als vollendeter Widerschein der Natur dem nach-deutenden Geist offenbart, muß eine Form des Produkts, dem Text immanent, nicht spekulativ vorhergehend oder tendenziös aufgesetzt sein. Wäre es anders, müßten aufgrund tradierbarer Regeln gültige Werke geschaffen werden können, was der Idee der Naturähnlichkeit des Genies fundamental zuwiderliefe.24 Mithin »ist Genie: die musterhafte Originalität der Naturgabe eines Subjekts im f r e i e n Gebrauche seiner Erkenntnisvermögen«.25 Kant fügt hinzu und führt damit unmittelbar zu Goethe zurück: »Auf solche Weise ist das Produkt eines Genies (...) ein Beispiel nicht der Nachahmung (denn da würde das, was daran Genie ist und den Geist des Werks ausmacht, verloren gehen), sondern der Nachfolge für ein anderes Genie, welches dadurch zum Gefühl seiner eigenen Originalität aufgeweckt wird, Zwangsfreiheit von Regeln so in der Kunst auszuüben, daß diese dadurch selbst eine neue Regel bekommt, wodurch das Talent sich als musterhaft zeigt.«26 In der Überwindung der fruchtlosen Antinomie von Regellosigkeit und heteronomen Regeln leistet Kant in abstracto das, was Goethe konkret gelungen ist, was der Prometheus der Hymne begrifflos antizipiert: das Ich wird zum Subjekt, indem es dem lyrischen Text Regeln gibt, die es von seiner eigenen Struktur ableitet. Die Objektivität eines literarischen Werkes, hier die von Gedichten, also ihre intersubjektive Verstehbarkeit und Verbindlichkeit, wäre auch und gerade dann gewährleistet, wenn ein sich als Genie verstehendes Subjekt es konstituiert, nämlich durch die reflektierte Subjektivität des Ich, in der es die Naturähnlichkeit zu ihrer höchsten Vollendung bringt: schöpferisch und ordnungsschaffend, beispiellos und vorbildlich zu sein.
c) Erlebnis Die Kategorie des Erlebnisses im Zusammenhang mit Goethes früher Lyrik erfreute sich vor nicht allzu langer Zeit noch einer gewissen Beliebtheit, um 24
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Das vierte Spezifikum wiederholt nochmals, daß nicht Wissenschaft, sondern nur die schöne Kunst das Feld des Genies sei. Zur »Art der Regel«: Kant, § 47, S. 408f. Kant, § 49, S. 419. Kant, § 4 9 , S . 4 1 9 .
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dann allgemeiner Verachtung anheimzufallen. 27 Und in der Tat läßt sich der Begriff so, wie er einstmals verstanden wurde, nicht verteidigen. Nur das naivste Gemüt kann glauben, ein Gedicht sei der gleichsam unwillkürliche Abdruck einer biographisch realen Situation, oder es ließen sich aus den lyrischen Produkten einer bestimmten Lebensspanne die alltäglichen Befindlichkeiten, eben die Erlebnisse, des Dichters rekonstruieren. Weder im Detail noch fürs große Ganze, weder als theoretischer Entwurf noch in der praktischen interpretatorischen Anwendung ist das möglich. Gleichwohl scheint die Vorstellung einer wie auch immer noch zu definierenden Relation zwischen objektivierbarer Erfahrung und subjektiver Verarbeitung als Basis eines umfassenden Verständnisses nicht von vornherein inakzeptabel. Freilich nur, wenn die außerliterarischen Erlebnisse des Autors als vorliterarisches Material begriffen und prinzipiell anderen Fragestellungen unterworfen werden. 2 8 In unserem Kontext muß mit Aussicht auf Erfolg und Verständnisgewinn eine andere Art des Erlebnisses untersucht werden: die innerliterarische Apperzeption des lyrischen Subjekts. Reduziert nicht ein so eingeschränkter Begriff von Erlebnis, der ja freiwillig auf einen Konnex zwischen Innen und Außen zu verzichten scheint, das der Sache immanente Potential bis zur tautologischen Bestimmung, daß das lyrische Subjekt ist, was es wahrnimmt, und wahrnimmt, was es ist? Daran ist richtig, daß keine Brücke vom Autor zum Gedicht führt, viele jedoch im Gedicht nötig sind, um die divergierenden Bild- und Vorstellungsebenen zu verbinden, es unmöglich ist, eine kausale Abfolge von lyrischem Ich und den im Text sich manifestierenden Erlebnissen dieses Ich zu konstruieren. Gerade das rückt unser Verständnis von Erlebnis weit weg von jedem herkömmlichen: im Fehlen der Kausalität zeigt das Gedicht die ontologische Differenz zur empirischen Welt. Das lyrische Ich schafft sich nicht im strengen Wortsinn eine Bildlichkeit, noch läßt sich von der Bildlichkeit her ein lyrisches Ich als ein sie bedingendes Substrat ableiten. Die virtuelle Identität von Apperzeption und Apperzipiertem ist die logische Voraussetzung eines jeden Absolutums — und genau dahin strebt das Gedicht in seiner ambitioniertesten geschichtlichen Stunde, wenn es vollkommener Ausdruck entfalteter Subjektivität nicht bloß sein will, sondern tatsächlich
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D e r Titel v o n D i l t h e y s H a u p t w e r k w a r p r o g r a m m a t i s c h . E s p r ä g t e die L y r i k d i s k u s s i o n der k o m m e n d e n J a h r z e h n t e . In d e m u m f a s s e n d s t e n n e u e r e n V e r s u c h z u m jung e n G o e t h e , Z i m m e r m a n n s z w e i b ä n d i g e r S t u d i e , spielt » E r l e b n i s « keine R o l l e m e h r . E i n e Z u s a m m e n f a s s u n g v e r s u c h t K a r o l S a u e r l a n d : » Z u r W o r t - u n d Entstehungsgeschichte
des
Begriffes
>ErlebnisAbsolute ProsaProbleme der Lyrik< « in: Festschrift Gottfried Weber. Bad Homburg 1967, S. 2 9 9 - 3 2 8 .
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barkeit der Bennschen Lyrik muß die Objekte zunächst ihrer Nichtigkeit überführen (— so ihre Übermacht konzedierend), um sie dann in der eisigen Isolation einer konstruierten Absolutheit noch einmal aufscheinen zu lassen. Die prätendierte Identität aller künstlerischen Gestaltungen per saecula saeculorum überträgt eine einmalige historische Situation modellartig auf die Gesamtheit der Formenwelt. Legitim ist dies bloß von einem engen Rezeptionsstandpunkt aus, für den die Verschiedenheiten der Kunst sich einem gegenwärtigen Blick nivelliert anzupassen haben. Der Leser Benn, wie das lyrische Subjekt seiner Gedichte, entkleidet die Kunst der Vergangenheit jeglicher geschichtlichen Bedingtheit und macht sie zu Zeugen epochaler Zeitlosigkeit, wodurch er allerdings, gegen die eigene Theorie, die gesteigerte Notwendigkeit des absoluten Ausdrucks in der Gegenwart dementiert. Die lyrische Poesie reduziert sich auf die immergleichen Chiffren einer unüberbrückbaren Antinomie zur empirischen Welt, was in dieser Abstraktheit schlechterdings unhaltbar wird. Die Absolutheit des Gedichts, wenn denn dieser Begriff vor Benn überhaupt ohne längere Explikation benutzt werden darf, gründet viele Jahrhunderte in der Übereinstimmung mit der Faktizität oder in einer vermittelten Distanz des selbstbewußten Subjekts. Erst im 2 0 . Jahrhundert muß sich das lyrische Subjekt als ein »absolutes« entwerfen, um mit ungeheurer Anstrengung einen Rest von dem zu retten, was früheren Zeiten leichter zu Gebote stand: Authentizität und eigengesetzliche Verfügung über die ins Gedicht zu integrierenden Dinge. An diesem Punkt erhebt sich die Frage nach der Realisierbarkeit des »absoluten« Gedichts. Dabei ist zu unterscheiden zwischen der Bennschen expliziten Programmatik und der aus der Geschichte der lyrischen Subjektivität gewonnenen Befindlichkeit. Nimmt man die Vorstellung des glaubenslosen, hoffnungslosen, an niemanden gerichteten, aus faszinierenden Worten bestehenden Gedichts ernst, dann kann eine solche Theorie des radikalen poetischen Solipsismus nur als Theorie und nicht als Deskription eines einzelnen ästhetischen Produkts überzeugen. Das Nachdenken über das zeitgenössische Gedicht, die Reflexion der Dichter über ihr Metier, die poetischen Verfahren und Ergebnisse gehören untrennbar zum Werk, aber sind nicht dessen Beschreibung oder Bestimmung. 1 5 Das wird in unserem Zusammenhang deutli-
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Vgl. dazu das von Beda Allemann herausgegebene Werk: Ars Poetica. Texte von Dichtern des 20. Jahrhunderts zur Poetik. Darmstadt 1 9 6 6 . Von Benn sind Auszüge aus dem Vortrag »Probleme der Lyrik« abgedruckt (S. 3 4 4 - 3 5 8 ) . Als eine Art Satyrspiel dieses problematischen Verhältnisses kann die Konkrete Poesie angesehen werden, bei der das reflektierende Ich nicht bloß ein Ubergewicht gegen das lyrische erhält, sondern es meist sogar bis zur Austauschbarkeit dominiert. Die Intention des Autors bedarf der vorgängigen Programmatik so sehr, daß das eigentliche Gedicht zum entbehrlichen Appendix zu verkümmern droht.
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eher und verständlicher. Die aus der Tradition übernommene Vorstellung des lyrischen Selbst-Bewußtseins, einer erfüllten Subjektivität, kann bloß noch erhalten werden in einer doppelten Anstrengung: der des Gedichts und der einer hinzutretenden Reflexivität (die manchmal in die Gedichte selbst eingeht, wovon der nächste Abschnitt, der über den »Alexandrinismus«, handelt). Die Spaltung der lyrischen Subjektivität in eine anschauende und eine reflektierende wird an einem Begriff wie dem des »absoluten Gedichts« evident. Die so definierte Absolutheit kann einzig den Gedichten immanent oder gar nicht vorhanden sein. Sie sagt mehr aus über die Intention des Autors als über die lyrische Befindlichkeit seiner Texte. Sie erhält dadurch den Charakter einer posterioren Standortbestimmung. Gerade weil sie Programm ist und nicht unmittelbare lyrische Realität, spricht sie von der Sehnsucht des Gedichts nach einem vergangenen und nicht mehr restituierbaren Zustand. Die Goethesche Lyrik war absolut und bedurfte deshalb des Wortes nicht. Die Bennsche kämpft mit äußerster Anstrengung um Substantialität und Subjektivität angesichts der Gewalt der Objektsphäre und muß sich darum mit dem Begriff des »Absoluten« einer zusätzlichen Waffe versichern. Schon in der Theorie des absoluten Gedichts steckt das Paradoxon, daß es absolut nur sein kann in Kampf und Abgrenzung gegen alles Empirische, also in Wahrheit viel bedingter, »relativer« ist als die minder radikal konzipierten Texte. Und in der Praxis wird neben der historischen Verknüpfung auch die eminent zeitgebundene deutlich, von deren Präponderanz die Idee eines Absoluten zur Hilfskonstruktion verblaßt. Immerhin erlaubt dies ein Verständnis des »absoluten Gedichts«, das über eine Abwertung hinausgeht: Es ist dann nicht eine zufällige und beliebige Selbstkommentierung, die auch ganz anders lauten könnte, sondern eine notwendige Erweiterung der lyrischen Subjektivität außerhalb des eigentlich Lyrischen. Dies dürfte die entscheidende Dimension des Begriffs sein. Er fügt in abstracto hinzu, was dem poetischen Text in concreto fehlt und was er von sich aus, mit seinen Mitteln nicht mehr leisten kann, worauf er aber weder verzichten will noch darf. Das lyrische Subjekt entwirft sich als ein »absolutes« und muß, da anders der Anspruch nicht annähernd zu verwirklichen ist, aus seinem Element, dem Gedicht, heraustreten und a posteriori verkünden, was es sein möchte und nicht länger ist. So mag die These nicht zu gewagt erscheinen, daß Benn kein Gedicht geschrieben hat, das ernstlich »absolut« zu nennen wäre. Von unseren Überlegungen her ist dies nicht nur entschuldbar, sondern geradezu das unabwendbare Resultat einer spezifischen lyrischen Konstellation. Die Subjektivität des Gedichts strebt über ihre Grenzen, die der Bilder, hin zu den Begriffen. Die verweisen sie wieder zurück auf den Text, ihn vermeintlich erklärend, in Wahrheit jedoch der Erklärung bedürftiger denn je. So gehört Benns »absolutes Gedicht« weniger zur Programmatik der modernen Poesie als zur Geschichte der lyri-
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sehen Subjektivität in ihren immer subtileren und auswegloseren Versuchen, den selbstgesetzten Ansprüchen treu zu bleiben.
b) Alexandrinismus V o n einer das Gedicht begleitenden oder ihm zeitlich und logisch nachfolgenden Reflexivität ist eben gehandelt worden. Es gibt jedoch auch eine, die sich in den Texten selbst manifestiert, die die T e x t e partiell strukturiert. Ihr liegt die Gewißheit einer Übermacht der Vergangenheit zugrunde und einer davon
abgeleiteten
vollständigen
Mediatisierung
des sprachlichen
Aus-
drucks. D a ß dies einer wörtlich genommenen »Absolutheit« widerspricht, braucht nicht mehr dargelegt zu werden. Begreift man das »absolute Gedicht« wie wir es tun, so schließt sich das Bewußtsein, einer alexandrinischen Epoche anzugehören, folgerichtig der Konzeption des glaubens-, hoffnungsund echolosen Gedichts a n . 1 6 Beide Ideen fixieren einen Endpunkt, beide sind Ausdrucksformen der gleichen späten Subjektivität. Die Gegenwart, und zwar sowohl die empirische wie die poetische, ist Produkt unendlich vieler und vielfältiger Bedingungen. Diese Struktur historischer Abhängigkeit steht in einem gewissen Gegensatz zur prätendierten Gleichförmigkeit und daraus folgenden Nichtigkeit der außerkünstlerischen Phänomene. Allein schon der Gedichttitel »Das späte Ich« straft die nonchalant entwickelte Idee des ahistorischen nunc stans Lügen. 1 7 Es kann ja nur eines von beiden Modellen zutreffend die Lage abbilden: Entweder ist die Geschichte der Welt und des Menschen (minus seiner ästhetischen Produkte) ein Kontinuum des Schrekkens, das einzig die Kunst schuldlos transzendieren kann, dann verlieren chronologische Ordnungen wie »früh« oder »spät« jeden Sinn; oder die Gesamtheit der Erscheinungen hat sehr wohl eine Entwicklungsgeschichte und ist folglich in den Kategorien von Ursache, Wirkung und einer angebbaren Richtung (natürlich nicht einem trans-individuellen, verbindlichen Ziel) zu begreifen. In diesem Fall wird Kunst zu geformtem Ausdruck — stünde sie einem chaotischen Kosmos in der strengen Bedeutung des Wortes gegenüber, könnte sie kaum anders denn gleichfalls chaotisch sein. Das melancholische Bewußtsein Benns ordnet durchaus die Phänomene der empirischen Welt (in den Essays und Briefen) und parallelisiert dadurch die Anstrengungen des melancholischen lyrischen Subjekts der Gedichte, das aus der Vergangenheit 16
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Bei Benn spielt der Begriff »Alexandrinismus« keine Rolle; es dürfte klar sein, daß er ihn von seinem Geschichtsverständnis ablehnen muß. Die Berechtigung, ihn hier zu benutzen, ergibt sich aus der Interpretation seiner Gedichte im Kontext der Entwicklung der lyrischen Subjektivität. Zur ahistorischen Betrachtensweise Benns: Beda Allemann: Gottfried Benn. Das Problem der Geschichte. Pfullingen 1963. 179
der Kunst eine Gegenwart rekapitulierend erschafft. Die Interpretation dieser Lyrik macht über alle Zweifel klar, daß die innerste Struktur der Texte nicht nur jede Vorstellung von Absolutheit dementiert, sondern die avancierteste Form einer Beziehung zur Geschichte der außerkünstlerischen und künstlerischen Dinge darstellt. In höchster Bewußtheit sieht das lyrische Subjekt die kreative Schwäche dieser Bewußtheit und akzeptiert sie. Sie wird im lyrischen Gedicht ausgeglichen durch die Existenz einer Subjektivität, die Epochen, Zeiten und Stile zu integrieren sich anschicken muß, will sie nicht gänzlich vor deren Ubermacht kapitulieren und auf frühere Positionen regredieren (was nichts anderes als Epigonalität bedeutete). In Erinnerung, Zusammenschau, Konstruktion und Zitat baut das Subjekt eine, seine notwendige Welt auf; Reflexion und Bild umfassen, oder versuchen es zumindest unablässig und in immer neuen Anläufen, alle Zeiten und Räume, ruhelos und ohne Hoffnung auf endgültige Ordnung und abgeschlossene Konstitution. Darum erweist sich tendenziell alles Überlieferte, die eigenen Idiosynkrasien und die entlegendsten Wissenschaften als lyrikfähig; im späten Ich laufen die Erinnerungen derer zusammen, die einmal Ich waren, und im Prozeß der Subjektivierung strebt dieses Ich nach ausgreifender und einholender Omnipräsenz und Omnipotenz. Es wird zum Subjekt nicht mehr in der Begegnung mit den Dingen, sondern durch die Aneignung ihrer historisch gewordenen Form. Das dürfte der Hauptgrund sein, warum diese alexandrinische Lyrik so gesättigt ist mit Traditionen, auch da, wo sie sie, besonders manifest im Frühwerk, vehement verwirft. Daher kann sie keine Fortsetzung der lyrischen Tradition initiieren, kann ihre lyrische Subjektivität von keiner anderen abgelöst werden, ohne daß der Terminus jede konkrete Bedeutung einbüßte. Und der resignative Gestus einiger Gedichte aus den Fünfzigerjahren bestätigt unsere Deutung eher ex negativo, als daß er sie widerlegte. In »Nur zwei Dinge« (III, S. 342) lauten die beiden Schlußzeilen: »es gibt nur zwei Dinge: die Leere / und das gezeichnete Ich.« Das meint keine Neubegründung des Lyrischen aus dem »gezeichneten Ich«, sondern markiert die Position des alexandrinischen Ich, wo es in Müdigkeit und Trauer seiner substantiellen Schwäche innewird und sich weigert, die Last der Jahrhunderte noch weiter zu tragen. Vor der »Leere« stehen andere Erfahrungen: die einer überwältigenden Bilderflut und einer, freilich vermittelten, andrängenden Weltfülle. Daraus folgt nun zweierlei, sich anscheinend widersprechend, aber aufgehoben im gelungenen Gedicht. Zuerst eine Haltung des Subjekts, die mit Ironie und Pathos die Dinge beobachtet, strukturiert und wertet; eine prätendierte Kühle und Nüchternheit, deren Komplementärphänomen in dem großen, ebenso fatalistischen wie herrischen Ausdruck vor allem des mittleren Benn zu sehen ist. Die andere Konsequenz aus der doppelten Erfahrung von abundierender Tradition und prekärer Nähe zum Schweigen liegt in der Sehnsucht des lyri180
sehen Subjekts nach einem Ende seiner belasteten Subjektivität. Die Anstrengung, überhaupt ein Formprinzip zu sein, noch einmal die konstitutive Kraft zur originären Schöpfung aufbringen zu müssen, nährt die schließlich gar nicht mehr verborgene oder verheimlichte Lust, sich aufzugeben, die Bürde der Geschichte und des Bewußtseins abzuschütteln, wieder zurückzukehren in die Sphäre der vorsubjektiven Verantwortungslosigkeit. Daß dies keine zufällige Befindlichkeit des lyrischen Subjekts bei Benn ist, sondern ein kollektiver Widerstand gegen die Entbehrungen und historischen Zwänge jeder entfalteten Zivilisation, lehrt Freuds Aufsatz »Das Unbehagen in der Kultur«. 1 8 In Benns Gedichten wird dieser Schwere einer komplexen und zerebralen Welt die »südliche« Bildlichkeit konstrastiert, eine erträumte halkyonische Übereinstimmung von Ich und Welt. Sie kann allerdings nie produktiv werden; d.h. ein lyrischer Text vermag per definitionem nicht aus solcher Symbiose hervorzugehen, ist das Ich doch gerade keine kreative Potenz mehr, lediglich eine imaginierte Spiegelung der vollendeten Natur. Diese Identität von entsubjektiviertem Subjekt und den Objekten will stumm sein und ist folglich die denkbar radikalste Gegenposition zu Goethes Naturlyrik, die aus dem Miteinander von Anschauendem und Angeschautem Legitimation und Kraft zur poetischen Äußerung in der Entäußerung zog. Jetzt beherrscht die Fremdheit zwischen Ich und Empirie dessen dichterische Projektionen, wovon eine seine Auslöschung in der archaischen Regression metaphorisch beschwört. Die Sphäre des Vor-Bewußten ist ein Ziel höchst ambivalenten Charakters und letztlich eher Teil der späten Subjektivität denn wirklich angestrebte Grenzüberschreitung. Die Produktivität des lyrischen Subjekts bei Benn, die Variabilität seiner Ausdrucksformen, die Vielfalt der Themen und Motive leitet sich aus dieser Position im Zwischenreich von fast beliebig disponibler Tradition und der deutlich gefühlten Unmöglichkeit substantieller Neubestimmung von lyrischer Subjektivität ab. Da drängt es das späte Subjekt hin zur »trunkenen Flut«, 1 9 zu Rausch und Vergessen. Aber immer noch in lyrikfähiger Formulierbarkeit und das heißt: gar nicht. Diese Verzweiflung angesichts der Gegenwart ist jedoch konterkariert von der trotzigen Gewißheit, bei aller Zukunftslosigkeit zu denen zu gehören, die auserwählt sind, »dennoch die Schwerter (zu) halten / vor die Stunde der Welt«. 20 Die wenigen, die die Sinnlosigkeit der geschichtlichen Abläufe begriffen haben und die Fähigkeit besitzen, ihnen eine kategorial unterschiedene Welt (in der Kunst) entgegenzuhalten, stehen unter dem nicht weiter begründbaren oder ableitbaren Zwang, sich entäußernd und leidend, den allgemeinen Nihilismus zu
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Sigmund Freud: »Das Unbehagen in der Kultur« in S.F.: Studienausgabe, S. 1 9 1 - 2 7 0 . So der Titel eines Gedichts von 1927 (III, S. 60f.).
Band IX,
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transzendieren. So betrachtet, reduziert sich sowohl die Fülle des Tradierten wie die Lockung des universalen Vergessens auf eine Versuchung zur Größe, verbirgt sich hinter der Qual und der Last der Jahrhunderte doch wieder bloß ein Anstoß zum Streben nach ästhetischer Vollkommenheit. Nur daß die Heroisierung des Künstlers, weit über die bei Goethe im Bild des Prometheus hinaus, einer objektiven und nachvollziehbaren Position der lyrischen Subjektivität korrespondiert, die gekennzeichnet ist von einer denkbar prekären Substantialität und einem denkbar gefährdeten Selbstbewußtsein des Subjekts. Folglich indiziert die Stilisierung des Poeten zum Heros nicht seine höchste Entfaltung, sondern seine nachhaltigste Erschütterung. Benn hat das sehr wohl gewußt; in einer kurzen Skizze über »Rilke« 21 faßt er das Wissen der alexandrinischen Zeit über sich selbst in dem bekannten Zitat des an sich wenig geschätzten Dichterkollegen zusammen: »(Rilke) schrieb den Vers, den meine Generation nie vergessen wird: >Wer spricht von Siegen — Überstehn ist alles!«« c) Selbstzitat und Abschied Die zutiefst monadologische Qualität der späten lyrischen Subjektivität wird in wenigen Texten so deutlich wie im Gedicht »Epilog 1949«. 2 2 In Rückschau und Antizipation hält das lyrische Subjekt Zwiesprache mit sich, dabei die Vergangenheit im Selbstzitat herbeirufend und bedenkend. Der Konstitutionsprozeß schließt nicht nur die Objekte ein oder wird von ihnen bestimmt, sondern zuerst die Geschichte der lyrischen Subjekte des Autors. Dadurch entsteht in wörtlichem Zitat und in Anspielungen der Entwurf einer Historiographie des späten Ich in allen seinen Ausprägungen und Formen. Der Moment der reflektierten Einsicht in die Bedingtheit und immanente Logik des eigenen Weges verknüpft das Subjekt dieses Textes auf direkte und indirekte Weise mit denen der früheren Gedichte; direkt durch Rekapitulation des einmal Gesagten, Unvergessenen; indirekt durch die Erkenntnis der restringierten Souveränität des Subjekts, dessen Autonomie im Monolog seine signifikanteste Bestätigung und Begrenzung erfährt. Ein Monolog allerdings, der mit eisiger Konsequenz ganz auf sich zurückverweist, dem Gegenwart und Zukunft versinken vor der Präsenz der Vergangenheit. Das macht diesen Epilog zu einem repräsentativen Zeugnis in der Entwicklung der lyrischen Subjektivität: Er markiert den Abschluß der Entfaltungsmöglichkeit des lyrischen Subjekts in konstruktiver Auseinandersetzung mit einer ihm exogenen
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Benn: »Dennoch die Schwerter halten« ( 1 9 3 3 ; III, S. 182). Benh, IV, S. 278f. Benn, III, S. 3 4 3 - 3 4 5 .
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Objektsphäre. War diese Beziehung immer schwieriger, vermittelter und, in jedem Sinn, bedenklicher geworden, so erreicht sie im Spätwerk Benns, vorab in diesem Gedicht, ein logisches Ende. Das Subjekt des poetischen Artefakts wandelt sich nicht einfach in den einander ablösenden Epochen, es verliert mehr und mehr die Dominanz über die Objekte und die Kraft autonomer Selbstbestimmung. An deren Stelle treten das Gefühl einer schicksalhaften Fremdheit zwischen Ich und Welt, einer unüberbrückbaren Kluft zwischen dem Sprechenden und dem Angesprochenen. Das verändert mit zunehmender Schnelligkeit und Wucht auch das Subjekt, dem keine sympathetische Antwort mehr zuteil wird. Der poetische Ruf wird so, und das war schon bei Trakl zu konstatieren, in den eigenen objektlosen Innenraum gerichtet; die Dinge weichen in unerreichbare Ferne zurück und werden substituiert durch ihr literarisiertes Abbild oder eine gefrorene Erinnerung, die einer Formung durch ein wahres Subjekt nicht mehr zugänglich sind. Der Weg vom jungen Goethe zu Benn erweist sich als stets radikalerer und angestrengterer Versuch, eine schöpferische Subjektivität zu bewahren im mehr oder minder deutlichen Wissen von der prinzipiellen Vergeblichkeit, dabei auch ein schöpferisches Prinzip, wie es sich erstmals bei Goethe herausgebildet hatte, als Konstituens jeden Gedichts retten zu können. Im Spätwerk Benns umfaßt das Subjekt, reflektiert und sich seiner individuellen wie Gattungsgeschichte durchaus bewußt, seine Vergangenheit als Modell der einzig noch vorstellbaren Form lyrischen Sprechens. Der dabei erhobene Anspruch auf Verbindlichkeit und Intersubjektivität dieses Sprechens kann lediglich von der Wahrheit des Ausdrucks legitimiert werden. Mit einer auf Beantwortung der Frage danach gerichteten Interpretation des Textes schließen meine Überlegungen nicht nur zu Benn, sondern auch zur lyrischen Subjektivität, ihren notwendigen Wandlungen und ihrem fundamentalen und unveränderlichen Kunstwollen: selbstbestimmter Ausdruck zu sein.
Epilog 1 9 4 9
I Die trunkenen Fluten fallen die Stunde des sterbenden Blau und der erblaßten Korallen um die Insel von Palau. Die trunkenen Fluten enden als Fremdes, nicht dein, nicht mein, sie lassen dir nichts in H ä n d e n als der Bilder schweigendes Sein. Die Fluten, die Flammen, die Fragen — und dann auf Asche sehn:
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»Leben ist Brückenschlagen über Ströme, die vergehn.« II Ein breiter Graben aus Schweigen, eine hohe Mauer aus Nacht zieht um die Stuben, die Steigen, wo du gewohnt, gewacht. In Vor- und Nachgefühlen hält noch die Strophe sich: »Auf welchen schwarzen Stühlen woben die Parzen dich, aus wo gefüllten Krügen erströmst du und verrinnst auf den verzehrten Zügen ein altes Traumgespinst.« Bis sich die Reime schließen, die sich der Vers erfand, und Stein und Graben fließen in das weite, graue Land. III Ein Grab am Fjord, ein Kreuz am goldenen Tore, ein Stein im Wald und zwei an einem See —: ein ganzes Lied, ein Ruf im Chore: »Die Himmel wechseln ihre Sterne — geh!« Das du dir trugst, dies Bild, halb Wahn, halb Wende, das trägt sich selbst, du mußt nicht bange sein und Schmetterlinge, März bis Sommerende, das wird noch lange sein. Und sinkt der letzte Fälter in die Tiefe, die letzte Neige und das letzte Weh, bleibt doch der große Chor, der weiterriefe: die Himmel wechseln ihre Sterne - geh. IV Es ist ein Garten, den ich manchmal sehe östlich der Oder, wo die Ebenen weit, ein Graben, eine Brücke, und ich stehe an Fliederbüschen, blau und rauschbereit. Es ist ein Knabe, dem ich manchmal trauere, der sich am See in Schilf und Wogen ließ, noch strömte nicht der Fluß, vor dem ich schauere, der erst wie Glück und dann Vergessen hieß.
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Es ist ein Spruch, dem oftmals ich gesonnen, der alles sagt, da er dir nichts verheißt — ich habe ihn auch in dies Buch versponnen, er stand auf einem Grab: »tu sais« — du weißt.
V Die vielen Dinge, die du tief versiegelt durch deine Tage trägst in dir allein, die du auch im Gespräche nie entriegelt, in keinen Brief und Blick sie ließest ein, die schweigenden, die guten und die bösen, die so erlittenen, darin du gehst, die kannst du erst in jener Sphäre lösen, in der du stirbst und endend auferstehst.
Die fünf Abschnitte bilden eine Einheit aus zunächst disparat erscheinenden Motiven und Sätzen: inhaltlich in einem großen Bogen von der Zustandsbeschreibung des Ich, dem nichts bleibt »als der Bilder schweigendes Sein« (I, 8) über eine exemplarisch die Leiden der Auserwählten heraufrufenden Vergewisserung hin zur privaten Vergangenheit dieses Ich und endlich in eine unaussprechliche Zukunft, eine mögliche, aber gänzlich rätselhafte Erfüllung im Tod. Den Charakter einer Summe und Selbstfindung erhält der T e x t freilich durch den ständigen Rückbezug auf frühere Gedichte im Selbstzitat und der direkten Anspielung. Es beginnt mit den »trunkenen Fluten« in der allerersten Zeile: Sie verweisen auf das gleichnamige Gedicht aus dem J a h r 1 9 2 7 (III, S. 60f.), eine Evokation wilder Hoffnung auf Erkenntnis und Eintauchen in ein dionysisches Vergessen, worauf auch »die Insel von Palau« verweist, die 1 9 2 2 zur Chiffre der Unbegreiflichkeit des grausam-schönen Lebens wurde (III, S. 62f.). Hier nun wird mit strenger Hand und doch nicht ohne Melancholie die Ekstase verabschiedet; die Fluten »fallen« und »enden«, sie entschwinden und lassen dem Blick nur die »Asche« — eine Erinnerung an das »Quartär«-Gedicht (III, S. 185 — 187), wo sie in direkter Übertragung auf Auflösung und Tod bezogen war. Und die in Anführungszeichen gesetzte Sequenz ist eine wörtliche Wiederaufnahme aus dem Gedicht »Schleierkraut« (1925; III, S. 114); eine ebenso heroische wie letztlich vergebliche Anstrengung, die da beschworen wird, und eine Antizipation der schließlich viel umfassenderen Bedeutung des Flusses in Abschnitt IV, wo er den Lethe-Strom, Tod und Vergessen, also Anfang der individuellen Existenz und ihr Ende, symbolisiert. Der erste Abschnitt nimmt erkennbar zurück, was die früheren Texte entworfen hatten, und steht doch in ihrer Konsequenz und logischen Entwicklung. Die Bilder, in denen sich das Subjekt sammelt, sind wie aus einer unbegreiflichen Vorzeit noch einmal hervorgezwungen; sie werden in der
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finalen konstitutiven Arbeit des Ich verwandelt und unter den Aspekten des unabwendbaren Todes verändert. Der zweite Abschnitt redet von dem, der für Benn stets paradigmatisch das Schicksal des Auserwählten verkörperte, von Nietzsche. »Auf welchen schwarzen Stühlen / woben die Parzen dich« (Zeile 7f.) rekurriert in genauem Zitat auf das »Turin«-Gedicht (III, S. 468), das undatiert ist und erst postum, 1958, veröffentlicht wurde (was also die theoretische Möglichkeit offenläßt, daß es nach dem »Epilog 1949« geschrieben wurde). Von seiner absoluten Einsamkeit ist die Rede, von »Schweigen« und »Nacht« (auch eine Anspielung auf »Gedichte«, wo ja vom »Selbstgespräch des Leides und der Nacht« (III, S. 196) als unabwendbarer Befindlichkeit des Künstlers gesprochen wird); erst in der Entgrenzung findet er — eine leichte Paradoxie — Ruhe vor der Qual der ihm auferlegten Pflicht: deutlich wird, wie das Ich sich mit dem Angesprochenen identifiziert, wie Selbstzitat und Reflexion ineinander übergehen. Der dritte Abschnitt führt den Gedanken fort und erweitert ihn dabei. Das Leben nach dem Tod des Einzelnen: »das wird noch lange sein« (Zeile 8); das Werk, die Gegenwelt des Künstlers: »das trägt sich selbst« (Zeile 6). Die bekannte Bennsche Dichotomie erscheint nochmals, aber ohne Bitterkeit; die empirischen Manifestationen und die artistische Wahrheit der Form werden dauern oder vergehen — entscheidend ist die individuelle Realisation der vorgegebenen Aufgabe, jenseits der Frage nach Sinnlosigkeit oder Sinn; wie denn überhaupt kaum ein anderer Text Benns derart quietistisch ein Einverständnis mit den Dingen artikuliert. Es ist, als öffnete der erinnernde Rückblick auf die eigene Geschichte die sonst verschlossene Möglichkeit einer universalen Versöhnung, die im letzten Abschnitt in ihrer ganzen Rätselhaftigkeit und Unbeschreibbarkeit dimensioniert wird. Davor faßt das lyrische Subjekt in konzentriertester Form seine Kindheit und Jugend zusammen; zuerst in Bildern, dann (2. Strophe) in Bild und Reflexion, schließlich (3. Strophe) in Meditation und der alles einbeziehenden und doch nichts preisgebenden Formel »tu sais«. Dabei bedienen sich die Evokationen der Vergangenheit und der Zukunft wieder der vertrauten Worte und Chiffren: »Garten«, »Graben«, »Brücke«, »blau und rauschbereit«. Sie sind in gleicher Weise personale Erinnerung, konkrete Beschwörung unwiederholbarer Momente und lyrische Bestimmung eines Subjekts, dessen Grenzen die des Ich bedeutungsvoll transzendieren. Kindheit war eine erfüllte Zeit ohne Zukunft, der mit Trauer gedacht wird: Jetzt strömt ein Fluß, der Tod und Vergehen ankündigt und den zu überschreiten das Ich sich anschickt. Im Angesicht dieser irreversiblen und notwendigen Tat weiß das Subjekt freilich einen Trost, der kein Trost sein will und vielleicht auch nicht ist: den »Spruch«, den er »auch in dies Buch versponnen« hat: »>tu sais< — du 186
weißt«. Der enthüllt sich als eine Art Leitmotiv seines Schreibens; er findet sich, gleichsam in der vorgängigen Frageform, in »Qui sait« (1927; III, S. 80f.), in den »Entwurzelungen« (1925; III, S. 118), in »Die Heimat nie—« (1925; III, S. 413) und dem programmatischen »Statische Gedichte« (1945; III, S. 236). Eine absolute, abstrakte und kategorisch-ausweglose Antwort auf jede Frage nach Sinn und Ziel, schärfster Gegensatz zu aller »Verheißung« und doch eine unerschütterliche Gewißheit jenseits der Inhalte. Alles Sprechen kommt an sein Ende vor dem Tod: Aber auch im Leben erreicht das Wort nicht alle Tiefen des Innern. Der Schlußabschnitt des Gedichts deutet, knapp und unprätentiös, darauf hin. Er schließt die Rekapitulation des lyrischen Subjekts ab, indem er auf eine Sphäre absoluter Verschlossenheit und Rätselhaftigkeit zeigt, ohne Zugang und Begriff. In großem Entwurf hat sich das Subjekt noch einmal gesammelt, seiner selbst erinnert, seiner Bilder und Worte. Der Epilog weitet sich zum Abschied, von sich und von einer nicht weiter fortsetzbaren Art lyrischer Vergegenwärtigung und lyrischer Tradition. Das Ich akzeptiert sein sprachloses Eintauchen und hofft auf eine mystische Erfüllung im Tod. Die Momente davor, in Anschauung und Reflexion, könnten denen ähneln, die das Gedicht »Abschied« (1943; III, S. 233f.) beschreibt: »ein letzter Tag« voll Heiterkeit und unableitbarer Schönheit und dann das letzte Wort, vielleicht eine Selbsttäuschung, aber trotzdem von bezwingender und gelassener Richtigkeit: »alles ist gesagt.«
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